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German Pages [225] Year 2022
Wiebke Lückert / Franziska Brauner
Systemisch visualisieren Das Grundlagenbuch
inkl. Download m material zu Lernen der e Visu-Sprach
Wiebke Lückert / Franziska Brauner
Systemisch visualisieren: Einfach machen! Das Grundlagenbuch
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Kirsten Sainio Illustrationen: Franziska Brauner und Wiebke Lückert Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40805-2
Inhalt
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Noch ein Buch über systemisches Arbeiten – muss das sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.1 Digitales Zusatzmaterial – vom Buch zum Workshop . . . . . . . . . 1.2 Wie wir zum Visualisieren gekommen sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Herzlich willkommen – wo ist der Einstieg günstig? . . . . . . . . . .
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Systemisches Denken und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1 Systemische Selbsterkundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Systemische Held*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Virginia Satir und die humanistische Familientherapie . . . 2.2.2 Paul Watzlawick und der Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Salvador Minuchin und die strukturelle Familientherapie . 2.2.4 Mara Selvini Palazzoli und das Mailänder Modell . . . . . . . 2.2.5 Steve de Shazer, Insoo Kim Berg und die lösungsorientierte Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Michael White und die narrative Therapie . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zirkularität, Humanismus, Konstruktivismus und die systemische Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Systemisches Arbeiten mit der Grundausstattung . . . . . . . 53
Inhalt
3.1 Körper – sinnliche Wahrnehmung, Körperhaltungen und Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Sprache – Kommunikation und Konstruktion von Wirklichkeit . 3.2.1 Sprache als Zeichensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Sprache und Konzepte, Vorstellungen und Bedeutungen . 3.2.3 Konventionalisierung von Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Sprache in Beratung, Coaching und Therapie . . . . . . . . . . . 3.2.5 Sprache als Methode – Gesprächstechniken und Fragen . 3.3 Wahrnehmung, Beobachtung und Austausch . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einblick in den systemischen Methodenkoffer . . . . . . . . . . 91
Visualisierung in systemischer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
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4.1 Der typische Rahmen für Beratung, Coaching und Therapie . . . . 92 4.2 Freie Arbeit mit Bildern – eine Ebene zum Drüberreden . . . . . . . 95 4.3 Genogramm – Arbeit mit einer Bildsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4.4 Lebensfluss und Strukturaufstellungen – das dreidimensionale Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.5 Symbolsprachen und Symbolsysteme für neue Perspektiven . . . 105
5.1 Visualisierung – eine universelle Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Komplexes wird einfach – mit Bildern auf den Punkt kommen . 5.3 Visualisierung systemisch nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Denken, Verstehen, Lernen und Zuhören mit Stift . . . . . . . 5.3.2 Mitschreiben und Dokumentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Kommunikation in Beratung, Coaching und Therapie . . . . 5.3.4 Erklären, Illustrieren und Präsentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Auf die Plätze, fertig, los! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Inspirieren lassen – Vokabelbibliotheken und Designvorlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Just do it – üben, üben, üben und … einfach machen! . . . .
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Ran an den Stift – so geht Visualisieren . . . . . . . . . . . . . . . 129 6.1 Visuelle Vokabeln – Die Grundformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Der Punkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Die Linie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Zwei Dimensionen – einfache Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Das Viereck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5 Das Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6 Der Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.7 Drei Dimensionen – komplexere Formen . . . . . . . . . . . . . . 6.1.8 Mischformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.9 Die Schleife und das Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.10 Die Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Visuelle Vokabeln – Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Das Gesicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Gefühle und Mimik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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6.2.3 Der Körper und die Körperhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Gestik mit Armen und Händen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Typische Ausstattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Figuren in Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Visuelle Vokabeln weiterentwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Schrift und Text in Visualisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Konturen, Farbe und Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Arbeiten mit nur einer Farbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Arbeiten mit vielen Farben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Ausstattung für systemisches Visualisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einblicke in unsere systemische Visualisierungspraxis . . . 183
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7.1 Beispiele für Denken, Verstehen, Lernen und Zuhören mit dem Stift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Drei Schritte für mehr Klarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Ressourcenschonende Konzeption in Wort und Bild . . . . . 7.1.3 Neues lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Mitschreiben und Dokumentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5 Öffentliches Visualisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Ad-hoc-Visualisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Visualisierung anregen mit Arbeitsblättern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Illustrationen als Begleitung von Informationen . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Just do it – Unterstützung und Inspiration durch andere . . . . . . .
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Systemisches Visualisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Inhalt
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Noch ein Buch über systemisches Arbeiten – muss das sein?
Jepp. Es muss. Warum? Ganz einfach: Die systemische Arbeit mit Menschen und die Visualisierung über Bildsprache und Text ergänzen sich perfekt und befördern sich gegenseitig – beides zusammen gibt einen unglaublichen Schub für die Arbeit mit Menschen und auch für das gesamte Restleben. Systemisches Visualisieren ist ein Zusammenspiel aus einer umfassenden, lösungsorientierten Perspektive, einer menschenfreundlichen Haltung in psychosozialer Arbeit und einer nahezu universellen Sprache mit hohem individuellem Identifikationswert.
Systemisches Arbeiten und Visualisierung – Explain it like I am five
Noch ein Buch über systemisches Arbeiten – muss das sein?
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Was ist systemisches Arbeiten? Der einzelne Mensch und mögliche Auffälligkeiten oder Störungen in seinem*ihrem Verhalten werden nicht länger nur für sich betrachtet. Das Verhalten wird stattdessen im Zusammenhang – eben in einem bestimmten System – gesehen und verstanden. Damit gibt es weniger Notwendigkeit für potenziell stigmatisierende Diagnosen oder andere eindimensionale Zuschreibungen – die Verantwortung für Veränderung liegt nicht nur auf den Schultern einer Person, sondern es gibt mehrere Menschen im System, die zu Veränderungen und Lösungen beitragen können. Der systemische Ansatz kommt ursprünglich aus der Familientherapie, prägt mittlerweile aber die begleitende Arbeit mit Menschen in unterschiedlichsten Feldern, seien es Sozialpädagogik, Beratung, Coaching, Therapie, (Aus-)Bildungssituationen oder auch ganz andere Kontexte. Zentrales Werkzeug in systemischer Arbeit ist die Sprache. Sie ist nicht nur Kommunikationsmittel: Vor allem werden mit ihr Wirklichkeiten verhandelt und neue Perspektiven eröffnet. Auch andere erfahrungs- und erlebnisorientierte Methoden werden von systemisch arbeitenden Menschen angewandt, um alle bisher gedachten Hypothesen, Erklärungen und Gedanken für die Suche nach einer Lösung zu nutzen, auch bisher noch nicht oder nicht mehr Bewusstes. Dazu werden alle Sinne und der gesamte Körper, dessen Erinnerungen und/ oder Ideen mit einbezogen. Viele systemische Methoden arbeiten mit Vergegenständlichung oder Abbildung von Situationen bzw. Konstellationen. Die Systeme werden so in den Raum oder auf den Tisch geholt und von allen Seiten betrachtet. Klassische Methoden sind beispielsweise das Erstellen von Familienstammbäumen (Genogramme) oder die Darstellung von Lebensläufen oder (Familien-)Systemen mit Seilen und verschiedenen Figuren. Was ist Visualisierung? Visualisierung im engeren Sinne ist ebenfalls eine Sprache. Eine, die nicht mit Buchstaben, Lauten, Wörtern und Sätzen arbeitet, sondern mit Bildern. Menschen tauschen sich seit jeher mittels Bildern aus, von Höhlenmalerei bis zum Bahnhofs-Piktogramm, vom Strichmenschen zum Rembrandt. Bildsprache ist im Unterschied zu Schrift- und Sprechsprachen sehr wenig festgelegt und reglementiert. Sie ist schnell erlernbar (eigentlich können wir sie alle schon) und fast universell einsetzbar. Deshalb gehört Visualisierung (im Folgenden mitunter auch nur »Visu« genannt) in den Instrumentenkoffer systemisch arbeitender Berater*innen. Dass sie dort bislang ein Schattendasein führt, wollen wir ändern. Es kommt noch ein weiterer Grund hinzu: Visualisierung als systemische Methode bereichert das Denken und macht einfach Spaß. Das erfahren wir in unserer Beratungsarbeit: Visualisierung lässt unseren Austausch mit Klient*innen, unsere Trainings und Workshops bunter und fröhlicher werden. Wir kommen schnel-
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Noch ein Buch über systemisches Arbeiten – muss das sein?
ler auf den Punkt. Wir verstehen uns selbst und andere besser und befördern Entwicklung und Veränderung. Deshalb ordnen wir diese Technik der systemischen Grundausstattung zu und zeigen, wie sie den Methodenkoffer bereichern kann. Das ist sowohl für Menschen interessant, die schon lange systemisch arbeiten und mal (wieder) etwas Neues ausprobieren wollen, aber ebenso für Visualisierende aus allen Bereichen, die neugierig auf systemisches Denken und Arbeiten sind, und natürlich auch für Personen, die beides (besser) kennenlernen wollen. Also Stifte gespitzt halten – wir präsentieren im Folgenden unser Verständnis von systemischer Arbeit in Wort und Bild. Außerdem erklären und zeigen wir, wie Visualisieren geht!
1.1 Digitales Zusatzmaterial – vom Buch zum Workshop
Es lohnt sich ein Blick ins digitale Arbeitsmaterial
Um zu ermöglichen, dass unsere Leser*innen tatsächlich »Einfach machen!«, stellen wir umfangreiches digitales Zusatzmaterial bereit – quasi der Workshop zum Buch. Das Online-Material ist im Webshop (https://www.vandenhoeckruprecht-verlage.com) beim Buch unter »Downloads« abrufbar. Einfach ausdrucken und analog bearbeiten oder downloaden für die direkte digitale Bearbeitung! Falls das nicht möglich ist, sind irgendein Blatt Papier und ein Stift sowie ein Blick auf das digitale Material ebenfalls völlig ausreichend.
Nutzungshinweis für digitales Material
Noch ein Buch über systemisches Arbeiten – muss das sein?
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1.2 Wie wir zum Visualisieren gekommen sind Wir verstehen uns als systemische Visualistinnen: Wir sprechen mit Bildern und malen mit Worten! Dabei haben wir das große Ganze im Blick und suchen nach dem Wesentlichen, nach Zusammenhängen und der Ordnung, die aus dem jeweiligen System auftaucht.
Wer schreibt hier eigentlich?
Professionalisiert haben sich unsere Zugänge zu systemischer Arbeit und Visualisierung während unserer unterschiedlichen Aus- und Weiterbildungen und beruflichen Erfahrungen. Wir kommen fachlich aus der Psychologie, Sprachwissenschaft und Soziologie und haben Freude am Sprechen, an Gesprochenem und Geschriebenem. Besonders, wenn Metaphern und Bilder Sprache und Texte bereichern. Inzwischen arbeiten wir gemeinsam in eigener systemischer Coaching- und Beratungspraxis und nutzen Visualisierung in unseren Coachings, Trainings und Workshops als Methode zur Dokumentation, für Arbeitsblätter oder Flipcharts, zum Erklären oder zur Illustration, für konzeptionelles Arbeiten und zum gemeinsamen Denken.
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Noch ein Buch über systemisches Arbeiten – muss das sein?
1.3 Herzlich willkommen – wo ist der Einstieg günstig? Jede*r Leser*in wird einen eigenen Weg durch das Buch und das digitale Zusatzmaterial finden und ist dazu eingeladen, auch mittendrin anzufangen und kreuz und quer zu lesen – ganz in Abhängigkeit davon, aus welcher Richtung und mit welchem Ziel Buch und Lesende zusammenkommen. Selbstverständlich sind im Text Hinweise für Querverbindungen enthalten.
Herzlich willkommen – Zielgruppen und Lesehinweise
Vielleicht lohnt es sich für die Entscheidung zum Loslesen zu überlegen, wo ein guter Startpunkt ist. Dazu eignet sich der erste Ausflug ins digitale Zusatzmaterial.
Noch ein Buch über systemisches Arbeiten – muss das sein?
Selbstreflexion, Vorerfahrungen und Erwartungen
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• W er neugierig auf alles ist, fängt einfach vorne an und folgt unserer Sortierung. • Wer schon viel Visu-Expertise mitbringt, aber bisher nur wenig über das systemische Denken und Arbeiten weiß, kann gut mit Kapitel 2, 3 und 4 loslegen. Wir starten in die systemische Perspektive mit einer kurzen Selbsterfahrung und nehmen unsere persönlichen Held*innen in den Blick: Was haben wir von diesen Menschen gelernt, was hat uns inspiriert? Außerdem zeigen wir die wesentliche systemische Arbeitsweise: Beobachtung und Austausch. Dabei spielen die Wahrnehmung aller Sinneseindrücke, der Körper und Gefühle sowie die Sprache eine s stemische Kapitel 2, 3 und 4 – Sy große Rolle. Weil wir auch Visualisierung als Sprache verstehen, erklären wir Sprache als Regel- und Symbolsystem sowie zentrales Kommunikationsmittel und Arbeitswerkzeug in systemischer Arbeit. Ein Blick auf einige typische systemische Methoden macht deutlich, wie mit Bildern und Symbolen gearbeitet wird. Visualisierung passt in diese Arbeitshaltung und das Methodenrepertoire hervorragend hinein!
• Leser*innen mit systemischer Vorerfahrung und entsprechend breitem Methodenrepertoire mögen vielleicht gleich beim Visualisieren in Kapitel 5 einsteigen. Wir zeigen, was Visualisierung im engeren Sinne über die bekannten systemischen Methoden hinaus ist, was Visualisierung als Sprache und Kulturtechnik ausmacht und wie Visualisierung funktioniert. Außerdem erklären wir, wie man mit dem Stift denken, dokumentieren, kommunizieren und Wissen oder Ideen Kapitel 5 – Vis ualisierung in systemischer Arbeit präsentieren kann.
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Noch ein Buch über systemisches Arbeiten – muss das sein?
• Falls Finger und Stift nach den ersten Seiten schon ungeduldig zucken: Ran ans Digi-Material und an Kapitel 6! Denn dort geht es sofort los mit »Einfach machen!« und die Visu-Sprache ausprobieren. Ausgehend von ganz einfachen Zeichen, die jede*r zeichnen kann, zeigen wir, wie visuelle Vokabeln – gegenständliche Symbole ebenso wie Figuren – entwickelt werden. Auch Kombinationen dieser Symbole und die Verwendung von Farbe und Perspektive erklären wir. Naheliegend, dass es hier besonders viel digitales Material gibt! Kapitel 6 – Ran an den
Stift
• Wer mehr von unseren eigenen Erfahrungen sehen und dazu lesen will, um sich von den Ergebnissen her dem Thema zu nähern: Kapitel 7 ist die richtige Tür. Hier zeigen wir verschiedene Beispiele von Visualisierung aus unserem Tagesgeschäft. Das digitale Zusatzmaterial sowie die Illustrationen im Buch sind ebenfalls Beispiele, die verdeutlichen, wie wir arbeiten. Das Buch ist in den frühen 2020er Jahren entstanden, und wir haben beim Schreiben sowie in unserer Praxisarbeit vom gesamtgesellschaftlichen Digitalisierungsschub profitiert – vorher hatten wir fast nur mit Stiften und auf Papier gezeichnet, unsere Lernkurve im digitalen Feld war und ist steil. Wir sind neugierig darauf, wie diese Reise weitergeht. Die Wahrnehmung der Welt passiert in Körper und Kopf, egal, ob man mit Papier und Stift oder digital arbeitet und auch egal, ob man sich leibhaftig begegnet oder über die digitale Bande. Wir arbeiten mit dem, was da ist!
Kapitel 7 – Einblicke
Noch ein Buch über systemisches Arbeiten – muss das sein?
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• Und wer lesen will, was unsere Schlussfolgerungen für systemisches Arbeiten und Visualisieren sind: Das steht am Schluss. Es soll ja Leute geben, die Bücher von hinten anfangen … Visualisieren im engeren Sinne und systemisches Arbeiten sind in unterschiedlichen Töpfen und zu unterschiedlichen Zeiten gewachsen. Sie haben viele Gemeinsamkeiten und ergänzen sich hervorragend. Es kann sich sowohl für Visualisierende lohnen, etwas über systemische Methoden, Haltungen und Kompetenzen zu erfahren, als auch für systemisch arbeitende Menschen, sich mit Kapitel 8 – Systemische Visualisierung zu beschäftigen. s Visualisieren
Systemisches Visualisieren für alle! Aber nun genug der Vorrede. Nicht vergessen: Papier oder Digi-Material bereitlegen, den analogen Stift spitzen oder den digitalen Stift aufladen … Jetzt geht’s los!
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Noch ein Buch über systemisches Arbeiten – muss das sein?
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Systemisches Denken und Handeln
Wir springen rein in die Welt des systemischen Arbeitens. Dazu starten wir bei den Lesenden selbst, um zu zeigen, dass Einzelne nicht nur für sich stehen, sondern immer Teil von Systemen sind. Systemen, in die sie hineinwirken und die auf sie selbst wirken. Für jede*n Leser*in wird dieser wechselseitige und zirkuläre Bezug auch im digitalen Zusatzmaterial erfahrbar (Kapitel 2.1).
Zirkuläre Bezüge
Außerdem erzählen wir Auszüge aus unserer eigenen systemischen Lerngeschichte, und zwar anhand von Menschen, die wir inspirierend finden. So bekommen Hintergründe, Theorien, Haltungen, Entwicklungen oder auch bestimmte Methoden ein »Gesicht«. Alles, was mit Menschen und Bildern verknüpft ist, können wir uns besser merken. Am Ende jedes Unterkapitels in diesem Buchabschnitt gibt es deshalb einen »Spickzettel« (Kapitel 2.2).
Systemisches Denken und Handeln
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2.1 Systemische Selbsterkundung Wir sind alle Systeme, jeder Mensch ist eins, und es gibt darüber hinaus für jede und jeden von uns verschiedene größere und kleinere Systeme oder Kontexte, in die wir in unterschiedlichen Rollen eingebunden sind oder waren. Das alles prägt uns und beeinflusst unsere Arbeit, unser Verständnis der Welt – unser Sosein, wie wir eben (geworden) sind. Um andere Menschen professionell begleiten zu können, ist es wichtig, eigene Themen reflektiert und blinde Flecken kennengelernt zu haben (Schiersmann, in Tippelt u. v. Hippel, 2010). In vielen Beratungs- und/ oder Therapieausbildungen sind die Selbsterfahrung und der hohe praktische Anteil deshalb ein unverzichtbares Element. Im digitalen Material der folgenden Seiten finden sich einige erste Anregungen, wie systemische Visualist*innen sich selbst als System im System erkunden können. Begleiter*in an sich
Mein Leben als Fluss
Die zeitliche Dimension eröffnet den Blick darauf, dass es jeden Menschen einerseits hier und jetzt gibt, zum Beispiel in einer aktuellen Begegnung. Doch es existiert andererseits auch eine Version dieses Menschen von gestern, von vorgestern, eine Jugendversion, eine Kinderversion, ein kleines Baby. Veränderung und Entwicklung sind nicht nur immer möglich, sondern wahrscheinlich. Es gibt von jeder Person unendlich viele zukünftige Versionen, zu denen Menschen demnächst werden könn(t)en. Die Metapher des Lebensflusses (Kapitel 4.4) eignet sich, um diese biografische Perspektive einzunehmen und sich klarzumachen, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, selbst wenn es immer der gleiche ist. Für biografische Erforschung können verschiedene Fragestellungen und Themen im Gestern, Jetzt und Demnächst in den Blick genommen werden. Zum Ausprobieren gibt es im Digi-Material eine Übung mit einem Thema der Wahl. Jede*r kennt unterschiedliche Systeme, in denen Menschen in jeweils verschiedenen Rollen agieren, mit unterschiedlichen Funktionen eingebunden, mit vielen Menschen vernetzt und in Beziehung zueinander sind. Im Verlauf des Meine Systeme und ich
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Systemisches Denken und Handeln
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Meine Systeme und ich Meine Familie und ich
Lebens sind Menschen Mitglieder verschiedener (Bildungs-)Institutionen, sind Kita-Kind, Schüler*in, danach vielleicht in beruflicher oder akademischer Ausbildung. Daran können sich spezifische berufliche Kontexte anschließen. Wenn der Lebenslauf nicht so »standardisiert« verläuft, sondern reicher ist an Weggabelungen, Umwegen (die ja bekanntlich die Ortskenntnisse erweitern), Raststätten oder unfreiwilligen Pausen, so durchlaufen wir doch alle im Wesentlichen die gleichen und dennoch verschiedene Systeme, wie beispielsweise auch Pflegeeinrichtungen, Hilfekontexte, Vereine oder Organisationen. Zusätzlich werden Menschen durch übergreifende Merkmale wie Kultur, Religion und andere gesellschaftliche Aspekte wie das politische System beeinflusst. Auch dafür eignet sich die visuelle Auseinandersetzung. Eine biologische Familie hat jede*r von uns. Selbst dann, wenn man sie nicht kennt. Die bewährte Methode, um sich damit auseinanderzusetzen, was die Familie Menschen – auch über mehrere Generationen – mitgegeben hat, ist der eigene Stammbaum. In der Welt des systemischen Arbeitens heißt dieser Genogramm (Kapitel 4.3). Darüber hinaus gibt es Freundschaften, Nachbar*innen oder auch Wahlverwandtschaften bzw. logische Familien – das System der relevanten sozialen Beziehungen (im digitalen Zusatzmaterial findet sich auch ein Impuls zu »Meine Beziehungen und ich«, siehe auch Kapitel 5.3.3). Eine Erkundung der eigenen Person in all diesen Dimensionen ist nicht mit dem Ausfüllen einiger Arbeitsblätter abgeschlossen. Es gibt noch viel mehr zu entdecken an sich selbst und dem eigenen So-(geworden)-Sein. Die Begleitung durch Berater*innen, Coaches oder Therapeut*innen, zum Beispiel im Rahmen der Selbsterfahrung während einer systemischen Ausbildung, unterstützt und erweitert eigene Reflexionsprozesse. Dadurch lassen sich andere – und mehr – Erkenntnisse gewinnen, als wenn man allein auf vermeintlich Bekanntes schaut. Man erklärt einer dritten, fremden Person das eigene Sosein, und dabei findet Selbstklärung statt. Unser digitales Material eignet sich für erste Explorationen und auch als erster Einblick in Visu-Arbeitsmaterialien.
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Systemisches Denken und Handeln
Damit die Arbeit mit Menschen nicht unterkomplex wird, kann, darf oder sollte sich jede Person, die im psychosozialen Feld tätig ist, neben dem eigenen Sosein auch vor Augen halten, dass alle Menschen, mit denen wir interagieren und arbeiten, jeweils Systeme in Systemen sind. Jede*r Einzelne steckt ebenfalls in einer spezifischen, bunten und einzigartigen Konstellation. Jede*r bringt eine vergleichbar komplexe Landkarte der Vielfalt mit und verhält sich dementsprechend, das heißt er*sie versteht, denkt und nimmt die Welt aus dieser eigenen Position und vor dem Hintergrund der individuellen Erfahrungen wahr. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sind die verschiedenen Handlungslogiken und Weltsichten von Beratungsperson und Klient*innen nicht immer übereinstimmend. Für Beratende ist eine Sensibilität für diese Verschiedenheit, verbunden mit Neugierde und einer offenen Werthaltung, unverzichtbar. Als Profis sind Beratende in weitere Systeme eingebunden. Es gibt ein systemisches Kontextmodell, in dem die verschiedenen Ebenen in Wechselwirkung miteinander stehen und aktiv und bewusst gestaltet werden können. Zwischen Berater*innen (Beratendensystem) und Ratsuchenden (Ratsuchendensystem) Alle sind Systeme im System entsteht ein drittes lebendiges System, nämlich die Arbeitsbeziehung, der Beratungsprozess oder das Beratungssystem. Dieses ist als solches wiederum eingebunden in den organisationalen und gesellschaftlichen Kontext oder Rahmen (Abbildung: Systemisches Kontextmodell nach Schiersmann, S. 22). In systemischen Beratungseinrichtungen gibt es ein Selbstverständnis bezüglich des eigenen Arbeitens und der Standards von guter Beratung, im besten Fall schriftlich festgehalten in einem Leitbild, andernfalls in den Köpfen und Herzen der Mitarbeitenden (Kapitel 4.1). Dazu kommen spezifische Strukturen wie der Organisationsaufbau und sich daraus ergebende Prozessabläufe, Kommunikationswege und Arbeitskulturen. Auch die räumlich-sächliche Infrastruktur, die Stellenausstattung und -besetzung sowie Finanzierungsaspekte gestalten die Gesamtsituation.
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Systemisches Kontextmodell nach Schiersmann (eigene Darstellung nach Tippelt u. v. Hippel, 2010, S. 753)
Aus unserer Erfahrung zeigt sich die Bedeutung des organisationalen Umfelds vielfach in kollegialen Fallberatungen (z. B. nach Tietze, 2010) oder bei professionell begleitetem Austausch über die Beratungspraxis in Super- bzw. Intervisionen. Wenn es im Beratungsgeschehen zu Schwierigkeiten kommt, ist es manchmal die Organisation als »Dritte im Bunde«, die das Beratungsgeschehen mit beeinflusst und bedingt. Das ist beispielsweise auch dann der Fall, wenn Systemiker*innen in Praxen oder Kliniken mit Diagnosen arbeiten müssen, um Abrechnungsanforderungen erfüllen zu können. An diesem Beispiel wird schon deutlich, dass der gesamtgesellschaftliche Kontext und das jeweilige System (Politik, Wirtschaft, Nation, Kultur, Religion, Weltanschauung etc.) ebenfalls eine Rolle für das Beratungsgeschehen spielen. Für diese Betrachtungsebene haben wir kein digitales Material im Angebot, verweisen aber auf den Qualitäts entwicklungsrahmen für Beratungseinrichtungen aus dem Feld Bildung, Beruf und Beschäftigung, wie er vom Nationalen Forum Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung e. V. herausgegeben wird (nfb, 2014c). Für systemisch arbeitende Menschen ist diese Kompetenz, das große Ganze im Blick zu haben und dabei zugleich das persönliche und professionelle Sosein und die Strukturen und Systeme, in denen systemische Arbeit stattfindet, zu kennen, mindestens genauso wichtig, wie bestimmte Methoden und Interventionen
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Systemisches Denken und Handeln
zu kennen und anwenden zu können. Letztlich geht es bei der professionellen Begegnung mit einzelnen Personen, Gruppen, Teams oder Organisationen darum, eine Arbeitsatmosphäre zu gestalten, die lösungs- und ressourcenorientiert ist und Menschen oder Systeme in Bewegung bringt.
2.2 Systemische Held*innen Systemisches Arbeiten, Systemische Therapie und Beratung sind ein weites und hoch spannendes Feld. Es gibt viele Möglichkeiten, sich dieses Feld zu erschließen und es zu verstehen. Eine davon ist es, assoziativ ranzugehen, beispielsweise indem die Anfänge einer bestimmten Entwicklung bzw. Strömung in den Blick genommen werden, um ein Bild entstehen zu lassen, ein Gefühl für die Zeit, den Ort Freies Assoziieren und die Menschen zu entwickeln, die zu jener Phase prägend zu einer Wiege waren für das systemische Arbeiten. In einem Workshop des systemischen Ansatzes zum systemischen Denken (Triebiger, 2021) haben wir einmal frei zum Esalen Institute gebrainstormt, einer Bildungseinrichtung im kalifornischen Big Sur, die heute noch existiert. Welche Bilder, Wahrnehmungen, Gerüche, welche Musik, welche Literatur tauchen auf, wenn die Westküste Kaliforniens und die 1960er Jahre im Raum sind …? Esalen wurde als interdisziplinärer Lern- und Begegnungsort 1962 gegründet. Bis heute finden dort jährlich ca. 500 Workshops zu ganz unterschiedlichen Themen statt. Gerade in den Gründungsjahren haben sich hier viele verschiedene Menschen aus den unterschiedlichsten Disziplinen getroffen und miteinander gedacht, gelernt und diskutiert. Aus der Musik zum Beispiel Bob Dylan und Joan Baez, aus der Literatur Aldous Huxley und Ray Bradbury, aus der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Ecke Erich Fromm und Frieda Fromm-Reichmann ebenso wie Virginia Satir, Timothy Leary und Paul Watzlawick, zudem Naturwissenschaftler wie Abraham Maslow, James Lovelock, Carl Sagan und Heinz von Foerster oder Ethnologen wie Carlos Castaneda und Gregory Bateson, um nur einige zu nennen. Es muss eine ausgesprochen experimentelle, Fachgrenzen überschreitende – und beinahe revolutionäre – Atmosphäre gewesen sein, in der die Menschen damals zusammen gearbeitet und gedacht haben. Vielfach wurden bestehende Erklärungsmuster und therapeutische Praktiken durch systemische Erklärungen und Ideen radikal infrage gestellt. Daraus sind neue Interventionsformen und Methoden entstanden, wobei die Pionier*innen nicht selten ihre Reputation aufs Spiel gesetzt und Neues gewagt haben.
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Ein anderer Zugang ist das im deutschsprachigen Raum zentrale Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer (2016). Es zeichnet ausführlich und gut lesbar die Geschichte der systemischen Therapie nach und stellt alle wesentlichen Methoden und theoretischen Hintergründe sowie Anwendungsfelder vor. Die ersten Ansätze des familienorientierten Arbeitens Lernen durch Lesen liegen demnach schon in der Sozialarbeit des 19. Jahrhunderts, damals allerdings mit eher pathologisierend-forschendem Blick nach Ursachen für psychische Störungen. Beginnend in den 1960er Jahren entstanden dann die wichtigen Schulen der systemischen Therapie, zunächst in den USA, später auch in Europa, Israel und Lateinamerika. Deutlich wird in diesen beiden Varianten des Zugangs zum systemischen Arbeiten, dass es nicht den oder die eine*n Vordenker*in gibt, die*der diese neue Perspektive begründet hat, sondern dass viele Menschen – sprich: ein System – mit ihren Ideen und Experimenten dazu beigetragen haben, dass sich entwickelt hat, was wir heute systemisches Arbeiten nennen. Sehr eindrücklich wurde diesem Umstand vom Projekt der Systemischen Geschichtswerkstatt (Levold et al., 2018a) Rechnung getragen. Individuelle Entdeckungsreise Die dortige nicht-lineare Online im Online-System System-Darstellung der Geschichte des systemischen Ansatzes bietet sich zum Stöbern an. Es werden Verbindungen zwischen Personen, Organisationen und Instituten, Therapieansätzen, Schlüsselwerken und Zeitschriften sowie über 70 bedeutsamen Ereignissen gezeigt, die jeweils mit weiterführenden Artikeln, Videos und Informationen verknüpft sind. Wir zeigen im Folgenden einige dieser Menschen und Ideen auf, die uns für die systemische Arbeit und auch für das Visualisieren gute Wegbegleiter*innen waren und sind. Jedes Unterkapitel schließen wir mit einem visuellen »Spickzettel« zu
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Mein Lernen und ich
der betreffenden Person und unseren entsprechenden Learnings ab. Apropos Spickzettel: Gute Gelegenheit, mit dem nächsten Digimaterial mal zu reflektieren, wie lernen bisher gut funktioniert …
2.2.1 V irginia Satir und die humanistische Familientherapie Als Erstes picken wir uns Virginia Satir heraus. Sie ist eine Vertreterin der wachstums- und erlebnisorientierten humanistischen Familientherapie und hat in einer Zeit, als es fast nur Männer in der Familientherapie gab, viele prägende Spuren hinterlassen und ihre besondere Perspektive eingebracht. Geboren wurde Satir 1916 in Neillsville, Wisconsin, gestorben ist sie 1988 in Palo Alto, Kalifornien. Sie arbeitete zunächst als Lehrerin, dann als Sozialarbeiterin und Therapeutin und wandte sich schon früh der Eltern-Kind-Beratung zu. In Palo Alto gehörte sie zu den Mitgründer*innen des Mental Research Institutes (MRI) und war maßgeblich an der Entwicklung des ersten familientherapeutischen Ausbildungsprogramms in den USA beteiligt. Als Lehrende und Autorin wirkte sie an vielen Instituten und Kliniken in der ganzen Welt, nicht selten wird von ihr als einer »Lichtgestalt« und einem Vorbild gesprochen. Offenbar traf sie oft den richtigen Ton und arbeitete mit einer wunderbar gelungenen Mischung aus Leichtigkeit und Tiefgang, Humor, Schlagfertigkeit und Ernst (siehe z. B. das Interview mit Virginia Satir in Gester, 2017). Uns und andere inspiriert bis heute ihr optimistisches und humanistisches Menschenbild: der Glaube daran, dass jeder Mensch gut und liebenswert sei, manche es nur (noch) nicht (mehr) wissen. Satir geht in ihrem Ansatz davon aus, dass Selbstwertgefühle nicht angeboren sind, sondern erlernt werden. Die Familie als erste Sozialisationsinstanz ist dafür ein wichtiger Ort – Kindergarten, Schule und andere Institutionen sowie die Peergroups sind weitere –, und nicht immer gelingt dieses wichtige Lernerleben. Sie selbst schilderte es in einem Interview als persönliches Schlüsselerlebnis, eines Tages erkannt zu haben, dass »ich mit allen mehr gemeinsam habe, als dass ich mich von anderen unterscheide« (Gester, 2017, S. 90). Diese Verbundenheit und die Suche nach Gemeinsamkeiten waren bestimmend für ihre therapeutische Haltung und ihr Tun. Die fünf menschlichen Freiheiten Sowohl für uns persönlich als auch in unserer systemischen Arbeit sind insbesondere die von ihr postulierten fünf menschlichen Freiheiten (Satir, 1994) nicht wegzudenken. Sie legen einen Fokus auf Gefühle und Bedürfnisse und erlauben Menschen, authentisch, also »echt« und bei sich selbst zu sein.
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1. Die Freiheit, zu sehen und zu hören, was im Moment wirklich da ist anstatt dessen, was sein sollte, gewesen ist oder erst sein wird. Es ist eine alltägliche Herausforderung, aufmerksam und bewusst durchs Leben zu gehen, uns selbst und unseren Kontext zu beobachten und dies in Coaching und Therapie auch für unsere Klient*innen zu ermöglichen. Für unsere Arbeit ist es wichtig, im Hier und Jetzt sein zu können und es gut zu unterscheiden vom Gestern und vom Im Hier und Jetzt sein möglichen Morgen. Es ist gut, erst einmal nur wahrzunehmen und zu beobachten und nicht gleich zu bewerten. Systemisches Arbeiten ist dabei hilfreich: Kommunikation, Denkprozesse, Bewertungen werden gebremst, und es entsteht Zeit für bewusstes Wahrnehmen und Fühlen. Viele der systemischen Methoden, auch die Visualisierung, sorgen dafür, dass in der Kommunikation eine weitere Darstellungs- oder Bezugsebene entsteht, die zur gründlichen Auseinandersetzung, zum Perspektivwechsel und zu einer Verlangsamung der Kommunikation einlädt (Kapitel 4). 2. Die Freiheit, auszusprechen, was ich wirklich fühle und denke, und nicht das, was von mir erwartet wird, und 3. die Freiheit, zu meinen Gefühlen zu stehen und nicht etwas anderes vorzutäuschen. Der Fokus auf Gefühle und Gedanken ist für uns unverzichtbar. Dazu gehört es, Gefühle zuzulassen, sie als solche zu erkennen und sie einordnen zu können. Weiterhin braucht es Zutrauen, eine stabile Beziehung und Worte (oder auch Bilder), um Gefühle und Gedanken überhaupt zur Sprache zu bringen, ohne zu werten und/oder andere zu verletzen. Es gibt keine Gefühls- oder Gedankenverbote und auch keine Dinge, die nicht gesagt, gezeichnet oder sonst wie gezeigt werden dürfen! Alle Gefühle und Gedanken sind erlaubt und so, wie sie sind, richtig und gültig. Es gibt keine falschen Gefühle. Es kann hilfreich sein, sie offenzulegen und im geschützten Raum von Beratung oder Therapie in Ruhe zu sichten und zu sortieren. Gefühle sind sowieso da und nehmen Einfluss auf uns und die Aussprechen, was Situation, ob wir es wollen oder nicht. ich fühle und denke Echt sein
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4. Die Freiheit, um das zu bitten, was ich brauche, anstatt immer erst auf Erlaubnis zu warten, und 5. die Freiheit, in eigener Verantwortung Risiken einzugehen, anstatt immer nur auf Nummer sicher zu gehen und nichts Neues Um etwas bitten zu wagen. Für eigene Bedürfnisse Verantwortung zu übernehmen und aktiv für sich zu sorgen klingt trivial, ist es aber nicht. Vielfach fällt es Menschen schwer, zu erkennen und auszusprechen, wohin Sehnsüchte und Wünsche gehen. Ähnlich wie bei den Gefühlen fehlt es häufig an Wissen über Bedürfnisse und Bedürfniserfüllung, manchmal auch an (eigener) Erlaubnis, Bedürfnisse zuzulassen. Dabei spielt oft Angst vor Zurückweisung eine Rolle, ebenso wie Unsicherheit, ob die Bedürfnisse »passend« sind. Doch jede*r von uns ist zuerst einmal für sich selbst verantwortlich. Virginia Satir wird – auch im Hinblick auf die Selbstfürsorge – von Therapeut*innen bisweilen mit dem Satz »If it isn’t fun, fuck it« zitiert (so z. B. B. Hoch in Levold, 2016). Es ist nämlich leichter, für andere zu sorgen, wenn ich selbst versorgt bin. Das ist wie im Flugzeug: Dort mahnen Mal was riskieren die Sicherheitshinweise, im Notfall zunächst sich selbst die Atemmaske aufzusetzen, bevor anderen geholfen wird. Diese Eigenverantwortung setzt voraus, dass Menschen sich ihrer Bedürfnisse bewusst sind und für sie eintreten können und auch, dass sie entscheiden können/dürfen/ sollen, welche Dinge sie sich zutrauen und wo sie sichere Räume verlassen können. Genauso ist es, wenn ich als Therapeut*in die Erlaubnis von Klient*innen erfrage, mitzuschreiben oder zu visualisieren – vielleicht, weil ich besser zuhören kann, wenn ich sehe, was ich höre. Diese fünf Freiheiten beschreiben gut, mit welcher Haltung wir versuchen, bei Klient*innen das Zutrauen in sich selbst und in andere zu stärken – auch indem wir es mit Wiebkes Tante Hellusch halten.
Wiebkes Tante Hellusch
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Meine rlaubnisse E und positive Mantras
Sie ist eine leidenschaftliche Grundschulpädagogin in Bremen und konnte schon des Öfteren berichten, dass es nicht immer rund läuft, wenn viele verschiedene kleine und große Menschen in einem Kontext miteinander lernen und arbeiten. Und es ist auch gut möglich, dass es wiederholt das gleiche Kind ist oder die gleiche Lehrkraft, bei der Sachen aus dem Ruder laufen. Ein Satz, den sie in solchen Situationen geprägt hat, ist dieser: »… den (oder die) lieben wir uns schon zurecht!« Er kam ursprünglich von der Begleiterin eines Inklusionskinds und ist so etwas wie das handlungsweisende Schulmotto geworden. Das hieraus sprechende unerschöpfliche Wohlwollen und Zutrauen in die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder und der Gruppe ebenso wie in sich selbst als Lehrende und Erwachsene ist ähnlich beeindruckend und inspirierend wie die beschriebene Haltung von Virginia Satir. Über die Stärkung des Selbstwertgefühls jedes einzelnen Menschen werden die Wahrhaftigkeit und der Zugang zu eigenen Bedürfnissen befördert. Auf dieser Basis wird echte und wirksame Kommunikation zwischen Menschen möglich, es können Selbstheilungskräfte der Systeme im System freigelegt und auf diese Weise wie von innen heraus Probleme entknotet und gelöst werden. Vermutlich ist diese Vorgehensweise nicht immer umsetzbar, und bestimmt gibt es Grenzsituationen – gerade dann jedoch ist das Bild einer Lehrerin mit 28 kleinen Kindern, die sich diesen Satz als Mantra sagt und ruhig weiteratmet, für uns hilfreich. Welche Mantras und Erlaubnisse sind wichtig und hilfreich? Im Digimaterial kann eine schöne Galerie entstehen. Virginia Satir zeigte diese Einstellung nicht nur in theoretischen Texten und Interviews, man kann sie auch gut in vielfältigen Videomitschnitten ihrer therapeutischen Arbeit beobachten (siehe z. B. PsychotherapyNet, 2015). Sie geht ganz dicht ran; fast erschreckend, wie nah sie den Menschen kommt, wie eng sie bei jenen steht, mit denen sie arbeitet – mittendrin: »Ich bin der Meinung, dass ein Abstand, der größer ist als ein Meter, die Beziehung zwischen Menschen sehr anstrengend macht« (Satir, 1994, S. 96). Dabei nimmt sie zugleich den Körper als Ausdrucksträger von Gefühlen und Ungesagtem in den Blick, denn Kommunikationsinhalte werden schließlich auch über nonverbale und parasprachliche Signale geäußert: in der Körperhaltung, in der typischen Gestik, in Stimmfarbe und -höhe, im Sprechtempo und auch in häufigen sprachlichen Mustern, also zum Beispiel der Nutzung bestimmter Vokabeln. Satir geht davon aus, dass es eine kongruente Kommunikationshaltung nur dann gibt, wenn die fünf Freiheiten gelebt werden können und eine Person einen stabilen Selbstwert hat – erst dann kann authentisch kommuniziert werden. In
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den allermeisten Situationen ist das jedoch nicht der Fall, und Inneres (Bedürfnisse, Ängste, Gedanken, Gefühle) und Äußeres passen nicht zueinander. Kommunikation findet dann statt mit einem »Haufen emotionaler Gauner, die ihr wahres Wesen verbergen, gefährliche Spiele miteinander spielen« (Satir, 1994, S. 139). In diesen Situationen hat Satir vier universelle Muster nicht-kongruenter Kommunikation beobachtet, wobei sie davon ausgeht, dass Menschen sich hinsichtlich ihrer präferierten Reaktionen auf Inkongruenz und Stress voneinander unterscheiden. Die Muster sind: Ablenken, Rationalisieren, Beschwichtigen und Anklagen. Kommunikationsmuster und Körperhaltungen Die folgenden Beschreibungen dieser Kommunika tionsmuster sind als Indikatoren-Pakete aus Körperhaltung, sprachlichen Besonderheiten und anderen beobachtbaren Merkmalen (wie Stimmfarbe, Lautstärke, Sprechtempo u. a.) hilfreiches Inventar zur (Selbst-) Beobachtung in der Therapie und Beratung. Sie schärfen das (Selbst-)Bewusstsein und die (Selbst-)Wahrnehmung. Es kann mit den Bildern und Informationen im Kopf hilfreich sein, mit dem eigenen Körper in die beschriebenen Körperhaltungen zu gehen und das passende Vokabular in der richtigen Form auszuprobieren, um sie zu erfahren und selbst zu spüren. Und wenn man die Bilder nicht nur im Kopf hat, sondern da rausholt und aufs Papier bringt – sie zeichnet –, kann das dazu führen, dass man sie gründlicher erforscht und begreift und später besser (wieder) erkennt und ändern kann.
Ablenken
Das Kommunikationsmuster von »Ablenker*innen« zeigt sich in unkoordinierten Bewegungen, hohem Sprechtempo, ständigen Themenwechseln und fehlendem Zusammenhang des Gesagten. Die Stimme ist oft geprägt durch eine eher hohe Tonalität, und die Sprecher*innen wirken oft fast benommen. »Rationalisierer*innen« sind oft auffällig unbewegt und reaktionsarm. Sie neigen zur Nutzung von Fremdwörtern, passiven oder unpersönlichen (»man«, »jede*r«, »jemand«) sowie nominalen Konstruktionen. Oft sprechen sie leise und monoton. Rationalisieren
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Beschwichtigen
Anklagen
Menschen, die im Kommunikationsmuster »Beschwichtigen« agieren, sprechen vielfach mit Abmilderungen und Einschränkungen des Gesagten oder heben am Satzende die Stimme, als würden sie Fragen stellen, auch wenn sie Aussagen treffen. Oft unterbrechen sie das Gegenüber und versuchen, Gesprächsinhalte vorwegzunehmen. Partikeln und Konjunktivkonstruktionen kommen häufig vor. Die Stimme klingt oft weinerlich und leise, als gäbe es keine Luft für eine volltönende Stimme. Die Personen wirken häufig unsicher und kraftlos, ziehen die Schultern hoch oder machen sich auf andere Weise kleiner, als sie tatsächlich sind. Anders – fast spiegelbildlich – agieren Menschen, die nach dem Kommunikationsmuster »Anklagen« handeln. Sie neigen zum Pauschalisieren (»immer«, »alles«, »nie«) und nehmen Zuschreibungen vor oder arbeiten mit Vorwürfen. Die Körperspannung ist hoch, sie sprechen von oben herab und die Stimme ist hart, schrill, fest und laut.
Kommunikationshaltungen bei mir und anderen
Spickzettel – Virginia Satir und die humanistische Familientherapie
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Satirs humanistische Grundhaltung und ihre Methoden Virginia Satirs beschriebene humanistische Grundhaltung hat sie darüber hinaus in vielen verschiedenen Methoden im familientherapeutischen Setting umgesetzt. Typisch für sie sind Kommunikationsübungen, z. B. das Malen gemeinsamer Bilder und der anschließende Austausch über deren Entstehung sowie das Ergebnis (Kapitel 4.2), oder Familienrekonstruktionsworkshops, in denen zur Familiengeschichte gearbeitet wird. Auch Familienskulpturen, eine Art Inszenierung von bestimmten Familienmustern, gehören zu ihrem typischen Repertoire.
2.2.2 Paul Watzlawick und der Konstruktivismus Zusammen mit Virginia Satir war auch Paul Watzlawick am Mental Research Institute in Palo Alto tätig. Viele seiner Bücher sind über die systemische Community hinaus bekannt und bis heute Bestseller, so zum Beispiel sein »Anti-Ratgeber« von 1983, »Anleitung zum Unglücklichsein«, oder – für ein etwas spezifischer interessiertes Publikum – »Menschliche Kommunikation« (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969). In seinem Werk lieferte er viele der Grundlagen der systemorientierten Psychotherapie (Deissler u. Gester, 2017), und oft wird – wie von dem deutschen Psychiater und Familientherapeuten Fritz B. Simon – hervorgehoben, dass er es gut verstanden habe, komplexe Gedanken zu ordnen und verstehbar zu erklären: »Er schaffte es, die manchmal doch sehr spröde und etwas wirr formulierten Ideen Gregory Batesons [eine Leitfigur für die Grundlagen der Systemtheorie] und seiner Mitarbeiter so aufzubereiten und zu ordnen – da half seine zwanghafte Seite –, dass auch unbedarfte Leute (wie ich als junger Arzt) sofort erkannten, welch Sprengstoff in ihnen lag. Während Bateson – etwas kokettierend – erzählte, dass nach seinen Lehrveranstaltungen die Studenten sich zuraunten, irgendetwas Bedeutendes sei wahrscheinlich referiert worden, nur wisse leider keiner, was, sorgte Paul dafür, dass auch die komplexesten Zusammenhänge noch verstehbar wurden« (Simon, 2007, S. 187). Das ist etwas, was systemisches Arbeiten und insbesondere Visualisierung auch leisten wollen: Klarheit in (noch) wirre Gedanken bringen und diese verstehbar machen. Watzlawick ist in seinem 85 Jahre währenden Leben viel herumgekommen, er sprach sieben Sprachen und hatte eine sehr vielfältige Ausbildung. Geboren 1921 im österreichischen Villach, lebte er nach einem Philosophiestudium zunächst in Venedig. Weitere Stationen waren Zürich, wo er bei C. G. Jung eine Ausbildung zum
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Konstruktivistische Perspektive in der systemischen Arbeit
Psychotherapeuten absolvierte, Indien, wo er sich mit Buddhismus, Yoga, Zen und Mystik beschäftigte, und San Salvador, wo er eine Professur für Psychotherapie innehatte. 1960 kam er ans Mental Research Institute, später lehrte er als Professor an der Stanford University. Bis zu seinem Tod lebte er nun in Palo Alto, doch sein Wirken und seine Wirkung erstreckten sich weltweit. Für systemische Visualist*innen ist Watzlawick vor allem wegen seiner Beiträge zur Idee des Konstruktivismus in der systemischen Psychotherapie interessant. Ganz einfach auf den Punkt gebracht ist damit die Annahme gemeint, dass jeder Mensch aus einer spezifischen subjektiven Perspektive und mit einem individuell unterschiedlichen Erfahrungswissen die Welt beobachtet und bewertet. Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass wir nicht alle dasselbe wahrnehmen, auch wenn wir das Gleiche betrachten. Obige Abbildung Konstruktivistische Perspektive in der systemischen Arbeit macht deutlich, dass dieser Umstand eine plausible Erklärung für das Entstehen und ein guter Anfang zur Behebung vieler (kommunikativer) Störungen und Missverständnisse sein kann und ebenso, dass Kommunikation unverzichtbar ist, um eine geteilte Wirklichkeit zu definieren, in der Menschen mit ihren jeweils subjektiven Wirklichkeitssichten agieren. Das gilt für die normale Kommunikation zwischen Menschen dann, wenn es Missverständnisse oder Unklarheiten gibt. Es gilt erst recht aber für Beratung, Therapie und Coaching, die stattfinden, wenn Störungen auftreten und/oder Menschen mit ihrer bisherigen Konstruktion von Wirklichkeit nicht weiterkommen.
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Vielfach ist die Arbeit als Therapeut*in oder Coach von genau dieser Grundsituation geprägt, und in der Abbildung wird auch deutlich, was systemische Methoden, insbesondere Visualisierung, leisten können: Ein »einfacher Seitenwechsel«, ein neuer Blick auf die bekannte Situation, ermöglicht die zauberhafte Erfahrung der Perspektivübernahme – und oft sind neue Blickwickel mit ebensolchen Erkenntnissen verbunden. Wenn zum Beispiel in der systemischen Skulptur-Arbeit Paare ihre Haltungen tauschen und plötzlich verstehen, wieso der*die andere so oder so handelt, wird schnell klar, dass eine andere Perspektive auch anderes Verhalten erklärt. Das funktioniert ebenfalls, wenn nicht beide Partner*innen anwesend sind, wenn Therapeut*innen beispielsweise die Haltungen von involvierten Personen mitvisualisieren: »So stehe ich da? Das sieht ja angriffslustig aus. Kein Wunder, dass ich da Gegenwind bekomme!« Ein anderes Mal stellte eine Klientin mithilfe von Stühlen (stellvertretend für die Familienmitglieder) ihr früheres Mutter-VaterKind-System auf. Beim gemeinsamen »Gang ins Damals« (also die Zeit, als sie noch klein war) sagte sie nun auf einmal: »Ach Gott, das ist ja genau wie bei mir als Mama und meiner Tochter jetzt!« Sie hatte diese Parallele vorher gar nicht bzw. jetzt erst gesehen, als sie selbst nochmals in ihr »Kinder-Ich« und die Situa tion von damals ging. Auch wenn Watzlawick als radikaler Vertreter des Konstruktivismus gehandelt wird, stellt er nicht alles infrage, sondern macht deutlich, dass es Tatsachen, Naturgesetze und Ergebnisse von Wissenschaft und Forschung gibt, die unumstritten sind. Ein schönes Beispiel dafür bieten die physikalischen und chemischen Eigenschaften von Gold: Sie sind seit Jahrhunderten gleich, aber die Bedeutung des Goldes, seine Funktion und die Zuschreibungen entstehen durch menschliche Konstruktion (v. Foerster, v. Glasersfeld, Hejl, Schmidt u. Watzlawick, 1992, S. 91 f.). Watzlawick selbst fasst es so zusammen: »Die eigentliche Ursache des Leids liegt in unserer Unwilligkeit, Tatsachen als reelle Tatsachen und Ideen als bloße Ideen zu sehen, und dadurch, dass wir ununterbrochen Tatsachen mit Konzepten vermischen. Wir tendieren dazu, Ideen für Tatsachen zu halten, was Chaos in der Welt schafft« (zit. nach Levold et al., 2018b). Es geht also nicht darum, totale Beliebigkeit zu etablieren und jede noch so ab struse Wirklichkeitskonstruktion herzlich willkommen zu heißen. Die für Beratung und Coaching wertvolle Erkenntnis des Konstruktivismus ist vielmehr, dass es sich lohnt, neugierig, gedanklich beweglich und aufgeschlossen zu bleiben, unermüdlich Fragen zu stellen, die Perspektive zu wechseln und andere Menschen dazu einzuladen, andere Wirklichkeiten zu verstehen und gemeinsam Kompromisse oder Lösungen für Missverständnisse zu suchen.
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»Wort-Bild«-Stille-Post Um zu verstehen, wie schnell verschiedene Wahrnehmungen von Wirklichkeiten entstehen und Kommunikation irritieren können, gibt es ein schönes Experiment zum Nachmachen. Es heißt »Wort-Bild«-Stille-Post und geht so: Jede*r Teilnehmende erhält ein Blatt Papier und faltet es mehrfach wie abgebildet. Auf das erste entstandene Feld wird ein Satz oder ein Wort geschrieben und nach hinten weggeknickt. Der*die zweite Teilnehmende bekommt den Zettel der*des ersten Teilnehmenden und gibt den eigenen weiter an die dritte Person etc. Jede Person liest, was auf dem Zettel steht, und malt dann auf, was er*sie unter dem Gelesenen versteht. Danach wird der Zettel wieder nach hinten gefaltet und weitergegeben. »Wort-Bild«-Stille-Post Der*die nächste Teilnehmende schreibt nun wiederum ebenfalls auf, was er*sie sieht – anschließend Zettel nach hinten falten, weitergeben, Worte von Vorgänger*in lesen, Bild malen etc. Wir stellen fest: Auf diese Weise kann aus »Hagebuttenpulver gegen Gelenkschmerzen« schon mal ein »Totentanz am Lagerfeuer mit Telefonverbindung ins Hier und Jetzt« werden. Oder ein »Gitarre spielen auf dem Klo« zur »singenden Menstruationstasse im öffentlichen Klo« (Abbildung »Ergebnisse von »Wort-Bild«Stille-Post«, S. 36). Falls gerade keine Mitspieler*innen vor Ort sind, funktioniert dieses Spiel auch online und über Distanzen hinweg über die Website garticphone.com. Ganz nebenbei bietet es eine wunderbare Möglichkeit, Visualisierungskompetenzen auszuprobieren. Fehlendes zeichnerisches Talent ist hier eher eine Quelle für heitere Entwicklungen als für peinliches Schweigen. Die Erfahrungen in diesem Spiel und der Umstand, dass man es in Beratungssituationen nicht immer mit Menschen derselben Muttersprache bzw. mit einem einheitlichen Sprach- oder Verständnisniveau zu tun hat (z. B. bei der Arbeit mit Kindern, Menschen mit Sprachschwierigkeiten, Beeinträchtigungen oder Behinderungen, Gehörlosen oder wenn Dolmetscher*innen fehlen), zeigen, wie wichtig andere Bezugsrahmen und andere Darstellungsformen von Inhalten sind. Wie oben schon erwähnt, leisten genau diesen Schritt viele systemische Methoden, und das gilt auch für die Visualisierung (Kapitel 5.1). Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Ideen und Annahmen des Kon struktivismus in der alltäglichen Beratungsarbeit immer wieder zu überprüfen
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Ergebnisse einer »Wort-Bild«-Stille-Post
helfen, wie Wirklichkeit gerade konstruiert wird und ob es nicht auch ganz andere Perspektiven geben könnte. Der erste Schritt ist, die Wirklichkeitskonstruktionen der Klient*innen zu erfragen und zu verstehen. Danach können andere mögliche Wirklichkeitskonstruktionen in den Blick genommen werden, um die bisherige Sichtweise der Klient*innen zu erweitern. Aufgabe kann sein, auf Verbindungen aufmerksam zu machen, die ein*e Klient*in nicht sieht, Perspektiven zu erweitern, um die eigene Wirklichkeit neu oder anders zu sehen. Dafür nutzen wir in der Regel sprachliche Mittel und stehen dabei vor der Herausforderung, dass Sprache nicht immer präzise und klar ist, sondern vielfach mehrdeutig (Kapitel 3.2). Deshalb ist Visualisierung eine hilfreiche Methode, weil sie, wie andere Werkzeuge aus dem systemischen Methodenkoffer auch (Kapitel 4), diese unterschiedlichen Sichtweisen abbildet und erfahrbar macht. Spickzettel – Paul Watzlawick und der Konstruktivismus
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2.2.3 Salvador Minuchin und die strukturelle Familientherapie Ein weiterer wichtiger Akteur im systemischen Feld ist Salvador Minuchin (1921– 2017). In Argentinien geboren, wohin seine jüdischen Großeltern vor Pogromen aus Russland geflohen waren, wuchs er in einer fünfköpfigen Familie mit einem großen verwandtschaftlichen Netzwerk auf. Nach einem Medizinstudium und einer psychoanalytischen Ausbildung arbeitete er als Kinderarzt und Familientherapeut an verschiedenen Orten in den USA und Israel, unter anderem in kinderpsychiatrischen Kliniken, Heimen und anderen Einrichtungen. Sein Name ist eng verbunden mit der strukturellen Familientherapie: Der Fokus liegt dabei auf den Mustern, Strukturen und Grenzen von Familien – damit ist die gesamte Organisation der familiären Interaktion gemeint –, und zwar sowohl innerhalb des Familiensystems, das heißt zwischen einzelnen Mitgliedern und/oder Subsystemen, wie auch als Familiensystem nach außen, das heißt zu Menschen, die nicht zur Familie gehören. Es ist zum Beispiel aufschlussreich zu beobachten, welche Unter- oder Subsysteme es in Familien gibt, seien es die Grenzen zwischen den Eltern – als Erziehende und Beziehungsgestaltende – gegenüber den Kindern oder auch die Grenze zwischen den Funktionen Elternsein und Paarsein.
Familiensystem ohne und mit Störung(en)
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Interessant für die Familientherapie ebenso wie für andere Anwendungsbereiche von systemischer Beratung, Therapie und Coaching ist die Frage, wie solche Grenzen gezogen und wann sie verletzt werden. Um bei den beiden vorgenannten Beispielen zu bleiben, kann es im Familiensystem zu Störungen führen, wenn Geschwister plötzlich aktiv miterziehen (müssen) oder Paare »nur noch« Eltern sind. Genauso können unpassende Grenzen nach außen zu Störungen führen, wenn sich beispielsweise eine Familie vollständig oder gar nicht von anderen abgrenzt. Dieser Strukturblick ist nicht nur auf Familien, sondern auch auf andere Systeme anwendbar. Um dabei ein System als solches zu erkennen und zu erforschen, ist wieder einmal sorgfältige Beobachtung wichtig, und folgende Fragen können hilfreich sein: • Wer gehört zum System? • Gibt es Untersysteme? Wenn ja, welche? • Woran erkennt man jeweils die Zugehörigkeit? • Wo sind die Grenzen des Systems? • Wie ist die Grenze beschaffen? • Wie kommt man in das System hinein? • Gibt es etwas, was dazu führt, dass jemand oder etwas nicht mehr zum System gehört? • Welche Funktion haben ein (Sub-)System und die jeweilige Grenze? • Welche Regeln gelten in diesem System? • Wer stellt sie auf? • Wer stellt sie infrage? • Wie wird im System agiert? Gibt es spezielle Muster der Interaktion? • Wie agiert das System nach außen? Diese recht abstrakte Perspektive auf ein (problematisches) soziales System (z. B. eine Person, eine Familie oder eine Arbeitsorganisation) hilft, einen »fremden«, externen Blickwinkel einnehmen zu können, und unterstützt die offenneugierig forschende Grundhaltung, ohne zu viele eigene Zuschreibungen in Systeme hineinzugeben. Zentral für Minuchins therapeutische Praxis ist außerdem die »Erschütterung, Herausforderung und damit Krise« (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 46) von Systemen, die er gezielt eingesetzt hat, um beispielsweise durch Veränderungen von Sitzordnungen zu beobachten, was passiert, damit die Ordnung wiederhergestellt wird. In diesem Zusammenhang war Minuchin auch bekannt für die Verwendung drastischer und provozierender Metaphern oder steiler Hypothesen. Für solche Konfrontationen sind Kreativität, Humor und Mut ebenso nötig wie
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ein klar erkennbarer Standpunkt der*des Beratenden. Ein offensiver Blick von außen sollte dabei aber nur als ein Angebot erfolgen, an dem sich die Familien abarbeiten können. Minuchins oft konfrontative Vorgehensweise war und ist umstritten. So hat beispielsweise Mara Selvini Palazzoli deutliche Worte gefunden: »Minuchin ist sicher, er weiß, was besser für die Familien ist; das ist lächerlich, absolut lächerlich: Das ist das typische amerikanische Konzept ›Ich weiß es besser als Sie, weil ich Spezialist bin‹« (zit. nach Deissler, 2017, S. 38). Für uns ist Salvador Minuchin mit dem beschriebenen Fokus auf Gesamtgestalt, Grenzen und Subsystemen insbesondere für das jeweilige Grunddesign der Visualisierung (Kapitel 5.2) bereichernd. Außerdem erinnert er uns daran, dass manchmal durchaus ein eigener Standpunkt der*des Beratenden bezüglich der Anliegen von Klient*innen da sein darf und dass dieser auch nutzbar ist – mal für eine neutrale, vorsichtige Rückmeldung, mal aber auch für eine mutige Provokation, die für Bewegung und Veränderung sorgen kann.
Spickzettel – Salvador Minuchin und die strukturelle Familientherapie
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2.2.4 Mara Selvini Palazzoli und das Mailänder Modell Nach dem knackigen Zitat aus dem vorherigen Abschnitt ist es kein Wunder, dass wir als Nächstes mit Mara Selvini Palazzoli (1916–1999) weitermachen, einer der prägenden Personen der sogenannten Mailänder Schule. Geboren in Mailand als eines von fünf Kindern eines Kaufmannsehepaars, wuchs sie zunächst außerhalb der eigenen Familie in einem bäuerlichen Umfeld auf. Später kam sie in eine katholische Klosterschule und erlebte vor allem dort eine durch Distanz geprägte, »nicht glückliche« Erziehung (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 49). Nach einem Medizinstudium war sie zunächst als Internistin tätig, ehe sie über die Behandlung von anorektischen Patient*innen ein psychotherapeutisches Interesse entwickelte und Psychiaterin mit psychoanalytischer Ausbildung wurde. 1967 erfolgte ein harter Bruch: Selvini Palazzoli gab ihre Praxis auf und gründete zusammen mit sieben weiteren Psycholog*innen das »Centro per lo Studio della Famiglia«, das erste familientherapeutische Zentrum Italiens (Deissler, 2017, S. 33), womit sie auch »gegen Rigidität und Erstarrung der tradierten Psychoanalysefortschreibung« (Michelides, 2007, S. 75 f.) revoltierte. Nach acht Jahren therapeutischer Arbeit und Forschung im Familienzentrum, wo die Therapieverläufe bemerkenswerterweise selbst bei schwerwiegenden Störungen wie Anorexia nervosa oder Schizophrenie mit ca. zehn bis zwanzig Sitzungen verhältnismäßig kurz waren, auch wenn zwischen den Sitzungen recht große Zeitabstände lagen, veröffentlichte sie schließlich gemeinsam mit einigen Kolleg*innen das Buch »Paradoxon und Gegenparadoxon«, in dem sie ihr spezifisches »Mailänder Therapiemodell« vorstellte (Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1975). Die Arbeit des Mailänder Teams zeigt dabei große Nähe zu den Modellen und Ideen des Mental Research Institutes in Palo Alto, und vieles von dem, was heute als typisch systemisch gilt, findet sich in besagtem Buch und der dort beschriebenen Arbeitsweise wieder. In der Analyse liegt ein klarer Fokus auf der Logik, den Regeln und Strukturen des (Familien-)Systems – ähnlich, wie wir es schon bei Minuchin gesehen haben. Der vermeintlichen Störung wiederum wird eine bestimmte Funktion unterstellt, wobei hier das Wort »vermeintlich« schon die neutrale Perspektive zeigt: Die Grundannahme ist, dass bestimmte als störend empfundene und so beschriebene Verhaltensweisen, für die es vielleicht sogar eine Diagnose gibt, im System entstehen, dort eine spezifische Funktion erfüllen und vom System selbst, also von allen Beteiligten, im Sinne der Systemstabilität aufrechterhalten werden. In der Therapie geht es folglich darum, das symptomgenerierende System zu erkennen und zu verändern. Typisch für die Arbeitsweise der Mailänder Schule sind die Zirkularität und die ständige und bewusste Hypothesenbildung des Therapeut*innen-Teams. Um eine
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möglichst objektive und zugleich wertschätzende Haltung einnehmen zu können und eben nicht als Spezialist*in aufzutreten (wie der von Selvini kritisierte Minuchin), legt das Mailänder Team Wert auf eine »neutral-positive Beschreibung aller Verhaltensweisen« und den Verzicht auf Urteile oder Kritik (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 52). Diese Neutralität kann z. B. eingehalten werden, indem auf das Verb »sein« zugunsten des Verbs »scheinen« verzichtet wird und lieber Fragen gestellt werden, statt Aussagen zu machen. Solche Rück- und Nachfragen (Kapitel 3.2.5) und die sprachliche Achtsamkeit und Genauigkeit (Kapitel 3.2) sind auch für uns wichtige Werkzeuge.
2.2.5 Steve de Shazer, Insoo Kim Berg und die lösungsorientierte Therapie Ein jüngerer systemischer Ansatz ist die lösungsorientierte Therapie und Beratung, die auf Steve de Shazer (1940–2005) und Insoo Kim Berg (1934– 2007) zurückgeht. Anders als die bisher genannten Personen war de Shazer von Haus aus weder Mediziner noch klassischer Therapeut, sondern Jazz-Saxofonist und Sozialarbeiter. Er wurde in Milwaukee geboren, studierte dort auch und gründete schließlich 1978 mit seiner zwanzig Jahre zuvor aus Korea nach Amerika gekommenen und als Psychotherapeutin tätigen Frau Insoo Kim Berg das Brief Family Therapy Center (BFTC), ein Beratungs- und Studienzentrum, an dem die beiden fortan zusammen mit weiteren Mitstreiter*innen das Konzept der lösungsorientierten Kurzzeittherapie (Solution-Focused Brief Therapy, SFBT) entwickelten. Die Grundidee des SFBT-Ansatzes bricht mit vorherigen Annahmen zur psychotherapeutischen Problemlösung: Das Problem als solches steht nun noch weniger im Fokus, als es schon bei früheren Vertreter*innen im systemischen Feld der Fall gewesen war. Die Interventionen dieser Therapieschule können vielmehr losgelöst von dem Wesen des Problems zu einer Lösung führen, selbst wenn es komplexe Probleme mit vielfältigen und verstrickten Ursachen sind, die vielleicht schon viele Jahre das Leben der Betroffenen erschweren. Eine wichtige Funktion kommt dabei dem Bild vom »Problem-Türschloss« und dem »Lösungsschlüssel« zu, in dem de Shazer sehr prägnant verdeutlicht, was den großen Reiz der SFBT ausmacht: »Die Klagen, mit denen Klienten zum Therapeuten kommen, sind wie Türschlösser, hinter denen ein befriedigendes Leben wartet. Die Klienten haben alles versucht […], aber die Tür ist immer noch verschlossen; sie halten ihre Situation also für jen-
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Problem-Türschloss und Lösungsschlüssel
seits ihrer Lösungsmöglichkeit. Häufig hat dieser Schluss immer weitergehende Bemühungen zur Folge: Nun versuchen sie herauszufinden, warum das Türschloss so und nicht anders beschaffen ist oder warum es sich nicht öffnen lässt. Dabei dürfte es doch klar sein, dass man zu Lösungen mit Hilfe eines Schlüssels und nicht mit Hilfe eines Schlosses gelangt […]. Eine Intervention braucht nur in der Weise zu passen, dass die Lösung auftaucht. Es ist nicht nötig, dass sie es an Komplexität mit dem ›Schloss‹ aufnehmen kann« (de Shazer, zit. nach v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 55). In der Zusammenarbeit zwischen Klient*in und Therapeut*in geht es nicht mehr darum, vollständige Übereinstimmung der jeweiligen Wirklichkeitssichten herzustellen und dafür sämtliche Zusammenhänge und Details zu kennen und zu verstehen. »Nützliche Arten des Missverstehens reichen vollkommen aus« (Middendorf, 2017, S. 5), solange sie etwas in der Welt der Klient*innen oder in diesen selbst verändern und zu einer Lösung beitragen. Dabei liegt der Fokus auf Ressourcen und Lösungen, also Zielen in einer veränderbaren Zukunft, und auf den nächsten Schritten dorthin. Diese Ansätze wurden vom BFTC-Team um de Shazer und Berg nicht nur in psycho- und familientherapeutischen Kontexten, sondern auch im Coaching, in der sozialen Arbeit, in Mitarbeiter*innen-Führung und Teamentwicklung angewendet. Der bewusste Einsatz von Sprache spielt hierbei eine wichtige Rolle, und der klare Blick auf die Lösung und das jeweilige Ziel schlägt sich beispielsweise schon in der Art der Fragen nieder, die am Anfang einer Beratung gestellt werden. Statt »Was führt Sie zu mir?« oder »Bei welchem Problem kann ich Ihnen helfen?« werden sogleich die Lösung und damit eine neue Zukunft in den Blick genommen:
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»Was könnte das Ergebnis unserer Zusammenarbeit sein?« oder »Woran merken Sie, dass wir erfolgreich gearbeitet haben?« Auch die Frage nach Ausnahmen oder Unterschieden in der Wahrnehmung des Problems sowie Skalierungsfragen und die Wunderfrage sind klassisch lösungsorientierte Fragetypen, die aus unserer Arbeitspraxis nicht wegzudenken sind. Wir werden sie in Kapitel 3.2.5 genauer vorstellen. Ein weiteres Charakteristikum des SFBT-Ansatzes ist die Orientierung auf den Kurzzeitaspekt, sprich: das möglichst rasche Finden einer Lösung, die den Ratsuchenden unmittelbar Entlastung bringt. Die Einstellung, dass eine klassische Sitzung »so geführt werden [sollte], als wäre es auch das letzte Gespräch« (Middendorf, 2017, S. 15), ist grundsätzlich eine Perspektive, die die Aufmerksamkeit für das eigene Handeln erhöht. Es hat etwas von »Carpe diem – Nutze den Tag« und hilft eben auch die Möglichkeiten zu verdeutlichen, die sich in jedem Moment bieten. Nachdem Klient*in und Berater*in eine positive, vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre und -beziehung hergestellt haben – in der Kurzzeittherapie als Joining bezeichnet –, erfolgt keine Anamnese, Diagnose, Hypothesenbildung oder Problemanalyse, sondern es geht direkt um die Lösung bzw. das Ziel und mögliche Schritte auf dem Weg dorthin. Vielfach wird in der lösungsorientierten Kurzzeittherapie auch mit Hausaufgaben oder Experimenten gearbeitet, um potenzielle Lösungsschritte auf ihre Praxistauglichkeit zu testen. Außerdem werden in diesem Ansatz drei Typen von Klient*innen unterschieden, die bezüglich ihrer Haltung zum Beratungs- bzw. Therapiegeschehen differieren:
Besucher*innen sind nicht freiwillig da, vielfach werden sie von Dritten geschickt. Oft fällt es im Erstgespräch mit ihnen schwer, einen klaren Auftrag zu finden, vielfach ist wenig Leidensdruck und ergo wenig Interesse an Engagement vorhanden. In die Studienberatung kommen beispielsweise häufig Studieninteressierte, weil die Eltern sie geschickt haben, damit sie endlich klären, wie sie an einen Studienplatz in einem bestimmten Fach kommen. Sitzen die Ratsuchenden dann seltsam unbeteiligt im Raum, wird es häufig erst interessant, wenn der Umstand des »halbfreiwilligen« Besuchs zur Sprache kommt. Dann können Berater*in und Klient*in schauen, wie sich die gemeinsame Zeit gut nutzen lässt – vielleicht gibt es ja eigene und ganz andere Fragen rund um den anstehenden Statuswechsel.
Besucher*in
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Klagende hingegen empfinden sehr wohl Leidensdruck und haben selbst den Wunsch nach Veränderung. Allerdings sehen sie die Verantwortung für die Situation eher im Außen und bei anderen. Das erinnert an die anklagende Körperhaltung, die wir schon bei Virginia Satir kennengelernt haben. Die Bereitschaft zu Veränderung und eigener Kraftanstrengung ist oft noch nicht hinreichend ausgeprägt, manchmal ist die Erwartungshaltung Klagende da, dass die Beratenden das Problem für sie lösen sollen. Vielfach braucht es authentische Wertschätzung des Leidensdrucks, der bisherigen Bemühungen und der schon erreichten kleinen Erfolge, damit aus Klagenden schließlich Kund*innen im Sinne dieses Modells, also aktive Klient*innen, werden können und auch eine klare Adressierung der Verantwortung für Veränderung erfolgen kann. »Echte Kund*innen« wiederum sind Menschen, die mit einem klaren Wunsch nach Veränderung und einer recht hohen Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit in eine Beratung bzw. Therapie kommen und dabei Begleitung und Unterstützung suchen. Dies ist der Zustand, den Klagende und Besucher*innen erreichen sollten, damit echte, fruchtbare Zusammenarbeit gelingen kann.
Echte Kund*innen
Spickzettel – Steve de Shazer und die lösungsorientierte Therapie
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2.2.6 Michael White und die narrative Therapie Michael White (1948–2008) wurde in Australien geboren und wuchs auch dort auf. Er arbeitete als Sozialarbeiter und Psychotherapeut mit Kindern, Straffälligen und Suchtkranken sowie im Kontext von Schizophrenie mit Gruppen und Familien, ehe er in Adelaide das »Zentrum für narrative Therapie« gründete, als deren Wegbereiter er gilt (Levold et al., 2018c). Im Mittelpunkt dieses Ansatzes stehen das Erzählen sowie die Idee, dass durch Sprache und hier letztlich in Form von Geschichten eigene Erfahrungen und Erlebnisse zusammengefasst und erinnert werden. Die Erfahrung als solche ist einmalig und nicht reproduzier- oder transportierbar, sie braucht das Medium Sprache und eine*n Erzähler*in, die*der diese Erfahrung strukturiert und gestaltet. Hier wird mit den jeweiligen Möglichkeiten des Sprachsystems gearbeitet, vor allem mit der Technik des Reframings, also des Umdeutens bzw. Neuerzählens von Geschichten, denn: »Es sind nicht die Erfahrungen, die Menschen prägen, sondern die Geschichte, die er oder sie bzw. das jeweilige soziale Bezugssystem aus den
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Erfahrungen macht« (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 60). Das knüpft direkt an die Ideen des Konstruktivismus an, wonach durch Sprache Wirklichkeit hergestellt bzw. zwischen Menschen verhandelt wird. Im Coaching beispielsweise geht es oft darum, einen anderen Blick auf die eigene Lebensgeschichte und das eigene So-geworden-Sein oder auf einzelne Kapitel darin zu werfen. Klient*innen und Therapeut*innen sind dabei dann so etwas wie Co-Autor*innen, die bislang gekannte Geschichten nun anders lesen und schließlich neu erzählen wollen. Manches Erlebnis und manche Erfahrung muss man vielleicht mehrfach erzählen, bis es die »richtige« Geschichte geworden ist. Das eröffnet die Möglichkeit, Typisches anders zu lesen oder auch Schweres, Trauriges und Schmerzhaftes in die Gesamtgeschichte zu integrieren.
2.3 Zirkularität, Humanismus, Konstruktivismus und die systemische Haltung Die Landschaft der systemischen Therapie und Beratung ist weit und mit diesem kurzen Einblick noch lange nicht hinreichend bereist oder kartiert. Es gibt unzählige andere spannende Vertreter*innen, die das Feld vorangebracht, beeinflusst und verändert haben, und zudem Entwicklungen, die sich viel Meine leicht nicht immer bestimmten Personen zuordnen lassen. Weiterlesen, systemischen weitersurfen, weiterdenken und weiterbilden lohnt sich! VerHeld*innen und Wegmutlich fehlen für Leser*innen auch wichtige Personen bereiter*innen oder systemische Schulen. Kein Problem – gleich zum Stift gegriffen und die eigenen Spickzettel ergänzen … Unsere Take-home-Message aus der Beschäftigung mit systemischem Denken und Handeln ist folgende: Die Basis, auf der Systemiker*innen arbeiten, ist durch Humanismus, Konstruktivismus, den Systemblick, Zirkularität und der Verwendung von Sprache zur Wirklichkeitskonstruktion geprägt. Diese theoretischen Konzepte zeigen sich im Blick auf die Welt und in der therapeutischen bzw. beraterischen Haltung. Das stellt vieles, was sonst in der Arbeit mit Menschen handlungsleitend ist, auf den Kopf: Statt klar erkennbarer kausaler Zusammenhänge und Wirkrichtungen nehmen Systemiker*innen an, dass Dingen, die wir beobachten, ein zirkuläres Muster unterliegt. Menschen entwickeln und zeigen Symptome bzw. von der »Norm« abweichendes, vielleicht auch diagnostizierbares Verhalten nicht autark aus sich heraus. Das Verhalten entsteht in einem System und in einem bestimmten Kontext.
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Diese erweiterte Perspektive ermöglicht es, mit allen Menschen in Beziehung zu gehen und sich ernsthaft für sie, ihr Verhalten und ihre dem zugrunde liegenden Wirklichkeitskonstruktionen zu interessieren, neugierig zu sein und zu fragen, Hypothesen anzubieten, aber auch wieder zurücknehmen zu können. Dabei ist Sprache ein wichtiges Medium. Sie ist »sowohl Produkt als auch ›Produzent‹ menschlicher Wirklichkeit« (Luckmann, zit. nach v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 122), und zwar insbesondere in der Kommunikation zwischen Menschen. Deshalb geht es im nächsten Kapitel um alles, was Systemiker*innen ohne weitere Hilfsmittel neben der Sprache noch zur Verfügung steht: genaue (Selbst-) Beobachtung und (Selbst-)Wahrnehmung sowie der Austausch darüber. Wir erklären, wie damit ganz grundsätzlich systemisch gearbeitet wird.
Take Home – Systemisches Denken und Handeln
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Systemisches Arbeiten mit der Grundausstattung
Die systemische Arbeit mit Menschen zeichnet sich durch eine umfassende Herangehensweise aus. Die sorgfältige Beobachtung und Analyse von körperlichen und sprachlichen Signalen sowie ein Austausch über diese Beobachtungen bieten oft schon interessante neue Perspektiven auf Anliegen und Probleme von Ratsuchenden. Dabei stehen das menschliche Erleben und Verhalten im ständigen Zusammenspiel von Körper, Geist bzw. Psyche und sozialer Welt – auch dies wieder verschiedene Systeme, die in zirkuläre Wechselwirkungen eingebunden sind.
Die drei Welten
Der Körper ist dabei quasi die »Hardware«. Er ist das Wahrnehmungsorgan und das Eingangstor für alle Sinnesreize aus der sozialen Welt und der Umwelt. Das sind zum Beispiel Reize über die Sinneszellen auf der Haut, Gerüche und Geschmacksrichtungen, die wir wahrnehmen, Geräusche, die wir hören, Bilder, die wir sehen.
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Gleichzeitig ist der Körper Träger des Ausdrucks unserer Reaktionen auf diese Sinnesreize (z. B. das Abwenden von als missliebig empfundenen Personen). Nicht alle Eindrücke werden dabei bewusst registriert und verarbeitet. Erfreulicherweise findet vieles automatisch in unserem Denkapparat statt, ohne dass wir es bewusst steuern müssen: Filterprozesse laufen im Hintergrund ab, Informationen werden entschlüsselt, interpretiert, bewertet. Es werden Hypothesen zu Ursachen und Konsequenzen der wahrgenommenen Informationen gebildet und auf der Grundlage mentaler »Daumenregeln« Entscheidungen gefällt und Handlungen geplant, ohne dass wir davon wissen (z. B. Kahneman, 2012). Die psychischen bzw. geistigen Mechanismen des Denkens, Fühlens und Wollens wiederum kann man sich als die »Software« vorstellen: vom Körper zunächst unabhängige Vorgänge, die gleichzeitig an die Beschränkungen oder Eigenarten der »Hardware« gebunden sind. So wie eine Musik-CD nur eine bestimmte Zahl von Songs in vernünftiger Qualität speichern kann, ist unser bewusstes Denken in einer Situation von den Beschränkungen unseres Arbeitsgedächtnisses begrenzt – mehr als sieben plus/minus zwei Gedanken zu einem Zeitpunkt können wir nicht bewusst fassen (Miller, 1956). Auch beeinflussen eigene abwehrende Bewegungen oder Körperhaltungen gegenüber anderen Personen(gruppen) unsere Einstellung ihnen gegenüber (Kawakami, Phills, Steele u. Dovidio, 2007). Außerdem werden wir in unserem Denken und Handeln natürlich auch maßgeblich durch unser soziales Umfeld beeinflusst, wie beispielsweise die Interaktionen mit anderen Personen und unsere Beziehung zu ihnen. Die Erwartungen unserer Kolleg*innen, die eingeschliffenen Muster im Umgang mit unseren Liebespartner*innen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen und/oder kulturellen Gruppen formen – und verändern bisweilen – unser Denken und Verhalten. Beratung und Therapie gehören ebenfalls zu solchen sozialen Kontexten unseres Handelns und stehen folglich in Verbindung mit Körperreaktionen, Gefühlen und sinnlicher Wahrnehmung. In der Alltagserfahrung vieler Klient*innen wird aber oft eine strikte Trennung und ebenso eine klare Hierarchie zwischen Psyche, Körper und sozialem Umfeld unterstellt: Dem Verstand kommt dabei die Rolle einer Schaltzentrale zu, der Körper hat zu gehorchen und von den Meinungen und Konventionen anderer Schaltzentrale im Kopf sind wir natürlich unabhängig.
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Folgerichtig ist die Erwartung an eine gezielte soziale Interaktion – nämlich die Beratung oder Therapie –, dass Lösungen im Wesentlichen erdacht, analysiert, besprochen, verstanden und dann »nur noch« umgesetzt werden müssen. Das funktioniert sicherlich auch manchmal, aber eben nicht immer. Was, wenn der Körper sich verweigert oder zum Beispiel dysfunktionale familiäre Erwartungen oder Organisationsstrukturen fortbestehen und sich die erdachten Lösungswege nicht umsetzen lassen? Das passiert häufiger, als man zunächst denkt. Deshalb nimmt systemische Arbeit neben der Bildung von Hypothesen und Erklärungen bzw. dem »Erdenken von Lösungen« immer auch den Körper, die sinnliche Wahrnehmung, die Körperhaltungen und Gefühle sowie die soziale Interaktion – z. B. durch Kommunikation mit Sprache – mit in den Blick. Sie regt den Austausch über (Selbst-)Beobachtung an, um damit neue wie alte Ressourcen, Perspektiven, Ideen oder Lösungen zu entdecken (z. B. Wienands, 2014; FamThera, 2017; FamThera 2018).
3.1 Körper – sinnliche Wahrnehmung, Körperhaltungen und Gefühle Letztlich können sämtliche sinnliche Wahrnehmungen, selbst vermeintlich Abseitiges wie Gerüche und Geschmackserlebnisse, die auftauchen, wenn Menschen an bestimmte Situationen denken, sich erinnern oder von ihnen erzählen, in der systemischen Arbeit genutzt werden. Wenn beispielsweise der Duft von Lavendel mit Entspannung verbunden ist und Klient*innen davon wissen, können sie dieses Wissen gezielt nutzen, um bei wahrgenommener störender Anspannung Veränderung zu befördern, indem sie sich ein Dufterlebnis verschaffen. Auch Bilder, Musik und andere Geräusche, Farben, Metaphern oder Vergleiche können ähnlich funktionieren und werden oft aufgegriffen, um mit ihnen weiterzuarbeiten und Situationen zu erforschen. Dass wiederum der Sehsinn beim Visualisieren eine zentrale Rolle spielt, ist naheliegend. Gerade in der Einbindung eines solchen weiteren Sinnes neben dem Hören und dem Sprechen liegt der Charme der Arbeit mit Stift und Papier, wie wir sie später vorstellen werden. Mit den Fragen des Sinnesdetektivs können Klient*innen ihre Wahrnehmungen selbst untersuchen und in aktuellen oder auch vergangenen Situationen prüfen, was sie schmecken, riechen, hören, sehen und/oder körperlich empfinden bzw. was wahrnehmbar war. Wenn Klient*innen beispielsweise wegen hoher beruflicher Belastungen in die Beratung kommen und äußern, dass sie sich wie eine Maschine fühlen, ist die Unterstützung hilfreich, den Fokus auf Wahr-
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Wahrnehmung mit allen Sinnen
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Ich im Hier und Jetzt – was nehme ich wahr?
nehmungen im aktuellen Moment zu richten. Vielfach zeigt sich erst dann, was in stressigen Situationen weggedrückt wird, beispielsweise angespannte Körperhaltungen wie permanent hochgezogene Schultern, zusammengebissene Zähne oder geballte Fäuste. Wenn diese Körperwahrnehmung erst einmal da ist, kann sie bewusst verändert werden. Zudem lässt sich einüben, für die Körpersignale von innerer Anspannung sensibel zu werden. Ergänzend kann gemeinsam nach Ausnahmen von diesem Gefühl oder einem anderen Erleben zu anderen Zeiten geforscht werden, und es finden sich vielleicht schon »Brückentechnologien«, wie die oben erwähnten entspannungsinduzierenden Gerüche oder bestimmte Bilder. Auch Berater*innen können das Bild des Sinnesdetektivs im Hinterkopf haben, wenn es in der Beratung um genau solche wertvollen Ausnahmen geht, die möglichst sinnes- und körperintensiv wiedererlebt werden sollten. Es ist eine gute Erinnerung an Fragen, die hilfreich zu stellen sind, oder auch an Anregungen zu den einzelnen Sinnen, wenn Ratsuchenden zunächst nichts einfällt. Deshalb werfen wir im Folgenden einen etwas genaueren Blick auf das Riechen und Schmecken, das Fühlen, das Hören und das Sehen.
Riechen und Schmecken Die Wahrnehmung und Kategorisierung von Gerüchen ist laut gängiger Literatur eher willkürlich, und es gibt diverse Klassifizierungssysteme. So werden zum Beispiel nach dem britischen Biochemiker John Amoore häufig sieben typische Geruchsklassen unterschieden: »blumig, ätherisch, moschusartig, campherartig, schweißig, faulig, stechend«, wobei an die Stelle von »schweißig« mitunter auch »minzig« tritt (vgl. Hatt, 1993, S. 360). Der deutsche Psychologe Hans Henning wiederum definierte in seinem Geruchsprisma von 1915 als Eckpunkte sechs Grundgerüche (blumig, fruchtig, harzig, würzig, faulig, brenzlig), die in ihren verschiedenen Zusammensetzungen und Nuancierungen alle anderen Geruchsnoten bilden (Keller, 2003, S. 124). In jedem Fall gilt: Wurde lange Zeit von »nur« etwa 10.000 für den Menschen unterscheidbaren Düften ausgegangen, legen neuere Studien nahe, dass die komplexen Zusammensetzungsoptionen verschiedenster (Geruchs-)Moleküle es uns ermöglichen, letztlich sogar über eine Riechen
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Billion verschiedener Gerüche wahrnehmen zu können (Bushdid, Magnasco, Vosshall u. Keller, 2014). Da geht man doch gleich mit anderer Nase durch die Welt! Gerüche dienen dabei auch der sozialen Kommunikation, z. B. beim plötzlichen Wiedererkennen des Parfüm- oder Körpergeruchs eines geliebten Menschen. Umgekehrt kennt vermutlich jede*r den Spruch »Ich kann diese Person einfach nicht riechen«. Und selbst wenn ein Geruch unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle liegt, kann er auf uns einwirken – wir wissen dann zwar nicht, warum wir uns z. B. unwohl fühlen (vielleicht, weil jemand subtil nach einer unangenehmen Person oder Situation aus der Vergangenheit riecht?), können dies allerdings als Signal nutzen, um uns auf die Suche zu machen, was gerade los ist. Nah verwandt mit dem Riechen ist das Schmecken. Beides sind sogenannte alte Sinne, sie werden im Verlauf des Lebens schon früh ausgebildet und im limbischen System verarbeitet, das wiederum Sitz der Emotionen, Bedürfnisse und Instinkte ist (Carter, 2019, S. 96 ff.). Über die Zunge und die Rachenschleimhaut wird – auch in Verbindung mit dem Geruchssinn – Geschmack wahrgenommen, wobei klassischerweise fünf Grundqualitäten unterschieden werden: süß, salzig, sauer, bitter und umami (bisweilen wird auch noch »fett« dazugezählt, doch ist diese Einstufung umstritten). Geschmäcke sind nicht einSchmecken fach dazu da, um Essen leckerer zu machen, sondern sie haben eine nicht unwichtige Funktion: Saurer bzw. bitterer Geschmack beispielsweise kann (ebenso wie fauliger Geruch) eine Warnung sein und auf unreife, vergorene oder giftige Nahrungsmittel hinweisen. Salzige, süße oder scharfe/ umami Geschmäcke wiederum sind oft Indikatoren für bestimmte Bestandteile in der Nahrung, zum Beispiel den Gehalt an Mineralien und ernährungswichtigen Stoffen wie Kohlenhydraten, Eiweißen und Fetten. In der Arbeit mit Klient*innen ist der bewusste Einsatz von Gerüchen und Geschmack – oder die Erinnerung daran – insbesondere dann hilfreich, wenn wir uns selbst damit gezielt manipulieren. Wir können Stimmungen beeinflussen, Erinnerungen und Gefühle wecken, die günstig für uns und/oder unsere Arbeit sind, oder uns in Zustände versetzen, in denen wir entspannen oder ausruhen können. Das kann beispielsweise durch Raumdüfte oder ein Kissenspray geschehen (Croos-Müller u. Pannen, 2021, S. 20), oft reicht aber auch schon die Imagination eines Dufts oder Geschmacks, um eine Reaktion zu erzeugen. Geschmack kann
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auch bei der Arbeit mit Genussmitteln eine wichtige Rolle spielen, indem Klient*innen z. B. an verschiedene ihnen bislang unbekannte Lebensmittel herangeführt werden und damit neue Genusserfahrungen machen. Fühlen Fühlen umfasst den gesamten Komplex der äußeren Wahrnehmung: Wir können spüren, wie die Körper- und die Außentemperatur gerade ist, ob es im Raum eher trocken oder feucht ist, die Beschaffenheit von Oberflächen unterFühlen scheiden, Druck, Schmerz, Nähe und Distanz wahrnehmen. Unser Körper reagiert auf Reize teilweise unmittelbar und ungesteuert, z. B. bei einer Gänsehaut oder wenn es sehr warm ist und man zu schwitzen beginnt. Außerdem stehen Körperempfindungen im Zusammenhang mit inneren Prozessen, mit Gefühlen, die ganz unterschiedliche Auslöser und Funktionen haben können. Hören Unsere Ohren können mehr, als »nur« Lautstärken, Tonhöhen, Laute, Töne, Melodien, Rhythmen oder Geräusche zu erkennen. Auch Bewegungen und die Stellung des Körpers im Raum werden im Ohr registriert. Töne und Geräusche haben vielfach eine ähnliche Bedeutung, wie wir es für das Riechen und Schmecken beschrieben haben: Sie lösen bestimmte Reaktionen aus, warnen uns vor Gefahren und vermitteln Erinnerungen. Auch Geräusche können gezielt genutzt werden, um den Körper in bestimmte Zustände zu versetzen. Zum Beispiel können wir selbst Töne erzeugen – im dunklen Treppenhaus, wo wir uns vielleicht unwohl oder bedroht fühlen, mit uns selbst zu sprechen oder laut zu pfeifen beruhigt uns. Natürlich spielt das Hören auch bei der Vermittlung von Sprache zwischen Menschen eine große Rolle. Im Mund- und Rachenraum produzierte Laute werden über die Ohren aufgenommen und als Signale in unseren Sprachzentren verarbeitet.
Hören
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Sehen
Sehen Beim Vorgang des Sehens – umfassender auch als »visuelle Wahrnehmung« bezeichnet (von lat. videre = »sehen« bzw. visualis = »zum Sehen gehörig«) und hier nur stark vereinfacht beschrieben – werden optische Signale als Lichtreize mit dem Auge registriert, von Nervenzellen zu Informationen verarbeitet (unterschiedliche Helligkeiten, Farben etc.) und schließlich im Gehirn zu Bildern zusammengesetzt. Da Menschen in der Regel mit zwei Augen sehen, sind wir zudem in der Lage, mehrdimensional wahrzunehmen. Auf diese Weise empfangen und verarbeiten wir visuell alle möglichen Reize aus unserer Umwelt, so zum Beispiel auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation, das heißt mit Blick auf unser dortiges Gegenüber: Die äußere Erscheinung, Kleidung, Mimik, die schon erwähnte (und im nächsten Abschnitt genauer thematisierte) Körperhaltung, die Körperstellung zu uns, die Blickrichtung, die Körpersprache und etliches mehr liefern uns optische Informationen und beeinflussen unser Verhalten und unsere Gefühlslage. Auch Farben können dabei eine Rolle spielen, denn wie so vieles lösen sie im Menschen Emotionen und Assoziationen aus, die in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren – Alter, kultureller Hintergrund, biografische Erfahrungen, persönliche Präferenzen etc. – individuell unterschiedlich sind und dementsprechend wiederum unterschiedliche Reaktionen zur Folge haben. Es wird deutlich: Es ist ein riesiger Batzen an Wahrnehmungen und Impressionen, der da über den visuellen Kanal auf uns einströmt – manche Forschende beziffern seinen Anteil sogar auf bis zu 60 % sämtlicher von uns aufgenommener Informationen (Beaulieu u. Dreyer, 2017, S. 10). Diese Zahl gilt allerdings nicht für alle Menschen, denn nicht für jede*n sind alle Sinne in gleicher Ausprägung bzw. Qualität verfügbar. So können blinde Menschen eben nicht mit den Augen Informationen aufnehmen; vielfach sind dafür dann andere Sinne deutlich stärker ausgeprägt. Doch auch unabhängig von solchen physiologisch bedingten Einschränkungen unterscheiden sich Menschen bezüglich ihrer Präferenzsinne beim Wahrnehmen, Verstehen und Lernen.
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Körperhaltungen In einer körperorientierten systemischen Therapie oder Beratung lernen Menschen ihr spezifisches Körperrepertoire kennen, sogenannte Mikropraktiken. Das sind ganz eigene, individuelle (Verhaltens-)Muster wie bestimmte Körperhaltungen, Körperempfindungen oder auch Bewegungsimpulse, die in spezifischen Situationen unbewusst aufkommen, zum Beispiel, »um Nähe und Distanz zu regulieren, Emotionen Ausdruck zu verleihen und sich in der Welt zu positionieren« (BreitSchröder, 2014, S. 183). Dabei geht es auch – und gerade – um solche Mikropraktiken, die in sozialen Situationen bedeutsam sind, wie die Körperhaltungen und Kommunikationsmuster nach Virginia Satir (Kapitel 2.1). Mikropraktiken können aber, wenn es um andere Situationen als um Kommunikationen geht, auch völlig anders aussehen und sind stets sehr individuell.
Körperorientierte Arbeit
In körperorientierter Arbeit geht es u. a. darum, diese individuelle Körpersprache wahrzunehmen und »lesen« zu können, um sie dann in bestimmten Situationen wiederzuerkennen. Ein weiterer Schritt ist, dass bewusst und gezielt neue bzw. andere Körperhaltungen ausprobiert und eingeübt werden. Dieses körperliche Erfahren, Spüren und Erleben ist oft nötig, damit Veränderung schlussendlich auch außerhalb von Beratungssettings umgesetzt werden kann. Der Körper dient damit »als Ressource […], um Wahrnehmungen, Gefühle, Bewegungen oder Inter-
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Beispiele für Powerposen
aktionen zu ermöglichen, die in einem als problematisch erlebten Kontext bisher nicht möglich waren« (Wienands, 2014, S. 108). Neben solcher individueller Arbeit gibt es auch verallgemeinerte Körperübungen, mit denen in stressigen Situationen, bei Angst oder Panik schnell Einfluss auf unser Befinden, Denken und Handeln genommen werden kann (vgl. z. B. Croos-Müller u. Pannen, 2021). Gefühle Wie in Kapitel 2.2.1 schon dargestellt, liegt in Beratung, Therapie und Coaching der Fokus nicht nur auf dem gesprochenen Wort, sondern auch auf anderen Signalen des Gegenübers. Wir beobachten körperliche Impulse, die oft durch Emotionen, Gefühle, Stimmungen und manchmal auch Erinnerungen an ein Gefühlserleben ausgelöst werden. Sie sind vielfältig und individuell durchaus verschieden: Menschen empfinden Kribbeln, Druckgefühl, Temperaturwahrnehmungen, Zittern, Verspannungen, Herzrasen, innere Unruhe, Übelkeit, Enge in Körperteilen bzw. bereichen, Schwindel, sie haben einen Kloß im Hals oder Schmetterlinge im Bauch. Diese Empfindungen können überall am Körper beobachtet werden, vom Scheitel bis zur Fußsohle. Emotionen entstehen als Reaktion auf ein Ereignis, das für die betreffende Person von großer Bedeutung ist, also beispielsweise eine Gefahr oder ein Hilfsangebot (Scherer, 2002). Je nachdem, welche Emotion ausgelöst wurde (z. B. Freude,
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Ärger oder Angst), verändern sich dabei in ganz bestimmter Weise mimischer oder motorischer Ausdruck (z. B. Lächeln), körperliche Zustände (z. B. Herzrate), Handlungstendenzen (z. B. »Ich möchte die andere Person umarmen«) und Gedanken (»Ich mag die andere Person«). Und zwar alle gemeinsam bzw. synchron. Diese Veränderungen ergeben dann die Emotion. Solche Gefühle »liefern Antrieb, Etwas löst verschiedene Gefühle aus Motivation und Handlungsimpulse und beeinflussen Entscheidungen und soziale Interaktion« (Barnow, Reinelt u. Sauer, 2016, S. 5). Außerdem regulieren sie Grenzen bzw. Zusammenhalt und Abgrenzungen, sei es zwischen einzelnen Menschen oder zwischen Gruppen (Eismann u. Lammers, 2017; Glasenapp, 2021, S. 141). Sie zeigen darüber hinaus an, ob Bedürfnisse erfüllt, unerfüllt oder gefährdet sind, und tragen im Fall der Fälle zur Abwehr der Gefahr bei: Wenn in grauer Vorzeit der Säbelzahntiger auftauchte und Menschen Angst und Schrecken empfanden, konnten diese Emotionen blitzschnell Prozesse befördern, die hinreichend Energie und Konzentration für die Entscheidung »Flucht oder Kampf« bereitstellten, denn das Bedürfnis nach Sicherheit war bedroht. Gefühle liefern also Informationen darüber, was uns fehlt oder was wir brauchen, und sind ein basaler Teil des menschlichen Lebens und Seins. Sie bezeichnen »Zustände der Innerlichkeit, die unmittelbarste und körpernaheste Wertung dessen, was uns begegnet« (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 197). Obwohl es sich um derart zentrale Prozesse handelt, beobachten wir bei Klient*innen und auch bei uns selbst immer wieder, wie unzureichend die Wahrnehmung von und die Kommunikation über Emotionen häufig sind: Manchmal werden wir sprachlos, wenn es um Gefühle geht, und weichen Fragen nach dem emotionalen Erleben aus; oftmals fehlt Vokabular, um überhaupt über Emotionen, Gefühle und Bedürfnisse sprechen zu können, und auch Klarheit bzw. Wissen über deren Entstehungsmechanismen und Funktionen: Wie Eismann und Lammers (2017, S. 13) schreiben, führen »das Auftreten von Emotionen aus dem scheinbaren Nichts heraus sowie die Ahnungslosigkeit ob ihrer Bedeutung oder ihres Nutzens […] verständlicherweise zur Ablehnung des emotionalen Erlebens«. Für die Klärungs- und Veränderungsprozesse in Therapie, Coaching und Beratung ist das Verständnis der Klient*innen für ihre eigenen Gefühle jedoch elementar – ebenso wie neue Erkenntnisse über Möglichkeiten der Regulation von Emotionen. Und auch für uns als Begleiter*innen ist es unverzichtbar, Wissen
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Meine Gefühle und ich Mein Gefühlsrad
um Gefühle sowie sprachliche Ausdrucksmittel und/oder Bilder für sie zu haben. Denn als Menschen fühlen wir natürlich einerseits selbst. Und andererseits fühlen wir als Therapeut*innen mit den Klient*innen, reagieren empathisch auf unsere Gegenüber und deren Gefühle. Als Einstieg in die Arbeit mit Gefühlen eignen sich unterschiedliche Zugänge. Fertige Wortlisten beispielsweise (z. B. Eismann u. Lammers, 2017, S. 26; Rosenberg, 2013, S. 62 ff.), daraus kreierte »Wortwolken« oder auch Selbstbeobachtungslisten, die die Klient*innen eigenständig erstellen und ggf. bebildern, funktionieren unserer Erfahrung nach gut, um miteinander über Gefühle ins Gespräch zu kommen. Auch das Emotionsrad nach Eismann und Lammers (2017, S. 28) ist ein bewährtes Mittel. Es sortiert eine übersichtliche Anzahl an Gefühlen nach den Dimensionen »angenehm« bis »unangenehm« und »aktivierend« bis »defensiv« (siehe Abbildung unten). Gerade die Einschätzung entlang der Linie »angenehm – unangenehm« holt viele Klient*innen gut ab und ist daher besonders geeignet, um mit ihnen genau daran zu arbeiten, den Sinn und Nutzen von zunächst negativ bewerteten Gefühlen zu erkennen und einen neuen Umgang mit ihnen zu erlernen.
Das Emotionsrad nach Eismann und Lammers (eigene Darstellung)
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Nach einer inhaltlichen Annäherung an die für die jeweilige Situation sowie Person relevanten Gefühle geht es darum, störende Bewertungen und/oder die Verdrängung bzw. Unterdrückung von Emotionen zu bearbeiten. Die wahrgenommenen und (mit-)gefühlten Gefühle der Berater*innen können dabei den Klient*innen angeboten werden, insbesondere dann, wenn diesen selbst gar nichts einfällt: • Möchten Sie wissen, was Ihre Schilderung in mir ausgelöst hat und welche Gefühle bei mir aufgekommen sind? • Rückmeldungen von mir, die nicht passend sind, lassen Sie einfach vorbeirauschen. Vielleicht sind Ihre Empfindungen aber ähnlich? Vielleicht fällt es leichter in Abgrenzung zum Gehörten zu erklären, was Sie selbst empfunden haben? • Wie? • Wie noch? Dabei ist es wichtig, als Berater*in den Klient*innen die eigene Wahrnehmung und das Mit-Gefühlte wirklich offen anzubieten, ihnen ihre andere Wahrnehmung ausdrücklich und sehr deutlich zu erlauben und ihren Expert*innen-Status für sich selbst und ihre Gefühle nicht infrage zu stellen. Selbstredend sind bei Klient*innen auch völlig andere Gefühle erlaubt, als der*die Berater*in sie fühlt, und im Sinne der fünf Freiheiten (Kapitel 2.2.1) »richtig«. Vor allem negative Bewertungen von geäußerten und beschriebenen Gefühlen, ihre Unterdrückung und der Kampf gegen sie durch den*die Klient*in selbst erschweren häufig ihre Nutzung als Ressource bei der Problemlösung: »Wir können bewerten, ob eine Verhaltensweise in positiver oder negativer Weise im Einklang mit den Regeln und Normen eines Menschen und seines Kontextes ist. Wir können bewerten, ob ein Gedanke in positiver oder negativer Weise zu einer Problemlösung beiträgt. Aber wir sollten unsere negativen Bewertungsmuster hinsichtlich Emotionen hinterfragen und reduzieren lernen« (Glasenapp, 2021, S. 140). In allen in diesem Buch vorgestellten Methoden der systemischen Beratung spielen Körperwahrnehmung und Gefühle eine Rolle, wie wir noch zeigen werden. Dabei eröffnet der Umstand, dass Gefühle zwar körperlich gut wahrnehmbar, bisweilen aber sprachlich schwer zu beschreiben sind, die Möglichkeit, die beraterische Arbeit visuell zu unterstützen, wo Worte fehlen. Vielfach fällt es Klient*innen leichter, mit und an Bildern zu arbeiten und einen eher intuitiven Zugang zu den jeweils angewandten Methoden, Modellen und Konzepten zu finden. In Kapitel 6.2 werden wir beispielhaft zeigen, wie die vom US-amerikanischen Psychologen Paul Ekman postulierten sieben Grundemotionen Freude, Traurigkeit, Wut, Angst, Überraschung, Ekel und Verachtung (Bosley u. Kasten, 2018, S. 19 ff.) mimisch bzw. körperlich dargestellt und visuell »übersetzt« werden können.
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Take Home – Körperhaltungen und Gefühle
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3.2 Sprache – Kommunikation und Konstruktion von Wirklichkeit In der Beschäftigung mit unseren systemischen Held*innen (Kapitel 2.2) ist schon deutlich geworden, wie wichtig die Sprache für die Konstruktion von subjektiven Wirklichkeit(en) und damit für Beratung, Therapie und systemisches Denken und Handeln an sich ist. Auch, dass Kommunikation nicht so einfach ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, ist bereits mehrfach angeklungen. Doch woran liegt diese Komplexität? Und was genau ist Sprache eigentlich? Im Allgemeinen wird Sprache beschrieben als »soziales Phänomen« mit dem wesentlichen Zweck, der »Kommunikation in der Gesellschaft zu dienen« (Meibauer et al., 2002, S. 3). Vielfach steht bei dieser Funktionszuschreibung von Sprache die Abgrenzung von der Kommunikation zwischen Tieren im Vordergrund (Volmert, 1999, S. 9). Auch diese produzieren ja Geräusche bzw. Laute oder verwenden Gebärden in der Interaktion mit ihrer Umwelt: Gorillas summen »FoodSongs« beim Essen, Meerkatzen nutzen spezifische Warnrufe für unterschiedliche Bedrohungen durch Fressfeinde und auch Delfine haben ein hoch entwickeltes, gut erforschtes Kommunikationssystem mit verschiedensten Zeichen bzw. Signalen. Mensch-Tier-Kommunikation ist natürlich ebenfalls möglich, und das sogar wechselseitig: Die US-amerikanische Forscherin Sue Savage-Rumbaugh hat ab den 1980er Jahren zwei Bonoboaffen unterrichtet, ihnen eine mehr als 300 Zeichen umfassende Gebärdensprache beigebracht und über diese mit ihnen kommuniziert (Savage-Rumbaugh, Shanker u. Taylor, 1998). Trotz solcher komplexer Leistungen ist es allerdings für Affen nicht möglich, die menschliche Sprache zu erlernen und als solche zu nutzen (Konstantinov, 2019, S. 10), denn um die vielfältigen Laute zu produzieren, die unsere Sprache benötigt, fehlt ihnen unter anderem der einzigartige menschliche Sprechapparat. Unsere Fähigkeit zum komplexen Sprechen gibt es aber nicht, ohne auch Kosten zu haben: Der Aufbau des menschlichen Rachenraums und die Vielfalt der Möglichkeiten zur Lautbildung bringen durch einen tiefsitzenden Kehlkopf und eine verhält- Kommunikationsformen bei Tieren
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nismäßig kurze Zunge die erhöhte Gefahr des Erstickens mit sich. Sprache und die Möglichkeiten, die Kommunikation bietet, müssen sich also im Laufe unserer artgeschichtlichen Entwicklung als wertvoll genug erwiesen haben, um diese Gefahr zu kompensieren. Eine weitere Voraussetzung für die zielbewusste Verwendung von Sprache ist die Fähigkeit von Menschen, die Inhalte und Bedeutungen sprachlicher Zeichen bis zu hochkomplexen Sprachsystemen zu erlernen und anzuwenden. Sprache ist im »Selbstverständnis vieler Gesellschaften zum entscheidenden definierenden Kriterium für den Menschen geworden« (Linke et al., 2001, S. 2). Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, braucht menschliche Sprache aufseiten der Sprechenden ein gemeinsames Zeichensystem sowie bestimmte kognitive und physiologische Fähigkeiten.
3.2.1 Sprache als Zeichensystem Die einfachste Definition für den Begriff Zeichen geht auf Aristoteles zurück: »aliquid stat pro aliquo« (zit. nach Linke, Nussbaumer u. Portmann, 2001, S. 18). Frei übersetzt: Etwas steht für etwas anderes, oder: Ein Zeichen steht für das Bezeichnete. Unterschieden werden nach Pierce drei Arten von Zeichen (Linke et al., 2001, S. 19 ff.): • Von Index, Anzeichen oder Symptom spricht man immer dann, wenn es einen erkennbaren kausalen Zusammenhang zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten gibt. Ein klassisches Beispiel für ein Index- oder Symptomzeichen ist Rauch, der für »Feuer« steht und auf ein Feuer verweist. Im täglichen Sprechen wiederum sind typische Anzeichen eher in allem zu finden, was neben der eigentlichen Sprache passiert. Wir haben schon festgestellt, dass der Körper »mitspricht«, und so sind bei spielsweise Lachen, Erröten etc. Anzeichen für Freude, Unsicherheit oder bestimmte andere Emotionen. Auch Dialekte oder spezifische Sprachstile können Zeichen geben, die Rückschlüsse auf die sprechende Person oder Situation zulassen. Die Index-Kategorie spielt in der Verwendung von Sprache eine große Rolle. Um das engere System Sprache zu verstehen, sind Anzeichen allerdings Der Unterschied zwischen Anzeichen nicht von großem Interesse. bzw. Index und Ikon
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• Ähnlich ist es mit dem Ikon. Der Begriff kommt vom griechischen Wort für Bild. Die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem liegt hier in der gegenseitigen Ähnlichkeit. Dies kann sich auf optische oder auch lautliche Ähnlichkeiten beziehen. Letztere sieht man beispielsweise bei lautmalerischen Symbol Ausdrücken wie miau oder wauwau. Diese Wörter ähneln den eigentlichen Lauten, die sie bezeichnen. Für visuelle Sprachen wiederum ist vor allem die optische Ähnlichkeit bedeutsam, wie wir in Kapitel 5 zeigen werden. • Die meisten Wörter, die wir verwenden, sind allerdings Symbole. Um im Beispiel zu bleiben: Zur Bezeichnung der Laute des Hundes nutzt man in der Regel das Verb bellen. Zwischen diesem sprachlichen Zeichen und dem Bezeichneten besteht jedoch kein aus sich heraus erkennbarer Zusammenhang, er muss daher erst von den Zeichennutzer*innen hergestellt, als Symbol vereinbart und dann in einer betreffenden Sprechsituation »gewusst« werden. Diese Vereinbarung wiederum hat zwei Seiten: Auf der einen gibt es ein Konzept bzw. einen Inhalt, auf der anderen einen sprachlichen Ausdruck, entweder eine bestimmte Lautfolge oder ein Schriftzeichen.
Zeichen und Bezeichnung, Zeichennutzer*innen und Konvention
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3.2.2 Sprache und Konzepte, Vorstellungen und Bedeutungen Wie kommt nun diese Vereinbarung über die Bedeutung von sprachlichen Zeichen zustande, und wie entsteht das menschliche »mentale Lexikon« (Aitchison u. Wiese, 1997), das eine von Missverständnissen größtmöglich freie Kommunikation gewährleistet? Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben Menschen nicht alle exakt die gleichen Eintragungen im jeweils eigenen mentalen Lexikon. Stattdessen ist davon auszugehen, dass individuelle Erfahrungen ebenso wie soziale und kulturelle Einflüsse dessen Bestand formen. So findet sich beispielsweise das Konzept Geschlechtlichkeit in verschiedenen Sprachen unterschiedlich wieder. In den meisten europäischen Sprachen spiegelt sich darin die Zweigeschlechtlichkeit: Es gibt männliche und weibliche Pronomen, die männliche bzw. weibliche Personen bezeichnen: • er/sie (Deutsch) • he/she (Englisch) • il/elle (Französisch) • han/hon (Schwedisch) • ele/ela (Portugiesisch) Im Finnischen hingegen gibt es die Besonderheit, dass sowohl er als auch sie mit demselben Pronomen hän bezeichnet werden. Viele Probleme in der aktuellen Genderdebatte stellen sich in der finnischen Sprache damit nicht: Über einen nicht-binären Menschen kann im Finnischen sehr einfach gesprochen werden – die Sprache lässt viel mehr Freiraum zu als im Deutschen, wo man sich entweder für eines der beiden vorhandenen oder ein neues Pronomen entscheiden muss oder Sprechende die Pronomen umgehen müssen, was in der Kommunikation nicht immer ohne Irritation abläuft. Die Wechselwirkung zwischen Sprache und Wirklichkeit zeigt sich auch am Beispiel der individuellen Sprachentwicklung von Menschen. Babys zwischen neun und 15 Monaten kommunizieren vorwiegend über Mimik und Gestik. Erste Laute haben dabei eine enge Bindung an den Kontext und werden noch nicht im oben beschriebenen Sinne referenziell – also als Symbol – verwendet, wohl aber manchmal so von Eltern gehört und wahrgenommen. Erst mit 15 bis 24 Monaten beginnt die symbolische Kommunikation (Zimmer, 2008). Dabei ist es keineswegs so, dass sprachnutzende Personen Kindern Sprache beibringen, indem sie auf Dinge zeigen und sie benennen und das Kind diese Zuordnung lernt. Stattdessen etikettieren Kinder die Welt fortlaufend, sortieren und kategorisieren ihre Erfahrungen. Mit dem zunehmenden Erkennen und Begreifen der Welt legen Kinder also eigene Konzepte aus ihrem Erfahrungswissen an.
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Dabei kommt es mitunter auch zu Zuordnungen, die anders sind als unser »erwachsenes« Verständnis der Dinge. So gibt es sogenannte Überdiskriminierungen, wenn beispielsweise nur ein bestimmter Hund als solcher bezeichnet wird und Kinder diese Bezeichnung zunächst nicht auch für andere Hunde nutzen wollen. Die Ausweitung des Konzepts auf einen weiteren Kontext muss dann erst ausgehandelt und erlernt werden. Auch Übergeneralisierungen können Wortbedeutungen lernen (vgl.Aitchison u. Wiese, 1997, S. 223) beobachtet werden. Wiebkes Sohn Ingmar beispielsweise nutzte mit ca. zwei Jahren die Bezeichnung äti für alle Familienmitglieder, egal ob Geschwister, Eltern oder Großeltern, so als sei allein wesentlich, dass es Menschen sind, die um ihn herum sind und ihm Essen, Trinken und Liebe geben. Gleichzeitig bezeichnete er verschiedene Baustellenfahrzeuge schon sehr differenziert und mit dem allgemeinen Sprachgebrauch übereinstimmend, unterschied bagga (Bagger), auto (Auto), krrkrr (Kran), lasta (Laster) und bton (Betonmischer). Die Notwendigkeit der Aushandlung von Bedeutung(en) in der Kommunikation bleibt auch bei erwachsenen Sprechenden relevant. Wenn Klient*innen beispielsweise mit der Erwartung in die Beratung oder zum Coaching kommen, dass da jemand sei, der sie nun irgendwie magisch heilt, mit geheimnisvollem Wissen über Menschen und klaren Ansagen, was zu tun oder wer schuld an störenden Gefühlen ist und sich deshalb mal ändern müsse, braucht es eine genauere Aushandlung dessen, was Beratung und Coaching tatsächlich können und im jeweiligen Setting auch leisten wollen, damit es ein gemeinsames Konzept für die Zusammenarbeit gibt. Hier zeigt sich ein konkretes Beispiel für die Umsetzung konstruktivistischer Ideen in der beraterischen Praxis: Menschen nehmen die Welt auf der Basis ihrer subjektiven Erfahrungen und ihres individuellen Wissens wahr und ordnen sie dementsprechend. Diese Ordnung muss in manchen Situationen neu verhandelt und dann vielleicht auch neu konstruiert werden. Müssten wir das allerdings immer tun, wäre Kommunikation unmöglich, deshalb gibt es Konventionen und Vereinbarungen, die über die konkrete Situation hinausgehen und Sprachverwendung wie -bedeutungen allgemein festhalten und regeln.
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3.2.3 Konventionalisierung von Sprache Regelsysteme lösen nicht immer Begeisterungsstürme aus, haben aber die wichtige Funktion, für Ordnung zu sorgen und uns permanente Nachverhandlung und Aushandlung zu ersparen. Deshalb gibt es Lexika, Grammatiken und Bedeutungswörterbücher, in denen der jeweils aktuelle Stand der Sprachbeschreibung festgehalten wird, wie zum Beispiel das vom Rechtschreibrat herausgegebene amtliche Regelwerk »Deutsche Rechtschreibung: Regeln und Wörterverzeichnis« (RdR, 2018). Sprache und auch die semantische Bedeutung von Wörtern verändern sich aber fortlaufend, sodass die derzeitige Ausgabe bei der nächsten Aktualisierung in Teilen schon wieder Makulatur sein dürfte. Abgesehen davon, dass wir gesehen haben, in welcher Wechselwirkung Sprache, Wahrnehmung und die Konstruktion von Wirklichkeit(en) stehen, gibt es noch eine andere Perspektive, die zeigt, dass Sprache mehr kann, als nur zu beschreiben und zu etikettieren. Die Rede ist von sprachlichen Äußerungen, die als Sprachhandeln (Linke et al., 2001, S. 183 ff.) verstanden werden. In diesen Fällen nimmt eine sprachliche Äußerung unmittelbar Einfluss auf die Welt, indem sie ein Element darin (um)definiert oder anderweitig verändert. Beispiele wie die in Abbildung »Sprachhandeln« zeigen, dass es für Sprachhandeln spezifische Kontexte und bisweilen auch bestimmte gesellschaftliche Funktionen braucht: Pastor*innen können taufen, Mediziner*innen können Diagnosen stellen, Richter*innen können verurteilen und wir alle können Vereinsmitgliedschaften oder Zeitschriften-Abos kündigen. Die oben genannten verschiedenen Perspektiven auf sprachliche Zeichen lassen sich auch mit einigen der großen Strömungen innerhalb der Sprachphilosophie verknüpfen. Lieb (2020) nimmt das »Werkzeug Sprache in Therapie, Beratung und Supervision« sehr umfassend in den Blick und stellt dabei u. a. die historische Entwicklung der Sprachphilosophie sowie wesentliche Schulen und Wenden vor. Er verbindet diese Betrachtung zudem jeweils mit dem professionellen therapeutischen Handeln und verdeutlicht, wie unverzichtbar ein bewusster Umgang mit dem Werkzeug Sprache ist (Lieb, 2020, S. 28 ff.). Dessen Bedeutung sollte auch im vorliegenden Buch schon in Kapitel 2.2 mit dem Blick auf die vielen unterschiedlichen Arten, systemisch (mit Sprache) zu arbeiten, deutlich geworden sein. Letztlich ist Sprache eben das Begleitwerkzeug aller Methoden: »Reden ist nicht alles – aber ohne angemessenes Reden und Hören ist alles nichts!« (Lieb, 2020, S. 15). In unserer Arbeit nutzen wir als Therapeut*innen Sprache vielfältig: einerseits zum Denken – also innerlich –, andererseits natürlich extern, zur Kommunikation sowie Wirklichkeits- und Möglichkeitsverhandlung mit anderen. Zusammenfassend
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Klassische Beispiele für Sprachhandeln
liefert die Abbildung unten noch mal einen Blick auf eine gewöhnliche Kommunikationssituation, in der sich verschiedene Sprechende begegnen. Im Idealfall gibt es hierbei hinreichend große Schnittmengen im Welt- und Sprachwissen, passen Intentionen und Motivationen des Gesagten gut zusammen und werden hinreichend eindeutige sprachliche Zeichen verwendet. Nicht zu vergessen sind allerdings die schon vielfach erwähnten nichtsprachlichen Nebeninformationen, die eine Äußerung begleiten und die ebenfalls im Blick bleiben sollten: Wir haben bereits auf die Tücken fehlender Kongruenz zwischen dem Sach-Inhalt und der Körpersprache (Gestik, Mimik, Bewegung im Raum, Haltung, …) oder anderen parasprachlichen Merkmalen (Stimmklang, Betonung, Lautstärke, Sprechtempo und/oder andere körperliche Anzeichen für bestimmte Emotionen) hingewiesen (u. a. Kapitel 2.2.1, 3.1). Alle hier genannten Aspekte spielen auch für das Visualisieren eine große Rolle, denn in der Visualisierung wird eine Bildsprache benutzt, die ebenfalls aus einem spezifischen Zeichensystem besteht (Kapitel 5). Dabei ist die Bedeutung der jeweiligen Bildzeichen allerdings viel weniger stark festgelegt, und es bieten sich somit ganz andere Freiheiten als in konventioneller Schrift- und Lautsprache. Kommunikationsmodell
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Die Bedeutungszuschreibung findet zwischen den Beteiligten deutlich aktueller bzw. spontaner statt und wird vielfach nachverhandelt. Damit ergänzt die visuelle Sprache gut die Laut- und/oder Schriftsprache und thematisiert zugleich deren Schwachstelle, nämlich den Umstand, dass die Uneindeutigkeit von Sprache vielen Sprechenden nicht immer präsent oder transparent ist.
3.2.4 Sprache in Beratung, Coaching und Therapie Für eine bewusstere Verwendung von Sprache in beraterischen oder therapeutischen Kontexten ist auch das Kommunikationsmodell von Friedemann Schulz von Thun (2003a) hilfreich, wie wir es in nebenstehender Abbildung dargestellt haben. Zusätzlich zu dem Fokus auf unterschiedliche Bedeutungsverständnisse, die Kommunikation erschweren können, kommt hier nun noch der potenzielle Unterschied zwischen Gesagtem und Gemeintem ins Spiel, in diesem Fall mit Blick auf die Absicht bzw. das Motiv, warum Äußerungen getätigt werden. Wenn ein Klient, Herr Müller, zur Therapeutin, Frau Meier, kommt und äußert: »Ich brauche eine Therapie!«, gibt es auf der Basis des Modells unterschiedliche Möglichkeiten, diese Äußerung zu verstehen: • Auf der Sachebene wird die Information transportiert, dass Herr Müller der Ansicht ist, eine Therapie zu benötigen. Hier könnte – wie weiter vorn schon einmal angeklungen – ein jeweils unterschiedliches Konzept des Begriffes Therapie ein Ausgangspunkt für ein Missverständnis sein, das sich dann auch auf den anderen Ebenen zeigen würde. • Auf der Selbstoffenbarungsebene kann die Botschaft sein, dass Herr Müller nicht allein weiterkommt und Hilfe braucht. • Auf der Beziehungsebene kann die Botschaft sein, dass Herr Müller sich hingibt und den Urteilen der »magischen Therapeutin« Frau Meier unterwerfen wird. • Die Botschaft auf der Appellebene schließlich könnte lauten: »Heile mich (am besten ohne dass ich mich verändern muss)!« Für den weiteren Verlauf ist dann allerdings wichtig, dass Frau Meier nicht einfach eine Antwort auf allen oder nur einer der Ebenen gibt, zum Beispiel: »Da sind Sie hier falsch!« – das würde eine gelingende Kommunikation nicht befördern. Hilfreich wäre vielmehr eine nach Ebenen differenzierte Antwort oder entsprechendes Nachfragen: • »Habe ich es richtig verstanden, dass Sie für eine Therapie hier sind (Sachebene), weil Sie momentan allein noch nicht weiterkommen in Ihrem Anliegen (Selbstoffenbarungsebene)?«
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Kommunikationsebenen-Modell nach Schulz von Thun (2003a)
Im konstruierten Beispiel würde Herr Müller sich nun schon mal verstanden fühlen, vermutlich erleichtert zustimmen und weitersprechen können. In einem zweiten Schritt ist es dann auf der Appell- und der Beziehungsebene möglich, eventuell vorhandene unterschiedliche Konzepte bzw. Vorstellungen von Therapie und damit verbundene Implikationen nachzuverhandeln, indem Frau Meier zum Beispiel nachfragt: • »Was genau erwarten Sie im Rahmen einer Therapie von mir?« • »Wie stellen Sie sich unsere Arbeitsbeziehung vor? Was bringen Sie ein, was bringe ich ein?« Für die Analyse von Kommunikationsstörungen ist es hilfreich, dieses Modell im Hinterkopf zu behalten und im Fall der Fälle anzuwenden. Zum Beispiel immer dann, wenn ein so einfacher Satz wie »Ich brauche eine Therapie« aus noch nicht bewussten Gründen ein Gefühl der Irritation oder Unsicherheit bei Frau Meier auslöst. Dann lohnt sich ein Blick auf die verschiedenen Ebenen, verbunden mit der stillen Frage, wo es vielleicht ein »mismatch«, eine Unstimmigkeit gibt.
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Ebenfalls hilfreich ist diese Matrix bei der Sortierung der grundsätzlichen Gesprächstechniken für unterschiedliche Gesprächsanlässe bzw. situationen. Je nach Setting und Anlass können wir in der Regel unterscheiden zwischen Information, Anleitung, eigentlicher Beratung (Knoll, 2006) und Metakommunikation, die vorliegt, wenn über die Kommunikation in der Beratung gesprochen wird, also zum Beispiel Missverständnisse geklärt werden. Natürlich spielen letztlich immer alle vorgestellten Ebenen eine Rolle. Es ist aber davon auszugehen, dass es in informierenden Gesprächen – oder auch nur Gesprächsanteilen – vor allem darum geht, fachliche Inhalte und spezifische Kenntnisse oder Sachverhalte zu vermitteln. Die ratsuchende Person hat in der Regel das Ziel, Wissen über bestimmte Themen bzw. Thematiken zu erlangen. Ähnlich verhält es sich bei Workshops oder Trainings, in denen Inhalte vermittelt oder Anleitungen gegeben werden. Eine sachorientierte, klare Sprache ist hierbei folglich besonders hilfreich und angemessen. Wenn es hingegen darum geht, persönliche Prozesse und Entwicklungen von Klient*innen zu begleiten oder individuelle Problemlagen und Herausforderungen zu therapieren, sprechen wir von Beratung, Coaching oder Therapie. Dabei spielen Beziehung und Selbstoffenbarung – und somit potenziell »emotionaler« gefärbte Gesprächsführungen – zwar ebenfalls eine große Rolle. Doch auch für beraterische und therapeutische Kontexte kann der Fokus auf eine klare und eindeutige Sprache sinnvoll und hilfreich sein. So beschreibt Lieb (2020, S. 232 ff.) die Verwendung von Klartext in Beratung und Therapie. Dabei werden Subjekt, Prädikat und Objekt(e) vollständig sowie möglichst präzise und konkret benannt und adressiert, wodurch die Deutungsnotwendigkeit so gut es geht reduziert wird. Dieses Verständnis von Sprachgebrauch in Therapie und Beratung kann zunächst viele Nachfragen und Bitten um Konkretisierungen auslösen, denn es wird nicht interpretiert und (womöglich vorschnell) »verstanden«, sondern das »Gesagte wird wörtlich gehört und weiter befragt bzw. noch nicht Gesagtes, Getilgtes oder Angedeutetes erfragt« (Lieb, 2020, S. 234). So kann es zum Beispiel zu völlig anderen Gesprächsinhalten kommen, wenn der Frage »Was soll ich studieren?« keine Exploration der Ressourcen folgt (»Was?«), sondern dem verwendeten Modalverb (»sollen«) Aufmerksamkeit geschenkt wird: • Wer sagt oder legt nahe, dass Sie studieren sollen? • Gibt es etwas, was Sie studieren wollen? Klartext ist jedoch auch nicht immer das Mittel der Wahl. Insbesondere die Beziehung zwischen den Sprechenden muss ungefährdet bleiben – das heißt zum Beispiel, dass dem Ratsuchenden jederzeit klar sein sollte, zu welchem Zweck die Kommunikation durch Nachfragen geführt wird, damit er*sie sich durch die wiederholte Bitte um Konkretisierung nicht »vorgeführt« fühlt.
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3.2.5 Sprache als Methode – Gesprächstechniken und Fragen
Gesprächstechniken und Fragen
»Man kann nicht nicht kommunizieren« – der bekannte Buchtitel von Paul Watzlawick (2015) macht deutlich, dass eine Sortierung von Gesprächstechniken für Therapeut*innen und Berater*innen unverzichtbar ist. Zur grundsätzlichen Orientierung weisen wir wieder auf die ausführlichen Übersichten bei von Schlippe und Schweitzer (2016) sowie darüber hinaus Schwing und Fryszer (2015) hin und picken uns im Folgenden heraus, was für unsere Arbeit und den Fokus auf die Visualisierung wichtig ist.
Paraphrasieren – Zuhören und Verstehen In manchen Situationen kann es hilfreich sein, Gehörtes oder Gelesenes mit anderen, eigenen Worten zu umschreiben bzw. zu paraphrasieren. Mit dieser nicht wortwörtlichen Wiederholung des Gehörten versichern sich Gesprächsteilnehmende, dass sie einander richtig verstanden haben. Es eröffnet zudem das Feld für Nachverhandlung, wenn etwas an der Paraphrase nicht ganz zutrifft. Durch Paraphrasieren verlangsamt sich die Konversation, die Selbstreflexion wird angeregt. Vielfach ist es hilfreich, explizit auf dieses Vorgehen hinzuweisen: • »Bevor wir loslegen/weitermachen/… fasse ich mal kurz in meinen Worten zusammen, was ich verstanden habe. Hören Sie zu und korrigieren Sie mich oder ergänzen Sie gern, wenn Ihnen etwas auffällt.« • »Habe ich richtig verstanden, dass Sie …?« Am Ende von komplexeren Zusammenfassungen kann auch die Nachfrage, wie das Gehörte angekommen ist und was es ausgelöst hat, hilfreich sein. Insbesondere dann, wenn, wie Rosenberg (2013, S. 118 ff.) es vorschlägt, unausgesprochene Bedürfnisse und/oder Gefühle mit verbalisiert worden sind oder die Situation in der Beschreibung durch die beratende Person gezielt lösungsorientierter wiedergegeben wurde, indem etwa bestimmte Wörter verwendet oder vermieden werden. Wenn ein*e Klient*in beispielsweise sehr negativ und absolut über sich und seine*ihre Situation spricht, kann durch die Paraphrase bereits eine neutralere Perspektive eröffnet und auch eine Interpretation in Bezug auf ein nicht erwähntes Gefühl eingebunden werden: • Klient*in: »Ich habe überhaupt keine Ahnung, was ich machen soll. Nie weiß ich, was zu tun ist. Immer wieder stehe ich wie ein Idiot da.«
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• Therapeut*in (paraphrasierend): »Habe ich es richtig verstanden, dass Sie gerade noch keine Idee haben, was ein nächster Schritt sein kann, und dass Sie dieses Gefühl von Unsicherheit gut kennen und noch nicht wissen, wofür solche Situationen da sein könnten?« Als ein Beispiel für lösungsorientiertes Vokabular seien hier die MiniMaxInterventionen von Manfred Prior (2009) genannt. So könnte bei der Paraphrase des Problems alternativ zu obigem Vorschlag auch die Formulierung »dass Sie in der Vergangenheit überhaupt keine Ahnung hatten …« genutzt werden. Dadurch wird suggeriert, dass sich die Situation ab jetzt ändern kann (Prior, 2009, S. 17 ff.). Ähnlich wirkt das im Beispiel verwendete Wort noch, wenn man bisher unerwünschte Muster oder auch noch nicht erreichte Veränderungen beschreibt (Prior, 2009, S. 44 ff.). Die Vermeidung der Wörter immer und nie bei der Beschreibung von Symptomen (Prior, 2009, S. 28) ist ebenfalls hilfreich. Auch »Nicht-Vorschläge« (Prior, 2009, S. 71) sind ein probates Mittel, um ohne großen Druck z. B. eine neue Idee oder eine Hausaufgabe ins Gespräch einzubringen. Die Idee ist dann im Raum, aber es gibt eine große Freiheit, sie dort auch zu lassen und tatsächlich nicht anzunehmen. Das obige Beispiel zeigt insgesamt, wie vielschichtig und reich einzelne Gesprächsbeiträge sind und wie wichtig es ist, langsam und aufmerksam zu kommunizieren, um gemeinsam voranzukommen und Missverständnisse zu vermeiden.
Fragen – Wundermittel in systemischer Arbeit Ein anderes wichtiges Instrument sind Fragen, wie bei unseren systemischen Held*innen (Kapitel 2.2) schon deutlich geworden ist. Vielfach ist es günstig, offene, konstruktive W-Fragen (Prior, 2009, S. 49 ff.) zu stellen: • Was …? • Wann …? • Welche …? • Wer …? • Wie …? • Woran …? • Wodurch …? Konstruktive W-Fragen Fragen, die mit diesen Fragewörtern beginnen, bringen Klient*innen dazu, zu konkretisieren und genau zu beschreiben, was sie aktuell tun, denken, fühlen oder
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in der Vergangenheit gedacht, getan und gefühlt haben. Geschlossene Fragen hingegen sind schneller, nämlich einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Sie sind dann hilfreich, wenn man eine Information braucht, zum Beispiel, ob der angebotene Termin passt oder nicht. Will man allerdings wissen, ob Klient*innen schon selbst etwas zur Lösung eines Problems unternommen haben, kann es interessanter sein, wiederum offen zu fragen, was sie bereits unternommen haben. Es unterstellt, dass schon eigene Lösungsversuche stattgefunden haben, und löst mentale Suchprozesse bei den Klient*innen aus. Sämtliche dieser Fragen können dabei zunächst problem- und/oder personenbezogen sein und vorrangig der Informationsgewinnung für den*die Berater*in dienen, sie können aber auch die Klient*innen dazu einladen, neue Informationen zu entdecken und neue Sichtweisen zu entwickeln. Systemische Fragen unterscheiden sich von vielen anderen Frageformen, denn sie »fragen nicht nach den ›Dingen‹, sondern nach der Beobachterin der Dinge, sie fragen nicht nach ›Eigenschaften‹, sondern nach Beschreibungen und Verhaltensunterschieden (›wer mehr, wer weniger?‹), sie fragen nicht danach, was ›ist‹, sondern was beschrieben wird und was mögliche andere Beschreibungen sein könnten« (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 251). Auf diese Weise ermöglichen sie eine »Verflüssigung« der Problemsicht. So fragt die*der Therapeut*in beispielsweise eher: »Wie haben Sie die Konfliktsituation wahrgenommen?« und nicht: »Wie ist es in der Konfliktsituation genau gewesen?« – durch die Formulierung wird klar, dass alles, was als objektiv beschrieben wird, nur die Sichtweise der betreffenden Person ist. Zirkuläre Fragen wiederum nehmen bewusst Prozesse und Muster zwischen den beteiligten Menschen in einem System in den Blick. Verhaltensweisen, Gefühlsäußerungen, Diagnosen und Symptome werden als Teil der Kommunikation im System verstanden und durch die entsprechenden Fragen mehr als nur die Perspektive der ratsuchenden Person erforscht. Dadurch könZirkuläre Fragen nen vermutete Außenperspektiven sichtbar sowie Erwartungen deutlicher und vielleicht sogar direkt oder zumindest im Nachgang geklärt werden. Um diese Schleife, den laufenden Wechsel der Sichtweisen (den »Loop«; Bleckwedel, 2015, S. 164), vollziehen zu können, muss als Erstes geklärt werden, wer alles beteiligt ist: • Wer aus Ihrem Umfeld würde merken, dass sich mit Blick auf Ihr Problem etwas ändert? Wer noch? • Wer würde sich freuen, wenn Ihr Problem verschwunden wäre? • Wen würde es ärgern, wenn bei Ihnen plötzlich alles glattliefe?
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Mit den Menschen, die Klient*innen als Beteiligte identifiziert haben, lassen sich im Prinzip auch alle anderen Fragearten durchspielen, die wir hier vorstellen. Fragen zur Wirklichkeits- und Möglichkeitskonstruktion eignen sich, um zwischen der aktuell wahrgenommenen Wirklichkeit und dem, was sich verändern soll, zu unterscheiden. Dabei steht im Mittelpunkt, Fragen zur Wirklichin einem ersten Schritt herauszufinden, wer alles an der als keits- und Möglich problematisch empfundenen »realen Wirklichkeit« beteiligt ist, keitskonstruktion wie die entsprechenden Beziehungsmuster aussehen und welche Gedanken, Hypothesen und/oder Gefühle es diesbezüglich gibt (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 257 ff.), sowie alsdann in einem zweiten Schritt, wie eine oder mehrere andere mögliche Wirklichkeiten aussehen könnten. Die eingangs erwähnten W-Fragen bieten hier im Prinzip bereits das nötige Werkzeug für beide Dimensionen. Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion sortieren von Schlippe und Schweitzer dabei rund um den Auftragskontext und das Problem: • Wer ist auf die Idee gekommen, dass dieses Erstgespräch stattfindet? (Beteiligte oder »Überweisungskontexte« kennenlernen) • Was kann in unserer Zusammenarbeit Hilfreiches passieren? Was darf hier nicht passieren? (Erwartungen und Befürchtungen abfragen) • Was können Sie tun/kann ich tun, damit wir erfolgreich sein werden? (perso nenbezogene Erwartungen) • Wer interessiert sich alles dafür, dass wir gerade hier sitzen? Wer weiß nichts davon und soll davon auch nicht erfahren? (eingeweihte und uneingeweihte Beteiligte kennenlernen) • Woran merkt man als Außenstehender, dass es dieses Problem für Sie gibt? Wer merkt es? Wer bemerkt es nicht? • Wann ist Ihr Problem für andere sichtbar, wann nicht? • Wer merkt es, wenn es das Problem nicht mehr gibt? Woran? • Wer zieht einen Gewinn aus dem Problem? • Welche Erklärungen gibt es in Ihrem Umfeld zur Entstehung dieses Problems? Von wem sind diese Hypothesen? Solche Fragen nach der aktuellen Wahrnehmung und den Sichtweisen, der »Tanz ums Problem« (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 258), können unter anderem wichtig sein, um den Leidensdruck der Klient*innen zu würdigen und um als Therapeut*in eigene Hypothesen oder Ideen für mögliche Wirklichkeiten zu entwickeln. Außerdem wird in diesem »Problemtanz« deutlich, dass es eben nicht die eine Erklärung bzw. kausale Wirkrichtung gibt, die behoben werden muss,
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sondern dass es ein zirkuläres, sich wechselseitig bedingendes Geschehen ist, das zu bestimmten Verhaltensweisen führt (Kapitel 2.2). Neben Fragen nach den Erwartungen und der Problemsicht spielen Zielfragen ebenfalls eine Rolle. Sie dienen sowohl Therapeut*innen als auch Klient*innen dazu, ein klares Bild vom angestrebten Zustand zu erhalten. Das ist auch wichtig, um zu erkennen, wann die Zusammenarbeit beendet werden kann. Dabei kann es für die Klient*innen entlastend wirken, diese Fragen als hypothetische Fragen gestellt zu bekommen: • Mal angenommen, unsere Zusammenarbeit würde etwas in dir bewegen und verändern, zunächst vielleicht fast unbemerkt, aber dann hilfreich. Woran würdest du das bemerken? Wer noch? Woran noch? Zu diesem Zweck eignet sich ebenso die Wunderfrage (Middendorf, 2017, S. 49). Sie treibt das Hypothetische der gerade vorgestellten Zielfrage noch stärker auf die Spitze. Klient*innen werden eingeladen, die Problemsicht abzuschütteln und sich ganz frei auf die Lösung zu fokussieren, damit sichtbar wird, was statt des Problems da sein soll. Eine »Hin zu«-Bewegung fällt zudem vielfach leichter als eine »Weg von«-Bewegung, und die nächsten Schritte können klarer werden, wenn das Ziel deutlich vor Augen ist.
Die Wunderfrage
Damit die Wunderfrage ihre Wirkung richtig entfalten kann, ist es hilfreich, sie mit einer kleinen Einleitung vorzubereiten: • Ich möchte als Nächstes eine vielleicht etwas putzig wirkende Frage stellen. Bist du dafür bereit? Das eröffnet nicht nur die Möglichkeit, freiwillig und bewusst in die nächste Frage einzusteigen, sondern es baut zudem Spannung auf. Als Nächstes wird dann die Wundersituation konstruiert: • Stell dir vor, du gehst nachher nach Hause und machst, was du abends so machst … Dann gehst du schlafen … Während du schläfst, passiert ohne dein Zutun ein Wunder … Das Problem, über das wir gerade noch gesprochen haben, ist gelöst. Einfach so … Vielleicht war eine Fee da und hat es weggezaubert … Du schläfst noch und weißt nichts von dieser neuen Situation. Für Klient*innen sind bei dieser Fragetechnik Sprechpausen wichtig, damit innere Bilder und Ideen aufkommen können. Schließlich folgt die eigentliche Wunderfrage:
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• Wenn morgens dann der Wecker klingelt und du aufstehst, woran merkst du als Erstes, dass das Wunder passiert ist? Wieder ist es jetzt wichtig, ausreichend Zeit zu lassen und zu warten, was der*die Klient*in sagen wird, und zudem die Ideen, die kommen, nicht zu bewerten, sondern zu explorieren: • Woran merkst du es noch? • Wer merkt es noch? Wenn nun beispielsweise ein erwachsener Mensch, Verwaltungsmitarbeiter im mittleren Alter und unzufrieden im Beruf, als Antwort auf die Wunderfrage erzählt, wie er nach dem Erwachen zum Formel-1-Training geht, bevor er am Wochenende in einem Rennen startet, ist allen klar, dass dieses Wunder nicht passieren wird und es für eine erfolgreiche Rennfahrerkarriere zu spät ist. Es lässt sich aber an diesem Bild erkunden, was für ihn das Attraktive an der Vorstellung ist. Das kann dann beispielsweise das Fahren auf immer gleichen Strecken sein, in einem besonderen Gefährt, mit einem festen Team – vielleicht ist also eine Ausbildung zum Busfahrer eine interessante Alternative zum als unbefriedigend empfundenen Verwaltungsjob. Wunderfragen sind klar, aber unverbindlich und erlauben, dass Klient*innen sich mit Fantasie in alle Richtungen bewegen können, ohne dass sie schon in die Verantwortlichkeit für die Umsetzung gehen müssen – für ein Wunder kann ja keiner etwas. Für anschließende Fragen nach sich nun ergebenden Möglichkeiten gibt es dann zwei Dimensionen: Es können bekannte Optionen (aus der Vergangenheit) oder neue (in der Zukunft) erkundet werden. Gerade bei Fragen, die in die Zukunft gehen, kann es dabei wichtig sein, nicht immer realistisch und tatsächlich nur Realisierbares zu denken. Die kreative, auch spielerische Erkundung von (selbst »verrückten«) Optionen bringt möglicherweise neue Aspekte ein, die sich dann in realisierbare Möglichkeiten übersetzen lassen. Um beim Arbeiten den Fokus deutlicher auf das Erkennen von Unterschieden in Gestalt vielleicht auch noch so winziger Veränderungen und das Entwickeln kleiner Schritte zu legen, Klient*innen (wieder) ein Gefühl von Beweglichkeit zu geben und neue Möglichkeitsräume zu eröffnen oder auch bekannte Möglichkeiten, die gerade nicht verfügbar sind, zu erkunden, eignen sich Skalierungsfragen bzw. Skalierungen und Rangreihen ebenso wie – damit verbunden – Fragen nach Unterschieden und Ausnahmen (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 255 ff., S. 266 f., S. 384; Middendorf, 2017, S. 52 ff.; Borke 2019). Bei der Skalierung von z. B. einem aktuellen (Un-)Zufriedenheitsgefühl kann der*die Klient*in auf einer Skala von 0 bis 10 (0 = sehr unzufrieden, 10 = sehr
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zufrieden) einen Punkt finden, an dem er*sie sich im Heute verortet. Von diesem Punkt der Skala aus – sagen wir: der 4 – kann nun in alle Richtungen gearbeitet und beispielsweise erfragt werden, wohin der*die Klient*in aktuell möchte, was also der eigene Zielpunkt auf der Skala sein könnte (und das muss nicht zwangsläufig die 10 sein, da ein solch hohes Ziel auch überfordern kann). Passende Fragen für die Arbeit mit Skalierungen und dem erwünschten bzw. angestrebten Zielzustand sind beispielsweise: Skalierungsfragen • Was kann passieren / kannst du tun, damit du deinem Ziel (der 7) näher kommst? • Woran würdest du merken, dass du diesem Ziel näher kommst, z. B. auf die 4,5? • Was ist der nächste kleine Schritt in Richtung mehr Zufriedenheit? Aber auch »Verschlechterungsfragen« und Fragen nach Unterschieden sind hilfreich: • Was kann passieren / müsstest du tun, damit du noch unzufriedener wirst und auf der 3 landest? • Woran bemerkst du diese Unzufriedenheit als Erstes? Woran noch? • Wer in deinem Umfeld würde diese Veränderung wahrnehmen? • Woran merkst du, dass er*sie dies an dir wahrgenommen hat? • Wie beschreibst du den Unterschied zwischen den einzelnen Skalenpunkten? • Wodurch bzw. woran nimmst du Unterschiede wahr (z. B. bezüglich des Verhaltens, der Gefühle oder anderer Wahrnehmungen)? • Wer bemerkt diese Unterschiede noch? Neben der rein verbalen Arbeit können Skalierungen auch auf dem Papier bearbeitet oder im Raum »erlebt« werden. Wenn die Klient*innen stehen und sich etwa entlang eines auf dem Boden liegenden Seils auf der Skala bewegen, ist es oft leichter, Körperwahrnehmungen zu erfragen oder bestimmte Haltungsveränderungen auch von außen zu beobachten. Steht zum Beispiel jemand deutlich aufrechter, je weiter er*sie in Richtung des gewünschten Verhaltens geht, kann diese veränderte Körperhaltung zukünftig als Indikator für gelungene kleine Schritte genutzt oder sogar bewusst eingenommen werden, um weitere solche Schritte zu gehen. Alternativ zur 1-bis-10-Skalierung kann auch mit Prozenten gearbeitet werden, wenn besonders kleinschrittiges Vorgehen relevant ist.
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Ähnlich funktionieren Fragen nach Ausnahmen. Auch sie eröffnen neue Perspektiven und zeigen oft (noch) nicht (wieder) genutzte Ressourcen für die Lösung von Problemen und die Bewältigung von Herausforderungen auf: • Wann warst du mal nicht so unzufrieden wie gerade? • Was war anders? • Welche Ideen hast du, warum es jetzt so ist und damals anders war? • Was kannst du tun, damit es mehr solche Ausnahmen gibt? Wenn es im Beratungsprozess schleppend vorangeht oder vielleicht auch Kommunikationsstörungen zwischen Therapeut*in und Klient*in auftreten, lohnt es sich zudem, auf die Zusammenarbeit, die Arbeitsbeziehung und/oder das gemeinsame Vorgehen zu schauen und beispielsweise folgende Fragen nach der Beziehungsebene zu stellen Fragen zur Beziehungsebene (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 274 f.): • Wie fühlen Sie sich in unserer Zusammenarbeit? • Woran merken Sie, dass wir vorankommen? Was war schon hilfreich? Was fehlte Ihnen bisher? • Was erzählen Sie Bekannten oder Freund*innen von unserer Zusammenarbeit? Wieder gibt es hier unglaublich viele Formulierungsvarianten, zudem noch et liche andere Frageformen und/oder Kombinationsmöglichkeiten, die wir in diesem Buch nicht alle beschreiben können und wollen. Um den Überblick über die Fragemöglichkeiten nicht zu verlieren, haben wir uns einen Meine Lieblingsfragen Spickzettel erstellt, auf den wir im Zweifelsfall sogar während einer Beratung schauen. Und spielfreudige Ratsuchende können sich tatsächlich auch selbst eine passende Frage aus der »Fragentorte« aussuchen (S. 85).
Fragen in der Beratung (FamThera, 2016b, eigene Umsetzung)
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Bildhafte Sprache In der Alltagssprache werden Vergleiche und Metaphern viel verwendet, oft ohne dass es intendiert ist. Bilder tauchen einfach vor dem inneren Auge auf und werden auch während der Beratung eingebracht, können somit genutzt werden. Das kann zufällig passieren und von Klient*innen wie Therapeut*innen kommen, aber auch gezielt erfragt oder hineingegeben werden. Die Weiterarbeit mit Metaphern und Vergleichen ist dann ebenso vielfältig (Bleckwedel, 2015, S. 234 ff.; Lieb, 2020, S. 118 ff.; Rechenberg-Winter u. Randow-Ruddies, 2017, S. 221 ff.; v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 318 ff.). Es gibt bei Metaphern zwei Bedeutungsebenen: die wörtliche und die tatsächlich gemeinte. Zwischen beiden besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung, und es wird bewusst mit der Ungenauigkeit bzw. Mehrdeutigkeit von Sprache gearbeitet, um über bildhafte Vergleiche und den »übertragenen Sinn« deutlicher und erfahrbarer zu machen, was gemeint ist. Oft sind Metaphern dadurch besonders einprägsam, und sie regen die Fantasie an, eröffnen neue Möglichkeitsräume. Wenn beispielsweise jemand äußert, im Dunkeln zu tappen, ist damit in der Regel nicht die tatsächliche Beleuchtungssituation gemeint, sondern zum Beispiel der Umstand, dass die besagte Person unsicher ist. Gleichzeitig steckt in diesem Bild die Option, Licht anzumachen, und man kann gemeinsam überlegen, welche Lampe, Kerze oder andere Lichtquelle am besten geeignet wäre, um die Dunkelheit zu beenden – wie wären die Unterschiede zwischen den einzelnen Lichtquellen zu beschreiben, und wie könnten dann Rückübertragungen in die eigentliche Situation aussehen? Lindemann (2016, S. 227 ff.) gibt einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Themenbereiche von Metaphern. Die großen Felder sind demnach die räumliche (»Ich will hoch hinaus«, »Heute ist meine Laune richtig im Keller«), die materielle (»Der ist zäh wie Leder«) und die zeitliche Ordnung (»Das kam dann erst nach Ladenschluss«), die Wahrnehmung (»Das stinkt mir gewaltig«, »Wir müssen uns an diesen Geschmack gewöhnen«, »Sie ist eher so eine kalte Person«), Handlung und Bewegung (»Wir müssen Gas geben«), physiologische und organische Zustände (»Der Kuchen ist noch nicht gar«), Tätigkeiten und Berufe (»schnell wie die Feuerwehr«, »Als Beraterin bin ich die Hebamme für Veränderung«), literarische und cineastische Themen (»voll der Zauberberg-Vibe hier«), spezifische Menschen und ihre Eigenschaften (»Er ist Metaphern und Vergleiche
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Meine Metaphern und ich
in dieser Konstellation der Dalai Lama«), materielle und immaterielle Werte sowie der Bezug auf Natur (»Da sind ja ganz schöne Untiefen im Gewässer«) und die Elemente (»Heute ist eher so ein Regenwettertag«). Es ist spannend zu beobachten, welche Themenbereiche Klient*innen oder auch wir selbst für diese Art von sprachlichen Vergleichen bevorzugt nutzen. Wenn man auf diese Vorlieben und die spezifischen Sprachbilder eingeht, sie gegebenenfalls gemeinsam ausschmückt und erweitert oder auch kontrastiert, redet man vielleicht über »das Leben auf dem Affenfelsen« statt über die Herausforderungen einer bestimmten Familienkonstellation. Metaphern ermöglichen einen neuen Blick auf eine bekannte und vielleicht anstrengende Situation. Es finden sich passende Parallelen und vielleicht auch nicht Passendes – vielfach ist eine andere Spielfreude, Beweglichkeit und Leichtigkeit im Raum, wenn Metaphern nicht »einfach so« diffundieren. Außerdem steigert sich das Gefühl, verstanden worden zu sein, wenn der*die Berater*in die Sprachbilder von Ratsuchenden aufgreift und verwendet. Klar, dass sich mit Metaphern und bildhaften Vergleichen oder Assoziationen auch gut auf dem Papier weiterarbeiten lässt und dass dieses Gefühl von Wertschätzung gegenüber den eigenen Bildern und Ideen damit vermutlich noch verfestigt wird (Kapitel 4.1 und 5.3). Lindemann (2016, S. 99 ff.) beschreibt in diesem Zusammenhang verschiedene zeichnerische Beratungsformen, wie das freie Malen zu einem Anliegen, Thema oder Ziel, die Erstellung von Collagen, die Arbeit mit Bildvorlagen oder auch Bildsammlungen und Bilderbüchern. Bilder – seien sie gegenständlich oder sprachlich – bleiben oft besser im Gedächtnis, eben weil das sinnliche Erleben, die gute (Bild-)Geschichte, mit den Gedanken und/oder dem Gelernten verknüpft ist.
3.3 Wahrnehmung, Beobachtung und Austausch Mit diesem Überblick dürfte das große Repertoire für Therapeut*innen deutlich geworden sein, das allein durch Beobachtung und Wahrnehmung sowie den Austausch darüber mittels Sprache zur Verfügung steht. Die sorgfältige und umfassende Wahrnehmung und Beobachtung des Beratungsgeschehens – beispielsweise der Abgleich zwischen dem reinen Sprechtext und allen anderen Signalen (Körpersprache, Stimmfarbe, Sprechtempo, …) – erfordert eine hohe Aufmerksamkeit der Beratenden, zumal im Idealfall sowohl das Verhalten der Ratsuchenden als auch die eigenen Reaktionen im Blick sind. Beides kann wie
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beschrieben genutzt werden, um neue Perspektiven auf bekannte Strukturen zu entdecken. Insgesamt führt dieses Vorgehen in der Regel dazu, dass das Tempo des Gesprächs gedrosselt wird und es beispielsweise Nachfragen gibt oder Rückversicherungen über Paraphrasierungen des Gehörten. Gerade beim Abgleich von möglichen Unstimmigkeiten zwischen wahrgenommenen Körpersignalen und Gesagtem – oder auch, wenn Therapeut*innen eigene Wahrnehmungen anbieten – spielen die Sprache und ein sorgfältiger Umgang mit ihr eine große Rolle. Einmal mehr weiterfragen (»Was noch?«), suchen, ausprobieren, dabei wachsam sein und den oder die Sprachwissenschaftler*in in sich entdecken lohnt sich aus unserer Sicht, denn es ist wichtig, reflektiert und bewusst mit Sprache umzugehen. Dabei lässt sich gut mit sprachlichen Mehrdeutigkeiten und Ambiguitäten spielen, um Handlungs- und Denkspielräume zu öffnen. Genauso kann es aber umgekehrt auch hilfreich sein, beim Versuch, dem Gemeinten auf die Spur zu kommen, Sprache möglichst eindeutig und unmissverständlich zu verwenden. Psychosozial arbeitenden Menschen steht darüber hinaus ein großes Fragenrepertoire zur Verfügung. Sie können Hypothesen formulieren und neuformulieren, Zuschreibungen als solche erkennen und hinterfragen, reframen und kommentieren, vielleicht über eine Paraphrase. Die große Macht der Sprache im Geschehen sollte jedenfalls klar sein, wenn Berater*innen auch ihre eigenen Präferenzen als Mensch und Profi erforschen und verschiedene sprachliche Interventionen ausprobieren. Im Idealfall sind Berater*innen flexibel und beweglich, sie sprechen verschiedene Sprachen und nutzen diese unterschiedlich sowie situations- und Klient*innen-angemessen. Natürlich kann eine zusätzliche Sprache – die visuelle – dieses Repertoire bedeutend erweitern und unterstützen (Kapitel 5). Als Nächstes nehmen wir aber erst einige typische systemische Methoden in den Blick – zum einen, um einen Eindruck von den »Klassikern« systemischen Arbeitens zu vermitteln, zum anderen auch, um zu verdeutlichen, wie gut die Visualisierung in gängige systemische Methodenkoffer passt.
Take Home – Sprache, Wahrnehmung, Beobachtung und Austausch
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Einblick in den systemischen Methodenkoffer
Mit dem folgenden Blick in den systemischen Methodenkoffer bereiten wir den Boden für die Visualisierung als Beratungsmethode (Kapitel 5). Bei der Auswahl der vorgestellten Methoden sind uns dabei mit Fokus auf das systemische Visualisieren vor allem zwei Perspektiven wichtig.
Methodenkoffer für Systemiker*innen
Zum einen knüpfen wir mit der Arbeit mit Bildern (Kapitel 4.2) an die grundsätzlichen Möglichkeiten bildhafter Sprache (Kapitel 3.2.5) an. Neben Zettel und Stift nutzen Systemiker*innen hier auch noch viele andere Hilfsmittel und Materialien, um sprachliche Darstellungen von Systemen zu verbildlichen oder zu vergegenständlichen. Das Ziel dabei ist es, Perspektivwechsel zu ermöglichen, neue Einsichten zu gewinnen und besser in eine Meta-Ebene zum Geschehen zu kommen. Dazu werden Vergleichssysteme geschaffen, deren jeweiliger Ausdruck bzw. deren jeweilige Symbolsprache ganz verschieden ist. Vor diesem
Einblick in den systemischen Methodenkoffer
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Hintergrund sehen wir uns die freie Arbeit mit Bildern in der Beratung (Kapitel 4.2) und das Genogramm an (Kapitel 4.3), eine spezifische Darstellung des Familiensystems als Methode mit Stift und Papier. Auch den Lebensfluss nehmen wir in den Blick. Das ist eine biografische Arbeit, für die beispielsweise Seile und Symbole genutzt werden (Kapitel 4.4). Zum anderen ist diesen und vielen anderen Methoden gemeinsam, dass sie in einem spezifischen, klar definierten Rahmen – wie beispielsweise transparentem Vorgehen im professionellen Setting – angewendet werden. Auch wenn dieser Rahmen nicht immer gleich ist, weil die Anwendungsfelder und Settings systemischer Arbeit sehr vielfältig sind, lohnt es sich daher, zunächst einen Blick auf die besondere Rahmung von Beratung, Coaching und Therapie zu werfen, um eine Idee davon zu erhalten, in welche Prozesse die folgenden Methoden eingebunden sind.
4.1 Der typische Rahmen für Beratung, Coaching und Therapie Systemische Beratung und Therapie sowie systemisches Coaching haben eine bestimmte definierbare Qualität. Sie ist unter anderem erkennbar an einem expliziten Bezug auf bestehende, von unabhängigen Instanzen festgelegte Standards (z. B. nfb, 2014b; nfb, 2014c), die sich wiederum auf übergreifende ethische Prinzipien beziehen, wie Freiwilligkeit, Ergebnisoffenheit, Transparenz und Zugänglichkeit (z. B. DGSF, 2020). Auch Professionalität und Kompetenz der Beratenden (nfb, 2014a) lassen sich nachweisen bzw. überprüfen, beispielsweise durch eine zertifizierte Aus- und beständige Weiterbildung (DGSF, 2022; GIBeT, 2022; SG, 2022), ebenso regelmäßige Supervisionen zur Reflexion des eigenen Beratungshandelns. Außerdem ist die Organisation an sich, also die Beratungspraxis, der Träger oder die größere Institution, zu der eine Einrichtung gehört (z. B. eine Hochschule, in der es eine Beratungsstelle gibt), gefragt, bestimmte Standards sicherzustellen, beispielsweise mit Blick auf die personelle wie räumlich- sächliche Ausstattung oder die Vernetzung. Darüber hinaus weist auch das eigentliche Beratungsgeschehen bestimmte standardisierte Elemente auf, die sich gut im Ablauf eines typischen Arbeitsprozesses zeigen lassen. Die Dauer, Anlässe und Settings von systemischer Arbeit können dabei sehr verschieden sein. 1. Anfangen. Vor der eigentlichen Zusammenarbeit zwischen Berater*in und Klient*in gibt es ein Clearinggespräch (in der Regel telefonisch oder per Mail). Neben einer meist sehr kurzen Anliegenschilderung stehen die Frage nach
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Prozessfluss systemisches Arbeiten
der grundsätzlichen Passung und dann ggf. die Terminvereinbarung für das Erstgespräch im Mittelpunkt. 2. In der tatsächlichen Erstsitzung geht es darum, das Anliegen bzw. zentrale Thema der*des Ratsuchenden zu erfassen und eine umfassendere Idee vom vorliegenden Problem zu bekommen. Im Zusammenhang damit werden mögliche passende Methoden, die grundsätzliche Arbeitsweise und der organisatorische Rahmen vorgestellt. Das ist die Basis für einen möglichen Kontrakt für die Zusammenarbeit. Auch etwaige Vorerfahrungen und Bedenken oder Befürchtungen finden in dieser Aushandlung Platz. Da die Qualität der Arbeitsbeziehung mit ausschlaggebend für den Erfolg des Coachings oder Therapiegeschehens ist (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 212 ff.), ist dieses Gespräch auch die Gelegenheit zum gegenseitigen »Beschnuppern« und persönlichen Kennenlernen. Am Ende gibt es entweder die Erkenntnis, dass beide Seiten nicht hinreichend zueinanderpassen, oder eine gemeinsame Vereinbarung, das heißt: einen klaren Auftrag der*des Ratsuchenden, ein Angebot der beratenden Person und eine Idee des Ziels der gemeinsamen Arbeit. Um all diese Aspekte gut im Blick zu haben, kann eine Visualisierung der zentralen Punkte und möglicher Fragen hilfreich sein. In Kapitel 7.2 zeigen wir, wie eine solche leere Beratungsmatrix entstehen kann. Das lässt sich im digitalen Material aber auch schon gleich hier ausprobieren.
Einblick in den systemischen Methodenkoffer
Meine Erstsitzung
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3. Arbeitsphase – eine bis mehrere Sitzung(en). Die eigentliche Zusammenarbeit – so sie denn zustande kommt bzw. über mehrere Sitzungen fortgeführt wird – sieht dann ähnlich aus. Größere methodische Aktivitäten, wie das gemeinsame Erstellen eines Genogramms, die Arbeit mit dem Lebensfluss, eine Strukturaufstellung oder Ähnliches, werden nachvollziehbar eingeführt, und die Klient*innen haben die Möglichkeit, Fragen zu stellen und ihr Einverständnis zur Anwendung dieser Methoden zu geben. Auch eine Aktualisierung des Anliegens und/oder des möglichen Ziels der gemeinsamen Arbeit ist beizeiten sinnvoll. Dieses kooperative Vorgehen zeigt, dass es sich um eine Begegnung zwischen Expert*innen auf Augenhöhe handelt: systemische Begleiter*innen mit spezifischem Fach- und Methodenwissen, Klient*innen als Expert*innen ihrer selbst und ihrer Lebensumstände. 4. Gemeinsamer Abschluss. Der Abschluss der ersten Sitzung (wie auch jeder weiteren) beinhaltet eine Auswertung der gemeinsamen Arbeit, vielleicht verbunden mit Beobachtungs- oder Hausaufgaben für die Zeit zwischen bzw. nach den Sitzungen.
4.2 Freie Arbeit mit Bildern – eine Ebene zum Drüberreden In systemischer Arbeit wird nicht nur mit Sprache – wie mehrdeutigen verbalen Metaphern und Vergleichen –, sondern ebenso mit Bildvorlagen, Postkarten, Fotos oder auch dem freien Malen eigener Bilder gearbeitet (z. B. Lindemann, 2016, S. 99 ff.). Gerade wenn es schwierig ist, Worte zu finden, ist ein selbst bzw. vielleicht ja auch gemeinsam gemaltes Bild oder eine Collage oft ein freier und guter Einstieg. Für diese Übungen ist es hilfreich, eine große Vielfalt an unterschiedlichen Stiften, Wachskreiden, Papieren, Fotos, Zeitschriften etc. zur Verfügung zu stellen, damit Klient*innen eine inspirierende Auswahl vorfinden. Schon beim Erstellen können Klient*innen und Berater*innen dann ins Gespräch kommen, gerade wenn es vielleicht am Anfang schwerfällt: • Wo wollen Sie beginnen? • Was kommt Ihnen als Erstes in den Kopf? Eine bestimmte Farbe? Eine spezifische Form? Eine bestimmte Themenwelt?
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Arbeit mit Bildern
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Meist gelingt es nach möglichen Einstiegsschwierigkeiten gut, dass Klient*innen kreativ werden. Das Erstellen eines Bildes oder auch von Fotos kann zudem eine nützliche Hausaufgabe zwischen zwei Sitzungen sein. Beispielsweise kann auf diese Weise ein Positivtagebuch (Kapitel 7.5) mit schönen Momenten festgehalten und mit dem fertigen Bild, der Collage oder Diashow dann weitergearbeitet werden. Ähnlich lässt sich auch mit einer Auswahl an bereits fertig zusammengestellten fremden oder selbst kreierten und gesammelten Bildvorlagen arbeiten. Die Klient*innen suchen sich aus dem Fundus etwas zur Situation und Herausforderung Passendes aus, womit dann gemeinsam in die Analyse gegangen werden kann: • Beschreiben Sie mir doch mal, was Sie gezeichnet/collagiert/fotografiert haben. • Wenn das Kunstwerk einen Titel hätte, wie würde er lauten? • Gibt es Dinge oder Bereiche, die zusammengehören/sich wiederholen/in gegensätzlicher Beziehung zueinander stehen/…? • Haben bestimmte Farben oder Platzierungen von Elementen eine spezifische Bedeutung für Sie? • Welche Gefühle haben Sie beim Betrachten des Kunstwerks? Welche hatten Sie beim Erstellen? • Wo geht Ihr Blick gern, wo nicht so gern hin? • Was fiel Ihnen leicht, wo war es schwierig? • Welche Ideen und Gedanken kommen Ihnen zu diesem Kunstwerk? • Wollen Sie noch mal ganz nah rangehen oder lieber weit weg, um einen zusätzlichen Blick darauf zu werfen? • Wer sollte das Bild unbedingt sehen, wer auf keinen Fall? • … Egal ob Situationen, Probleme oder Lösungen gezeichnet oder auf andere Weise künstlerisch bearbeitet werden: Es entsteht etwas Neues, eine andere Ebene, ein anderer Zugang oder Blick auf die ursprüngliche Herausforderung, und der*die Klient*in ist selbst aktiv geworden und hat Entscheidungen gefällt.
4.3 Genogramm – Arbeit mit einer Bildsprache Eine klassische und im systemischen Feld weitverbreitete Methode ist das Genogramm (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 228 ff., S. 275 ff.; Schwing u. Fryszer, 2015, S. 61 ff.; FamThera, 2016a). Über eine einfache Bildsprache werden hierbei Familiensysteme als Stammbaum dargestellt. Vielfach entstehen Genogramme schon in der ersten Sitzung oder sogar bereits ganz zu Beginn, im Clearingkontakt, als flüchtige Notizen. In einem umfassenden
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Genogramm werden der Regel drei Generationen, ausgehend von einer Indexperson, erfasst und dabei beispielsweise folgende Fakten notiert: • Persönliche Daten der Personen (Name, Lebensdaten); für jede Generation gibt es eine Ebene, Kinder werden an die jeweiligen Eltern »drangehängt«. • Beziehungsformen, wie Ehen oder Partnerschaften, bekannte Daten, wie das Hochzeitsdatum, Ehe- oder Beziehungsende, Kennenlern- Genogrammarbeit datum oder -jahr etc. • Wohnorte, Herkunftsorte, Ortswechsel. • Oft werden zudem Krankheiten, Todesursachen, Berufe, Ehrenämter, gesellschaftliche Positionen verzeichnet; wenn es hilfreich ist, auch typische innere oder äußere Merkmale, spezifische Eigenschaften, Sätze oder Mottos. • Dazu können Konflikte, schwierige Beziehungen, Allianzen, Koalitionen, Grenzen und Gemeinsamkeiten in das Genogramm eingebracht und dargestellt werden. Es gibt für die Erstellung von Genogrammen keine unverrückbar fest genormten Regeln. Vielfach hat sich aber durchgesetzt, dass zugeschriebene Geschlechter mit Kreisen bzw. Vierecken dargestellt werden und Beziehungen über unterschiedliche Linien bzw. Linienarten sowie bestimmte Symbole. Für den Anfang ist es sicherlich hilfreich, ein bestehendes Vokabular zu nutzen, sehr schnell kommen einem aber andere bzw. weitere Ideen. Für den Start ist es in jedem Fall notwendig, die anzuwendende Zeichensprache zu erklären, denn sie ist eben nicht fest konventionalisiert. In der Regel gibt der*die Therapeut*in hier die Sprache vor. Klient*innen werden als Indexpersonen bezeichnet und in der Regel auch besonders markiert. Verstorbene beispielsweise werden vielfach ausgekreuzt (ein X durch Kreis/Viereck) – in einer unserer Beratungssitzungen hat das allerdings einmal starke Gefühle ausgelöst, nicht nur bei der Klientin. Die Trauerbinde an dem Symbol der jeweiligen Person hat sich seitdem für uns als brauchbarer erwiesen. Darüber hinaus ist jede*r Berater*in eingeladen, eigenes und für die jeweilige Situation und Konstellation passendes Vokabular zu entwickeln. Das passiert oft in Aushandlung mit den Klient*innen, um deren Leben es ja geht. Vielleicht auch bei der Frage, wer zuerst erscheinen soll (also links, am »Anfang der Zeile«): Mutter oder Vater? Vielfach zeichnen Systemiker*innen von sich aus zuerst
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Genogrammzeichen
die Männer und dann die Frauen – ist das ein Abbild patriarchaler Strukturen im eigenen Kopf? Genauso kann man fragen, ob das Weibliche unbedingt rund und das Männliche eckig sein muss (zumal diese beiden Kategorien sowieso vielfach zu eng sind und die Wirklichkeit nicht vollständig bzw. hinreichend abbilden). Dieses Vorgehen des gemeinsamen Aushandelns von verwendeten Vokabeln spielt letztlich auch beim Visualisieren eine Rolle (Kapitel 5.3.3). Was über die Basiselemente hinaus dazukommt, hängt dann immer auch vom jeweiligen Anliegen ab – ein schnelles Übersichtsgenogramm, um den Überblick über komplexe Familienstrukturen zu behalten, sieht anders aus, als wenn Ratsuchende an (sie) störenden persönlichen Eigenschaften, ihrem So-geworden-Sein oder ihrer beruflichen Entwicklung arbeiten wollen. Der Ablauf einer ressourcenorientierten Genogrammarbeit startet mit einer kurzen Einführung: eine Aufklärung über das gemeinsame Vorgehen, eine allgemeine Erläuterung des verwendeten Zeichensystems und der Struktur. Bevor es dann losgeht, werden noch einmal Anliegen und Zielfrage für die gemeinsame Arbeit in den Blick genommen: • Wie könnte ein Ergebnis der Genogrammarbeit aussehen? • Was könnte nach der Genogrammarbeit anders sein?
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Fahrplan Genogrammarbeit
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Erst dann kommen die Fragen, die zur Erstellung des Systembilds oder Genogramms führen, also Fragen nach Beteiligten, Daten, bestimmten Ereignissen und nach der Positionierung: • Wer gehört dazu, und wer kommt zuerst? • Mit wem wollen wir weitermachen? Wo gehört diese Person hin? • Wann ist diese Person geboren? Was hat sie beruflich gemacht? Kannst du zwei bis drei charakteristische Eigenschaften nennen? • Wie viele Geschwister gibt es? Wer ist der*die Älteste? • In welcher Beziehung stehen A und B? Da der*die Beratende den Stift führt, ist eine beständige Rückversicherung zentral. Die Aushandlung, das Sicherstellen einer gemeinsamen Sichtweise, steht im Fokus. Wie erwähnt, ist genau das auch für das Visualisieren wichtig. Was ergänzend dazukommt, sind methodische Fragen, die für die Visualisierung ebenso wie für andere Methoden zentral sind. Wieder geht es um den anderen Blick, den Perspektivwechsel, nämlich mit Fragen, die eher die Betrachtenden, die bisherigen und vielleicht neuen Hypothesen und Gefühle betreffen: • Wo geht der Blick hin? Was fesselt die Aufmerksamkeit? • Welche Empfindungen kommen beim Betrachten des Genogramms auf? • Welche Gedanken kommen? Welche Hypothesen gibt es (z. B. zu Familientraditionen, Geheimnissen, …)? Welche kommen noch dazu? • Welche Stellen sind dir leichtgefallen, was ist dir schwergefallen? Worüber ärgerst du dich am meisten? Gibt es einen Ruhepunkt in dem Bild? • Welche Ähnlichkeiten finden sich? Was hat dich beeinflusst oder geprägt? • Fällt dir eine Über- schrift für dieses Genogramm ein? Fragen beim Betrachten des Genogramms Weitere Fragen zur Ausgestaltung des Genogramms sind je nach Fokus der Arbeit ganz verschieden und ergeben sich auch aus dem, was Thema und Anliegen ist.
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4.4 Lebensfluss und Strukturaufstellungen – das dreidimensionale Bild Eine weitere Methode, die Systemiker*innen nutzen, um Systeme »in den Raum zu holen«, also sichtbar und erfahrbar zu machen, damit verschiedene Perspektiven eingenommen werden können und andere Zugänge möglich werden, ist die Arbeit mit dem Lebensfluss. Mit dieser zentralen Metapher, die auf Peter Nemetschek zurückgeht (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 291; FamThera 2016a), und dem klassischen Vorgehen eröffnet sich die Möglichkeit, das ganze Leben oder auch nur Abschnitte daraus auf einen Blick symbolisch in den Raum zu legen. Es wird eine Entwicklung, ein Prozess in den Fokus genommen, Lebensfluss wobei neben dem Leben einer einzelnen Person auch Paarflüsse, Teamflüsse – beispielsweise die Prozessflüsse eines Beratungsgeschehens – oder thematische Flüsse wie das Lern- oder Prüfungsleben gelegt werden können. Welcher Prozess gelegt wird und welche Fragestellung oder welches Thema eine Rolle spielen, ist offen. Im Fokus steht in der Regel die Stelle des Flusses, wo das Hier und Jetzt ist, eine Herausforderung noch nicht gut bewältigt werden kann und es eine Problemlage gibt. Die Methode eignet sich, um den Blick zu öffnen für allgemeine Krisenbewältigungskompetenzen, und hat sich als gute Möglichkeit herausgestellt, ganzheitlich auf einen Prozess oder eben die bisherige Lebensleistung zu schauen. So können Stellen identifiziert werden, an denen vielleicht ähnliche Herausforderungen gemeistert wurden. Eine Zeitreise zurück in diesen erfolgreichen Lebensabschnitt ist dann am Seil möglich, und es kann in der damaligen Situation gezielt nach aktuell fehlenden Ressourcen gesucht werden. Mit der Flussmetapher, dem Seil und der zeitlichen Perspektive lässt sich auch an verschiedenen möglichen Zukunftsszenarien arbeiten, zum Beispiel, wenn Entscheidungskonflikte anstehen oder ein Ziel (noch) in ferner Zukunft liegt und nächste Schritte geplant werden (Pröls, 2019). In der biografischen Einzelarbeit wird von dem*der Ratsuchenden ein langes Seil in den Raum gelegt. Ziel ist es, einen ganzheitlichen Blick zu gewinnen. Der Anfang des Seils symbolisiert den Anfang/die Geburt/den Start eines Prozesses, der Verlauf des Seils spiegelt den Verlauf der Zeit bis ins Heute. Ein Rest des Seils liegt im unbestellten Feld der Zukunft. Dabei werden zentrale Ereignisse und Umbrüche, wichtige Phasen und auch Personen dargestellt, sei es durch Gegenstände (Naturmaterialien, Bauklötze, Spielzeug, Tücher, Bilder, …), beschriftete Zettel oder den Verlauf des Flusses/
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Seiles an sich. Bevor weitergearbeitet wird, hat der*die Klient*in die Möglichkeit, das Seil zu justieren bzw. den Verlauf und/oder die Ausgestaltung zu korrigieren: • Stimmt es so weit erst mal? Fehlt noch etwas? Mit der entstandenen Gestalt kann dann systemisch gearbeitet werden. Es werden verschiedene Blickwinkel und Perspektiven ermöglicht und Fragen gestellt, die die Aufmerksamkeit auf Körperempfindungen, die eigene Wahrnehmung und die Gefühle (Kapitel 3.1) lenken: • Blick von außen Möglichst weit weg von dem Lebensfluss, vielleicht sogar von oben, wenn ein kleiner Hocker oder Tritt zur Hand ist: – Welche Gefühle hast du, wenn du auf deinen Lebensfluss schaust? – Wo bleibt dein Blick hängen? – Was spürst du in deinem Körper? Was macht deine Atmung, dein Herzschlag, …? – Welche Gedanken kommen dir in den Kopf? • Blick von der Quelle aus Im Idealfall auch nicht aus Augenhöhe, sondern vielleicht im Hocken: – Was siehst du von hier aus? – Fällt dir etwas anderes auf? – Spürst du etwas anderes? – Hast du andere Gedanken? • Den Fluss entlanggehen Im eigenen Tempo, mit der Möglichkeit, innezuhalten oder schnell zu gehen, große oder kleine Schritte zu machen: – Wie hat sich dieser Schnelldurchgang angefühlt? – Wo bist du schnell gegangen? Wo hast du innegehalten? • Ankommen im Heute mit Blick in die Zukunft Jetzt ist die eigentliche Arbeit getan, und die Würdigung des bisher Erreichten durch die*den Begleiter*in ist ein Angebot: – Du kannst dich jetzt ein bisschen erholen, innehalten und mir zuhören, wenn ich schildere, wie ich deinen Lebensfluss sehe – was passend ist, nimmst du mit, und was nicht passend ist, lässt du vorbeigleiten. Gerade wenn man als Begleitung nicht viele Details weiß, reichen an dieser Stelle eher allgemeine Umschreibungen oder Metaphern, die verdeutlichen, dass die Person bereits einiges an Ereignissen bewältigt hat.
Fahrplan – Lebensflussarbeit oder Arbeit am Lebensfluss
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Der*die Therapeut*in beobachtet dabei die ganze Zeit genau und gibt zum Abschluss auch dem*der Ratsuchenden eine Beobachtungsaufgabe mit, zum Beispiel: • Was wirkt aus dieser Erfahrung nach? • Was passiert nach dieser Erfahrung? • Was erzählst du anderen davon? • Woran denkst du besonders? In der nächsten Sitzung kann dann mit diesen Beobachtungen weitergearbeitet werden. Interessant ist, dass es in der Lebensfluss-Arbeit weniger festgelegtes SymbolVokabular gibt als beim Genogramm. Den Klient*innen wird ähnlich freies und kreatives Arbeiten ermöglicht wie beim Arbeiten mit Bildern, allerdings im Rahmen einer vergegenständlichten Metapher. Therapeut*innen bzw. Berater*innen begleiten nur vorsichtig, es müssen im Prinzip auch wenig Wissen und harte Information ausgetauscht werden. Die Landschaft oder Gestalt, die im Raum entsteht, ist ein Symbol mit vielen kleinen Sub-Symbolen, die von dem*der Landschaftsgestaltenden mit Bedeutung aufgeladen wurden. Ganz im Sinne der lösungsorientierten Therapie (Kapitel 2.2.5) muss der*die Begleiter*in nicht alle Details und Bedeutungen kennen, um innere Prozesse anstoßen zu können. Vorsicht ist allerdings bei Zeitreisen in die Vergangenheit geboten, insbesondere wenn man sonst noch nicht viel von den Klient*innen und möglichen traumatisierenden oder schambesetzten Ereignissen in ihrer Vergangenheit weiß. In diesen Situationen besteht die Gefahr einer Retraumatisierung (Pröls, 2019). Ähnlich wie beim Lebensfluss wird bei Strukturaufstellungen vorgegangen, sei es die Arbeit mit Positionen und Anordnungen im Raum (Bleckwedel, 2015, S. 220 ff.) oder die Arbeit mit der Familienskulptur (v. Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 280 ff.). Auch hier entsteht jeweils ein dreidimensionales Bild im Raum, vielfach aber mit nochmals anderen Mitteln als bisher beschrieben. Es werden Stellvertreter*innen für die eigene Person, für andere Personen oder auch für innere Anteile (siehe z. B. das »Innere Team« von Schulz von Thun, 2003b), Gefühle, Diagnosen oder Probleme im Raum in Position gebracht. Dazu eignen sich alle möglichen Figuren – beispielsweise Playmobil- oder Holzfiguren –, Systembretter oder auch Stühle als Platzhalter, um ein System in den Raum zu holen und mit dieser Vergegenständlichung ähnlich wie oben beschrieben weiterzuarbeiten.
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4.5 Symbolsprachen und Symbolsysteme für neue Perspektiven Systemische Arbeit braucht einen definierten professionellen Rahmen und eine prozesshafte Struktur: Es gibt einen Anfang, die Arbeit an sich und ein Ende. Dieser Prozess kann sich über einen oder auch mehrere Termine erstrecken. Die Grundgestalt systemischer Prozesse findet sich dabei sowohl im großen Gesamtablauf als auch bei den Methoden wieder. Systemische Begleiter*innen unterstützen als Expert*innen für Kommunikation und Methoden die Ratsuchenden dabei, sich über Anliegen und Ziele klar zu werden, und bieten geeignete, zum Thema, Anliegen und zu der jeweiligen Person passende Vorgehens- und Arbeitsweisen an, damit Klient*innen Zeit gewinnen für bewusste Wahrnehmung, Deutung und Verstehen. Im Mittelpunkt steht die Aktivierung der Ratsuchenden. Durch die erlebnisorientierten Methoden werden die Klient*innen aktiv und gestalten etwas, sie kommen ins Tun und erleben sich als Expert*innen ihrer selbst. Außerdem spielt die Möglichkeit des Perspektivwechsels eine große Rolle, zum einen herbeigeführt durch Kommunikation und zum anderen durch Verbildlichung bzw. Vergegenständlichung von Systemen, Mustern, Problemlagen. Die Aushandlung
Take Home – Methoden
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geteilter Wirklichkeit(en) und gemeinsamen Verständnisses ist dabei, wie beschrieben, Teil des therapeutischen bzw. beraterischen Geschehens. Die Vorstellung dieser Auswahl klassischer systemischer Methoden bildet nun eine gute Brücke zur Visualisierung, denn letztlich ist die Verwendung von Bildsprache in der Beratung nur die logische Fortsetzung dessen, was wir gerade beschrieben haben. Alle Methoden haben eine zusätzliche Symbolsprache – mehr oder weniger stark konventionalisiert, indem die Bedeutung dieser Zeichen entweder von den Beratenden oder den Ratsuchenden festgelegt oder gemeinsam ausgehandelt wird. Das ist bei der Visu-Sprache nicht anders: Es werden Symbole und Zeichen verwendet, die allerdings den Charme haben, dass sie ziemlich universell sind. Darüber hinaus nutzen Menschen im psychosozialen Feld aber natürlich oft auch schriftliche Notizen, und das spielt bei Visualisierungen ebenfalls eine Rolle – es muss nämlich nicht immer und zwingend gezeichnet werden (Kapitel 5.3 und 7.1).
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Wir haben einen Einblick in die systemische Perspektive, in systemisches Denken und Handeln gegeben (Kapitel 2) und gezeigt, wie wichtig Beobachtung und sprachliche Aushandlung von Wirklichkeiten und Möglichkeiten sind (Kapitel 3). Auch was eine Sprache eigentlich ausmacht, ist deutlich geworden: Es braucht ein Zeichensystem und Zeichen, die mit bestimmten Inhalten verbunden sind. Das alles war an Vorarbeit nötig, um im Folgenden nun zeigen zu können, wie hervorragend Visualisierung an diese beschriebene Ausgangsbasis anknüpft, denn beim Visualisieren geht es ebenfalls darum, genau zu beobachten und verstehen zu wollen, was dargestellt wird. Was ist die Ordnung, die dem Ganzen innewohnt, was ist der Kern, das Wesentliche? Regelmäßiges Visualisieren schult und trainiert diesen Beobachtungsmuskel. Darüber hinaus müssen viele kleine Entscheidungen gefällt werden, während visualisiert wird. Für die Visualisierung stehen verschiedene Sprachen zur Verfügung: Man hört die gesprochene Sprache, liest und schreibt die Schriftsprache und nutzt außerdem eine nahezu universelle Bildsprache, eine »alte, neue Sprache, die wir alle beherrschen, ohne es zu wissen« (Haussmann, 2015, S. 6), die zudem den Vorteil hat, dass sie Der Beobach individuell und handgemacht ist. Der*die Beratende wird ebenso mit der tungsmuskel jeweils ganz individuellen Handschrift sichtbar wie die Worte, (Sprach-) Bilder und Gedanken der*des Ratsuchenden. Visualisierungen sind damit auch ein Abbild der Beratungsbeziehung und des Beratungsprozesses, der zwischen Beratenden und Ratsuchendensystem entsteht (Kapitel 2.1). Die Arbeit mit den entstandenen Visualisierungen unterscheidet sich dabei nicht wesentlich von dem in Kapitel 4 vorgestellten Vorgehen mit Bildern oder anderen symbolhaften Darstellungen von Wirklichkeitssichten.
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5.1 Visualisierung – eine universelle Sprache Schon vor 70.000 Jahren entstanden Ritzmuster und kleine Zeichnungen auf Knochen oder Steinen. Vor 40.000 Jahren wurden Bilder und heute nicht mehr entschlüsselbare Symbole an Höhlenwänden hinterlassen. Es gibt viele Artefakte aus ganz unterschiedlichen Kulturen, die mit bildhaften Zeichen Inhalte übermittelt, also vermutlich zielgerichtete visuelle Kommunikation betrieben haben (Konstantinov, 2019). Aufschluss über die mögliche einstige Verwendung dieser Zeichen geben Anthropolog*innen, die die (prä)historische Lebensweise von teils bis heute existierenden Völkern untersucht haben. So wurden bildliche Zeichen beispielsweise als Merk- oder Denkhilfen genutzt, wie die in Holz geschnitzten Gedächtnisstützen für rituelle Gesänge der Ureinwohner*innen Nordamerikas, die natürlich ebenso zur Tradierung von Wissen oder zum Erzählen von Geschichten über Generationen hinweg geeignet waren. Mit der Entwicklung von Siedlungen, Ackerbau und Viehzucht wurden dann auch für Verwaltungs- und Planungsarbeiten Zeichensysteme entwickelt, wie die Sprachen der Höhlenmenschen Zählmarken in Mesopotamien. Aus solchen frühen Verwendungen haben sich verschiedene historische schriftsprachliche Systeme wie Keilschrift oder Hieroglyphen sowie bis heute gebräuchliche Schriftsprachen entwickelt. Letztlich sind die Anwendungsfelder für Visualisierung heute noch die gleichen wie einst: Es geht um visuelles Denken, Verstehen und Dokumentieren, um Kommunikation und auch um Illustration (Kapitel 5.2). Dass Bildsprachen dabei tatsächlich als Sprache und nicht bloß als Illustration zu verstehen sind, zeigt sich über ihre der Schrift- und Lautsprache ähnlichen Verwendungsweisen hinaus darin, dass sich die zugrundeliegenden Sprachsysteme ähneln: Wie Schriftsprachen verfügen Bildsprachen über ein spezifisches, festes Inventar bzw. »Lexikon« von Wortzeichen, die entweder auf (Ab-)Bildzeichen (Piktogramme) oder Ideenzeichen (Ideogramme) begründet sind (vergleichbar unserer allgemeinen Beschreibung von Zeichen in Kapitel 3.2), sowie über bestimmte grundsätzliche Regeln zu deren Gestaltung und Kombination – sprich: eine »Grammatik«.
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Innerhalb dieses Rahmens bietet sich eine unendliche Vielfalt an Variations- und Entwicklungsmöglichkei ten, die manchmal auch über die ursprünglichen Grenzen hinauszureichen beginnen. Ein Beispiel für eine solche Bildsprache ist das in den 1920er Jahren von Gerd Arntz und Otto Neurath entwickelte grafische System ISOTYPE (International Piktogramme und Ideogramme System of Typographic Picture Education), das mit seiner Kombination aus einfachen Pikto- bzw. Ideogrammen und deren klarer Bedeutungszuordnung eigentlich für die Arbeiterbildung entworfen wurde, dann jedoch schnell Ausweitung ins klassische pädagogische Feld fand. Visu versteht (fast) jede*r Der faszinierende Unterschied von Bildsprachen zu Schrift- und Lautsprachen ist, dass sie nahezu universell verstanden werden – selbst von Menschen, die nicht lesen und schreiben können, oder eben im internationalen Kontext, bei der Kommunikation von Menschen mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen. Deshalb werden Piktogramme auch vielfach im öffentlichen Raum verwendet, an Bahnhöfen, Flughäfen oder bei Großereignissen, wie die Piktogramme von Otl Aicher für die Olympischen Spiele 1972 in München. Was für das Lesen von Piktogrammen allerdings nötig ist, ist der Sehsinn, deshalb haben wir die Einschränkung »(fast) jede*r« vorgenommen.
(Fast) jede*r kann es verstehen
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Weiterentwicklung von Bildsprachen am Beispiel Emojis
Piktogramm-Sprachen werden mit der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung beständig weiter ausgebaut, neue Vokabeln und Zeichen kommen hinzu, bekannte erhalten eine neue Bedeutung. Ein vergleichbares Prinzip lässt sich bei Emojis in Messenger-Diensten und sozialen Medien beobachten, die die Kommunikation über klassische Schriftzeichen ergänzen oder bisweilen ganz ersetzen. Visu kann (fast) jede*r produzieren Ähnlich funktionieren Visu-Bildsprachen. Der wesentliche Unterschied ist, dass Visu-Sprache leicht und für jede*n erlernbar, verwendbar und entwickelbar ist. Es ist keine exklusive Kunst für einen kleinen Klub von Eingeweihten. Und es ist auch nicht nötig, Designer*in zu sein oder eine besondere künstlerische Begabung zu haben.
Visualisieren kann jede*r (eigene Abbildung nach McCloud, 1993, S. 31)
Menschliche Handarbeit Dass Visualisierungen von Hand gezeichnet sind und man das auch sehen darf, eröffnet – wie bereits erwähnt – die Möglichkeit, eine wirklich ganz eigene Handschrift zu entwickeln. Deshalb werden wir in Kapitel 6 auch nur wenig explizite Zeichenanleitungen geben, sondern laden vielmehr dazu ein, mit dem digitalen Zusatzmaterial oder auf herkömmlichem Papier selbst kreativ zu werden und
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eigene Zeichen zu (er)finden. Dazu nutzen wir einfache Grundformen, die jede*r zeichnen kann. Diese werden unterschiedlich kombiniert, sodass sich damit letztlich nahezu alles darstellen lässt. Die Mühe, eine eigene Handschrift zu entwi ckeln, lohnt sich, denn erkennbare Individualität wertet die Zeichnungen auf. Der*die Schöpfer*in wird in ihnen spürbar und erfahrbar. Das ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen einem handgeschriebenen Brief und einem ausgedruckten Word-Dokument. Visualisierungen sind handgemacht Ja, es menschelt, wenn visualisiert wird!
Handschriftlicher Brief neben Maschinenbrief
Außerdem hat die handgemachte Zeichnung, die eben nicht in Stein gemeißelt ist, eine Offenheit, die den Dialog fördert oder sogar zum gemeinsamen Arbeiten mit dem Stift führt. Gleichzeitig ist es entlastend für Perfektionist*innen: Es gibt kein Richtig oder Falsch, Schön oder Hässlich, sondern eben allein die persönliche Umsetzung und individuelle Note. Diese Mischung aus Universalität in der Erstellung und dem Verstehen von Visualisierung bei gleichzeitig erkennbarer Individualität in der Umsetzung macht den Reiz und auch den Erfolg von Visualisierung aus.
5.2 Komplexes wird einfach – mit Bildern auf den Punkt kommen Beim Visualisieren geht es darum, den Kern der Dinge zu beobachten, zu erkennen und dann zu entscheiden, wie sich Gegenstände, Bilder oder auch Gesprochenes reduzieren lassen auf das Wesentliche. Diese Reduzierung hat nicht nur den Vorteil, dass es einfacher wird, jenes Wesentliche zu zeichnen. Die Abbildung – oder auch das Mitgeschriebene – wird zudem allgemeiner und
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damit universeller verständlich für Betrachter*innen: »When we abstract an image […], we’re not so much eliminating details as we are focusing on s pecific details« (McCloud, 1993, S. 34; Hervorhebung durch die Autorinnen).
Reduktion und Fokus aufs Wesentliche (eigene Abbildung nach Lamm, 2021)
Am Beispiel der Reduzierung von Details auf dem Foto auf die wesentlichen Merkmale lässt sich dieses Vorgehen gut nachvollziehen. Während die Person und die Situation auf dem Bild links für eine einzige Person und eine einmalige Situation stehen, kann die Visualisierung rechts viel allgemeiner das Typische und Wesentliche fassen. Visualisieren, wie wir es verstehen, besteht nicht einfach nur aus Bildern, die bestimmte Wörter ersetzen – also einzelnen ikonischen Bild- oder symbolischen Ideenzeichen –, bzw. aus größeren Illustrationen, die geschriebene oder gesprochene Sprache begleiten (Kapitel 5.3.4) oder die entstehen, wenn wir gesprochene oder geschriebene Sprache aufnehmen und verarbeiten (Kapitel 5.3.1 und 5.3.2). Uns interessiert darüber hinaus die Interaktion zwischen verbaler Begleitung (sprich: Kommunikation) und Visualisierung in Therapie, Beratung und Coaching (Kapitel 5.3.3). Sobald wir visualisieren, setzen wir verschiedene Elemente in Beziehung zueinander – einzelne Wörter, Wortgruppen, Piktogramme, aber auch Trennlinien oder einfache Umrandungen, farbliche Markierungen oder verschieden große Symbole dienen dazu, Inhalte zu strukturieren. Farbliche Markierungen, unter-
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schiedliche Schriftgrößen und verschiedene Gliederungsebenen nutzen wir auch in der Schriftsprache, um Texte zu strukturieren und damit Zusammenhänge von Inhalten darzustellen. Strukturierung des Gesamtsystems Texte sind in der Regel linear aufgebaut. Es gibt einen Anfang und eine Leserichtung, in unserer Kultur: von links oben nach rechts unten. Man kann Gedanken in der Reihenfolge des Erscheinens notieren; auch ein Gesprächsverlauf lässt sich linear protokollieren und dokumentieren; ebenso kann ein Einkaufszettel eine einfache Liste sein. Interessanterweise gibt es auch ein »Normalformat« für das Schreiben: In der Regel wird analog mit einem Hochkantformat gearbeitet, am Rechner, zumindest bei Präsentationen, oder Tablet hingegen häufig eher im Querformat. Viele Texte und auch Visualisierungen, die wir sehen, lesen oder schreiben – besser: herstellen –, sind aber anders und deutlich komplexer aufgebaut. So werden Gedanken zu einem Thema für einen Text sortiert und strukturiert, in der Regel zunächst einmal durch die Reihenfolge, aber dann auch durch inhaltliche Subsysteme. Diese wiederum sind ihrerseits durch eigene Strukturen gekennzeichnet, wie Überschriften und unterschiedliche Gliederungsebenen, und vielfach auch durch textliche Erklärungen, Bezüge und Querverweise sortiert.
Leserichtung in Texten und Listen
Strukturierte Texte und Gliederungen
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Unterschiedliche Texte/Visualisierungen nach einem Gespräch
So kann ein Protokoll eines Gesprächs eine Synthese aus verschiedenen Positionen sein und ein gemeinsames Ergebnis festhalten. Statt der Reihenfolge oder der Synthese kann aber auch die separate Darstellung der verschiedenen Positionen relevant sein. Der erwähnte Einkaufszettel wiederum kann nach der Wichtigkeit der zu besorgenden Objekte, nach der Reihenfolge der einzelnen Abteilungen im Laden oder z. B. auch nach entsprechenden Lebensmittelgruppen sortiert sein.
Strukturierte Listen
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Beispiele für Fünfteilung in Spalten, Reihen, im Kreis oder wild mit Überschriften und Ergebnisecke
In einer vorgegebenen Struktur lässt sich dann gut arbeiten, insbesondere wenn die Grundstruktur bereits vorher bekannt ist: Bei einer Podiumsdiskussion mit fünf Teilnehmenden beispielsweise passt vielleicht am besten eine Fünfteilung des Papiers mit Platz für eine Überschrift sowie für eigene Kommentare zu dem Gehörten. Das kann in Tabellenform gestaltet oder einfach in einzelnen Ecken des Papiers notiert werden. Auch lineare Prozesse können durchaus anders als stets nur von links oben nach rechts unten entwickelt bzw. dargestellt werden, zum Beispiel als Flussdiagramme, Zeitlinien oder Verlaufskurven.
Beispiele für lineare Prozesse – kreisförmig, auf und ab …
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Um also eine gute, passende Form zu finden, ist es sinnvoll, eine Idee von der Grundstruktur des Themas zu haben. Wenn es diesbezüglich jedoch noch keine Vorstellung gibt, brauchen wir offenere Strukturen. In unserer Praxisarbeit haben wir festgestellt, dass viele Elemente des Erstellens von Mind-Maps (Buzan u. Buzan, 2010) sich gut eignen, wenn wenig über das bekannt ist, was kommen wird – beispielsweise beim Brainstormen oder wenn man eigenen Gedanken und den Ideen anderer folgt, wie bei Vorträgen und auch in Beratungssituationen, wenn Klient*innen ihr Anliegen schildern. Der Anfang einer offenen Strukturierung liegt dabei am besten im Zentrum des Blattes. Wir wechseln dafür in der Regel ins Querformat und haben somit Platz, um in alle Richtungen weiterarbeiten zu können. Nicht immer passt alles auf eine Seite – es ist sinnvoll genug Papier dabei zu haben. Alternativ können einzelne Elemente auch zunächst zufällig auf das Papier »gestreut« und erst im Nachgang in Zusammenhang gebracht werden, zum Beispiel Offene Struktur über die Verwendung von jeweils spezifisch zugeordneten Farben. Agerbeck (2019) spricht dann von der Popcorn-Methode bzw. – wenn einzelne Textansammlungen noch mit Illustrationen ergänzt werden – von Picto-Popcorn. Diese Methode, Inhalte zu gliedern, funktioniert auch hervorragend mit Metaplankarten oder Post-it-Notizzetteln bzw. Sticky Notes, die beweglich bleiben und im Nachgang geclustert werden. Egal welche Form auf dem Papier entstanden ist: Über Linien, Pfeile und/oder die Verwendung von Farben lassen sich jederzeit Zusammenhänge ergänzen. Die Grundnotizen bzw. ursprünglichen Bilder werden also noch analysiert, weiterbearbeitet und dabei genauer verstanden.
(Picto-)Popcorn
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5.3 Visualisierung systemisch nutzen Die beschriebene Strukturierungsleistung beim Visualisieren, also das genaue Wahrnehmen, Zuhören und Beobachten und dann die schnelle, intuitive Entscheidung, was auf das Papier gehört, ist das, was als systemischer Blick im Sinne von Salvador Minuchin (Kapitel 2.2.3) beschrieben worden ist. Es geht nicht nur darum, allein bei einzelnen Bildern, Ikons oder visuellen Vokabeln den Kern zu treffen, sondern auch beim großen Ganzen die Gesamtstrukturen zu erkennen und knackig darstellen zu können. Diese Strukturierungsleistung können Systemiker*innen ganz unterschiedlich nutzen, nicht nur beruflich als Beratungsoder Therapiemethode, sondern auch im Privatleben, um sich selbst besser zu verstehen, konzentrierter zu lernen, effizient zu dokumentieren, erfolgreich zu kommunizieren und natürlich auch, um eigene Texte, Vorträge, Websites oder Arbeitsblätter ansprechend zu gliedern und zu illustrieren.
5.3.1 Denken, Verstehen, Lernen und Zuhören mit Stift Menschen schreiben oder sprechen nicht allein zum Zweck der Kommunikation mit anderen, sondern auch, um für sich eigene Gedanken oder Erlebnisse zu klären. Das wusste schon Heinrich von Kleist, der einst seinem Korrespondenzpartner Otto August Rühle von Lilienstern den Rat gab: »Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen. Ich sehe dich zwar große Augen machen, und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben, von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst. Damals aber sprachst du wahrscheinlich mit dem Vorwitz, andere, ich will, daß du aus der verständigen Absicht sprechest, dich zu belehren, und so können, für verschiedene Fälle verschieden, beide Klugheitsregeln vielleicht gut nebeneinander bestehen. Der Franzose sagt, l’appétit vient en
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mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l’idee vient en parlant« (v. Kleist, 1805; Hervorhebungen im Original).
Was Heinrich von Kleist und Homer Simpson über das Zusammenspiel von Denken und Reden zu sagen haben
Etwas knackiger formuliert es Homer Simpson: »Woher soll ich wissen, was ich denke, wenn ich nicht höre, was ich sage.« So wie es in beiden Beispielen für das Sprechen oder Schreiben beschrieben ist und beispielsweise in poesietherapeutischen Interventionen genutzt wird (Rechenberg-Winter u. Randow-Ruddies, 2017), klärt sich auch beim Visualisieren etwas im Menschen. Um Kleists Worte zu erweitern: L’idée vient en dessinant – der Gedanke kommt beim Zeichnen. Denn Zeichnen ist eine Ausdrucksform: Jemand bringt zu Papier und auf den Punkt, was er/sie denkt, fühlt und/oder erlebt hat – und dabei taucht oft eine vorher noch nicht erkannte Gesamtstruktur auf, die verdeutlicht, worum es eigentlich geht. In Bezug auf systemisches Arbeiten ist diese aufklärerische Funktion des Visualisierens nutzbar für Brainstorming, um beispielsweise Ideen zu sammeln, wie man gut mit einzelnen Klient*innen weiterarbeiten möchte, oder auch zur Selbstklärung, wenn Coaching oder Beratungssitzungen komplex bis verstrickt erscheinen und noch unklar ist, woher ein ungutes Gefühl oder Verwirrtheit auf Berater*innenseite kommen. Auch, wenn es darum geht, bestimmte Themenfelder für sich zu strukturieren, zum Beispiel für ein neues WorkshopFormat, oder wenn man Texte oder Websites konzipieren und strukturieren möchte, helfen die beschriebenen offenen Formate und Strukturen, einen Überblick zu gewinnen und Querverbindungen sowie Zusammenhänge zu sehen. Visualisierung ist hier dann eher Suche nach einer passenden Form als bereits dezidiert beraterische bzw. therapeutische Methode. Verschiedene Beispiele aus unserer eigenen Visualisierungspraxis zeigen wir in Kapitel 7. Auch die Methodenblätter bzw. »Fahrpläne«, wie jene für Genogramm (S. 99) und Lebensfluss (S. 103), sind Beispiele für diese Form der Visualisierung. Eigene Gedanken verstehen
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5.3.2 Mitschreiben und Dokumentieren Das offene, zunächst unstrukturierte Visualisieren kann auch genutzt werden, wenn ich anderen zuhöre und versuche, deren Gedanken und Ideen zu verstehen und zu dokumentieren, um mich später noch mal intensiver damit zu befassen. Diese Form des visuell unterstützten Mitschreibens wird auch als Sketchnoting (Rohde, 2014) bezeichnet und eignet sich unter anderem für Vorträge, Sitzungen, Clearinggespräche oder das Mitprotokollieren während der Durchführung anderer systemischer Methoden.
Mitschreiben zur Dokumentation und um andere besser zu verstehen
5.3.3 Kommunikation in Beratung, Coaching und Therapie In dem Moment, in dem die entstandenen Visualisierungen genutzt werden, um das eigene Verständnis mit weiteren Menschen zu teilen und in den Austausch zu gehen, passiert genau das, was wir in Kapitel 4 für einige systemische Methoden vorgestellt haben: Die Visualisierung, sei es eine einzige zur Bildvokabel gewordene Metapher oder eine komplexere Struktur mit Bildern und Text, wird genutzt, um damit verstandene Inhalte zu verhandeln. Das Abbild generiert also eine neue, zusätzliche Ebene, auf die sich die Sprechenden fortan beziehen können. Der Prozess der gegenseitigen Verständigung und Rückversicherung, des Aushandelns und Austauschs, kurz: die Kommunikation zwischen ratsuchender und beratender Person läuft dabei in einer vom Visualisieren getragenen oder zumindest begleiteten Sitzung typischerweise ungefähr nach dem folgenden Muster ab (wobei Die zweite Ebene es natürlich vielfach zu Abweichungen von der hier aus Vereinfachungsgründen suggerierten Linearität kommt): 1. Transparenz herstellen: Bevor gezeichnet oder geschrieben wird, erläutert der*die Therapeut*in, dass er*sie mitschreiben oder visualisieren möchte, um das entstehende Bild für die Dokumentation bzw. die weitere Zusammenarbeit zu nutzen und/oder Ratsuchenden später zum Mitnehmen bereitzustellen. Dabei kann auch gleich kurz thematisiert werden, wie Vertraulichkeit und Datenschutz in der Beratungspraxis umgesetzt werden. 2. Einverständnis erfragen: Für die Klient*innen gibt es nun nicht nur die Gelegenheit, ihr Okay zu diesem Vorgehen zu erteilen, sondern auch, etwaige Rück- bzw. Nachfragen zu stellen.
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Diese zwei Schritte nehmen wenig Zeit in Anspruch, ordnen die Mitschrift oder das Mitvisualisieren aber anders ein, als wenn einfach so mitgeschrieben wird und der*die Ratsuchende sich vielleicht im Hinterkopf die ganze Zeit fragt, was da eigentlich aufs Papier kommt und was damit dann als Nächstes passiert. Für die Klient*innen wird vielmehr deutlich, dass es für sie jederzeit Einblick in das Entstehende geben kann – der Rückschluss, dass hier folglich auf Augenhöhe gearbeitet wird, ist ausdrücklich erwünscht. Außerdem wird transportiert, wie wichtig und bedeutsam all das ist, was der*die Ratsuchende in den Raum gibt. Diese Wertschätzung wird später nochmals klar, wenn mit dem Gesagten/Gehörten gemeinsam weitergearbeitet wird. Und sie zeigt sich vielfach besonders deutlich am Ende des Gesprächs, wenn die Ratsuchenden um eine Kopie des Entstandenen bitten und diese dann wie ein Geschenk entgegennehmen – nebenbei bemerkt: ziemlich egal, wie (schön) es aussieht. 3. Stellen bzw. ggf. Aktualisierung der Zielfrage: Was könnte heute für Sie Hilfreiches sichtbar werden? Dieses Ziel kann durch weitere systemische – z. B. zirkuläre – Fragen genauer gefasst werden (Kapitel 3.2.5). 4. Zuhören und Dokumentieren mit dem Stift: Die begleitende Person visualisiert in Schrift und/oder Bild mit, was sie hört. Ob dabei vorrangig Buchstaben oder Visu-Vokabular genutzt werden und auch, wie ausführlich und detailliert mitgearbeitet wird, ist Resultat der oben beschriebenen internen Aushandlung mit dem Fokus auf dem Kern der Sache (Kapitel 3 und 5.2). Viele kleine, intuitive Entscheidungen werden dabei unmittelbar getroffen, abhängig vom Thema und von der Problemlage – wann bestimmte Details wichtig sind, wann der Fokus auf der groben Struktur liegt etc. Wie oben dargestellt, gilt: – Wenn Therapeut*innen keine Ahnung haben, was kommt, hat sich für das Mitschreiben/-visualisieren der Beginn in der Mitte des Blattes bewährt, um möglichst in alle Richtungen Platz für die weiteren Entwicklungen zu haben. Manchmal muss auch Papier angelegt oder umgeblättert bzw. die Leinwand vergrößert werden, manchmal quetschen sich zentrale Prozesse in eine Ecke. Wir stellen in der Arbeit mit den Visualisierungen aber oft fest, dass solche vermeintlichen Unfälle in der weiteren Bearbeitung sehr wohl etwas bewirken können. Ratsuchende sagen dann zum Beispiel, dass das in die Ecke Gequetschte dem Gefühl von Beengtsein entspricht oder wie sie merken, dass das betreffende Thema mal mehr Platz bräuchte. – Wenn Hintergründe bzw. Grundstrukturen hingegen schon klarer sind, es zum Beispiel zwei eindeutig festzumachende widerstreitende Positionen gibt oder einen linear fortschreitenden Prozessverlauf, kann man auf die beschriebenen Grundmuster zurückgreifen. Für bestimmte, ähnlich ver-
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laufende Prozesse lassen sich außerdem im Vorfeld Vorlagen erstellen (Kapitel 7). 5. Paraphrase-Turn und Verhandlung oder Korrektur: Im nächsten Schritt wird das bisher Entstandene gemeinsam in den Meta-Blick genommen. Zunächst kann ausgehandelt werden, ob es eine hinreichend große Übereinstimmung bezüglich der Sicht der Dinge gibt, indem die begleitende Person zusammenfasst, was sie verstanden hat, dabei die eigene Visualisierung erklärt und die Zeichnungen Aushandlung – Korrektur und/oder die Struktur nochmals mit Bedeutung ver- und/oder Ergänzung sieht. Der*die Klient*in wiederum ist explizit eingeladen zu unterbrechen, zu korrigieren und zu ergänzen. Dabei beziehen sich Klient*innen oft erstmals gezielt auf die Visualisierung, indem sie beispielsweise sagen: »Nee, das hier war zuerst da, und erst danach ist das dort passiert!«, und dabei auf zwei Punkte zeigen, die für bestimmte Ereignisse stehen. Manchmal ergreifen sie auch den bereitliegenden Stift und korrigieren oder ergänzen selbst auf dem Papier – sie machen sich das Bild zu eigen, kommen ins Handeln und werden aktiv. 6. Weiterarbeit: In der Weiterarbeit können dann ähnliche Fragen bzw. Aufgaben gestellt werden wie in Kapitel 4.2 beschrieben: – Schildern Sie mir doch mal, was Sie sehen. – Wo bleibt Ihr Blick hängen? – Was fühlen Sie, wenn Sie auf meine Visualisierung schauen? – Welche Gedanken oder Hypothesen schießen Ihnen in den Kopf? – Was denken Sie: Wer sollte diese Mitschrift (nicht) sehen? – Gibt es etwas, was Sie gern und sofort verändern wollen?
Visu-Fragen
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Was bewirkt diese Methode? Der Umstand, dass der*die Therapeut*in den Blick durchgängig oder immer wieder auf das Papier/Tablet oder zur Flipchart senkt/lenkt, ist für einige Klient*innen zunächst irritierend, vielfach dann aber entlastend. Sie fühlen sich weniger beobachtet und können oft freier von ihren Problemen sprechen. Manchmal kann es allerdings auch wichtig sein, alle Sinne tatsächlich für die Beobachtung der Klient*innen zu nutzen und voll da zu sein, beispielsweise, wenn diese weinen oder anderweitig starke Emotionen zeigen. Der Stift kann dann bewusst zur Seite gelegt und den Gefühlen Raum gegeben werden. Darüber hinaus beobachten wir für beide Seiten eine Entlastung durch Entschleunigung, da allein das Mitvisualisieren manchmal schon Tempo aus Schilderungen nimmt, zum Beispiel, wenn Klient*innen merken, dass eine große Fülle an Details in den Raum kommt, die für die visualisierende Person kaum mehr zu bewältigen ist, und sie sich daraufhin auch selbst mehr Zeit zum Innehalten, zur Kontemplation oder auch einfach nur zum Atmen nehmen. Gesenkter Blick Ähnlich entlastend erleben wir, wie mithilfe von Visualisierungen oftmals leichter mit unangenehmen bzw. schambesetzten Themen umgegangen wird. Beispielsweise werden psychische Erkrankungen oder Diagnosen vielfach eher durch schnelle gestische Verweise auf ihre visualisierte Form als durch erneutes Aussprechen wieder thematisiert: Es reicht ein bloßer Fingerzeig, allenfalls verbunden mit einem kurzen »… und dann war da ja auch noch das da!« statt »… und dann ist da ja auch noch meine Depression«. Es scheint auf diese Weise einfacher zu fallen, darüber zu reden und die Zuschreibung durch die Diagnose nicht immer wieder zu aktualisieren – eben insbesondere dann, wenn diese Diagnose und die damit verbundenen Verhaltensweisen noch als störend empfunden werden. Wie schon beschrieben, wird die Visualisierung des Gesagten oder der Beobachtung zudem seitens der Klient*innen häufig als Wertschätzung wahrgenommen, sowohl wenn einzelne Dinge aufgeschrieben bzw. mit visuellen Vokabeln dokumentiert als auch wenn größere Zusammenhänge dargestellt werden. Sonst Flüchtiges bleibt sichtbar auf dem Papier, etwas Einzigartiges, Gemeinsames entSchnelle Geste
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steht, und dieses Abbild der aktuellen Herstellung von Wirklichkeit eignet sich für Perspektivwechsel. Therapeut*in und Klient*in schauen gemeinsam auf die Problemlage, die – und auch das entlastet häufig – verhältnismäßig klar oder zumindest schon in einer ersten greifbaren Struktur vor beiden liegt oder am Flipchartständer hängt. Auf dieser Basis lässt sich umso besser weiterarbeiten. Und last, but not least eignet sich die Visualisierung auch gut zur Dokumentation, um im Prozess auf Informationen oder Beobachtungen aus anderen Sitzungen zurückzukommen. Dabei kann eine Sitzung selbst nachträglich noch strukturiert, bilanziert und analysiert werden, indem Farben oder Pfeile hinzugefügt und auf diese Weise Zusammenhänge sichtbarer werden. In Kapitel 7 zeigen und erläutern wir einige Beispiele genauer. Visu – Wertschätzung und Status quo ist fest
Nachträglich Farbe rein
Gemeinsam am Stift – Beispiel Systembilder Ähnlich wie in Kapitel 4.3 beim Genogramm (mit der spezifischen Sprache) lassen sich auch umfangreiche Komplexe wie Freundschaftssysteme visuell darstellen (siehe auch die Anregung im digitalen Zusatzmaterial »Meine Meine Bezie Beziehungen und ich« sowie Kapitel 2.1). Die Freund*inhungen und ich nen können dann zum Beispiel sortiert sein nach Nähe bzw. Innigkeit der Beziehung gegenüber Ferne/Unverbindlichkeit oder auch nach geteilten Erlebniswelten.
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Freundschaftssysteme
Für ein solches Systembild lassen sich verschiedene Vokabeln und Gestaltungsbzw. Erstellungsregeln festlegen oder mit der*dem Ratsuchenden je nach Fragestellung aushandeln. Auch die Entwicklung eines Systems lässt sich darstellen, sei es mittels Skalierungen entlang einer Linie (Kapitel 3.2.5) oder anhand eines Zeitstrahls, auf dem markiert wird, wann bestimmte Menschen, Hobbys etc. im Leben der Klient*innen aufgetaucht sind oder es wieder verlassen haben. An diesen Systembildern können sogar mehrere Klient*innen parallel arbeiten, beispielsweise Paare, die mit Kreisdiagrammen einen gemeinsamen Zeitkuchen für die Verteilung der individuell aufgebrachten Zeit und/oder Energie für unterschiedliche Aufgaben erstellen. Die konkret gewählte Form bzw. Struktur der Darstellung hängt dabei von der Struktur des abgebildeten Systems ab und sollte auf diese abgestimmt sein. Der Minuchin’sche Systemblick (Kapitel 2.2.3) ist hier hilfreich.
5.3.4 Erklären, Illustrieren und Präsentieren Visualisierungen können außerdem in jedweder Kommunikationssituation genutzt werden, um gesprochene oder geschriebene Inhalte durch Bilder zu begleiten und zu unterstützen. Den Kommunikationspartner*innen – ob passiv zuhörend bzw. lernend oder sich aktiv an einem Gespräch beteiligend – werden dabei
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eigene Ideen und Gedanken auf zwei Ebenen und in zwei Sprachformen gleichzeitig pointiert präsentiert. Damit werden sie angeregt, Gehörtes bzw. Gelesenes mit dessen visualisiertem Ausdruck zusammenzubringen, also nicht nur zuzuhören oder mitzulesen, sondern auch noch die Bilder aktiv dazu einzuordnen. Diese Begleitung von Sprache kann ad hoc im Gespräch oder während eines Trainings passieren, kann aber auch vorbereitet werden für Workshops oder Vorträge, wo von vornherein klar ist, welche Inhalte vermittelt werden sollen. Auch zur Illustration von Arbeitsblättern, Büchern oder Illustrationen zur Begleitung von Websites sind solche Abbildungen geeignet. gesprochener Sprache oder Texten
5.4 Auf die Plätze, fertig, los! Jetzt ist alles beisammen. Visualisierung ist als Sprache eingeführt (Kapitel 5.1), und es ist ganz klar, wie gut sie als Methode in das systemische Arbeiten passt: Sorgfältige Wahrnehmung möglichst vieler Sinneseindrücke, genaue Beobachtung und offene Aushandlung von Wirklichkeiten und Möglichkeiten finden dort bislang schon unter Anwendung vielfältiger verbalsprachlicher sowie auf unterschiedliche Formen der Symbolisierung setzender Methoden statt. Eine einfache Bildsprache ergänzt dieses Spektrum nun hervorragend. Die Entwicklung von guten, gelungenen Visualisierungen oder auch bloß einfachen Bildern funktioniert nämlich hier wie dort mit demselben systemischen Blick, der den Fokus auf das Wesentliche lenkt und Strukturen zeigt (Kapitel 5.2). Mit den entstandenen Bildern lässt sich genauso arbeiten wie mit anderen systemischen Methoden, und auch darüber hinaus gibt es noch viele weitere Möglichkeiten, wie Visualisierung die tägliche beraterische Arbeit ebenso wie das Privatleben bereichern kann (Kapitel 5.3). Dabei ist besonders schön, dass Bildsprachen so einfach zu erlernen und nahezu universell zu verstehen sind und dass Berater*innen hierbei eine ganz eigene Handschrift entwickeln und sich darüber individuell zeigen bzw. einbringen können. Sobald Ratsuchende und Berater*innen gemeinsam mit Visualisierungen arbeiten, wird auch etwas von dem gemeinsamen Vorgehen und der gemeinschaftlichen Beziehung sichtbar. Nun nur noch ein paar letzte Tipps, bevor es endlich richtig losgeht.
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Visualisierung in systemischer Arbeit
5.4.1 Inspirieren lassen – Vokabelbibliotheken und Designvorlagen Neben dem beschriebenen Vorgehen, über Beobachtung, Austausch und Entscheidung selbst dem Kern der Dinge auf die Spur zu kommen, gibt es auch in der Visu-Sprache Wörterbücher und Zeichenhilfen. Für das Erlernen grundsätzlicher Visu-Vokabeln und als Strukturierungshilfen für die Gesamtgestalt von Visualisierungen können diese natürlich als Abkürzung und zur Inspiration genutzt werden. Es finden sich in der Visu-Literatur vielfältige Einführungen und Vokabelsammlungen für unterschiedliche Themenbereiche und Anlässe, beispielsweise die bikablo®-Technik mit Figuren, visuellen Vokabeln und ausführlichen Informationen zu Grafikelementen und Designvorlagen für visuelles Denken, Training, Coaching, visuelle Prozessbegleitung und Dokumentation (Haussmann, 2016). Inspirationsquellen für Visualist*innen Hilfreiche Designvorlagen, die sich für bestimmte Themen nutzen oder anpassen lassen, finden sich auch in Büchern zur Flipchartgestaltung (Rachow u. Sauer, 2016; Schöbitz, 2020). Einige Symbol-Bibliotheken liefern Schritt-für-Schritt-Anleitungen zum Nachzeichnen mit unterschiedlichen Komplexitätsniveaus und sehr breitem inhaltlichem Spektrum (Haussmann, 2015; Haussmann u. Haussmann, 2018; Rohde, 2014; Roßa, 2020; Schaffranek, 2017; Wehr, 2018; Weiss, 2016). Zielgruppen sind hier oft Menschen, die Sketchnotes erstellen. Das »Yoga Asana Alphabet« wiederum (Lamm, 2019) ist primär zum Verstehen und Planen von Trainingseinheiten für Yogatrainer*innen und Yogapraktizierende gedacht, mit seinen maßstabsgetreuen Darstellungen aber auch für Visualist*innen sehr hilfreich, gerade beim Zeichnen von Menschen oder bestimmten Körperhaltungen. Auch die in Kapitel 5.1 erwähnten Piktogramme bzw. Piktogramm-Sprachen von Otl Aicher (piktogramm.de) und Gerd Arntz (gerdarntz.org) sind online öffentlich verfügbar und können ebenso als Inspiration dienen wie Online-Ikon-Bibliotheken (z. B.
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thenounproject.com) oder die Ikon-Sammlungen, die in vielen Textverarbeitungsoder Präsentationsprogrammen schon vorinstalliert sind. Im gleich folgenden Kapitel 6 zeigen wir, wie einfache visuelle Sprachen aufgebaut sind und wie sie schnell erlernt werden können. Dann fehlt nur noch die Praxis (Kapitel 7), die den*die Meister*in macht!
5.4.2 Just do it – üben, üben, üben und … einfach machen! Mit der Visu-Sprache ist es darüber hinaus wie mit allem, was man lernen möchte: Es ist ein Prozess, eine Reise und braucht Ausdauer, Übung und Wiederholung. Wenn es gelingt, Visualisierung in den Alltag zu integrieren und Gelegenheiten zu schaffen, den Stift zu nutzen, ist das gut. Jeder Visu-Versuch ist ein Schritt, der weiterführt, auch wenn es noch nicht gleich perfekt sein wird. Oft ist es hilfreich, sich immer wieder vor Augen zu halten, dass nicht immer alles sofort und auf einmal klappen kann. Vielleicht gelingt es zum Beispiel auch besser, zunächst allein zu visualisieren und erst später, wenn es erste Erfolge gab und gibt, für und vor anderen. Das Allerwichtigste aber ist: anfangen und einfach machen!
(Visu-)Sprache lernen als Prozess
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Visualisierung in systemischer Arbeit
6
Ran an den Stift – so geht Visualisieren
Nun geht es los! Falls Stift und Papier oder Tablet mit dem digitalen Zusatzmaterial noch nicht zum Einsatz gekommen sind, ist genau jetzt ein guter Zeitpunkt, alles bereitzulegen.
Alles zum Loslegen
Denn in diesem Kapitel geht es um das praktische Tun. Dazu bringen wir die in Kapitel 5 bereits beschriebenen Hintergründe gleich noch mal knackig auf den Punkt, damit das Wesentliche im Kopf präsent ist: • (Fast) jeder Mensch kann visualisieren und Visualisierungen verstehen. Wer Texte, Einkaufszettel oder andere Schriftstücke erstellt, visualisiert
Ran an den Stift – so geht Visualisieren
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schon – vielleicht noch mit mehr Buchstaben als Bildern, aber das lässt sich weiterentwickeln. Im Folgenden werden wir ein Baukastensystem aus einfachen Formen zeigen, die sich zu ebenso einfachen, aber auch zu komplexen Bildvokabeln zusammensetzen lassen. Wenn diese Bildvokabeln erst mal »sitzen«, können sie dann vielfach Zeit sparen, weil sie schneller gezeichnet als die entsprechenden Wörter geschrieben sind. • Manche dieser Bildvokabeln brauchen allerdings Übung, bis sie einfach so aus der Hand bzw. dem Stift fließen – das ist genauso, wie es mal mit den Buchstaben war. Die ersten A-, B-, C-Versuche waren sicherlich auch nicht so flüssig wie die von heute … • Es geht darum, hilfreiche und neue Ausdrucksformen kennenzulernen – das darf auch schiefgehen und sollte trotzdem Spaß machen. Nur Mut und Geduld! • (Fast) jede*r kann zeichnen. Vermutlich gibt es kaum einen Menschen, der nicht irgendwann gezeichnet hat. Vielleicht ist es schon lange her und es sind vorrangig Kinderzeichnungen, an die wir uns erinnern, Werke, die in (vor) schulischen Bildungsinstitutionen entstanden sind, oder Telefonkritzeleien. Kinderzeichnung Telefonkritzeleien
Typisch insbesondere für Kinderzeichnungen ist dabei, dass sie aus sich selbst heraus und meist ohne Angst vor Bewertung, einfach aus Freude am Tun entstehen – manchmal auch allein schon, um die Dinge besser zu verstehen (Haussmann, 2016, S. 42 f.). Genau da wollen wir wieder hin. Aber los geht’s … Erst mal ein bisschen warmzeichnen …
Meine Kinderzeichnungen und Telefonkritzeleien Warmzeichnen
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Ran an den Stift – so geht Visualisieren
6.1 Visuelle Vokabeln – Die Grundformen Je nachdem, in welchem Bereich später visualisiert wird, ist es sinnvoll, von Anfang an eine eigene Vokabelsammlung anzulegen und laufend weiterzuentwickeln. Welches Behältnis dafür verwendet wird, ist nachrangig: Vielleicht ein kleines Heftchen, das im Kalender steckt, vielleicht eine wohlsortierte Sammlung, aufbauend auf unserem digitalen Material, vielleicht fliegende Zettel an einer Pinnwand, die Schreibtischunterlage, ein Ordner im PC mit Fotos oder anderen digitalen Dateien – jede*r hat vermutlich eigene Vorgehensweisen, die gut funktionieren.
Reprise Zeicheninventar – einfache Grundformen
Mit den Ausgangsformen aus dem Warmzeichnen starten wir im nächsten DigiMaterial. Dabei gehen wir von der einfachsten Form, dem Punkt, über zur geraden oder geschwungenen Linie, dann zu einfachen zweidimensionalen Formen wie dem Dreieck, dem Viereck und dem Kreis. Zum Schluss schauen wir uns auch komplexere Mischformen und Dreidimensionalität sowie unsere Lieblingsrahmen für Überschriften an (Kapitel 6.1). Nach diesen gegenständlichen Formen kommt der Mensch ins Spiel, und wir zeigen – wieder vom ganz einfachen »Punkt, Punkt, Komma, Strich« aus –, wie Gesichter und Mimik, Körper und Gestik gezeichnet werden. Diese Figuren bringen wir auch in Bewegung und zeigen, wie sie spezifischer gestaltet werden können (Kapitel 6.2)
Ran an den Stift – so geht Visualisieren
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Ein kleiner Exkurs ist der komplexeren Vokabelentwicklung gewidmet, und wir beleuchten auch kurz den Umgang mit Schrift, Farbe und Schatten (Kapitel 6.3 bis 6.5). Die entstehende Liste kann dabei ständig ergänzt und an das eigene Tätigkeitsfeld oder die eigene Lebenswelt angepasst werden. Als Inspiration für entsprechende Metaphern und passende Bildideen sind die ausführlichen Metaphernlisten bei Lindemann (2016, S. 227 ff.) hervorragend geeignet. Und auch auf die notwendige Ausstattung werfen wir schließlich noch einen Blick (Kapitel 6.6).
6.1.1 Der Punkt Zunächst sieht ein Punkt harmlos aus auf dem Papier, aber er kann es in sich haben, wenn man ihn erst mal symbolisch auflädt, wenn er als Zeichen verwendet wird. Verändern wir die Anzahl, nutzen wir also mehrere Punkte, lässt sich auch bereits nur mit Punkten schon gut auf den Punkt kommen. Variationen zu den Beispielen lassen sich spielerisch erkunden – was bewirken dickere oder dünnere, was verschiedenfarbige Punkte …?
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Ran an den Stift – so geht Visualisieren
Ikonisch
Beispiele
Punkt
Verschiedene Punkte
Symbolisch Standpunkt, Knackpunkt, Ausgangspunkt, etwas Neues, etwas auf den Punkt bringen, Satzzeichen (etwas ist zu Ende), …
zwei Punkte
Augen, ein Paar von etwas, etwas G leiches, Satzzeichen (Doppelpunkt: Jetzt kommt was), Gegensätze, Anfang und Ende, Ungleichgewicht, …
drei Punkte
Lösung A, B und etwas ganz anderes, drei gleiche oder drei verschiedene Dinge, Satzzeichen (»…« für: Weiterdenken), Folgen, Blindensymbol, Wachstum, …
viele Punkte
viele Dinge/Menschen auf einem Haufen, Sand, gasförmiger Zustand, Nebel, Regen, Schnee, eine gestrichelte Linie, …
Der Punkt
Ran an den Stift – so geht Visualisieren
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6.1.2 Die Linie Wenn der Punkt auf die Reise geht, entsteht ein Strich bzw. eine Linie. Auch hier gilt, dass dieses ausgesprochen einfache Zeichen sehr viel Gehalt aufnehmen kann. Grundsätzlich verbindet oder trennt die Linie, sie setzt in Beziehung, gibt eine Richtung oder Entwicklung an, zeigt Dauer oder Ausbreitung. Und ähnlich wie beim Punkt lohnt es sich zu experimentieren: Linien können gepunktet, gestrichelt, wellig, zackig, kraftvoll und dick oder zart und vorsichtig, kaum sichtbar sein. Ikonisch
Beispiele
Symbolisch
gerade Linien
Trennung, Grenze, Verbindung, Oberfläche, Wege, ein Fluss, Entwicklung/Richtung, (mit oder ohne Markierungen, wie beispielsweise Zeiteinheiten), …
Linie mit Unterbrechungen (Punkte, Striche, Einschnitte, …)
Zeitablauf/Lebenslauf mit Stationen, Skala mit Ausprägungen, …
eckige oder zackige Linien
Höhe- und Tiefpunkte, Schwierigkeiten, …
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Ran an den Stift – so geht Visualisieren
Ikonisch
Beispiele
Symbolisch
Pfeil mit einer Spitze
Entwicklung, Anzeigen von Kausalbeziehungen, zeitlichen Abfolgen oder Richtungen, …
Pfeil mit zwei Spitzen
Gegensätze, Spannungen, Ausbreitung, Dauer, …
Blitz
Schwierigkeiten, Energie, Problem, Helligkeit, Geistesblitz, Schmerz, Trennendes, …
Kreuz
Plus, positiv, Tod/Grab, Glaube, Krankenhaus, …
Ran an den Stift – so geht Visualisieren
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Ikonisch
Beispiele
Symbolisch
Treppe
Auf- oder Abstieg, Entwicklung, …
wellige Linien
zeitliche Abläufe, Umwege, Suchverläufe, Schwankungen, Auf und Ab …
Wellenlinie
Wellen, Wasser, Höhen und Tiefen, Umwege, Pendeln und Schaukeln, Hin und Her, Auf und Ab, Zyklen, …
Spirale
Schwierigkeiten, Störungen, Verwirrung, Abwärts-/Aufwärtsbewegung, Sprungfeder, …
Schnecke
Langsamkeit, Rückzug, Sicherheit (im Schneckenhaus), …
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Ran an den Stift – so geht Visualisieren
Ikonisch
Beispiele
Symbolisch Verwicklung, Chaos, Krise, …
»verhedderte« Linien Knoten/Knäuel
Die Linie Zwei Dimensionen – einfache Formen
6.1.3 Zwei Dimensionen – einfache Formen Grundsätzlich funktionieren alle Formen als Begrenzungen bzw. virtuelle Behältnisse für Dinge, die zusammengehören. Sie können aus Linien aller Art zusammengesetzt werden, wobei bereits die einfachste Form, das Viereck, genau genommen eine zweidimensionale Linie ist. Ähnlich wird aus einer bzw. aus zwei welligen Linie(n) eine Fahne oder ein Geldschein, und auch ein zweidimensionaler Pfeil kann ein Behältnis für zusammengehörige Inhalte werden. Ob es leichter fällt, die Formen am Stück und in einem Rutsch zu zeichnen oder präzise und genau Strich für Strich aneinanderzusetzen, ist personen- und situationsabhängig. Wenn es schnell gehen soll, ist die Form aus einem Strich hinreichend und erkennbar. Visualisiert man mit Ruhe und möglicherweise für Illustrationszwecke, kann das Zusammensetzen einzelner Striche zu präziseren Ergebnissen führen. Auch für die Formen gilt, dass sie variabel in Bezug auf ihre Größe sind und natürlich miteinander in Beziehung gesetzt werden können.
Von einer zu zwei Dimensionen
Ran an den Stift – so geht Visualisieren
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6.1.4 Das Viereck Eine Linie bleibt selten allein und schon ist mit der zweidimensionalen Linie ein Rechteck entstanden. Diese einfache – aus vier Strichen zusammengesetzte – Form begegnet uns häufig. Ergo lassen sich viele Bildvokabeln daraus entwickeln. Ikonisch Viereck
Beispiele
Symbolisch Rahmen um Zusammengehöriges, Darstellung von Überschneidungen und Schnittmengen, System und Subsystem, …
als Blatt • mit abgeknickter Ecke und ggf. Linien für Text
Text, Arbeitsblätter, Formular, Gesetzestext, Prüfung/ Klausur, Zeugnis, Hausaufgaben, Bewerbungsunterlagen, …
• mehrere Blätter
Aktenstapel, Arbeitsberge, Hausarbeiten, Aufträge, …
• mit Ringbindung
Termine, Kalender, …
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Ran an den Stift – so geht Visualisieren
Ikonisch
Beispiele
Symbolisch
Bild
Darstellen, Abbilden, Kunst, …
Fernseher
Entspannen, Nachrichten/ Informationen, …
Briefumschlag
Botschaft/Nachricht, E-Mail, Bescheid/Zulassung, Neuigkeit, Liebesbrief, …
Koffer
Reise, Aktenkoffer für das Thema »Berufliches«, Ressourcen, die man »im Koffer« hat, …
Laptop, Monitor, Telefon/ Handy
Digitale(s) Arbeit(en), Technik(-nutzung), Mobilität, in Verbindung sein, Kontakt, …
Ran an den Stift – so geht Visualisieren
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Ikonisch
Beispiele
Symbolisch
Batterie/Akku
Energie, Kraft, Erschöpfung (wenn Batterien/Akkus leer), …
Geschenk
Wertschätzung, Kompliment, Wunsch, Geburtstag, Weihnachten, Feste, …
Zieleinlauf
Zieleinlauf für den Beratungsprozess, Lebensziel der Ratsuchenden, Hürde, …
Flipchart/ Moderationswand
Training, Workshop, Wissensvermittlung, Ablauf/Klärung, …
Hochhaus
Metropole, urbanes Leben, Enge, viele auf einem Haufen, …
Das Viereck
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Ran an den Stift – so geht Visualisieren
6.1.5 Das Dreieck Neben dem Viereck ist das Dreieck eine weitere einfache Grundform. Auch hier gibt es einige Symbole, die vielseitig verwendbar sind. Ikonisch
Beispiele
Symbolisch
Dreieck
Rahmen um Zusammen gehöriges, …
Zelt
Abenteuer, Freizeit, Reise, Camping, Schutz, …
Warnschild
Vorsicht, Achtsamkeit, Gefahr, …
spitzer Hut
Zaubern, Hexe, …
Berg
Hindernis, Meilenstein, Ziel mit Aussicht, Wanderung/ Reise, …
Ran an den Stift – so geht Visualisieren
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Ikonisch
Beispiele
Stern (zwei Dreiecke übereinander sind eine sehr einfache Sternform)
Symbolisch Sterne, Nacht(-himmel), Judentum, Glaube, …
Das Dreieck
6.1.6 Der Kreis Eine weitere Grundform ist der Kreis. Er geht aus dem Punkt hervor und bereitet den Übergang zur Darstellung des menschlichen Gesichts, des Körpers und damit zu den Figuren vor. Ikonisch
Beispiele
Symbolisch
Kreis, Oval
Rahmen um Zusammengehöriges, Darstellung von Überschneidungen und Schnittmengen, System und Subsystem, …
Zielscheibe (ggf. mit Pfeil)
Vision, Ziel, Fokus auf etwas, … (mit Pfeil: ins Schwarze treffen, andeuten, wie nah/weit man vom Ziel entfernt ist, …)
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Ran an den Stift – so geht Visualisieren
Ikonisch
Beispiele
Symbolisch
Uhr, Wecker
Uhrzeit, Dauer, Termin, Erinnerung, wach werden, Weckruf, …
Globus, Weltkugel
international, weltweit, global, universell, vielseitig, divers, Austausch, Reise, für (Größen-)Relationen nutzbar, …
Bombe
Bedrohung, Knall, Explosion, Wut, Krieg, Gewalt, …
Kompass
Richtung, Orientierung, …
Rettungsring
Rettung, Hilfe, Unterstützung, Not, Hilferuf, Chance, …
Ran an den Stift – so geht Visualisieren
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Ikonisch
Beispiele
Symbolisch
Geldstück/-stapel
Reichtum, Finanzierung von etwas, Kosten, Vermögen, finanzielle Lage (wenig