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German Pages [301] Year 2017
Jürgen Kriz
Subjekt und Lebenswelt Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching
V
Für Gila
Jürgen Kriz
Subjekt und Lebenswelt Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 54 Abbildungen und 8 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-49163-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: AZdesign/shutterstock.com © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einführung in Grundfragen der Personzentrierten Systemtheorie . . . 12 1.1 Zum Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie . . . . . . . . . . . . 12 1.2 Die Vierfalt der Verstehensperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.2.1 Der individualistisch-psychodynamisch-humanistische Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2.2 Der interpersonell-systemdynamische Fokus . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2.3 Der organismisch-körperliche Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.2.4 Der gesellschaftlich-kulturelle Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2 Leben als Zeichenprozess – die Perspektive der Biosemiotik . . . . . . . . 30 2.1 Die Objektivität der »Subjektivität« – oder: Die Subjektivität der »Objektivität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.2 Der Mensch in seiner Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3 Die Grenzen der Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.4 Der Mensch als »Animal Symbolicum« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3 Systemische Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.1 Selbst reguliertes Missgeschick – oder: Missgeschick bei der Selbstregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.2 Systemtheoretische Essentials: Ein erster Überblick . . . . . . . . . . . . . 72 3.3 Prozesse: Die dynamische Sicht auf unsere dinghafte Lebenswelt 75 3.3.1 Grundlegende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.3.2 Die Schwierigkeit, in unserer Kultur über Prozesse zu sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.3.3 Was ist eine angemessene Problemmetaphorik? . . . . . . . . . . . 81
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Inhalt
3.4 Exkurs: Selbstorganisierte Strukturen in Systemen – das Konzept der Trivialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.4.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.4.2 Erster Argumentationsschritt: Unterscheidung in »triviale Maschinen« und »nichttriviale Maschinen« . . . . . . . 86 3.4.3 Zweiter Argumentationsschritt: Unterscheidung in »Fremdtrivialisierung« und »Eigentrivialisierung« . . . . . . . . . 89 3.5 Rückkopplung: Die unterschätzte Wirkung im abendländischen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.5.1 Grundlegende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.5.2 Rückkopplung, Attraktor, Schema, Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.5.3 Exkurs: Attraktoren und Sinnattraktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.6 Bottom-up und top-down – das Verhältnis zwischen Mikro- und Makroebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3.6.1 Grundlegende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3.6.2 Gestalthafte Ganzheitlichkeit des Bottom-up . . . . . . . . . . . . . . 108 3.6.3 Bottom-up- und Top-down-Dynamiken als Aspekte eines Feldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.6.4 Komplettierungsdynamik: Die Zielgerichtetheit der Dynamik des Feldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.6.5 Selbstorganisation und Nichtlinearität der Felddynamik . . . 116 3.7 System versus Umgebung und Umwelt: Worüber reden wir eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.8 Fazit: Das Welt- und Menschenbild auf der Grundlage der systemischen Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4 Die vier zentralen Prozessebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4.1 Die interpersonelle Prozessebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4.1.1 Exkurs: Das biosemiotische Nadelöhr der Interaktion . . . . . . 135 4.1.2 »Sender« und »Empfänger« gibt es nicht bei Paaren, Familien oder Teams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.1.3 »Teufelskreise« sind keine Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4.1.4 Die verborgene Täterschaft in den Opfer-Narrationen . . . . . 146 4.2 Die psychische Prozessebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4.2.1 Ordnungsbildung beim Erinnern: Bartlett und sein Szenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.2.2 Überstabilität, Ordnungs-Ordnungs-Übergänge und Hysterese bei Sinnattraktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.2.3 Wie Sinnattraktoren Vieldeutigkeit reduzieren . . . . . . . . . . . . 165
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4.3 Die gesellschaftlich-kulturelle Prozessebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 4.3.1 Sinnattraktoren in der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 4.3.2 Exkurs: Genogramm – Bindeglied zwischen mikro- und makrosozialen Sinnattraktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4.3.3 Synlogisation und Bedeutungsfelder: Die gemeinsame Kreation von Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4.4 Die körperliche Prozessebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 4.4.1 Der Körper als Integrator von Fühlen und Denken . . . . . . . . 185 4.4.2 Der Körper als biologische Basis unserer Lebenswelt . . . . . . . 191 4.4.3 Der Körper als Ort ganzheitlicher Organisation . . . . . . . . . . . 200 5 Die Welt des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 5.1 Die Komplementarität von subjektiver und objektiver Sicht auf Bewusstseinsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 5.2 Das Subjekt in seiner phänomenalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5.3 Exkurs: Kognitive und affektive Strukturaspekte des (phänomenalen) Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 5.4 Zur Intersubjektivität und Stabilität der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . 225 5.5 Die »Person« in der Personzentrierten Systemtheorie . . . . . . . . . . . 228 5.5.1 »Person« ist nicht angeboren – aber das evolutionär vorstrukturierte Potenzial dazu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 5.5.2 Die »Person« bedarf gerade in ihrer Subjektivität der Kulturwerkzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 5.5.3 »Person« als Brennpunkt unterschiedlicher Perspektiven und Prozessebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6 Personzentrierte Systemtheorie im Kontext der Praxis . . . . . . . . . . . . . 235 6.1 Grundaspekte des praktischen Umgangs mit »Problemen« . . . . . . 236 6.1.1 Was ist überhaupt ein »Problem«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 6.1.2 Ein Loblied auf die Ordnung und Struktur der Alltagswelt 238 6.1.3 Die Notwendigkeit von Ordnungs-Ordnungs-Übergängen 239 6.1.4 Was die Ordnungs-Ordnungs-Übergänge behindert . . . . . . . 241 6.1.5 »Schreckliche« Instabilität als Problemüberwindung . . . . . . . 242 6.1.6 Berater als Begleiter durch die »Schrecken der Instabilität« 243 6.1.7 Konsequenzen für die »Therapeutische Beziehung« . . . . . . . . 244 6.2 Die Bühne des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6.2.1 Arbeit mit den formativen Kräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6.2.2 Vom Sinn zur Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
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6.3 Von der Zukunft her denken: Intuition, Imagination und Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 6.3.1 Die Teleologie der Intuition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 6.3.2 Planen versus Imaginieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 6.3.3 Zum Einsatz imaginativer Vorgehensweisen . . . . . . . . . . . . . . 264 6.3.4 Über Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6.3.5 Dezentrierung als Spiel-Raum für Kreativität . . . . . . . . . . . . . 267 6.4 Die Kunst angemessener Verstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Merkkästen . . . . . . . . . . . . . . 289 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Vorwort
Nach über drei Jahrzehnten Arbeit an der Personzentrierten Systemtheorie wird mit diesem Buch erstmals eine Gesamtdarstellung vorgelegt. Das Erscheinen des Werkes ist nicht zuletzt vielen freundschaftlich-hartnäckigen Nachfragen und Ermunterungen aus den letzten Jahren zu verdanken. Nachdem ich rund fünfzig Artikel und Buchkapitel zur Personzentrierten Systemtheorie veröffentlicht habe – allerdings fokussiert auf jeweils bestimmte Aspekten und Fragestellungen – war ich selbst im Zweifel, ob Kraft und Aufwand für ein solches Buchprojekt wirklich gerechtfertigt wären. Hinzu kommt, dass es für die eher an Praxis ausgerichteten Bedürfnisse, etwas über systemisches Denken und Arbeiten zu erfahren, ausgezeichnete Werke gibt – allen voran das Lehrbuch von von Schlippe und Schweitzer (2016), das in vielen Auflagen seit zwei Jahrzehnten fundiert über das Spektrum systemischer Ansätze informiert, ferner der stark an einer synergetischen Sicht der Systemtheorie orientierte Band von Haken und Schiepek (2010) sowie ein Buch von Rufer (2012), das systemische Theorie und konkrete Fallpraxis verbindet. Doch trotz vieler weiterer guter und informativer Werke ist es wohl keine Anmaßung zu behaupten, dass dem zentralen Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie bisher nicht hinreichend konsequent nachgegangen wurde: Es geht darum, die für Psychotherapie, Beratung und Coaching relevanten Prozesse ohne vorschnelle Reduktion auf einzelne Aspekte möglichst in ihrer Ganzheitlichkeit nachzuzeichnen und so deren Verständnis zu erhöhen. Die Personzentrierte Systemtheorie versteht sich dabei nicht »integrativ« – denn es wird nichts zusammengefügt –, sondern sie bemüht sich, in einem ohnedies ganzheitlichen Geschehen möglichst wenig systematisch auszublenden, auch wenn in der Darstellung aufgrund der Komplexität dieses ganzheitlichen Geschehens jeweils einzelne Perspektiven fokussiert werden müssen. Es geht in diesem Buch somit um eine Einladung, sich auf die Komplexität des Geschehens einzulassen, das nun einmal unser Leben als Subjekt in der heutigen Lebenswelt ausmacht. Ich bin überzeugt davon, dass eine größere Bereit-
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schaft, sich auf diese Komplexität einzulassen, nicht nur die inhaltlichen und theoretischen Grabenkämpfe zwischen »Richtungen« befrieden könnte, weil die Würdigung für die Perspektiven der anderen dann leichter fällt. Aus einer solchen ganzheitlichen Sicht lässt sich zudem leichter jene Vorgehensweise im jeweils konkreten Fall entwickeln, die jenseits von »Schulengrenzen« der spezifischen Situation (aus Patient- bzw. Klienten-, Problem- bzw. Störungs- und Beschwerdelage, Entwicklungsmöglichkeiten, eigenen Vorlieben und Ressourcen usw.) gerecht wird. Es ist dies ein Buch, das der Informationsstruktur von 160-Zeichen-Einheiten (SMS) und dem Lernerfolg in Form von reproduzierbaren Sätzen, die sich zum Training in Tutorien für das Bestehen eines Multiple-Choice-Tests eignen, zuwiderläuft. Es ist vielmehr gedacht für Menschen, die wie ich das Anliegen haben, dem Geschehen in Psychotherapie, Beratung und Coaching tiefer auf den Grund zu gehen und die komplex verwobenen Teilaspekte in ihrem Zusammenwirken besser zu verstehen. Dass dies möglich ist, wurde an etlichen Leserinnen und Lesern, die sich darauf eingelassen haben, erprobt – und beruht letztlich auf intensiven Diskussionen über die Art der Darstellung. Ich fühle mich daher nicht nur zahlreichen Menschen, von denen ich auf diese und andere Weise lernen konnte, zu Dank verpflichtet, sondern auch jenen, die hartnäckig und unermüdlich zur Verbesserung und Erhöhung der Lesbarkeit des Textes beigetragen haben. Besonders hervorheben möchte ich neben meiner Frau Gila und Tochter Sarah – beide als Journalistin bzw. Redakteurin für diese Aufgabe bestens geeignet – Jörg Clauer, Wolfgang Loth und für seine vielen langen Mails um den halben Erdball mit Hunderten Anmerkungen aus der Sicht eines Topmanagers, aber therapeutisch Fachfremden, Ralf Lisch. Es hat sich gezeigt, dass die etwas ungewöhnliche Struktur für einen Text aus dem Bereich der Psychologie im Interesse der Leser hilfreich ist: Üblicherweise sind viele Fußnoten höchst unwillkommen – entweder man sagt es im Text oder lässt es. Um allerdings trotz der Komplexität der Anschlussstellen an zahlreiche relevante Diskurse den Text gut leserlich zu halten, wurde hier von dieser Regel abgewichen und vieles in Fußnoten ausgelagert. Diese sind zum Verständnis der Hauptargumentationslinien nicht unbedingt wichtig. Allerdings wäre es für viele eine Verarmung – wie mir bestätigt wurde –, diese ganz wegzulassen. Dies soll den unterschiedlichen Bedürfnissen von Lesern (gegebenenfalls zu unterschiedlichen Zeiten) entgegenkommen. Ein Hinweis zum Thema Gender: Ich bin mir der Unzulänglichkeit unserer Sprache bewusst, zwischen geschlechtsunspezifischen und sogenannte »männlichen« Bezeichnungen zu differenzieren. Trotz Bemühen um eine neutrale
Vorwort
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Ausdrucksweise (z. B. »Angehörige beratender Berufe«), ist dies nicht überall möglich, weshalb auch hier gelegentlich von »Beratern«, »Klienten« etc. gesprochen bzw. geschrieben wird. Alle mir bekannten Alternativen – von denen ich bisweilen Gebrauch mache – erscheinen mir gestelzt und gekünstelt. »Berater«, »Klienten« etc. sind als geschlechtsneutrale Bezeichnungen gemeint – d. h. »Frauen« sind nicht »mitgemeint«, weil eben auch keine »Männer« gemeint sind (und es geht auch um keine anderen, nicht genannten, biologischen, sozialen, ökonomischen oder sonstigen Eigenschaften, Rassen oder Ethnien): Es geht um Menschen, die Bestimmtes tun, denken, meinen und dabei gegebenenfalls bestimmte Rollen einnehmen – oder eben auch nicht.
1 Einführung in Grundfragen der Personzentrierten Systemtheorie
1.1 Zum Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie Die Personzentrierte Systemtheorie ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, die vielfältigen Prozesse und Einflüsse, welche in den unterschiedlichen Ansätzen zu Psychotherapie, Beratung und Coaching jeweils thematisiert werden, in ihrer wechselseitigen Vernetzung zu verstehen.1 Denn wer professionell im Bereich von Psychotherapie, Beratung und Coaching tätig ist, der erlebt die Komplexität eines Geschehens, das durch vielfältige, miteinander verschränkte Einflüsse bestimmt ist. Selbst wenn er nur einen einzelnen Menschen ins Auge fasst, der ihn um Hilfe bittet, sieht er sich schnell mit einem schwer durchschaubaren Spektrum von interagierenden Wirkaspekten konfrontiert. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Entstehung und Aufrechterhaltung von Symptomen oder Problemen als auch hinsichtlich der von ihm zu unterstützenden Veränderungsmöglichkeiten. Kommt beispielsweise eine junge Frau wegen einer »Magersucht«2 zu ihm, so stellen sich Fragen über ihr Essverhalten, über ihr inneres Körperschema, über Art und Ausmaß des Leidendrucks, über das körperliche Erleben und dessen Bedeutung, über den Beitrag der Familie (u. a. Vater, Mutter, Freund) zur Entwicklung und Aufrechterhaltung dieses Verhaltens, über ihre eigene Sicht dieser Zusammenhänge sowie über die Konzepte von »Krankheit«, »Gesundheit«, 1
Das Projekt, die vier zentralen Richtungen – psychodynamisch, behavioral, humanistisch und systemisch – und ihre wichtigsten Ansätze in ihren »Grundkonzepten« darzustellen (Kriz, 2014a), war vor 35 Jahren sicher ein bedeutsamer Auslöser. Die Frage: »Wie passt das alles zusammen?« trat damit nur noch schärfer und drängender hervor. Erste, vorläufige Skizzen der Personzentrierten Systemtheorie sind denn auch bereits im letzten Kapitel der 1. Auflage 1983 von Kriz (2014a) zu finden. 2 Die Anführungszeichen bei manchen Wörtern sind als Hinweiszeichen zu verstehen, dass die damit verbundenen Konzepte eigentlich ausführlicher und differenzierter erörtert werden müssten, als es hier in einer solchen begrenzten Darstellung möglich ist (die zudem eine notwendig lineare Abfolge von eigentlich vernetzten Konzepten erfordert).
Zum Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie
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»Körperideal«, »Therapie« und darüber, was diese Konzepte in der Familiengeschichte und der Subkultur bedeuten – um nur weniges zu benennen. Diese Vielfalt an Fragen wird gewiss nicht geringer, wenn man mit Familien oder Teams arbeitet. So stellen sich zwar inhaltlich andere Fragen, wenn man überlegt, was alles mit dem Problem »Mobbingverhalten« in einem kleinen Team, das um Coaching bittet, zusammenhängt. Doch diese Fragen führen zu einem ebenso komplexen Gesamtbild wie oben bei der »Magersucht«. So geht es um das Verhalten des »Gemobbten« und die der anderen, um die unterschiedlichen Sichtweisen des Geschehens, um die dahinterstehenden Bedürfnisse nach Anerkennung, Achtung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Macht, Solidarität und Kooperation, um das betriebliche Gesamtklima, die Tradition des Teams und der Firma, die Arbeitsvorgaben, die wirtschaftliche Konkurrenzsituation und ihre Bedeutung, um Stress, Krankheitstage und Fehlzeiten – um wieder nur wenige Aspekte zu nennen. Wenn man diese (und viele weitere) Aspekte des ganzheitlichen Zusammenwirkens ordnen will, macht es Sinn, zumindest zwischen vier Prozessebenen zu unterscheiden, die man grob als körperliche, psychische, interpersonelle und kulturelle Prozessebene kennzeichnen kann. In der praktischen Arbeit wird man zwar primär auf die psychischen und interpersonellen Prozesse und deren wechselseitige Einflüsse fokussieren. Doch es sollte klar sein, dass diese Vorgänge durch Prozesse sowohl auf der kulturellen als auch auf der körperlichen Ebene erheblich mitbeeinflusst werden: Zum einen geht es dabei um gesellschaftliche bzw. makrosoziale Strukturen, die über formale Regeln, z. B. in Form von Gesetzen, hinaus vor allem als informelle Ordnungen in Form von Metaphern, Erklärungsprinzipien, Anstandsregeln, Geschichten, Verstehensweisen etc. unser tägliches Leben mitstrukturieren. Zum anderen geht es um die Einflüsse von Affekten, Stimmungen, Befindlichkeiten, Bedürfnisse und weiteren vom vegetativen System moderierten Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensstrukturen auf unser Erleben. Auch wenn man in der praktischen Arbeit kaum direkt die makrosozialen Strukturen beeinflussen kann oder – mit Ausnahme der Körperpsychotherapeuten – direkt auf den Körper als Organismus einwirken wird: Die Einflüsse aus kulturellen sowie aus körperlichen Prozessen gestalten in jedem Augenblick – quasi als Rahmung – das psychische und interpersonelle Geschehen mit. Und es sollte andersherum ebenso klar sein, dass der Mensch mit seinen psychischen und interpersonellen Prozessen in seine ihn umgebenden kulturellen Strukturen hineinwirkt – etwa durch die Wahl seiner Wohnung, Möbel und Bilder, seiner Kleidung, Literatur und Informationsmedien, seiner Arbeitswerkzeuge und Fahrzeuge usw. Und genauso gehen ständig vom psychischen
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Einführung in Grundfragen der Personzentrierten Systemtheorie
und interpersonellen Geschehen formierende Einflüsse auf die Körperprozesse und -strukturen aus. Welche Prozessebene man daher auch immer aus dem komplexen Gesamtgeschehen für die Betrachtung analytisch ausgliedert: Es ist zu berücksichtigen, dass die Prozesse der jeweils anderen Ebenen ihre Einflüsse ausüben und damit zur Stabilisierung oder zur Veränderung der als symptomatisch oder problematisch empfundenen Strukturen beitragen. Zwar ist klar, dass man diese nur andeutungsweise skizzierte Komplexität miteinander verwobener Wirkungen im Gesamtgeschehen nicht »im Kopf haben« oder im Detail berücksichtigen kann. Es sollte aber genauso klar sein, dass eine systematische Ausblendung einzelner Bereiche schwerlich dem Geschehen gerecht werden kann.3 Neben der Konfrontation mit der Komplexität des Geschehens machen professionelle Helfer die Erfahrung, dass die Abläufe und Veränderungen sowohl grundsätzlich als auch in Form von Wirkungen auf ihre Vorgehensweisen typischerweise nichtlinear verlaufen. Stellen wir uns die Aufgabe vor, Additionen vierstelliger Zahlen (z. B. in der Buchhaltung) durchzuführen: Sofern man in zehn Minuten fünfzig Additionen schafft, kann man davon ausgehen, dass man grob nach einer Minute fünf, nach zwei Minuten zehn und nach sieben Minuten 35 erledigt hat. Bei der Lösung eines komplizierten Problems, bei dem einem nach zehn Minuten plötzlich – mit einem inneren »Aha!« – die Lösung einfällt, war es ganz sicher nicht so, dass nach einer Minute 1/10, nach zwei Minuten 2/10 und nach sieben Minuten 7/10 der Lösung »im Kopf« war. Vielmehr war lange Zeit nichts bzw. spannungsreiche Verwirrung, aus der dann plötzlich die Lösung deutlich wurde (Weiteres in Abschnitt 3.6.5). Weder Therapien, Beratung oder Coaching noch sonstige Entwicklungen im menschlichen Leben verlaufen linear wie die Abarbeitung der Rechenaufgaben, sondern meist nicht linear wie die Problemlösung. Das oben anhand von zwei Phänomenen – »Magersucht« und »Mobbing« – nur grob skizzierte komplexe Geschehen in Psychotherapie, Beratung und Coaching erfordert noch eine weitere Differenzierung. Es geht um die Perspektive, die wir einnehmen, wenn wir »die Welt« beschreiben, im Kontrast zur Perspektive, die wir einnehmen, wenn wir »die Welt« unmittelbar erleben.4 Wie immer 3
Die Personzentrierte Systemtheorie war sich daher immer schon mit Klaus Grawe (2000, 2004) in dem Anliegen einig, ein schulenübergreifendes Modell von Psychotherapie zu entwickeln. Allerdings war es nie meine Idee, daraus einen eigenen Ansatz für die Praxis zu machen, sondern das reiche Spektrum der Praxis mit einem solchen Modell besser nutzen zu können. 4 Wie noch in Kapitel 5.5 herausgearbeitet wird, ist das freilich nicht einfach trennbar, wie das auf den ersten Blick erscheint und auch in der kontrastierenden Debatte um die sogenannte »ErstePerson-Perspektive« und die »Dritte-Person-Perspektive« in der Psychotherapie unterstellt wird.
Zum Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie
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wir auch im obigen Beispiel das Geschehen »objektiv« beschreiben, das mit der »Magersucht« zu tun hat: Dies ist ein deutlich anderer Blickwinkel als das »subjektive« Erleben der Patientin, »magersüchtig« zu sein oder sich von der Mutter bevormundet zu fühlen. Das wird schon daran deutlich, dass ein Arzt zwar auf Gewichtstabellen und objektive Körperbefunde als Zeichen ihrer »Magersucht« verweisen kann – trotzdem fühlt und sieht sich die Patientin als »zu dick« und nimmt dafür ihr wahrgenommenes Spiegelbild und inneres Körperschema ebenfalls als Zeichen. Analog gilt dies für das innere, »subjektive« Erleben des »Gemobbten« im Unterschied zu allen »objektiven« Beschreibungen. Was er als Zeichen für »Missachtung« und »Mobbing« erlebt, ist für die Kollegen vielleicht ein Zeichen für übergroße »Empfindlichkeit«, »Realitätsverlust« oder mangelnde Einsicht in »Notwendigkeiten« des Betriebsablaufes. Für den »objektiven« Beobachter von außen schließlich mag alles ein Zeichen für fehlende »Kohärenz« im Team und mangelnde »Führungskompetenz« des Teamleiters sein. Die verwendete Formulierung »Zeichen für« macht deutlich, dass wir »Magersucht«, »Dicksein«, »Mobbing«, »Missachtung« etc. gar nicht direkt erfassen können, sondern unseren Wahrnehmungen bestimmte Bedeutungen zuweisen, die dann als »Zeichen für« etwas stehen. Auch die scheinbar »objektiven« Gewichtsdaten des Arztes sind für ihn »Zeichen für Magersucht«, für die Patientin dagegen bedeutungslos oder ein »Zeichen für medizinische Kontrolle«. Unter dieser Sichtweise rückt der Mensch als Subjekt ins Zentrum der Betrachtungen, denn er ist es, der Bedeutungen zuteilt – auch wenn diese u. a. durch die intersubjektiven Diskurse unserer Lebenswelt gegenseitig abgestimmt und keineswegs beliebig sind. Gleichwohl zeigt sich am Beispiel der »Magersucht« oder des »Mobbings«, wie wenig die zugeteilten Bedeutungen übereinstimmen und wie hoch der Anteil subjektiven Erlebens ist. Die Betonung, dass Lebewesen dem Geschehen in ihrer Welt mithilfe von Zeichen Bedeutung zuweisen, ist besonders eine Sichtweise der sogenannten »Biosemiotik« (von bio = Leben und Semiotik = Lehre von den Zeichen/-prozessen).5
5 Es sei aus Kapitel 2 schon vorweggenommen, dass die Biosemiotik grundsätzlich für Lebewesen deren Subjektivität betont, mit der sie in ihrer Umwelt existieren. Indem diese Welt der Zeichen für den Menschen durch seine neuronale Ausstattung und intersubjektiven Vereinbarungen zu einer Welt der Symbole erweitert wird – was die »Umwelt« zu einer »Lebenswelt« macht (was Husserl 1936 ausgearbeitet hat: Husserl, 1936/2007) –, finden wir die Verbindung von körperlichen und kulturellen Prozessaspekten, die auch für die Personzentrierte Systemtheorie wichtig ist, ebenso in der Biosemiotik.
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Einführung in Grundfragen der Personzentrierten Systemtheorie
Will man das komplexe Geschehen in Psychotherapie, Beratung und Coaching besser verstehbar und durchschaubar machen, so muss man die skizzierten drei zentralen Aspekte hinreichend berücksichtigen: 1. die vier Prozessebenen in ihren Interaktionen zur Stabilisierung bzw. zur Veränderung von Symptomen bzw. Problemen, 2. den typisch nichtlinearen Verlauf von Entwicklungen, 3. die Komplementarität von »subjektiven« und »objektiven« Perspektiven. Ein dafür schlüssiges und umfassendes Konzept zur Verfügung zu stellen, ist das Hauptanliegen der Personzentrierten Systemtheorie. Gerade der zuletzt genannte, 3. Aspekt hat dazu beigetragen, dass dieses Buch »Subjekt und Lebenswelt« betitelt wurde. Im Kontrast zur vorherrschend naiv-realistischen, vermeintlich »objektiv« richtigen Erfassung und Beschreibung des Geschehens im bio-psycho-sozialen Bereich wird hier versucht, gerade auch der Perspektive des Menschen als Subjekt Rechnung zu tragen. Dazu gehört auch, die biosemiotische Sicht zu berücksichtigen – wo immer dies möglich und angesagt erscheint. Diese biosemiotische Sicht wird in Kapitel 2 ausführlich erläutert und besonders in Kapitel 5 weiter ausgeführt. Dazwischen liegen zwei Kapitel, in denen die grundlegenden systemischen Prinzipien (Kapitel 3) und deren Bedeutung für die vier Prozessebenen (Kapitel 4) dargestellt werden. Schließlich wird in Kapitel 6 exemplarisch diskutiert, wo diese Konzepte im Rahmen von Praxis eine Rolle spielen. In der Komplementarität aus subjektiver und objektiver Sichtweise betont somit der Titel »Subjekt und Lebenswelt« die subjektive Perspektive; unter einer objektiven Perspektive würde man von »Person und Kultur/Gesellschaft« sprechen. Manche Leser lieben es, möglichst zu Beginn zumindest eine kurze explizite Definition der Hauptbegrifflichkeit zu finden – hier also von »Personzentrierter Systemtheorie«. Obwohl beide Teilbegriffe später noch ausführlich erläutert werden – »Person« in Unterkapitel 5.5 und »Systemtheorie« in 3.2 – soll diesem Bedürfnis mit einer kurzen Kennzeichnung nachgekommen werden. Diese ist notwendigerweise sehr kompakt und setzt die Kenntnis einiger Termini und Konzepte voraus (weshalb man bei Verständnisschwierigkeiten diese Definitionen zunächst gerne überspringen darf).
Zum Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie
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Definition Personzentrierte Systemtheorie Mit dem ersten Begriffsteil »Person« betont die Personzentrierte Systemtheorie ihre humanistische Perspektive auf den Menschen, der als »Person« immer nur und immer schon im Zusammenwirken des Individuums mit seiner sozialen Mitwelt in einem Kontext evolutionärer, bio-psycho-sozialer und soziogentischkultureller Entwicklungsdynamik gesehen werden kann und muss. Zentrale Aspekte wie Sinn, Bedeutung oder Kohärenz finden auf der Ebene personaler Prozesse statt – auch wenn diese ganz erheblich durch soziale Prozesse in ihrer biografischen und historischen Dynamik beeinflusst werden. Mit dem zweiten Begriffsteil »Systemtheorie« verweist die Personzentrierte Systemtheorie darauf, dass die Beschreibung und Erklärung dieser hochkomplexen Interaktion vor allem Prinzipien folgt, wie sie – ausgehend von der Gestaltpsychologie der Berliner Schule vor rund hundert Jahren – heute für die interdisziplinäre Systemtheorie6 typisch ist: Im Gegensatz zu klassischen Ursache-Wirkungs-Modellen, die auf unabhängigen versus abhängigen Variablen, linearer Kausalität und instruktivem Interventionismus durch externe Ordnungen beruhen, geht es hier um vernetzte Variablen, die selbstorganisiert Strukturen bilden und verändern, wobei nichtlineare Entwicklungssprünge typisch sind. Im Zentrum steht die Förderung inhärenter Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, indem die Bedingungen verändert werden, welche die leidvollen Strukturen stabilisiert haben.
6 Gemeint ist damit immer das von Hermann Haken (1992) initiierte Programm interdisziplinärer Systemtheorie unter dem Namen »Synergetik«, zu dem inzwischen weit über 5.000 Publikationen aus zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen und Anwendungsbereichen vorliegen.
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Einführung in Grundfragen der Personzentrierten Systemtheorie
1.2 Die Vierfalt der Verstehensperspektiven In diesem Unterkapitel soll die Wichtigkeit der Berücksichtigung aller vier Prozessebenen der Personzentrierten Systemtheorie weiter erläutert werden. Beginnen wir dazu mit drei fiktiven, aber prototypischen Vignetten, wie sie typischerweise in Therapie (A), Beratung (B) und Coaching (C) zu finden sind: Fallvignette A Bettina (7) wird von ihrer Mutter »wegen Angst« in der psychotherapeutischen Ambulanz vorgestellt: Bettina geht seit drei Monaten zur Schule. Sie fühlt sich zunehmend unwohl und beginnt inzwischen schon auf dem Schulweg, auf dem sie von ihrer Mutter begleitet wird, zu zittern – und zwar so stark, dass die Mutter mit ihr gelegentlich umkehren muss. Der Arzt habe vor einigen Wochen bereits »Oxazepam«7 verschrieben, aber es sei nicht wirklich besser geworden, sagt die Mutter. B Ein Elternpaar kommt mit ihrem Sohn Julian (12) in die Beratungsstelle. Grund ist, nach Aussage des Vaters, die »Verhaltensstörung« von Julian. Dauernd stelle er irgendetwas an, ärgere permanent seine Schwester (9), und auch der Klassenlehrer beschwert sich, dass Julian als »Klassenclown« zunehmend auffalle. C Manfred (32) wendet sich an einen Coach, weil er sich »nahe an einem ›Burnout‹ fühle«. Seit 15 Monaten sei er im gehobenen Management einer Firma tätig, mit vielen Überstunden, aber eigentlich nicht mehr als bei seiner Firma zuvor. Im Team aber »stimmt es einfach nicht«. Man arbeite dort eher gegeneinander. Wenn überhaupt Gemeinsamkeit da sei, dann eher die anderen gegen ihn – das sei schon fast »Mobbing«. Sein Arzt habe nichts gefunden und tippe auf eine leichte Depression. Allerdings sehe er sich nicht als Fall für eine Psychotherapie: Allein schon, weil er befürchten müsse, dass er dann mit einem hohen Risikozuschlag bei der privaten Rentenversicherung zur Kasse gebeten werde.
Für eine wirklich differenzierte Fallerörterung bräuchte man sicherlich mehr Information, als in diesen kurzen Vignetten skizziert wird. Dass daher Fall 1 7 Wirkstoff, der unter diversen Handelsnamen als Arznei u. a. gegen Ängste und Depression verschrieben wird.
Die Vierfalt der Verstehensperspektiven
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der Psychotherapie, Fall 2 der Beratung und Fall 3 dem Coaching zugeordnet wird, ist ein wenig willkürlich – dies entspricht aber durchaus den Überlappungen der Berufsfelder, die sich bio-psycho-sozialen Problemen widmen. Alle drei Vignetten könnte man einerseits so um Symptome bereichern, dass eine ICD-Diagnose »Psychotherapie« indiziert wäre. Andererseits könnte in allen drei »Fällen« auch (zumindest zunächst) eine Beratungsstelle aufgesucht werden. »Coaching« bleibt allerdings für Vignette 3 vorbehalten, weil dieser Begriff meist auf berufliche Kontexte bezogen wird und beispielsweise die Arbeit mit Kindern recht untypisch für Coaching wäre.8 Für die folgende Diskussion kommt es allerdings nicht darauf an, in welchem Ausmaß sich Psychotherapeuten, Berater und Coaches vor allem durch ihre spezifische Ausbildung und Stellung im professionell und institutionell strukturierten psychosozialen Bereich unterscheiden. Im Gegenteil: Es geht darum, zu zeigen, dass jeweils in allen drei Bereichen unterschiedliche Perspektiven zum Verständnis des Geschehens herangezogen werden können. Obwohl je nach genauerer Fragestellung und Präzisionsgrad der Analyse recht viele unterschiedliche Perspektiven dienlich sein können (Kriz, 2010c), werden in diesem Buch immer wieder vier zentrale Prozessebenen hervorgehoben: die psychische Ebene (1.), die interpersonelle Ebene (2.), die beide typischerweise in die Arbeit einbezogen werden. Doch diese sind, wie ausführlich gezeigt werden wird, einerseits in (3.). organismische bzw. körperliche und andererseits (4.) in makrosoziale bzw. kulturelle Prozesse eingebettet. Da es hier zunächst um eine einführende Darstellung geht, werden die Perspektiven zur Verdeutlichung mit Mehrfachbegriffen belegt. Damit soll auch eine unangemessene begriffliche Überpräzisierung vermieden werden, d. h. die Fixierung auf einen »richtigen« Begriff in einer noch keineswegs trennscharfen kognitiven und diskursiven Landschaft. 1.2.1 Der individualistisch-psychodynamisch-humanistische Fokus Unter einer solchen Perspektive würde man besonders darauf schauen, ob und wo zwischen unterschiedlichen Motiven, Wünschen und Bedürfnissen bedeutsame Konflikte bestehen. Deren Ursprung wird meist in der (frühen) Biografie vermutet, wo der Mensch unterschiedliche Entwicklungsschritte zur Anpassung an die Anforderungsstruktur seiner sozialen und materiellen Umwelt leisten muss. 8 Eine Ausnahme ist der Begriff »Elterncoaching« (Omer u. von Schlippe, 2016), bei dem es sich aber eigentlich auch eher um Beratung handelt und man den Begriff »Coaching« verwendet, um die Vorstellung zu umgehen, dass jemand der Beratung (oder gar Therapie) bedürfe.
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Einführung in Grundfragen der Personzentrierten Systemtheorie
Fallvignette Dies könnte – als jeweils ein Aspekt und sehr verkürzt skizziert – bei Bettina im Fallbeispiel das Bedürfnis sein, noch umsorgt und behütet zu werden, aber gleichzeitig der Mutter darin gefallen zu wollen, schon ein großes Mädchen zu sein, das autonom zur Schule geht, und »die Zähne zusammenbeißen« kann, um mit dem Problem fertigzuwerden. Bei Julian könnte es der Wunsch nach Aufmerksamkeit sein und die Idee, etwas Besonderes sein zu wollen, ohne die entsprechenden Leistungen bringen zu wollen oder zu können. Und bei Manfred könnte es vor allem die erfahrungsbedingte »Leid«-Idee sein, nur dann gemocht zu werden, wenn er sich im Beruf und auch sonst für andere aufopfert – egal wie ausgepowert er selbst ist. Die fehlende Anerkennung im neuen Job lässt ihn mehr des Gleichen tun, wobei er seine Überforderung und Erschöpfung ignoriert oder zumindest herunterspielt. In der detaillierten therapeutisch-beraterischen Arbeit würden sich dann gegebenenfalls jeweils weitere und differenziertere Aspekte ergeben, aufgrund derer die Berater entsprechend ihren schulenspezifischen Konzepten helfende Kompetenzen entfalten.
Doch selbst in dieser eher oberflächlichen Kurzform wird deutlich, dass auch ganz andere Begründungen möglich wären, als nur auf die Person und ihre inneren Konflikte zu schauen. Denn jedes menschliche »Individuum« ist mit all seinen Strukturen des Wahrnehmens, Erlebens und Verhaltens stets auch in soziale Interaktionen eingebettet. Diese können, im Guten, sowohl die Veränderung unpassender (Er-)Lebensstrukturen und Bewältigung eines anstehenden Entwicklungsschrittes unterstützen als auch, im Schlechten, zu deren Aufrechterhaltung beitragen. 1.2.2 Der interpersonell-systemdynamische Fokus Blickt man aus dieser Perspektive auf die drei Vignetten, so könnte man – wieder als jeweils nur ein Aspekt und sehr verkürzt – skizzieren: Fallvignette Bei Bettina wird das Problem dadurch stabilisiert, dass die Mutter sie quasi damit belohnt, indem sie mit ihr umkehrt. Bettina erfährt so die Fürsorge der Mutter, spürt vielleicht auch ihre Macht in dieser Situation und braucht sich der Herausforderung durch die Schule nicht zu stellen.
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Bei Julian könnte es sein, dass seine Auffälligkeiten oft Gegenstand gemeinsamer Gespräche über Maßnahmen und gegebenenfalls sogar Bestrafungen zwischen den Eltern sind, während diese sonst einen subtilen Ehekrieg führen. Ärger mit den Eltern und vielleicht gar Strafen sind zwar für Julian schlimm, aber noch schlimmer ist es, den zermürbenden Streit zwischen den Eltern hilflos miterleben zu müssen. Endlich kann er durch sein Verhalten bei diesen etwas Gemeinsames erleben und sehen, wie sie an einem Strang ziehen. Vielleicht wird auch Julians Befürchtung, dass die Familie auseinanderfallen könnte, durch diese Gemeinsamkeit etwas gedämpft. Manfred schließlich wurde sicherlich für sein »aufopferndes« Verhalten bisher von vielen anderen Menschen beachtet, gelobt und gemocht: Jemand, der stets nett, hilfsbereit und ohne große eigene Ansprüche daherkommt, ist für viele ein angenehmer und »praktischer« Mitmensch. Bisher konnte er dies auch für seine Karriere nutzen. In der neuen Firma bzw. im aktuellen Team aber herrschen andere Strukturen vor. Vielleicht ist einigen auch die als merkwürdig empfundene Betriebsamkeit von Manfred suspekt und sie fühlen sich selbst in ihren bisherigen Arbeitsabläufen bedroht. Statt also Anerkennung zu zollen, reagieren sie unwirsch und tauschen sich über das merkwürdige Verhalten aus (was Manfred als »Fast-Mobbing« beschreibt). Doch obwohl Manfred in den aktuellen Arbeitsbeziehungen kaum noch durch Lob und Anerkennung in seinem »aufopfernden« Verhalten bekräftigt wird, ist es in solchen Konstellationen nicht selten, dass er sich nun noch mehr anstrengt, die Menschen durch besondere Leistungen und besonderes Zuvorkommen gewinnen zu wollen: Denn dies ist das einzige Muster, das er kennt. Er greift zur ebenso bekannten wie erfolglosen Strategie: »mehr des Gleichen«. Dies aber vergrößert die eigene Überforderung und führt, bei gleichzeitiger Nichtanerkennung durch die anderen, zum Grundmuster eines Burn-out: chronisch überforderter Verschleiß eigener Ressourcen.
Man kann wohl davon ausgehen, dass die meisten Therapeuten, Berater und Coaches mindestens diese beiden Prozessebenen berücksichtigen und dass ihnen klar ist, dass man die eine Perspektive nicht gegen die andere ausspielen kann: Egal was sich noch an detaillierten Informationen ergeben würde, die Prozesse auf beiden Ebenen, der psychischen und der interpersonellen, spielen stets zusammen. Und selbst in der skizzenhaften Kürze der Vignetten wird deutlich, dass eine Veränderung der intrapersonalen Prozesse dadurch erschwert werden kann, dass interpersonelle Prozesse für eine Stabilisierung sorgen. Dies gilt freilich auch umgekehrt: Das für Manfred typisch gewordene Verhalten, mit überschwänglicher Betriebsamkeit und fast übergriffiger Fürsorge Beachtung
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und Anerkennung gewinnen zu wollen, wird die Interaktionsdynamik in diesem Team nicht abschwächen, sondern eher stabilisieren. »Mehr des Gleichen« ist eine typische »Leid-Idee«, bei der ehemals erfolgreiche Vorgehensweisen auch dann beibehalten werden, wenn sich die Bedingungen geändert haben. Sie sind nun zwar nicht oder weit weniger erfolgreich, aber statt nach neuen Wegen zu suchen, wird der gleiche Weg nur noch intensiver verfolgt. Die Gründe für eine solche Überstabilisierung werden wir im Abschnitt 4.2.2 genauer untersuchen. Auch Julian würde vielleicht nur noch mehr Energie in seine »Verhaltensstörung« stecken, wenn die Aufmerksamkeit der Eltern nachließe, und Bettina würde sich nun ohne die Mutter vermutlich gar nicht mehr auf den Schulweg begeben. Geht man nun der Frage nach, welche weiteren Einflüsse auf die psychischen und interpersonellen Prozesse stabilisierend oder aber verändernd wirken könnten, so liegt es nahe, zumindest noch zwei weitere Prozessebenen mitzuberücksichtigen: Zum einen die Ebene der körperlichen Prozesse, zum anderen solche (makro)sozialen Prozesse, welche über die (Mikro-)Prozesse in den Face-to-Face erfahrbaren Interaktionssystemen (Familie, aber auch Firma, Schule, Sportgruppe) hinausgehen. Diese Ebene der makrosozialen Prozesse bezeichnen wir gemeinhin mit Gesellschaft und Kultur. 1.2.3 Der organismisch-körperliche Fokus Bettinas Zittern, Julians Hyperaktivität und Manfreds »Abgeschlagenheit« verweisen bereits bei oberflächlicher Betrachtung auf Prozesse der körperlichen Ebene. Statt von »Körper« werden wir allerdings meist lieber von »Organismus« sprechen, weil in der verheerenden Auswirkung9 der Philosophie von René Descartes (1596–1650) der menschliche »Körper« auch in Medizin und Psychologie allzu lange und zu einseitig als ein mechanistisch funktionierender Apparat aus materiellen Bestandteilen verstanden wurde. Diesem mechanistischen Verständnis von »Körper« wurde bereits im 17. Jahrhundert durch Georg Ernst Stahl (1659–1743) das Konzept des »Organismus« entgegengestellt: Mit Schriften (Stahl, 1695–1714, dt. 1961) wie »Über die Bedeutung des synergischen Prinzips für die Heilkunde« (1695) oder »Über den Unterschied zwischen 9 In Kriz (1997/2011, S. 68 f.) wird ausgeführt, wie an der cartesianischen Schule von Port-Royal Tiere nicht nur mit Maschinen verglichen, sondern letztlich als nichts anderes als Maschinen behandelt wurden und daher an ihren vier Pfoten auf Bretter genagelt wurden, um sie bei lebendigem Leibe zu sezieren. Ihre Schmerzensschreie verstanden die Forscher lediglich als »Lärm von Federn in Uhrwerken«. Darüber hinaus machte man sich auch noch über jene lustig, die »unwissenschaftlich« den Tieren Schmerzen unterstellten.
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Organismus und Mechanismus« (1714) betonte er nicht nur ein systemisches Zusammenwirken der Organe im »Organismus«, sondern auch die Wechselwirkung zwischen psychischen und somatischen Prozessen. Stahl kann damit durchaus als ein sehr früher Psychosomatiker gesehen werden.10 Fallvignette Angesichts der oben angeführten Aspekte auf der psychischen und besonders auf der interpersonellen Prozessebene lassen sich die Prozesse auf der organismischen Ebene – besonders wenn sie von allen Beteiligten wahrgenommenen werden – auch unter dem Aspekt der »Funktionalität« im Gesamtgeschehen betrachten: »Zittern«, »Hyperaktivität« und »Abgeschlagenheit« sind ja nicht nur unmittelbarer Ausdruck innerorganismischer Vorgänge, sondern sie dienen gleichzeitig als Zeichen und Botschaften an andere (und in der Reflexion: auch jeweils an sich selbst): »Schaut her, so hilflos bin ich!«, sagt Bettina mit ihrem Körper. Manfreds Erschöpfung signalisiert gleichzeitig: »So sehr habe ich mich für euch aufgeopfert!« Und Julians »Verhaltensstörung« und »Hyperaktivität« weisen darauf hin: »Nehmt mich wichtig, mit meinem Verhalten, und nicht nur euren Streit, der alles zu dominieren und zu vereinnahmen scheint.«
Dabei sind die Anteile von »rein« organismischem Geschehen einerseits und von Appell an andere sowie an sich selbst andererseits kaum zu trennen. Jeder kennt wohl, wie in unserer Kultur akzeptiert wird, wenn jemand »wirklich« körperlich erkrankt ist – z. B. an Grippe oder schweren Erkältung – und deswegen ein paar Tage zu Hause bleibt. Während hingegen eine Begründung »Ich muss jetzt mal ein paar Tage zu Hause bleiben, weil ich mich überarbeitet fühle und mein Immunsystem wieder auf Trab bringen will, bevor ich mir eine Grippe einfange« deutlich weniger bis gar nicht auf Verständnis stößt. Also gehen viele auch dann zum Arzt und lassen sich krankschreiben, wenn es unter rein somatischen Gründen nicht unbedingt notwendig wäre. Und da es ja nicht um (»subjektive«) Befindlichkeiten, sondern um (»objektive«) Befunde geht, wird man sich auf solche konzentrieren. Dies führt nicht selten dazu, dass man diese dann selbst für bare Münze nimmt. Man gibt sich nicht nur gegenüber anderen als krank aus, sondern fühlt sich gleichzeitig auch selbst so – kränker jedenfalls, als man sich bei der glei10 Die Berechtigung einer solchen Sicht auf das Werk von Stahl, aber auch eine kritische Herausarbeitung der Unterschiede gegenüber heutigen psychosomatischen Vorstellungen findet sich in Bauer (2000).
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chen »somatischen« Konstellation dann fühlen würde, wenn man erfreuliche Tätigkeiten oder einen subjektiv sehr wichtigen Projektabschluss in Aussicht hat. Auf der anderen Seite kann man gerade auf der organismischen Prozessebene nicht nur die Vernetzung zu Aspekten auf anderen Ebenen gut beobachten, sondern auch deren Eigendynamik: Fühlt sich jemand erst einmal körperlich stark überlastet, geschwächt und beeinträchtigt, so ist durchaus die Tendenz vorhanden, sich »gehen zu lassen«. Gerade bei älteren Menschen kommt es beispielsweise dann nicht selten vor, dass sie ihren Körper zu wenig fordern – wodurch die Muskeln weiter erschlaffen. Das kann so weit gehen, dass sie sich nur noch im Lehnstuhl, Rollstuhl oder gar im Bett aufhalten – obwohl ihnen eigentlich nichts weiter fehlt als eben eine körperlich aufbauende Beanspruchung. Ist die Muskulatur aber erst einmal so massiv geschwächt und abgebaut, so reicht eben nicht mehr die einfache Entscheidung: »Ab morgen will ich wieder laufen.« Solche körperlichen Eigendynamiken finden wir beispielsweise auch bei manchen Substanzabhängigkeiten, die nicht einfach und schlagartig veränderbar sind, selbst wenn die Einsicht in der Beratung, dies ändern zu wollen, sich gegebenenfalls sehr schnell einstellen mag. Als umfassenderes Beispiel sei die Manifestation biografischer Erfahrung in der kindlichen Entwicklung genannt: So kann das Verbot von starken Gefühlsäußerungen – oder deren Nichtverstehen und Entwertung – dazu führen, dass der Atem flach gehalten und dafür die entsprechende Muskulatur im Brustbereich besonders beansprucht wird. Handelt es sich nicht nur um wenige Situationen, sondern um eine typische Struktur in den Entwicklungsbedingungen des Kindes, so wird es ebenso typisch diese Muskulatur beanspruchen und es kommt zu einer chronischen Ausbildung von dem, was Bioenergetiker seit Reich und Lowen als »muskuläre Panzer« bezeichnet haben. Diese »Panzer« aber halten wiederum auch dann noch den Atem flach und behindern ein intensives emotionales Erleben, wenn sich die eigentliche Konstellation längst verändert und das Kind erwachsen geworden ist und das Elternhaus verlassen hat. Auch hier können somit körperliche Eigendynamiken in ganz andere zeitliche Interaktionszusammenhänge hineinwirken als jene, unter denen sie zunächst entstanden sind. Die Beachtung solcher Eigendynamiken auf der Ebene des Organismus ist deshalb wichtig, weil eine Veränderung der psychischen und der interpersonellen Prozesse keineswegs immer zeitgleich mit einer Veränderung der organismischen Prozesse einhergeht. Vielmehr können organismische Veränderungen weit beschwerlicher sein und langsamer vonstattengehen als eine Veränderung auf anderen Prozessebenen – auch dann, wenn diese eng miteinander vernetzt sind. Das gilt auch für die drei Fallvignetten: Zittern, Hyperaktivität und Abgeschlagenheit werden nicht gleich verschwinden (besonders, wenn sie schon eine
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Zeit lang Teil des körperlichen Geschehens waren) – auch wenn sich die Bedingungen, unter denen sich diese Prozessaspekte entwickelt haben und aufrechterhalten werden, geändert haben. Diese zunächst wenigen Hinweise lassen schon erahnen, dass die organismische Prozessebene eine weit größere Bedeutung hat, als ihr üblicherweise in Psychotherapie, Beratung und Coaching eingeräumt wird. Dort liegt der Fokus immer noch vorwiegend auf psychischen und interpersonellen Prozessen. Im folgenden Kapitel wird darüber hinaus die organismische Prozessebene in einen noch weit größeren Rahmen gestellt. 1.2.4 Der gesellschaftlich-kulturelle Fokus Es war zweifellos ein Verdienst der familientherapeutischen und (später) systemischen Ansätze ab Mitte des 20. Jahrhunderts, die bis dato fast ausschließlich auf die einzelne Person fokussierten psychotherapeutischen Ansätze um die interpersonelle Perspektive bereichert zu haben. Familiäre – und allgemeiner: interpersonelle – Regeln und Muster können Prozesse auf der psychischen Ebene stabilisieren und werden wiederum gegebenenfalls von diesen selbst aufrechterhalten. Zu Recht wird daher gerade aus systemischer Sicht der interpersonellen Dynamik ein hoher Stellenwert in Psychotherapie, Beratung und Coaching eingeräumt. Doch so wichtig diese interpersonelle Prozessebene auch ist: Die Bedeutungsstrukturen, Verstehensweisen, Welt- und Menschenbilder, welche die interpersonellen Prozesse durchziehen, stehen in einem weit umfassenderen Kontext. Genauso wie die evolutionär mitgebrachten Strukturierungsprinzipien des menschlichen Organismus sind auch diese makroskopischen, übergreifenden Sinnstrukturen längst vorgegeben, wenn ein Mensch die Lebensbühne betritt, eine Partnerschaft eingeht bzw. eine Familie gründet oder wenn Organisationen und Unternehmen entstehen bzw. sich umstrukturieren. Nicht nur mikrosoziale sondern auch makrosoziale Regeln und Muster beeinflussen menschliches Leben in ganz erheblichem Maße. Fallvignette So kann die Sorge von Bettinas Mutter auch damit zu tun haben, dass ihr bereits von ihren Eltern (also Bettinas Großeltern) vermittelt wurde, wie zentral es ist, sein Kind zu beschützen: Diese hatten nämlich in den Wirren des Krieges und der anschließenden Flucht zwei Kinder verloren. Nur das dritte, Bettinas Mutter, konnten sie heil durchbringen. Solche intergenerationellen Zusammenhänge
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werden zwar gewöhnlich von den familientherapeutischen Ansätzen mitthematisiert und könnten daher auf den ersten Blick als eine Erweiterung der interpersonellen Perspektive verstanden werden. Doch auf den zweiten Blick lässt sich nicht verkennen, dass diese Leitidee, den Schutz des Kindes ins Zentrum des Handelns zu stellen, nicht allein in dieser Mehrgenerationenfamilie entstanden ist. Vielmehr können wir davon ausgehen, dass es sich auch um strukturelle Antworten auf die Herausforderungen von Krieg, Vertreibung, Naziherrschaft etc. handelt, die in den Überlebensgeschichten eines ganzen Kontinents (Europa) auf je eigene Weise in den Sinnstrukturen vieler Menschen und den Folgegenerationen verankert sind. In Form von Geschichten, Erziehungsprinzipien, Geboten und Verboten, Wertvorstellungen etc. beeinflussen diese die aktuellen Lebensprozesse der Akteure. Auch dass Julians Eltern besonders auf die Beschwerden des Lehrers reagieren, dürfte mit der Frage zusammenhängen, welchen Stellenweit »Schule«, »Leistung«, »Ausbildung« und »Lebensweg« bei ihnen und in unserer Kultur haben. Ebenso sind ihre inneren Bilder davon, was Eltern als Erziehungsberechtigte (und -verpflichtete) zu tun haben, weder allein individuell noch ausschließlich mikrosozial interpersonell entstanden, sondern auch über geteilte Vorstellungen und Werte unserer Kultur. Das wird besonders an der Interpretation vielfältig komplexer Situationen als »Verhaltensstörung von Julian« deutlich (vgl. Abschnitt 3.5.3). Gleich, ob eine laienhafte oder gegebenenfalls professionelle Kategorisierung (etwa als »ADHS«) erfolgt: Es handelt sich stets um Zuschreibungen aus makrosozialen Diskursen – auch wenn sie dann mikrosozial (um)gedeutet, angenommen oder verworfen werden. Und so sehr auch Manfreds Hang, sich übermäßig und ohne angemessene Rücksicht auf eigene Überforderung als »nützlich« zu erweisen, durch biografische Erfahrungen und interpersonelle Bekräftigungen gefördert sein mag: Viele der grundliegenden Ideen für eine solche Entwicklung sind durch kulturelle Leit(und Leid)bilder vermittelt. Das zeigt sich nicht nur wiederum am Gebrauch von Begriffen wie »Burn-out« oder »Depression«, sondern auch in der Einstellung zur »Psychotherapie«, in der Abwägung von Handlungsalternativen etc.
Wie stark wir als Menschen bereits auf der organismischen Ebene in die Strukturen der Kultur eingebunden sind, merken wir beispielsweise, wenn wir am Steuer eines Wagens sitzen und mit unserem Bewusstsein ganz in einem intensiven Gespräch mit dem Beifahrer vertieft sind oder einfach nur intensiv über ein Problem nachdenken. Unser Organismus verarbeitet dann nämlich gleichzeitig komplexe Information in Form von Verkehrszeichen, dem Verhalten anderer
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Verkehrsteilnehmer, kleinere Veränderungen der ansonsten bekannten Wegstrecke (z. B. Sperrung einer Straßenseite) etc. – ein Aspekt, auf den wir noch in Abschnitt 4.4.2 genauer zurückkommen werden. Am deutlichsten nehmen wir die Einbettung unserer Lebensprozesse in die Kultur anhand von deren »Werkzeugen« wahr: Die meisten Dinge des täglichen Lebens, die Gesetze und Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders, die massen mediale Durchdringung und kommunikative Vernetzung (Handy, Internet) der Alltagswelt – all dies sind ja Errungenschaften, die im Laufe vieler Generationen hervorgebracht worden sind. Sie werden als Kulturwerkzeuge an die jeweils nachfolgenden Generationen weitergegeben – auch wenn viele stetiger Veränderung in Form von Anpassung an neue Gegebenheiten unterworfen sind. Bei den genannten kulturellen Werkzeugen ist uns zwar gewöhnlich deren Bedeutsamkeit mehr oder minder bewusst, wir haben aber gleichwohl die Vorstellung, dass diese uns in unserem »eigentlichen Menschsein« nur als etwas »Äußeres« gegenüberstehen. Dies ist bei einem anderen Kulturwerkzeug, nämlich der »Sprache«, deutlich anders: Wir können die »Welt«, die anderen Menschen und auch uns selbst nur verstehen, indem wir Sprache verwenden. Natürlich können wir auf organismischer Ebene Empfindungen haben, wahrgenommene Objekte und Situationen als für uns nützlich oder schädlich bewerten. Wir können uns sogar sachgerecht und angemessen in der Umgebung bewegen sowie uns aufgrund von Beziehungen zu anderen sozial verhalten – beispielsweise für diese sorgen, mit ihnen gemeinsam etwas unternehmen oder uns sexuell mit ihnen vereinen. All dies sind Fähigkeiten, zu denen unser Organismus auch ohne jede Sprache in der Lage ist. Und auch sehr viele Tierarten verfügen über weitgehend ähnliche Fähigkeiten. Um aber zu verstehen, welche Empfindungen wir haben – ob also z. B. ein drückendes Gefühl im Magen auf Sättigung, Anspannung oder aber etwas nicht gut Verträgliches hinweist –, benötigen wir sprachliche Bezeichnungen. Ebenso dafür, um anderen zu beschreiben oder zu erklären, wie und warum wir uns in einer bestimmten Umgebung und Situation gerade so verhalten, wie wir das tun. Und dies gilt auch dann, wenn ich selbst derjenige bin, dem ich diese Sachverhalte beschreibend oder erklärend nahebringen will. Sprache benötigen wir auch dafür, wenn wir in unseren sozialen Beziehungen entsprechend den verinnerlichten »Regeln« nicht nur handeln wollen – wie Ameisen in einer Kolonie oder Wölfe beim Jagen im Rudel –, sondern wenn wir uns selbst und/oder anderen dieses Verhalten (und erst recht die Gedanken und Empfindungen dabei) erklären wollen. Es geht bei der Sprache also keineswegs nur um eine Verständigung mit anderen, sondern genauso um ein Verstehen von uns selbst. Sogar für ein Ver-
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stehen unserer intimsten, ureigenen, individuell-subjektiven Empfindungen benötigen wir den kulturellen Werkzeugkasten, den wir »Sprache« nennen – eine wichtige Erkenntnis, auf die wir öfter noch zu sprechen kommen werden (vgl. Unterkapitel 5.5). Beim Kulturwerkzeug »Sprache« handelt es sich keineswegs nur um die grammatische Abfolge von Sprachlauten oder um die semantische Bedeutung von Wörtern oder um deren situativ angemessene Verwendung. Dies ist fraglos wichtig. Aber genauso bedeutsam sind die mit der Sprache »selbstverständlich« vermittelten Bedeutungsbilder, Prinzipien, Regeln, Verstehensweisen, Appelle, Lebens- und Handlungsanweisungen. Doch obwohl diese innerhalb einer bestimmten Kultur typisch sind und zwischen unterschiedlichen Kulturen (und partiell auch zwischen Subkulturen, Familien, Organisationen usw.) stark differieren können, werden sie im Alltag üblicherweise nicht nur nicht hinterfragt, sondern meist auch gar nicht bemerkt. Wenn man die Diskussion der drei Fallvignetten nochmals hinsichtlich der vier zentralen Prozesseben resümiert, so ergibt sich die Zusammenstellung in Tabelle 1. In der obigen Darstellung der vier unterschiedlichen Perspektiven werden zunehmend auch die Interaktionen zwischen den Prozessen auf den unterschiedlichen Ebenen mit herangezogen, diese einzelnen Perspektiven sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Grau hervorgehoben werden die psychische und die interpersonelle Prozessebene, weil diese heutzutage wohl immer in Psychotherapie, Beratung und Coaching berücksichtigt werden. So gesehen bilden die beiden anderen Prozesseben – die somatische und die kulturelle – quasi die kontextuelle Rahmung für die psycho-interpersonellen Prozessaspekte. Es steht außer Frage, dass weder die Vignetten noch gar die herausgearbeiteten Aspekte auf den vier Prozessebenen irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Vielmehr geht es um jeweils exemplarische Verdeutlichungen der unterschiedlichen Perspektiven bzw. Fokusse. Was aber klar werden sollte, ist, dass sich die Prozesse auf den vier Ebenen in komplexer Weise gegenseitig beeinflussen und daher für ein Verständnis der Vorgänge keine dieser Prozessebenen ausgeblendet werden sollte. Wenn man unter diesem Aspekt wichtige Ansätze im psychosozialen Bereich ansieht, so wird deutlich, dass dort im Gegensatz zur Personzentrierten Systemtheorie bestimmte Ebenen vernachlässigt werden. Sowohl der personzentrierte Ansatz von Rogers (1961) als auch der von Stern (2005) arbeiten zwar hervorragend individuelle und interpersonelle Aspekte (besonders die Mutter-KindDyade und deren Bedeutung für die therapeutische Arbeitsbeziehung) heraus, die Einflüsse aus den familiären Strukturen oder gar den kulturellen bzw. ge-
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sellschaftlichen Prozessen sind aber kaum oder gar nicht thematisiert. Andersherum hat die Familientherapie (von Schlippe u. Schweitzer, 2016) zwar die Bedeutsamkeit interpersoneller und familiärer Prozesse sehr detailliert ausgearbeitet – auch bestimmte kulturelle Aspekte sind dabei und werden z. B. über Genogrammarbeit (vgl. Abschnitt 4.3.2) berücksichtigt –, die psychische und organismische Prozessebene ist (mit Ausnahme der »Symptome«) jedoch weitgehend unterbelichtet. Tabelle 1: Perspektiven auf die drei Fallvignetten Fokus
A: Bettina (7)
B: Julian (12)
C: Manfred (32)
Sie wird »wegen Angst« vorgestellt: Sie geht seit drei Monaten zur Schule, fängt aber auf dem Schulweg, begleitet von ihrer Mutter, so stark an zu zittern, dass sie umkehren muss.
Er hat, nach Aussage des Vaters, eine »Verhaltensstörung«. Er stelle dauernd etwas an, ärgert seine Schwester. Auch der Klassenlehrer beschwert sich, dass Julian als »Klassenclown« auffalle.
Er fühle sich »nahe an einem »Burn-out«, mache viele Überstunden, aber im Team »stimmt es einfach nicht«, es sei schon fast »Mobbing«. Sein Arzt tippe auf eine leichte Depression.
somatisch
Zittern, »Angst«, Spannung, Medikation: Oxazepam
Unruhe, Hyperaktivität, Ausagieren von Spannungen Medikation: Ritalin gegen ADHS
Erschöpfung, »Burnout«, keine Schonung (Arztdiagnose: »Depression«)
psychisch
Geborgenheit vs. »für die Mutter groß und stark sein« und die »Zähne zusammenbeißen«
Beachtung und Anerkennung vs. Leistungsfähigkeit/-wille begrenzt, Spannung durch Elternkonflikt
Zuwendung und Anerkennung über die »Leid-Idee«: sich für andere opfern ohne Rücksicht auf eigene Ressourcen
interpersonell
Mutter »belohnt« und verstärkt so das Muster (intergenerationelle Leitidee: Beschütze!)
Eltern zeigen Gemeinsamkeit: entspannende Erfahrung für Julian
jahrelange Bestätigung der »Leid-Idee«, Manfreds Verhalten »suspekt« für andere
kulturell
Narrative zu: Beschützen, (Schul)-Leistung, Mutterrolle, Erziehung etc.
Narrative zu: »Verhaltensstörung«, Leistung, Klassenclown, Zuwendung, Elternschaft etc.
Narrative zu: »sich opfern«, »Burn-out«, »Depression«, Psychotherapie, Manager, Führung, Konkurrenz, Team etc.
2 Leben als Zeichenprozess – die Perspektive der Biosemiotik
Wenn man den Begriff oder gar das Konzept »System« verwenden will, muss man sich gleichzeitig der Frage stellen, was nicht zum System gehören soll, sondern zur »Umgebung«. Als vor gut siebzig Jahren die Familientherapie entstand – was allgemein auch als Beginn der systemischen Therapie gesehen wird –, beantwortete man diese Frage recht »hemdsärmelig«, pragmatisch und praktisch-gegenständlich: Die Umgebung für eine Person – einen »Indexpatienten (IP)« oder »Symptomträger«, wie es hieß – war »die Familie«, bestehend aus den weiteren im Haushalt lebenden Personen. Wesentlich für das Aufkommen von systemischer Therapie war allerdings nicht, dass nun diese weiteren Personen mit in die Therapie einbezogen wurden. Der entscheidende Schritt zu Neuem lag vielmehr darin, dass nun deren Interaktionen ins Zentrum des therapeutischen Interesses rückten. Daher sprach man vom »System Familie«. Was man sich als Umgebung eines solchen Systems vorstellen sollte, wurde zunächst selten und bestenfalls vage thematisiert: Irgendwie war klar, dass Einflüsse von Schule, Nachbarn, Freunden, Arbeitsplatz – und allgemeiner: der Gesellschaft – bedeutsam sind. Aber solche Aspekte, so meinte man, würden dann eben gegebenenfalls als Repräsentationen in den Interaktionen auftauchen. Und obwohl schon in den 1950er Jahren mit Konzepten wie »Selbstwert« (Satir, 1990) den Bedürfnissen der einzelnen Familienmitglieder ein wichtiger Einfluss auf die systemische Interaktion eingeräumt wurde, ging es in den Beschreibungen von »Familie« letztlich um »menschliche Organismen im physikalisch- konkreten Raum« und beschränkte »systemisch« auf soziale Interaktionen.11
11 Ein solches gegenständliches Verständnis des »Systems« »Familie« zog sich mindestens bis in die späten 1970er Jahre hin und hatte seinen Höhepunkt beim sogenannten »Mailänder Team« (Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1977). So wurde eine Familie, die von weit her mit Vater, Mutter, drei Kindern, Bruder der Mutter und der Oma angereist war, unverrichteter Dinge zurückgeschickt, als sich herausstellte, dass im Haus noch ein Opa wohnte, der aber wegen Gebrechlichkeit nicht mitgekommen war.
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Heute bezieht man sich mit dem Begriff »Familie« auf das komplexe, mehr oder minder regelhaft ablaufende Interaktionsgeschehen zwischen den Mitgliedern sowie auf die Muster aus komplexen Bildern, Erwartungen etc. in deren Köpfen. Daher kann man auch »familientherapeutisch« arbeiten, wenn nicht alle Mitglieder physisch anwesend sind (sondern gegebenenfalls sogar nur eine Einzelperson). Klar ist auch, dass sowohl die Interaktionen als auch die inneren Bilder mit körperlichen Prozessen der Personen sowie mit Sinnstrukturen in der Kultur zusammenhängen. Es geht also letztlich wieder um die gegenseitigen Einflüsse zwischen Prozessen auf den vier Ebenen – der somatischen, psychischen, interpersonellen und kulturellen –, die von der Personzentrierten Systemtheorie besonders ins Auge gefasst werden. Wenn man diese gegenseitigen Beeinflussungen konzeptionell schärfer fassen will, stößt man allerdings schnell auf ein zentrales Problem, welches die gesamten Beschreibungen von Psychotherapie, Beratung und Coaching durchzieht, aber oft einfach ignoriert wird – nämlich die Unterscheidung bzw. das Verhältnis zwischen »subjektiver« und »objektiver« Sicht auf die »Welt«. Diese Problematik wird anhand folgender Fragen deutlich. Wenn man die Dynamik eines Elternpaares mit ihrem Kind im Teenageralter verstehen und nachzeichnen will: Geht es da um die Beziehung zwischen diesen Dreien aus der Sicht eines »objektiven« Beobachters (repräsentiert z. B. durch den Therapeuten oder gar durch einen Lehrbuchautor oder jemanden, der eine Anleitung schreibt)? Oder geht es um die »subjektiven« Sichtweisen, jeweils des Teenagers, des Vaters und der Mutter? Im ersten Fall würde man vielleicht eine »anklagende Haltung« der Mutter herausarbeiten oder gar von »Triangulation« (vgl. Abbildung 32 in Abschnitt 4.1.4) sprechen. Im letzten Fall würde man sich auf die direkten und zirkulären Beschreibungen der einzelnen Mitglieder sowie deren Beschreibungen beim Hören der Beschreibungen der anderen beziehen. Das mag für konkrete Arbeit noch angehen, wo es aus systemischer Sicht sogar erwünscht ist, dass die Vielfältigkeit der Verstehensweisen zur Sprache kommt und vielleicht etwas Neues daraus entstehen kann. Doch wen meinen wir, wenn wir über die »Mutter« in diesem Fall sprechen: ihre eigene Sicht, die
Auch die Selbstdefinition der »Systemischen Gesellschaft« und der »Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie und Familientherapie« in ihrem Antrag auf »wissenschaftlichen Anerkennung« an den deutschen »Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie« propagierte noch solche Beschränkung. Denn »Systemische Therapie (ST)« ist dort definiert als »ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen liegt und das zusätzlich zu einem oder mehrerer Patienten (»Indexpatienten«) weitere Mitglieder des für den/die Patienten bedeutsamen sozialen Systems einbezieht und/oder fokussiert ist auf die Interaktion zwischen Familienmitgliedern und deren sozialer Umwelt« (Sydow, Beher u. Retzlaff, 2007, S. 262).
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das Vaters, die des Teenagers oder die des Beobachters? Dies wird noch weit komplizierter, wenn wir über die »Umgebung« dieses Systems reden wollen. Es kommen ja nicht nur vier jeweils subjektive Sichtweisen zusammen – etwa in Bezug auf den »überaus stressigen Arbeitsplatz« des Vaters, der das Familienleben »stark beeinträchtigt« (so würde vielleicht die Beschreibung aus der Beobachterperspektive lauten). Sondern es kommen ganz unterschiedliche Mengen an Bezügen zusammen: Dem Teenager ist vielleicht der genervte Vater ziemlich egal im Vergleich zu den Problemen mit seiner Freundin – wovon aber gegebenenfalls weder die Eltern noch der Beobachter überhaupt etwas wissen. Es sollte klar sein, dass man die »subjektive(n)« Perspektive(n) der Betroffenen nicht einfach gegen die »objektive« Perspektive des Beobachters ausspielen kann – und etwa nur die »subjektive« Sicht für relevant erklärt. Denn dann würde man beispielsweise in der Analyse einer Familiendynamik jene Machtund Ungleichheitsstrukturen ignorieren, die gegebenenfalls zwar großen Einfluss haben, aber von den Betroffenen nicht (explizit) wahrgenommen werden. Dass die Problematik »subjektiver« versus »objektiver« Perspektive keineswegs auf systemische Erörterungen beschränkt ist, zeigt sich an einem Konzept wie »Stress«. Einerseits wird betont, dass es eher ein Phänomen »subjektiven« Empfindens ist – weil die gleichen »objektiven« Gegebenheiten von Menschen recht unterschiedlich erlebt werden. Andererseits versucht man, Bedingungen hinsichtlich »objektiver« »Stressoren« zu erfassen, um diese zu verringern. Ein anderes Beispiel ist die Relation von (»objektiven«) Befunden medizinischer Diagnostik und (»subjektiven«) Befindlichkeiten der Patienten bei vielen komplexen Krankheiten. Beides sind wichtige Perspektiven, sofern man weder die Befindlichkeit des Patienten noch die medizinischen Daten ignorieren will. Allerdings ist der statistische Zusammenhang zwischen beiden oft erstaunlich gering (Kriz, 1994). Ein letztes Beispiel: Was ist im Coaching die relevante Umgebung für die Interaktionsdynamik eines Teams? Sind es die »objektiven« Gegebenheiten des Unternehmens (so wie sie beispielsweise aus Daten und Reports entnommen werden können? Oder sind es jene Bedingungen, die von »objektiven« Beobachtern12 feststellbar sind? Oder aber sind es die »subjektiven« Wahrnehmungen dieser Bedingungen durch die Teammitglieder selbst? Wieder lässt sich auf keine Perspektive verzichten. 12 Dies macht auch deutlich, wie problematisch einseitig es sein kann, sich im Coaching oder Konfliktmanagement (allein) an Darstellungen der Entwicklungsphasen von Unternehmen oder an »Systemmuster« zu orientieren, welche prototypische Regeln im situationsgerechten Umgang mit auftretenden Problemen bieten sollen: Es ist die Perspektive eines »objektiven« Beobachters, die aber notwendig um die Perspektive der Subjekte ergänzt werden muss (Kriz, 2016b).
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Wichtig ist auch, sich klar zu machen, dass die sogenannte »objektive« Perspektive des Beobachters auf letztlich »subjektiven« Wahrnehmungen beruht – allerdings solchen, die zwischen vielen Subjekten explizit verhandelt wurden und daher Intersubjektivität beanspruchen können. Sofern wir allerdings nicht nur diese (abstrakt) intersubjektive Perspektive meinen, sondern einen konkreten Beobachter bzw. Wissenschaftler oder Lehrbuchautor meinen, ist dies wiederum mit (reflektierter) Subjektivität in der Auswahl und Interpretation der vorliegenden Erkenntnisse verbunden. Diese hier zunächst nur einleitend aufgeworfenen problematisierenden Fragen sollen deutlich machen, was ohnedies fast selbstverständlich ist:13 Wir können »die Welt« niemals einfach »objektiv« erkennen und beschreiben, »wie sie ist«, sondern nur so, wie wir sie »subjektiv« mit unseren Sinnen wahrnehmen und handelnd erfassen. Es sind stets Subjekte, die den Phänomenen in ihrer Welt Bedeutungen zuteilen. Das tun sie nicht beliebig, sondern aufgrund ihrer biologischen Ausstattung. Wobei für uns Menschen auch die kognitiv-affektiven Formierungen dieser Erfahrungen sowie die intersubjektive Verständigung vor dem Hintergrund kulturell aufgetürmten und materiell manifestierten Wissens wesentlich sind. Gleichwohl wäre es ebenso vermessen wie naiv, zu unterstellen, dass alle Menschen, welche um Psychotherapie, Beratung und Coaching nachsuchen, »die Welt« so erleben, wie dies die »objektiven« diagnostischen Kategorien, Therapiemanuale oder Kontrollgruppendesigns vorgeben. Da die Personzentrierte Systemtheorie die Komplementarität von »objektiven« und »subjektiven« Perspektiven – je nach Fragestellung und Fokus – berücksichtigt, ist es wichtig, diesen Prozess der Bedeutungszuteilung etwas genauer ins Auge zu fassen. Es ist die Sichtweise der Biosemiotik, die »Leben« grundsätzlich als Zeichenprozesse versteht.
2.1 Die Objektivität der »Subjektivität« – oder: Die Subjektivität der »Objektivität« In Kapitel 1 wurden anhand der Fallvignetten die praktischen Argumente diskutiert, warum für das Verständnis psychosozialer Vorgänge alle vier zentralen Prozessebenen der Personzentrierten Systemtheorie – die somatische, psychische, interpersonelle und kulturelle – zu berücksichtigen sind. Neuere Diskurse 13 Von Kants »Ding an sich« über den Konstruktivismus bis hin zur besonders sorgfältigen Ausarbeitung dieses Problems durch die Berliner Gestaltpsychologie und dem sogenannten »kritischen Realismus«.
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zur Biosemiotik liefern noch weit grundsätzlichere Argumente. Denn diese legen eine untrennbare Verwobenheit von psychischen und interpersonellen Phänomenen mit körperlich-evolutionären sowie kulturell-makrosozialen Prozessen nahe. Auch wenn der Fokus in Therapie und Beratung also berechtigterweise auf den psychischen und interpersonellen Prozessen liegt, gibt die Perspektive der Biosemiotik erst jene umfassendere Rahmung, welche die Dynamik der so zentralen Sinnprozesse psychosozialen Geschehens verständlich macht. Dies soll im Folgenden etwas entfaltet werden. Biosemiotik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die biologische Prozesse mithilfe der Semiotik – also der Wissenschaft von den Zeichen und ihrer Verwendung – untersucht und »Leben« grundsätzlich als biologische Zeichenund Kommunikationsprozesse versteht. So lautet beispielsweise die zentrale Programmatik des »Jakob von Uexküll-Archivs für Umweltforschung und Bio semiotik«, das 2004 an der Universität Hamburg eröffnet wurde, dass »Lebewesen (Menschen eingeschlossen) nicht als beziehungslose Reflexmaschinen zu verstehen sind. Die wundervollen Wechselbeziehungen und Anpassungsleistungen in der Natur können erst sinnvoll gedeutet werden, wenn man Organismen als aktive Subjekte begreift, die nur eine ihren Sinnesleistungen, Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechende Umwelt wahrnehmen und gestalten.« Aus unserem üblichen alltagsweltlichen Verständnis »der Welt« heraus mag es zunächst erstaunlich sein, in Bezug auf Organismen – vielleicht sogar »niedere« Tierarten – von »Subjektivität« zu sprechen. Doch gibt es gute Gründe, die den Biologen und Zoologen Jakob von Uexküll (1864–1944) bereits vor über hundert Jahren in Schriften wie »Umwelt und Innenwelt der Tiere« (von Uexküll, 1909/2014) dazu führten, Subjektivität als einen zentralen Aspekt der Biosemiotik zu entwickeln.14 Dies ist natürlich für das Verständnis menschlicher Lebenswelten noch bedeutsamer. Doch beginnen wir zunächst der Einfachheit halber beim Tierreich. Denn auch der Mensch ist ja fraglos auch als Organismus zu sehen – eine Perspektive, die zwar in Beratung und Therapie nicht ignoriert, aber wohl doch in ihrer Bedeutsamkeit unterschätzt wird. Ein zentraler Grundgedanke der Biosemiotik wird an der – durch von Uexküll eingeführten – Unterscheidung zwischen »Umwelt« und »Umgebung« deutlich: Betrachtet man eine Sommerwiese, so leben die vielen Tiere dort in derselben Umgebung – beispielsweise Ameisen, Blattläuse, Bienen, Spinnen, 14 Obwohl der Begriff »Biosemiotik« selbst erst 1962 von Friedrich S. Rothschild (1899–1995) verwendet und dann vor allem von dem deutschen Psychosomatiker Thure von Uexküll (1908–2004, dem Sohn von Jakob von Uexküll) in Kooperation mit dem amerikanischen Semiotiker Thomas Sebeok (1920–2001) bekannt gemacht wurde.
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einige Frösche und Fische im nahen Tümpel und sogar Fledermäuse15 in der Scheune. Damit sind die objektiven Gegebenheiten dieser Sommerwiese gemeint. Doch was bekommt ein Lebewesen von diesen objektiven Gegebenheiten wahrnehmungsmäßig überhaupt mit? Und auf was kann es mit seinen Organen einwirken? Geht man diesen beiden Fragen nach, so ist klar, dass keines dieser Tiere die Umgebung genau so wahrnimmt, wie ein Tier der jeweils anderen Art. Und jede Art wirkt auch in seiner spezifischen Weise auf die Umgebung ein. Dies wird schon daran deutlich, dass die Bienen ultraviolettes Licht sehen können und Honig produzieren, die Fledermäuse aber Ultraschall hören können. Fische bleiben – abgesehen von kurzen Luftsprüngen – unter Wasser, Frösche quaken und fangen Fliegen – und dies auf ganz andere Weise als die Spinne, die zwischen Zweigen ein Netz spinnt, in dem die Fliegen hängen bleiben. Will man das Verhalten eines dieser Lebewesen verstehen, so sind nicht so sehr die objektiven Gegebenheiten seiner Umgebung relevant, sondern das, was es davon überhaupt merken und auf was es einwirken kann. Dies kennzeichnet jeweils – in der Terminologie von Uexkülls – die Umwelt eines Tieres. Diese ist somit nach ihm bestimmt durch die jeweilige Merkwelt – die Art, wie das Lebewesen mit seinen spezifischen Rezeptoren des Merkorgans die Welt wahrnimmt – und die Wirkwelt – die Art und die Möglichkeiten, wie es mit seinen Effektoren des Wirkorgans in die Welt hineinwirkt. Sein Merken und Wirken bezieht sich damit auch immer nur auf bestimmte Merkmale eines Objekts und nicht auf das »Objekt an sich«. Die unterschiedlichen Tierarten in derselben Umgebung, der Sommerwiese, leben somit in unterschiedlichen Umwelten. Wie Abbildung 1 zeigt, lässt sich diese Beziehung des Lebewesens zu seiner Umwelt über das Merken und Wirken in einer Art Kreislauf darstellen – diesen nannte von Uexküll »Funktionskreis«. Dass Lebewesen in unterschiedlichen Umwelten agieren, bedeutet nicht, dass diese isoliert wären und nichts miteinander zu tun hätten: Manche Tierarten sind sogar in symbiotischer Weise eng aufeinander bezogen – beispielsweise die Ameisen und Blattläuse, die an den Pflanzen auf der obigen Wiese herumkrabbeln: Die Blattläuse benötigen nur die Aminosäuren des Pflanzensaftes, den sie aufsaugen. Zucker und Wasser scheiden sie hingegen in Form von sogenanntem »Honigtau« aus. Dieser ist eine beliebte Nahrung für Ameisen, welche die Blattläuse 15 Eine berühmte und häufig zitierte Abhandlung des Philosophen Thomas Nagel (1974) stellt die Frage ins Zentrum, wie es »ist«, eine Fledermaus zu sein (»What is it like to be a bat?«). Es geht ihm darum, die Grenzen des Reduktionismus von subjektiver Erfahrung auf physiologische oder gar chemisch-physikalische Prozesse aufzuzeigen. Allerdings nimmt weder Nagel noch die davon angestoßene philosophische Debatte irgendwie Bezug auf (den Europäer und »Nichtphilosophen«) von Uexküll, der schon Jahrzehnte zuvor fragte: »Wie würden Sie, Comtesse, die Welt sehen, wenn Sie – sagen wir – als Dachshund geboren wären?« (Gudrun v. Uexküll, 1963, S. 11).
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Abbildung 1: Funktionskreis als Regelkreis auf der vegetativen Stufe (nach von Uexküll, 1920)
mit ihren Fühlern berühren und zur Ausscheidung des Honigtaus stimulieren (»melken«). Dafür verteidigen sie die Blattläuse gegen Fressfeinde, wie Spinnen und Insekten, und greifen diese an, wenn sie sich der Blattlauskolonie nähern. Doch selbst bei solch symbiotischer Bezogenheit zwischen Tieren, die in derselben Umgebung leben, hat jedes seine eigene Umwelt: Wirkwelt und Merkwelt von Ameisen sind von denen der Blattläuse wesentlich unterschieden. Die Grundmuster ihrer Verhaltensweisen haben sich evolutionär herausgebildet und dabei waren die Verhaltensweisen der anderen Art durchaus wechselseitig förderlich – man spricht daher von Ko-Evolution. Aber Ameisen und Blattläuse nehmen weder Gleiches wahr noch wirken sie in gleicher Weise auf die gemeinsame Umgebung ein. Die Betonung der Subjektivität ergibt sich aber nicht nur aus der Unterscheidung von (objektiver) Umgebung und (subjektiver) Umwelt. Vielmehr hat von Uexküll einen zweiten zentralen Aspekt der Subjektivität hervorgehoben: Dass nämlich selbst für Tiere im Rahmen ihrer Merk- und Wirkorgane keineswegs die objektive (physische) Beschaffenheit der Umgebung allein relevant ist, sondern die Bedeutung, welche diese für das Tier hat. Zur Demonstration dieses Aspektes verwendete er u. a. die Symbiose zwischen Einsiedlerkrebsen (Pagurus bernhardus) und Seeanemonen (Anemonia sulcata): Die Anemone setzt sich auf dem Schneckenhaus eines Krebses fest und wird damit von diesem sowohl zu neuen Futterplätzen transportiert als auch mit dessen Beuteresten versorgt. Der Nutzen für den Krebs besteht darin, dass ihn die Anemone vor Fressfeinden schützt. Die Anemone ist somit Teil der Umwelt des Krebses. Allerdings hängt deren Bedeutung für den Krebs nicht nur von seiner biologischen Ausstattung mit Merkorganen ab, sondern auch von seiner »Gestimmtheit«: Findet der Krebs über längere Zeit kein Futter, so nimmt er die Anemone als Futter wahr. Hat der Krebs hingegen längere Zeit keine Anemone
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»zu Gast« und genügend Futter, so nimmt er sie als Hilfe zur Verteidigung wahr. Hat der Krebs sein Schneckenhaus mit der Anemone verloren, so bekommt die Anemone für ihn einen »häuslichen« Charakter, was sich darin äußert, dass er – vergeblich – versucht, ins Innere der Anemone zu gelangen. Nach von Uexküll erhält somit ein und dasselbe Objekt in der Umgebung eine unterschiedliche biologische Bedeutung bzw. »Tönung« in der Umwelt, je nach den Trieben und Bedürfnissen des Lebewesens. Allerdings geht das Spektrum dieser Tönungen und damit der Verhaltensmuster, von denen der Krebs Gebrauch machen kann, auf ein evolutionär vorstrukturiertes Set an Möglichkeiten zurück. Das heißt, »zum Schutz aufpflanzen«, »Fressen«, und »Hineinschlüpfen« sind eben stammesgeschichtlich erworbene Dispositionen, mit denen ein Krebs über seine Merkorgane einerseits und seine Wirkorgane andererseits die Möglichkeiten der Beziehung zu Anemonen in seiner Krebswelt umsetzen kann. Von welchen er davon in einer spezifischen Situation Gebrauch macht – das heißt, welche wahrgenommene Bedeutung die Anemone für ihn in seiner Merkwelt hat und wie er dementsprechend auf die Anemone einwirkt – hängt eben von seinen inneren Zuständen ab (die wiederum von den Gesamtgeschehnissen bestimmt werden). Wie auch immer wir (als Menschen) eine »Anemone« in unseren biologischen Lehr- oder Bestimmungsbüchern »objektiv« beschreibend definieren und erfassen mögen: Für den Krebs wird dieses Objekt entsprechend seiner eigenen Möglichkeiten (seiner Merkorgane) und seiner aktuellen Bedürfnisse als etwas – »Schützendes«, »Fressbares« oder »Bewohnbares« – interpretiert. Die wahrgenommenen Merkmale dieses Etwas (für uns: Anemone) werden also als Zeichen für etwas genommen und entsprechend dieser Bedeutung (und der Möglichkeiten der Wirkorgane) wird auf dieses Etwas eingewirkt. Da dies zudem von den »Stimmungen« des Krebses abhängig ist, muss offen bleiben, ob überhaupt von einer Beziehung des Krebses zur Umwelt gesprochen werden kann, oder ob es sich nicht vielmehr um drei handelt – nämlich eine Beziehung zu etwas Schützendem, eine andere zu etwas Fressbarem und wieder eine andere zu etwas Bewohnbarem.16 Die Relevanz dieser inneren Zustände für das Verständnis des Verhaltens eines Lebewesens wird noch deutlicher, wenn man beispielsweise die unterschiedlichen »Stimmungen« vieler Tierarten in Phasen der Partnerwerbung bzw. Paarung, der Jagd, des Kampfes, des Fütterns von Nachwuchs etc. berücksichtigt. Hier eröffnen sich offensichtlich recht unterschiedliche Umwelten für die 16 Es sei bereits hier auf die Korrespondenz zur »Affektlogik« des Menschen hingewiesen (siehe Abschnitt 4.4.1): Ciompi (1982) spricht sogar von einer Logik der Wut, der Trauer, der Angst etc., um deutlich zu machen, wie stark Affekte das kognitive Geschehen (Wahrnehmen, Denken) des Menschen mitbestimmen.
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Tiere trotz derselben »objektiven« Objekte in derselben »objektiven« Umgebung. Die dazugehörigen evolutionären Verhaltensprogramme können durchaus recht komplex und beispielsweise bei Paarungs- oder Kampfverhalten in vielen, genau aufeinander abgestimmten Sequenzen ablaufen. Im Internet sind viele Filme zum Balzverhalten von Fischen oder Vögeln zu sehen, in denen deutlich wird, in welch komplizierten, umfangreichen und gegenseitig abgestimmten Aktionen beide Partner ihre Annäherung und Paarung durchführen. Auch hier sind wieder die Stimmungen relevant, denn trotz der Signale eines Partners in Form von Bewegungen oder Körperfärbungen regiert der andere nur dann entsprechend, wenn bei ihm die entsprechende Stimmung bzw. innere Bereitschaft vorhanden ist. Diese wiederum ist von vielen Faktoren abhängig – beispielsweise von den im Blut kreisenden Sexualhormonen, Jahreszeit und Temperatur, Anwesenheit von Konkurrenten oder Feinden etc. Die Betonung festgelegter Verhaltensmuster darf ohnedies nicht unbedingt als mechanisches Abspulen enger motorischer Programme missverstanden werden: Bedenkt man beispielsweise die große Flexibilität, mit welcher eine Spinne ihr Netz zwischen sehr unterschiedlichen Zweigformationen spinnt und gar beim Zerreißen durch einen Sturm oder ein großes Lebewesen dieses wieder »flickt«, so wird deutlich, dass es sich um eine dynamische Abstimmung der evolutionär erworbenen Netzwebstrukturen mit den gegebenen Strukturen der Umgebung (Zweigformationen) handelt. Gleichwohl wird z. B. eine Kreuzspinne nie ein Netz wie eine Rundkopfspinne oder wie eine Dreiecksspinne spinnen – das heißt, die große Vielfalt an Spinnenfamilien lässt sich trotz der dynamischen Adaptation an die Umgebung dennoch durch die strukturellen Eigenschaften der Netze unterscheiden. Evolutionär vorgegebene Muster und deren hohe dynamische Adaptabilität an Gegebenheiten sind somit kein Gegensatz. Mit zunehmender Komplexität der Nervensysteme von Lebewesen werden auch deren Umwelten komplexer. Die Anzahl der Gegenstände, welche die Umwelt eines solchen Tieres mit komplexerem Nervensystem bevölkern, und das Spektrum an Eigenschaften, die bedeutsam für dessen Merk- oder Wirkwelt sind, sind hier erheblich größer. Hinzu kommt die Fähigkeit, auch im Laufe des individuellen (ontogenetischen) Lebens vermehrt solche Erfahrungen zu sammeln, welche dann die Merk- und Wirkwelt verändern. Wie stark Lernerfahrungen die Umwelt verändern können, zeigte beispielsweise Richter (1957) in einem zwar unethischen, aber eindrucksvollen Experiment: Er warf einzelne Ratten jeweils in einen Wasserbehälter, aus dem sie wegen senkrechter Wände nicht entkommen konnten und maß die Zeit, wie lange sie schwammen, bis sie ertranken. Dabei zeigte sich, dass Ratten dann sehr viel länger
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schwammen, wenn sie zuvor einmal die Erfahrung gemacht hatten, dass sie vom Experimentator »gerettet« wurden im Vergleich zu jenen (genetisch identischen), die eine solche Erfahrung nicht gemacht hatten. Will man nicht mit anthropomorphen Kategorien wie »hoffnungslos« vs. »hoffnungsvoll« aufwarten, so lässt sich konstatieren, dass dieselbe Umgebung – nämlich der Wasserbehälter – offensichtlich für die beiden Experimentalgruppen von Ratten aufgrund ihrer Erfahrung sehr unterschiedliche Umwelten – insbesondere Wirkwelten – darstellten. Diese wenigen und nur kurz diskutierten Beispiele sollten die zentrale Position der Biosemiotik erläutern, dass Leben schon auf rein tierisch-organismischer Ebene nicht ohne Berücksichtigung von dessen Subjektivität angemessen verstanden werden kann. Die alltagsweltliche Perspektive auf einen »Organismus in einer Umgebung« ist eine von menschlichen Beobachtern durch Abstraktion hergestellte Objektivierung. Und wir dürfen, vorausgreifend, an dieser Stelle schon einmal das Problem aufwerfen, aus welcher Perspektive wir bei einem Patienten gegebenenfalls eine »Inadäquatheit« seiner Lebensvorgänge beurteilen – beispielsweise sein Wahrnehmen, Denken, Fühlen oder Verhalten. Natürlich macht es Sinn, sich intersubjektiv auf gewisse Normen zu beziehen, seien sie ungeschrieben oder gar geschrieben, und eine bedeutsame Abweichung eines Menschen davon festzustellen. Und da auch dieser Mensch oft die Normen mitübernommen hat, wird er dann gegebenenfalls auch selbst diese Abweichungen konstatieren können – was selbst schon wieder ein leidvoller Prozess sein kann. Aber entsprechend seiner Umwelt laufen die Prozesse in der Regel adäquat ab – und diese Diskrepanz gilt es therapeutisch zu verstehen und gegebenenfalls zu verändern. Die Abhängigkeit der Bedeutung aller Zeichen in der Umwelt vom Kontext – das Grundprinzip der Semiotik nach Peirce17 – und damit deren hohes Maß an Subjektivität ist eigentlich eine fast triviale Feststellung: Wird doch beispielsweise bereits vom Volksmund in einem bekannten und vielzitierten Bild betont, dass ein Baum am Waldesrand, der von einer Wandergruppe, bestehend aus einen Förster, einem Holzfäller, einem Naturphilosophen und einem Liebespaar, erblickt wird, für jedes Mitglied unterschiedliche Bedeutungen hat. Und man kann dies sogar im obigen Sinne auf die unterschiedlichen »Stimmungen« einer einzigen Person beziehen: Ob ein und derselbe Mensch nämlich gerade in romatisch-dichterischer Stimmung oder mit ökologischem Scharfblick nach den Folgen des sauren Regens Ausschau haltend oder aber als Geschäftsmann im 17 Charles Santiago Sanders Peirce (1839–1914) wird als Begründer der neueren Semiotik gesehen (obwohl zu Fragen der Funktion von Zeichen seit der Antike debattiert wird), die aber seitdem unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Ausdeutungen erfahren hat – beispielsweise durch eine sehr pragmatische und behaviorale Fassung durch Charles Morris (1901–1979).
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Holzhandel mit ökonomisch-bewertendem Blick auf den Baum schaut, dürfte diesen in den jeweiligen Umwelten zu unterschiedlichen Objekten der Umgebung machen – ähnlich wie die Anemone in der stimmungsabhängigen Umwelt des Krebses (vgl. die Ausführungen zur »Affektlogik« in Abschnitt 4.4.1). Allein schon diese Aspekte, die sich ja nur auf die rein organismische Basis beziehen, lassen es auch beim Menschen angebracht erscheinen, das Konzept einer »objektiven« Umgebung mit »objektiven« Gegenständen und Sachverhalten zu hinterfragen. Gleichwohl neigen wir in unkritischer und unreflektierter Weise dazu, intersubjektiv hergestellte Bedeutungen als »objektive Fakten« anzusehen – und das nicht nur im Alltag, sondern sogar auch in der Wissenschaft. Hierzu zwei Beispiele: 1. Bedingter Reflex: In praktisch allen Lehrbüchern der Psychologie, Physiologie, Biologie etc., welche den »bedingten Reflex« von Pawlow referieren, findet sich sinngemäß folgende »Beschreibung«: »Ein Hund sondert Magensaft ab, wenn er Futter sieht oder riecht (Reflex). Der russische Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlow operierte Hunde und setzte ihnen einen Schlauch ein, mit dessen Hilfe er die Magensaftmenge messen konnte. Dann ließ er immer, wenn er ihnen Futter gab, ein Glockensignal ertönen. Nach einigen Darbietungen des unbedingten Reizes (Futter) zusammen mit dem bedingten Reiz (Signal) sonderten die Hunde auch dann Magensaft (in etwas geringerer Menge) ab, wenn man den Glockenton allein, ohne Futter, darbot. Ein bedingter Reflex war entstanden« (www.psychology48.com/deu/d/bedingter-reflex/bedingter-reflex.htm). Pawlow hatte seine Versuchsanordnungen bis in die kleinsten Details hinein sehr sorgfältig protokolliert – z. B. wo die Vorhänge hängen, wo der Tisch mit dem Hund steht, ob der Assistent einen weißen Kittel anhat etc. (siehe von Foerster, 1988). Dies nutzte der polnische Experimentalpsychologe Jerzy Konorski (1962) über ein halbes Jahrhundert später, um diese Versuche Pawlows genau zu wiederholen. Er machte alles genau so, wie Pawlow es beschrieben hatte. Nur nahm Konorski vor dem letzten Versuch heimlich den Klöppel aus der Glocke. Als dann der Assistent, wie vorgeschrieben, die Glocke aufhob und schwenkte, blieb sie stumm. Der Hund jedoch reagierte mit Speichelproduktion. Daraus schloss Konorski: Das Läuten der Glocke war ein Zeichen bzw. »Stimulus« für Pawlow, aber nicht für den Hund. In den Lehrbüchern erfährt man davon allerdings nichts.18 18 Zwar weisen zumindest einige auf das Phänomen der »Generalisierung« hin – dass also der Hund auch bei einer Glocke oder einem Pfeifen reagiert –, aber wieder ist es der »Reiz« bzw. das Zeichen in der Umwelt des Experimentators; auf das biosemiotische Problem der Unterschiedlichkeit von Umwelten wird nicht eingegangen.
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2. Kognitive Verhaltenstherapie: Ein für die gegenwärtige Psychotherapie noch relevanteres Beispiel geht auf die Frühphase der kognitiven Verhaltenstherapie (VT) in den 1960er Jahren zurück: Meichenbaum (1979, S. 109 ff.) wollte die Effizienz des VT-Standardverfahrens (Wolpe u. Lazarus, 1966) zur Beseitigung von Schlangenphobien durch eine Erweiterung der Intervention um kognitive Anteile steigern. Es gab eine Versuchsgruppe, welche zu folgender Vorgehensweise angeleitet wurde: (1) Der Therapeut präsentiert die Schlange. (2) Der Patient sagt: »Sie ist widerlich, ich möchte sie nicht sehen.« (3) Der Therapeut schaltet einen elektrischen Strafreiz ein. (4) Der Patient soll sagen: »Ich entspanne mich, ich kann sie anfassen.« (5) Der Therapeut schaltet als Belohnung den Strafreiz aus. (6) Der Patient entspannt sich. Auch Meichenbaum war ein sorgfältiger Forscher und gab daher einer anderen Versuchsgruppe als Kontrolle die Umkehrung von Bestrafung und Belohnung des Verhaltens vor – nämlich 1-4-3-2-5-6. Eigentlich müsste sich nach den klassischen Lerntheorien bei dieser Gruppe die Schlangenphobie erhöhen oder zumindest stabilisieren. Denn auf den Satz (2): »Sie ist widerlich, ich möchte sie nicht sehen« wurden die Patienten ja mit der Abschaltung des Strafreizes belohnt. Überraschenderweise waren aber beide Programme gleich wirksam (und beide waren wirksamer als das angeführte Standardprogramm). Ein zunächst völlig unerklärliches Ergebnis. Durch Befragung fand Meichenbaum allerdings heraus, dass die Patienten der zweiten Gruppe die Situation und vor allem diese Angst erzeugende Selbstanweisung (»Sie ist widerlich, ich möchte sie nicht sehen«) für sich einfach umgedeutet hatten. Es lief im Wesentlichen darauf hinaus, dass sie angaben: »Diese Worte zu sagen, bedeutet eigentlich: Schalte den Strafreiz aus!« Zusammengefasst bedeutet das, dass zwar die Lerntheorien die »objektive Reizstruktur« der Interventionen beschrieben, die der Experimentator vorgesehen hatte (und nach welcher die Phobie hätte verstärkt werden müssen). Dass aber die Patienten der zweiten Gruppe sich die Bedeutung der Struktur eigenständig umorganisierten und Teilen des Geschehens ihre je subjektive Deutung gaben, die sich dann völlig anders auswirkte. Diese Diskrepanz ist deshalb besonders bedeutsam, weil Meichenbaums Experiment zwar als prototypisch für Einsichten angesehen wird, welche die Veränderung von der klassischen zur kognitiven Verhaltenstherapie notwendig machten. Andererseits aber wird die zugrunde liegende Logik dieser Befunde offenbar
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nicht ernst genug genommen: Denn gerade die Verhaltenstherapie plädiert für ein manualisiertes Vorgehen – und zwar nicht nur im Rahmen von Forschung, sondern auch in der Praxis. Ein Manual aber fokussiert auf die Bedeutungen von Interventionssituationen, so wie sie der Forscher bzw. der anwendende Therapeut versteht und vorgibt. Das Manual definiert quasi einen Teil seiner Umwelt. Hingegen kann im Manual natürlich nicht verzeichnet sein, welche Bedeutung der jeweilige Patient den Aspekten des von ihm wahrgenommenen Geschehens gibt. Das heißt, dass die oben bereits kurz angesprochene Eigenart der Umwelt des Patienten unberücksichtigt bleibt und stattdessen die des Wissenschaftlers bzw. Forschers als »objektiv« und daher auch für den Patienten als »zutreffend« nur unterstellt wird. Diese unreflektierte Unterstellung von Normativität und Objektivität ist gerade im Hinblick auf den Gegenstand der Psychopathologie besonders befremdend, weil diese ja gerade davon ausgeht, dass das Erleben, Wahrnehmen und Handeln »gestört« und damit von den Normen der Alltagsrealität ein Stück »verrückt« ist. Die nun bereits hundertjährige Erkenntnis über die Subjektivität der Umwelt eines Lebewesens wird also schlicht ignoriert, wenn man in naiv-unkritischer Weltsicht stillschweigend von einer allgemein gültigen »Objektivität« ausgeht. Diese wird oft nicht einmal als »Intersubjektivität« verstanden – was dann beispielsweise Fragen nach der Herkunft und Angemessenheit der Kriterien aufwerfen würde. Sondern sie wird schlicht naiv-real als »vorhanden« angesehen.
2.2 Der Mensch in seiner Umwelt Mit diesen letzten Erwägungen sind wir bereits bei den sehr viel komplexeren und flexibleren Umwelten des Menschen. Allerdings ist auch der Mensch zunächst einmal ein biologischer Organismus und hat sich evolutionär aus diesen »einfachen« Lebewesen entwickelt. Es wäre daher sehr unplausibel, wenn beim Menschen gar nichts mehr von seinen animalischen Präformierungen, »in der Welt zu sein«, zu finden wäre. Allein schon Atmung, Herzschlag, und viele andere vegetative Funktionen, der Wechsel von Wachsein und Schlafen, Flucht- und Aggressionsverhalten (zumindest die dafür zugrundeliegenden Impulse), Sexualität einschließlich vieler Aspekte der Annäherung in Form des sogenannten »Flirts« – all dies und vieles mehr verweist auf die stammesgeschichtlich erworbenen Programme. Freilich sind wir diesen nicht so unterworfen wie beispielsweise der Krebs und nicht einmal so wie andere Säugetiere. Vielmehr eröffnet uns unsere menschlich entwickelte Hirnstruktur verbunden mit den spezifischen Struk-
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turen menschlicher Umgebungen, die von uns gemeinhin als soziale und symbolische Umwelten erfasst werden, völlig neue Möglichkeiten: Wir können uns mit den eigenen biologischen und archaischen Impulsen auseinandersetzen, indem wir zwischen Wahrnehmung und Handlung etwas schieben, was wir »Denken« nennen und was bereits Freud (1911, S. 239) als »Probehandeln« gekennzeichnet hat – auch wenn wir davon gerade bei vitalen Impulsen oft nicht oder wenig Gebrauch machen. Deutliche Ansätze finden sich auch schon in von Uexküll (1920). Denn die in Abbildung 1 vereinfachte Darstellung des Funktionskreises, die einfach zwischen Merkorgan und Wirkorgan eine Verbindungslinie enthält, ist in Wirklichkeit schon bei von Uexküll um einen »Neuen Kreis« erweitert (siehe Abbildung 2), zu dem er schreibt: »Es schiebt sich ein neuer Kreis, der innerhalb des eigenen Zentralorgans verläuft, zur Unterstützung des äußeren Funktionskreises ein und verbindet das Handlungsorgan mit dem Merkorgan. Auf diese Weise fügt sich die eigene Handlungsregel den von außen angeregten Merkmalen ein und dient nun der Merkregel als Gerippe, an die sie die äußeren Merkmale angliedern. Nun erst entstehen in der Merkwelt wirkliche Gegenstände.« Und: »Sobald die Bewegungen der eigenen Gliedmaßen in das Merkorgan eintreten, wird eine Kontrolle der eigenen Handlungen möglich.« Letztlich: »So übertragen wir Menschen unsere eigene Funktionsregel auf die Gegenstände, wie wir die von uns selbst geformten Merkmale übertragen« (von Uexküll 1920, S. 116; Hervorhebungen J. K.).
Abbildung 2: Vollständiger Funktionskreis mit »Neuem Kreis« (aus von Uexküll, 1920, S. 117; https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4344470)
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Im »Neuen Kreis« ist quasi eine innere Repräsentation der »Umwelt« (nicht der Umgebung!) derart vorhanden, dass die entsprechenden Handlungs programme den Gegenständen zugeordnet werden (etwas, was in Unter kapitel 4.2 in Bezug auf Handlungen des Menschen noch ausführlich diskutiert wird). Von Uexküll nennt dies »Gegenwelt«, die nicht als Abbildung zu verstehen ist, sondern bestenfalls als ein »subjektiv-funktionelles Bild« dient – als ein »Modell der Welt« in Form von Zeichen. Für die Betrachtung der Lebenswelt des Menschen muss dieses Konzept besonders in zwei Richtungen erweitert werden: Zum einen kommt zum »Neuen Kreis« – als einer organismischen inneren Repräsentation der Umwelt – noch das, was wir reflexives Bewusstsein nennen: nämlich eine (weitere) innere Repräsentation dieser Umweltrepräsentation. Zum anderen wird die vergleichsweise beschränkte Welt der biologisch vorgegebenen Zeichen durch eine schier unendlich ausbaubare – und in der menschlichen Lebenswelt unfassbar große – Menge an künstlich definierten Zeichen, nämlichen Symbolen, bereichert. Diese Welt der Symbole ist vor allem eine kulturelle Leistung des Menschen. Wir wollen die beiden Aspekte der Erweiterung im Einzelnen näher betrachten: Das »Probehandeln« ist dabei nur ein Aspekt dieser Reflexionskompetenz innerhalb des »Neuen Kreises«. Denn beim reflexiven Bewusstsein geht es ja nicht nur darum, »verschiedene alternative Handlungsschritte in rein gedanklicher Antizipation, somit reversibel, auf ihre Konsequenzen hin zu erproben« (»Probehandeln« in Dorsch, 2014), sondern überhaupt die eigenen Triebimpulse, Affekte, Emotionen, Bedürfnisse etc. wahrzunehmen und sich damit gewissermaßen von ihrer Unmittelbarkeit zu distanzieren. Diese Fähigkeit wird in der Sozialisation – aber auch z. B. in der Psychotherapie (u. a. durch Achtsamkeitsförderung, Selbstexploration, Psychoanalyse) – entwickelt.19 Die »Auseinandersetzung« mit biologischen und archaischen Impulsen bedeutet freilich etwas anderes als ein einfaches »Nichtvorhandensein«. Entsprechend betonte der Hirnforscher Paul MacLean (1970, 1990) mit seinem Konzept vom »Triune Brain«, dem »dreieinigen« oder »Dreifachhirn«, dass der Mensch auch heute noch mit drei Hirnen (besser: Hirnbereichen) – ausgestattet ist, die sich in Struktur und Neurochemie deutlich voneinander unterscheiden lassen:
19 Entsprechend hat Thure v. Uexküll den oben angeführten »Funktionskreis« in Bezug auf den Menschen zum »Situationskreis« erweitert. »Der Situationskreis unterscheidet sich von dem Funktionskreis durch eine obligatorische Zwischenschaltung der Vorstellung, in der Programme für Bedeutungserteilung (›Merken‹) und Bedeutungsverwertung (›Wirken‹) zunächst probeweise als Bedeutungsunterstellung und Bedeutungserprobung durchgespielt werden können, ehe das Ich sie für die Sensomotorik freigibt« (von Uexküll u. Wesiak, 1996, S. 41).
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1. Das »protoreptilische« Gehirn (dessen Bezeichnung auf die Hirne der Reptilien zurückgeht) ist der stammesgeschichtlich älteste Teil und umfasst im Wesentlichen Hirnstamm und das Zwischenhirn. Es steuert angeborene Instinkte, besitzt nur bedingte Lernfähigkeit und ermöglicht noch kein Sozialverhalten. 2. Das »paläomammalische« Gehirn (dessen Bezeichnung auf die Hirne stammesgeschichtlich früher Mammalia, also Säugetiere, zurückgeht) umfasst einige Strukturen, für die MacLean 1952 den Begriff »Limbisches System« prägte. Er bezeichnet es auch als »viszerales« (auf die Eingeweide gerichtetes) Gehirn, weil hier vor allem Informationen aus dem Körperinneren zusammenkommen. Neben der Steuerung des Triebgeschehens ist dieser Bereich vor allem an affektiven und emotionalen Färbungen beteiligt. 3. Das »neomammalische« Gehirn (dessen Bezeichnung auf die Hirne stammesgeschichtlich später Mammalia zurückgeht) besteht im Wesentlichen aus dem Neocortex. Dieser ist relevant für kognitive und logische Konzepte und Strategien. Hier können die Affekte und Impulse des paläomammalischen Gehirns modifiziert werden, was eine Lockerung von den festen Programmen der älteren Hirnteile ermöglicht, in denen die Prozesse von Merkwelt und Wirkwelt ja noch recht eng aufeinander bezogen sind. Wir wollen hier nicht in die Debatte eingreifen, wie weit MacLean mit diesem Konzept vom »Dreifachhirn« ein allzu stark vereinfachtes Modell des menschlichen Hirns und seiner Entwicklung gezeichnet hat. Fraglos fehlen viele Differenzierungen, und manche Zuordnungen lassen sich im Detail anders treffen. Für unseren Kontext aber soll der Hinweis auf das »Dreifachhirn« des Menschen der Gefahr vorbeugen, »Bedeutung« vorschnell und zu einseitig auf Prozesse im Neocortex mit seinen kognitiv-rationalen Fähigkeiten und begrifflichen Konzepten zurückführen zu wollen: Wir haben die Reptilien und Mammalia nicht so weit hinter uns gelassen, wie wir es manchmal gern hätten. Stattdessen müssen wir akzeptieren, dass ein beachtlicher Teil vitaler Bedeutungen vor aller Begrifflichkeit liegt. So wie es auch bedeutsam ist, nicht zu übersehen, dass die »Sprache der Affekte« nicht die der rationalen Logik und formalen Operationen ist, sondern eher die von Bildern, Metaphern und anderen analogen Repräsentationen und Operationen.20 Dies wird in Abschnitt 4.4.1 im Lichte der »Affektlogik« (Ciompi, 1982, 1997) weiter erörtert. 20 Je nach Fragestellung und Verständnis dessen, was mit »Symbol« gemeint sein soll, lassen sich weitere bzw. andere Zuordnungen des komplexen Geschehens vornehmen. So findet man besonders in psychoanalytischen Diskursen in Anlehnung an Wilma Bucci (2002) eine dreiteilige Unterscheidung in symbolisch verbal (Buchstaben/Worte), symbolisch nonverbal (Bilder) und vorsymbolisch (körperlich).
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Die Besonderheit menschlicher Umwelten bereits auf organismischer Ebene wurde in den letzten Jahrzehnten auch von der Säuglingsforschung (u. a. Stern, 2005; Trevarthen, 2011) herausgearbeitet: Während für die Evolution der einzelnen Tierarten vor allem die materiellen und biologischen Gegebenheiten einer natürlichen Umgebung wesentlich sind, aus denen sie dann jeweils ihre Umwelt selektieren, sind solche Gegebenheiten für die spezifische Entwicklung des Menschen wenig relevant. Bedeutsam ist vielmehr die sozial-kulturelle Umund Ausgestaltung einer natürlichen Umwelt durch eine Sozialgemeinschaft mit Wohnraum, Kleidung, Fahrzeugen, Arbeits- und Freizeitwerkzeugen, Maschinen, Fabriken, Büchern, Computern etc. Es handelt sich hierbei um funktionell-sinnhafte Um- und Ausgestaltungen materieller Gegebenheiten. Sprache, Schrift, (Massen-)Kommunikationsmittel, Rollen, Bildungs-, Rechts- oder Wirtschaftssystem, Institutionen und Organisationen etc. sind im Laufe der Soziogenese über viele Generationen hinweg ausgestaltete Regelwerke sozialer Prozesse, in die jeder Mensch vom ersten bis zum letzten Atemzug eingebettet ist. Ein Leben in der sozialen Ökologie des Menschen erfordert nun bereits vom Organismus andere Potenziale, als sie z. B. Tieren genetisch mitgegeben sind. Denn deren typische Formen von Anpassung und Lernen über Instinkte, Prägung, Konditionierung, Verstärkung oder Imitation reichen keineswegs zum Überleben des Menschen aus. Immerhin kommt ein menschliches Neugeborenes so unfertig auf die Welt, dass es zumindest das erste Jahr allein gar nicht überleben könnte. Es kann sich monatelang nicht einmal artspezifisch brauchbar fortbewegen und in seiner Umwelt für Nahrung sorgen. Es vermag sich nicht selbst vor Kälte und Hitze und vielen anderen Einflüssen zu schützen. Ein solcher Organismus wäre eigentlich dem Tode geweiht und damit für das Erzeugen von Nachkommen völlig unbrauchbar, wenn nicht das Handicap der mangelhaften individuellen Überlebensmöglichkeit durch die soziale Aktivität fürsorgender anderer gewährleistet werden würde. Die bio-physiologische Struktur des menschlichen Hirns muss daher in ihrer Entwicklung sowohl beim Neugeborenen als auch bei dessen erwachsener Vorgeneration für eine entsprechende soziale Passung sorgen. Schon das berühmte »Kindchenschema« zeigt diese evolutionäre Abstimmung, indem es bei den meisten Menschen dazu führt, Säuglinge und Kleinkinder »niedlich« und »beschützenswert« zu finden (was wir freilich auch auf andere junge Säugetiere, Teddys, Puppen, Comicfiguren etc. ausdehnen). Noch wichtiger sind die Affektäußerungen, mit denen gerade das Neugeborene seine Befindlichkeiten in die Welt schreit. Sie müssen als angeborene (evolutionär erworbene) Kommunikationsinstrumente gesehen werden. Denn das Baby richtet sich damit an eine soziale Umwelt in der (evolutionären) Erwartung, dass es in seinen
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Affekten hinreichend von jemand verstanden wird, der oder die entsprechend darauf eingeht. Andere Menschen, und erst recht die Eltern, reagieren intensiv auf das Schreien, Wimmern, Gebrabbel oder »Strahlen« des Säuglings – bis hin zu oftmals ebenso intensiven Affekten wie Verzweiflung oder Wut, wenn die Kommunikation nicht klappt und der Säugling mit seinem »durchdringenden« Schreien nicht aufhört. Neben der sozialen Passung zwischen affektiven Äußerungen des Babys und empathischen Eltern, die diese Äußerungen brauchbar verstehen, erwartet das Neugeborene Lautströme, die es in Phoneme zerlegen und daraus eine Grammatik zum Spracherwerb aufbauen kann. Mit »Bindungstypen« wird thematisiert, dass das Baby die Verlässlichkeit erster Bezugspersonen in recht klare Erwartungsstrukturen hinsichtlich seiner sozialen Umwelt transformiert. Unter dem Begriff »Spiegelneurone« wird auf die evolutionäre Koordinationsmöglichkeit im zentralen Nervensystem von Bewegungen und deren vermutlich damit verbundenen Intentionen anderer mit eigenen mentalen Prozessen verwiesen. Und zunehmend werden weitere Befunde nicht nur über die erstaunlichen Leistungen in der Abstimmung zahlreicher organismischer Prozesse zwischen dem Neugeborenem und seiner Mutter vorgelegt, sondern auch über evolutionär erworbene Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Beurteilung sozialer Strukturen durch die Babys. (Auf diese präformierten Passungsprozesse werden wir im nächsten Unterkapitel näher eingehen.)
2.3 Die Grenzen der Subjektivität Die Berücksichtigung der Diskurse bezüglich des »Social Brains« des Menschen macht die Frage nach dem Ausmaß an Subjektivität, mit der wir uns in unserer Lebenswelt bewegen, allerdings deutlich komplizierter als es bisher erschienen sein mag. Denn die Betonung des Social Brains begründet sowohl Argumente für eine zunehmende Befreiung von solchen vorgegebenen Kategorien, welche das Instinktverhalten der Tiere bestimmen, als auch die beachtliche Eingebundenheit unserer Erkenntnismöglichkeiten in evolutionär-biologische Strukturen. Der Aspekt der »Befreiung« begründet sich mit der Entwicklung einer ungeheuren Plastizität des menschlichen Gehirns, die sich unsere Spezies nur leisten kann, weil der Verlust einer sicheren Einbettung in ein instinktgeleitetes »Sein in der Welt« durch die Sicherheit gebenden sozialen Fürsorgepersonen kompensiert wird. Das reflexive Bewusstsein des Menschen mit seinem Social Brain erlaubt es ihm darüber hinaus, seine organismisch verankerten Bedeutungszuweisungen im Sinne der Biosemiotik reflexiv zu betrachten. Man kann nicht nur,
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wie noch der Säugling, seine organismischen Bedürfnisse nach Nahrung oder nach Zuwendung in die soziale Welt hinausschreien, in der meist begründeten Erwartung, dass da jemand ist, der dies empathisch versteht und entsprechend reagiert. Sondern man wird mit zunehmendem Alter fähig, diese inneren Prozesse auch selbst als »Hunger« oder als »Bedürfnis nach Zuwendung« zu verstehen und gegebenenfalls neben oder gar statt der Artikulation dieser Bedürfnisse über Möglichkeiten nachzudenken, wie diese befriedigt werden können. Ab der Pubertät kann man bemerken, dass man einen anderen Menschen sexuell attraktiv findet und seine körperlichen Reaktionen feststellen – ja sogar seine kognitiven und affektiven Prozesse im Zusammenhang damit. Doch bevor es zu irgendwelchen weitergehenden Reaktionen auf diesen anderen kommt, kann man der Gesamtsituation unter Einbeziehung der Biografie, sozialer Regeln, Vorstellungen über die Erwartungen anderer, gemachte Zusagen etc. ebenfalls nochmals bewerten (Freuds »Probehandeln« – vgl. Unterkapitel 2.2). Was immer man von seinem inneren Erleben nach außen dringen lässt: Ein Großteil davon ist und bleibt nur dem Subjekt zugänglich. (Auch wenn ein sorgfältiger Beobachter vieles registrieren kann – was allerdings auch anderes und gegebenenfalls sogar mehr sein kann, als dem eigenen Bewusstsein zugänglich ist). Auf der anderen Seite ist mit »Social Brain« aber auch hervorgehoben, dass biologisch-evolutionäre Prästrukturierungen uns im doppelten Sinne mit anderen Menschen verbinden: Diese anderen haben ein funktionell weitgehend gleich strukturiertes Gehirn (trotz unzähliger individueller Erfahrungen, welche die Feinstruktur bestimmen). Und dies verkörpert eben auch die Möglichkeit und Fähigkeit in der Strukturierung sozialer Beziehungen (sonst könnte der eben zitierte »sorgfältige Beobachter« nur äußeres Verhalten registrieren, müsste sich dessen Bedeutung aber weitgehend aus »Theorien« zusammenreimen). Obwohl also in den vorangegangenen Abschnitten die Subjektivität in der Bedeutungszuweisung durch Merk- und Wirkwelten besonders betont wurde21, 21 Dies ist mir deshalb wichtig, weil nicht nur im Alltagsverständnis der Prozess der Wahrnehmung als »Abbildung« einer Welt verstanden wird, die aus Dingen mit klaren Bedeutungen besteht. Sondern – wie gezeigt – weil man selbst in der Psychologie oft implizit davon ausgeht, dass die »Welt des Forschers und Experimentators«, beschrieben und festgelegt in »objektiven Manualen«, so strukturiert ist und dieselben Bedeutungen »enthält« wie die »Welt« der untersuchten Menschen und »Versuchspersonen«. Diese dubiosen Vorannahmen gehen unproblematisiert, ja meist sogar undiskutiert, in viele Forschungsergebnisse ein, die als »Fakten« präsentiert werden. Wie anders würden doch z. B. eine Psychotherapieforschung und deren »wissenschaftliche Prüfung« aussehen, wenn man nicht nur die Vermessung von vermeintlichen »Fakten« mit akribischer Genauigkeit in »Methodenpapiere« gießen, sondern die zweifelhaften bis falschen Grundannahmen hinter diesen »Fakten« problematisieren würde!
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ist es daher auch wichtig, deren Grenzen ins Auge zu fassen. Denn so völlig beliebig und subjektiv auslegbar, wie dies bisweilen besonders im Umfeld des radikalen Konstruktivismus dargestellt wird, ist unsere Lebenswelt keineswegs. Vielmehr sind zumindest drei wesentliche Begrenzungen der Subjektivität zu beachten, die auch schon im Text auftauchten, nämlich: 1. die Vorgabe von organismisch basierten Bedeutungskategorien aufgrund der evolutionären Entwicklung des Organismus einer Spezies (S. 49 f.); 2. die Notwendigkeit, in dieser Entwicklung viable (d. h. überlebensfähige) »Lösungen« zu finden (S. 56 f.); 3. die gesellschaftliche und damit intersubjektive Konstruktion von generationsüberdauernden Strukturen der Lebenswelt (S. 57 f.). 1. Organismisch basierte Bedeutungskategorien: Bei der Frage nach den organismisch basierten Bedeutungskategorien in der Lebenswelt des Menschen geht es nicht nur um die Tatsache, dass wir mit unseren Sensoren und Effektoren (Abbildung 1) natürlich anders »in der Welt sind«, als beispielsweise Fledermäuse, Frösche oder Spinnen. Es geht vielmehr darum, wie und in wie weit abstrakte Kategorien wie »friedlich«, »freundlich«, »belebt« (versus »unbelebt«) oder gar das Erfassen emotionaler Zustände anderer biologisch vorgegeben sind – also nicht im üblichen Verständnis gelernt werden. Diese Frage ist deshalb wichtig, weil biologisch vorgegebene Bedeutungskategorien zwar immer noch Bedeutungszuweisungen des Subjekts sind, gleichwohl die Subjekte einer Spezies eben darin weitgehend gleich sind (moduliert freilich z. B. durch affektive Stimmungslagen und ausdifferenziert im Rahmen kultureller Bedeutungsfelder – siehe Punkt 3). Die Quintessenz dieses Aspektes hat Mausfeld (2005, S. 52) auf den anschaulichen Satz gebracht: »Wenn eine Maus lernen wollte, dass der Wahrnehmungskategorie ›Schlange‹ das Attribut ›gefährlich‹ zukommt, wäre ihr Leben so kurz, dass sie keine Möglichkeit mehr hätte, diese Einsicht auch zu nutzen.«22 Diese Maus konstruiert dabei nicht nur aus der ungeheuren Reizwelt ihrer Umgebung durch Bedeutungserteilung eine »Schlange« in ihrer Umwelt – was bereits eine beachtliche kognitive Leistung ist und Figur-Hintergrund-Unterscheidung, 22 In diesem sehr lesenswerten Beitrag hat Rainer Mausfeld die wichtigen Aspekte prägnant zusammengetragen und analysiert, wie ein biologisches System Bedeutung generieren kann und welche Entwicklungspfade wir nach neueren Kenntnissen dafür annehmen dürfen. Obwohl Mausfeld explizit nicht auf von Uexküll oder die Biosemiotik Bezug nimmt, sondern eher auf Befunde einer evolutionär verstandenen Wahrnehmungspsychologie, hat dieser Beitrag die Entwicklung der Personzentrierten Systemtheorie zu einer stärkeren explizit biosemiotischen Fundierung seinerzeit erheblich beeinflusst. Dieser Abschnitt (1.) greift daher auch einige seiner Argumente auf.
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aber auch die Unterscheidung von dem, was wir »Schlange« nennen zu einem »ähnlichen« Objekt (z. B. »Ast«) voraussetzt. Sondern diese Kategorisierungen in ihrer Merkwelt müssen mit ihren Verhaltensmöglichkeiten, den Kategorien ihrer Wirkwelt also, evolutionär abgestimmt sein. Mäuse, deren Organismus nur eine mangelhafte Abstimmung zustande brachte, wurden verspeist und zählen somit nicht zu den Vorfahren dieser Maus (vgl. dazu den 2. Punkt). Diese Zuordnung würden wir, in der menschlichen Lebenswelt (!), mit »Schlange als gefährlich erkennen« beschreiben. Allerdings ist diese Zuordnung eben nicht individuell irgendwie gelernt, sondern evolutionär im Organismus bereitgestellt – und damit auch die Bedeutungskategorien, welche die Maus dem Objekt in ihrer Umwelt hier zuteilt. Und trotz der Subjektivität der Umwelt – nicht nur unterschieden von Umwelten anderer Tiere in der Umgebung, sondern auch von anderen Mäusen in anderen »Stimmungen« – gibt es innerhalb dieser Mäuseart somit auch erhebliche Übereinstimmungen. Entsprechendes gilt für alle oben diskutierten Beispiele von Spinnen, die ihre Netze reparieren, oder von Tieren, die ihre Paarungs- und Kampfrituale ausführen usw. Letztlich aber muss ja auch der eingangs referierte Einsiedlerkrebs einer Anemone nicht nur die diskutierten Bedeutungen (»Schutz gebend«, »fressbar«, »wohnlich«) zuordnen, sondern die Kategorie »Anemone« von einer Kategorie »Nicht-Anemone« unterscheiden – wie auch »Fressbares« von »Nicht-Fressbarem«. Für solche Kategorienbildung müssen offenbar unterschiedliche sensorische »Informationen« zu Klassen von sensorischer und motorischer Äquivalenz integriert werden, was man als bedeutungsvolle Kategorisierung der »Außenwelt« bezeichnen könnte.23 Mausfeld (2005, S. 64) weist darauf hin, dass bereits Kolibakterien die Kategorisierung ganz unterschiedlicher Moleküle als »Nahrung« bzw. als »Schadstoff« vollbringen können bzw. müssen und betont: »Bedeutung entsteht dadurch, dass ein Organismus physikalische Zustände der Außenwelt (also der Umgebung, J. K.) für seine biologischen Zwecke in Form von Äquivalenzklassen interner Codes kategorisiert, etwa als ›Nahrung‹, ›Feind‹ oder ›Paarungspartner‹.« Die organismische Realisierung von Äquivalenzklassen der Bedeutung ist keineswegs trivial. Während aber beim Funktionskreis (vgl. Abbildung 1) einfachster Art noch Rezeptor und Effektor unmittelbar gekoppelt sind, schiebt sich zwischen Sensorik und Motorik im Laufe der Evolution komplexer werdender 23 Dies habe ich, mit anderem Fokus, u. a. bereits in »Chaos, Angst und Ordnung« (Kriz, 1997/2011) ausgeführt und dabei auch Friedrich Cramer, den langjährigen Direktor am Göttinger Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, zitiert, der bei Prozessen des Lebens, wie der Proteinbiosynthese bis hinauf zu komplexen biologischen Vorgängen – ja, sogar bis hin zu den kognitiven Schöpfungen wie Kunst und Ästhetik – von »Chaosvermeidungsstrategien« spricht, bei denen es genau um solche Kategorienbildung geht (Cramer, 1988, S. 268).
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Organismen immer mehr von dem, was dem »inneren Kreis« in Abbildung 2 zugrunde liegt: Ein immer umfangreicheres und komplexeres Nervensystem. Der Grund für diese Entwicklung liegt aus evolutionärer Perspektive darin, dass der evolutionäre Spielraum für sensorische und motorische Erweiterungen und Differenzierungen von Funktionen recht begrenzt ist. Denn auch wenn die sensorischen Systeme und Sinnesmodalitäten – Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken (bei einigen Tierarten jeweils noch andere) – umfangreicher geworden sind und auch wenn der Raum an motorischen Möglichkeiten durchaus gewachsen ist (wobei dies schon innerhalb einer Spezies begrenzt ist: Fliegen, Klettern, Laufen und Schwimmen/Tauchen wurden gleichzeitig nur bei wenigen – und bisher nicht sehr erfolgreich – realisiert), konnten Lebewesen offenbar nicht mit immer mehr Sinnesorganen oder Gliedmaßen ausgestattet werden. Im Kontrast dazu gibt es aber ein schier unerschöpfliches Potenzial für die Entwicklung neuer Funktionen durch die Einbeziehung und Verwendung von »inneren Kreisen« – also vor allem die biologische Basis von affektiven und neuronal kognitiven Systemen. Mausfeld weist darauf hin, dass es mit diesen Systemen möglich wird, »Aspekte der Außenwelt zu erfassen, für die es keine sensorischen Rezeptoren gibt, beispielsweise distale Objektkategorien wie ›Nahrung‹, ›Feind‹, ›Paarungspartner‹ oder verborgene Attribute von Objekten wie ›essbar‹, ›gefährlich‹ […]. Durch die Entstehung eines Gehirns kann der Organismus also Dinge und Attribute wahrnehmen, die eigentlich seinem Sinnensystem verborgen sind, er gewinnt gleichsam übersinnliche Fähigkeiten« (Mausfeld, 2005, S. 66). Mit der nachdenkenswerten Formulierung »übersinnlich« ist gemeint, dass durch die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme des »inneren Kreises« in Abbildung 2 der Raum an Bedeutungszuweisungen des Organismus erheblich vergrößert werden kann, ohne dass in den einzelnen Funktionskreisen das mit dem Sensorium sinnlich Erfassbare – also salopp formuliert: die unmittelbare Sinneserfahrung der Rezeptoren – erweitert werden muss. So lässt sich beispielsweise für eine bestimme Schlangenart zeigen, dass sie eine Maus als Beutetier visuell ortet, dann olfaktorisch verfolgt und letztlich haptisch verschluckt. Da diese drei Sinnessysteme aber unabhängig voneinander arbeiten, hat sie faktisch drei Bedeutungen für »Maus«, die in drei Funktionskreisen verortet sind. Eine unabhängige Bedeutungserteilung durch die einzelnen Teilsysteme, wie bei dieser Schlange, wäre aber bei komplexeren Organismen mit Hunderten von Regelkreisen kaum verwertbar und somit nutzlos.24 Stattdessen ist eine orga24 Auch wenn eine solche Integrationsleistung schon bei vergleichsweise »einfachen« Gehirnen vorkommen kann – wie beispielsweise bei der Wüstenameise Cataglyphis. Für Details muss nochmals auf Mausfeld (2005) und weitere Fachliteratur verwiesen werden.
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nismische Architektur, bei der Prozesse aus den einzelnen Sinnessystemen integriert werden, von funktional ausdifferenzierten Gehirnen geradezu notwendig. Genau hierdurch zeichnen sich komplexer aufgebaute Organismen, bis hin zu den Säugetieren, aus: Zwischen die sensorischen und motorischen Systeme schieben sich immer umfangreichere und ausdifferenzierte »innere Verarbeitungssysteme«. Der evolutionäre Vorteil ist, dass dadurch auch komplexer werdenden Sachverhalte der Umgebung eines Organismus zu dessen lebensrelevanter Umwelt werden können. Wenn aber Bedeutungszuweisungen entsprechend Abbildung 1 und 2 immer weniger an einzelne Sinnesmodalitäten gebunden sind, wird quasi von separaten Sinneseindrücken abstrahiert. Die Bedeutungszuweisung wird somit in einer abstrakten Form vom Integrationssystem geleistet: »Maus« ist dann eine Bedeutungskategorie, die u. a. visuelle, olfaktorische und haptische Aspekte vereinigt. Und die organismische Architektur komplexer Lebewesen ist entsprechend darauf ausgelegt. Eine solche Abstraktion hat zudem den Vorteil, dass der sensorische »Input« der Merkwelt nicht unmittelbar in motorischen »Output« der Wirkwelt umgesetzt werden muss, sondern zunächst in den vielfältigen internen Systemen (z. B. für Raumorientierung und Navigation, Nahrungssuche, Partnersuche, komplexes Sozialverhalten, Werkzeuggebrauch usw.) integriert wird, bevor eine motorische Reaktion ausgeführt wird. Für die Lebenswelt des Menschen trägt die hier nur grob skizzierte Argumentationsperspektive aus der evolutionären Entwicklung verkörperter Bedeutungskategorien zu der Erkenntnis bei, dass wir unsere Lebenswelt keineswegs nur über die unmittelbare Leistung der einzelnen Sinnessysteme – Sehen, Hören, Tasten Riechen, Schmecken – mit Bedeutung erfüllen. Auch eine radikal konstruktivistische Sicht ist zu hinterfragen, wenn sie unterstellt, dass alle über die unmittelbare sinnliche Erfahrung hinausgehenden komplexeren Bedeutungszuweisungen dem Subjekt und seinem »freien, kreativen Geist« überlassen bleiben. Vielmehr dürfen wir davon ausgehen, dass auch etliche abstrakte, im obigen Verständnis »übersinnliche« Bedeutungszuweisungen unserer Lebenswelt in der evolutionär entwickelten Architektur des Organismus, insbesondere unseres Gehirns, begründet liegen und wir diese Bedeutungskategorien daher a priori mit anderen Menschen (und etliches davon sicher auch z. B. mit Primaten) teilen. Schon vor rund 250 Jahren hat bekanntlich Immanuel Kant herausgearbeitet, dass »Raum« und »Zeit« a priori – also vor jeder individuellen Erfahrung – unsere Erkenntnis strukturieren, also als Bedeutungskategorien bereits biologisch mitgegeben sein müssen. Anfang des 20. Jahrhunderts hat dann die Gestaltpsychologie der Berliner Schule (Wertheimer, Koffka, Köhler, Goldstein, Lewin u. a.) mit den »Gestaltfaktoren« Strukturierungsprinzipien in kognitiven Prozessen –
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besonders in der Dynamik der Wahrnehmung – untersucht und beschrieben (vgl. Unterkapitel 5.2). In den letzten Jahrzehnten ist unser Wissen über solche a priori erworbenen Bedeutungskategorien, besonders durch die Säuglingsforschung, rasant angewachsen. »Gesicht«, »unbelebte Gegenstände«, »Belebtes«, »Meinesgleichen«, »Artefakte« (also Gegenstände, die zu einem bestimmte Zweck hergestellt wurden, wie Stuhl, Hammer, Haus), »Körperteile«, »Früchte«, »Gemüse«, »Kausalität« und »Intentionalität« (Be-Deutung der raum-zeitlichen Veränderungen in der Konfiguration von belebten Objekten) sind solche Bedeutungskategorien, die bereits in der Architektur des menschlichen Organismus angelegt sind.25 Die herausragend relevante Bedeutungserteilung von »Gesicht« zeigt sich u. a. daran, dass wir oft auch dort Gesichter sehen, wo es sich nur um entsprechende Reizkonfigurationen handelt. Abbildung 3 zeigt zwei Gesteinsformationen auf der Marsoberfläche, Abbildung 4 zwei Formationen im Tempelfjord von Spitzbergen.26
(a)(b) Abbildung 3: Zwei Gesteinsformationen auf der Mars-Oberfläche (Fotos: NASA)
Interessanterweise gab es um Abbildung 3a – aufgenommen 1976 von der Viking-Marssonde NASA – ausführliche Debatten darüber, dass es sich um ein Artefakt von extraterrestrischen Lebewesen handeln könnte.27 Es ist offenbar 25 Entnommen aus Verweisen von Mausfeld (2005). 26 Farblich sehen die Formationen bei Spitzbergen noch beeindruckender »wie Gesichter« aus. Und an den Wänden der unzähligen Fjorde lassen sich viele gesichtsähnliche Formen finden – kein Wunder, dass in Norwegen viele Trollgeschichten von Bedeutung sind. 27 Noch heute ist das Internet voll von solchen Beiträgen – man gebe nur Suchwörter ein wie »Mars-Gesicht« oder Vincent DiPietro bzw. Gregory Molenaar (diese beiden eröffneten die lange Reihe von »Forschern«, welche die These eines intentional geschaffenen Artefakts vertreten).
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für manche schwer nachvollziehbar, dass »Formen« und »Bedeutung« nicht »da draußen« liegen, sondern ein kognitiver Akt sind. Genaugenommen handelt es sich ja bei Abbildung 3a und 3b tatsächlich um das »Erzeugnis« eines Lebewesens: nämlich das kognitive Erzeugnis des wahrnehmenden Menschen aufgrund seiner evolutionären organismischen Architektur.
(a)(b) Abbildung 4: Zwei Gesteinsformationen an den Hängen des Tempelfjords von Spitzbergen
Ebenfalls an Gesichtern lässt sich gut die integrative Verarbeitung (vorwiegend experimentell!) zerlegbarer Teilbedeutungen demonstrieren. In Abbildung 5a »erkennen wir« ein »ganz normales Gesicht« – selbst wenn wir wissen, dass Partien (Mund, Augen) darin so verdreht sind, dass uns dies bei – ebenfalls dominanter – Aufrechtbetrachtung (Abbildung 5b) sofort ins Auge springt. Bei Abbildung 5c »blickt das Gesicht« den Betrachter an, wenn man auf das Auge fokussiert, aber es blickt zur Seite, wenn man auf den Mund fokussiert. Da allerdings Abbildung 5b und 5c im üblichen Alltag nicht vorkommen, gab es keinen Grund für die Evolution des Organismus, diese rein experimentell erzeugten Probleme zu lösen.
(a)
(b)
(c)
Abbildung 5: »Störungen« der Integration von Teilbedeutungen zu einem »Gesicht«
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Während die Integrationsleistungen des Organismus eher unbemerkt ablaufen, sind sie bisweilen dann erfahrbar, wenn sich in bestimmten Situationen widersprüchliche Teil»meldungen« aus einzelnen Sinnessystemen ergeben. Bereits in den Anfängen der Gestalttheorie betonte Wertheimer (1912), dass Wahrnehmung im Gesamtprozess des Organismus nicht nur sensorisch, sondern u. a. auch sensomotorisch betrachtet werden müsse. So diskutiert er ausführlich das »Sich-labilFühlen«, wenn durch großflächige Projektion eines Umweltbildes in Bewegung die stabil gefühlte Raumlage des Körpers dazu kontrastierenden Reizen ausgesetzt wird. Dies erfährt man beispielsweise, wenn man sich in einem stehenden Zug befindet und der Blick durchs Fenster auf einen anfahrenden Zug am Nachbargleis fällt: Man glaubt nicht nur zu sehen, dass sich der eigene Zug bewegt, vielmehr verspürt man diese Bewegung – und auch den abrupten Wechsel, wenn man entdeckt, dass sich »nur« der Zug am benachbarten Gleis bewegt. Massiver ist dieser Eindruck bei der sogenannten »Hexenschaukel« (nach Rohracher, 1963, S. 181), bei dem eine Person auf einem fest am Boden verankerten Stuhl sitzt und von einem kleinen, hausartigen Karton umgeben ist, auf dessen Innenwänden Fenster und Einrichtungsgegenstände aufgemalt sind. Dieses »Haus« ist an einer Achse befestigt, um die es gedreht werden kann. Wenn nun das Haus in Bewegung gesetzt wird, ist die Erfahrung der eigenen Bewegung so zwingend, dass man sich krampfhaft festhalten muss, um nicht vom Stuhl zu fallen – und dies auch dann, wenn man weiß, dass sich der Stuhl, auf dem man sitzt, nicht bewegt. Die visuellen Teilprozesse des Erlebens dominieren also hier die körperlichen. Wie man von der sogenannten »Seekrankheit« weiß, kann das sehr unangenehm sein. Diese ist besonders dann stark, wenn man sich auf einem schaukelnden Schiff innen befindet und keine Sicht nach außen hat. Visuell ist dann alles ruhig, aber das Bewegungsorgan im Innenohr meldet »Bewegung«. Ähnliches kann beim Lesen im Bus passieren. Viele reagieren darauf mit starker Übelkeit. Man wird sehen, welche Probleme mit den derzeit propagierten »virtuellen Realitäten« und den entsprechenden VR-Brillen in dieser Hinsicht noch auftauchen. Doch es kann auch umgekehrt sein, wenn man dem Menschen Gelegenheit gibt, sich bei einer klar und differenziert gefühlten Raumorientierung (vor allem durch eigene Bewegung) einer kontrastierenden visuellen Wahrnehmung anzupassen. So haben zahlreiche gestaltpsychologische Experimente am Innsbrucker Psychologischen Institut (Kohler, 1951) mit Prismen- oder gar Umkehr-Brillen gezeigt, dass eine optisch verzerrt dargebotene »Welt« nach wenigen Tagen wieder »wie gewohnt« organisiert wird: Bei der Umkehrbrille waren beispielsweise »oben« und »unten« vertauscht – doch richtete sich die wahrgenommene »Welt« nach einigen Tagen wieder auf (wobei dann beim Abnehmen der Brille umgekehrte Nacheffekte auftraten – wenn auch nur minutenlang).
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Doch sind solche Phänomene eigentlich wenig erstaunlich: Sie belegen nur die beachtliche Leistungsfähigkeit der organismischen Integration. Diese ist für uns Menschen nicht nur die biologische Grundlage einer Lebenswelt voller bedeutungsträchtiger Wahrnehmungsobjekte. Sondern als Besonderheit unserer Lebenswelt kommt hinzu, dass unser reflexives Bewusstsein diese Welt auch noch zu sinnvollen und hinreichend konsistenten Symbolwelten gestalten muss. Diese ermöglichen über die Zeichenwelt der Tiere hinaus zwar erhebliche Freiheiten. Andererseits aber unterliegen auch diese vielen Einschränkungen – z. B. durch gemeinsame Werte, Normen, Ungleichheit, Ausbeutung etc. (vgl. Punkt 3). Egal aber, wie weit man diesen Aspekten im Einzelnen Rechnung tragen will: Eine erhebliche Prästrukturierung auch unserer Lebenswelt aufgrund der evolutionär erworbenen Architektur unseres Organismus (besonders des Gehirns) lässt sich kaum noch bezweifeln. Dies relativiert die Individualität der Subjektivität und unterstützt die Intersubjektivität (vgl. auch Punkt 3).28 2. Die Notwendigkeit von viablen (d. h. überlebensfähigen) »Lösungen«: Für die Bedeutungskategorien, die den Gegebenheiten der Lebenswelt aufgrund evolutionärer Entwicklung zugeordnet werden, gibt es sicherlich ein beachtliches Spektrum an Alternativen. Das genau begründet ja den Unterschied zwischen Umgebung (die für alle Spezies in einem bestimmten Raum-Zeitfenster identisch ist) und den beträchtlichen Unterschieden ihrer Umwelten. Aber sie müssen überlebensfähige Alternativen sein. Dies wurde bereits oben für die Maus diskutiert, die eine Schlange als »gefährlich« kategorisieren muss. Auch ein Einsiedlerkrebs, der fast jedem Gegenstand in seiner Umgebung die Bedeutung »Anemone« zuordnen würde, dürfte vermutlich ebenfalls scheitern. Und für die menschliche Lebenswelt gibt es ein entsprechendes Bonmot: »Der Affe, der keine realistische Wahrnehmung von dem Ast hatte, nach dem er sprang, war bald ein toter Affe und gehört daher nicht zu unseren Urahnen« (Simpson, 1963, S. 84; zit. nach Vollmer, 1998, S. 103). Die Befunde zum Social Brain zeigen allerdings auch, dass es nicht nur um viable Lösungen des Organismus für eine Entwicklung unter rein physikalischmateriellen Aspekten der Umgebung geht. Sondern auch die »übersinnlichen« (vgl. Punkt 1), abstrakten und in die Sozialgemeinschaft verlagerten realistischen Bedeutungszuweisungen durch den Organismus stellen erfolgreiche Alternativen dar. Der moderne Mensch muss so gesehen gar nicht mehr nach dem Ast springen. Allerdings braucht er dafür stattdessen verlässliche Bindungsperso28 Dabei muss hier offenbleiben, wie weit damit auch das Konzept der Archetypen abgedeckt ist (Jung, 1935/2011; Kast, 1996, 2014).
Die Grenzen der Subjektivität
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nen29 und ergänzende Sozialisation, die aber andererseits den Freiheitsraum von Subjektivität erheblich begrenzen (siehe Punkt 3). 3. Die gesellschaftliche und damit intersubjektive Konstruktion von generationsüberdauernden Strukturen der Lebenswelt: Wegen Punkt 1 und 2 sind menschliche Lebenswelten nicht nur durch evolutionär-organismische Präformierungen einerseits sowie ihre notwendige Einbettung in die Handlungsstrukturen der Sozialgemeinschaft andererseits bestimmt. Sondern zur Architektur des menschlichen Organismus gehört auch das essenzielle Bedürfnis der Subjekte, »die Welt« – und dabei auch sich selbst – (reflexiv) zu verstehen. Damit ist der Mensch in Prozesse der Intersubjektivität eingewoben, die seit sehr vielen Generationen vor seiner Geburt und auch nach seinem Tode wirken und seiner Subjektivität strukturelle Rahmen vorgeben. Spätestens seit den Diskursen über die Relevanz der Salutogenese30 ist das starke – und nach allem was wir wissen ebenfalls weitgehend angeborene – Bedürfnis des Menschen in den Fokus gerückt, seine Lebenswelt als eine verstehbare, handhabbare und sinnvoll-bedeutsame zu erfahren. Es geht darum, daraus ein Gefühl der Kohärenz zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Diese Kohärenz bezieht sich nicht nur auf die »Außenwelt« oder auf die Kommunikation mit anderen, sondern auch auf die reflexive Kommunikation mit sich selbst: Beim Verstehen der eigenen inneren Prozesse müssen Subjekte die Kul29 Das ist nicht unbedingt im Sinne der eurozentristisch und auf independente Kulturen eng ausgelegten »Bindungstheorie« gemeint, denn in dependenten Kulturen (Afrika, Indien etc.) zeigt sich, dass das Kleinstkind durchaus gut im Rahmen einer Nachbarschaft oder Dorfgemeinschaft betreut werden kann (Keller, 2011, 2015). Ob allerdings in unserer independenten Kultur die Abschiebung von Kleinstkindern in meist mangelhaft betreute Kinderkrippen dies ersetzen kann, darf gefragt werden. Und ob die Entwicklung von A-B-C-Waffen, Umweltverschmutzung, Klimawandel, raubtierkapitalistische Förderung von sozialen Spannungen usw. eine viable Entwicklung der Menschheit darstellen, muss sich noch erweisen. 30 Einsichten in die Wichtigkeit eines stimmigen und kohärenten Verständnisses »der Welt« (einschließlich seiner eigenen Person) gehen mindestens auf psychoanalytische und gestaltpsychologische Diskurse Anfang des 20. Jahrhunderts zurück und wurden besonders von Carl Rogers im Rahmen seiner Personzentrierten Psychotherapie und anderen Ansätzen zu Kernkonzepten der humanistischen Psychotherapie. In neuerer Zeit wird dies mit den Arbeiten von Antonovsky (1997) und seinem Konzept der Salutogenese verbunden, bei dem vor allem nach den Faktoren gefragt wird, welche für die psychosomatische Gesundheit des Menschen relevant sind. Das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence, SOC) mit den Faktoren Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit spielt dabei eine zentrale Rolle. Auch in den Überlegungen zu einer allgemeinen Psychotherapie von Klaus Grawe (2004) und den systemisch-selbstregulativen Konzepten von Theodor D. Petzold zu einer salutogenetischen Kommunikation (Petzold, 2010; Petzold u. Lehmann, 2011) wird dem SOC ein großer Stellenwert beigemessen.
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turwerkzeuge – Symbole, Sprache, Erklärungsprinzipien, Metaphern, Narrationen – auf sich selbst anwenden. Der Erwerb dieser Kulturwerkzeuge und ihr Gebrauch, der im Rahmen einer vieljährigen Sozialisation sichergestellt wird, ist über die biologischen Prästrukturierungen des Social Brains hinaus ein Garant dafür, dass komplexe Gesellschaften überhaupt hinreichend zusammenhalten und die Menschen darin an der gesellschaftlichen Konstruktion der Realität zusammenarbeiten können. Allerdings ist es ein wesentliches Kennzeichen jeder Kultur, den Deutungsraum der Wirklichkeit, die sich dann als »Realität« darstellt, zu begrenzen und Alternativen möglichst auszuschließen.31 Der große Gewinn ist freilich, in einer vertrauten und sicheren Alltagsrealität viele Reibungsverluste zu verringern und als »Selbstverständlichkeiten« zu handhaben. Durch die ungeheure Ansammlung an materiellen Kulturgegenständen und -werkzeugen – Fahrzeuge, Maschinen, Zeitungen, Radio und Fernsehen, Kleidung, Häuser, öffentliche Gebäude etc. – werden diese intersubjektiven Strukturen lebensweltlicher Prozesse zusätzlich stabilisiert. Die Beschränkung der Subjektivität wird schon durch die doppelte Botschaft der Sozialisation gerade in westlichen Gesellschaften deutlich: Dem »Werde ganz du selbst: autonom, unabhängig, selbstständig!« steht ein »Werde wie wir: Teile unsere Werte und Normen!« zur Seite. Wegen der zirkulären Abhängigkeiten zwischen Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln (vgl. Unterkapitel 4.4) wird somit auch die Bedeutungserteilung des Subjekts an die »Dinge« und Phänomene in seiner Lebenswelt von diesen kulturellen Strukturen weit mehr mitbestimmt, als dies bei jeder anderen Spezies der Fall ist. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die beträchtlichen Unterschiede im Wahrnehmen, Denken und Handeln zwischen asiatischen und abendländischen Kulturen ansieht (Nisbett, 2003).
31 Ein »Klassiker« in dieser Hinsicht ist nach wie vor »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« von Berger und Luckmann (1966, dt. 1969). Leider wird das Verhältnis von dem, was aus der Umgebung auf uns wirkt und dem, was wir im Sinne der Biosemiotik verbunden mit den kulturellen Zeichenprozessen daraus als Lebenswelt machen in der Literatur zwar mit denselben Begriffen – Wirklichkeit bzw. Realität – belegt, aber genau entgegengesetzt gebraucht. Ich selbst verwende für die vom Menschen realisierten Aspekte den Begriff »Realität« – weil darin auch mit »re« (res = lat. Ding) begrifflich die Beziehung zu den von uns konstituierten »Dingen« sowie die Diskurse über die Verdinglichung bzw. Reifikation hergestellt wird. Entsprechend meint »Wirklichkeit« die jene sprachlich-begrifflich nicht erfassten Wirkungen, die den Phänomenen der Realität zugrunde liegen (es sind die »Dinge an sich« bei Kant).
Der Mensch als »Animal Symbolicum«
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2.4 Der Mensch als »Animal Symbolicum« Trotz dieser überaus wichtigen Einbettung bereits des menschlichen Organismus in umfassende Zeichenprozesse im Sinne der Biosemiotik und deren Besonderheit durch eine vor allem sozial strukturierte Umwelt ist es ein besonderes Kennzeichen des Menschen, dass er seine Welt der Zeichen in ungeheurem Ausmaß erweitert hat. Zusätzlich zu den biologisch fundierten Zeichenprozessen allen Lebens haben Menschen eine geradezu unendliche Welt aus Symbolen erschaffen.32
32 Wobei hier mit »Symbolen« solche Zeichen gemeint sein sollen, die ganz oder weitgehend an die Bedeutungszuteilung durch eine Sozialgemeinschaft gebunden sind, egal, ob dies völlig willkürlich und konventionell erfolgt (wie die Buchstabenfolge »HUND« für das bellende Tier) oder aber noch mehr oder minder unmittelbare Einsichten aufgrund von Ähnlichkeitsbezügen zwischen Symbol und Symbolisiertem bestehen mögen (wie bei kultischen Symbolen oder bei Piktogrammen oder bei lautmalerischen Wörtern wie »eine Muh und eine Mäh«). In der Tat sind Verständnis und Gebrauch des Wortes »Symbol« sehr unterschiedlich. Autoren wie Goethe, Saussure, Peirce, Morris oder Cassirer haben teilweise eine gegensätzliche Definition verwendet – so meint z. B. Saussure mit »Symbol«, dass zwischen der Form des Zeichens und dem, was es ausdrückt, noch ein gewisser Ähnlichkeitsbezug besteht, während im Gegensatz dazu Peirce mit »Symbol« ein rein konventionelles Zeichen meint (bei einem Ähnlichkeitsbezug würde er von »Ikon« sprechen). Ebenso ist der Gebrauch des Wortes »Symbol« in den einzelnen Disziplinen sehr unterschiedlich: Psychotherapie (sehr unterschiedlich: Freud, Jung, Lacan, Lorenzer), Philosophie, Psychologie (u. a. Piaget), Literatur, Sprachwissenschaft, Kunst- oder Religionswissenschaft haben ein je eigenes Verständnis entwickelt. Eine Beschäftigung mit diesen Unterschieden ist für ein tieferes Verständnis der Frage, wie der Mensch zur Welt steht, sehr lohnenswert – würde aber den thematischen Rahmen und physischen Umfang dieses Buches sprengen. Gleichwohl ist auch für unseren Kontext die Unterscheidung (und Zusammengehörigkeit!) biosemiotischer Zeichen im Sinne von Uexkülls und der Welt der vom Menschen geschaffenen Symbole bedeutsam – dies geschieht in Anlehnung an Cassirer (1944, dt. 1960) und sein umfangreiches Werk zur Philosophie der symbolischen Formen (Band 1: Die Sprache, 1923; Band 2: Das mythische Denken, 1925; Band 3: Phänomenologie der Erkenntnis, 1929: Cassirer, 1925–1929/2010). Es sei darauf verwiesen, dass Norbert Andersch (2014) – ebenfalls auf der Basis der Theorie von Cassirer – aufzeigt, wie psychische Gesundheit vor allem als die Fähigkeit des Menschen verstanden werden kann, symbolische Formen zu kreieren, zwischen ihnen zu wechseln, sie zu einem Ganzen zu fügen und ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen des Selbst und denen seines Milieus zu finden. Und wie auf der anderen Seite psychische Krisen dann entstehen, wenn solche normale Kulturleistung nicht mehr oder nur unvollständig gelingt, wenn also einzelne symbolische Formen zusammenbrechen und/oder eine Unfähigkeit besteht, zwischen den verschiedenen Symbol ebenen zu wechseln. Der Austausch zwischen Individuum und Umwelt ist dann gestört und die Wirklichkeit verliert in Teilen oder ganz ihren Sinn, und das sich vom Individuum erarbeitete kulturelle Potenzial gerät ins Wanken. Auch diese interessante Analyse kann hier nicht weiter referiert und verarbeitet werden.
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Besonders der Philosoph Ernst Alfred Cassirer (1874–1945) betont den Aspekt, dass der Mensch mit seiner jeweiligen Umwelt nicht nur im Sinne der oben angeführten Biosemiotik über natürliche Zeichen, sondern zusätzlich und vor allem über ein Netzwerk aus Symbolen kommunikativ verbunden ist. Die Bedeutung dieser Symbole ist kulturell geschaffen und jeweils intersubjektiv vorgegeben (vgl. aber Fußnote 32). Insbesondere ermöglichen die Symbolwelten des Menschen, den Funktionskreis von Uexkülls nicht nur quantitativ, sondern qualitativ zu erweitern: Obwohl beispielsweise ein Hund im Vergleich zum Einsiedlerkrebs quantitativ über eine erheblich größere Vielfalt von relevanten Merkmalen und Wirkmöglichkeiten verfügt, bleiben diese dennoch unmittelbar aufeinander bezogen: Ein Rüde lässt sich nur mit äußerer Gewalt davon abhalten, sich mit einer läufigen Hündin zu paaren. Und auf Warnlaute von Tieren bei Gefahr reagieren andere unmittelbar (z. B. mit Flucht) und situationsbezogen. Mit den Symbolen der menschlichen Sprache können aber Inhalte ausgesagt werden (»propositionale Aussagen«), die nicht unbedingt mit einer darauffolgenden Handlung verknüpft sind. Aussagen können sich zudem auf Sachverhalte beziehen, die außerhalb der konkreten Wirklichkeit liegen (z. B.: »Nächstes Jahr werde ich nicht in die USA reisen« oder gar die Formelsprache der Mathematik). Damit kann, so betont auch Cassirer, der Mensch anhand der Symbole nicht nur ein faktisches, sondern auch ein ideales, rein im Denken bestehendes Bild seiner Welt entwerfen. Er bezeichnete den Menschen daher auch als »Animal Symbolicum«. Für unser zentrales Thema der Subjektivität ist aber auch bedeutsam, dass Symbole nicht nur zwischen Wahrnehmung und Reaktion beim einzelnen Menschen treten und damit wesentlich den Bezug zur Wirklichkeit mitgestalten, sondern dass durch diese Symbole als Kulturwerkzeuge nun die Subjektivität auf der Basis reflexiven Bewusstseins intersubjektiv verhandelbar wird,33 ja, dass sich der Mensch überhaupt in seiner Subjektivität nur selbst sehen und verstehen kann, indem er die intersubjektiven Werkzeuge seiner Kultur anwendet (ein Aspekt, der in Unterkapitel 5.5 genauer erörtert wird). Auch hierzu wieder eine Vignette, diesmal aus einer Paartherapie34 als Beispiel, damit deutlich wird, dass es mir hier keineswegs um Sprachphilosophie oder Erkenntnistheorie geht, sondern um relevante Aspekte von Praxis: 33 Das Social Brain richtet den Menschen zwar bereits sozial aus, und die erwähnte Protokommunikation kann sogar (auch) schon als rudimentäres Aushandeln von Intersubjektivität gesehen werden – aber dies geschieht eben noch nicht reflexiv-bewusst. 34 Modifiziert nach Kriz und von Schlippe (2004).
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Fallvignette Peter und Ute, beide Anfang Dreißig und seit gut zehn Jahren ein Paar, sitzen sich in der Therapiestunde gegenüber und sehen sich auf Anweisung der Therapeutin in die Augen. Bereits nach wenigen Momenten schweifen Peters Blicke in die Ferne, so als würde er durch Ute hindurchsehen. Kurz darauf senkt er ganz den Blick. Nun sinkt auch Utes Blick zu Boden. Die Therapeutin wartet noch wenige Augenblicke, dann spricht sie die beiden auf das Geschehene an. Peter und Ute haben gar nicht bewusst mitbekommen, was geschehen ist. Aber Peter erinnert sich nun im Gespräch, dass er plötzlich vor seinem inneren Auge eine halb verschwommene Szene erinnert habe, in der seine Mutter ihn ähnlich »erwartungsvoll« angesehen habe. Er war erst 14 Jahre, das älteste von drei Kindern, und sein Vater hatte sich gerade von der Familie getrennt – ein schwerer Schlag für alle. »Jetzt bist du der älteste Mann im Haus«, hatte seine Mutter bei mehreren Gelegenheiten scheinbar scherzhaft einfließen lassen. Aber Peter hatte deutlich gespürt, dass dies mehr bedeutete und dass die Mutter ihm in ihrer Hilflosigkeit nicht nur einen großen Teil der Verantwortung für seine Geschwister, sondern sogar noch für ihr eigenes Wohlbefinden aufgebürdet hatte: Immer wieder hatte er die indirekte Aufforderung gespürt, sie zu schonen, zu umsorgen und zu trösten, wenn sie vor Traurigkeit über den Fortgang des Vaters fast »zerfloss«. All dies kam ihm wieder in Erinnerung, als er in Utes Augen sah, und verstellte ihm den klaren Blick: Die »erwartungsvollen« Augen von Ute und die der Mutter, die Erfahrungen in einer zehnjährigen Ehe und in der davor liegenden Vergangenheit hatten sich zu einer Art innerem Film vermischt, der nun in Peter ablief und das Hier und Jetzt im Raum der Therapeutin weitgehend überblendete. Auch bei Ute hatte ein innerer Film die Oberhand gewonnen. Nun, im gemeinsamen Gespräch, erinnerte sie sich, dass sie Peter zunächst tatsächlich »erwartungsvoll« angesehen habe – allerdings eher in neugieriger Erwartung, was nun wohl geschehen würde. Denn, so berichtet sie, so richtig angesehen hätten sie sich seit vielen Jahren nicht mehr, obwohl sie durchaus viel Zeit miteinander – oder besser: nebeneinander – verbrachten. Im Bett lief es schon lange nicht mehr und auch der sonstige Alltag war weitgehend von ständigen Streitereien, Missverständnissen und Unterstellungen bestimmt. Was Peter also in Utes Blick an die Situationen permanenter Überforderung durch seine Mutter erinnert hatte, war aus Utes Sicht interessierte Zuwendung gewesen. Ja, sie gab sogar an, seit Langem erstmals wieder ein liebevoll zärtliches Kribbeln gespürt zu haben, als sie ihrem Partner so nah gegenübersaß und bemerkte, wie attraktiv sie ihn immer noch fand.
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Als dann aber sein Blick verschwamm und er gar seine Augen sinken ließ, durchfuhr auch Ute eine alte Erinnerung: Als ebenfalls älteste von drei Kindern wurde ihr die Verantwortung dafür zugeschoben, die Forderungen der Mutter nach peinlicher Sauberkeit und Ordnung umzusetzen. Bei den häufigen Auseinandersetzungen darüber hatte sie sich meist von ihrem Vater im Stich gelassen gefühlt. Obwohl der »Ordnungsfimmel« der Mutter dem Vater selbst oft »auf den Wecker gegangen« war, hatte er letztlich nie zu Ute gehalten, sondern bei drohenden Auseinandersetzungen feige der Mutter zugestimmt. Dies war besonders hart, da er sich sehr wohl bei ihr über seine Frau beschwerte, wenn sie allein waren und sie seine plump-übergriffigen Zärtlichkeiten ertrug. Nie hatte sie dies der Mutter erzählt und fühlte sich daher in ihrer Solidarität zum Vater besonders verraten. Wie auch Peter eben, sah der Vater dann durch sie hindurch und ließ den Blick sinken, wenn es darauf angekommen wäre, einmal Partei für sie zu ergreifen. Dass ihr daher auch in der aktuellen Situation bei Peters Verhalten die alten Szenen wieder vor Augen kamen, ist nur zu verständlich.
Diese kleine – idealtypisch verdichtete, aber wohl jedem Paartherapeuten gut vertraute – Sequenz zeigt deutlich das Ineinandergreifen der vier Prozesse benen: Die Zeichen »erwartungsvoll-beanspruchender« Blick in der Merkwelt von Peter bzw. »Desinteresse verratender« Blick in der Merkwelt von Ute werden ja ebenso wirkungsvoll wie eigentlich auch korrekt gedeutet – nur eben nicht situations- und personenadäquat. Sondern beide Deutungsmuster haben sich in früheren Lerngeschichten entwickelt, die – obwohl sie nun sprachlich erzählt werden können – sicherlich zu einem großen Teil auch affektiv vom Organismus gespeichert wurden. Sie sind vor allem auch mit biosomatischen und archaischen Grundmustern verbunden: Bei Peter geht es u. a. darum, als Kind Schutz und Versorgung durch die Mutter zu erfahren (und nicht umgekehrt). Bei Ute geht es u. a. darum, Zuwendung und Unterstützung besonders seitens der Mutter zu erfahren und nicht die Übergriffigkeit durch den Vater zu erleiden. Es geht dabei weniger um Erfahrungen, die dem bewussten, rationalen, deklarativen Gedächtnis zugänglich wären, sondern um solche, welche affektiv im Organismus repräsentiert sind. Psychisch-interpersonell finden wir ein Muster, das bei beiden aus Resignation besteht: »Der andere gibt mir nicht, was ich brauche«, zu dem aber sicherlich beide – das würde die Paartherapie im Weiteren genauer aufschlüsseln – stabilisierend beitragen. Selbst in dieser winzigen Sequenz sind ja die Verhaltensweisen der beiden genau aufeinander abgestimmt.
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Gleichwohl zeigt gerade die Möglichkeit des therapeutisch begleiteten Miteinandersprechens über diese Erfahrungen (wozu auch ein »dritter Blickwinkel« in der Regel sehr hilfreich ist), dass die beiden subjektiven Umwelten um (zusätzliche) Aspekte ihrer intersubjektiv geteilten Bedeutungswelt erweitert werden können (etwas, das wir in Abschnitt 4.3.3 genauer betrachten und als »Synlogisation« bezeichnen werden). Dabei werden Bedeutungsgehalte der Umwelt des Partners zunächst mehr oder weniger mit übernommen – was nicht unbedingt »teilen« heißt, aber zumindest eine Anerkenntnis von deren Existenz erfordert. Hier entsteht ein kleines (weiteres) Segment einer gemeinsamen Symbolwelt, welche auch das Animalische im Animal Symbolicum in seinem Bezug zur Welt – und hier besonders: zum Partner und dessen Handlungen – im Weiteren beeinflusst. Klar ist auch (egal, ob und wie weit es explizit Thema in der Therapie wird), dass viele Aspekte der Verstehensweisen (d. h. letztlich: auch der subjektiven Umwelten) in umfassendere Strukturen kultureller Symbolwelten eingebettet sind, die sich als Metaphern, Geschichten, Prinzipien etc. thematisieren lassen: Was bedeuten beispielsweise in den Familien bzw. Subkulturen, aus denen Ute und Peter kommen, Konzepte und Bilder von »Anforderung«, »Fürsorge«, »Verlässlichkeit«, »Zuwendung« etc.? Die Prinzipien, mit denen jeweils Ute und Peter »die Welt« verstehen, sind ja weder nur evolutionär, noch ausschließlich interpersonell entstanden, sondern sie haben Bedeutungen in umfassenderen Sozialgemeinschaften. Diese Bedeutungen aber sind entsprechend der konkreten Situationen, Abläufe und Erfahrungen biografisch ausgeformt und auch in den individuellen Lebensvollzügen der Personen repräsentiert. Und sie beeinflussen zudem das, was wir mit »psychischen Prozessen« meinen – die Wahrnehmung, deren Verarbeitung und Bewertung in Form von Gefühlen, die Denkprozesse und die daraus resultierenden Handlungsabsichten. Dass also alle vier (ohnedies nur analytisch unterschiedenen) Prozessebenen – organismisch, psychisch, interpersonell und kulturell – in komplex-verflochtener Weise zusammenwirken, mag aus diesen wenigen Ausführungen deutlich geworden sein.35 Wie dies geschieht, davon handelt dieses Buch im Weiteren.
35 Im Bereich der ärztlichen Heilkunst hat sich die Perspektive der Biosemiotik übrigens bereits besser etabliert als in Psychotherapie oder Beratung. Führend im deutschen Sprachraum ist hier die »Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin« (AIM), deren Ziel es ist, die unterrepräsentierte bio-psycho-soziale Dimension in die Spezialgebiete der Medizin zurückzubringen. (vgl. von Uexküll, Geigges u. Plassmann, 2002; Hontschik, Bertram u. Geigges, 2013; Hontschik, 2006).
3 Systemische Prinzipien
3.1 Selbst reguliertes Missgeschick – oder: Missgeschick bei der Selbstregulation Die folgende Geschichte soll beispielhaft ins Zentrum des systemischen Verständnisses von Problemstrukturen führen: Beispiel Zwei Personen, A und B, mieten sich ein kleines Segelboot. Sie sind nicht sehr erfahren und daher unsicher; aber der See ist nicht groß und das Wetter gut – es scheint somit unproblematisch zu sein. Nach einiger Zeit aber sieht man, wie beide recht verkrampft, verzweifelt und hilflos an den jeweils gegenüberliegenden Außenbordseiten »in den Seilen hängen« (siehe Abbildung 6). Was ist geschehen? Nach anfänglich ruhiger Fahrt geriet das Boot ein wenig ins Schaukeln. Wegen Unsicherheit und Unerfahrenheit – dass dies üblich ist und keinerlei Gefahr bedeutet – meinte A, die Schieflage ausgleichen zu müssen, als sich das Boot einmal (nach seiner Meinung) zu sehr nach B neigte. Er lehnte sich also etwas über Bord. Dadurch aber senkte sich das Boot nun bei der nächsten Schaukelbewegung mehr zur A-Seite, als B lieb war. Also lehnte auch B sich über Bord, was nun B noch mehr ausgleichen musste. Man kann sich gut vorstellen, dass diese »Ausgleichsmaßnahmen« des jeweils anderen so lange weitergingen, bis ein weiteres Hinauslehnen gar nicht mehr möglich war, weil beide bereits nur noch »in den Seilen« hingen. Natürlich war nicht nur anderen Beobachtern, sondern auch ihnen selbst diese absurde Lage bewusst, in die sie geraten waren – aber nun gab es für sie scheinbar kein »Zurück« mehr. Denn dafür hätte es nun viel an Vertrauen und Zuversicht bedurft – deren Mangel sie ja gerade in die missliche Lage geführt hatte.
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Abbildung 6: Zwei Personen im Boot beim Versuch, das Schaukeln auszugleichen
Trotz stark vereinfachender und recht idealtypisierter Darstellung lassen sich einige zentrale Aspekte an dieser Geschichte zeigen: Auch sehr deutlich ausgeprägte, sowohl für äußere Beobachter als auch für die Beteiligten klar erkennbare, leidvolle und problematische Verhaltens- bzw. Interaktionsformen können gegebenenfalls aus zunächst nur kleinen Abweichungen entstanden sein. Diese wären »eigentlich« unproblematisch und in diesem frühen Stadium wäre die Dynamik auch noch leicht rückgängig zu machen (etwa wenn, im Beispiel, beide frühzeitig erkannt hätten, dass eine Fortsetzung der »Ausgleichs«-Handlungen nichts verbessert, sondern nur alles weiter verschlimmern würde). Allerdings gibt es vielerlei Gründe dafür, warum oft nicht frühzeitig erkannt wird, wohin die Entwicklung führt: ȤȤ äußere Umstände: Das Boot ist wirklich unsicher, Wetter und See werden unruhiger etc.; ȤȤ persönliche Gegebenheiten: Ängstlichkeit, frühe Erfahrungen etc.; ȤȤ interaktive Muster: »Eigentlich« wusste B schon aus früheren Begegnungen, »dass man A nicht trauen kann« etc. Ein wichtiger und typischer Aspekt bei solchen Entwicklungen ist auch, dass man lange Zeit meint, nur auf den anderen oder die Umstände zu reagieren – während der eigene aktive Anteil an dieser Dynamik nicht gesehen oder bagatellisiert wird. Ist das Interaktionsmuster im weiteren Verlauf dann aber so massiv ausgeprägt, dass dieses und auch die »Merkwürdigkeit« des eigenen Verhaltens nicht mehr übersehen werden kann, lässt sich das eben nicht mehr so leicht korrigieren: Die Beteiligten hängen dann bereits, wie im Bootbeispiel, nur noch »in den Seilen«; eine völlig ungewollte, unerwartete und ungewohnte Situation ist entstanden. Diese kann die sonst zur Verfügung stehenden Ressourcen in hohem Maße binden und damit die Kompetenzen zur Veränderung aus eigener Kraft und Einsicht schwächen.
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Diese einseitige Sichtweise, sich bei negativen Entwicklungen primär als »nur Reagierender« zu verstehen, ist sehr typisch und wird als »Interpunktion« von Abläufen bezeichnet (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969). In der systemischen Literatur finden sich unzählige Beispiele, die im Wesentlichen wie folgt beschrieben werden können: In dem bereits ausgeprägten Interaktionsmuster zwischen einer halbwüchsigen Tochter, die öfter von zu Hause weg ist und »herumstreunt«, und ihrer Mutter, die stark »kontrolliert«, kann man eigentlich nur die Abfolge … M → T → M → T → M … beobachten (siehe Tabelle 2, 1. Zeile). Aus systemischer Sicht ist klar, dass (neben gegebenenfalls anderen Einflüssen!) sowohl die Mutter als auch die Tochter zur Aufrechterhaltung dieses für beide leidvollen Musters beitragen (siehe Abbildung 7). Tabelle 2: Interpunktion als systemisch-psychologisches Phänomen (hier zwischen Mutter und Tochter)
Erläuterung: Mutter (M) und Tochter (T) interpretieren die Abfolge unterschiedlich »kausal« so, dass sie sich selbst als »Opfer« dem »Täter« ausgeliefert sehen (dicker Pfeil) und ihren eigenen Anteil ignorieren (dünner Pfeil).
Abbildung 7: Das zirkuläre Muster der Interpunktion zwischen Mutter und Tochter (gemäß Tabelle 2)
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Mutter und Tochter sind hier tatsächlich auch im wörtlichen Sinne »Part-ner« – nämlich Teil (Part) eines gemeinsamen Interaktionssystems. Doch die eigenen »Erklärungen« der Mutter bzw. der Tochter sind, wie in Tabelle 2, Zeile 2 bzw. 3 skizziert, sehr einseitig und gegensätzlich. Dabei sind diese »Erklärungen« üblicherweise nicht willentlich »herbeigesucht« – etwa um den anderen zu beschuldigen –, sondern sie werden in der Regel von den Beteiligten auch so »erlebt«. Ähnlich wie beim Beispiel der beiden Bootsfahrer ist auch hier sowohl Mutter wie Tochter klar, dass sich eine ungute Interaktion herausgebildet hat. Doch auch wenn sie mehr oder weniger spüren und ahnen, dass sie selbst mit dazu beitragen, ist es keineswegs so leicht, daraus einfach »auszusteigen«. Denn die Verursachung durch den anderen wird meist unmittelbar erlebt. Dies verweist darauf, welch massiven Einfluss die angeführten vorherrschenden klassischen Ursache-Wirkungs-Prinzipien in unserem »Weltverständnis« haben: Unser Wahrnehmungs- und Reaktionsrepertoire auf der Basis animalischer Gehirnstrukturen ist eher lokal, reduziert und »linear«, als dass komplexere systemische Zusammenhänge »erlebt« werden könnten. Irgendwer oder -was wird somit als unmittelbarer Verursacher wahrgenommen, worauf man ebenso unmittelbar reagieren »muss«. Auch in den Erklärungsprinzipien der Alltagswelt des Menschen sind zirkuläre Entwicklungsdynamiken selten bis gar nicht zu finden. Allerdings hat auch die obige »systemische« Darstellung einen Bias, der lange Zeit in den Diskursen nicht bemerkt wurde: In Tabelle 2 sind nämlich interessanterweise nur die »Opfer«-Perspektiven narrativiert. Auch dies ist in unserer Alltagswelt typisch: Zumindest bei unerfreulichen bis leidvollen Geschehnissen neigen wir dazu, andere oder die Umstände als »Schuldige« heranzuziehen und uns selbst als »Opfer« derselben zu sehen. Kommt man beispielsweise zu einer Verabredung oder Veranstaltung zu spät, war es der »Verkehrsstau«, oder »jemand«, der einen »aufgehalten hat« etc. Fast nie hört – und denkt (!) – man als »Erklärung«, dass man den Zeitbedarf schlecht geplant oder falsch eingeschätzt hat. In Abschnitt 4.1.4 werden wir die vollständigeren Narrationen aus »Opfer«- und »Täter«-Perspektive darstellen. Am Beispiel der beiden Segler bzw. der Mutter-Tochter-Dynamik wurden einige Grundprinzipien des systemtheoretischen Verständnisses von Problemstrukturen aufgezeigt, die nun als Zwischenresümee zusammengefasst werden:
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Zwischenresümee Systemtheoretisches Verständnis von Problemstrukturen 1. Menschliche Verhaltensweisen stehen immer in einem Interpretationskontext, der für die Beteiligten dem Verhalten (und dem gesamten Geschehen) einen Sinn unterlegt und Verhalten so zu Handlungen mit bestimmten Motiven macht. 2. Dieser Sinn (und damit das Verständnis der Gesamtsituation) kann bei den einzelnen Beteiligten recht unterschiedlich bis gegensätzlich sein (vgl. die Interpunktionen). 3. Erklärungen und Beschreibungen der einzelnen Beteiligten spiegeln somit nur sehr bedingt eine »objektive« oder beobachterneutrale Wirklichkeit wider. Vielmehr handelt es sich um ein bestimmtes Verständnis der gegebenen Situation sowie deren »Ursachen«, den »Wirkzusammenhängen« und den weiteren Verläufen bzw. »Wirkungen«, das aber für die persönliche Realität essenziell und handlungsleitend ist (»gefährliche Schwankung«, »Gleichgewichtsausgleich« beim Boot oder »herumstreunen« bzw. »kontrollieren« bei Tochter und Mutter sind Beschreibungen von Vorgängen, die zwar andere Menschen gegebenenfalls ganz anders sehen und beschreiben würden, die aber für das Erleben der Beteiligten und für die daraus folgenden Handlungen essenziell sind). 4. Auch sehr ausgeprägte und leidvolle Muster im Verhalten können sich aus sehr kleinen Anfangstendenzen durch gegenseitig verstärkende Interpretationen und »Reaktionen« im weiteren Prozess entwickeln. Ein solches Muster, auf das sich ein Prozess hinbewegt, wird in der systemischen Fachsprache als Attraktor bezeichnet (ausführlicher: Abschnitt 3.5.3). 5. Ist aber ein solches Muster in einem Prozess erst einmal deutlich manifestiert, so lässt es sich nicht mehr so leicht ändern. Typischerweise weist es eine Überstabilität auf, was u. a. damit zu tun hat, dass die Wahrnehmung der Ressourcen für neue Lösungen durch eine zu enge Fixierung auf das problematische Geschehen eingeschränkt ist.
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Besonders Punkt 4 betont, dass die Beteiligten oft quasi in die sich entwickelnde Ordnungsstruktur (Attraktor) der Prozesse »hineingezogen« werden: Aus einer zunächst schwachen Tendenz entwickelt sich unter bestimmten Bedingungen (die noch genauer untersucht werden) ein immer deutlicheres und stabileres Muster. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, weil damit eine Absage an die Vorstellung eines einseitigen »Verursachers« oder gar »Schuldigen« erteilt wird. Ohne damit – was genauso wichtig ist – die Mitverursachung bzw. Mitschuld der einzelnen Beteiligten zu nivellieren. In manchen Fällen ist eine Zuordnung zu einem »Verursacher« zwar möglich, dies ist aber keineswegs typisch: Weder im Boot- noch im Mutter-Tochter-Beispiel ließe sich sagen, wer »angefangen« hat oder gar, wer »Schuld« ist. Es ist allerdings hilfreich und sinnvoll, wenn wir uns eingestehen, dass eine solche Sicht durchaus kontraintuitiv ist. Die Suche nach »Verursachern« ist wohl nicht erst durch Vermittlung unserer kulturellen Erklärungsmuster entstanden, sondern vermutlich bereits evolutionär vorstrukturiert. Denn »Verursacher« erfüllen die Funktion eines Ordnungsschemas, das in unserer Wahrnehmung der Dynamik komplex ablaufender Phänomene einen reduzierten Sinn zuweist: Wenn man beispielsweise vor einem vierstöckigen Haus steht und unten auf die Klingel drückt, daraufhin oben ein Fenster aufgeht und ein Blumentopf herunterfällt und laut krachend auf der Straße aufschlägt, so erlebt man unmittelbar, dies »verursacht« zu haben. Erst danach setzen dann die Überlegungen und schlussfolgerndes Denken ein – und man wird sein Erleben dahin korrigieren, dass man das (vermutlich) nicht verursacht hat, sondern es sich um ein zufälliges Zusammentreffen zweier Ereignisse handelt. Gestaltpsychologen haben sich bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgiebig den Tendenzen zur Ordnungsbildung bei unserer Wahrnehmung gewidmet. Dabei wurden beispielsweise einfache geometrische Figuren (Kreis, Dreieck, Viereck etc.) wie in einem (heutigen) Zeichentrickfilm in bestimmter Weise aufeinander zu- oder voneinander wegbewegt, oder man ließ sie sich schnell bzw. langsam berühren etc. Was Versuchspersonen beim Betrachten zwingend erlebten, waren »kausale Verursachungen«. Wenn beispielsweise die eine Figur (A) schnell auf eine andere Figur (B) zubewegt wird, diese »berührt«, und dann die andere in fast gleicher Geschwindigkeit die Bewegungsrichtung fortsetzt, wird erlebt, dass »A dabei B angestoßen und die Bewegung verursacht« hat (Michotte, 1954). Wenn sich A und B langsam aufeinander zubewegen, ein wenig umkreisen, kleine Zitterbewegungen ausführen (wie »Beschnuppern«) etc., so wird dies als »Aufnehmen von sozialen Beziehungen« erlebt (Heider, 1944). All dies ist natürlich vor dem Hintergrund der im vorigen Kapitel diskutierten evolutionär erworbenen Prästrukturierungen bei der Wahrnehmung sehr
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sinnvoll: Ein Organismus, der nur die »Einmaligkeit jedes Momentes« und die »Vielfalt der Welt« erfahren würde, könnte schwerlich überleben. Stattdessen stellen die Merk- und Wirkorgane vergleichsweise grobe Verhaltenskontingente für eine Spezies her. Es ist also keineswegs so, dass erst der Mensch mit seiner Sprache und seiner Verwendung von Symbolen Kategorisierungen durchführt. Wie am Beispiel des Einsiedlerkrebses und der Anemone (Unterkapitel 2.1) gezeigt wurde, ist es sogar eher umgekehrt: Gerade einfach strukturierte Organismen haben in ihrer Umwelt nur sehr wenige Objekte, die sie mit ihren Merkorganen wahrnehmen und auf die sie mit ihren Wirkorganen einwirken. Aus der Perspektive menschlicher Differenzierungsfähigkeit, die uns ermöglicht, sehr viele unterschiedliche Anemonen in ihrer jeweiligen Besonderheit und Einmaligkeit wahrzunehmen, könnte man sagen, dass der Krebs nur sehr grobe Kategorisierungen durchführt – die zudem primär von seinen Stimmungen abhängig sind. Offenbar ist für die Evolution von uns Menschen (und ziemlich sicher auch für viele andere Säugetiere) die Gestaltbildung bei der Wahrnehmung in »verursachende« und »auswirkende« Phänomene sehr wichtig gewesen. Das Gleiche gilt für »Objekte« im Wahrnehmungsfeld, die sich so bewegen, wie dies eben Objekte im Kontext sozialer Beziehungen tun (»annähern«, »beschnuppern«, »zurückweisen«, »wegstoßen« etc.). Dabei ist es für das Erleben eben zu einem erstaunlichen Grad gleichgültig, ob diese »Objekte« andere Menschen oder abstrakte geometrische Figuren sind: Es scheint besser zu sein, lieber ein paar »Beziehungen« (kausal oder sozial) zu viel in die Welt »hineinzukonstruieren«, als welche zu übersehen. Aus dieser Perspektive ist auch ein kritischer Vorbehalt gegenüber der Vorstellung anzumelden, die im humanistisch-systemischen Diskurskontext oft zu finden ist: dass der Mensch nämlich auf organismischer Ebene hoch differenziert wahrnehme bzw. erlebe und erst durch seine Sprache, Kultur, Regeln etc. Kategorisierungen durchführe. Fraglos wird durch Kategorisierungen die Komplexität der Reizwelt erheblich reduziert – aber das gilt eben vor aller Sprache auch für den Einsiedlerkrebs oder noch einfachere Organismen. Denn diese »unterscheiden« ja nur scheinbar mit ihren Verhaltensweisen zwischen Tag und Nacht, Ebbe und Flut oder den Jahreszeiten: In Wirklichkeit fassen sie die immense Vielfalt der Phänomene in der Reizwelt zu eben solchen Kategorien zusammen. In wörtlicher Bedeutung haben sie eben keinen »Sinn« für die einmalige Schönheit eines Sonnenaufgangs, sondern es reicht einfach, dass Licht da ist (Tag) oder nicht da ist (Nacht). Ebenso kann beispielsweise operantes Konditionieren – das von Behavioristen intensiv untersuchte Lernen von Verhaltensweisen durch sogenannte Ver-
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stärkung (z. B. Belohnung) – als organismische Fähigkeit zur Regelsuche verstanden werden. Denn es wird de facto eine Klasse oder Kategorie von Reizen, die als äquivalent rezipiert werden, mit einer Klasse oder Kategorie von Verhaltensweisen verbunden, die meist sehr ähnlich, aber keineswegs voll identisch sind. Experimente haben gezeigt, dass sogar ganz zufällig (von einem Automaten) verabreichte Futterpillen, bestimmte Verhaltensweisen »formen«: Da notwendigerweise irgendeine einzelne Bewegung rein zufällig kurz vor der Gabe einer Futterpille ausgeführt wird, resultiert daraus eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass diese Bewegung wiederholt wird. Mit der Wiederholung aber steigt andersherum die Wahrscheinlichkeit, erneut mit einer Futterpille »belohnt« zu werden. Skinner (1948) zeigte, dass aus solchen Wiederholungen und – ebenfalls zufälligen – Modifikationen ein recht bizarres Verhalten resultieren kann (das dann ja wiederum eine hohe Wahrscheinlichkeit zur Verstärkung hat). In Anlehnung an gezieltes operantes Konditionieren von Verhaltensweisen – was »Shaping« genannt wird – bezeichnete Skinner dies als »Auto-Shaping«. Wir Menschen können nun Sprache und Symbole auch dafür verwenden, unsere Wahrnehmung differenzierter einzusetzen. Etwa wenn wir jemand tatsächlich auf die Besonderheiten des dämmernden Morgens oder der untergehenden Sonne, den Geschmack von Speisen, die Anmut eines Vorbeigehenden etc. aufmerksam machen. Wir können auch uns selbst oder andere durch Achtsamkeitsübungen und dergleichen darauf aufmerksam machen, manche inneren Prozesse deutlicher und differenzierter wahrzunehmen. Allerdings wird wohl jeder eingestehen müssen, dass er einen Großteil des Tages nur gerade so achtsam und differenziert wie nötig »die Alltagswelt« in den vertrauten und bekannten Kategorien erlebt. So können wir vor allem auch durch Einsatz von Sprache, Symbolen und rationalem Denken komplexe systemische Zusammenhänge begreifbar machen und so dem Erlebensdruck der Kausalität und anderer Strukturierungen unserer Lebenswelt etwas entkommen. Wobei noch genauer erörtert wird (vgl. Unterkapitel 3.8), dass es gerade in unserer abendländischen Kultur mit ihrer verdinglichenden Sprache und Wachstumsideologie systemische Verstehensweisen besonders schwer hatten und haben – im Vergleich beispielsweise zu asiatischen Weltbildern, in denen die Kreisbewegung von Auf und Ab, von »Stirb und werde!« zur kulturellen Sichtweise gehört (Nisbett, 2003). So ist denn in unserer Kultur der Hang zur Identifizierung eines »Schuldigen« so groß, dass dies sogar noch in den Anfängen der Familien- und systemischen Therapie als Leitidee diente: An symptomatischem Verhalten war nach damaliger Sprechweise die Familie »schuld« oder gar nur die Mutter. So diente etwa das Konzept der »schizophrenogenen Mutter« aus den 1950er Jahren dazu,
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die beobachteten Auffälligkeiten im Verhalten einer Mutter bei schizophrenen Kindern als »Ursache« zu deuten. Dies war aber nicht nur eine reduktionistische, einseitige Kausalzuschreibung, die der systemische Ansatz eigentlich gerade vermeiden wollte. Sondern es wurde dabei auch übersehen, dass eben bestimmte Aktionen und Reaktionen eines Kindes auch eine spezifische Herausforderung für eine Mutter (oder andere) darstellen können, denen sie auf andere Weise vielleicht nicht gewachsen ist. Dieselbe Mutter würde bei einem anderen Kind – oder dasselbe Kind würde bei anderen Mutter – keineswegs eine ungünstige Dynamik in Gang setzen, die dann zu einem so leidvollen Attraktor führt (vgl. die sogenannten »Schrei-Babys« in Abschnitt 4.1.3). Wenn somit ein Therapeut, Berater oder Coach jemandem einseitig die Schuld für ein bestimmtes Gefüge aus Interaktionen zuschreiben oder zu einer solchen Sichtweise beitragen würde, wäre dies bereits theoretisch unzureichend. Zudem wäre dies aber auch kontraproduktiv für eine hilfreiche Zusammenarbeit. Denn es ist sicher keine gute »Einladung« zur Kooperation an Personen, wenn man diese gleichzeitig zu Schuldigen erklärt. Es gibt zwar Ausnahmen – beispielsweise juristische Fragstellungen –, in den meisten Fällen aber ist es viel sinnvoller und wichtiger, gemeinsam Bedingungen zu konstellieren, welche die Veränderung dieses Musters ermöglichen, anstatt herausfinden zu wollen, wer an der Entstehung dieses unguten Musters »eigentlich Schuld« ist. Auch diesen Aspekt werden wir in Abschnitt 4.1.4 vertiefen.
3.2 Systemtheoretische Essentials: Ein erster Überblick In diesem Abschnitt werden zunächst vier zentrale systemtheoretische Essentials, die auch für die Personzentrierte Systemtheorie essenziell sind, überblicksartig dargestellt. Sie sind in den obigen Beispielen zwar bereits exemplarisch angeklungen, kommen hier aber explizit zur Sprache. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Essentials nicht als Axiome derart zu verstehen sind, dass daraus alles Weitere abgeleitet werden könnte. Sondern es handelt sich um miteinander verbundene und sich daher überlappende Grundprinzipien bzw. Aspekte, auf die wir immer wieder verweisen werden.36 36 Es sei angemerkt, dass diese Essentials nicht im Gegensatz stehen oder als »Gegenprogramm« zu den sogenannten »generischen Prinzipien« zu verstehen sind, wie sie von Haken und Schiepek als Bedingungen für klinisches bzw. synergetisches Prozessmanagement (Haken u. Schiepek, 2006/2010, S. 436 ff.) formuliert und beispielsweise von Rufer (2012) anhand von Fällen aus der Praxis beeindruckend entfaltet werden. Es liegen vielmehr große grundsätzliche Übereinstimmungen zwischen beiden Ansätzen darin, wie Phänomene unserer Lebens-
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Um anzuregen, die vier Essentials im Gesamtzusammenhang zu sehen, werden sie zunächst sehr kurz charakterisiert. Je nach Vorwissen sind vielleicht einige Begriffe unbekannt – sie werden aber in den folgenden Abschnitten des 3. Kapitels ausführlich erläutert. Ihre umfassende Bedeutung, besonders für Fragen des bio-psycho-sozial-kulturellen Gesamtgeschehens, wird allerdings erst nach und nach in der weiteren Darstellung und Erörterung entfaltet. Zusammenstellung essenzieller Prinzipien der Systemtheorie A. Es geht um Prozesse (nicht um »Dinge«) von miteinander dynamisch vernetzten »Teilen« Die Gesamtheit wechselseitig voneinander abhängiger Einflüsse wird gemeinhin als ein Feld bezeichnet. In diesem Sinne sind die »Teile« hier als Teile eines Feldes von miteinander verbundenen Wirkungen zu verstehen (also nichts Gegenständliches). Es geht um Handlungen, Kommunikationen, Gedanken, Wahrnehmungen etc. Begriffe wie »Krankheit«, »Gesundheit«, »Problem«, »Störung«, »Team«, »Ziel«, »Persönlichkeit« etc. beziehen sich daher nicht auf etwas Statisches, sondern auf die – gegebenenfalls stabile – Struktur eines dynamischen Prozesses. B. Rückkopplung Die Vernetzung der »Elemente« des Systems ist (wegen des Prozessfokus) gleichbedeutend mit Rückkopplung: Die Veränderung bei einem Teil (z. B. durch Intervention) pflanzt sich im System fort und wirkt sich letztlich auf alle anderen aus: Die Gesamtheit der (betrachteten) Teile – das Feld – reagiert ganzheitlich. Klassisch-mechanistische Interventionsprinzipien, die beim Ausbeulen einer Blechbüchse oder Reparieren einer Maschine erfolgreich sind, wären hier inadäquat: So lässt sich z. B. die Struktur eines Wasserfalls nicht durch »Ausbeulen« verändern und eine Kerzenflamme (im Gegensatz zum Stummel) nicht zu einem Osterhasen formen. welt in systemtheoretischer Weise konzeptionell zu erfassen sind. Allerdings geht es bei den »generischen Prinzipien« um Heuristiken für konkretes therapeutisches Handeln, während sich die folgenden systemtheoretischen Essentials auf das Verständnis und die Erklärung von Phänomenen beziehen, die im Kontext von Therapie, Beratung und Coaching relevant sind (vgl. auch den Hinweis zu Beginn von Kapitel 6).
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C. Mikro-Makro-Ebene (bottom-up/top-down) Die vernetzte und rückgekoppelte Dynamik der »Teile« (Mikroebene) bildet bottom-up »Ordnungen« (Makroebene) aus, welche dann top-down die weitere Dynamik der »Teile« mitbestimmen. Eine solche Ordnung ist selbstorganisiert – stellt also eine ganzheitliche Systemreaktion auf die Gesamtbedingungen dar – und ist nicht linear-kausal durch äußere Ordnungsstrukturen determiniert. Anschauliches Beispiel ist die Emergenz eines gemeinsamen Klatschrhythmus nach einem Konzert aus dem »Rauschen« vieler Einzelrhythmen. Diese Ordnung ist in der Regel selbstorganisiert, weil hier niemand auf die Bühne springt und allen anderen den Rhythmus vorgibt (was dann fremdorganisiert wäre). D. System versus Umgebung Die Betrachtung eines bestimmten Systems geht mit der Unterscheidung der Systemumgebung einher sowie mit Vorstellungen über die Beziehung zwischen beiden. So ist z. B. die selbstorganisierte Ordnungsbildung zwar etwas dem System Inhärentes, aber es gibt mehrere (in der Regel eine sehr große Anzahl) solcher inhärenten Ordnungsmöglichkeiten. Daher ist die Realisierung bzw. »Aktualisierung« einer bestimmten Ordnung stets eine Adaptation (auch) an die Bedingungen der Umgebung aufgrund der Möglichkeiten des Systems.
Diese vier Essentials werden nun nacheinander (Unterkapitel 3.3, 3.5, 3.6 und 3.7) in ihrer Bedeutung für die Personzentrierte Systemtheorie dargestellt – und durch manche Unteraspekte ergänzt. Im Unterkapitel 3.4 ist ein Exkurs zwischengeschaltet, in dem die Verbindung von »Prozess« und »Rückkopplung« anhand der sogenannten »trivialen Maschine« etwas weiter vertieft wird.
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3.3 Prozesse: Die dynamische Sicht auf unsere dinghafte Lebenswelt 3.3.1 Grundlegende Aspekte Auf den ersten Blick scheint es fast trivial und überflüssig zu sein, wenn extra betont wird, dass es bei den Phänomenen, mit denen sich eine systemische Sichtweise auseinandersetzt, um »Prozesse« geht. Ist doch »Prozess« im Schrifttum zu Psychotherapie, Beratung und Coaching genau so ein häufiges und beliebtes Wort wie »System« – oft in Verbindung mit dem eigentlichen Substantiv: Therapieprozess, Beratungsprozess und Coachingprozess. Doch so selbstverständlich sind die Konsequenzen offenbar nicht, wenn selbst Systemiker von »Prozessen« sprechen. So fand beispielsweise 2012 ein großer systemischer Kongress37 unter dem Leitthema statt: »Wie kommt Neues in die Welt?«. Mit dem Fokus auf den essenziellen Prozesscharakter systemischer Betrachtungsweisen kann man kritisch anfragen, welch ein Verständnis »der Welt« mit einem solchen Titel eigentlich transportiert wird. Jedenfalls verleitete diese Themenfrage viele der Kongressbeiträge zu kognitiven Suchprozessen, bei denen herausgearbeitet wurde, was geschehen oder getan werden müsste, damit eben »Neues in die Welt« kommt. Die implizite Prämisse dabei ist, dass Neues in die Welt gebracht werden muss, weil sonst, ohne ein aktives Zutun, scheinbar »alles beim Alten« bleibt. Nimmt man eine systemisch-prozessuale Sichtweise – die zudem im Einklang mit Erkenntnissen sowohl moderner Naturwissenschaft als auch vieler Weisheitslehren unterschiedlicher Kulturen und Epochen steht – wirklich ernst, so lässt sich die Tragfähigkeit dieser Prämisse bezweifeln. Denn diese Sichtweise und ihre Erkenntnisse betonen mit dem Prozesshaften »der Welt« gleichzeitig das stetige Dahinfließen der vermeintlich »alten« Phänomene. Das hat bereits vor rund 2.600 Jahren Heraklit mit dem Aphorismus: »panta rhei« (»Alles fließt«)38 zum Ausdruck gebracht, aktueller tun dies Cramer und Kaempfer (1990) mit: »Die Welt ist nicht, sondern sie geschieht.« Das heißt, jede Raum-Zeit-Konstellation in der Welt ist einmalig, weil man unendlich viele Parameter bräuchte, um auch nur eine einzige Situation vollständig zu beschreiben. 37 Internationales Symposion in der Heidelberger Stadthalle, Mai 2012, veranstaltet vom Heidelberger Institut für systemische Forschung in Kooperation mit der Zeitschrift Familiendynamik und der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie – IGST (Fischer, 2014). 38 Genauer: »Pánta chorei kaì oudèn ménei«, also »Alles bewegt sich fort und nichts bleibt«, wie Platon Heraklit referiert.
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Wie an anderer Stelle ausführlich erörtert (Kriz, 1997/2011), ist kein Morgen in diesem Universum mit einem anderen genau identisch. Und jeder Abend ist immer wieder neu. Allerdings könnte der Mensch in einer solchen Welt aus unendlich komplexen chaotischen Abfolgen einmaliger Momente nicht überleben. Wie oben bereits betont wurde, bedarf er (wie auch andere Lebewesen) der Ordnung und Vorhersagbarkeit in seiner Lebenswelt. Dies geschieht durch Reduktion und Selektion der komplexen Gegebenheiten. So wird eben sehr vielen »einmaligen« und im Detail unterschiedlichen Situationen oder Phänomenen dieselbe Klasse bzw. Kategorie zugeordnet. Dies gilt für Leben schlechthin – und entspricht auch der Perspektive der Biosemiotik: »Die Welt« ist für Lebendiges eben zeichenhaft strukturiert. Bereits evolutionär kann Leben somit als Prozess der Regelsuche und -erfindung verstanden werden. Der unendlich komplexe und einmalige Prozess »Welt evolution« wird dabei zugunsten von Regelmäßigkeiten aufgebrochen. Im oben bereits erwähnten Extremfall – bei manchen Einzellern – werden dann eben die Morgen und Abende auf »Licht an« bzw. »Licht aus« reduziert. Ordnung wird quasi dem Chaos abgerungen, wie auch Cramer (1988, 268) mit seinem Begriff der »Chaosvermeidungsstrategien« hervorhebt (vgl. Unterkapitel 2.3). Wie grob oder fein, einfach oder komplex, undifferenziert oder differenziert die Kategoriensysteme auch sein mögen, die wir Lebewesen verwenden: Dies ändert nichts an der zugrunde liegenden Prozesshaftigkeit der Welt. Das obige Argument der unendlich vielen Parameter zur vollständigen Beschreibung jedes Augenblicks lässt sich nicht umgehen. Die Frage »Wie kommt Neues in die Welt« ist aus dieser Perspektive geradezu absurd: Eine Welt, die nicht ist, sondern die – wie Cramer sagt – geschieht, gestaltet sich in jedem Moment neu. Freilich nicht völlig neu, sofern wir unterschiedliche Momente in dieselbe Kategorie einordnen, weil wir diese Momente als gleich betrachten bzw. als einander äquivalent behandeln. Diese Kategorien sind also »phänomenologische Äquivalenzklassen«. Beim Menschen haben wir oben (Unterkapitel 2.4) auf die Möglichkeit einer sehr hohen Differenzierung von Situationen bzw. Phänomenen hingewiesen, beispielsweise im Vergleich zum Einsiedlerkrebs). Ein ungeheuer großer Werkzeugkasten zur Verfeinerung und Ergänzung unserer Sinne – Mikroskope, Fernrohre, Röntgenapparate, Telefone, Computer, Fernseher etc. – sowie eine Sprache voller Symbole, um sich über die so gemachten Erfahrungen auszutauschen und neue Werkzeuge und Symbole zu ersinnen, spielen hier eine wesentliche Rolle. Gleichzeitig aber unterstützt unsere Sprache und Kultur durch kognitive und begriffliche Abstraktionen die Reduktion und Selektion von Erfahrung – relativ zur möglichen Wahrnehmungsvielfalt: Obwohl wir beispielsweise bei genü-
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gend Muße und Unvoreingenommenheit in der Lage wären, die Einmaligkeit jedes Morgens in hohem Maße zu erfassen und zu genießen, richten wir unsere Differenzierungsfähigkeiten meist auf anderes. Wir ignorieren die von unseren Sinnen wahrgenommenen Unterschiede zwischen den einzelnen Morgen, indem wir von unserem unmittelbaren Erleben abstrahieren. Wie bedeutsam für unsere Lebenswelt dann solche abstrakten Kategorien und Beschreibungen werden, wird deutlich, wenn jemand etwa sagt: »Jeden Morgen stehe ich um sieben auf, frühstücke meist mit meiner Frau und fahre dann zur Arbeit«. »Morgen«, »Frühstück«, »Frau« »Arbeit« und die »Fahrt zur Arbeit« sind dabei kaum oder gar nicht als sinnliche Erfahrungen in ihrer situativen und täglichen Vielfalt präsent im Bewusstsein, sondern als zwar sinnvolle, aber abstrakte Beschreibungskategorien. Die unmittelbare körperliche Sinnlichkeit von vielen (eher) einmaligen Situationen wird dabei zu dem kognitiv-abstrakten Sinn von Kategorien im Rahmen von Beschreibungen »verdichtet« – und zwar in doppeltem Sinn: Zum einen wird die sehr große Komplexität verringert, zum zweiten wird so eine abstrakte kategorielle Welt »erdichtet«. Diese hier nur grob skizzierte Argumentationsfigur (genauer u. a. Kriz, 1997/2011) sollte deutlich machen, dass zum Leben des Menschen wesentlich gehört, die prozesshafte, unfassbar komplexe und chaotische Reizwelt in eine hinreichend stabile und vorhersagbare, fassbar einfache und geordnete Rezeptions- und Lebenswelt zu transformieren. Wenn man dieser Blickrichtung folgt, ändert sich aber die Fragestellung »Wie kommt Neues in die Welt?« zu »Wie erzeugen wir Altes und Bekanntes in unserem Kopf?«. Wobei dies freilich eine rhetorische Überspitzung ist, denn wir erzeugen das »Alte« ja nicht nur in unserem Kopf. Sondern auch die reale Gestaltung unserer Lebenswelt – das Herstellen von Häusern, Werkzeugen und anderen Kulturgegenständen sowie die soziale Etablierung von Institutionen, Gesetzen oder Organisationen – dient der Stabilisierung von Bekanntem und Bewährtem gegenüber einer Welt im ständigen Wandel. Und hierzu trägt insbesondere auch die hohe Bedeutsamkeit bei, die sprachliche und konzeptuelle Kategorisierungen in unserer Kultur haben – sehr häufig realisiert durch Substantive wie »Problem«, »Depression«, »Kindheit«, »Krankheit«, »Liebe« etc. Obwohl eigentlich selbst dem Laien klar werden würde, dass es sich hierbei um Prozesse handelt – sofern er darüber nachdenken würde –, gehört eben zu unserer Alltagswelt, nicht darüber nachzudenken. Die Gefahr, das dann Gemeinte wie ein Ding zu behandeln und bei Substantiven wie »Schizophrenie« nach der zugrunde liegenden Substanz zu suchen (etwas im Gehirn), wird seit vielen Jahrzehnten in etlichen Diskursen unter dem Begriff »Verdinglichung« (bzw. »Reifikation«) problematisiert. Obwohl wir hier auf diese Eigen-
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schaft der Sprache in unserer Kultur nicht weiter eingehen wollen39, müssen wir uns doch im Folgenden einem anderen Aspekt widmen, weil dieser unmittelbar mit der Unzulänglichkeit einer sprachlichen Erfassung von Prozessen zusammenhängt. 3.3.2 Die Schwierigkeit, in unserer Kultur über Prozesse zu sprechen Es sind aber nicht nur die Kategorisierungen unserer Sprache, welche sich prozesshaften Beschreibungen – und damit auch einem entsprechenden Verständnis – entgegenstellen. Vielmehr müssen wir selbst vergleichsweise recht einfache systemisch-prozessuale Zusammenhänge und Abläufe in eine Abfolge von Teilaussagen zerlegen, wobei jede einzelne für sich eigentlich falsch ist. Dies soll an einem sehr einfachen Sachverhalt erläutert werden – weshalb hier kein Beispiel aus den viel komplexeren Bereichen psychosozialer Dynamik gewählt wird, sondern aus einer sehr begrenzten ökologischen Nische. Zudem hat ein nicht psychosozialer Bereich den Vorteil, dass seine Betrachtung freier von klinisch-ideologischen Vorurteilen ist: In einer bestimmten ökologischen Nische Kanadas lebt jeweils eine Population von Luchsen und eine von Schneehasen. Die Luchse ernähren sich vorwiegend von Schneehasen, während Letztere keine weiteren Feinde, selbst aber genügend Futter vorfinden. Abbildung 8 zeigt die Entwicklung der Populationen in einem bestimmten Zeitraum (genauer: die von Jägern erbeuteten Felle, die bei der Hudson Bay Company eingingen) – deren Zahl wir vereinfachend als Indikator für die Anzahl der jeweils vorhandenen Tiere nehmen). 39 Es geht dabei um die Sprachstruktur des SAE, des »Standard Average European«, die vom indischen Sanskrit bis zu faktisch allen europäischen Sprachen (und damit z. B. auch der europäisierten Länder Nord- und Südamerikas) reicht. Diese fördert eher eine statische Weltsicht: Substantive (Nomen), die auf »Gegenstände« verweisen, verbunden durch Verben und Attribute, die auf »Tätigkeiten« bzw. »Eigenschaften« dieser Gegenstände hindeuten. Prozesse, noch dazu vernetzte, sind damit nur überaus holprig und umständlich auszudrücken. Selbst ein so einfacher prozessualer Sachverhalt wie »Regnen« muss mit einem substanziellen »Täter« versehen werden, damit der Satz grammatikalisch korrekt klingt: Man sagt »Es regnet«, obwohl klar ist, dass das »Es« auf niemanden verweist. Noch weit undurchsichtiger wird es, wenn z. B. komplexe Verläufe, die prozesshaft auf unterschiedlichen Ebenen vernetzt sind (z. B. somatisch, psychisch, sozial), mit Begriffen beschrieben werden wie »Schizophrenie«, »Depression« etc. und damit so etwas wie ein »Ding« mit fast ontologischer Seinsqualität entsteht. »Schizophrenie« wird dann vom Laien (und leider auch von manchem Kliniker) nicht mehr als ein Beschreibungs- und Erklärungsprinzip genommen, sondern als etwas, das »wirklich« »existiert«, ja nach dessen (mehr oder weniger dinghafter) Existenz man sogar im Körper suchen kann. Dies wird u. a. in Kriz (1999, 1997/2011) diskutiert, geht aber zurück auf im Detail recht kontroverse Debatten über die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese »linguistischer Relativität« (Whorf, 2008; Matthews, 1997; Everett, 2013).
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Abbildung 8: Zirkuläre Verknüpfung der Populationsdynamiken von Luchsen und S chneehasen (Räuber-Beute-Zyklus) (nach MacLulich, 1937)
Es ist klar, dass es sich hier um einen typischen systemischen Zusammenhang handelt. Weder der Zyklus der Ab- und Zunahme in der Zahl der Hasen noch der zeitlich etwas verschobene Zyklus im Bestand an Luchsen lässt sich auf der Grundlage der Betrachtung einzelner Tiere kausal erklären. Auch wenn man nur entweder die Schneehasenpopulation oder nur die Luchspopulation einzeln betrachtet, bleibt das zyklische Verhalten unerklärlich. Erst wenn man beide Phänomene im Zusammenhang sieht, lässt sich der Prozess verstehen. Doch wie beschreibt man dies? Sinngemäß würde eine der möglichen, einfachen Beschreibungen etwa so aussehen: Beispiel Man beginne an einem Zeitpunkt, wo beispielsweise viele Schneehasen und wenig Luchse vorhanden sind – also beispielsweise 1864. Aufgrund der guten »Beute«-Bedingungen haben die Luchse hier hervorragende Reproduktionschancen und vermehren sich rasch. Da sich die Luchse aber weitgehend von den Hasen ernähren, wird deren Population rasch dezimiert – und zwar umso schneller, je mehr Luchse vorhanden sind. Wenn die Population der Hasen aber stark dezimiert ist, verschlechtern sich die Lebens- und Reproduktionsbedingungen der Luchse radikal, viele verhungern. Angesichts weniger Luchse haben dann aber die Hasen wieder weit bessere Überlebens- und damit Reproduktionschancen. Deren Population vermehrt sich rasch. Wir finden circa 1870 nun wieder eine Situation wie zu Beginn unserer Betrachtungen, und der nächste Zyklus kann beginnen.
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Obwohl der Zusammenhang zwischen der Population der Schneehasen und der der Luchse systemisch sehr einfach ist, lässt sich das Geschehen sprachlich wohl kaum wesentlich kürzer als eben ausgeführt (angemessen) beschreiben und vermitteln. Es fällt auf, wie viele Worte und Sätze für einen einzigen Zyklus notwendig sind – im Vergleich zu einem linear-kausalen Sachverhalt wie z. B.: »Je kräftiger man mit dem Hammer auf einen Nagel haut, desto weniger Schläge sind erforderlich, um ihn ins Holz zu treiben.« Darüber hinaus fällt auf, dass der nichtlinear-kausale Sachverhalt in eine Abfolge aus linear-kausalen Teilerklärungen aufgegliedert werden muss (»Wenn viele Luchse vorhanden sind, dann werden die Schneehasen rasch dezimiert«). Jede dieser Einzelerklärungen wird dabei dem dynamischen Geschehen nicht gerecht, d. h., man würde am Wesentlichen vorbeigehen, wenn man sich auf die »Wahrheit« oder Angemessenheit einer solchen einzelnen Erklärung verlassen würde. Erst in der umständlichen Aneinanderreihung und deren Kombination im Kopf entsteht ein »Bild« der dynamischen Struktur. Es sei zudem beachtet, dass diese »Kombination im Kopf« sprachlich fast überhaupt nicht unterstützt werden kann, sondern dass die Sprache nur die Aneinanderreihung der im Einzelnen jeweils inadäquaten Teilbilder ermöglicht. Man kann sich leicht vorstellen, wie kompliziert der Zyklus und damit die Beschreibung wird, wenn man nur eine weitere Tierart einführt, z. B. Rentiere, die von den Luchsen nur dann gejagt werden, wenn nicht genügend Hasen vorhanden sind (ein Dreierzyklus, der auf Neufundland zu beobachten ist). Und man muss auch nicht unmäßig kreativ sein, um Ähnlichkeiten zwischen diesen Populationssystemen und Systemen in unserer Lebenswelt zu entdecken: Nimmt man z. B. die beiden Handlungen »Arbeit im Haushalt durch die Ehefrau« und »Hilfeleistungen des Ehemannes« und ergänzt diese um die Aspekte, dass einer allein die Arbeit nicht schaffen kann und dass »er« nur hilft, wenn »sie« nicht mehr kann, so ist durchaus ein analoger Zyklus zum obigen Beispiel zu konstruieren: Sie steht mit der Arbeit allein, die mehr und mehr wird, bis sie zusammenbricht (oder ein ähnliches Symptom zeigt, das als »nicht mehr können« definiert ist). Nun ist er bereit, zu helfen, die Arbeit wird weniger, sie erholt sich. Daraufhin zieht er sich wieder zurück, die Arbeit wird mehr. Solche Zyklen müssen keineswegs auf reine Handlungen beschränkt sein: Ersetzt man beispielsweise »Arbeit« durch »Wunsch nach Zuwendung«, »Zusammenbruch« durch »Weinanfälle« und »Hilfe« durch »Zärtlichkeit«, so würde man (hier in extrem simplifizierter Weise) so etwas wie »zyklische Weinanfälle« beobachten (ohne dass damit ein Plädoyer verbunden werden soll, »Weinen« auf die äußeren, appellativen Aspekte zu reduzieren und nicht auch als innere Prozesse zu verstehen).
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Solche Prozesse werden noch wesentlich komplizierter, wenn man die Dynamik in einer Familie mit den wechselseitigen Erwartungen, Verhaltensweisen, Äußerungen, Interpretationen, Bestätigungen etc. betrachtet. Somit lässt sich das systemische Sprachproblem wie folgt präzisieren: Wenn die Sprache, mit der wir dieses Bild beschreiben wollen, uns solche Schwierigkeiten macht, wenn zudem die übliche Sprache dieser Gesellschaft mit den »Dingen«, Kausalitäten und statischen Relationen des klassischen »Weltverständnisses« (und eines großen Teils z. B. auch des fachpsychologischen) so viel besser übereinstimmt, wie kann man da sicher sein, zu einem hinreichend »stimmigen« Bild zu gelangen? Selbst bei der einfachen Jäger-Beute-Dynamik ließe sich hinterfragen, was und wie viel tatsächlich verstanden wird – d. h. in einer Weise, dass daraus adäquates Handeln folgen könnte? Diese kritischen und problematisierenden Feststellungen über die mangelnde Kompetenz der Menschen in unserer Sprachkultur, im Rahmen der Alltags- und Fachsprache40 systemische Zusammenhänge adäquat auszudrücken, sollen allerdings nicht als Plädoyer dafür verstanden werden, lieber bei den einfachen Ursache-Wirkungs-Modellen zu bleiben. Diese sind zwar leichter verstehbar und kommunizierbar – aber eben bei systemisch-prozessualen Zusammenhängen inadäquat. Es geht vielmehr darum, nochmals für die Grundproblematik auch dieses Buches zu sensibilisieren: Dass nämlich (jenseits von Differentialgleichungen) nur jeweils »Teil-Wahrheiten« – sowohl nacheinander als auch auf unterschiedlichen Ebenen – verbal vermittelt werden können, die dann im Kopf zu einer hoffentlich weitgehend adäquaten Vorstellung zusammengesetzt werden müssen. Das ist freilich nicht so ungewöhnlich und abenteuerlich, wie es zunächst klingen mag: Was wissen wir beispielsweise über unsere Lebenspartner oder Eltern, was über »die Amerikaner« oder deren Land, was über das sogenannte »Dritte Reich« etc., als im Kopf zusammengesetzte Vorstellungen aus einer Vielzahl zu unterschiedlichen Zeiten und in diversen Situationen erlangten Informationen? 3.3.3 Was ist eine angemessene Problemmetaphorik? Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der eben aufgezeigten grundsätzlichen Unzulänglichkeiten, systemisch-prozessuale Zusammenhangsdynamiken adäqut in Sprache zu erfassen, ist es wichtig, sich über die implizit vermittelten Bilder Rechenschaft abzulegen. Dies gilt ganz besonders für professionelle Beratungs40 Hier haben es die Naturwissenschaften leichter, weil sie die Zusammenhänge beispielsweise mit Differentialgleichungen darstellen und kommunizieren können. Das allerdings nur innerhalb ihrer »Community« und bei entsprechend untersuchbaren Phänomenen. Für den Bereich von Psychotherapie, Beratung und Coaching kann dies (bis auf kleine Ausnahmen) keine Lösung sein.
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situationen, in denen der Umgang mit sprachlichen Bilder ja das Hauptwerkzeug darstellt. So ist eines der zentralen Themen im Kontext von Psychotherapie, Beratung und Coaching das Problem der Stabilität. Gemeint sind damit weniger die oben erörteren Aspekte und Anteile lebenswichtiger Stabilität, denn diese werden meist als etwas Positives empfunden. Vielmehr geht es um die Probleme von Überstabilität – also eine Stabilität, die auch dann noch bestehen bleibt, wenn sich die Bedingungen grundlegend geändert haben. Hier mangelt es offenbar an einer notwendigen Anpassung an die veränderten Gegebenheiten. Die Selbstbeschreibung ihres Anliegens hat allerdings bei den Menschen, die sich in professionelle Beratung begeben, selten damit zu tun, dass sie von »Überstabilitiät« reden. Vielmehr tauchen oft Metaphern auf, dass irgend »etwas« – scheinbar »wie ein Berg« – ihren (Lebens-)Weg verstellt. Und auch wenn ihnen klar ist, dass dieses »etwas« kein »Ding« ist – sondern nicht zu bewältigende Anforderungen des Berufs-, Sozial- und Alltagslebens oder problematische Konstellationen in Lebenssituationen, in Paar- und Familiendynamiken – sprechen sie davon wie von einem »Ding«, »Hindernis« oder »Berg«, was sie nicht weiterkommen lässt. Übernimmt man als Berater einfach diese Metapher, kann man sich schnell vor die Aufgabe gestellt sehen, mit dem Ratsuchenden herauszufinden, wie dieser Berg beseitigt, überwunden, oder zumindest abgetragen – vielleicht auch umgangen – werden kann. Solche Strategien, mit dem »Berg« umzugehen, liegen auch nahe, denn ein Berg ist geradezu der Inbegriff von etwas Dinglich-Stabilem. Zwar kann man die Aktivitäten – Beseitigen, Überwinden, Abtragen, Umgehen etc. – als Prozesse verstehen, aber die eigentliche Problematik, wegen der man um Hilfe nachgefragt hat, erscheint immer noch als ein nur schwer zu veränderndes, stabiles »Ding«. Unter einer systemisch-prozessualen Perspektive kommt man zu einer recht anderen Metaphorik, die das Verständis des Anliegens deutlich verändert: Statt als »Berge auf dem Lebensweg« kann man grundsätzlich Probleme als »Strudel im Fluss des Lebens« beschreiben. Eine solche Sicht legt nicht nur ein anderes Grundverständnis der Schwierigkeiten nahe, sondern führt vor allem zu anderen Fragen und damit auch zu anderen Lösungsideen: Strudel sind keine statischen Objekte, die man wegschaufeln oder verrücken kann. Strudel sind vielmehr stabile Prozessmuster, die im Fluss ganz natürlich und ständig mal hier und mal da entstehen – und üblicherweise genauso unspektakulär wieder verschwinden. Sie unterbrechen auch nicht den »Fluss des Lebens«. Denn Flüssen und Leben ist gemeinsam, dass sie (in der Regel) ständig dahinfließen – auch wenn es da Strudel gibt.
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Problematisch oder gar gefährlich kann ein Strudel freilich auch werden: Nämlich dann, wenn er eine Überstabilität aufweist. Wenn er also im Fluss einfach nicht wieder verschwinden will, sondern sich als Reaktion auf die Bedingungen quasi selbsterhaltend stabilisiert und dabei eine Kraft entfalten kann, die einen herumwirbelt, aber auf dem Fluss scheinbar (d. h. relativ zum Ufer) nicht weiterkommen lässt oder gar nach unten zu ziehen droht. Auch der Fluss des menschlichen Lebens ist voll von solchen Prozessmustern, die unspektakulär entstehen und vergehen. Das Muster, mit welchem ein Dreijähriger mit seiner Mutter interagiert, wird sich (hoffentlich) in den nächsten zwanzig Jahren mehrfach deutlich verändert haben. Jedenfalls wäre es für die Interaktion zwischen der Mutter und ihrem 23-Jährigen höchst inadäquat. Die Muster, mit denen ein Pubertierender sich in die oder den anderen ersehnten Partner »verknallt« und eine Annäherung versucht, wird kaum das gleiche Muster sein, mit der ein Twen »unterwegs« ist oder gar jemand im Alter einem neuen Partner begegnet und diesen zu gewinnen sucht. Und die Muster, mit denen jemand sein Studium erfolgreich bestreitet, werden sich deutlich wandeln, wenn er ähnlich erfolgreich auf einer Stelle im Unternehmen ist. Oft wird in der Fachliteratur in Bezug auf ein solche Muster auch von »Schema« gesprochen. Dies ist ein vielfach verwendeter Begriff, der z. B. in der Mathematik oder für die Anfertigung von prägnanten Zeichnungen (z. B. Diagrammen) verwendet wird. Im Bereich der Psychologie bezieht sich dieser Begriff auf Ordnungen in den Prozessen unseres Wahrnehmens, Denkens, Handelns, Interagierens etc. (also: Wahrnehmungs-, Denk-, Handlungs- oder Interaktionsschemata).41 Auch in der Alltagssprache reden wir von »schematischem Vorgehen« oder »nach Schema F«, wenn jemand zur Lösung von Aufgaben immer den gleichen Weg benutzt oder unterschiedliche, komplexe Gegebenheiten nach immer dem gleichen Muster vereinfacht und ordnet. Es wurde zwar bereits betont, wie notwendig solche Muster in Prozessen des Erkennens, Fühlens, Handelns, Denkens etc. sind, denn sie strukturieren die ansonsten chaotisch-komplex dahinfließende, unfassbare Vielfalt aus Myriaden von Erlebensmomenten zu einer kognitiv fassbaren Lebenswelt. Auf der anderen Seite aber müssen viele einmal herausgebildete Ordnungen entsprechend den Bedingungen und Umgebungen des Lebensflusses immer wieder neuen Ordnungen weichen: So sind, wie bereits erwähnt, die Denk- und 41 In der Psychologie wurde das Konzept »Schema« durch Bartlett (1932) eingeführt, der Muster in Denk- und Erinnerungsprozessen untersuchte. Das Konzept wurde aber dann auch von anderen übernommen – oft allerdings dabei die Quelle verschwiegen (vgl. Abschnitt 3.5.2). Auch bei Konzepten wie der Rigidität oder Automatismen bei Luchins (1942) spielt dieser Aspekt des Schemas eine zentrale Rolle.
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Systemische Prinzipien
Verhaltensschemata eines ein-, drei- oder fünfjährigen Kindes, eines Schülers, Erwachsenen, Rentners etc. ebenso unterschiedlich wie die Interaktionsschemata eines frisch Verliebten, eines Ehe- oder eines Elternpaares. Der Grund liegt darin, dass an ein Kleinkind, Schulkind, Berufstätigen oder Rentner jeweils recht unterschiedliche Erwartungsstrukturen gerichtet werden; ebenso sind die Lebenskontexte für das heranwachsende Kind als Single, als Partner, als ein Elternteil und dann als Partner mit erwachsenen Kindern jeweils deutlich anders. Gleiches gilt letztlich auch für Teams oder Organisationen, da viele der relevanten Prozessstrukturen in der Gründungs- bzw. Anfangsphase anderen Herausforderungen entsprechen müssen als in Phasen der etablierten Routine und wieder anders in Phasen der Bedrohung durch Konkurrenz oder veränderte Marktbedingungen. Diese Anforderungsprofile haben den Charakter von Entwicklungsaufgaben42, wobei Phasen der Stabilität solcher Ordnungen somit von anderen – üblicherweise deutlich kürzeren – Phasen unterbrochen werden, in welchen Übergänge zu neuen Ordnungen stattfinden. Die Bedeutsamkeit solcher Übergänge wird nicht selten durch Initiationsriten oder Festrituale »feierlich« unterstrichen: Einschulung, Kommunion/Konfirmation, Abitur, Examen, Eheschließung, Pensionierung etc. Wobei nochmals hervorgehoben werden soll, dass eine solche dynamische Adaptation an jeweils neue Entwicklungsaufgaben üblicherweise in den vielfältigen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen des Alltagslebens recht (oder zumindest: hinreichend) gut funktioniert. Selbst in dieser eher narrativen Darstellung wird deutlich, dass solche Übergänge von einer Ordnung in eine neue Ordnung ein zentrales Prinzip für Entwicklung und Veränderung ist. Und dass dies jenseits von Psychotherapie, Beratung und Coaching unser gesamtes Leben durchzieht. Schiepek (1991) hat für dieses Erklärungsprinzip die Bezeichnung »Ordnungs-Ordnungs-Übergang« gewählt. Dieser findet dann statt, wenn eine Ordnung (oder, synonym, ein Muster oder Schema), die in der Regel zumindest hinreichend gut den bisherigen Bedingungen angepasst war, zunehmend dysfunktionaler wird, weil sich die Bedingungen verändert haben. 42 Das Konzept der »Entwicklungsaufgaben« geht vor allem auf Havigurst (1972) zurück, der damit unterschiedliche Herausforderungen in der kindlichen Entwicklung hervorhebt. Allerdings verbindet Havighurst sein Konzept mit einer Taxonomie von solchen Entwicklungsaufgaben – wobei er beispielsweise biologische, soziale und autonome Entwicklungsaufgaben unterscheidet. Das Konzept hat die Personzentrierte Systemtheorie fraglos angeregt – wird aber in einem weit allgemeineren Sinne verwendet, nämlich als grundsätzlich derart veränderte Bedingungen für ein System, das dieses zumindest teilweise bisherige (und nun dysfunktionale) Muster in neu adaptierte transformieren muss (sogenannte »Ordnungs-Ordnungs-Übergänge«).
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Um professionelle Hilfe in Form von Psychotherapie, Beratung und Coaching suchen nun aber genau jene Menschen nach, bei denen eine solche Neuadaptation in spezifischen Bereichen oder an spezifische Situationen einmal nicht klappt. Sie verharren dann in kognitiven oder interaktiven Prozessmustern (oder entwickeln Hilfsmuster), die zum Kontext der Situation oder zu den Anforderungen nicht mehr passen. Immer wieder findet man sich dann in Situationen wieder, die einen ängstigen, traurig machen oder die Gedanken zu lähmen scheinen. Oder in denen man sich über seine eigenen Handlungen bzw. Reaktionen nur selbst wundern kann. Oder man fühlt sich gegebenenfalls den »Machenschaften« anderer hilflos ausgeliefert bzw. interagiert selbst in einer Weise, die andere offenbar verwirrt, abschreckt oder verletzt, obwohl man das eigentlich nicht wollte (wie Julian in der Fallvignette in Unterkapitel 1.2). In den meisten Fällen wären diese belastenden Gedanken, Gefühle und Handlungen aber durchaus angemessen, wenn sie zu den Umständen passen würden: Denn Angst bei realen Gefahren, Trauer bei einem erlittenen Verlust, Ausruhen von bedrückenden gedanklichen Anforderungen, Selbstverteidigung durch Verwirrung, Abschreckung und notfalls Verletzung anderer, um die eigene, real bedrohte Haut zu retten, etc. – all dies wären in entsprechenden Situationen durchaus Ressourcen im Spektrum des Erlebens und Verhaltens. Aber bei Problemen, die eine professionelle Hilfe benötigen, wird deutlich, dass diese Reaktionen eigentlich nicht zur Realität passen – zumindest nicht zu jener, wie die anderen sie wahrnehmen und wie man sie dann – etwa durch die kritischen und klagenden Rückmeldungen der anderen – meist auch selbst wahrnimmt. Gleichwohl können sie nicht einfach durch neue, passendere, ersetzt werden (denn dann bräuchte man keine Hilfe), sondern sie sind quasi überstabil – eben wie ein Strudel, der nicht einfach wieder verschwinden will. Doch im Gegensatz zu einem (Problem-)Berg, den man stückweise abtragen könnte (auch derartige Beratungsprobleme kommen vor!) macht es hier Sinn, nach den Bedingungen zu fragen, welche die prozessuale Stabilität – oft trotz Einsicht und Leid – aufrechterhalten. Im folgenden Exkurs wird deutlich, wie »Prozess« einerseits und (dynamische) »Stabilität« – ja sogar »Überstabilität« – andererseits kein Gegensatz sind, sondern beide Aspekte systemisch miteinander verbunden sind. Den Schlüssel dieses Zusammenhangs findet man dann, wenn man die Rückkopplung in den Prozessen eines Systems nicht ignoriert.
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3.4 Exkurs: Selbstorganisierte Strukturen in Systemen – das Konzept der Trivialisierung 3.4.1 Vorbemerkung Das »Trivialisierungskonzept« von von Foerster (1988) eignet sich gut, um die Bedeutsamkeit von Rückkopplungen in der systemischen Konzeption von Prozessen verständlich zu machen. Das Kernkonzept der Trivialisierung besteht aus zwei Argumentationsschritten: Der erste betont nochmals die chaotische Komplexität von Prozessen unter nicht allzu eingeschränkten Bedingungen. Der zweite betont die Stabilität und Ordnungsbildung, die in Prozessen zu beobachten sind, sofern man die Rückkopplung nicht vernachlässigt. Insofern verbindet dieser Exkurs die obigen Betrachtungen zum Thema »Prozess« (a) mit den folgenden zum Thema »Rückkopplung« (b). In der Literatur wird übrigens oft nur auf den ersten Schritt der Argumentation von Foersters Bezug genommen, obwohl der zweite für das Verständnis von Psychotherapie, Beratung oder Coaching wesentlich wichtiger ist. 3.4.2 Erster Argumentationsschritt: Unterscheidung in »triviale Maschinen« und »nichttriviale Maschinen« Um zu zeigen, wie unrealistisch es ist, das Verhalten lebender Systeme (Einzelne, Paare, Familien oder Teams) im Sinne einfacher Reiz-Reaktions-Ketten verstehen zu wollen, bedient sich von Foerster der Unterscheidung in »triviale Maschinen« und »nichttriviale Maschinen«: »Triviale Maschinen«
»Triviale Maschinen« (siehe Abbildung 9) verbinden durch ihre Art des Operierens gewisse »Ursachen« (bzw. »Input«, »Reiz«) weitgehend unveränderlich mit bestimmten »Wirkungen« (bzw. »Output«, »Reaktion«) – also das Grundschema des klassischen behavioralen Ansatzes. Nennt man den »Output« y und den »Input« x, so ist der Zusammenhang durch eine einfache Wirkungsfunktion gekennzeichnet: Wirkungsfunktion: y = f(x)
Abbildung 9: »Triviale Maschine« nach von Foerster (1988)
Exkurs: Selbstorganisierte Strukturen in Systemen
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Stellen wir uns einen einfachen Organismus vor, der wie eine solche triviale Maschine funktioniert: Nehmen wir vier »Reize« (A, B, C oder D) und vier mögliche »Reaktionen« (z. B. »freundlich«, »interessiert«, »abgewandt« oder »aggressiv«), dann kann man die Zuordnungen in einer Tabelle darstellen (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Eine von 256 möglichen Wertetabellen bei vier Input- und vier Output-Zuordnungen x, Input, »Reiz«
y, Output, »Reaktion«
A
freundlich
B
interessiert
C
aggressiv
D
abgewandt
Eine solche »Maschine« würde auf A also immer »freundlich« und auf C immer »aggressiv« reagieren. Natürlich sind bei vier Input- und vier Output-Möglichkeiten auch andere Zuordnungen denkbar. Lässt man auch die Zuordnungstabellen zu, bei denen auf unterschiedliche Reize gleiche Reaktionen und umgekehrt erfolgen, gibt es insgesamt 44 = 256 mögliche Zuordnungstabellen. Welche dieser 256 möglichen »Maschinen« man konkret vor sich hat, lässt sich allerdings sehr rasch herausfinden: Man gibt einfach erst ein A, dann ein B, dann ein C und letztlich ein D vor und registriert die Reaktionen. Das genau wäre dann jene Tabelle bzw. Maschine aus den 256 möglichen. Da nun alles determiniert ist, ist das weitere Verhalten klar vorhersagbar. Diese Maschine ist »trivial«. Und daran ändert auch prinzipiell nicht viel, wenn man statt vier Reizen hundert, und statt vier Reaktionen ebenfalls eine Vielzahl vorsieht – man muss dann zwar länger beobachten oder »experimentieren«, aber im Prinzip ist das Problem trivial, herauszufinden, wie die vorliegende »Maschine« funktioniert. »Nichttriviale Maschinen«
Interessanterweise wird die Situation radikal anders, wenn man nur ein Detail ändert (siehe Abbildung 10): Man führt ein, dass X nicht nur ein Y bewirkt, sondern gleichzeitig eine Veränderung des Zustandes Z der Maschine herbeiführt. Zur Wirkungsfunktion kommt nun noch eine Zustandsfunktion. Die Vergangenheit der Maschine spielt somit plötzlich eine Rolle: Je nach bisherigen Erfahrungen ändert die Maschine ihre Reaktionen auf »den gleichen« Input. Dies lässt sich wie folgt ausdrücken (und eine exemplarische Zuordnungstabelle einer solchen »Maschine« ist in Tabelle 4 dargestellt): Wirkungsfunktion: y = f (x,z) Zustandsfunktion: z'= f (x,z)
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Systemische Prinzipien
Abbildung 10: »Nichttriviale Maschine« nach von Foerster (1988)
Wohlgemerkt: Es bleibt mit dieser Veränderung eine Maschine – eine extrem einfache sogar, unsagbar viel einfacher als selbst das einfachste Lebewesen. Und doch ergeben sich selbst aus dieser Veränderung beachtliche Konsequenzen: Die Wertetabelle einer der vielen möglichen Maschinen (bei vier Ein-/Ausgabe-Symbolen und drei Zuständen) ist in Tabelle 4 dargestellt. Tabelle 4: Eine von 102466 möglichen Zuordnungstabellen bei vier Input- und vier Output- Zuordnungen »nichttrivialer Maschinen« Im Zustand I
Im Zustand II
Im Zustand III
x
y
z
x
y
z
x
y
z
A
freundlich
I
A
aggressiv
I
A
freundlich
II
B
interessiert
II
B
abgewandt
III
B
aggressiv
II
C
aggressiv
III
C
interessiert
II
C
abgewandt
III
D
abgewandt
II
D
freundlich
III
D
interessiert
I
Nimmt man A als Input, so reagiert die Maschine »freundlich« – wie oben. Und auf B folgt »interessiert«. Nimmt man nun aber C, so reagiert sie nicht »aggressiv« wie oben, sondern wieder »interessiert« (denn sie hat ja inzwischen in den Zustand II gewechselt). Gibt man nun ein B ein, um sich zu vergewissern, so reagiert sie aber nicht »interessiert« – wie eben –, sondern »abgewandt«. Nochmals ein B (vielleicht hat man sich ja geirrt): Nun reagiert sie gar »aggressiv«. Es lohnt sich, einmal eine Sequenz an Inputs weiter durchzuspielen – also z. B. A, B, C, B, B, B, C, D, D, … – und man wird sehen, dass sich die Maschine recht »verrückt« verhält (siehe Tabelle 5).
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Exkurs: Selbstorganisierte Strukturen in Systemen
Tabelle 5: Beispiel für die Input-Output-Sequenz einer »nichttrivialen Maschine« Input (x)
Reaktion (y)
nächster Zustand (z)
A
freundlich
I
B
interessiert
II
C
interessiert
II
B
abgewandt
III
B
aggressiv
II
B
abgewandt
III
C
abgewandt
III
D
interessiert
I
D
abgewandt
II … etc.
Von Foerster hat gezeigt, dass schon für nur je vier Eingabe- und Ausgabe-»Kategorien« diese Maschine »transcomputational« wird, d. h. sich der praktischen Berechenbarkeit entzieht: Während es für die triviale Maschine oben 256 Möglichkeiten an Zuordnungstabellen gibt, sind nun 102466 Zuordnungen möglich (schon die Anzahl möglicher Zustände ist recht groß). Selbst die schnellsten Rechner hätten in der gesamten bisherigen Lebensdauer unseres Universums (rund 5 × 1023 Mikrosekunden) nur einen verschwindend kleinen Bruchteil der Aufgabe bewältigt, die »richtige« Maschine herauszufinden, um dann die folgenden Input-Output-Sequenzen sicher zu wissen. Daraus folgt zunächst (!), dass es schon bei viel einfacheren »Systemen« als Menschen oder gar Gruppen und Teams praktisch unmöglich ist, aus bestimmten »Inputgrößen« die »Outputgrößen« – d. h. irgendein Verhalten – vorherzusagen, wenn nicht angenommen wird, dass diese Systeme deterministischtrivial funktionieren. 3.4.3 Zweiter Argumentationsschritt: Unterscheidung in »Fremdtrivialisierung« und »Eigentrivialisierung« Diese Unvorhersagbarkeit von Reiz-Reaktions-Automaten (wenn man »Lernen« zulässt) findet man oft als »Beweis« dafür angeführt, dass menschliches Verhalten grundsätzlich völlig unvorhersagbar sei. Dabei hat man offensichtlich nur den ersten Schritt der Argumente von Foersters vollzogen. Viel bedeutsamer aber ist der zweite Argumentationsschritt (der oft ignoriert wird): Auch wenn man nämlich menschliches Verhalten nicht auf der Basis einfacher Reiz-Reaktions-Abläufe voraussagen kann (sofern man »Lernen« zugesteht), widerspricht »völlige Unvoraussagbarkeit« jeglicher Erfahrung. Denn
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wäre tatsächlich das Verhalten unserer Mitmenschen gänzlich unvorhersehbar, würden wir im kognitiven und interaktionellen Chaos zugrunde gehen. (Das entspricht dem »Prozess«-Aspekt ohne jede Ordnung). Also muss es Prinzipien geben, welche eine gewisse Voraussagbarkeit möglich machen. In der Terminologie von Foersters wird die nichttriviale »Maschine« trivialisiert. Dabei unterscheidet er zwei wesentliche Prinzipien der Trivialisierung: a) »Fremdtrivialisierung«: Aufgabe der Sozialisation – aber auch von Organisationen etc. – ist es, den Zusammenhang zwischen Input und Output zu gewährleisten. Falls der kleine Fritz – so von Foersters anschauliches Beispiel – zu Hause auf die Frage »Was ist drei mal sieben?« vielleicht recht unerwartet mit »Grün!« antwortet, wird er in die Schule geschickt. Und dort ist es eben Aufgabe des Lehrers, Fritz beizubringen, dass er möglichst bald auf diese Frage zuverlässig, vorhersagbar und ohne Alternativen mit »21« zu antworten hat. (Leider interessieren sich die Schule und selbst große Teile der Psychologie kaum für den kreativen Denkprozess, der zu »Grün« führte, sondern man fokussiert auf die einzig »richtige« Antwort: »21«.) Über solche Trivialisierungen »von außen« wird Vorhersagbarkeit im kommunikativen Miteinander etabliert. Hierfür sind zahlreiche gesellschaftliche Institutionen im Guten wie im Schlechten verantwortlich: im Guten, indem unlebbare chaotische Komplexität so reduziert wird, dass ein selbstverständliches Alltagsleben Freiraum für anderes schafft; im Schlechten, indem solche Reduktionsvorgänge unnötig übertrieben oder sinnentleert werden und damit die Kreativität gelebten Lebens ersticken können. So oder so aber ist Fremdtrivialisierung quasi der Standardfall: Ordnung wird dadurch erzeugt, dass ganz bestimmte Input-Output-Verbindungen von außen gezielt und intendiert sanktioniert werden. Dies entspricht auch dem, was wir Dressur oder Drill nennen – freundlicher formuliert, aber nicht wesentlich anders in der Sichtweise »Training« oder »Kompetenzerwerb«. b) »Eigentrivialisierung«: Viel interessanter für unsere Fragen ist die Eigentrivialisierung. Diese entsteht dadurch, dass der Output nicht nur auf den Input folgt, sondern beide Teil von umfassenderen Prozessen mit Rückkopplungen sind. Im Beispiel würde man nicht nur eine einzelne nichttriviale Maschine isoliert betrachten, sondern mehrere nichttriviale, die miteinander so verbunden sind, dass der Output der einen der Input von anderen wird und vice versa. Dies ist eigentlich für reale Situationen typisch: Beispielsweise betrifft eine Äußerung, die jemand in einem Team macht, ja nicht nur ein einzelnes Mitglied, sondern mehr oder weniger auch die anderen. Und deren Reaktionen wirken dann auf den Äußernden zurück.
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Nun lässt sich in der Systemtheorie grundsätzlich zeigen (Kriz, 1999), dass rückgekoppelte Prozesse typischerweise43 dazu tendieren, Ordnungen auszubilden, Komplexität zu reduzieren und sich gegenüber Einflüssen zu stabilisieren. In unseren Eingangsgeschichten über die beiden Personen im Boot oder die »kontrollierende Mutter« und die »herumstreunende Tochter« handelt es sich ja bereits um zwei typische Beispiele solcher sich selbst bildenden Muster durch Rückkopplung der Verhaltensweisen. Bereits in den 1930er Jahren hat Bartlett Ordnungsprozesse bei der »seriellen Reproduktion von Geschichten« untersucht: Hierzu präsentierte er beispielsweise einem Studenten eine kurze Erzählung aus einer Indianerkultur, und dieser sollte sie in Gegenwart eines zweiten Studenten möglichst genau nacherzählen. Der zweite Student sollte dann diese ihm erzählte Geschichte einem dritten Studenten abermals erzählen und so fort. Mit diesem Design ging Bartlett (1932) der Frage nach, wie sich einerseits komplexe Geschichten in der seriellen Reproduktion verändern und ob sich andererseits der Inhalt bei der Reproduktion irgendwann hinreichend stabilisiert. Es zeigte sich, dass zwar viele Details vergessen, andere aber behalten und dann übertrieben dargestellt werden. Die Studenten tendierten dazu, entsprechend ihren Erwartungen einige Passagen kompakter, kohärenter und konsistenter zu reproduzieren. Die Untersuchungsteilnehmenden versuchten aktiv, eine Bedeutung in für sie unklarem Material herzustellen – die Geschichte wurde dabei passend zu den eigenen Erwartungen (de)formiert (vgl. Abschnitt 4.2.1). »Eigentrivialisierungen« setzen voraus, dass die bei den Rückkopplungen jeweils stattfindenden Operationen komplexe Gegebenheiten tendenziell immer sinnhaft verdichten und reduzieren. Allerdings ist eine solche sinnhafte Reduktion eben typisch für den Menschen in seiner Lebenswelt. In den bisherigen Beispielen – Ute und Peter, die beiden Bootsfahrer, Mutter und Tochter, aber auch in den drei kleinen Vignetten – trug ja gerade auch die Notwendigkeit aller Beteiligten, das Geschehen jeweils sinnhaft zu interpretieren, zu den Mustern im Verhalten bei.
43 Es gibt – ganz allgemein betrachtet – auch Prozesse, die chaotisch sind bzw. werden. Diese haben zunächst in Mathematik und Naturwissenschaft mit der sogenannten »Chaostheorie« sogar die Entwicklung der Systemtheorie ab circa 1970 vorangetrieben (Kriz, 1992, 1999). Im Bereich der Prozesse des Lebens ist es aber häufig – im Bereich kognitiv-kommunikativer Prozesse sogar eigentlich immer – der Fall, dass die entsprechenden Bedingungen zu den oben geschilderten Reduktionen und Stabilisierungen und nicht zu chaotischen Dynamiken führen: Die Notwendigkeit, die hyperkomplexe Einmaligkeit, die jedem Moment innewohnt, sinnhaft zu reduzieren, ist eben die Basis für genau jene kognitiven Operationen, welche nicht Chaos, sondern Ordnung erzeugen (wie im Folgenden auch noch vielfach gezeigt wird).
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Sehr klar zeigt sich dies auch bei der folgenden, geradezu prototypischen Szene in Paartherapien: Beispiel Therapeut fragt: »Haben Sie gehört, was Ihr Partner gerade gesagt hat?« (Standard-)Antwort: »Äh, nein, nicht so genau, aber wie er anfing bzw. mich ansah, wusste ich schon, was er sagen wollte.«
Hier ist die Eigentrivialisierung bereits so weit fortgeschritten und stabilisiert, dass die Vielfalt und Kreativität, die in jeder Aussage steckt – oder zumindest stecken könnte – gar nicht mehr wahrgenommen wird. Stattdessen dient ein winziger Teil der Situation – der Satz-»Anfang« oder das »Ansehen« – dazu, die Situation vermeintlich zu »erfassen«. Der Partner wird damit zwar scheinbar vorhersagbar. Aber für den Beobachter (und den Partner selbst) ist deutlich, dass in dieser Situation eigentlich gar nicht mehr etwas wahrgenommen wird, was dem Partner entspricht. Er ist auf ein sehr trivialisiertes Zeichen im Sinne der Biosemiotik (vgl. Kapitel 1) reduziert. Obwohl also die Lebenswelt des Menschen wahrlich nicht so einfach sein müsste wie die des Einsiedlerkrebses in Kapitel 1, ist sie in diesem Bereich de facto ähnlich simpel trivialisiert. Im Gegensatz zum Krebs allerdings nicht aufgrund seiner evolutionär entwickelten Ausstattung, sondern durch eigenes Zutun – also durch Selbsttrivialisierung. An dieser Aussage ändert auch die Erkenntnis nichts, dass es nicht allein sein eigenes Zutun ist, sondern sein Partner sowie andere Umstände daran mitwirken – eben davon handelt dieses Buch.
3.5 Rückkopplung: Die unterschätzte Wirkung im abendländischen Denken 3.5.1 Grundlegende Aspekte Dass weder »Dinge« noch gar irgendwelche Entwicklungen oder Prozesse in dieser Welt völlig isoliert ablaufen, hat nie jemand ernsthaft in Betracht gezogen. Natürlich wußte man immer schon um die Vernetzung und Verflochtenheit zahlreicher Geschehnisse. Allerdings beruht ein wesentlicher Pfeiler abendländischer Wissenschaft auf der Idee, sehr präzise Fragen an die »Natur« unter
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sehr restringierten Bedingungen heranzutragen, sodass gerade diese unübersehbar komplexen Wechselwirkungen hinreichend ausgeschaltet werden können und möglichst nur eine oder wenige Einlüsse wirken, die dann in Bezug auf ihre Wirkung sehr genau untersucht werden können. Dies ist der Kern des experimentellen Ansatzes, welcher die Entwicklung der abendländischen Wissenschaft vor rund fünfhundert Jahren einläutete (Kriz, 1999). Das funktioniert unter bestimmten Bedingungen auch recht gut. Sogar so gut, dass nicht nur die damit erbrachten Erkenntnisse in ihrer technologischen Umsetzung gewaltige Fortschritte brachten und viele andere Kulturen der Erde und deren Zugänge zur Welt verdrängen konnten. Sondern auch unser westliches Alltagsverständnis von den Prinzipien, »wie die Welt funktioniert«, wurde in diesen Jahrhunderten entsprechend geprägt und damit als »Selbstverständlichkeit« stillschweigend unterstellt. Selbst große Teile der Psychologie – und damit die bedeutsame wissenschaftliche Referenz für die Sicht auf Psychotherapie, Beratung und Coaching – sind noch heute von diesem Weltbild durchzogen (vgl. Unterkapitel 3.8). Verbunden ist damit noch eine weitere Idee – nämlich das »Gesetz der großen Zahl« bzw. das Konzept der Erwartungswerte als »wahrer Wert«: Denn selbst ein Experiment unter strengsten abgeschotteten Bedingungen ist nicht frei von Einflüssen, die als »Fehler« gedeutet werden. So ergibt sich auch unter genauesten Kontrollen in einer Messreihe zum sogenannten »freien Fall« einer Kugel sogar in einer weitgehend luftleer gepumpten Röhre nie genau die Formel s = (b/2) * t2 sondern 1.000 solche Experimente zeigen 1.000 mehr oder minder große Abweichungen. Aber: Die Verteilung dieser Abweichungen ist so, dass der Mittelwert (»Erwartungswert«) der Formel hochgradig entspricht. Diese Betrachtung erlaubt es, »wahre Werte« von ihren »Fehler«-Anteilen zu trennen. Auch das ist in unserer weit komplexeren Alltagswelt (unter nicht künstlich idealisierten Bedingungen) ins Weltbild übernommen und noch dazu grob abgewandelt worden: Winzige Effekte kann man – gerade bei langzeitigen Betrachtungen und/oder bei vielen Wiederholungen – weitgehend vernachlässigen. Als Unterstützung für diese Sichtweise zog man im Alltag und in der Wissenschaft lange das Sonnensystem heran: Die Sonne hat im Vergleich zu den Paneten eine sehr große Masse. Daher ist der Effekt der Sonne auf die Planeten sehr groß und jener der Planeten untereinander verschwindend klein. Daher kann man die Umlaufbahn der Erde (sowie jedes anderen Planeten oder analog dazu des Mondes um die Erde) nach den üblichen Newton’schen Gleichungen berechnen – und zwar hunderte Jahre im Voraus oder auch im Nachhinein. Die Rückkopplung zwischen den Planeten wurde nie bestritten, schienen aber vernachlässigbar klein.
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Das war auch notwendig, denn wie man vielleicht noch aus der Schule erinnert, beruht die ganze Himmelsmechanik darauf, dass die Astronomen zwar die Bewegung eines Körpers um einen zweiten berechnen können. Aber das sogenannte Dreikörperproblem – oder gar die Berücksichtigung der Wechselwirkungen aller neun Planeten – ist faktisch unlösbar. Jedenfalls rechneten von 1910 bis 1925 (also 15 Jahre lang) 56 Wissenschaftler unter Führung des dänischen Astronomen Elis Strömgren an einem vereinfachten 3-Körper-Problem. Die dafür verbrauchten 15 × 56 = 840 Mannjahre Rechenzeit kosteten so viel wie der Jahresetat einer mittleren Universität. Da war es klug, an die Vernachlässigkbarkeit von Rückkopplungen zu glauben (bzw. auf die Erfindung des Computers – einige Jahrzhente später – zu warten). Dass diese Weltsicht gleichwohl fraglich ist, zeigte bereits vor 125 Jahren der französische Mathematiker Henri Poincaré: Er gewann 1890 den Preis, den die Schwedische Akademie der Wissenschaften für die Frage »Ist das Sonnensystem stabil?« ausgeschrieben hatte, mit einer Arbeit, in der er nachwies, dass man dies aufgrund der Rückkopplungen nicht sagen könne. Unter bestimmten Bedingungen können sich auch verschwindend kleine Rückkopplungen so aufschaukeln, dass völlig neue Entwicklungsverläufe entstehen können – z. B. könnte im Sonnensystem die Venus »plötzlich« (relativ zu astronomischen Zeitspannen) einen Haken machen und aus dem Sonnensystem ausscheren. Allerdings verstanden Poincarés Arbeit seinerzeit nur sehr wenige Wissenschaftler – und jegliche praktische Umsetzungen oder Berechenbarkeit schien aus den besagten Gründen ohnedies unmöglich. Es gab scheinbar keinen Grund, diese Erkenntnis mit Nachdruck zu verfolgen. Dies änderte sich radikal, als in den 1960er Jahren Computer allgemein zugänglich wurden. Der Amerikaner Edward Lorenz entdeckte bei seinen Simulationen von Wetterverläufen sozusagen nochmals, was Poincare über ein halbes Jahrhundert zuvor bereits mathematisch präzise entwickelt hatte. Dies war die Geburtstunde einer rasanten Entwicklung in der sogenannten Chaostheorie, der Fraktalen Geometrie und der Systemtheorie (genauer: der Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme), die alle drei eng miteinander verwandt sind. Es ist hier nicht der Ort, diese Entwicklung und die zugrunde liegenden Theorien nachzuzeichnen (siehe z. B. Kriz, 1992, 1999). Wichtig für unseren Kontext ist allerdings die Tatsache, dass der Unterschied zwischen dem »klassischen« und dem systemtheoretischen Verständnis »der Welt« mit der Ignorierung einerseits und der Berücksichtigung andererseits der stets zu findenden Rückkopplungen zu tun hat. Bereits vergleichsweise sehr einfache rückgekoppelte Prozesse können in ihrem Verlauf »chaotisch« werden – was bedeutet: völlig unvorhersagbar. Dies hat die Wissenschaftler vor allem in den ersten Jahr-
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zehnten nach der Wiederentdeckung durch Lorenz fasziniert, weil es ihr Bild einer weitgehend berechenbaren und vorhersagbaren Welt stark erschütterte. Wir finden hier ähnliche Überlegungen wie bei den nichttrivalen Maschinen von Foersters. Aber auch dies ist hier nicht so interessant (Näheres dazu in Kriz, 1999, S.13–33). Interessant ist vielmehr die andere Seite44, nämlich wie Ordnung bzw. Muster oder Strukturen entstehen, aufrechterhalten werden und sich gegebenenfalls verändern. Denn genau das sind die grundsätzlichen Phänomene, mit denen wir es im Bereich von Psychotherapie, Beratung und Coaching zu tun haben, wie bereits an etlichen Stellen anklang. Schematisiert kann man die beiden Sichtweisen durch Abbildung 11 und 12 darstellen.
Abbildung 11: Reine I-O-Beziehung (Input-Out-Beziehung)
Abbildung 12: I-O-Beziehung als Teil eines Netzwerkes und daher mit Rückkopplung
Fünf aufeinander einwirkende nichttriviale Maschinen – beispielsweise Mitglieder einer Familie oder eines Teams, die längere Zeit miteinander kommunizieren – können so dargestellt werden, wie in Abbildung 13 links. Da aber ohnedies jedes der fünf Mitglieder etwas von der Kommunikation mitbekommt, läßt sich das zu der Darstellung in der Mitte vereinfachen – und dies wiederum zur Darstellung ganz rechts. Letzlich wirkt der Operator rückgekoppelt auf sich selbst.
Abbildung 13: Netzwerk »nichttrivialer« Maschinen (nach von Foerster, 1988) Erläuterung: Ein Netzwerk von aufeinander einwirkenden »nichttrivialen« Maschinen (links) kann auch als rückgekoppelter Operator (Op) verstanden werden (ganz rechts).
44 Es ist in der Tat »die andere Seite« derselben Medaille: Die mathematischen Beschreibungen, welche die Entwicklungsverläufe ins Chaos führen, gehen in vielen Fällen auf genau jene Gleichungen zurück, welche auch die Entwicklungsverläufe zu selbstorganisierten Strukturen beschreiben – nur manche Parmeter sind darin geändert (Kriz, 1992).
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Die Entwicklung hin zur Ordnung, wenn eine Operation rückgekoppelt wird, ist besonders schön in Abbildung 14 zu sehen: Auf eine zufällige (d. h. chaotische) Verteilung von Punkten (Abbildung 14a) wird immer wieder die gleiche Transformation ausgeübt (Abbildung 14b–f). Dies kann man sich so vorstellen, dass man ein Fotokopiergerät mit mehreren Linsen hat, welche ein wenig verkleinern, verzerren etc., sodass beim Kopieren die Punkte von Abbildung 14a so wie in Abbildung 14b »verschoben« sind. Nimmt man nun dieses Blatt (der »Output« der Kopier-»Operation« im obigen Sinne) und legt es erneut auf das Kopiergerät – ohne die Linsen zu verändern! – so erhält man nun eine (verzerrte) Kopie der Kopie. Dies ist Abbildung 14c. Fährt man nun so fort, so wird die Struktur immer deutlicher – und nähert sich der Konfiguration eines »Ahornblattes« an. Man könnte diese Entwicklung tatsächlich mithilfe eines Kopiergerätes realisieren, welches über vier Linsen verfügt, die auf spezielle Weise eingestellt sind. Tatsächlich wurden die Veränderung der Punkte am Computer berechnet. Die Mathematik ist hier aber nicht weiter interessant (die Regeln sind in Kriz, 1992, ausführlich dargestellt). Vielmehr wird in Abschnitt 4.2.1 faktisch das gleiche Prinzip verwendet – allerdings geht es dort nicht um ein Kopiergerät als »Operator«, sondern die kognitive menschliche Leistung beim Wahrnehmen, Erinnern und Reprodzieren (vgl. Abbildung 34).
Abbildung 14: Ordnungsentstehung durch wiederholte Anwendung ein und derselben Operation Erläuterung: Indem auf die zufallsverteilten Punkte (a) immer wieder dieselbe Operation (z. B. »verzerrtes Fotokopieren«) ausgeübt wird, entsteht zunehmend die Ordnung in (f).
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Wie anhand der Darstellung des Netzwerkes von aufeinander einwirkenden nichttrivialen Maschinen (Abbildung 13) deutlich wird, müssen die Rückkopplungen keineswegs so direkt zwischen »O« und »I« ablaufen wie in Abbildung 12, sondern sie können gegebenenfalls zeitverzögert und/oder über viele weitere »Teile« vermittelt sein, wie es für die miteinander verbundenen und interagierenden Teile eines Netzwerks – beispielsweise eine Familie oder ein Team – typisch ist. Auf der mikrosozialen Ebene ist es auch besonders einsichtig, dass das, was man ein »Team«, ein »Paar«, eine »Familie«, eine »Organisation« etc. nennt, im Wesentlichen auf solchen Mustern aufgrund von Rückkopplungen beruht, welche die Art regeln, wie sich diese Menschen aufeinander beziehen. Das genau ist die Basis dessen, was wir mit »sozialen Beziehungen« meinen, wahrnehmen und auch handelnd umsetzen: Aufgrund vielfach durchlaufener Rückkopplungen werden gegenseitige Erwartungen austariert und dabei die Möglichkeiten des Verhaltens selbst trivialisiert. Dies findet allerdings nicht im kontextfreien Raum statt (siehe Unterkapitel 3.7: System versus Umgebung und Umwelt). Sondern Menschen betreten stets eine Lebensbühne, auf der sich bereits seit vielen Generationen die Lebensprozesse der einzelnen Personen gegenseitig rückgekoppelt vollzogen haben und so soziale Beziehungen in Form von Normen, Regeln und Rollen bereits etabliert haben. Analog gilt dies auch für jene evolutionären Strukturen, welche soziale Muster im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen durch Rückkopplung über die Generationen hinweg haben entstehen und stabiliseren lassen: Die organismische »Erwartung« des Neugeborenen, durch sein »Kindchenschema« von der Vorgeneration und besonders den Eltern als »süß« und »zuwendungsbedürftig« empfunden zu werden und mit seinem Stimmchen seine Affekte verstehbar mitteilen zu können, ist auf die entsprechenden intuitiven »Reaktionen« der Eltern über unzählige Rückkopplungsschleifen evolutionär abgestimmt. 3.5.2 Rückkopplung, Attraktor, Schema, Gestalt Die Lebenswelt des Menschen ist notwendig sinnhaft geordnet. Schon daher gibt es in der Alltagssprache viele Begriffe für dieses Phänomen: »Ordnung«, »Struktur«, »Muster« oder »Regel« sind nur die häufigsten und geläufigsten dafür. Da es sich um alltagssprachliche Begriffe handelt, die wir in narrativen Passagen verwenden, werden sie in diesem Buch als Synonyme behandelt – auch wenn »Ordnung« eher auf etwas Statisches verweist (etwa: die Ordnung – oder gar: Anordnung – der Teile in einem Puzzle) und »Regel« stärker einen prozessualen Aspekt betont (etwa: Regeln beim Ausführen eines Spiel, Familienregeln, Regeln im Team).
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Systemische Prinzipien
Zur präziseren systemwissenschaftlichen Beschreibung und Analyse dessen, wie sich solche Ordnungen bilden, auswirken, verändern etc, ist eine präzisere Terminologie angesagt. Im Abschnitt 3.5.1 wurden bereits die Rückkopplungen zwischen den Teilen eines Systems als notwendig dafür erläutert, dass sich im Prozess solche Ordnungen ergeben. Eine solche Ordnung, auf die ein Prozess hinausläuft, nennt man einen Attraktor. Bisher in Beispielen angeführte Attraktoren sind »das in den Seilen Hängen« der beiden Personen im Boot (Abbildung 6), die Interaktionsdynamik von »kontrollieren« und »sich zurückziehen« von Mutter und Tochter (Abbildung 7) oder das Punktemuster in Form eines Ahornblattes, auf das die Dynamik in Abbildung 14a–f des Weiteren hinauslaufen würde. Abbildung 14f ist noch nicht der Attraktor, denn die Operationen gehen ja weiter und das Bild verändert sich in seinen Details. Aber man hat schon einen recht guten Eindruck davon, wie der Attraktor dann aussehen wird (nämlich in Form eines Ahornblattes, bei dem aber alle Punkte ausgefüllt sind). Der Begriff »Gestalt« meint ebenfalls eine dynamische Ordnung von Teilen – jedenfalls so, wie der Begriff präzise im Rahmen der Gestaltpsychologie der Berliner Schule in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde (führende Vertreter: Wertheimer, Koffka, Köhler, Goldstein, Lewin) und in deren Folge weiter verstanden wird. Die Gestaltpsychologie war zwischen 1910 und 1935 eine weltweit renommierte Richtung der deutschen Psychologie. Da aber viele ihrer Vertreter Juden waren, mussten sie aufgrund des Naziregimes Deutschland verlassen. Darüber hinaus handelt es sich bei der Gestaltpsychologie um einen humanistisch orienierterten Ansatz, welcher zudem die Selbstorganisation von Strukturen betont: Er passte nicht zur Naziideologie mit einer strikten Führung sowie Befehl und Gehorsam. Als dann nach Kriegsende und dem Zusammenbruch des sogenannten »Dritten Reiches« die Psychologie in Deutschland wieder in größerem Maße an die deutschen Universitäten kam, fand man es daher für opportun, diese Machbarkeitsideen im Kontext des amerikanischen Behaviorismus weiterzuverfolgen (und sich damit geistig den »Siegern« anzuschließen), statt bei den Alternativen anzuknüpfen. Daher gibt es heute in vielen Ländern Lehrstühle in Psychologie, die mit Gestaltpsychologen besetzt sind (in Italien beispielsweise rund zehn), während in Deutschland kein einziger der behavioralen Orientierung standgehalten hat. Fundierte Gestaltpsychologie führt daher in Deutschland ein Nischendasein und ist in weiten Kreisen eher unbekannt. Ein inhaltlicher Unterschied des Gestaltbegriffes zum Attraktor liegt darin, dass »Gestalt« sowohl konzeptionell als auch in den zahlreichen experimentellen Studien mit kognitiven Prozessen – primär Wahrnehmen und Denken – verbunden ist. »Gestalt« und »Gestaltbildung« ist somit vor allem auf Pro-
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zesse des phänomenalen Feldes beim Menschen bezogen – während Attraktor interdisziplinär und dort dann auch recht naiv-realistisch verwendet wird: Erkenntnistheoretische Probleme werden gerade in den Naturwissenschaften meist außen vor gelassen (wenn sie sich diesen Fragen nicht explizit widmen). Die Phänomene »in der Natur« werden daher oft naiv naturalistisch beschrieben – so als ob es diese Ordnungen »wirklich«, »objektiv« und unabhängig von menschlicher Begriffsbildung, Wahrnehmung und den zugrunde liegenden Beobachtungstheorien gäbe. In Bezug auf kognitive Vorgänge ist daher das Konzept »Gestalt« wesentlich präziser und anspruchsvoller. In anderen Bereichen freilich ist das Konzept »Attraktor« besser anschlussfähig an die interdisziplinären systemtheoretischen Diskurse. Dort, wo quantifiziert werden kann, haben die Konzepte der Systemtheorie zudem einen hohen Grad an Differenziertheit entwickelt, den es ebenfalls zu nutzen gilt, auch wenn er »nur« zur Modellbildung in den Humanwissenschaften anregt. Entsprechend wird in diesem Band im Zusammenhang mit dynamischer Ordnungsbildung sowie mit manchen kognitiven Prozessen das Konzept des Attraktors und nicht das der Gestalt verwendet. Auch der Schemabegriff hat große Nähe zum Konzept des Attraktors. Dies schon deshalb, weil »Schema« von Bartlett (1932) vor allem für die dynamischen Prozesse bei der Erinnerung geprägt wurde und Bartlett damit der Gestaltpsychologie sehr nahe stand. Er selbst hat den Schemabegriff auch am präzisesten und weitgehend im Sinne eines Attraktors verwendet – nämlich als eine Ordnung, auf die hin sich der Prozess bewegt. Leider ist der Begriff des Schemas aber zunehmend »populär« geworden – der Entwicklungspsychologe Piaget (1976), der Kliniker Grawe (2004) oder die Therapeuten Young, Weishaar und Klosko (2003) sind hier nur einige besonders bekannte Beispiele. Damit wurde auch immer stärker verwässert, was eigentlich genau mit »Schema« gemeint sein soll. Liest man diese Literatur, wird mit Schema einerseits die Ordnung bezeichnet, auf die hin sich ein Prozess beweg – also im Sinne von Attraktor. Genauso häufig aber sind damit auch die Operationen gemeint, welche diese Ordnung hervorbringen. Nicht selten ist die Darstellung so unpräzise und metaphorisch, dass man nicht einmal weiß, ob über das eine oder das andere gesprochen wird. Dass es aber nicht belanglos oder gleich ist, ob man über die Operatoren redet, welche zu einem Attraktor führen, oder aber über den Attraktor selbst, sollte eigentlich einleuchten. Nehmen wir nochmals das obige »Fotokopiergerät«, so hängt der Attraktor davon ab, welche Operatoren (d. h. Einstellung der Linsen) man wählt (vgl. Abbildung 15): Der selbe Schriftzug »KRIZ« wird zu einem Attraktor in Form eines Ahornblattes (wie oben schon die Zufalls-
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Systemische Prinzipien
punkte) oder in Form eines Farns oder zu einem Gebilde (links/unten), das an die eine Seite einer Schneeflocke erinnern mag. Wieder muss uns die Mathematik hinter diesen Abbildungen nicht interessieren.45 Es geht vielmehr darum, sich klar zu machen, dass die Linsen des Kopierers (oder die Operatoren) selbst weder die Form oder Eigenschaft eines Ahornblattbildes, noch eines Farnbildes etc. haben, sondern dass diese Bilder durch die Rückkopplung entstehen.
Abbildung 15: Ein und dieselbe Ausgangsform – hier »KRIZ« – führt je nach rückgekoppelter Operation zu unterschiedlichen Attraktoren Erläuterung: Rechts sieht man die Formen nach sehr vielen Rückkopplungen.
45 Es sei aber darauf hingewiesen, dass die Operatoren bzw. Transformationsregeln, die zu den Formen in Abbildung 15 führen, in Kriz, 1992, S. 85 zu finden sind.
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Entsprechend ist bei den »Personen im Boot« der Attraktor ihre etwas unglückliche Lage »in den Seilen«. Die Operatoren, die sie dahin gebracht haben, lassen sich grob als »misstrauisch-angstvoll-unerfahrenes Korrigieren« kennzeichnen. Auch der Attraktor im Beispiel der Mutter-Tochter-Dynamik besteht einfach aus dem (verkürzt bezeichneten) Verhaltensmuster »Herumstreunen«-»Kontrollieren« (an dem beide beteiligt sind). Die Operatoren dürften im Kern u. a. (und ebenfalls verkürzt) »Sorge um und Verantwortung für die Tochter« sowie »Wunsch nach Selbstbestimmung und Autonomie« sein. Anhand der Abbildung 15 wird aber noch etwas anderes anschaulich: Es ist keineswegs die Ausgangsstruktur (hier »KRIZ« bzw. in Abbildung 14 die Zufallsverteilung der Punkte), sondern es sind ausschließlich die Operatoren, welche zu dem Attraktor führen. Damit könnte aber auch irgendwann auf dem Entwicklungsweg hin zum Attraktor durch irgendeinen Einfluss von außen der allergrößte Teil eines Bildes zerstört werden: Sofern die Stellung der Linsen (also die Operatoren) dabei nicht verändert werden, läuft die Dynamik weiterhin auf den Attraktor (z. B. »Ahornblattbild«) zu. Denn ob man bei »KRIZ« anfängt oder bei Zufallspunkten oder aber bei einem weitgehend zerstörten Restbild, ist letztlich egal. Im guten Sinne repräsentiert diese attrahierende Dynamik somit so etwas, was wir von »Selbstheilungskräften« kennen: Die manifestierte Struktur wird auch bei teilweiser Zerstörung wieder ergänzt und hergestellt.46 Doch hat dieser »gute« Aspekt auch seine Schattenseiten – nämlich dann, wenn die Struktur sich auf etwas bezieht, was wir eigentlich verändern wollen. Sofern sich die zugrunde liegenden Operatoren nicht ändern, wird auch hier die Ordnung (d. h. der Attraktor) immer wieder realisert. Auch dies kennen wir aus der Alltagspraxis: Sofern ein Jugendlicher, der wegen irgendwelcher »Schwierigkeiten« in ein Heim eingewiesen wird, nach seiner Rückkehr die gleichen »Erziehungs«- und Interaktionsstrukturen in seiner Familie vorfindet, und wenn diese mit seinen »Schwierigkeiten« zu tun haben, wirken ja letztlich weitgehend die gleichen »Operatoren«. Und man darf von einer hohen Wahrscheinlichkeit ausgehen, dass sich wieder »irgendwelche Schwierigkeiten« daraus entwickeln werden. Das müssen natürlich keineswegs genau dieselben wie vorher sein, denn im Gegensatz zu den Linsen des Fotokopiergerätes hat sich vermutlich schon ein wenig geändert: Allein die Erfahrung, im Heim gewesen zu sein, ist ein veränderter Aspekt in den Gesamtbedingungen.
46 Etwas, das wir als »Komplettierungsdynamik« noch ausführlich diskutieren werden.
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Systemische Prinzipien
3.5.3 Exkurs: Attraktoren und Sinnattraktoren Wegen der großen Bedeutung des Konzeptes »Attraktor« ist es sinnvoll, einen etwas präziseren Blick darauf zu werfen. Es wurde bereits betont, dass Attraktoren (und auch »Sinnattraktoren«) Komplexität reduzieren. Diese Eigenschaft wird vielleicht an folgendem – zunächst rechnerischen – Beispiel deutlich (weil Zahlen zunächst inhaltsleer sind, kann der eigentliche Effekt noch klarer hervortreten, als wenn wir gleich mit inhaltlichen Beispielen arbeiten): Die Abbildung 12 liefert schon einen guten Eindruck, wie eine Rückkopplung funktioniert. Füllen wir das Kästchen in der Mitte zwischen Input »I« und Output »O« einmal mit (zunächst mathematischem) Inhalt, z. B. wie in Abbildung 16 dargestellt.
Abbildung 16: Spezifische Operation gemäß Abbildung 12
Dies besagt, dass auf eine Input-Zahl »I« folgende Operation ausgeübt wird: Zunächst wird 0,05 * I berechnet (Punktrechnung vor Strichrechnung!) und dieses Ergebnis von 2,2 abgezogen. Vorn in dem Kästchen steht noch ein »*«, d. h., dieses Ergebnis wird nun mit »I« multipliziert, was »O« ergibt. Beginnt man z. B. mit der Zahl 10, so hätten wir zunächst 0,05 * 10 = 0,5. Dies von 2,2 abgezogen ergibt 1,7. Und dies mit I = 10 multipliziert ergibt 17. Das erste Ergebnis »O« wäre somit 17. Nun läuft aber ein Pfeil von »O« zu »I«, d. h., wir haben hier einen Prozess, bei dem im nächsten Schritt das »O« (hier 17) zum neuen »I« wird. Übt man daraufhin dieselbe Operation aus, so ergibt sich (2,2–0,05 * 17) * 17 = 22,95. Nach einigen weiteren Schritten läuft dieser Prozess auf die Zahl 24 hinaus, wie man in der linken Spalte von Tabelle 6 sehen kann. Der Prozess läuft somit auf eine einzige Zahl, 24, zu und bleibt dort stabil, d. h., wenn 24 der Input ist, kommt auch 24 wieder als Output heraus.
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Rückkopplung: Die unterschätzte Wirkung im abendländischen Denken
Tabelle 6: Beliebige Ausgangszahlen (in einem bestimmten Bereich)47 laufen auf den Attraktor 24 zu Startwert
10
5
20
30
38
17
9,75
24
21
11,4
22,95
16,69688
24
24,15
18,58201
24,15488
22,79385
24
23,96888
23,61587
23,96783
24,16849
24
24,00618
24,06945
24,00639
23,96489
24
23,99876
23,98587
23,99872
24,00696
24
24,00025
24,00282
24,00026
23,99861
24
23,99995
23,99944
23,99995
24,00028
24
24,00001
24,00011
24,00001
23,99995
24
24
23,99998
24
24,00001
24
24
24,00001
24
24
24
24
24
24
24
24
24
24
…
…
…
…
…
Das Wesentliche ist nun, dass diese Dynamik auch dann auf den Attraktor 24 zuläuft, wenn nicht mit der Zahl 10, sondern einer anderen Zahl begonnen wird – wie die anderen Spalten in Tabelle 6 exemplarisch zeigen.48 Der Attraktor 24 ist hier also nicht von der Ausgangszahl abhängig, sondern er ergibt sich aus der Operation selbst. Die komplexe Vielfalt möglicher Zahlen wird bei dieser Operation also auf eine einzige Zahl reduziert (man spricht in diesem Fall von einem Punktattraktor). Bildet man die Spalten grafisch ab, wobei man auf der X-Achse die Schritte 1 bis 15 einträgt, so ergibt sich Abbildung 17.
Abbildung 17: Grafische Darstellung der Dynamik von Tabelle 6 47 Man kann leicht sehen, dass »I« größer als 0 und kleiner als 44 sein muss (weil sonst das Ergebnis der ersten Operation 0 oder negativ wird und die Dynamik dann auf −∞ hinausläuft). 48 Genau genommen müssen auch hier bestimmte Bedingungen eingehalten werden, die aber meist erfüllt sind (ausführlich in Kriz, 1999).
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Systemische Prinzipien
Hier sieht man vielleicht noch deutlicher, wie eine attrahierende Dynamik die Vielfalt möglicher Ausgangswerte reduziert und das Ergebnis stabilisiert. In der Tat kann man sich vorstellen, dass die Vielfalt von Situationen mit ihren jeweils vielfältigen möglichen Bedeutungen auf ähnliche Weise reduziert wird. Man kann dies aber auch als Modell dafür verstehen, wie sich eine sehr reduzierte Sicht und Beschreibung »der Welt« ergeben kann – etwa, wenn ein Team z. B. dem Coach berichtet, sie hätten in der Firma dauernd Konflikte mit C (einem Controllingteam), weil dies »Schikanierer« seien (Kriz, 2016b). Denn was mit »Schikanierer« beschrieben wird, hat sich gegebenenfalls aus zahlreichen Rückkopplungsschleifen in den Interaktionen mit C ergeben, wobei die Bedeutung immer reduzierter und stabiler wurde – ein Prozess, der in der Literatur als »Verkrustung« bezeichnet wird. Abbildung 18 zeigt dies in schematischer Übereinstimmung mit Abbildung 17.
Abbildung 18: Reduktion vieler unterschiedlicher Situationen auf den Sinnattraktor bezüglich des Controllingteams C: »C sind Schikanierer«
Solche festschreibenden Reduktionen wie »C sind Schikanierer« reduzieren Handlungsoptionen und machen den Coach eher hilflos, wenn er diese Beschreibung einfach übernimmt. Ein wichtiger Aspekt für Veränderung wäre, eine angemessene situative Komplexität in den Beschreibungen des Teams wiederherzustellen. Das heißt, bezogen auf Abbildung 18, den angedeuteten Reduktionsprozess von links nach rechts nun rückwärts von rechts nach links zu durchlaufen (etwa, indem man Situationen genau schildern lässt). Dieser Prozess wird als »Verflüssigung« (der »verkrusteten« Interpretationsstrukturen bezeichnet). Bei dieser »Verflüssigung« wird dann in der Regel deutlich, dass die Situationen auch anders gesehen und interpretiert werden können, als immer nur genervt »die Schikane von C« festzustellen und weiter festzuschreiben. Der auf eine einzige Deutung reduzierte abstrakte Sinn wird nun also mit vielfältigen, situationsspezifischen Möglichkeiten für Sinn bereichert.
Rückkopplung: Die unterschätzte Wirkung im abendländischen Denken
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Für manche Situationen folgen bei einem so verändert wahrgenommenen Sinn unmittelbar neue Handlungsoptionen. Jedenfalls gibt es stets viele Möglichkeiten, auf C in den konkreten Situationen zu reagieren. Die beiden letzten Situationen in Abbildung 18 (»C setzen sich … fürs Team ein« und »C helfen …«) sind übrigens nicht als Beispiele dafür gemeint, dass diese prototypisch zu »Schikanierer« reduziert werden. Dennoch ist das Umgekehrte häufig der Fall: Wenn sich erst einmal ein Sinnattraktor wie »C sind Schikanierer« eingestellt hat, wirkt sich diese sinnattrahierende Dynamik auch auf Situationen wie die zuletzt genannten aus. Konkret: Die Praxis zeigt, dass solche Situationen dann eher nicht wahrgenommen, nicht erinnert oder aber umgedeutet werden – jedenfalls nicht »präsent« sind, wenn das Team üblicherweise über »die Schikanierer C« klagt. Problemstrukturen sind so gesehen mit der verkrustenden Reduktion vielfältiger Situationen (links in Abbildung 18) auf zu enge, zu starre und zu eingefahrene Beschreibungen (rechts) verbunden. Wesentliche Aufgabe des Coaches ist es daher, den umgekehrten Weg der Verflüssigung solcher starren Abstraktionen zu fördern (z. B. durch systemisches Fragen), indem diese in eine Vielzahl von lebensnäheren Situationsbeschreibungen aufgefächert werden und so den eingeengten Raum an Interpretations- und Handlungsoptionen wieder erweitern. Dass wir ein Coachingproblem in den Fokus rücken, ist vergleichsweise willkürlich. Denn es geht hier ja vor allem um die grundsätzliche Dynamik, in der sich der Interpretationsraum mit seiner Vielfalt an möglichen Sicht- und Verstehensweisen bei einem »Sinnattraktor« verfestigend zusammenzieht. Dies gilt natürlich analog für die Problemschilderung der anfänglichen Fallvignette, in welcher der 12-jährige Julian nach Ansicht seines Vaters eine »Verhaltensstörung« hat. Denn obwohl das Alltagsleben von Julian – auch in der Familie – aus unzähligen Situationen besteht, von denen jede ein großes Spektrum an Deutungsmöglichkeiten zulässt, werden mit der Beschreibung »Julian hat eine Verhaltensstörung« die vielfältigen möglichen Bedeutungen auf ähnliche Weise reduziert wie oben in dem Coachingbeispiel. Das heißt, was als »Verhaltensstörung« erscheint, hat sich gegebenenfalls aus zahlreichen Rückkopplungsschleifen in der Familie ergeben, wobei die Bedeutungen immer reduzierter und stabiler wurden. Analog zu Abbildung 18 könnte sich dies aus (exemplarischen) Situationen in Abbildung 19 ergeben haben. Auch hier wäre dann ein wichtiger Schritt in der Therapie, eine angemessene situative Komplexität in den Beschreibungen der Familienmitglieder wiederherzustellen. Damit das Beispiel in Abbildung 19 dem in Abbildung 18 strukturell gleich ist, sind auch hier die unteren beiden Situationen (Julian tröstet …
106
Systemische Prinzipien
Abbildung 19: Reduktion vieler unterschiedlicher Situationen auf den Sinnattraktor »Julian hat eine Verhaltensstörung«
und Julian hilft …) nicht als typische Beispiele für eine »Verhaltensstörung« zu verstehen. Aber auch hier zeigt die Beratungspraxis, dass solche Situationen in den Prozessen des Wahrnehmens, Erinnerns und Verstehens von dem Sinn attraktor »Verhaltensstörung« erheblich beeinflusst werden. Weitere Beispiele hierzu werden in Unterkapitel 6.3 und 6.4 ausgeführt und diskutiert.
3.6 Bottom-up und top-down – das Verhältnis zwischen Mikro- und Makroebene 3.6.1 Grundlegende Aspekte Wenn man die Welt in ihrer Prozesshaftigkeit betrachtet und sein Interesse auf die entstehenden Muster richtet, die sich aus der Rückkopplung zwischen den vielen Einzelphänomenen ergeben, fasst man zwangsläufig immer (mindestens) zwei Ebenen ins Auge: Eine Mikroebene, auf welcher die Rückkopplungen zwischen den »Teilen« stattfinden, und eine Makroebene, auf welcher die Phänomene »Ordnung«, »Struktur«und »Attraktor« thematisiert werden. Diese Mikro-Makro-Verbindung durchzieht daher notgedrungen auch unsere ganzen bisherigen Beispiele. In Tabelle 7 sind wenige exemplarische Beispiele zusammengestellt. Allerdings macht ein solcher Verweis auf die beiden miteinander verschränkten Prozessebenen noch nicht die spezifische Dynamik der Ordnungsbildung (hin zu einem Attraktor) deutlich. Diese überaus wichtigen strukturierenden Einflüsse hat bereits die Gestaltpsychologie vor rund hundert Jahren herausgearbeitet – und zwar wesentlich differenzierter, als der viel zitierte Satz »Das Ganze ist etwas anderes als die Summe der Teile« offenbart. Denn dieser Satz
107
Bottom-up und top-down
Tabelle 7: Beispiele für Mikro-Makro-Beziehungen Mikroebene
Makroebene
Klatschen vieler Menschen beim Applaus
gemeinsamer Klatschrhythmus
Handlungen der Bootsfahrer zur »Stabilisierung« in den Seilen hängen (Abbildung 6) Handlungen von Mutter und Tochter
Interaktionsdynamik aus Kontrolle und Streunen (Abbildung 7)
viele nichttriviale Maschinen in Interaktion
selbst trivialisierte Ordnung
Deutungen vieler Situationen durch viele im Team
Sinnattraktor: »C sind Schikanierer« (Abbildung 18)
Deutungen vieler Situationen in der Familie
Sinnattraktor: »Verhaltensstörung« (Abbildung 19)
Hasen und Luchse (als »Beute« und »Jäger«)
zyklische Populationsdynamik (Abbildung 8)
gibt bestenfalls die eine Seite der Einflüsse wieder, nämlich dass sich durch die Rückkopplungen auf der Mikroebene das »andere Ganze«, der Attraktor bzw. die Ordnung, ergeben. Nehmen wir aber das klassische und vielfach verwendete Beispiel von den Tönen (Mikroebene), die sich in der Wahrnehmung eines Hörers zur Melodie (Makroebene) ordnen, so wird daran die zirkuläre Dynamik beider Ebenen deutlich: Denn die Töne ordnen sich nicht nur zu einer Melodie, sondern die Melodie gibt den Tönen jeweils ganz besondere Eigenschaften, die sie ohne die Melodie nicht hätten. Man bezeichnet den einen Aspekt dieser zirkulären Dynamik, den Einfluss der Mikroebene (Töne) auf die Ordnungsbildung (Melodie), als »Bottom-up«Dynamik, den anderen Aspekt, den Einfluss der Ordnung (Melodie) auf die Mikroebene (Töne), als »Top-down«-Dynamik (siehe Abbildung 20).
Abbildung 20: Zusammenhänge zwischen zentralen Aspekten und Begriffen der zirkulären Dynamik am Beispiel »Töne und Melodie«
108
Systemische Prinzipien
Da es sich bei dieser zikulären Bottom-up- und Top-down-Dynamik um ein zentrales Prinzip handelt, welches die gesamte Systemtheorie in den unterschiedlichsten Disziplinen durchzieht, soll dies etwas ausführlicher und unter Einbeziehung konkreter Situationen dargestellt werden. Die hierfür gewählten Beispiele werden jeweils drei unterschiedlichen Bereichen zugeordnet, um deutlich zu machen, dass es hier um bestimmte Prinzipien geht und nicht um inhaltliche Aspekte der Beispiele selbst: a) Musikwahrnehmung: Bereits vor hundert Jahren wurde im Rahmen der Gestaltpsychologie gern auf das Beispiel von »Tönen und Melodie« zurückgegriffen. Dies ist wohl nicht nur dem gemeinsamen »Lehrer«, Carl Stumpf, der Berliner Gestaltpsychologen geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass so elementares Musikhören jedem Menschen aus eigener Erfahrung zugänglich ist (auch wenn er über die Zusammenhänge der Gestaltbildung kaum nachdenkt). b) Kommunikation: Hier geht es um Gestaltbildung bei komplexeren kognitiven Prozessen. Nämlich wie in einer typischen Kommunikation (im Alltag oder in der Beratung) das Vorstellungsbild über den Gesprächspartner entsteht (bzw. sich weiter ausdifferenziert). c) Gruppendynamik: Hier geht es um Ordnungsprozesse im Rahmen von gruppendynamischen Vorgängen.49 Für diese drei exemplarischen Bereiche werden nun zentrale Aspekte erörtert, welche mit der Bottom-up- und Top-down-Dynamik zusammenhängen. Mit Verweis auf das Töne-Melodie-Paradigma der klassischen Gestaltpsychologie könnte man etwas poetisch formulieren, dass es insgesamt um »die Melodie menschlichen Miteinanders« geht. 3.6.2 Gestalthafte Ganzheitlichkeit des Bottom-up a) Musikwahrnehmung
Man spiele auf einer Blockflöte einige Töne – z. B.: c-c-d-h-c-d e-e-f-e-d-c. Als Höreindruck ergibt sich eine »Melodie«: Wie bei jeder anderen einfachen Melodie, etwa einer, die ein Kind vor sich hin summt, ist dies für den Hörer eben nicht nur einfach eine Abfolge von Tönen (oder gar nur von physikalischen Schwingungen). Vielmehr hört er musikalisch sinnvolle Zusammenhänge. Er 49 Diese »gruppendynamischen Vorgänge« sind hier nur so ausgewählt und kurz skizziert, dass sie ohne weitere Kenntnisse verständlich sein sollten. Für Interessierte sei aber angemerkt, dass sie sich auf Seminarvignetten in einer Darstellung von Lewins Feldtheorie durch Soff und Stützle-Hebel (2015, S. 69 ff.) beziehen.
Bottom-up und top-down
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erinnert sich gegebenenfalls, diese Melodie schon mal gehört zu haben. Selbst dann, wenn danach jeder Ton ein anderer ist – z. B. auf der Orgel die Töne g-g-a-fis-g-a-h-h-c-h-a-g – erkennt man diese Melodie (weitgehend) wieder. Es geht hier also nicht um die physikalische Beschaffenheit der einzelnen Töne (c = 264 Hertz, d = 297 Hertz, h = 248 Hertz etc.). Vielmehr geht es um etwas sinnhaft ganzheitlich Wahrgenommenes. Dies ist typisch für das, was »Gestalt« genannt wird. Eine Melodie behält ihre Gestalt, auch wenn die Töne transponiert werden (erste Tonfolge vs. zweite Tonfolge im Beispiel). Und es ist dafür auch nicht wichtig, ob die Melodie statt auf der Blockflöte auf einer Violine, Oboe oder Trompete gespielt wird. b) Kommunikation
Man sitzt einem Klienten gegenüber, der einige Wörter äußert, z. B.: »gestern« – »Abend« – »kamen« – »mir« – »im« – »Konzert« – »plötzlich« – »Tränen«. Wie bei fast allen geäußerten Worten meiner Mitmenschen hört man nicht einfach Worte (oder gar nur physikalische Schwingungen), sondern sinnvolle Sätze. Man erinnert sich gegebenenfalls, die »gleiche« Aussage schon einmal gehört zu haben. Selbst dann, wenn jedes Wort ein anderes war, z. B.: »Freitag« – »machte« – »mich« – »ein« – »Stück« – »im« – »Radio« – »ganz« – »traurig«. Es geht auch hier weder um die physikalischen Schwingungen der Luft noch um die im Thesaurus nachschlagbare Hauptbedeutung der jeweils einzelnen Wörter. Vielmehr geht es um eine ganzheitlich, sinnvoll wahrgenommene Äußerung. Obwohl unüblich, könnte man hier von einer (Sinn-)Gestalt sprechen. Das Wesentliche, der Sinn einer Äußerung, lässt sich auf vielerlei Weise mit unterschiedlichen Wörtern ausdrücken. Wobei in der Realität der Kommunikationen die Gestaltbildung freilich deutlich komplexer ist, weil noch Mimik, Gestik, Tonfall, Körperhaltung etc. mit zu dem beitragen, was sich als »Sinn« ergibt. c) Gruppendynamik
Zu Beginn eines Seminars besteht bei den Teilnehmenden zunächst meist großer Orientierungsbedarf: Die Vielfalt der Teilnehmenden und ihrer Interessen, der Angebote der Leiterin, der Erwartungen etc. ist noch relativ unstrukturiert. Diese überaus vielfältigen neuen Eindrücke werden aber meist rasch (bei jedem Teilnehmenden etwas anders!) geordnet und der »Lebensraum« jedes Teilnehmenden strukturiert und differenziert sich, indem Gestalten (»Leiterin«, einzelne »interessante Mitglieder«) als Figuren von einem Grund (»Rest« der Teilnehmenden) abgehoben werden.
110
Systemische Prinzipien
3.6.3 Bottom-up- und Top-down-Dynamiken als Aspekte eines Feldes a) Musikwahrnehmung
Die gestalthafte Ordnung »Melodie« bedeutet nicht, dass die Töne einfach in diesem Gesamtphänomen aufgehen (wie Tropfen im Teich). Sondern, wie oben schon skizziert, bewirkt die recht komplexe Bottom-up- und Top-down-Dynamik, dass die Töne zwar als Melodie wahrgenommen werden, gleichzeitig aber durch die Melodie Eigenschaften erhalten, die sie allein oder in einer anderen Melodie so nicht hätten: Das »h« in der ersten Tonfolge oben ist zwar physikalisch identisch mit dem »h« in der zweiten Tonfolge, nämlich eine Schallschwingung von 248 Hertz. Mein Hörerlebnis ist aber recht unterschiedlich: In der ersten Tonfolge wirkt das »h« als »Dominante« (oder »Leitton«) und »drängt« erlebensmäßig auf das c. In der zweiten Folge ist »h« die Terz der Tonika und wird als »ruhend« erlebt.50 Eine Melodie setzt sich somit aus Tönen zusammen (bottom-up), doch die Töne erhalten durch die Melodie, in die sie eingebettet sind, erst bestimmte Eigenschaften und Charakteristika (top-down). Der Kontext der Töne spielt somit eine erhebliche Rolle. Das, was als »Kontext« bedeutsam ist, beschränkt sich keineswegs nur auf die Melodie selbst, sondern lässt sich natürlich auch weiter fassen. Kontextabhängigkeit gilt beispielsweise auch für das Hörerlebnis der Melodie in Bezug auf andere Hörerfahrungen und -gewohnheiten: So ist die Abfolge der Töne in beiden obigen Beispielen (beginnend mit c oder mit g) zwar, erlebensmäßig, »dieselbe Melodie« – egal auf welchem Instrument man sie spielt. Aber für die Wirkung dieser Melodie auf mich bzw. für die Bedeutung, welche die Melodie für mich bekommt, ist es keineswegs gleich, ob sie auf einer Violine, Oboe oder Trompete erklingt. Ebenso sind Wirkung und Bedeutung unterschiedlich, ob man eine Melodie an einem Sommerabend mit seinem Partner im Arm, als Hintergrund im Supermarkt oder als Analysebeispiel in einer Musikprüfung hört. Eine Situation – und damit der Gesamtkontext – ist also gewöhnlich recht umfassend. Üblicherweise tragen somit viele Einzelphänomene bottom-up zu einer Gesamtsituation bei, die dann top-down die Bedeutung und Wirkung des Höreindrucks bestimmt.
50 Musikalisch unbedarfte Leser sollten dies auf der Blockflöte oder einem Tasteninstrument spielen (lassen): Das Erleben beider physikalisch identischer »h« (= 248 Hertz) ist gravierend unterschiedlich.
Bottom-up und top-down
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Das, was den Lebensraum51 ausmacht, ist somit von recht vielen Einflüssen52 bestimmt, die alle miteinander wechselwirken und in ihrer gesamten Dynamik gesehen werden müssen. Das gilt in der Realität selbst bei dem scheinbar so »einfachen« Phänomen wie einer Melodie. Gerade dann, wenn sich mehrere solche Bottom-up- bzw. Top-down-Einflüsse überlagern, ist es besonders plausibel, von einem »Feld« zu sprechen. Ein Feld ist dabei als Gesamtheit aller in einem bestimmten Bereich sich gegenseitig beeinflussender Wirkungsaspekte zu verstehen (also beispielsweise alles, was zum Höreindruck einer bestimmten Melodie in einer bestimmten Situation beiträgt). b) Kommunikation
Jedes Wort, das ein Klient sagt, trägt (bottom-up) zum Sinn bei, den ein Therapeut einem gehörten Satz gibt (z. B. im obigen Beispiel: »gestern« – »Abend« – »kamen« – »mir« – »im« – »Konzert« – »plötzlich« –»Tränen«). Gleichzeitig bekommt jedes Wort in diesem sinnvollen Verstehensprozess des Satzes eine spezifische Bedeutung (top-down). Die Vielfalt möglicher Bedeutungen jedes einzelnen Wortes wird dabei erheblich reduziert. Das heißt, die Vieldeutigkeit (Polysemantik) jedes Wortes, besonders der Alltagssprache, wird dabei begrenzt. Der Kontext, in dem die Wörter eines Satzes stehen, spielt für deren Verständnis eine bedeutsame Rolle. Das gilt auch für den Kontext des ganzen Satzes: Es ist nicht gleich, mit welchem Tonfall, welcher Mimik und Gestik etc. er geäußert wird. Und es ist nicht gleich, in welchen weiteren Sinnbezügen er steht. Das Wort »frisch« erhält eine andere Bedeutung, je nachdem ob es eine innere Befindlichkeit, den Zustand von Obst oder den Wind beschreibt. Und der Satz »Frischer Wind aus dem Osten« bedeutet im Wetterbericht etwas anderes als in einem politischen Kommentar. Die Bedeutung des Satzes hängt für den Therapeuten aber auch von seiner Erinnerung und Befindlichkeit, seinen Affekten und weiteren situativen Aspekten ab. Damit ist wie bei der Musikwahrnehmung auch der Begegnungskontext, 51 »Lebensraum« ist im Sinne der in Kapitel 2 diskutierten biosemiotischen Grundlegung durch Jakob v. Uexküll und des zentralen Begriffs der Feldtheorie von Kurt Lewin (der wiederum Student bei Cassirer war) zu verstehen. Husserl, der zunächst mit Bezug auf von Uexküll ebenfalls »Umwelt« verwendete, führt in Bezug auf den (ihn weitgehend ausschließlich interessierenden) Menschen in seinem Spätwerk das Konzept des »Lebensraumes« ein, der dann u. a. von Alfred Schütz (1974; Schütz u. Luckmann, 1975) für die Sozialwissenschaften ausgedeutet wird. 52 Lewin und andere würden hier durchaus von »Kräften« sprechen. Diesen Begriff vermeide ich, weil ich in vielen Debatten erfahren musste, dass er in naiv-realistischer Weise unreflektiert-naturalistisch als »physikalistisch« missverstanden wird und damit Vorbehalte aus »humanistisch-sozialwissenschaftlicher Sicht« gegen eine vermeintlich »naturwissenschaftliche Konzeption« kreiert werden.
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Systemische Prinzipien
in dem ein Satz gesagt, gehört und verstanden wird, sehr viel umfassender: Das Menschenbild und das damit verbundene Verständnis von Therapie bilden den Hintergrund, auf dem sowohl das Gehörte als auch die Selektion der Reaktionsmöglichkeiten durch die Feldkräfte im aktuellen Lebensraum des Therapeuten strukturiert wird. So würde sich beispielsweise ein Personzentrierter Psychotherapeut – aufgrund seines Verständnisses einer hilfreichen therapeutischen Beziehung – nicht so sehr auf Wörter konzentrieren (»Ach, gestern war das?«). Er würde auch nicht primär den Sachinhalt thematisieren (»Müssen Sie öfter in Konzerten weinen?«). Und würde auch wenig darauf fokussieren, was man »tun« könnte (»Hatten Sie wenigstens ein Taschentuch dabei?« oder: »Gut durchatmen hilft da manchmal!«). Er würde auch nicht – wie in Anfängerübungen beim »Verbalisieren emotionaler Erlebnisinhalte« – so sehr Gefühle ansprechen, die gestern (!) da waren (»Sie wurden da von Traurigkeit schier überwältigt«). Sondern sein Kontextfokus wäre der innere Bezugsrahmen des Klienten im Hier und Jetzt – unter Einbeziehung des Gesamtausdrucks. Das könnte z. B. zu dem Verständnis führen, dass sich der Klient jetzt gerade dafür schämt, zu bekennen, öffentlich so emotional reagiert zu haben. Eine angemessene therapeutische Äußerung wäre dann »Ist es Ihnen [jetzt, mir gegenüber] peinlich, wenn Sie daran denken, Ihre Gefühle so deutlich in der Öffentlichkeit gezeigt zu haben?« (vgl. Eckert u. Kriz, 2005, S. 337). Bei diesen (und vielen weiteren) Fragen zur Bedeutung der »Teile« dieses Satzes »Gestern Abend kamen mir im Konzert plötzlich Tränen«, des ganzen Satzes selbst und darüber hinaus der Äußerung in dieser Situation (der therapeutischen, im Hier und Jetzt) geht es natürlich nicht um irgendeine »objektive« oder »richtige« Bedeutung. Im Gegensatz zu vielen Situationen im Alltag oder gar in der Wissenschaft brauchen sich Klient und Therapeut nicht einmal diskursiv auf eine hinreichend gemeinsame Bedeutung zu einigen. Sondern Aufgabe des Therapeuten ist es, sein Gegenüber zu einer Wanderung durch dessen eigene Bedeutungsräume zu animieren und so zu begleiten, dass dieser weder Interesse noch gar den Mut zu weiteren Erkundungen verliert. Es ist eine kognitive Wanderung durch ein Feld, das sich dabei gleichzeitig zunehmend differenzierend erhellt und verändert. c) Gruppendynamik
Im weiteren Verlauf des angeführten Seminars entsteht aus der Vielfalt der Eindrücke (u. a. der anderen Teilnehmenden) bottom-up zunehmend eine klar strukturierte Gestalt in Bezug auf die »Gruppe« – die gleichzeitig top-down auf die einzelnen Elemente zurückwirkt. So ist es beispielsweise typisch, dass andere
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Gruppenmitglieder, die eine Konkurrenz um den Einfluss in der Gruppe sein könnten einen größeren Platz im (aktuellen) Lebensraum einnehmen. Ebenso Personen, zu denen man sich – aus welchen Gründen auch immer – hingezogen fühlt. Die auch für die Gruppendynamik typische zirkuläre Beziehung zwischen Mikro- und Makrophänomenen braucht die ordnende Dynamik in der Wahrnehmung, um aus den vielen einzelnen Personen eine »Gruppe« zu machen. Gleichzeitig ermöglicht es nur die »Gruppe«, überhaupt (top-down) jemanden als »Konkurrenten im Einfluss auf diese Menschen« auszumachen. Für einen einzelnen bzw. isolierten Menschen, in dessen Lebensraum (gerade) keine »Gruppe« oder andere makrostrukturelle Gestalten (Unternehmen, Familie etc.) von Bedeutung sind, wäre »Konkurrenz« sinnlos. Fazit
In Abbildung 21 sind die zentralen Aspekte schematisiert zusammengefasst.
Abbildung 21: Strukturelle Gleichheit der drei Beispiele hinsichtlich der Bottom-up- und Top-down-Dynamik
In allen Fällen ordnen sich die Elemente auf der jeweiligen Mikroebene zu einem Feld bzw. einer Gestalt (»Attraktor«) auf der Makroebene, was sich gleichzeitig auf die weitere Dynamik und die Eigenschaften der Elemente auswirkt. 3.6.4 Komplettierungsdynamik: Die Zielgerichtetheit der Dynamik des Feldes Vor dem Hintergrund des bisher Erarbeiteten können wir nun auch ein wichtiges Phänomen explizit ansprechen, das bisher zwar vielfach, aber immer nur implizit, mitdiskutiert wurde: Die Komplettierungsdynamik. Damit ist gemeint, dass sich bei einem attrahierenden Prozess aus bereits nur anfänglichen Ordnungstendenzen in der weiteren Dynamik diese Ordnung immer weiter komplettiert und damit z. B. für die Beteiligten immer augenfälliger erfahrbar wird. Auch dies ist bereits in Abbildung 21 mitskizziert. Längst bevor die beiden Bootsfahrer »in den Seilen hingen«, längst bevor Mutter und Tochter einen so ausgeprägten Attraktor aus Kontrolle und Herumstreunen etabliert haben, längst bevor ein ganzer Saal im gemeinsamen Rhythmus klatscht, kann man diese Ordnungs-
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tendenzen wahrnehmen. Je sensibler man dafür ist und mit solchen Phänomenen rechnet, desto frühzeitiger wird man dies in der Regel erkennen können. Und je frühzeitiger man darauf reagiert, desto leichter wird man gegebenenfalls ein entstehendes Muster auch noch beeinflussen können, bevor es sich komplettiert hat und dann sehr massiv und (dynamisch) stabil in Erscheinung tritt. Auch die Komplettierungsdynamik soll anhand der obigen drei Bereiche vertieft werden: a) Musikwahrnehmung
Mit dem Begriff »Erkennen« der Töne als Melodie im obigen Sinn ist gemeint, dass man nach einigen Tönen mehr oder weniger weiß, »wie es weitergeht«. Bricht die Melodie irgendwo ab, so würde man nach allerspätestens neun der zwölf Töne die nächsten drei innerlich weitersingen. Sofern man diese Melodie sogar als »Anfang der britischen Nationalhymne« erkennt, ergänzen sich noch weitere Teile dieser Melodie. Dies geschieht übrigens selbst dann, wenn der Rhythmus beträchtlich verzerrt ist – wenn beispielsweise die Töne alle mit der gleichen Zeitdauer erklingen oder die Melodie im Walzertakt gespielt wird. Aber auch dann, wenn man die Melodie nicht kennt bzw. nicht erkennt, engt die entstandene Gestalt den weiteren Möglichkeitsraum der Dynamik beträchtlich ein. Das kann jeder mit Kindern oder anderen Personen, die diese Melodie nicht kennen, selbst ausprobieren. Bittet man diese Personen darum, einige Töne weiterzusingen, so wie sie »einem gerade in den Sinn kommen«, so werden diese produzierten Töne keineswegs aus dem gesamten Spektrum theoretisch möglicher Töne stammen: Sie werden beispielsweise eher nicht einer anderen Tonart angehören – so wird nach einigen Tönen der ersten Beispielmelodie kaum ein »dis«, ein »b« oder ein »cis« komplettiert werden. Stattdessen wird die Melodie »sinngemäß« fortgesetzt – das bedeutet: in der Regel in derselben Tonart und mit weiteren typischen Charakteristika der Anfangsmelodie. Hier wird auch nochmals die Funktion des »Sinnattraktors« deutlich. Der Möglichkeitsraum für die weitere Auseinandersetzung mit »der Welt« wird durch den Sinnattraktor quasi zusammengezogen und aktuell präformiert: Bereits die Wahrnehmung strukturiert die Vieldeutigkeit der Reize der Umgebung zu etwas Sinnvollem in der Lebenswelt. Was im Sinne dieser Ordnung liegt, wird bevorzugt im Prozess der Wahrnehmung als »wahr« genommen. Dies wird besser gemerkt, weil es in die bereits vorhandenen Strukturen passt, und auch leichter mit anderen kommuniziert, da diese das ja (vermutlich) hinreichend verstehen. Es sei beachtet, dass »Erkennen« also etwas sehr Praktisches ist: Man kann seine Aufmerksamkeit deutlich verringern, wenn man weiß (oder zu wissen
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glaubt), wie es weitergeht. Meist wird dies sogar leicht entspannend erlebt: »Ach ja – das ist es!« Aber dieses »Wissen« ist andererseits auch gefährlich: Vielleicht wollte jemand eine Melodie vorspielen, die nur zufällig so anfängt wie die »britische Nationalhymne«, die dann aber ganz anders und neu weitergeht. Doch man merkt den Unterschied und das Neue vielleicht nicht mehr, weil man gar nicht mehr so genau hinhört. Es kann also eine Überstabilität des bisher Bekannten entstehen. Ein Phänomen, das bereits mehrfach angesprochen wurde. b) Kommunikation
»Verstehen«, was mein Klient sagt, oder »Erkennen«, was er meint – gar aus dem »inneren Bezugsrahmen« (Rogers, 2009) heraus –, bedeutet, die Wörter (und Gesten etc.) nicht nur in einen sinnvollen Satz bzw. Kontext zu stellen, sondern vieles zu »komplettieren«. Das ist beim Informationsaustausch oder im typischen Alltagsgespräch praktisch und entlastend: »Ach ja, ich weiß, was er sagen will«, »Ich kenne das«, »Ich weiß, wie es – in etwa – weitergeht« sind typische explizit oder implizit begleitende Gedanken beim Verstehen. Es wäre auch sehr aufwendig und unpraktisch, müsste mein Gegenüber bei jedem Wort, bei jedem Satz, die gesamten unausgesprochenen Kontexte mit erläutern. Auch hier wird die attrahierende Eigenschaft des Sinnattraktors deutlich: »Verstehen« heißt auch, alternative Deutungen auszuschließen oder zumindest in den momentanen kognitiven Hintergrund zu schieben. Noch mehr als beim »Erkennen von Melodien« führen Komplettierungsdynamiken beim gegenseitigen Verstehen allerdings häufig zu Problemen. Den Satz: »Du hörst mir ja gar nicht richtig zu!« sagt nicht selten ein Partner, Freund, Kollege (und, direkt oder indirekt, vielleicht auch ein Patient?) in Situationen, wo man tatsächlich mit seinen Gedanken abschweift, weil man glaubt, sowieso schon zu wissen, wie es weitergeht. Es ist stets eine Gratwanderung, sich vom Bekannten und Vertrauten so weit zu lösen, dass genügend Raum für das Neue bleibt, ohne im Unverständnis zu versinken – weil ja »Verständnis« immer auch Bisheriges voraussetzt. Das Vertraute und Bekannte, das solche Komplettierungsdynamik schafft, ist bei einem Pseudoverstehen zur Rigidität, zum nicht mehr wirklich Hinsehen und Hinhören gesteigert. Äußerungen des anderen werden quasi als Trigger für die »inneren Filme« genommen. Es findet eine Komplettierung zunehmend ohne Realitätscheck statt (Kriz, 2004a, 2010b). Wie schon das »Gesetz der guten Gestalt« oder die »Prägnanztendenz« in der allgemeinen Gestaltpsychologie besagt, führen die Feldkräfte des Lebensraumes in der Regel dazu, dass in der Dynamik der weiteren Verstehensprozesse eine sinnhafte Ordnung entsteht bzw. eine solche Ordnung aufrechterhalten
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wird. Das bedeutet, dass durch die Top-down-Wirkung des Feldes auf die einzelnen Elemente diese weiterhin zielgerichtet geordnet werden. Hat man sich erst einmal ein »Bild« von einem Sachverhalt gemacht oder bestimmte Zusammenhänge verstanden, so wird das Verstehen weiterer Informationen, Wörter, Hinweise etc. über Selektion, Interpretation und andere kognitive Leistungen im Sinne dieser Ordnung beeinflusst (vgl. Abschnitt 4.2.3). c) Gruppendynamik
Es sollte eigentlich auf der Hand liegen, dass diese Prozesse das Miteinander auch in der Gruppe stark beeinflussen. Aus der klassischen Gestaltpsychologie ist beispielsweise die »Tendenz zur Wiederaufnahme unterbrochener Handlungen« nach Ovsiankina (1928) oder »die Tendenz, unerledigte Handlungen besser zu behalten als abgeschlossene, erledigte Handlungen« nach Zeigarnik (1927) bekannt. Dies sind nur zwei explizit auch von Lewin benannte Phänomene, die stark die Interaktionsmuster in der Gruppe bestimmen können – etwa wenn einzelne Mitglieder immer wieder ein bestimmtes Thema einbringen, das für sie offensichtlich nicht »erledigt« ist. Auch hier bestimmen Sinnattraktoren das, was »Thema« ist, was als wichtig und was als unwichtig gilt, was überhaupt wahrgenommen und akzentuiert wird, etc. 3.6.5 Selbstorganisation und Nichtlinearität der Felddynamik a) Musikwahrnehmung
Wichtig ist die Tatsache, dass die Ordnung von Tönen zu einer Melodie keinen externen »Ordner« benötigt. Sie muss auch nicht Schritt für Schritt planerisch hergestellt werden. Vielmehr läuft das Entstehen (und Erkennen) einer Melodie in der Wahrnehmung typischerweise selbstorganisiert, spontan und nichtlinear ab. Es ist ja keineswegs so, dass z. B. erst eine Reihe von Tönen vorgespielt wird und dann jemand erklärt, wie man diese in seiner Wahrnehmung zu einer Melodie ordnen soll. Es muss und kann auch nicht »trainiert« werden, um Töne als eine Melodie wahrzunehmen.53 Zudem stellt sich die Wahrnehmung einer Melodie oder das Wiedererkennen keineswegs linear her: Erkennt man z. B. nach acht Tönen im obigen Beispiel eine Melodie wieder (ohne sie gleich benennen zu können – es genügt der Eindruck: »Das kommt mir bekannt vor«), so kann 53 Was nicht heißen soll, dass nicht andere Funktionen, die das Musik- und auch Melodiehören gegebenenfalls indirekt fördern, nicht geübt werden können: wie z. B. die Unterscheidung zwischen vielen zunächst ähnlich anmutenden Melodien, die saubere Unterscheidung von Tonintervallen etc.
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man nicht sagen, dass nach dem ersten Ton die Melodie zu einem Achtel oder nach vier Tönen die Melodie halb erkannt wird. Vielmehr stellt sich das Erkennen durch Ordnen des Gehörten recht spontan ein. Dies wurde in der klassischen Gestaltpsychologie als »Aha-Erlebnis« bezeichnet. b) Kommunikation
Die große Fülle von Einzeläußerungen eines Klienten (von denen jede wieder aus vielen Wörtern bzw. Phonemen besteht und diese wiederum aus komplexen und vielfältigen Frequenzverläufen) ordnet sich für den Therapeuten zu so etwas wie »ein Teil der Lebensgeschichte des Klienten«. Und darin wiederum sind z. B. mehr oder minder vage, aber zusammenhängende Bilder über seine Partnerin, über seine Arbeit und Arbeitskollegen, seinen Sohn, der in Amerika lebt, oder über seinen ehemaligen Beruf in einer anderen Stadt, seinen Ärger über seine unzuverlässigen Freunde etc. bedeutsam. All dies geschieht, ohne dass der Klient jedes Mal ankündigen muss: »Nun erzähle ich Ihnen sieben Minuten etwas über meinen Sohn.« Auch im Alltag strukturieren wir die unaufhörlich auf uns objektiv einströmende Welt von wahrgenommenen Reizen ständig (bottom-up) zu Sinnvollem, das sich wiederum um (vergleichsweise wenige) Sinnkerne herum ordnet, ohne dass wir diesen Strukturierungsprozess bewusst mitbekommen oder gar explizit planen. Das Modell der Informationsaufnahme in der Schule, wo laut Stundenplan jeweils klar ist, ob es um Englisch, Mathematik, Geschichte oder Physik geht, ist weitgehend atypisch für die Ordnung unserer Lebenswelt und die Strukturen unseres Lebensraumes. Man kann das Entstehen einer Ordnung im inneren »Bild vom Klienten« natürlich auch bewusst und explizit unterstützen: So könnte man z. B. Klientenäußerungen aufzeichnen und versuchen, Zuordnungen der Details so vorzunehmen, dass man Rückfragen stellen oder gewisse Themen gezielt ansprechen kann. Aber auch ohne all dies würde sich rasch ein Bild in unserem Kopf – d. h. eine bestimmte Struktur in dem klientenbezüglichen Segment unseres Lebensraumes – einstellen.54 Und auch hier ist die nichtlineare Dynamik des »AhaErlebnisses typisch: Wenn sich bei mir in der vierten Therapiesitzung nach insgesamt vierzig Minuten, die der Klient über sein Verhältnis zu seinem Bruder gesprochen hat, eine »Erkenntnis« einstellt: «Aha, so ist das also mit seinem Bruder«, so war diese Erkenntnis nicht nach zehn Minuten zu einem Viertel oder nach zwanzig Minuten zur Hälfte vorhanden. 54 Daran ändert sich auch nichts, wenn man berücksichtigt, dass dieses Bild natürlich in einem interaktiven Prozess zwischen Therapeut und Klient entsteht.
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Natürlich geht es nicht nur um meine Bilder und meine Erkenntnisse: Aber ich gehe »selbstverständlich« davon aus, dass die Ordnung und Umordnung, die Einsichten und Erkenntnisse – kurz: die Strukturen der Lebenswelt und des Lebensraumes meines Klienten – prinzipiell ebenso von den geschilderten Felddynamiken bestimmt werden. Dies steht im Gegensatz zur unplausiblen Annahme, dass Wissen in Form innerer Bilder über einen Sachverhalt aus einer Sequenz von Informationspartikeln entstand oder entsteht, die zudem linear etwas zur »Information« beitragen, oder bei dem die »Gestalt« extern organisiert und geordnet werden müsste. Das »Training« von »richtigem Denken« kommt spätestens bei solchen komplexen, dynamischen Gestaltbildungen an seine Grenze. c) Gruppendynamik
Auch hier ist wieder unmittelbar einsichtig, dass die Dynamik in Gruppen ebenfalls nichtlinear verläuft. Hat sich nach einer gewissen Zeit in einer neuen Gruppe ein gewisses Maß an Kohärenz gebildet, so war dieses sicher nicht nach ein Drittel der Zeit zu 33 Prozent oder nach der Hälfte zu 50 Prozent vorhanden. Das Gleiche gilt für andere Veränderungsprozesse in Gruppen. Es ist sogar ein besonderes Anliegen der »Personzentrierten Systemtheorie«, in Therapie, Beratung und Coaching die Sensibilität für nichtlineare Prozessverläufe zu fördern, statt alles kontrollieren und planen zu wollen. Denn nur solche nichtlinearen Prozessverläufe ermöglichen Kreativität, Intuition und Bereitschaft, sich der Überraschung bei Wandlungsprozessen auszusetzen (Kriz, 2001a, 2004b, 2010c, 2013). Auch das Klatschbeispiel in einem Konzertsaal ist zum einen ein spezifisches gruppendynamisches Phänomen, zum anderen ein gute Beispiel dafür, was mit Selbstorganisation gemeint ist. Denn es braucht ja auch hierfür bestimmte Bedingungen – so muss etwa das Konzert zu Ende sein, da üblicherweise weder in die Musik noch (bei klassischen Konzerten) zwischen die einzelnen Sätze eines Stückes geklatscht wird. Sodann stellt sich das Phänomen nicht sogleich ein, sondern es bedarf einer gewissen Zeit, in der jeder weitgehend seinem individuellen Rhythmus beim Klatschen folgt – was insgesamt als »Rauschen« wahrnehmbar ist, etc. Letztlich müssen sogar zumindest einige vernehmbar mit einem Rhythmus beginnen, bei dem andere intuitiv mit einfallen können, sodass das Klatschen lauter wird, mehr einfallen, was die Lautstärke steigert und noch mehr einfallen etc. (sogenannte »Autokatalyse«). Phänomene der Selbstorganisation brauchen somit etliche Bedingungen – von nichts kommt nichts. Aber es braucht eben keinen »Organisator« – etwa jemand, der auf die Bühne springt, und die Leute anfeuert, in seinem Rhythmus zu klatschen. So was kommt auch vor – das wäre dann aber »Fremdorganisation«.
System versus Umgebung und Umwelt
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3.7 System versus Umgebung und Umwelt: Worüber reden wir eigentlich? Systeme »gibt« es nicht – sondern es handelt sich um Erklärungsprinzipien.55 Damit ist nicht nur gemeint, dass alle Dinge und Benennungen der Realität im Sinne der Semiotik in Unterkapitel 2.4 nur Zeichen sind, die auf eine letztlich nicht erschöpfend fassbare Wirklichkeit des Menschen in seiner Welt verweisen. Das gilt letztlich ja sogar für Tische und Stühle, Häuser und Bäume, die uns umgeben. Vielmehr ist damit auch und vor allem gemeint, dass es »Systeme« noch nicht einmal so wie diese Tische etc. »gibt«, die als selbstverständlich vorhandene Gegenstände weitgehend gleicher gemeinsamer Erfahrung in unserer Lebenswelt »existieren«. Vielmehr ist »System« (noch) kein Begriff unserer Alltagssprache, was den Vorteil hat, dass der Symbolcharakter dieses Wortes eigentlich klar sein sollte. Damit besteht aber auch die Notwendigkeit, explizit anzugeben, welche Phänomene nach welchen Prinzipien mit diesem Begriff sinnhaft geordnet werden. Dieses Erfordernis begründet auch den Stellenwert dieses umfangreichen 3. Kapitels, in dem die zentralen Prinzipien erläutert und diskutiert werden.56 55 Diese Aussage ist bewusst an eine Formulierung von Gregory Bateson – dem großen Denker und Systemiker des 20. Jahrhundert – angelehnt. In seiner »Ökologie des Geistes« macht er im »Metalog: Was ist ein Instinkt?« (Bateson, 1983, S. 74 ff.) deutlich, dass Begriffe wie »Instinkt«, »Schwerkraft« etc. Erklärungsprinzipien sind, welche Beobachtungen miteinander verbinden. Batesons Metaloge sind eine ausgezeichnete Schulung gegen oberflächliches und für präzises Denken und Argumentieren. 56 Wobei es bei anderen Fragestellungen, anderen Phänomenen und anderen Zugängen verständlicherweise unterschiedliche Systemtheorien gibt. Wer beispielsweise eher an makroskopischen Phänomenen der Gesellschaft und Fragen ihrer Ausdifferenzierung in Institutionen und deren Stabilität interessiert ist, ist mit der Systemtheorie von Luhmann (1984) gut beraten. Das Haupterklärungsprinzip, das dort »Autopoiese« heißt, wirft jedoch das Problem auf, dass sich die Hauptapologeten – Luhmann einerseits und Maturana und Varela (1980) andererseits – gegenseitig Konfusion und unsinnige Verwendung vorwerfen. So schreibt Luhmann (1988, S. 47): »Die Problematik verschärft sich, wenn man diejenigen Theorien mit in Betracht zieht, die mit einem von Humberto Maturana und Francisco Varela eingeführten Begriff ›autopoietische Systeme‹ benannt werden […]. Einstweilen scheint jeder, der sich mit diesen Problemen befaßt, andere Lösungen anzubieten mit der Folge, daß eine beträchtliche Konfusion entstanden ist.« Und Maturana kontert: »Man suggeriert nämlich […], daß der Begriff der Autopoiesis etwas zu unserem Verständnis der sozialen Systeme beiträgt, was – wie ich behaupte – nicht der Fall ist. Und da […] der Begriff Autopoiese nicht auf soziale Systeme anwendbar ist […], denke ich, daß es ein Fehler wäre, sie autopoietisch zu nennen« (Krüll, Luhmann u. Maturana, 1987, S. 12). »Für mich liegt Luhmanns größter Fehler darin, daß er die Menschen ausläßt« (Maturana, 1990, S. 39). Doch scheinen solche Widersprüche offenbar manche nicht zu stören oder gar daran zu hindern, von »der Autopoiese« zu reden. (Weitere gegenseitigen Konfusionsvorwürfe in Kriz, 1999, S. 86 f.).
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Systemische Prinzipien
Wenn wir »System« also als Bezeichnung für bestimmte – in diesem Kapitel vorgestellte – Prinzipien verstehen, mit denen wir eine Ordnung in der Welt der Phänomene herzustellen suchen, so ist es natürlich wichtig, den Phänomenbereich jeweils genau anzugeben. Beispielsweise beziehen sich »Rückkopplungen« und »Bottom-up-« bzw. »Top-down-Dynamiken« beim Entstehen einer Melodie aus den Einzeltönen in der kognitiven Welt eines Musikhörers auf einen deutlich anderen Bereich als das Entstehen eines gemeinsamen Klatschrhythmus in einem Konzertsaal. Und wieder ein anderer Bereich ist gemeint, wenn wir diese Prinzipien zur Beschreibung der Interaktionsdynamik zwischen Mutter und Tochter heranziehen. Während man diese drei vermutlich kaum je konfundieren wird, ist die Gefahr größer bei Bereichen, die sich in der Alltagswelt überlagern – oder besser, andersherum, die aus der komplexen Dynamik der (objektiven) Welt des Alltags überhaupt erst (subjektiv bedeutsam) lebensweltlich herausgetrennt werden. So spielt für die Interaktionsmuster in einer Familie zweifellos die psychische Verfassung der Mutter, des Vaters und der anderen Mitglieder eine Rolle. Und diese psychische Verfassung – etwa der Mutter – lässt sich durchaus mit ihrer biografischen Erfahrung und Gewordenheit, aktuellen Schmerzen im Rücken etc. in Zusammenhang bringen. Wenn wir allerdings von »System« sprechen und die Erklärungsprinzipien auf bestimmte Phänomene anwenden, macht es Sinn, sorgsam jene Ebenen zu unterscheiden, die man gerade genauer ins Auge fasst. So sind für die »Regeln« (oder »Ordnung«, »Struktur« etc.) einer Familie die Interaktionen zwischen den Mitgliedern die Mikroebene und die »Familienregeln« die Makroebene. Bei diesem Fokus aber sind die psychischen Verfasstheiten – wie viele andere Einflüsse, z. B. aus der Gesellschaft, auch – die Umgebung des Interaktionssystems.57 Genauso sind andererseits bestimmte psychische Prozessmuster bei der Mutter als systemische Strukturen thematisierbar: So stellen Wahrnehmungen und deren Bewertungen etc. die Mikroebene kognitiver Prozesse dar und deren »Ordnung« (oder »Struktur«, »Regel«, »Schema« etc.) wäre die Makrostruktur, die u. a. durch Leitsätze repräsentierbar ist oder durch typische Prägnanz- und Akzentuierungsphänomene thematisiert werden kann (ausführliche Beispiele hierzu in Unterkapitel 4.2). Die »Familie«, d. h. auch die eben genannten Interaktionsstrukturen, ist bei diesem Fokus als Umgebung zu sehen – so wie viele
57 Man beachte, dass hier von Umgebung und nicht von Umwelt gesprochen wird: Umgebung steht dafür, dass – quasi von einem »objektiven« Standpunkt aus – aus der »Dritten-PersonPerspektive« beschrieben wird.
System versus Umgebung und Umwelt
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andere Einflüsse auch, z. B. von anderen Familien, von der Arbeitsstelle der Mutter, von der Gesellschaft, aber auch von ihrem Körper. Wegen dieser wechselseitigen Verschränkung unterschiedlicher Systemebenen jeweils als »System« und dessen Umgebung, werden von der Personzentrierten Systemtheorie zumindest (!) die vier Ebenen von Systemprozessen unterschieden: »körperlich«, »psychisch«, »mikrosozial/familiär/Face-to-Face« und »makrosozial/kulturell/gesellschaftlich«.58 Für jede Prozessebene lässt sich die Frage untersuchen, was zur Stabilisierung und was zur Veränderung von Mustern beiträgt. Denn, grob gesagt, geht es bei Psychotherapie, Beratung und Coaching stets um die Veränderung inadäquater Muster. Es muss daher zunächst geklärt sein, über welche Dynamik und welches System man überhaupt spricht, d. h., es geht um die konzeptionelle Abgrenzung eines Systems von seiner Umgebung (auch wenn man im Hinterkopf – und in der weiteren Analyse – berücksichtigt, dass diese keineswegs irrelevant sind). Geht es also um die Interaktionsmuster in einer Familie oder in einem Team, so gehören alle anderen Prozesse zur »Umgebung«. Der Begriff »Umgebung« darf dabei allerdings nicht zu gegenständlich gedeutet werden: Es geht meist nicht um eine »Umgebung« im physikalisch-räumlichen Sinne – also etwa der sogenannte euklidische Raum, der mich als »Zimmer« beim Schreiben umgibt, oder das »Haus« oder die »Stadt«, die eine Familie umgibt. Das ist nicht einmal im übertragenen Sinne so – wie die (fleischlichmateriellen) Mitglieder einer Familie, welche das (fleischlich-materielle) Einzelmitglied irgendwie »umgeben«.59 Sondern »Umgebung« bezieht sich auf 58 Hier besteht ein zentraler Unterschied der Personzentrierten Systemtheorie zur »klassischen« Familientherapie, besonders der 1970–90er Jahre, die »offiziell« nur auf die Interaktionsstrukturen fokussierte. Die Betonung »offiziell« verweist aber darauf, dass in Wirklichkeit auch andere Ebenen implizit eine wichtige Rolle spielen: So machen die paradoxen Interventionen im strategischen Ansatz nur Sinn, wenn damit auch die Verstehens- und Deutungsebenen der Einzelnen verändert werden. Die »Skulpturen« in der Arbeit von Virginia Satir (u. a.) dienen nicht allein dem »nonverbalen« Ausdruck, sondern zielen mit der Veränderung und Wahrnehmung von »Haltungen« auf etwas ab, was heute in den Diskursen des »Embodiments« thematisiert wird. Auch wenn dies in expliziter Form erst z. B. in der Arbeit von Albert Pesso benannt und eingesetzt wird. 59 Spätestens diese gestelzten Beschreibungen machen deutlich, dass es keine sinnvolle Vorstellung wäre, dass die Familienmitglieder das einzelne Familienmitglied »umgeben« wie der Kuchen eine darin befindliche Rosine. Wie immer man auch definieren will, was eine Familie bzw. ein Mitglied ausmacht: Es ist ganz sicher nicht irgendetwas Räumliches. Zu solcher Metaphorik wird man höchstens durch bestimmte grafische Darstellungen verleitet, wo ein Kreis als Mitglied von anderen Kreisen – den Familienmitgliedern – »umgeben« ist. Doch dies ist eben nur in der Grafik auf einem Blatt Papier hinreichend der Fall. Dass noch das sogenannte »Mailänder Team« bis in die 1980er Jahre »Familie« so gegenständlich auffasste, wurde bereits zu Beginn von Kapitel 2 kritisch bemerkt.
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die Einflussbedingungen, die auf ein System einwirken – ohne selbst (definitorisch) zum System zu gehören: So ist beispielsweise für das System der kognitiven Prozesse einer 15-jährigen Jugendlichen nicht nur ihre Familie oder die Wohnung »Umgebung«, sondern genauso ihre Hormone (die in der Pubertät bekanntlich besonders relevant sind) und andere Vorgänge, die sich, räumlich gesehen, in ihrem Körper abspielen. Die interdisziplinäre Systemtheorie – und damit auch die Personzentrierte Systemtheorie – geht davon aus, dass sich die Stabilisierung bzw. Veränderung eines Musters immer in Adaptation an (sämtliche) Umgebungsbedingungen vollzieht.60 Hier gibt es allerdings erhebliche Unterschiede zwischen den Bereichen der Naturwissenschaften und der Personzentrierten Systemtheorie: Typischerweise beziehen sich die Aussagen in den Naturwissenschaften auf klar umschriebene experimentelle Bedingungen, bei denen möglichst nur eine oder wenige »Variablen« der Umgebung verändert werden (dies wird ein wenig genauer in Unterkapitel 3.8 ausgeführt). Der Personzentrierten Systemtheorie geht es (abgesehen von wenigen experimentellen Untersuchungen – siehe Unterkapitel 4.2) um Phänomene in unserer Lebenswelt – und deren besondere Spezifizierung auf Dynamiken im Kontext von Psychotherapie, Beratung und Coaching. Diese Bereiche sind nicht nur von überaus vielen Einflüssen auf unterschiedlichen Prozessebenen durchzogen, sondern »Sinn«, auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen, ist ein zentrales Konzept für diese Dynamiken (so wie es Energie im naturwissenschaftlichen Bereich ist). Während die »Umgebung« in naturwissenschaftlichen Experimenten daher (hinreichend) aus der Perspektive des Experimentators bzw. Beobachters (Dritte-Person-Perspektive) beschrieben werden kann, stoßen wir im Bereich der Lebenswelt auf das bereits vielfach angeschnittene Problem einer Verdoppelung der Perspektive: Man kann die »Umgebung« einerseits aus der Dritten-Person-Perspektive des Beobachters/Beraters beschreiben – etwa wenn man das beobachtbare Interaktionsmuster einer Familie beschreibt. Spätestens bei (auch!) Berücksichtigung psychischer Prozesse geht es aber statt um die Umgebung primär um die (subjektive) Umwelt (gemäß Kapitel 2) –, so wie sie sich (salopp formuliert) in der Rezeptionswelt des Subjekts darstellt. Die Bedeutsamkeit dieser Unterscheidung wird sofort augenfällig, wenn sich ein Beobachter (Freund, Kollege, Therapeut, Forscher) wundert, warum sich eine Person P nicht an die »doch offensichtlich veränderten« Bedingungen 60 Was sich in den Naturwissenschaften auch zeigen lässt (wobei »zeigen« – wie bei allen naturwissenschaftlichen Theorien meint, dass aufgrund der Konzepte bzw. Modelle bestimmte Vorhersagen getroffen werden können, welche sich dann als zutreffend erweisen).
Fazit: Das Welt- und Menschenbild
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anpasst, sondern immer noch so verhält, als wären diese Bedingungen andere. Hier geht der Beobachter aber von seiner Konzeption der Umwelt aus, die er nicht nur als Umgebung, sondern sogar als Umwelt von P unterstellt.61 Doch warum sollte sich P daran adaptieren? Für P ist »selbstverständlich« – allerdings für Beobachter von »bizarren« Verhaltensweisen oft inhaltlich durchaus schwer verständlich – seine Umwelt relevant. Diese wichtige Differenz haben wir bereits in Kapitel 2 diskutiert – und werden dies noch in Kapitel 5 weiter tun. Während also in den Naturwissenschaften die Umgebung eines Systems intersubjektiv (»objektiv«) beschrieben wird, müssen wir bei der Systemtheorie, die sich auf lebende Systeme – besonders Humansysteme – bezieht, stets die doppelte Perspektive von (»objektiver«) Umgebung und (»subjektiver«) Umwelt mitbedenken.
3.8 Fazit: Das Welt- und Menschenbild auf der Grundlage der systemischen Prinzipien Ein besonderes Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie ist es, die Komplexität alltagsweltlichen Geschehens zumindest auf den vier zentralen Prozessebenen Körper, Psyche, Interpersonelles und Kultur zu berücksichtigen und diese in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Verflochtenheit verständlich zu machen. Die in diesem Kapitel dafür herausgestellten systemtheoretischen Prinzipien erlauben es – wie auch noch im folgenden Kapitel für die einzelnen Ebenen weiter diskutiert werden wird –, auf jeder dieser Prozessebenen Fragen von (dynamischer) Stabilität (»Attraktor«) und Veränderung (»Ordnungs-Ordnungs-Übergang«) zu behandeln. Wobei deutlich wird, dass trotz der Selbstorganisation auf jeder Prozessebene die anderen Ebenen als jeweilige Umgebung wesentlich zur Stabilisierung bzw. Veränderung beitragen. Bei dieser Beschreibung handelt es sich wiederum um eine Darstellung aus der »intersubjektiven« Perspektive erklärender Wissenschaftssprache (die allerdings zu einem großen Teil auch die Perspektive der Beschreibungen und des Austausches von Informationen in unserer Alltagswelt darstellt). Das zweite 61 Es sei nochmals daran erinnert (vgl. Unterkapitel 2.1), dass sich die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) aus deren klassischen Vorläufern u. a. durch den Nachweis von Meichenbaum (1979) entwickelt hat, dass Menschen keineswegs die Anweisungen so interpretieren, wie sie der Therapeut bzw. Forscher konzipiert und gemeint hat, sondern gegebenenfalls für sich wesentlich umdeuten. Dass heute gerade Vertreter der KVT für eine streng manualisierte Therapie(forschung) eintreten – die ja genau diese Identität von Forscher- und Patientenrealität unterstellt – ist da schon verwunderlich.
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Systemische Prinzipien
wichtige Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie, mit der Einbeziehung und Betonung einer biosemiotischen Perspektive auch der Subjektivität der handelnden Personen besser gerecht werden zu können, als es übliche systemtheoretische Beschreibungsansätze vermögen, kann somit nicht an jeder Stelle der Darstellungen und Argumentationen explizit verwirklicht werden. Auch in diesem Abschnitt wird die biosemiotische Perspektive weitgehend außer Acht gelassen.62 Gleichwohl soll deutlich werden, dass selbst unter einer intersubjektiv-beschreibenden Perspektive die in diesem Kapitel vermittelten systemischen Prinzipien mit einem deutlich anderen Welt- und Menschenbild verbunden sind, als das in der Alltagswelt vorherrschende Verständnis darüber, »wie die Welt funktioniert«. Dieser Unterschied ist übrigens zweifellos auch eine große Herausforderung für systemisch arbeitende Psychotherapeuten, Berater und Coaches: Denn sie haben mit einer Klientel zu tun, die sich meistens »die Welt« ganz anders erklärt – und damit entsprechende Erwartungen verbindet –, als die »Systemiker« ihrer Arbeitsweise zugrunde legen. Erklärungsprinzipien, für welche einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht gelten, stellen für viele Menschen nach wie vor eine große Herausforderung für das »klassische Denken« dar. Mit »klassischem Denken« ist gemeint, dass unsere Vorstellungen darüber, wie Wirkungen auf Ursachen zurückzuführen sind, welchen Prinzipien erfolgreiches Handeln unterworfen ist, wie man Sicherheit über Prognosen von Entwicklungsverläufen erreichen kann etc., in unserer Kultur im Rahmen eines rund 350 Jahre währenden Wissenschaftsprogramms entwickelt wurden. Dieses Programm, das etwa ab Beginn des 17. Jahrhunderts im Rahmen abendländischer Kultur entstand, hat sich nicht nur über eine gewaltige technologische Entwicklung auch anderer Kulturkreise bemächtigt, sondern zudem unsere Alltagswelt mit ihren Prinzipien durchdrungen. Denn überall begegnen wir den Errungenschaften dieser Technologie. Selbst im Umgang mit komplizierten und komplexen Gebilden können wir die so aufbereitete Welt durch einfache mechanistische Betätigungen steuern: Wir können z. B. das Gaspedal eines Autos durchdrücken oder den Lichtschalter und ähn62 Dies geschieht vor allem auch deswegen, weil eine stärkere Berücksichtigung für die Argumentationsfiguren in diesem Abschnitt zu begrifflichen und sprachlichen Herausforderungen führen würde, welche dem eigentlichen Anliegen nicht gerecht werden und das Wesentliche dieses Abschnittes daher für phänomenologisch nicht versierte Leser eher verdecken würde. So werden beispielsweise manche Darstellungen der Gestalttheorie – jener psychologischinterdisziplinäre Ansatz, der mit ähnlichem Anliegen noch am präzisesten mit der Berücksichtigung einer »objektiv« physischen und einer phänomenalen Welt notgedrungen zu einer Verdoppelung »der Welt« in den Darstellungen führt – von »Außenstehenden« erfahrungsgemäß oft als so »unleserlich« und »unverständlich« empfunden, dass sie achtlos beiseitegelegt werden.
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lich einfache Schalter zur Inbetriebnahme von Waschmaschinen, Herdplatten, Aufzügen oder Fernsehern betätigen – und überall erleben wir jenen einfachen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Das heißt, auch bei weit komplexeren Zusammenhängen gibt uns die Technik eine Welt vor, welche diese klassische Vorstellung über »die Welt und ihre Wirkprinzipien« ständig bestätigt. Kurz und etwas überprägnant lässt sich dieses Alltagsverständnis im Umgang von Veränderung in der »Welt« auf der Basis von Dingen und technischen Apparaturen grob wie in Abbildung 22 kennzeichnen (genauer in Kriz, 2008). Essenziell ist hier die Fremdorganisation für alles, was geschieht: Bei der Veränderung des grauen Kastens bewirkt eine Kraft bzw. ein »Einfluss« oder ein »Wirkfaktor«, dass sich das System (Kasten) von A nach B bewegt. Ebenso könnte das System aber auch zu jedem anderen Punkt zwischen A und B – oder auch in Richtung auf C etc. – bewegt werden. Was geschieht, hängt also ausschließlich von der genauen Dosierung der Kraft, d. h. von ihrem Ausmaß und ihrer Richtung, ab. Bei einem stabilen Zustand – wenn sich also nichts verändert – geschieht nichts; hier besteht dann natürlich auch kein Erklärungsbedarf.
Abbildung 22: Veranschaulichung der klassisch-mechanistischen Weltsicht durch einen Kasten auf einer ebenen Fläche
Die mit diesem Grundmodell und der Fremdorganisation verbundenen weiteren Prinzipen sind im Wesentlichen – ebenfalls in aller Kürze: ȤȤ Lokale Kausalität: Ursache-Wirkung sind in dem Sinne lokal verknüpft, dass die Wirkung genau dort eintritt, wo interveniert wird. Damit verbunden ist ein ȤȤ Determinismus: Was geschieht – d. h., wohin der Kasten geschoben wird – ist nur von der Kraft (Dosierung und Richtung) abhängig. Zufallseinflüsse spielen höchstens als Fehlervariable eine Rolle. Beides sind Aspekte von ȤȤ Kontrolle: Auf so etwas wie »Eigenverhalten« oder »Eigenzustände« der Kiste muss keine Rücksicht genommen werden, sondern man kann das Erwünschte über kontrollierte Interventionen eben auch erreichen. Das Prinzip der ȤȤ Homogenität unterstellt, dass alle Zustände prinzipiell gleich sind: Es gibt keine ausgezeichneten Punkte in der Ebene, zu welchen man die Kiste beson-
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ders gut schieben kann. Die Homogenisierbarkeit ist zugleich eine wichtige Voraussetzung für weitere Aspekte der Kontrolltechnologie, nämlich für ȤȤ Analyse und Synthese: Eine Ganzheit wird ihrer Eigenstruktur entkleidet, in homogene Teile zerlegt, diese werden analysiert und dann zu einem Ganzen synthetisch (und nach der designhaften Schöpfungsidee des Menschen) neu zusammengefügt: Aus zermahlenen Steinen wird beliebig formbarer Beton. Aus gewachsenem Holz werden Hartfaserplatten. Aus den historisch gewachsenen Psychotherapierichtungen, die unterschiedliche Lebenszugänge repräsentieren, wird versucht, eine einheitliche Therapie aus »Wirkfaktoren« oder zumindest symptomoptimierten »Techniken« zusammenzusetzen, etc. Dazu gehört auch ȤȤ Geschichtslosigkeit: In Abbildung 22 ist es ganz gleich, wo sich der Kasten befindet oder wie er dort hingekommen ist: Die lineare Ursache-Wirkung gilt stets. (Ob von A nach B oder von B nach A: Es bewirkt stets die gleiche Arbeit eine gleich große Veränderung.) ȤȤ Linearität und Kontinuität: Wichtige »Variablen« in Abbildung 22 sind linear verknüpft: Doppelt so große Entfernungen bedürfen bei gleicher Geschwindigkeit doppelt so viel Zeit – oder erfordern bei gleicher Zeit doppelt so hohe Geschwindigkeit; und es gilt: Kleine Ursachen kleine Wirkungen, große Ursachen große Wirkungen. Es kann gar nicht genug betont werden, wie sehr diese Prinzipien sich in großen Bereichen unseres technischen Alltags als wirksam erweisen. Denn nur dies lässt deren Suggestivkraft und den Hang zur Generalisierung verstehen, womit diese Prinzipien dann eben nicht nur auf einfache mechanische Vorgänge angewendet, sondern auf die gesamte Welt übertragen werden. Dabei ist selbst jedem Laien »eigentlich« klar, dass ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Reparieren einer Maschine einerseits und den Interventionen in lebende Systeme oder gar dem Durchführen von Psychotherapie andererseits besteht. Doch selbst etliche »humanistische« Therapeuten benutzen mangels besserer Erklärungsprinzipien oft ungewollt die Metaphorik dieser mechanistischen Denkweise – etwa wenn sie davon sprechen (und schreiben), dass die Entwicklung des Patienten »blockiert« oder »stecken geblieben« sei, obwohl sie sehr wohl wissen, dass sie weder über eine Autobremse oder einen Damm reden wollen, noch über einen Schlüssel, den man in ein Schloss stecken will. Wenn man diese Prinzipien und Leitideen klassisch-abendländischer Wissenschaft auf den Menschen anwendet, so wird deutlich, dass damit ein Kontext vorgegeben wird (z. B. auch für die Diskussion über die »Wirksamkeit« und »Wissenschaftlichkeit« von Psychotherapieverfahren), in dem wesentliche
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Aspekte nicht angemessen zur Geltung kommen. Denn dieser Kontext beraubt den Menschen essenzieller Werte seines Lebens, nämlich63: ȤȤ Kontexteingebundenheit und Vernetzung faktisch aller Lebensprozesse: Wenn man gegen einen Stein tritt, lässt sich recht klar vorhersagen bzw. berechnen, wohin und wie weit dieser fliegt. Wenn man einen Menschen tritt, sind sowohl die somatischen wie die sozialen Wirkungen von vielen weiteren Einflüssen und bisherigen Erfahrungen abhängig. Das alles steht im Widerspruch zur lokalen Kausalität in Abbildung 22. ȤȤ Freiheit und Motivation stehen als essenzielle menschliche Werte im Widerspruch zum Determinismus. ȤȤ Vertrauenswürdigkeit steht im Widerspruch zu Kontrolle. ȤȤ Individualität und Einmaligkeit stehen im Widerspruch zur Homogenität. ȤȤ Wertschätzung der Gewordenheit und Ganzheitlichkeit stehen im Widerspruch zu Analyse und Synthese. ȤȤ Menschliche Biografien, die unter scheinbar gleichen objektiven genetischen »Ursachen« unterschiedliche Entwicklungsverläufe zeigen, stehen im Widerspruch zur Geschichtslosigkeit. ȤȤ Typisch menschliche Erfahrungen wie Entwicklungsschübe, plötzlichen Einsichten, großen Wirkungen auf kleine Ursachen stehen im Widerspruch zu Linearität und Kontinuität. Bereits die Gestaltpsychologie der Berliner Schule vor hundert Jahren war einer jener Entwürfe, um den Kurzschlüssen eines mechanistischen Weltbildes zu entkommen und den eben genannten essenziellen Werten und Prinzipien menschlichen Miteinanders gerechter zu werden.64 Menschen leben eben nicht in einer Welt, in welcher physikalisch definierte Reize in stabiler Weise den Wahrnehmungen sowie kognitiv-emotiven Vorgängen und Reaktionen zugeordnet werden können. Vielmehr sind hier biografische Vergangenheit, Bedürfnisse, Sinndeutungen sowie Motivation und damit die Ausrichtung auf Zukünftiges wesentliche Aspekte. Zwar haben schon die griechischen Philosophen um Epiktet (50–125 n. Chr.) sinngemäß formuliert: »Nicht die Dinge selbst, sondern unsere Meinung von den Dingen beruhigen oder beunruhigen den Menschen.« Doch mit einer solchen Entkoppelung determinierender ReizReaktions-Zuordnungen tat sich der Behaviorismus noch Mitte des 20. Jahr-
63 Ausführlich behandelt in Kriz, 2002. 64 Besonders Lewins Feldtheorie als eine Theorie der phänomenalen Welt des Menschen mit ihrem zentralen Konzept des Lebensraums.
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hunderts schwer. Erst in der »kognitiven Wende« der Verhaltenstherapie der 1960er Jahre wurde dies überwunden. Für große Teile der Psychologie ist das Primat geblieben, menschliches Erleben und Handeln vor allem aus vergangenen Ursachen zu erklären und der Zielgerichtetheit und imaginativ-kreativen Neugier des Menschen wenig Beachtung zu schenken. Entsprechend liegt der Fokus für die Entwicklung und Erreichung von Zielen in der Zukunft auch eher auf Planung und Kontrolle dieser Planschritte sowie der jeweils notwendigen Bedingungen, statt auf einer dynamisch adaptiven Entfaltung von Möglichkeiten, die überhaupt erst auf dem Weg zum Ziel mit den zu treffenden Entscheidungen immer deutlicher werden (vgl. Unterkapitel 6.3). In einer komplexen Welt, die sich auch von den objektiven Bedingungen her ständig ändert, ist das planerische Festlegen von Schritten in die Zukunft problematisch. Natürlich kann man immer wieder neue Pläne entwerfen, wenn sich die Bedingungen geändert haben, aber letztlich bleibt dies ein starres Zuordnungssystem – weshalb ja auch Kontrolle einen hohen Stellenwert hat. Teleologisch65-imaginative Zukunftsbilder sind hingegen dynamisch und besitzen die notwendige Adaptivität: Indem man sich einem zunächst nur imaginierten Ziel nähert, kann man sich viel leichter an neue Gegebenheiten (z. B. in der realen Außenwelt) oder Erkenntnisse (z. B. über eigene Stärken und Schwächen oder die Veränderung von Motiven) adaptieren. Die in diesem Kapitel erörterten systemischen Prinzipien führen zu einem völlig anderen Bild von Veränderung bzw. von Entwicklung, als es in Abbildung 22 dargestellt wird, nämlich zu einer Landschaft mit Entwicklungspfaden (Abbildung 23).66 Statt durch einen Kasten in der Ebene, der sich nur dann und genau dorthin bewegt, wenn und wohin er planbar geschoben wird, spielt bei einer systemischen Betrachtungsweise wegen des zentralen Prinzips der Prozesshaftigkeit allen Geschehens die Zeit eine wesentliche Rolle. In Abbildung 23 bewegt sich daher das System in seiner Umgebung (repräsentiert durch die Kugel) ständig den Zeitpfad entlang von der Vergangenheit (hinten) in die Zukunft (vorne): In dieser Landschaft – die keineswegs so homogen ist, wie die Fläche in Abbildung 22, sondern durch bevorzugte Wege gekennzeichnet ist – gibt es etliche, aber eben nicht beliebige viele Entwicklungsmöglichkeiten (Täler). Die Struktur der Landschaft bleibt über die Zeit nicht konstant. Denn es ist ein Prozessmodell, bei dem die Kugel stets in Bewegung auf »die Zukunft« hin 65 »Teleologisch« meint, dass eine Entwicklung auf die Zukunft hin ausgerichtet ist – ein zentraler Aspekt bei einem Attraktor (vgl. auch Abschnitt 6.3.1). 66 Die formalen Grundlagen dieser Abbildung sind an anderer Stelle dargelegt (u. a. Kriz, 1992, 1999; Haken u. Schiepek, 2006/2010).
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ist. Vielmehr ändern sich die Bedingungen für die Kugel – was durch die Verformungen der Landschaft repräsentiert wird. So gibt es tiefe und langgestreckte Täler (d. h. langwährende hinreichend stabile Systemzustände), in denen die Kugel dann wahrscheinlich recht lange bleibt (zeitlich stabile dynamische Muster). Es gibt flache (bzw. flach werdende) Abschnitte, wo die Kugel leicht von einem flachen Tal zu einem anderen überwechseln kann, besonders wenn sie zusätzlich gestört wird. Der weitere Weg ist eher offen und lässt vergleichsweise viele Möglichkeiten zu. Und es gibt besonders Weggabelungen, wo allerkleinste Einflüsse oder gar der Zufall entscheidet, welchen der beiden Wege sie dann weiterverfolgen wird. An einem solchen Punkt ist die weitere Entwicklung also besonders instabil. Kleinste »Ursachen« können hier zu großen »Wirkungen« führen, da die Täler im Weiteren ja recht unterschiedliche Verläufe zeigen können. An diesen Punkten von Instabilität ist der Wechsel von einem Ordnungszustand in einen anderen somit vergleichsweise leicht möglich.
Abbildung 23: Veranschaulichung der systemischen Prinzipien (Entwicklungspfade nach Waddington, 1957)
Die Betonung prozesshafter Verläufe, die sich entsprechend den Umgebungs bedingungen verändern oder stabilisieren, trägt der oben herausgehobenen Erfahrung Rechnung, dass Entwicklungen im Bereich lebender Systeme oft durch nichtlineare, qualitative Sprünge gekennzeichnet sind. Dies gilt noch stärker bei menschlichen »Systemen«, die sich in weit höherem Maße an komplexe und ständig ändernde Bedingungen anpassen müssen. So ist in Therapien und in der Erziehung typisch, dass auf ein bestimmtes Quantum an Interventionen lange Zeit fast nichts geschieht, aber dann, nach wenigen weiteren Schritten, plötzlich eine sprunghafte Veränderung einsetzt. Beispielsweise wird eine bestimmte Bewegung geübt und gelingt lange nur mäßig. Doch plötzlich, mit wenigen weiteren Übungen, kann diese Bewegung weitgehend richtig und
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wiederholbar ausgeführt werden. Oder es wird – im mentalen Bereich – ein komplexer Sachverhalt lange und mit immer weiteren Beispielen erläutert. Man versteht aber lange fast nichts. Doch plötzlich, als »Aha-Erlebnis«, durchschaut man den Zusammenhang. Es gibt viele solcher nichtlinearen Entwicklungssprünge. Diese zeigen zudem oft noch eine Eigendynamik, die nicht beliebig plan- und steuerbar ist, sondern nur – relativ unspezifisch – gefördert oder behindert werden kann. In der Tat finden auch auf allen Ebenen menschlichen Lebens – beim Individuum (ja, sogar bei den einzelnen Teilen seines Körpers), bei Paaren, Familien, Organisationen etc. – ständig Veränderungen der Umgebungsbedingungen (der »Landschaft«) statt. Auf diese muss das System mit entsprechenden Adaptationsprozessen als Reorganisationen seiner Strukturen reagieren. Diese immer wieder neuen Anforderungen an ein System durch Veränderungen in seiner Umgebung hatten wir oben bereits als »Entwicklungsaufgaben« diskutiert. Diese sind in Abbildung 23 im Wortsinne hervorgehoben. Eine sehr entscheidende Änderung im Welt- und Menschenbild gerade für Psychotherapie, Beratung und Coaching ist die Abkehr von einem UrsacheWirkungs-Prinzip bei systemisch-dynamischen Zusammenhängen zugunsten der Beachtung dieser »Landschaften«, d. h. der Umgebungsbedingungen. Natürlich würde kein »Systemiker« bestreiten, dass es in der Lebenswelt des Menschen nicht weiterhin viele Bereiche gibt, die nach einfachen UrsacheWirkungs-Prinzipien funktionieren – das wurde ja oben im Hinblick auf die technologische Durchdringung und der entsprechenden Aufbereitung in vielen Bereichen betont: Besonders dort, wo wir es mit Maschinen oder anderen technischen Apparaten zu tun haben, funktioniert deren Bedienung weitgehend nach diesen Prinzipien. Auf der anderen Seite kann man aber ebenfalls sagen, dass kaum ein Bereich, in dem man es mit lebenden Wesen zu hat, adäquat auf Ursache-Wirkungs-Relationen reduziert werden kann. So lassen sich zwar Hunde in vielen Verhaltensaspekten dressieren, die für uns Menschen wichtig sind. Im Detail sind sie aber dennoch immer wieder »für eine Überraschung gut« – weit mehr als unsere Apparate, die wir funktional einsetzen. Noch weit mehr gilt dies für das »Animal Symbolicum« (Cassirer), den Menschen, selbst. Bei allen intersubjektiven Normierungen seitens der Gesellschaft und ihren Subinstitutionen, bei allen Regelungen durch Gesetze, Vorschriften, formelle und informelle Gebote und Verbote: Der Interpretationsraum der für eine konkrete Situation relevanten Aspekte ist meistens beträchtlich. Zwar gaukelt eine »Evidenzbasierte Psychotherapie« vor, man könnte in diesem Bereich ähnlich nach Ursache-Wirkungs-Prinzipien behandeln, wie dies im Einsatz von Pharmaprodukten gegen Bakterien so erfolgreich funktioniert. Jedoch ver-
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steht sich kein Psychotherapeut – egal welcher Schule – wirklich als Vollstrecker eines Manuals ohne situationsspezifische eigene Entscheidungsfreiheit zur Beseitigung von Symptomen, die wie Bakterienstämme in Lehrbüchern abgebildet sind. Schon so »kleine« Fragen danach, ob man einem weinenden Patienten ein Papiertaschentuch reichen soll, ob es angebracht ist, zu Beginn und am Ende einer Stunde die Hand zu reichen, etc., sind nicht evidenzbasiert beantwortbar. Daher müssen selbst Psychotherapeuten, die auf die vermeintliche »Wissenschaftlichkeit« manualisierter Programme für die Praxis schwören, sich weit mehr nach den konkreten und komplexen Erfordernissen der jeweiligen Situation ausrichten, als dies im Lehrbuch vermerkt ist. Nun könnte man ja einwenden, dass man auch mit einem systemischen Weltbild etwas »bewirken« wolle – es letztlich also ebenfalls um Ursache-WirkungsRelationen ginge. Das ist so allgemein formuliert richtig – und wendet sich zu Recht gegen ältere »systemische« Formulierungen, dass man »ein System nur verstören« müsse. Wenn ein Therapeut vor seinem Klienten oder ein Teamleiter vor den Teammitgliedern beispielsweise uriniert, so ist dies sicher »verstörend« – aber es ist schwer vorstellbar, dass dies dazu beiträgt, ein Problem zu lösen. Die dargestellten Prinzipien, welche einen Ordnungs-Ordnungs-Übergang unterstützen, sind daher weder »Ursachen« im Sinne des klassisch-linearen Modells (Abbildung 22) noch unspezifisch einfach eine »Verstörung« bisheriger Muster. Vielmehr gilt es, sich den spezifischen Bottom-up- und Top-down-Wirkungen zuzuwenden, welche das System überstabil machen und daran hindern, von selbst eine notwendige Neuadaptation an veränderte Umgebungsbedingungen durchzuführen. Allerdings werden dabei dann nicht »bessere« Ordnungen »von außen« vorgegeben oder eingeführt – also nach den Prinzipien der Fremdorganisation geplant und gehandelt, obwohl diese fraglos in vielen Kontexten auch »funktionieren«. Sondern es werden gemäß den Prinzipien der Selbstorganisation Umgebungsbedingungen unterstützt, welche die dem System inhärenten Möglichkeiten für andere Ordnungen in den Fokus der Lebensvollzüge bringen. Die in der Praxis entwickelten Vorschläge zu einer sogenannten »ressourcenorientierten Vorgehensweise«67 sind hier z. B. eine der konkreteren Möglichkeiten. Wenn man unter diesen Aspekten nochmals Abbildung 23 betrachtet, so lassen sich, quasi resümierend, die Besonderheiten eines solchen dynamischsystemischen Verständnisses »der Welt« gegenüber dem »klassischen« Weltbild (Abbildung 22) wie folgt zusammenfassen: 67 Diese im Rahmen der humanistischen Psychotherapie entwickelten Vorgehensweisen wurden im systemischen Ansatz stärker standardisiert – beispielsweise als »lösungsorientiertes Arbeiten« (de Shazer, 1997) – und sind inzwischen auch von der Verhaltenstherapie und der Psychodynamischen Psychotherapie entdeckt und in manche ihrer Vorgehensweisen integriert worden.
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Dynamisch-systemisches versus klassisches Weltbild Lokale Kausalität ist durch Kontexteingebundenheit und Vernetzung faktisch aller Lebensprozesse ersetzt: Denn die »Landschaft«, welche die zeitliche Entwicklung bestimmt, repräsentiert gerade die vernetzten Beziehungen und die sich daraus ergebenden Strukturen in ihrer Gesamtheit. Determinismus ist durch Freiheit ersetzt, da der weitere Entwicklungsverlauf (Kugel in Abbildung 23) nicht durch die bisherigen Gegebenheiten determiniert wird (Abbildung 22), sondern auf eine zukünftige Struktur ausgerichtet ist (Komplettierungsdynamik), die sich z. B. als Motivation interpretieren lässt. In der Tat ist der »Attraktor« ein teleologisches Konzept, weil die Ordnung erst noch erzeugt und komplettiert wird (vgl. Abschnitt 6.3.1). Kontrolle wird in Abbildung 23 durch das Prinzip ersetzt, dass die Umgebungsbedingungen (Landschaft) lediglich Randbedingungen darstellen, unter denen das System ihm inhärente Strukturmöglichkeiten selbstorganisiert in Adaptation an diese Bedingungen realisiert. Homogenität ist ersetzt durch Individualität und Einmaligkeit, denn die Landschaft ist gerade nicht homogen, sondern hat ausgezeichnete Zustände bzw. Bahnen (eben die Täler) als dem System inhärente Möglichkeiten – davon gibt es viele, aber nicht beliebig viele. Analyse und Synthese sind durch das Prinzip ersetzt, dass das Ganze etwas anderes ist als die Summe seiner Teile: Durch die Bottom-up-Dynamik schafft das System eine neue Ordnung. Dem entspricht die Berücksichtigung von Ganzheitlichkeit und Gewordenheit. Geschichtslosigkeit der Zustände ist ersetzt durch eine Sensibilität des Systems für den bisher genommenen Weg. Dies entspricht der Biografie in menschlichen Systemen. Linearität und Kontinuität sind ebenfalls zugunsten nichtlinearer Zusammenhänge aufgelöst: In Tälern (Attraktoren) ist der Weg sehr stabil und verändert sich selbst bei mittelgroßen Störungen nicht; in der Nähe der Instabilitätspunkte hingegen können kleine Ursachen große Wirkungen entfalten – was den menschlichen Erfahrungen über Entwicklungsschübe oder plötzliche Einsichten entspricht.
4 Die vier zentralen Prozessebenen
In diesem Kapitel werden die in Kapitel 3 erörterten Prinzipien der Systemtheorie auf den vier zentralen Prozessebenen der Personzentrierten Systemtheorie – körperliche, psychische, mikrosozial-interpersonelle und makrosozial-kulturelle – genauer dargestellt und untersucht. Es macht Sinn, die Reihenfolge der Darstellung und Diskussion dieser vier Ebenen wie folgt zu wählen: Als Erstes werden wir uns den mikrosozialen-interpersonellen Prozessen widmen. Die Prozesse auf dieser Ebene und der Umgang damit sind nicht nur aufgrund der reichhaltigen Literatur zur Familientherapie und -beratung hinlänglich bekannt (einschließlich des Coachings von Teams, die durch Face-toFace-Kommunikation gekennzeichnet sind). Sondern ein weiterer Vorteil des Beginns mit dieser Ebene liegt darin, dass man zumindest die Vorstellung68 hat, man könnte auf diese Interaktionsprozesse »von außen«, als Beobachter, blicken. Die Phänomene besitzen somit gegenüber jenen auf den anderen Ebenen eine höhere Anschaulichkeit. Als Zweites werden wir uns dann der Ebene der psychischen Prozesse zuwenden. Allein schon deshalb, weil interpersonelle und psychische Prozesse üblicherweise tatsächlich im Zentrum der Diskurse und Aktivitäten in Psychotherapie, Beratung und Coaching stehen. Sodann wenden wir uns der biosemiotischen Rahmung dieser beiden Ebenen zu – also einerseits den körperlichen Prozessen, welche durch ihr »Sein in der Welt« und ihr Gewordensein im Laufe der Evolution der Umgebung eine sinnvolle Umwelt abringen, und andererseits der Kultur, welche den natürli-
68 Diese Vorstellung ist zwar nicht wirklich zutreffend, weil auch bei der Beobachtung und Erfassung der mikrosozialen bzw. interpersonellen Kommunikation recht abstrakte Kategorien und Konzepte angewendet werden – beispielsweise lässt sich »Triangulation« nicht einfach beobachten. Gleichwohl kann man »familiären Prozessen« auch im Alltagsverständnis deutlich eher zuschauen, als dies etwa bei psychischen oder körperlichen, aber auch bei kulturellen Prozessen der Fall ist.
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chen Zeichenvorrat in der Lebenswelt des Menschen um eine unerschöpfliche Kreation von Symbolen und ihre materiellen Manifestationen bereichert hat. Wichtig ist bei der Erörterung der vier Ebenen, dass die Zuordnung jenes komplexen Geschehens, das Gegenstand von Psychotherapie, Beratung und Coaching ist, zu diesen Prozessebenen primär der Fokussierung dient und keine sich gegenseitig ausschließenden logischen Klassen meint. Es ist ja gerade eine Kernaussage der Personzentrierten Systemtheorie, dass in jedem Moment Einflüsse von allen vier Ebenen gleichzeitig in komplex-dynamischer Weise zusammenspielen. Es macht aber dennoch Sinn (!), bei der Darstellung der konkreten Auswirkungen der systemischen Prinzipien jeweils eine bestimmte Ebene ins Auge zu fassen. Gleichwohl werden sehr viele Beispiele ebenso die Interaktion von zwei oder mehreren Prozessebenen betrachten.
4.1 Die interpersonelle Prozessebene Mit »interpersoneller Prozessebene« sind hier im Wesentlichen die typischen Face-to-Face-Kommunikationen gemeint, die sich in Familien, Kleingruppen, Teams etc. abspielen. Entsprechend den eben gemachten Bemerkungen zum Zusammenspiel der Ebenen sind aber solche Abgrenzungsmerkmale wie »Faceto-Face« nicht zu strikt gemeint. So kann üblicherweise in der Familientherapie durchaus der Onkel in Amerika auch dann zur »Familie« gezählt werden, obwohl niemand der (aktuellen anderen) Familienmitglieder diesen Onkel je wirklich »Face-to-Face« gesehen hat, sondern beispielsweise von einigen nur reger brieflicher Kontakt mit ihm gehalten wird. Auch der längst verstorbene »Opa«, dessen Leitsätze dauernd zitiert werden, gehört in der Familientherapie – und ebenso in der Personzentrierten Systemtheorie – zur aktuellen Familie. Da dieser Onkel bzw. Opa somit nur in den Köpfen und Gesprächen der Personen »anwesend« ist, können etliche Aspekte genauso auf der »psychischen Prozessebene« thematisiert werden. Dies macht auch nochmals deutlich, dass die Personzentrierte Systemtheorie keinen Vorteil in einer allzu strikten, geschweige denn ontologisierenden Trennung von Systemen wie »Kommunikation«, »Psyche« und »Körper« sieht, wie dies im Umfeld der »Autopoiese« bisweilen geschieht. Der Hinweis, dass »Kommunikationen« aneinander anschließen und dabei psychische Prozesse eine relevante Umgebung darstellen, ist für die Personzentrierte Systemtheorie somit für viele Fragen und Aspekte eine sinnvolle fokussierende Trennung. Sie verweist auch darauf, dass ein erheblicher Teil psychischer Aktivität damit beschäftigt ist, sich das eben oder früher Kommunizierte »klar«zumachen – also einerseits überhaupt zu verstehen und beispielsweise die
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darin erlebten Kränkungen psychisch zu verarbeiten. Und dass, anderseits, auch ein erheblicher Teil interpersoneller Aktivität damit beschäftigt ist, sich gegenseitig Gedanken und Gefühle – also Psychisches – mitzuteilen und abzuklären. Aber gerade deshalb ist eben die Frage, ob und wie eine bestimmte Kommunikation an eine andere anschließt, keine Frage, die innerhalb eines strikt geschlossenen Systems »Kommunikation« betrachtet werden darf. Vielmehr muss – worauf die Personzentrierte Systemtheorie seit Jahrzehnten insistiert (z. B. Kriz, 1990) – jede Interaktion bzw. Kommunikation stets durch das »Nadelöhr persönlicher Sinndeutungen« gehen. 4.1.1 Exkurs: Das biosemiotische Nadelöhr der Interaktion Wenn man somit nur die Abfolge – oder z. B. auch den »Anschluss« – von außen beobachtbarer kommunikativer Äußerungen (»K«) in den Blick fasst, würde man dies analog zu Tabelle 2 (1. Zeile) allgemein wie folgt darstellen: … → K1 → K2 → K3 → K4 → K5 → … Dies ist allerdings eine extrem »objektivierende«, behaviorale und rein aus der Dritten-Person-Perspektive beschriebene Position eines externen Beobachters dieser »K«. Für eine genauere Betrachtung bedarf es zumindest der Ergänzung um jene Personen, zwischen denen sich die »K« überhaupt abspielen. Nehmen wir zwei Personen P1 und P2 und betrachten nur den Ausschnitt zweier »K« – also K1 und K2 – so würde man dies zumindest wie in Abbildung 24 schreiben müssen:
Abbildung 24: »Abfolge« zweier Kommunikationen K1 und K2 zwischen den Personen P1 und P2
Allerdings ist auch Abbildung 24 immer noch ausschließlich aus einer »objektivierten« Position dargestellt. Auch wenn wir uns der psychischen Prozessebene erst im nächsten Unterkapitel (4.2) genauer widmen, kann »P« nicht angemessen einfach als eine Schaltstelle zwischen den »K« angesehen werden. Denn typische psychologische Konzepte und Begriffe wie »Selektivität«, »Wahrnehmungsabwehr«, »Verzerrung« etc. thematisieren die vielfach gemachten Erfahrungen, dass keineswegs eine bestimmte Äußerung einer Person (P1) bei einer anderen (P2) »so« auch »ankommt«. Es macht daher Sinn, die in Kapitel 2 dargestellte biosemiotische Perspektive stärker zu berücksichtigen. Diese unterscheidet ja in Bezug auf »P« nicht
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Die vier zentralen Prozessebenen
nur zwischen einer »objektiven Umgebung« und der subjektiven »Umwelt« bzw. »Lebenswelt« von »P«. Sondern »P«, als Subjekt, nimmt an ihrer Lebenswelt zum einen über afferente Sinnesprozesse (Rezeptoren, Merkorgan69) teil – dies ist ihre Merkwelt. Zum anderen wirkt »P« über efferente Wirkungsprozesse (Effektoren, Handlungsorgan) in ihre Wirk(ungs)welt hinein (vgl. Abbildung 2). Mit dem Fokus auf Kommunikationen »K« bedeutet dies, entsprechend zwischen »afferenten Kommunikationen«, AK, mit welchen sich »P« »die Welt« heranholt, und »efferenten Kommunikationen«, EK, mit welchen »P« sich in »die Welt« hinein äußert, zu unterscheiden. Ferner wird in Kapitel 2 auch bereits betont, dass für die menschliche Lebenswelt der selbstreflexive Aspekt des »Inneren Kreises« (vgl. Abbildung 2) wesentlich ist. Es geht um das »innere Selbstgespräch«, mit dem sich das Subjekt »P« seiner Lebenswelt in den Prozessen zwischen AK und EK bewusst wird. Man kann hier somit von »selbstreferenten Kommunikationen«, SK, sprechen. Die Teilnahme von »P« an der angeführten Kommunikation lässt sich somit wie in Abbildung 25 darstellen. Man beachte die grundsätzliche Übereinstimmung dieser Abbildung mit Abbildung 2, die den Organismus in seiner (subjektiven!) Lebenswelt zeigt.70 Gerade, wenn man also die Perspektive der Person »P1« als Subjekt mit einbezieht, kommt man nicht umhin, die objektivistischen »K« in die Teilaspekte AK, EK und SK zu differenzieren.71
Abbildung 25: Kommunikation mit der Zentrierung auf die Person P1
69 »Merkorgan« und »Wirkorgan« stehen hier im Singular, um deutlich hervorzuheben, dass es um eine jeweils integrative Gesamtheit geht – und nicht im alltagssprachlichen Sinne um »körperliche Organe« (vgl. auch Abbildung 1 und 2). Von Uexküll selbst verwendete allerdings recht uneinheitlich sowohl Singular als auch Plural (etwa in von Uexküll u. Kriszat, 1934/1956). 70 Eine weitere Korrespondenz besteht zu Abbildung 10 – der »nichttrivialen Maschine« im Sinne von Foersters. Daher sei hier auch daran erinnert, dass die Koppelung mehrerer »nicht trivialer Maschinen« gemäß Abbildung 13 von der Nicht-Vorhersagbarkeit zur »Trivialisierung«, d. h. einer Muster- und Ordnungsbildung, führen kann. Dies genau ist ja Gegenstand dieses Unterkapitels 4.1. 71 Diese Darstellung der Personzentrierten Systemtheorie mit ihrem Schwerpunkt auf der Unterscheidung in AK, EK und SK in Korrespondenz zur biosemiotischen Konzeption des Subjekts in seiner Lebenswelt wurde bereits vor 30 Jahren eingeführt (erstmals in Kriz, 1987/1989).
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Erläuterungen zu Abbildung 25: AK = »afferente Kommunikationen«: Hierunter wird jene von der Person P1 vorgenommene Beziehung zur »Welt« verstanden, die sich P1 als »kommunikativen Eindruck« darstellt. AK ist, korrespondierend zur biosemiotischen »Merkwelt« (Abbildung 2), die auf biologischer und kognitiver Basis von P1 subjektiv wahrgenommene Lebenswelt. Es handelt sich um eine aktive Selektion aus den Möglichkeiten einer »objektiven Umgebung«. Gemeint sind Phänomene, die grob (und im weiteren Sinne) als »Wahrnehmungen« diskutiert werden – allerdings stets unter der Perspektive von P1 als Subjekt, also gerade nicht die objektivierenden Befunde vieler Wahrnehmungsexperimente in der Psychologie. Die »AK« tragen aber vielen psychologischen Forschungsergebnissen Rechnung, in denen der Wahrnehmungsprozess als eine aktive und konstruktive Leistung von P1 betont wird. EK = »efferente Kommunikationen«: Hierunter wird jene von der Person P1 vorgenommene Beziehung zur »Welt« verstanden, mit der P1 in seine Lebenswelt hineinwirkt und die sich ihr als »kommunikativer Ausdruck« darstellt. EK meint also, korrespondierend zur biosemiotischen »Wirkwelt« (Abbildung 2), die auf biologischer und kognitiver Basis vorgenommene Beziehung zur »objektiven Umgebung«. Es geht hier um jene Phänomene, die grob (und im weiteren Sinne) als »Handlungen« verstanden werden können. Die »EK« tragen insbesondere jenen psychologischen Forschungsergebnissen Rechnung, in denen Handlungsprozesse als eine aktive und intentionale Leistung thematisiert werden, mit denen P1 »in die Welt hineinwirkt«. SK = »selbstreferente Kommunikationen«: Bei den SK geht es um jene Phänomene, die grob (und im weiteren Sinne) als »(selbstreflexives) Bewusstsein« verstanden werden können. Die SK erweitern gemäß Unterkapitel 2.2 die biosemiotische »Gegenwelt« des »Neuen Kreises« (Abbildung 2) – die in Abbildung 25 durch den gestrichelten Pfeil vereinfacht schematisiert ist – um die wesentliche menschliche Fähigkeit zur Selbstreflexion. Die »SK« tragen insbesondere dem Phänomen Rechnung, dass der Mensch mit sich selbst kommunizieren kann, sich viele seiner inneren Prozesse, die »Emotionen«, »Gefühle« »Gedanken« genannt werden, bewusst werden kann und diese Prozesse z. B. in »Achtsamkeit« betrachten kann. Wie in Unterkapitel 5.5 ausgeführt wird, wendet P1 dabei auf sich und sein Erleben in Erster-Person-Perspektive die Kulturwerkzeuge der DrittenPerson-Perspektive an.72 So werden Teile (!) von AK »bewusst wahrgenommen« und Teile (!) von EK »bewusst hervorgebracht«. Bedeutsame Teile von SK sind das, was man »Gedanken« nennt – allerdings unter Einbeziehung der bewussten Gefühle und Körperwahrnehmungen.
Wenn man dies in der Darstellung der »Abfolge« zweier Kommunikationen K1 und K2 zwischen den Personen P1 und P2 berücksichtigt, so kommt man von Abbildung 24 zu Abbildung 26. Diese beiden Darstellungen vermittelt im Vergleich sofort, wie von einer »objektiven« Zentrierung auf die Kommunikation (Abbildung 24) nun eine Zentrierung auf die Person als Subjekt (Abbildung 26) erfolgt. Auch wenn eine solche Beschreibung notgedrungen immer eine Beschreibung aus der »Außenperspektive« bleibt (d. h. es wird »über« die Lebenswelt von »P« gesprochen und »darüber«, dass diese für das Subjekt »P« in »Eindruck«, AK, »Ausdruck«, EK, und »Selbstreflexion«, SK, differenziert werden kann).72 72 Was wiederum im Zusammenhang mit dem steht, was »Symbolisieren« bzw. »Mentalisieren« genannt wird (genauer in Unterkapitel 5.5).
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Abbildung 26: »Abfolge« zweier Kommunikationen K1 und K2 zwischen den Personen P1 und P2 (unter Berücksichtigung der biosemiotischen Subjektivität der Person)
Entsprechend Abbildung 26 können wir nun auch alle bisherigen Interaktionsmuster detaillierter darstellen – etwa die Mutter-Tochter-Interaktion von Abbildung 7 in Form von Abbildung 27 rechts:
Abbildung 27 links: Zirkuläres Muster aus Abbildung 7; rechts: Zugrunde liegende Teilkommunikationen
Und die prototypischen Teilaspekte wären dann etwa: Bei der Mutter: ȤȤ AK: »Meine Tochter hält sich nicht an vereinbarte/meine Regeln.« ȤȤ SK: »Ich muss was tun, dass sie mir nicht entgleitet und auf die schiefe Bahn gerät.« ȤȤ EK: »Um Mitternacht bist du zu Hause! Sonst gibt es gewaltig Ärger!« Bei der Tochter: ȤȤ AK: »Immer nur Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften von meiner Mutter!« ȤȤ SK: »Mama hat den Kontrollwahn! Ich sag mal zu – damit ich wegkomme. Halt mich aber nicht dran: Schließlich hab ich meinem Freund versprochen, bis 3 Uhr morgens zu bleiben.« ȤȤ EK: »Ja, mache ich!«
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Die rechte Darstellung in Abbildung 27 ist zwar detaillierter als die linke. Auch wird sie der biosemiotischen Perspektive mit der Betonung der subjektiven Lebenswelt besonders dem Menschen bzw. der Person besser gerecht. Gleichwohl muss je nach Fragestellung und Interesse abgewogen werden, ob die detailliertere Betrachtung jeweils einen Mehrwert hat. Für viele Fragen reicht auch das Schema in Abbildung 27 links aus, um relevante Zusammenhänge erörtern zu können. In Bezug auf andere Fragen muss man sagen, dass weder das linke noch das rechte Schema z. B. die wichtige Entwicklungsdynamik wiedergibt: Dazu müssten entweder viele solcher zirkulären Durchläufe und deren Veränderung dargestellt werden oder diese Entwicklungsdynamik muss zusätzlich ins Auge gefasst werden (wie dies in diesem Kapitel noch geschieht). 4.1.2 »Sender« und »Empfänger« gibt es nicht bei Paaren, Familien oder Teams Auch dann, wenn die biosemiotische Perspektive von Subjekten, die mittels Kommunikation verbunden sind, vielleicht manchem zu kompliziert oder aufwendig erscheinen mag, sollte dennoch einsichtig sein, dass das nicht selten zu findende Modell von »Sender« und »Empfänger« eine inadäquate Simplifizierung der Kommunikation ist, wie sie bei Paaren, Familien, Teams etc. stattfindet. Bleiben wir zunächst bei dem sehr einfachen Mutter-Tochter-Beispiel: Entsprechend dem Schema von »Sender« und »Empfänger«, die eine »Nachricht« austauschen, könnte die Mutter – als »Sender« – ihrer 16-jährigen Tochter – als »Empfänger« – beispielsweise die Frage als »Nachricht« übermittelt: »Wo kommst du jetzt her?!«, wenn diese morgens um 4 Uhr nach Hause kommt. Das Input-Output-Schema der »trivialen Maschine« (Abbildung 9 bzw. 11) dahinter ist schnell erkennbar: Da die Mutter nicht direkt in das Gehirn der Tochter blicken kann, gibt sie der »Blackbox« Tochter-Gehirn einen Stimulus, der in der Box verarbeitet wird und als Output eine Antwort produziert. Aus den Relationen zwischen Input und Output kann man dann etwas über den Zustand der Blackbox erfahren. Das ist in Abbildung 28 schematisiert.
Abbildung 28: Frage der Mutter an die Tochter im »Sender-Empfänger-Schema«
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Eine solche Betrachtungsweise widerspricht allerdings unserer gesamten Alltags- wie auch professionellen Erfahrung. Mutter und Tochter sind nämlich nicht Teile einer mechanistischen Maschine, sondern sie stehen in einer sinnorientierten, dynamischen und adaptiven Beziehung. Diese ist durch viele bisherige Rückkoppelungen (vgl. Abbildung 12 und 29) beeinflusst und hat entsprechend den Gegebenheiten bestimmte Ordnungen ausgebildet. So weiß die Tochter: Wenn sie einfach sagen würde, wie es in ihr aussieht (soweit sie überhaupt selbst darauf Zugriff hat), könnte sich die Mutter Sorgen machen oder es würde Ärger geben. Entsprechend der aktualisierten Ordnung dieser spezifischen Mutter-Tochter-Dyade wird sie daher ihre bisherigen Erfahrungen und ihre Erwartungen bei ihrer Antwort in Rechnung stellen. Auf der anderen Seite weiß allerdings auch die Mutter, dass sie ihrer Tochter gar nicht eine so naive Frage vorlegen muss, da ihre Tochter eben nicht so funktioniert wie ihr Auto, bei dem sie einfach auf einen bestimmten Input eine bestimmte Reaktion erwarten kann. Daher wird sie bei ihrer Frage sinnvollerweise ebenfalls ihre bisherigen Erfahrungen und die daraus gebildeten Erwartungen in Rechnung stellen. Und genau diese Erwartungsstrukturen machen eben eine »Beziehung« aus. Daher mag das simple »Sender-Empfänger-Modell« in Abbildung 28 hinreichend zutreffend sein, wenn sich zwei wildfremde Menschen rein sachlich austauschen – etwa A mit der Frage an B »Wo geht’s zum Bahnhof?« zu Recht eine Antwort erwartet, die von Beziehungserfahrungen weitgehend frei ist.73 Kommunikation in interpersonellen Systemen läuft jedenfalls nicht nach dem »Sender-Empfänger-Schema« ab. Die Untauglichkeit von »Sender« und »Empfänger« gilt erst recht in interpersonellen Systemen mit mehr als zwei Personen – also z. B. Familien, Teams und dergleichen. Denn solche Begriffe machen überhaupt nur Sinn, wenn man damit auf ein System mit einer bestimmten Struktur verweist. Nimmt man die rechte Darstellung in Abbildung 29, so zeigt diese eine von vielen möglichen Familienstrukturen mit Vater »V«, Mutter »M« und zwei Töchtern »T«. Ohne hier die Bedeutung der Symbole im sogenannten »Lageplan« der Familie nach Minuchin (1977, S. 73) zu vertiefen, verweist dies auf einen verdeckten Konflikt zwischen Vater und Mutter, eine sehr enge Beziehung zwischen der Mutter und einer Tochter sowie einen offenen Konflikt zwischen den beiden Töchtern. Mit prinzipiell ähnlichen Worten würde man jede Familie, die man näher kennt, 73 Selbst hier wird B aber gegebenenfalls unterschiedlich antworten, wenn er vermutet, dass A zu Fuß unterwegs ist, als wenn er A für einen Radfahrer hält – und noch anders, wenn er meint, dass A gleich in sein Auto steigen wird.
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beschreiben – ganz im Kontrast zur linken Darstellung in Abbildung 29: Hier ist keinerlei Struktur zu erkennen (außer, dass es sich eben um V, M und zwei T handelt). Es sieht also so aus, als wären die Beziehungen zwischen allen Personen genau gleich. Sofern dies wirklich der Fall sein sollte (und nicht nur durch das sehr grobe Zeichensystem bedingt), wäre das allerdings völlig atypisch für eine »Familie«. Hätte »V« wirklich in jeder Hinsicht die gleichen Beziehungen zu seiner Frau »M« wie zu seinen beiden Töchtern »T«, würde man eher von Rollendiffusion, Missbrauch oder anderen »Störungen« sozialer Normalität sprechen.
Abbildung 29: Eine »Familie« (rechts) ist nicht einfach eine beliebige Anordnung von Personen (links)
Fazit: Zu einem sozialen System gehört notwendig auch eine bestimmte Struktur. Und jede Äußerung einer Person erreicht nicht nur gewöhnlich (gegebenenfalls über Umwege, zeitverzögert etc.) auch die anderen, sondern spiegelt gleichzeitig wider, was typischerweise in diesem kommunikativen System bisher geschah (wenn auch teilweise mit sehr subjektiven Deutungen, Erinnerungen etc.). 4.1.3 »Teufelskreise« sind keine Kreise Wohl noch häufiger als von »Sendern« und »Empfängern« wird von »Teufelskreisen« gesprochen. Damit ist das gemeint, was auch in diesem Text in Abbildung 27 (oder auch 7) dargestellt ist und in vielen weiteren Beispielen so hätte dargestellt werden können (etwa die beiden Personen im Boot – Abbildung 6): Es geht um die Zirkularität der beobachtbaren, aufeinander bezogenen Handlungen. Ein solches Muster wurde bereits »Attraktor« genannt. Die Bezeichnung »Teufelskreis« soll hervorheben, dass die Akteure in diesem zirkulären Muster – unter dem sie meist selbst leiden – wie in der Hölle gefangen sind. Sofern man nur auf das Muster selbst schaut, ist der Begriff »Kreis« gar nicht so schlecht: Immerhin überwindet dieses Bild einseitige Ursache-Wirkungs- Zuschreibungen – etwa: Die Mutter hat Schuld wegen ihres Kontrollwahns, oder die Tochter wegen ihrer ungezügelten Lebensweise.
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Der Begriff »Kreis« und der Fokus auf das Muster laufen aber Gefahr, die sehr viel wichtigere Entwicklungsdynamik nicht zu beachten, d. h. die Frage zu übersehen, wie dieses Muster entstanden sein mag74 und wie man es verändern kann. Dieser dynamische Aspekt wird mit dem gelegentlich gebrauchten Begriff »Teufelsspirale« zumindest mitthematisiert. Sowohl theoretisch wie auch praktisch ist allerdings die Erkenntnis wesentlich, dass auch ein noch so »festgefahrenes« Interaktionsmuster in den meisten Fällen aus kleinen – scheinbar »unbedeutenden« und »unschuldigen« – Verhaltensweisen und ihren Deutungen dann entstehen kann, wenn diese im Sinne von attrahierenden Operatoren zusammen»passen« (leider meist in unguter Weise). Das ist beim Bootbeispiel am Anfang von Unterkapitel 3.1 (und Abbildung 6) besonders leicht einsichtig: Das Boot liegt ja zunächst gut im Wasser und »eigentlich« wollen die beiden eine kleine Schieflage ja nur »ein wenig ausgleichen«. Allerdings verstärkt sich das eben gegenseitig so sehr, bis beide nur noch im wörtlichen wie übertragenen Sinne »in den Seilen hängen«. Weit bedeutsamer – und leider auch reale Beispiele – sind viele Mutter- bzw. Eltern-Kind-Interaktionen, deren augenfälliges Muster in Form der sogenannten »Schrei-Babys« zutage tritt.75 Es handelt sich um Babys, die (nach Abklärung aller möglicher somatischer Ursachen) exzessiv hinsichtlich zeitlichem Ausmaß und Lautstärke scheinbar ohne Grund schreien und ihre Eltern zur Verzweiflung und Erschöpfung treiben. Einige Aspekte in der Arbeit mit solchen Schrei-Babys werden noch später vorgestellt. An dieser Stelle ist wichtig, dass es auch hier vielfach um »Passung« geht – es sind also nicht besonders unfähige Mütter bzw. Eltern oder »per se« gestörte Babys. Vielmehr haben die Eltern nicht selten bereits weitere Kinder, die ohne bemerkenswerte Probleme ihre Babyzeit durchlaufen haben – es kann also nicht nur an ihnen liegen. Andersherum gibt es gute Gründe anzunehmen, dass ein solches Baby sich bei anderen Eltern vielleicht nicht zu einem Schrei74 Dies ist für die Praxis von Veränderungsangeboten nicht unbedingt wichtig – das Mailänder Team und der damit verbundene strategische Ansatz haben (scheinbar) sogar eine explizite Gegenposition eingenommen: dass nämlich die Entstehung eines konkreten Musters in einer konkreten Familie gar kein Gegenstand von Erörterungen sein sollte, sondern nur die Ver- oder Zerstörung dieses Musters. Auch ein Pilot muss beim Starten nicht an Aerodynamik denken, sondern daran, welche Hebel und Schalter er wie in Relation zu Anzeigeinstrumenten und zur so wahrgenommenen Bewegung und Lage des Flugzeugs bedienen muss. Für eine Systemtheorie freilich ist diese Frage der Entstehung allgemein wichtig. Und auch Piloten dürften sich in ihrer Ausbildung mit Aerodynamik befassen müssen. 75 Von Schrei-Babys spricht man üblicherweise dann, wenn die »Dreierregel« erfüllt ist: über drei Wochen hinweg mindestens an drei Tagen pro Woche länger als drei Stunden exzessives Schreien.
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Baby entwickelt hätte. Genau dieses Baby und diese Eltern passen allerdings so zusammen, dass sich die gegenseitigen Erwartungen zu einem unauffälligen Muster fügen. Wie jedes Baby ist auch dieses einmalig: Es ist vielleicht besonders sensibel oder empfindlich gegen Lärm oder viel angebotene Aktivität – was seine Geschwister als Babys »gut« fanden. Irgendwie reagiert dieses Baby auf das, was die Eltern tun, etwas anders, als es die Geschwister taten und die Eltern es daher »selbstverständlich« auch bei diesem Baby erwarten – verstärkt vielleicht von den zahlreichen »Ratgebern«, die sagen, wie ein »gesundes« Baby angeblich zu reagieren habe. Dies verunsichert die Eltern und führt vielleicht dazu, dass sie noch weniger die spezifischen Bedürfnisse des Babys wahrnehmen oder situationsgerecht herausfinden können, sondern noch mehr versuchen, das »objektiv Richtige« zu tun. Dadurch werden die eigentlichen Bedürfnisse des Babys noch weniger erfüllt – und es reagiert gegebenenfalls ebenfalls mit »noch mehr desselben«: eben mit Schreien. Auch hier finden wir also jene typische attrahierende Entwicklungsdynamik, dass aus vergleichsweise recht kleinen Unstimmigkeiten in der Passung, die in vielen anderen Fällen durch unerhebliche Adaptation aneinander völlig unauffällig bliebe, sich ein immer deutlicher werdendes Muster aufbaut. Man könnte sagen: Fast ein unglücklicher Zufall – es hätte fast auch alles ganz anders verlaufen können. Jedenfalls ist nach allem was wir wissen eine solche Dynamik weit häufiger, als dass sich zwei bereits ausgeprägte Persönlichkeiten mit ihren unpassenden Eigenschaften zusammentun. So ist in dem Mutter-Tochter- Beispiel vermutlich keine per se »kontrollsüchtige« Mutter an eine genetisch vorprogrammierte »herumstreunende« Tochter geraten. Auch für das so oft in der Literatur angeführte Beispiel eines Mannes, der sich ins Wirtshaus zum »Saufen« zurückzieht, und der Frau, die viel »meckert«, gilt ja, dass selten eine »Meckertusse« einen »Saufbold« geheiratet hat. Vielmehr haben sich die beiden so ausgeprägten Verhaltensweisen als Muster in einer Entwicklungsdynamik ergeben. Die ungute Passung könnte darin bestehen, dass der Mann vielleicht ganz gerne mal mit Freunden etwas trinkt und Konflikten eher ausweicht. Während die Frau, vielleicht aufgrund von Erfahrungen mit ihrem Vater, besonders vehement auf Alkoholkonsum reagiert und ihre Affekte schwer im Zaum halten kann und durch Vorhaltungen ausagiert. Beide hätten mit anderen Partnern – oder mehr Einsicht in ihre eigenen Schwächen und Arbeit daran – diese »Eigenschaften« unauffällig in einen »normalen« Alltag integriert. Hier allerdings passen diese eben nicht gut zusammen – und es entwickelt sich das auffällige Muster aus »Saufen« und »Meckern« als Attraktor. Allerdings muss immer auch bedacht werden, dass solche verkürzt und idealtypisch dargestellten Beispiele der Komplexität des wirklichen Lebens eben nur
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bedingt gerecht werden. Es geht beispielsweise ja nicht um Interaktionsmuster allein (also um die interpersonelle Ebene – gegebenenfalls einschließlich deren biosemiotisch-subjektiver Teilaspekte bezogen auf die Personen). Vielmehr können solche Muster durchaus selbst einer spezifischen (weiteren) Dynamik hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Beteiligten unterworfen sein. Ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür stellt das bereits »klassische« Konzept der »Kollusion« von Jürg Willi (1975) dar: Mit »Kollusion« bezeichnet Willi das (nicht bewusste) Zusammenspiel zweier Partner hinsichtlich derselben Grundthematik. Diese Grundthematiken beinhalten bei Willi klassisch-psychoanalytisch formulierte Bedürfnisse – »oral«, »anal«, »genital« und »narzisstisch«. Diese lassen sich aber allgemeiner auch als Fragen von »Umsorgen versus Umsorgtwerden«, »Machtausübung versus -unterwerfung«, »Identifikation mit einer männlichen versus weiblichen Geschlechtsrolle« und »Bewunderung versus Bewundertwerden« verstehen – also jene großen Themen, denen sich jeder in seiner Entwicklung stellen muss. Während idealerweise in einer Beziehung alle Themen und Positionen je nach Situation hoch flexibel gehandhabt werden können (sollten), kann es eben auch vorkommen, dass eine Thematik eine besondere Wertigkeit aufgrund früherer Erfahrungen besitzt: Nehmen wir Beate, für die es sehr wichtig ist, dass sie einen fürsorglichen Partner hat, und Ulrich, der gerne für jemanden sorgt (weil er dafür gegebenenfalls früher als Kind seine Zuwendung und Beachtung erhalten hat). Unter vielen Alternativen scheinen somit Beate und Ulrich »füreinander gemacht«. Zumal Beate gegenüber Ulrich und anderen schwärmt, wie fürsorglich doch ihr Partner ist. Und Ulrich hat endlich jemanden, der seine »Art« zu schätzen weiß – wo er also sein bisheriges Muster, Zuwendung zu erhalten, sehr erfolgreich fortsetzen kann. Da beide das gegenseitige Verhalten mit Begeisterung verstärken und belohnen, wird sich bald die zunächst ja nur vorhandene Tendenz deutlich ausprägen. Doch was ist dagegen einzuwenden? Es scheint doch die ideale Partnerschaft zwischen Beate und Ulrich zu sein (Abbildung 30). Doch der Schein trügt – oder besser: Eine solche Partnerwahl hat die weitere Entwicklungsdynamik nicht vorhersehen können. Die Kollusion ist ja systemtheoretisch wieder als Attraktor zu beschreiben, der die Eigenschaft hat, topdown die gesamte weitere Mikrodynamik in seine Ordnung zu ziehen. Konkret bedeutet dies hier, dass diese Ordnung quasi »übermächtig« wird und die vielen kleinen Verhaltenssequenzen entsprechend ausrichtet. Denn so toll es für Beate auch war, umsorgt zu werden: zu viel »des Guten« ist eben zu viel und nimmt ihr die eigenen Initiativen. Zudem merkt sie zunehmend, dass es Ulrich
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gar nicht nur – vielleicht nicht einmal primär – um sie geht, sondern um sein Bedürfnis nach Anerkennung, Lob und Zuwendung. Also wird Beate anfangen, dieses Muster zu torpedieren – mit abfälligen Bemerkungen, mit Verweigerung überschwänglichen Lobes etc. Und auch Ulrich fühlt sich von der Rigidität des eingeschlichenen Musters überfordert: Fürsorglich sein ist ja schön – aber irgendwo muss das auch Grenzen haben. Wo bleibt sein eigenes (bisher weitgehend verdrängtes) Bedürfnis, auch mal umsorgt zu werden? Also wird er vielleicht zunächst weiterhin auf Handlungsebene die vielen eingeschliffenen »Fürsorgeakte« für Beate ausführen – aber vielleicht zunehmend mit deutlich erkennbarer Unlust. Eben rein aus Pflichtbewusstsein. Umso ärgerlicher ist es da, wenn Beate dann auch zunehmend stichelt und weniger Dankbarkeit zeigt. Die »optimale« Partnerschaft (Abbildung 30) schlägt somit um in einen Paarkonflikt (Abbildung 31).
Abbildung 30: Scheinbar ideale Partnerschaft in der »oralen« Kollusion (nach Willi, 1975)
Abbildung 31: In einen Paarkonflikt umgeschlagene Partnerschaft (nach Willi, 1975)
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Das scheinbar so optimale interpersonelle Muster erweist sich also keineswegs als dauerhaft optimal. Dies liegt an der attrahierenden Eigenschaft, den Raum aus Sinn- und Handlungsoptionen immer mehr zusammenzuziehen, statt ihn zu vergrößern oder zumindest so zu belassen, dass auch für anderes hinreichend Raum bleibt. Je fester und ausgeprägter ein interpersonelles Muster (Attraktor) also ist, desto größer ist die Gefahr, dass es in der großen Vielfalt von Situationen, Bedürfnissen, Ereignissen etc. nicht genügend flexibel ist. Das gilt sogar auch dann, wenn sich die Bedingungen der Umgebung des Systems nicht wesentlich ändern, wie am Beispiel der Kollusion deutlich wird. Denn die Problematik entsteht ja nicht erst dadurch, dass z. B. der fürsorgende Partner alt, behindert oder krank wird und die »Pflegeleistung« nicht mehr erbringen kann oder dass jemand Weiteres in die Familie kommt, die materiellen Bedingungen sich ändern etc. – was alles typische Entwicklungsaufgaben für jede Paardynamik sind. Sondern das Problem entsteht primär allein schon aus der Tatsache, dass Attraktoren die Eigenschaft haben, quasi alles in ihre Dynamik zu ziehen und damit immer stabiler und (über)mächtiger werden. Was hier exemplarisch für die »orale« Kollusion nach Willi erörtert wurde gilt natürlich sinngemäß auch für die anderen Kollusionen – die ihrerseits bereits als »zentrale Lebensthemen« auch jenseits eines engeren psychoanalytischen Fokus charakterisiert wurden. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass diese Betrachtungsweise darüber hinaus auch für viele Mehr-Personen-Systeme, wie Familien, Teams, Gruppen etc., erweitert werden kann. So sind beispielsweise bei den in der Literatur zu Psychologie und Management dargestellten »Engelskreisen« – als Gegenteil von »Teufelskreisen«, weil sie (zunächst) als positiv erlebt werden – aus den diskutierten Gründen Vorbehalte anzumelden. Denn auch wenn eine interpersonelle Rückkopplungsdynamik und das entsprechende Muster (zunächst) als positiv erlebt werden, kann – wie im Kollusionsbeispiel deutlich wurde – ein zu stark wirkender Attraktor anderes Wichtige so ausblenden, dass die negativen Folgen langfristig überwiegen. Dies wäre in jedem Einzelfall zu bedenken und zu prüfen. 4.1.4 Die verborgene Täterschaft in den Opfer-Narrationen Das Konzept der zirkulären Muster (das dann als »Teufelskreis« weitere Verbreitung gefunden hat) und die damit verbundenen »Interpunktionen« (siehe Unterkapitel 3.1) waren eines der ersten explizit formulierten Konzepte, mit denen systemtheoretische Aspekte für die Praxis populär gemacht wurden: Bereits vor einem halben Jahrhundert fasste ein Team am »Mental Research Institute« (MRI) unter Federführung von Paul Watzlawick wesentliche Aspekte
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systemischer Betrachtungen von Kommunikationsabläufen und ihren Störungen zusammen (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1967, dt. 1969). Zu Recht gilt dieses Werk bis heute als ein Meilenstein in der Entwicklung der Systemischen Therapie – auch wenn wesentliche Ideengeber wie Virginia Satir und vor allem Gregory darin nur in Fußnoten auftauchen. Das Werk und die darin vorgetragenen »Axiome menschlicher Kommunikation« fanden international große Verbreitung. Die Idee der Interpunktion, so wie sie von Watzlawick et al. vorgetragen wurde, entspricht im Wesentlichen der Darstellung in Unterkapitel 3.1. Demon striert an vielen weiteren Beispielen tauchte das Konzept der Interpunktion in dieser Form in zahllosen Publikationen auf. Es hat drei Jahrzehnte gedauert, bis auffiel, dass Watzlawick et al. hier interessanterweise übersehen haben, dass sie mit den Interpunktionen (wie auch in Tabelle 2 dargestellt) nur »eine Seite der Medaille« berücksichtigt haben – nämlich die »Opfer«-Seite.76 In dem von Watzlawick et al. ursprünglich gewählten Beispiel geht es um eine Frau, die »nörgelt«, und ihren Mann, der sich »zurückzieht«. In dem Muster aus gegenseitig-zirkulärer Bezogenheit in Form eines Attraktors erklärt sich jeder gemäß der Interpunktion zum »Opfer« des anderen – d. h., der Mann sagt: »Ich ziehe mich ja nur zurück, weil du ständig nörgelst«, und die Frau: »Ich nörgle ja nur, weil du dich ständig zurückziehst.« Entsprechend der systemischen Erkenntnis, dass man zu jeder Interaktionsdynamik, unter der man als »Opfer« leidet, gleichzeitig als »Täter« beiträgt, wären ja zumindest auch die beiden »Täter«-Narrationen denkbar: Die Frau nörgelt, damit sich der Mann zurückzieht, und der Mann zieht sich zurück, damit die Frau nörgelt. Diese zweite Interpunktionsvariante mag zunächst recht ungewöhnlich erscheinen. Dies liegt aber vielleicht auch mit daran, dass uns allen »Opfer«-Geschichten so viel näher liegen als »Täter«-Geschichten. Wenn wir zu spät zu einem vereinbarten Treffen kommen, so sagen wir nicht nur anderen, sondern auch uns selbst, dass dies am Verkehr, einem Anruf oder an sonstigen »Tatumständen« lag, denen wir als »Opfer« unterworfen waren. Das wir genauso gut schlecht geplant, Störungen leichtfertig nicht einkalkuliert und auch sonst einiges nicht berücksichtig haben, fällt uns viel schwerer ein und auf. Und dies gilt analog für sehr viele »Dinge« die uns »passieren«.
76 Meines Wissens wird die fehlende »Täter«-Seite erstmals in Kriz (1995) im Rahmen einer Analyse über das Phänomen »Macht« im systemischen Ansatz dargestellt. Bis dahin haben alle anderen Autoren zum Thema »Interpunktion« – und auch ich selbst – diesen Aspekt übersehen.
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Wenn man sich aber einmal auf die ungewöhnliche »Täter«-Perspektive einlässt, so sind schon gemäß unserer Alltagserfahrung (und noch viel mehr aufgrund professioneller Erfahrung im Beratungsbereich) leicht Motive für solch intendiertes Handeln finden: So könnte dem Mann z. B. das Nörgeln als willkommener Vorwand dienen, seinen eigenen Hobbys zu frönen, ohne sich da ständig durchsetzen zu müssen. Und die Frau könnte durchaus Nutzen daraus ziehen, sich im sozialen Umfeld für ihren »wenig empathischen und kooperationsfähigen Eigenbrötler« bedauern zu lassen oder auch eine Distanz zu ihrem Mann und dessen sexuelle Wünsche an sie zu schaffen. Wobei hier jeweils nur wenige mögliche Aspekte benannt sind, welche eine »Täter«schaft durchaus nicht so unattraktiv machen. Es geht nicht darum, dass etwa die »Täter«-Narrationen wahrer, richtiger, bedeutsamer oder sonst etwas wären als die »Opfer«-Narrationen, wie sie bei Watzlawick et al. und üblicherweise in der Literatur zu finden sind. Alle vier Perspektiven gehören als Möglichkeiten der Beschreibung zusammen. Unter der Perspektive möglicher Veränderung ist allerdings zu sagen, dass dort, wo der »Täter«-Anteil gegenüber dem »Opfer«-Anteil in der zirkulären Dynamik bewusster ist, Systemiker mehr Veränderungspotenzial ausmachen würden. Denn subjektiv intentionale Handlungen erscheinen leichter aktiv veränderbar als subjektiv erlebte »Reaktionen« auf das Verhalten anderer. Man wird dann vom Getriebenen mehr zum Gestalter der Umstände. Entsprechend lässt sich nun auch Tabelle 2 über den Mutter-Tochter-Konflikt zu Tabelle 8 vervollständigen. Tabelle 8: Vervollständigtes Schema der Interpunktionen (aus Tabelle 2 bzw. Abbildung 7) unter Berücksichtigung sowohl der »Opfer«- als auch der »Täter«-Narrationen
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Auch hier lässt uns nach einem ersten Überraschungseffekt und Widerstreben bereits der psychologische Hausverstand Zusammenhänge ersinnen, warum der »Täter«-Aspekt bei Mutter und Tochter nicht so absurd ist, dass man gezwungen wäre, ausschließlich den »Opfer«-Aspekt ins Auge zu fassen. So könnte beispielsweise die Mutter durchaus interessiert daran sein, über das »Problem« »streunende Tochter« eine engere Verbindung zu ihrem (vielleicht getrennt lebenden) Mann herzustellen und aufrechtzuerhalten: Schließlich haben ja beide Verantwortung für die gemeinsame Tochter. Und (in diesem oder einem anders gelagerten Fall) könnte die Tochter beispielsweise ein ähnliches Interesse daran haben, dass die Eltern »durch das Problem« mehr Gemeinsamkeit zeigen und sich nicht nur streiten oder nebeneinanderher leben. Es sollte klar sein, dass diese vier Perspektiven jeweils für die Beschreibung bzw. »Erklärung« aus theoretischer Sicht nützlich sind. Ob und in welcher Weise diese explizit in die beraterische Arbeit einbezogen werden (sollten), hängt von vielen weiteren Aspekten ab, unter denen diese Arbeit angelegt ist. Ebenso sollte beachtet werden, dass diese vier Perspektiven keineswegs von den Akteuren bewusst-reflexiv eingenommen werden. Typischerweise werden die »Opfer«Narrationen allerdings meist zur funktionellen Beschuldigung des anderen und der eigenen Entlastung explizit vorgetragen, während die »Täter«-Narrationen eher nicht bewusst sind. Schon deshalb wurden sie über Jahrzehnte in der Darstellung »der Interpunktionen« übersehen. Allerdings gibt es auch Konstellationen, wo der »Täter«-Aspekt im Vordergrund steht und den »Opfer«-Aspekt dabei eher verdrängt. Dies ist bereits am Anfang dieses Buches in der kleinen Vignette mit Julian der Fall (Unterkapitel 1.2). Denn mit der Beschreibung »Verhaltensstörung« wird Julian weitgehend zum Täter gemacht (was bestenfalls noch durch die Auffassung von »Verhaltensstörung« als »Krankheit« gemildert werden könnte). Und in der Tat ist sein Verhalten als Klassenclown oder wenn er seine Schwester schlägt eindeutig Julian zurechenbar. Gleichzeitig dient aber die Vignette mit Julian dazu, auf der interpersonellen Prozessebene ein Muster deutlich zu machen, das in der systemischen Literatur als »Triangulation« bezeichnet wird: Typischerweise wird dabei ein verdeckter Konflikt – meist zwischen den Eltern – durch das Verhalten eines Kindes (oder besser: den Fokus darauf) abgemildert oder zumindest vor weiterer Eskalation bewahrt. Üblicherweise wird dies wie in Abbildung 32 schematisiert dargestellt.
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Abbildung 32: Triangulation – der verdeckte Konflikt zwischen den Eltern (V, M) wird durch den Fokus auf das Kind (K) »entschärft«
Im Falle von Julian kann die erlebte Gemeinsamkeit der Eltern beim Besprechen seiner »Verhaltensstörung« – und gegebenenfalls die Strafe seitens der Eltern oder gar der Schule – immer noch entlastender sein, als den Konflikt aushalten zu müssen.77 Auch hier handelt Julian sicher nicht mit voller Einsicht. Gleichwohl ist ihm seine »Täter«-Seite viel deutlicher bewusst – und wird ihm ohnedies von vielen vorgehalten – als seine »Opfer«-Seite in dieser Triangulationsstruktur. Triangulation kann nicht nur in vielen interpersonellen Mustern als ein Teil vorkommen (also auch in größeren Familien oder Teams). Sondern das betreffende »Verhaltens«-Spektrum kann sehr groß sein. Beispielsweise kann eine solche Konstellation auch den Ausdruck – Häufigkeit und Heftigkeit – von somatischen Beschwerden mit eigentlich ganz anderer Ätiologie erhöhen und stabilisieren.78
4.2 Die psychische Prozessebene In diesem Unterkapitel geht es vor allem um Fragen, wie wir die unglaubliche Komplexität der Sinneseindrücke im Lichte bisheriger Erfahrungen und gelernter Ordnungen reduzieren und uns damit »die Welt« verständlich machen. Vor dem Hintergrund unserer bisherigen systemtheoretischen Diskussion könnte man auch sagen: Es geht hier primär um die individuellen Sinnattraktoren (wohl wissend, dass die Prozessdynamik mit den anderen Ebenen verknüpft ist). Die für unsere Darstellung notwendige Fokussierung in diesem Kapitel auf einzelne Prozessebenen wird noch »künstlicher« bei einem Bereich, den wir gewöhnlich der psychischen Prozessebene zuordnen: die Emotionen und Gefühle. Wie 77 Dass typischerweise von »verdecktem« Konflikt gesprochen wird, hat mit der Erfahrung zu tun, dass dieser für die Beteiligten, besonders Kinder, meist viel belastender ist als ein offener Konflikt oder eine Scheidung. Denn bei verdeckten Konflikten kommt ja noch hinzu, dass ihre eigenen Wahrnehmungen in Zweifel gezogen oder gar negiert werden. 78 In Bezug auf kindliches schweres (und eigentlich »rein« somatisches) Asthma ist dies in Kriz (1994) dargestellt.
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»Gedanken« sind auch »Emotionen« in jedem Moment mit unseren Lebensprozessen verbunden.79 Selbstverständlich ist ihr Zusammenspiel wichtig80 und wird auch eingehend erörtert. Gleichwohl scheint es sinnvoll, »Denken« und »Fühlen« bzw. kognitive und affektive Prozesse zum Zwecke einer einfacheren Darstellung zunächst einmal getrennt näher ins Auge zu fassen und die affektiven Aspekte auf der somatischen Prozessebene zu behandeln. Diese Zuordnung hat u. a. auch ihren Grund darin, dass hier das Konzept des »Sinnattraktors« weiter erhellt werden soll. Affekte »machen Sinn« und sie beeinflussen vor allem die sinnhaften Prozesse auf der psychischen und der interpersonellen Ebene sehr stark (und werden, andersherum, von diesen wiederum beeinflusst). Aber ihr »Sinn« muss eben kognitiv erschlossen werden. Und um diese kognitiven Prozesse geht es zunächst. 4.2.1 Ordnungsbildung beim Erinnern: Bartlett und sein Szenario Bereits vor rund achtzig Jahren hat Frederic C. Bartlett (1932) eine Vorgangsweise gewählt, welche die iterative Anwendung von Operationen verwendet. Eines der klassischen Bartlett-Experimente war dem ähnlich, was man in abgewandelter Form und spielerisch »stille Post« nennt: Man nimmt eine komplexe Information, z. B. einen längeren Satz, flüstert ihn dem Nachbarn ins Ohr, der das, was er verstanden hat, seinerseits dem Nachbarn ins Ohr flüstert und so fort. Es handelt sich also um eine serielle Reproduktion von (in diesem Fall) Gehörtem. Wie bereits auf Seite 91 geschildert, verwendet Bartlett für die serielle Reproduktion u. a. eine Geschichte (»Krieg der Geister«) aus einer weitgehend unbekannten Indianerkultur. Seine Frage war dabei einerseits, nach welchen Gesichtspunkten sich komplexe Geschichten mit nicht alltäglicher Metaphorik in der seriellen Reproduktion verändern würden. Eine weitere Frage war, ob sich der Inhalt dieser Reproduktion irgendwann hinreichend stabilisieren würde. Die Untersuchung lief so ab, dass ein Student die Geschichte zum Durchlesen erhielt und dann aufgefordert wurde, sie beiseite zu legen und sie in Gegenwart eines zweiten Studenten zu reproduzieren. Der zweite Student sollte nun in Anwesenheit eines dritten Studenten abermals diese ihm erzählte Geschichte reproduzieren, etc.
79 Von besonderen Zuständen wie Narkose oder gegebenenfalls tiefer Meditation abgesehen. 80 Wozu schon Luc Ciompi (1982, 1997, 2016) mit seiner »Affektlogik« Wichtiges vorgetragen hat – allerdings mit anderen Schwerpunkten.
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In der Tat veränderte sich die Geschichte bei jeder Reproduktion zunächst recht stark. Der Prozess der Reproduktion wurde dabei durch bestimmte Mechanismen beeinflusst, die im Folgenden kurz verdeutlicht werden: Mit »leveling« oder »flattening« kennzeichnete Bartlett das Phänomen, dass viele Details wie Eigenamen oder Titel vergessen werden. Er schrieb diesen Verlust von solchen Details im Gedächtnis der Tatsache zu, dass die Studenten wenig Erfahrung mit solchen Geschichten hatten: Da sie das Material nicht mit existierenden Schemata oder Konzepte assimilieren konnten, fehlten ihnen im wahrsten Sinne des Wortes »die Worte«.81 Mit »sharpening« benannte er den Vorgang, dass wenige Details behalten und dann übertrieben dargestellt werden. Offensichtlich war es für die Studenten wichtig, ein für sie typisches Strukturmerkmal zu behalten und ausgewählte Details hierauf anzuwenden. Ferner tendierten die Studenten dazu, entsprechend ihren Erwartungen einige Passagen kompakter, kohärenter und konsistenter zu reproduzieren. Bartlett nannte diesen Prozess »rationalization« und betonte, dass der jeweilige Untersuchungsteilnehmer aktiv Bedeutung herzustellen versucht – ein Versuch, der die Geschichte passend zu den eigenen Erwartungen (de)formiert. Bartlett wird heute als einer der Vorläufer der modernen kognitiven Psychologie gesehen82, der auf wichtige Aspekte in den kognitiven Prozessen des Menschen aufmerksam gemacht hat. Zum einen erfordert das Verständnis neuen Materials ein aktives Bemühen zur Herstellung von Bedeutung. Das Aufnehmen komplexen und neuen Materials bedeutet die Anpassung des Wahrzunehmenden an bereits existierende Strukturen (die Bartlett »Schemata« nannte). Das Ergebnis eines solchen Prozesses ist somit nicht so sehr reizdeterminiert, sondern Menschen verändern die Informationen und das Ergebnis hängt sowohl von dem Reizmaterial als auch von dem »Schema« ab, an welches das Material angepasst wird. Zum anderen erfordert der Akt der Erinnerung einen aktiven »process of construction«; während einer solchen Erinnerung werden existierende Schemata genutzt, um Details zu konstruieren, die zu diesem »Schema« passen. Obwohl Bartlett nicht zu den Gestaltpsychologen der Berliner Schule gehörte, entsprechen seine Vorgehensweise und Konzepte ganz dieser Wissenschaftsrichtung. Mit der Entkopplung einer starren Beziehung zwischen den »Reizen« aus 81 »Without some general setting or label as we have repeatedly seen, no material can be assimilated or remembered« (Bartlett, 1932, S. 172). 82 Nach jahrelanger Ignoranz seiner Arbeiten vor allem vonseiten behavioristisch orientierter Forscher, die heute gern Bartletts »Schema«-Konzept für sich reklamieren. Allerdings hat auch Piaget jahrzehntelang kaum erwähnt, wie sehr sich seine »Schema-Theorie« an die Arbeiten von Bartlett anlehnt.
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einer intersubjektiv-physikalisch beschriebenen Umgebung und dem Ergebnis solcher Wahrnehmungen stimmen sowohl Bartlett als auch die Gestaltpsychologen mit der zentralen Sichtweise der Biosemiotik überein – auch wenn der Zeichencharakter der Lebensvorgänge dort nicht so explizit betont wird. Die Herausarbeitung von stabilen Mustern bei kognitiven Prozessen gilt natürlich nicht nur für die Reproduktion von Geschichten. Besonders anschaulich ist die Prägnanztendenz mittels serieller Reproduktion im Bereich der visuellen Wahrnehmung, wie es in Abbildung 33 und 34 an einem Beispiel wiedergegeben ist: Ein komplexes Punktemuster (1. Muster links oben in Abbildung 34) wird einer Person gezeigt, die es sich merken und dann reproduzieren soll (2. Bild von links in der 1. Zeile). Dieses Bild wird nun einer weiteren Person gezeigt, die es sich ebenfalls merken und reproduzieren soll (3. Bild), etc. Das Schema dieser Vorgehensweise, die »serielle Reproduktion« genannt wird, ist in Abbildung 33 dargestellt. Dies entspricht dem, was wir schon mehrfach als eine zirkuläre bzw. iterative Dynamik kennengelernt haben. Man wird zu Recht einwenden, dass es sich ja bei jedem Zyklus jeweils um eine andere Person handelt. Doch umso beeindruckender ist, was geschieht – und wie grundsätzlich die kognitiven Prozesse der unterschiedlichen Personen in diesem Experiment soweit ähnlich ablaufen, dass trotzdem eine Ordnung entsteht (vgl. hier auch nochmals die »aufeinander einwirkenden nichttrivialen Maschinen« – Abbildung 13).
Abbildung 33: Schema der »seriellen Reproduktion« einer Punktekonfiguration als rückgekoppelte Dynamik
Bei diesem – in vielfacher Weise unzählige Male replizierten – Experiment zeigt sich, dass sich die reproduzierten Bilder in dieser seriellen Anordnung so lange ändern, bis das Ergebnis so einfach und prägnant ist, dass es perfekt reproduziert werden kann. Dabei ergibt sich natürlich in den Experimenten keineswegs immer aus dem Muster links oben das »Quadrat« rechts unten. Vielmehr entstehen auch andere prägnante Formen – beispielsweise eine Raute, ein Kreuz etc.
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Abbildung 34: Serielle Reproduktion eines komplexen Punktemusters bei zwanzig aufeinanderfolgenden Versuchspersonen (nach Stadler u. Kruse, 1990)
Das Faszinierende an diesem einfachen Experiment ist, dass hier auf eindrucksvolle Weise die Relevanz und Bedeutung solcher attrahierenden Prozesse deutlich wird: Denn ein ungeordnetes Punktemuster – wie zu Beginn – kann man sich weder selbst merken noch anderen Menschen irgendwie brauchbar weitervermitteln (außer zu sagen: »Es ist recht ungeordnet«). Das ist unbefriedigend, gegebenenfalls gar beunruhigend. Da der Mensch (und andere Lebewesen) »die Welt« aber ständig nach möglichen Regelmäßigkeiten und Ordnungen absucht, formen seine kognitiven Prozesse die nicht gut fassbare Komplexität der Unordnung ständig in Richtung auf vertraute Ordnung hin. Und kaum hat sich diese irgendwo eingeschlichen, »erkennt« das evolutionär auf Ordnung ausgelegte kognitive System solche Strukturen und verstärkt diese. Ist eine Ordnung erst einmal kognitiv entstanden, so lässt sie sich eben auch viel besser merken oder an andere vermitteln. Beim »Quadrat« rechts unten in Abbildung 34 kann man sich dann höchstens noch irren, ob es 4 × 4 oder 5 × 5 Punkte sind, oder ob diese eine Zeile höher oder tiefer im Feld liegen: Die entstandene »Gestalt« – nämlich ein Quadrat – ist für Menschen in unserer Kultur klar und schnell erkennbar. »Ordnung« bedeutet grundsätzlich die Reduktion von nicht gut fassbarer Komplexität auf »Gestalten«, die mit unserer Alltagserfahrung besser in Einklang stehen und in Alltagskategorien gut erfassbar und vermittelbar sind.
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Was als »Ordnung« empfunden wird, ist natürlich subjektiv – wenn auch durch gemeinsame evolutionäre Bedingungen sowie durch kulturell vermittelte Erfahrungen von intersubjektiv bedeutsamen Mustern im Raum der Möglichkeiten bereits eingeschränkt (was sicher für das »Quadrat« in unserer Kultur gilt, während Einfachheit und Symmetrie vermutlich überkulturell, d. h. evolutionär, bedeutsame Ordnungsaspekte sein dürften). Wenn eine Ordnung als nicht besonders prägnant oder als fremd empfunden wird, kann sie auch zerfallen und damit zugunsten prägnanterer Ordnung umarrangiert werden. Dies hat bereits Bartlett (1932) gezeigt (siehe Abbildung 35): Das Bild einer ägyptischen »Eule« links oben wurde von siebzehn Personen einer seriellen Reproduktion unterzogen. Wie man sieht, zerfällt die zwar klare – aber für viele wohl eher nicht sehr vertraute – Form rasch, lässt dann eigentlich recht viele Möglichkeiten wegen mangelhafter Strukturiertheit offen und attrahiert schließlich in den letzten acht Durchgängen zu dem recht stabilen Bild einer »Katze«.
Abbildung 35: Zerfall des eher unvertrauten Bildes einer ägyptischen »Eule« zugunsten eines »Katzen«-Bildes (nach Bartlett, 1932, S. 81 f.)
Das, was bei den Experimenten von Bartlett oder der Anwendung durch Stadler und Kruse (in Abbildung 34 und 35) vielleicht noch als »abgehobene« Experimente in der psychologischen Forschung erscheinen mag, berührt in Wirklichkeit in hohem Maße die Prozesse in unserer Alltagswelt – und das nicht nur bei Interaktionen zwischen Menschen, sondern mindestens ebenso bei innerpsychischen Prozessen. Daher wurden Bartletts »Veränderung von Geschich-
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ten« oder die »Ordnungsbildung in Bezug auf ein Punktemuster« bewusst als Beispiele für die psychische Prozessebene gewählt, obwohl ja beide durchaus zunächst auf der »kommunikativen Prozessebene« ablaufen, da die »Information« von Person zu Person weitergegeben wird. Das Entscheidende hierbei spielt sich allerdings auf der kognitiven Ebene ab (was auch schon Bartletts Kernbotschaft war): Dass die Reproduktion »über« viele Personen ablief, ist ein eher technisches Detail des Experiments, um diese kognitiven Prozesse beobachtbar und prüfbar zu machen. Wie man z. B. aus der Forschung zu Zeugenaussagen weiß, verändert und stabilisiert auch eine einzige Person die komplexe Information beim oftmaligen Nacherzählen – oder auch nur beim Erinnern selbst. Denn »Erinnern« heißt, dass immer wieder Information aus dem Langzeitgedächtnis ins Kurzzeitgedächtnis gerufen und wieder abgespeichert werden muss, wie in Abbildung 36 dargestellt.
(a)(b) Abbildung 36: »Klassisches Grundmodell« des Gedächtnisses (a) – »Erinnern« als iterativer Prozess (b) Abkürzungen: VSTM = Very Short Term Memory, AG = Arbeitsgedächtnis, LTM = Long Term Memory
Diese Abbildung geht zunächst (a) von dem »klassischen« strukturellen Modell der Informationsverarbeitung aus, wie es von Atkinson und Shiffrin (1968) sowie Murch und Woodworth (1978) entwickelt wurde83 und drei unterschied83 Obwohl dieses Modell schon alt und recht grob ist, ist es für den Auflösungsgrad unserer Diskurse in Bezug auf das Gedächtnis immer noch gut geeignet. Natürlich muss für spezifische Fragen des Gedächtnisses nicht nur das Langzeitgedächtnis in prozedurales und deklaratives (differenziert in semantisches und episodisches) Gedächtnis unterschieden werden (wobei auch die Forschung zum perzeptuellen Wissen berücksichtigt werden müsste). Sondern es kann auch bedeutsam sein, das Arbeitsgedächtnis nach dem Modell von Baddeley (2003) in einzelne funktionelle Komponenten (phonologische Schleife, räumlich visueller Notizblock, episodischer Puffer und zentrale Exekutive), oder nach Cowans (1997, 1999) »EmbeddedProcesses-Model« die sich überlappenden Prozesse und deren Integration mit dem Langzeit-
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lich getaktete Prozesse – sogenannte Gedächtnis-»Speicher« – vorsieht (für die es unterschiedliche Terminologien gibt): ȤȤ VSTM (Very Short Term Memory) bzw. sensorisches Gedächtnis oder Reizgedächtnis, das mit einer Dauer meist unter fünf Sekunden (typisch sogar unter einer Sekunde) sensorische »Information« der Prozesse in den Sinnesorganen »speichert«. ȤȤ AG (Arbeitsgedächtnis), auch STM (Short Term Memory), ist ein »Kurzzeitgedächtnis«, in dem die nicht aussortierte (»vergessene«/»selektierte«) Information aus dem VSTM sowie Information aus dem Langzeitgedächtnis aktuell bereitgestellt wird. Auch hier kann die Information nur kurz, nämlich circa zwanzig Sekunden, aufrechterhalten werden (und der inhaltliche Umfang ist typischerweise auf sieben plus/minus zwei »Elemente« begrenzt). ȤȤ LTM (Long Term Memory), das »Langzeitgedächtnis«, das mit sehr großer Kapazität Informationen sehr lange speichern kann. In dem Schema von Abbildung 36a – das wir noch um wesentliche Aspekte ergänzen werden (siehe Unterkapitel 4.4) – findet »Erinnern« als innerer zirkulärer Prozess zwischen AG und LTM statt (hervorgehoben durch Abbildung 36b). Dieser zirkuläre Prozess ist sowohl dann erforderlich, wenn man sich im Laufe der Zeit öfter an etwas erinnert, als auch – genauso typisch – wenn man deutlich länger als zwanzig Sekunden einen bestimmten Inhalt aktuell »präsent« halten will. Das AG muss dann quasi diesen Inhalt immer wieder im LTM zwischenspeichern. Wie alle zirkulären Prozesse hat dieser Kreislauf in der Regel ebenfalls eine attrahierende, stabilisierende Dynamik: Unwichtige Details werden rasch vergessen, andere »passend« gemacht und noch weitere gegebenenfalls (unbewusst) »erfunden«. Von vielen Forschungsbefunden zu diesem Phänomen zählt das »Lost in the mall«-Experiment von Elizabeth Loftus (1999) zu den bekanntesten. Dabei wurde erwachsenen Personen ein kurzer Bericht darüber gegeben, dass sie sich gedächtnis ins Zentrum zu stellen (zu Details siehe z. B. Gruber, 2017). Allerdings werden im Rahmen unserer Darstellung keine entsprechend spezifischen Fragen zu Gedächtnisprozessen gestellt bzw. wir differenzieren diese Modelle hinsichtlich anderer Fragen (vgl. Unterkapitel 2.4) nicht entsprechend. Bemerkenswerterweise halte ich dieses sogenannte »strukturelle« bzw. »modale« Modell in Abbildung 36 im Hinblick auf eine biosemiotische Sichtweise für geeigneter als sogenannte »prozeduralistische« Ansätze, die vermeintlich die Prozesse innerhalb der Systeme ins Zentrum stellen wollen. Bereits die erste Phase, die als »Encodierung« bezeichnet wird, vermittelt zu stark das Bild, dass eine »Information« »da draußen, in der Umgebung des Organismus« von den Sinnesorganen encodiert wird – was dem Verständnis einer Bedeutungserteilung durch den Organismus wenig entspricht.
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als Kind im Alter von fünf bis sechs Jahren in einem Einkaufszentrum verirrt hätten und dann von einem Erwachsenen gerettet worden wären. Angeblich stammte diese Information von einem Verwandten – war aber in Wirklichkeit von Loftus frei erfunden. Gleichwohl »erinnerte« sich ein Teil der Personen lebhaft an dieses Ereignis und steuerte viele Details zu den »Geschehnissen« bei. Solche Befunde sind vielfach repliziert worden.84 Sie belegen eigentlich nur, was schon Bartlett 1932 hervorhob: die dynamische Adaptation von Sinnattraktoren des Gedächtnisses an die Gesamtgestalt der erzählbaren Lebenswelt. Loftus und andere haben allerdings mit ihrem Ansatz das Ergebnis solcher konstruktiven »Erinnerungen« im Sinne der Komplettierungsdynamik erfassen können. Um auch den Prozess näher zu untersuchen, ohne – wie im BartlettDesign typisch – die Erinnerungen als Reproduktionen über mehrere Personen laufen zu lassen, wurde u. a. folgende Versuchsanordnung gewählt: Untersuchung zu den Sinnattraktoren
Untersuchungsteilnehmer (UT) wurden gebeten, die Beschreibung einer fiktiven Person durchzulesen. Diese Beschreibung bestand aus 72 kurzen Sätzen, in denen jeweils eine Eigenschaft benannt war – z. B.: »Diese Person ist sehr freundlich«, »Sie ist ein wenig unbegabt« etc. Anschließend (nach fünf Minuten mit mittelschweren Kopfrechenaufgaben) sollten die UT in einer Liste mit 72 Eigenschaftspaaren (»freundlich-unfreundlich«, »begabt-unbegabt« etc.) diese fiktive Person einordnen (mit einer 8-Punkte-Abstufung von »gar nicht« bis »überaus«). Es waren dieselben Eigenschaften wie in der Beschreibung, allerdings in anderer Reihenfolge. Rein theoretisch hätte sich also ein UT einfach nur erinnern müssen. Allerdings steht einer perfekten Reproduktion natürlich entgegen, dass die Information aus 72 Eigenschaften bereits zu komplex ist, als dass man sich alles merken könnte. So kreuzten sie die polaren Eigenschaften in der Liste so an, wie sie dies behalten hatten. Während die UT danach erneut Rechenaufgaben lösen mussten, wurde ihr Antwortprofil von einem Computer in neue verbale Aussagen übersetzt – allerdings die Reihenfolge wieder verändert. Es ergab sich also für jeden UT eine Beschreibung der fiktiven Person, so wie sie der UT selbst erinnert hatte (was aber nicht explizit mitgeteilt wurde). Diese wurden dem UT erneut zum Lesen gegeben und sollte (nach Kopfrechnen) anhand der Liste mit den polaren Eigenschaften wieder »erinnert« werden. Daraus erstellte der Computer 84 Besonders im Kontext der Erinnerung von traumatisierenden Erfahrungen (z. B. Missbrauch) und entsprechenden Gerichtsprozessen mit Zeugenaussagen sind diese Befunde verständlicherweise heftig diskutiert worden. Diese Details berühren aber die allgemeine Aussage oben nicht. Zusammenfassungen in Volbert (2004) und McNally (2005).
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erneut eine Beschreibung und der nächste Durchgang konnte beginnen. Insgesamt wurde dieses Experiment pro UT mit zehn Zyklen durchgeführt (Dauer jeweils circa 2,5 Stunden). Abbildung 37 zeigt die Ergebnisse für einen typischen UT – dies entspricht 25 der 30 untersuchten Personen: Auf der Y-Achse ist das Ausmaß der mittleren Veränderung von einem Zyklus zum nächsten angegeben: Bei perfekter Reproduktion wäre dies der Wert 0. Die maximale Änderung kann für einzelne Eigenschaften 8 betragen (von −4 nach +4), da aber natürlich nicht alle Eigenschaften extreme Werte annehmen, liegt eine maximal mögliche Änderung etwa bei 6. Tatsächlich aber zeigt sich (durchgezogene Linie in Abbildung 37), dass am Anfang relativ große Änderungen zu finden sind, die Antwortmuster dann zunehmend stabiler werden und schon nach 8–10 Zyklen in der Nähe von 0 liegen. Es entsteht also im Verlauf der Zyklen ein recht stabiles »Bild« über die fiktive Person, an das sich der UT gut erinnern kann – es sind also kaum noch Abweichungen von der vorhergehenden »Beschreibung« zu finden.
Abbildung 37: Mittlere Profiländerung in der Beschreibung eines (typischen) Untersuchungsteilnehmers (Kriz u. Kriz, 1992) Erläuterung: Durchgezogene Linie: Änderung zum jeweils vorhergehenden Zyklus Gepunktete Linie: Änderung zur anfänglichen Beschreibung
Allerdings ist dieses stabile Bild schlicht eine Konstruktion der »Erinnerung«, die nur wenig mit der »Realität« – d. h. der »wahren«, vorgegebenen, Personenbeschreibung – zu tun hat: Die gepunktete Linie in Abbildung 37 zeigt nämlich die mittleren Abweichungen der Beurteilungen gegenüber der anfänglichen Beschreibung. Man sieht: Die Unähnlichkeit könnte kaum größer sein.85 Das 85 Allerdings zeigen fünf der dreißig UT keine attrahierenden Persönlichkeitsbeschreibungen über die zehn Durchgänge. Diese Menschen hatten also eine »weichere« und »fluktuierendere« Verarbeitung von Information als die anderen 25 UT.
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bedeutet: Mit zunehmenden Durchgängen wurden die untersuchten Menschen zwar immer sicherer und konsistenter in ihrem Bild über die fiktive Person. Nur leider hat dieses Bild wenig mit der Vorgabe zu tun – also eigentlich der einzig verfügbaren Information, wie die fiktive Person »wirklich« ist. Dies ist umso bedenklicher, als wir im Alltag ja keine »Vorgaben« haben, zu denen man eine Abweichung unserer inneren Bilder feststellen könnte. Die endgültigen »Bilder« variierten übrigens zwischen den Personen sehr stark. Das weist darauf hin, dass die individuellen Lebensgeschichten für die Sinnattraktoren offenbar wichtiger sind als soziale Stereotype.86 Wie bereits mehrfach betont, dienen Sinnattraktoren ja dazu, die »Welt« überschaubarer und konsistenter zu machen. Auch dies wurde in den Untersuchungen gezeigt: In einer Serie von Experimenten gab es insgesamt drei unterschiedliche Anfangsprofile, die in dem Ausmaß differierten, wie konsistent die Attribute der Anfangsbeschreibung waren. So war es z. B. eher inkonsistent, dass eine Person zunächst als »sehr freundlich« und dann als »wenig zuvorkommend« bezeichnet wird. Abbildung 38 zeigt die Ergebnisse für die drei Gruppen, wobei Gruppe 1 eine sehr konsistente, Gruppe 2 eine mittelkonsistente und Gruppe 3 eine wenig konsistente Beschreibung erhielt.
Abbildung 38: Mittlere Profiländerung in der Beschreibung von drei Versuchsgruppen (VG) (Kriz u. Kriz, 1992) Erläuterung: VG 1 erhielt eine konsistente, VG 2 eine mittelkonsistente und VG 3 eine sehr wenig konsistente Beschreibung (Linien wie in Abbildung 37)
86 Die Attraktoren unterschieden sich auch stark zwischen jenen Versuchspersonen, die mit demselben Profil begonnen hatten: Dies belegt, dass nicht das Material selbst die Endstruktur bestimmte – dass etwa einzelne Attribute allgemein prägnanter oder leichter zu merken gewesen wären oder dass bestimme allgemeine Wechselwirkungen zwischen den Wörtern – sogenannte »Halo-Effekte« – eine entscheidende Rolle gespielt hätten. Es gab auch keine Korrelation zwischen einem durchgeführten Merkfähigkeitstest und der Schnelligkeit, mit der die serielle Reproduktion stabil wurde (Kriz u. Kriz, 1992).
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Es ergibt sich, dass der attrahierende Prozess auf eine stabile Personenbeschreibung hin umso schneller und radikaler (d. h. von der vorgegebenen Realität sich entfernend) vor sich ging, je uneinheitlicher und widersprüchlicher die Personenbeschreibungen am Anfang waren: Je uneinheitlicher und widersprüchlicher die »Ausgangslage« also ist, desto eher sind Menschen geneigt, schnell für sich einfache, stabile und konsistente »Bilder« zu schaffen (wenn auch auf Kosten der »objektiven« Realität). 4.2.2 Überstabilität, Ordnungs-Ordnungs-Übergänge und Hysterese bei Sinnattraktoren Es wurde schon an vielen Stellen betont, dass das systemische Prinzip des Attraktors eine dynamische Stabilität des Systems meint, die sogar kleinere Störungen selbstorganisiert wieder ausgleicht. Die weitere Dynamik des Systems wird eben immer wieder und immer weiter in die Struktur des Attraktors »hineingezogen«. Im »Guten« könnte man von »Selbstheilungskräften« sprechen. Allerdings gilt dies ja leider auch für Prozessstrukturen, welche keineswegs als »gut« erachtet werden, sondern als »Symptome« oder »Probleme« wünschenswerterweise verändert werden sollen. Hier erweist sich ein Attraktor zunächst als »überstabil« – wie ebenfalls vielfach erwähnt wurde (man denke an den Attraktor: »Julian hat eine Verhaltensstörung« in Abbildung 19 oder den Attraktor der beiden Bootsfahrer in Abbildung 6 bzw. der Mutter-TochterDynamik in Abbildung 7). Hat sich in der oben angeführten seriellen Reproduktion erst einmal aus einem ungeordneten Punktemuster das »Quadrat« als Attraktor entwickelt, so dürfte dieses für die weiteren Reproduktionen weitgehend konstant bleiben – selbst wenn jemand in einer Zeile einen oder zwei Punkte hinzufügt. Dabei hätte es mit etwas Zufall statt des »Quadrats« auch eine »Raute« oder ein »Kreuz« etc. werden können. Doch nun ist der Attraktor »Quadrat« nicht mehr so leicht zu ändern. Was da vor sich geht, kann man sehr schön in Abbildung 39 sehen, die eine Folge von Bildern zeigt. Beginnt man mit der Betrachtung des Bildes links, so »sieht« man einen (etwas merkwürdigen) Männerkopf. Das nächste daneben ebenso etc. – vermutlich bis zum fünften Bild von links. Dann »erkennt« man eine »kniende Frau«. Beginnt man nun aber ganz rechts, mit der »knienden Frau« so ist nicht nur das Bild links daneben eine leichte Abwandlung dieser Frau, sondern noch weitere drei bis vier Bilder – erst dann ist man geneigt, ein »Männergesicht« zu sehen.
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Abbildung 39: Männergesicht oder kniende Frau? (nach Fisher, 1967)
Trägt man die beiden Attraktoren »Männergesicht« und »kniende Frau« auf der y-Achse eines Koordinatenkreuzes ein, so lässt sich der Vorgang in dem Schema der Abbildung 40 darstellen.
Abbildung 40: Hysterese gemäß Abbildung 39 Erläuterung: Von links nach rechts bleibt das Gesehene zunächst ein »Männergesicht« und ändert sich erst bei einem Bild weit rechts zur »knienden Frau«; umgekehrt – von rechts nach links – ist die Wahrnehmung »knienden Frau« überstabil. Was »sieht« man bei »X«?
Wichtig ist zu beachten, dass es im Mittelbereich keine eindeutige Zuordnung zwischen »objektivem Bild« und »subjektiver Wahrnehmung« gibt: Dort, wo beispielsweise das »X« eingezeichnet ist, würde man ein »Männergesicht« sehen, wenn man von links kommt, eine »knienden Frau«, wenn man von rechts kommt. Ein solches Phänomen nennt man »Hysterese«.87 Dies klingt ein wenig experimentell-künstlich bis technisch. Hysterese – und damit die Überstabilität von Sinnattraktoren – ist aber ein typisches Phänomen unserer Alltagswelt:
87 Hysterese tritt bei vielen kybernetischen Systemen auf – der Zustand der Systemgröße ist eben nicht vom »Input« determiniert, sondern hängt mit von der bisherigen Geschichte des Systems ab.
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Beispiel Wenn in einer Freundschaft alles »in Ordnung ist«, wird man vieles, was der Freund sagt, tut oder was man sonst wie von ihm erfährt, auf den Sinnattraktor V (Vertrauen) – »Ich kann ihm vertrauen, er sagt mir die Wahrheit und hintergeht mich nicht« – reduzieren (wobei es auch viele andere Inhalte geben wird, die mit dieser Frage gar nichts zu tun haben). Wahrscheinlich wird es auch einiges im Verhalten des Freundes geben, bei dem man sich vielleicht wundert und kurz ein wenig verstört ist. Oder man hört so das eine und andere, das nicht voll zum »inneren Bild« passt. Aber das wird man schnell vergessen oder anders interpretieren (»Das hat er sicher irgendwie anders gemeint«). Wird diese Störung allerdings zu groß (gibt es beispielsweise zu viele oder zu gravierende oder unwiderlegbare Anzeichen, dass man belogen und hintergangen wird), so kann dieses Bild kippen in den Sinnattraktor M (Misstrauen): »Er belügt und hintergeht mich«. Interessanterweise werden nun nicht nur neue Handlungen in diesem Lichte interpretiert, sondern auch der Prozess der Erinnerung wird davon mitgeformt: Man wird sich plötzlich an Anzeichen erinnern, wo man eigentlich »längst hätte misstrauisch werden« müssen, wo eigentlich »längst klar war«, dass das nicht stimmen kann. »Wie konnte ich nur so blind oder blöd sein!«, sagt man sich dann häufig. Aber es war eben weder Blindheit noch Blödheit, sondern die Kraft von Attraktor V, welche der Vieldeutigkeit fast aller Worte, Handlungen, Informationen damals jene Bedeutung gab, während nun, unter Attraktor M, alles ganz anders aussieht. Und natürlich hat nun auch M seine Überstabilität: Ist man erst mal misstrauisch geworden, so reichen nicht einfach ein paar »Vertrauensbeweise«, über die man im Zustand V entzückt gewesen wäre. Nein, nun regiert der Einfluss von M, was die »Vertrauensbeweise« gegebenenfalls als »besonders raffinierte Manöver« erscheinen lässt, einen wieder hereinzulegen und zu hintergehen. In Abbildung 39 müsste man somit nur das »Männergesicht« durch »Vertrauen« und dass die »kniende Frau« durch »Misstrauen« ersetzen, um die Überstabilität bzw. Hysterese der beiden Sinnattraktoren in dieser kleinen Geschichte darzustellen.
Diese Überstabilität von Sinnattraktoren und der Hysterese-Effekt bei zwei eher gegensätzlichen Sinnattraktoren zur »Erklärung der Welt« (oder zumindest: zum »Verständnis« der Beziehung zu einer anderen Person, zu einer Gruppe, zu einer politischen Partei etc.) ist wohl jedem aus unzähligen Alltagssituationen bekannt. Gleichwohl auch hierzu eine etwas präzisere Untersuchung:
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Untersuchung zur Hysterese zweier gegensätzlicher Sinnattraktoren88
Den Untersuchungsteilnehmern (UT) wurde Satz für Satz eine Geschichte erzählt. Im ersten Satz erfährt man, dass die Polizei zu einem Tatort gerufen wird, wo sie nur noch den Tod eines Mannes feststellen kann, der von seiner Frau mit einer Weinflasche erschlagen wurde. Die folgenden Sätze enthalten Aussagen, die der Polizei zu Protokoll gegeben worden sein sollen und angeblich von Verwandten, Bekannten, Freunden, Arbeitskollegen etc. der Frau stammen. Diese weisen entweder eher darauf hin, dass die Frau in einer psychischen Ausnahmesituation unter starkem Affekt gehandelt hat (»mad«-Statements) oder aber geplant einen Mord beging (»bad«-Statements). Die spezifische Sequenz dieser Aussagen wurde vom Computer gesteuert und nach jeder Aussage eine Reihe von Beurteilungen erhoben. Insbesondere ging es darum, ob der Untersuchungsteilnehmer die Frau eher als »mad« einstuft (sie also eher in eine Psychiatrie einweisen lassen würde) oder aber als »bad« (sie also mit Gefängnis zu bestrafen sei). Je nach Beruf (u. a. Juristen versus Therapeuten), Vorerfahrung und Reihenfolge der Aussagen ergeben sich starke Unterschiede in der Gesamtbeurteilung (trotz insgesamt gleicher Statements: 1 × neutral, je 10 × »bad« und 10 × »mad«). Abbildung 40 zeigt links einen UT, der zunächst »mad«-Sätze erhielt und die Frau eher in die Psychiatrie einweisen lassen wollte (Werte kleiner als 50), dann aber durch die »bad«-Sätze seine Sicht ändert und die Frau eher mit Gefängnis bestrafen will (Werte größer als 50). Von neuen »mad«-Sätzen wird er nur wenig verunsichert und am Ende würde er die Frau klar ins Gefängnis schicken. Der UT auf der rechten Seite bekam erst einige »bad«-Sätze, änderte dann aber ebenfalls seine Sicht durch die »mad«-Sätze und landet am Ende recht deutlich bei einer Einweisungsempfehlung in die Psychiatrie. Bei beiden zeigt sich etwas auch im Alltag Typisches: Wenn man schon einmal seine Meinung oder Sichtweise geändert hat, bleibt man noch stärker – bzw. überstabiler – dabei als bei der ursprünglichen Meinung. Das scheint nicht nur daran zu liegen, dass »wankelmütig« in unserer Kultur negativ konnotiert ist, sondern vor allem auch daran, dass ein mehrmaliger Wechsel der Meinung für das kognitive System anstrengend ist.
88 Die Untersuchung wurde von Markus Pohl (1998) durchgeführt.
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Abbildung 41: Beurteilung einer »Frau, die ihren Mann erschlug« durch zwei Untersuchungsteilnehmer in Abhängigkeit von der Reihenfolge gegebener Informationen (nach Pohl, 1998) Erläuterung: »mad«= Statements, die auf »psychisch krank« hindeuten; »bad«= Statements, die auf »kriminell« hindeuten Je mehr die Werte gegen 0 tendieren, desto sicherer ist der UT, dass die Frau psychsisch krank ist, je mehr die Werte gegen 100 gehen, desto sicherer ist der UT, dass die Frau kriminell ist.
Die hier skizzierten Probleme, nämlich unter Unsicherheit und nur mit Teilinformation Entscheidungen treffen zu müssen und dabei dann hinreichend konsistente und plausible Konstruktionen der Realität zu erzeugen, begegnen uns alltäglich. Die »mad«-»bad«-Problematik lässt sich leicht auf Situationen übertragen, in denen entschieden werden muss, ob ein leistungsschwacher Schüler »faul« oder »dumm« ist, ob ein Kollege, der einen Schaden verursacht hat, »böswillig« oder »leichtsinnig« war, etc. 4.2.3 Wie Sinnattraktoren Vieldeutigkeit reduzieren In den oben berichteten experimentellen Untersuchungen zu der Bildung bzw. Hysterese von Sinnattraktoren dienen diese ja dazu, den Raum an möglichen Deutungen zu reduzieren. Hierzu sei zunächst noch ein weiteres Experiment aus diesem Kontext kurz berichtet (weitere und ausführlicher in Kriz, 2001b, 2004b): Beispiel In einem Experiment (Kriz, Kessler u. Runde, 1992) wurden Untersuchungsteilnehmern (UT) zehn Aussagen über die Persönlichkeit einer fiktiven Person »Herr K. aus S.« vorgelegt. Jede der Aussagen entstammte einer der zehn Dimensionen eines Persönlichkeitstests. Daraufhin wurden jedem UT weitere zweihundert Aussagen dieses Tests vorgelegt. Bei jeder Aussage sollte der UT einfach raten, ob »Herr K.« dieser Aussage über sich zustimmen oder sie ablehnen würde, und angeben, wie sicher er sich in seinem Urteil sei.
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Eigentlich können die UT in einer solchen Lage wirklich nur raten, denn die gegebene Information ist mehr als dürftig. Gleichwohl ist selbst Raten ein kognitiver Prozess, bei dem man sich irgendwie »Herrn K.« vorstellen muss. Es stand also zu erwarten, dass sich attrahierende Dynamiken ausbilden würden, d. h. dass in Bezug auf »Herrn K.« plötzlich ein klares »Bild« entsteht. Bemerkenswert ist, dass alle untersuchten »normalen« UT auf einigen Dimensionen attrahierten, auf anderen nicht. Eine genauere Analyse aller Ergebnisse ergab, dass zwischen den UT große Unterschiede hinsichtlich der Wahl der attrahierenden Dimensionen bestehen: Dies bedeutet, dass diese »Bilder« eher aufgrund persönlicher Lebensgeschichten als aufgrund allgemeiner sozialer Stereotype gebildet werden. Im Gegensatz zu den nicht klinischen Ergebnissen zeigte sich bei als »schizophren« diagnostizierten Menschen (F 20.-, ICD 10 – jenseits einer akuten Periode), dass sie keine klaren bzw. stabilen »Bilder« der Eigenschaften von »Herrn K.« konstruierten. Vielmehr waren bei allen UT dieser Gruppe auf allen Skalen nur Zufallsschwankungen zu finden. Daraus kann allerdings nicht geschlossen werden, dass die Personen der klinischen Gruppe keine Konzepte über Herrn K. bilden. Nach ihren Vorstellungen über Herrn K. am Ende im freien Interview befragt, gaben sie Antworten wie z. B. (sinngemäß): »Ja, ich kann mir den sehr gut vorstellen – ein fieser Typ, der einen roten Sportwagen fährt und seine Frau prügelt!« Diese Menschen entwickelten somit ebenfalls »Bilder« (deren Stabilität über die Zeit leider nicht untersucht werden konnte). Diese Bilder lassen sich aber nicht in die Kategorienschemata der sogenannten »Normalen« einordnen – d. h., eine Kommunikation über Herrn K. zwischen Mitgliedern der nicht klinischen und der klinischen Gruppe hätte schon allein aus diesem Grund etwas von jenen bizarren Formen, die uns aus der klinischen Literatur so vertraut sind.89
Komplexität und Vieldeutigkeit wird in diesem Experiment durch Attraktoren reduziert, welche den »üblichen« diagnostischen Beschreibungskategorien der »psychischen Welt« entsprechen (was den als schizophren diagnostizierten Patienten allerdings nicht gelingt). Die Wichtigkeit und Wirksamkeit kognitiver Bottom-up- und Top-down-Prozesse für unser alltägliches »Verstehen« der üblicherweise komplexen Situationen lässt sich recht eindrücklich zeigen, wenn man ein altes Experiment im Lichte der dargestellten systemtheoretischen Prinzipien interpretiert: 89 Es ist im Rahmen dieses Buches nicht möglich, zu diskutieren, wie weit diese eher »gegenständliche« Kategorisierung von »Herrn K.« mit dem Zerfall symbolischer Formen korrespondiert, wie dies von Ernst Cassirer entwickelt und von Forschern wie Goldstein, Binswanger, Bühler und anderen ins Zentrum psychopathologischer Konzepte gerückt wurde (vgl. Andersch, 2011).
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In einem klassischen gestaltpsychologischen Experiment von Samuel Asch (1946), das oft repliziert wurde, las man Schülern als Beschreibung einer Person langsam nacheinander sechs typische Eigenschaften vor. Dabei wurde der einen Gruppe die Eigenschaftsliste: »intelligent – eifrig – impulsiv – kritisch – eigensinnig – neidisch« präsentiert. Eine andere Gruppe erhielt dieselbe Liste, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, also: »neidisch – eigensinnig – kritisch – impulsiv – eifrig – intelligent«. Es zeigte sich, dass die erste Gruppe von der beschriebenen Person anschließend einen deutlich positiven Eindruck hatte, während die zweite Gruppe die Person deutlich negativ beurteilte. Dieser Befund wird in der Literatur oft als »Primacy-Effekt« zitiert, weil die ersten Eindrücke offensichtlich mehr zum Gesamtbild beitragen. Im Licht von Sinnattraktoren mit ihrer zirkulären Kausalität bzw. der Komplettierungsdynamik lassen sich die kognitiven Prozesse in Übereinstimmung z. B. mit Abbildung 20 oder 21 auch wie in Abbildung 42 verstehen (wobei die Pfeilrichtungen natürlich nur mögliche Hauptrichtungen der Wirkungen darstellen): Die zuerst gehörte Eigenschaft (»intelligent« bzw. »neidisch«) ruft bottom-up eine noch diffuse Vorstellung der zu beurteilenden Person auf. Diese Eigenschaft geht in ihrer konnotativen Bedeutung weit über die »reine Eigenschaft« (so wie man das Wort in einem Wörterbuch beschrieben findet) hinaus. Dabei spielen bisherige Erfahrungen mit diesem Begriff eine Rolle – es ist aber wohl in unserer Kultur recht einhellig so, dass »intelligent« eher positiv und »neidisch« eher negativ bewertet wird. Diese Vorstellung aber beeinflusst nun topdown das Verständnis der folgenden Eigenschaften. Denn diese sind – wie die meisten Wörter und Situationen, denen wir im Alltag begegnen – vieldeutig (polysemantisch). So hat beispielsweise der Begriff »kritisch« eher eine positive Konnotation, wenn man ihn auf einen intelligenten und eifrigen Studenten bezieht; in Bezug auf einen neidischen und eigensinnigen Studenten versteht man »kritisch« eher negativ.
Abbildung 42: Aschs Experiment als Sinnattraktor und Komplettierungsdynamik in einem kognitiven Feld (links zur Erinnerung das Grundschema nach Abbildung 20)
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Dieser Prozess ist gleichzeitig ein typisches Beispiel für eine »Komplettierungsdynamik« beim Verstehen: Erste Elemente lassen Bedeutungsstrukturen entstehen (und rufen dazu bereits Bedeutungen aus dem Gedächtnis auf), die dann in der weiteren Dynamik das Verstehen – nämlich die genaue konnotative Bedeutung der weiteren Worte – beeinflussen und so zu einer Gesamtgestalt komplettieren. Dies ist auch beim »Hören« einer Melodie auf der Basis weniger Töne nicht viel anders, wie oben erläutert. Symbole in Form von Wörtern sind allerdings in ihrer möglichen Bedeutung meist reichhaltiger. Entsprechend seiner gestaltpsychologischen Orientierung betonte bereits Asch, dass der Gesamteindruck einer Situation oder einer fremden Person nicht nur eine Sammlung verschiedener einzelner Informationen ist, sondern dass diese Informationen in einem Kontext gesehen werden und somit ein organisiertes Ganzes ergeben. Seine Arbeit beginnt mit der Feststellung: »Wir schauen einen Menschen an, und sofort bildet sich in uns ein bestimmter Eindruck über seinen Charakter« (Asch, 1946, S. 258; eigene Übers.). Dies entspricht genau dem, was systemtheoretisch mit der Komplettierungsdynamik in solchen Situationen gemeint ist. Solche Selektions- und Interpretationsprozesse zur dynamischen Etablierung und Stabilisierung kognitiver Ordnung laufen aber natürlich nicht nur ab, wenn neue Information – quasi »von außen« – vorgegeben wird. Sondern diese Ordnungsdynamiken spielen ebenso eine Rolle, wenn auf bereits im Gedächtnis vorliegendes Wissen – quasi »von innen« – zugegriffen wird. Wobei üblicherweise beide Teilprozesse zusammenspielen. Dies ist gerade in der klinischen Psychologie und Psychotherapie bedeutsam: Denn für alle Menschen ist die Reduktion komplex-chaotischer Reizströme mit ihrer unfassbaren Polysemantik zu einer sinnvollen Struktur ihrer Lebenswelt essenziell. Aber bei vielen Menschen, die uns um professionelle Hilfe aufsuchen, sind die Sinnattraktoren in bestimmten Bereichen aus dem Toleranzspektrum der Normalität »verrückt«. Diese Menschen beobachten dann an sich selbst (oder werden von anderen darauf aufmerksam gemacht), dass sie typischerweise in manchen Situationen die gegebene Polysemantik »befremdlich« reduzieren. Sie verstehen die »Welt« entsprechend ihren (weitgehend unbewusst ablaufenden) Strukturierungsprinzipien anders als die »Normalen« oder teilweise gar nicht. Oder sie reagieren in manchen Situationen in einer Weise, die nicht nur völlig unangemessen erscheint, sondern auch für sie selbst leidvoll (parthisch) ist. Gegebenenfalls bemerken sie das auch erst durch die Reaktion der anderen Mitmenschen. Sowohl angemessene wie »verrückte« Strukturierungsprinzipien, welche die dynamische Basis der Realität von uns Menschen darstellen, sind – auf der Basis evolutionär präformierter Möglichkeiten (vgl. Kapitel 2) – in besonders
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bedeutendem Ausmaß in früher Kindheit entstanden. Denn in dieser Lebensphase muss ja das »Chaos der Welt« erst einmal geordnet werden. Und dafür ist die Entwicklung grundlegender Strukturierungsprinzipien (sowie die Ausdifferenzierung oder Parametrisierung90 erworbener Strukturen) entsprechend den spezifischen Bedingungen dieser Welt notwendig. Dies allerdings natürlich im Rahmen der angeborenen Möglichkeiten, solche Strukturen überhaupt bilden zu können. Konzepte wie »Bindung« (Bowlby, 1988) oder »Grammatik« (Chomsky, 1968) sind beispielsweise Hinweise darauf, dass es in der Herausbildung von Strukturierungsprinzipien – als »Working Model« oder als »Sprachkompetenz« – noch viel Forschung zu leisten gilt. Es ist sehr plausibel, dass von solchen »verrückten« Strukturierungsprinzipien gerade die engere Umgebung dieses Menschen (Partner, Familienangehörige, Freunde etc.) nicht unbeeinflusst bleiben kann. Allerdings würden wir mit einer solchen Aussage, wenn wir sie für die »ganze Wahrheit« hielten, dem Sinnattraktor auf einer Prozessebene die ganze Macht über das Geschehen zuschreiben – d. h. einem einzelnen Familienmitglied die Macht über die interpersonellen Handlungs- und Verstehensstrukturen der ganzen Familie. Doch der vorangegangene Abschnitt zeigt die Einflüsse der interpersonellen Attraktoren auf die kognitiven Prozesse des Einzelnen. Ob also der Mensch mit seinen »verrückten Strukturierungsprinzipien« z. B. die Partnerschaft beeinflusst (die vielleicht auch als »schräg« zu beurteilen wäre) oder aber die Partnerschaft die »verrückten Strukturierungsprinzipien«, das ist eine Frage der Perspektive. Sicherlich wirkt beides zusammen. Allerdings muss man nicht sehr viel weiter denken, um sich klar zu machen, dass auch die somatische Prozessebene nicht außer Acht gelassen werden darf. 90 Parametrisierung meint, dass allgemeine »Programme« aus der evolutionären Entwicklung mit bestimmen »Werten« für flexible »Leerstellen« an die spezifischen Gegebenheiten angepasst werden. Typisches Beispiel ist der Erwerb der Grammatik einer Sprache: Diese wird, nach Chomsky (1968), weder über Versuch und Irrtum gelernt (wie Skinner noch vor sechzig Jahren vermutete), noch »reift« diese einfach (wie das Laufen). Vielmehr ist die Fähigkeit angeboren (d. h. evolutionär erworben), jeden Sprachstrom auf der Erde in bestimmte Bestandteile (Phoneme) zu zerlegen und daraus die Grammatik der Sprache der unmittelbaren Umgebung als »Parametrisierung« zu lernen: Die Grammatiken unterscheiden sich gegebenenfalls sehr stark – z. B. Deutsch, Türkisch, Chinesisch etc. Gleichwohl haben sie etwas Abstrakt-Universelles, sodass der Erwerb der Grammatik darin besteht, dass die entsprechenden Parameter dieser Sprache gesetzt werden. Diese Fähigkeit geht übrigens nach einigen Jahren verloren – sodass Jugendliche oder Erwachsene später eine neue Sprache nach ganz anderen Prinzipien lernen müssen. Entsprechend eine biosemiotischen Sicht lässt sich freilich fragen, ob nicht auch andere Zeichenprozesse nach den Prinzipien der Parametrisierung angeeignet werden – bzw. warum die Grammatik eine solche Ausnahme sein soll.
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Besonders das körperliche Geschehen, das wir in Form von Affekten, Gefühlen und Stimmungen spüren, ist eng mit der Dynamik der Sinnattraktoren verwoben (siehe Unterkapitel 4.4). Ebenso haben, trotz aller Bedeutsamkeit der Selbstorganisation, weder die einzelnen Personen noch ihre Familien, Gruppen, Teams etc. sich alle Bedeutung von Wörtern, Gegenständen, Werkzeugen etc. selbst ausgedacht. Also spielt – gerade unter einer Betonung von Leben als biosemiotischer Zeichenprozesse – die Kultur eine ebenfalls zentrale Rolle. Denn Kultur ist der große, unerschöpfliche, über Generationen wirkende Tiegel, aus dem heraus ständig neue Symbole zum Verständnis »der Welt« einerseits kreiert und andererseits gleichzeitig mögliche Bedeutungsräume immer wieder eingeschränkt werden.91 Dies soll zunächst näher untersucht werden.
4.3 Die gesellschaftlich-kulturelle Prozessebene 4.3.1 Sinnattraktoren in der Kultur Aus biosemiotischer Sicht ist der menschliche Organismus als Subjekt über seine Rezeptoren (im Wesentlichen Sinnesorgane) und Effektoren (im Wesentlichen Gliedmaßen) in seine individuelle Lebenswelt eingebettet: Seine Merkwelt und seine Wirkwelt unterscheidet sich von anderen Menschen – und erst recht von Fischen, Vögeln, Spinnen oder Fledermäusen. Auch wenn sich vom beschreibenden Beobachter einiges an Gemeinsamkeiten zwischen Menschen aussagen lässt – was sich aufgrund hoher gleicher biologischer Ausstattung und gemeinsamer Evolution nicht nur als Hypothese formulieren lässt, sondern deren Bewährung lässt sich empirisch prüfen. Analog gilt dies in Bezug auf die Unterschiede zu den genannten Spezies. Wir teilen gemeinsam die Umgebung, doch die Umwelten sind unterschiedlich. Diese grundlegende Position auch der Personzentrierten Systemtheorie legen wir beispielsweise mit der Betonung auf »afferente«, »efferente« und »selbstreferente« Kommunikation zugrunde (siehe Abschnitt 4.1.1). Wobei allerdings, wie betont, die selbstreferente Kommunikation beim Menschen aufgrund der hohen Komplexität der Symbolwelten die tierische »Gegenwelt« nicht nur weit überschreitet, sondern an die Intersubjektivität der Gesellschaft gebunden ist: Denn diese ist die Symbole erzeugende Umgebung. Dass die je subjektiven Umwelten in der gemeinsamen Umgebung hinreichend zusammenpassen und 91 Ein hervorragender »Klassiker« zu dieser Thematik ist »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1966, dt. 1969).
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aufeinander abgestimmt sind, wird auf unterschiedliche Art sichergestellt. Dazu gehört die materielle, symbolische und soziale Ausgestaltung menschlicher Umgebungen. Ferner die (Fremd-)Trivialisierung im Sinne von Foersters (siehe Abschnitt 3.4.3). Ein weiterer bedeutsamer Aspekt zur Gewährleistung einer hinreichend intersubjektiven Lebenswelt besteht in den gemeinsamen Lebensvollzügen, die Menschen miteinander teilen. Wenn also einerseits (Abschnitt 4.1.1) für die interpersonelle Prozessebene betont wird, dass alle Interaktionen zwischen Personen nicht einfach aufeinander folgen, sondern stets durch das »Nadelöhr« persönlichen Verstehens92 gehen müssen, lässt sich andersherum fragen: Wie »persönlich« ist das Verstehen eigentlich? Immerhin benutzen wir doch Sprachen, Konzepte, Welt- und Menschenbilder, Handlungsprinzipien, Wertvorstellungen etc., die wir nicht selbst erfunden haben – und die oft auch nicht innerhalb einer Familie gebildet wurde –, sondern die in übergreifenden kulturellen Prozessen über viele Generationen hinweg entstanden und verfestigt worden sind.93 So ist die Bedeutung des Wortes »kritisch« in dem oben schematisierten Experiment von Asch (Abbildung 41) eben nicht nur durch die experimentellen Bedingungen bestimmt – auch wenn die Wirkung des Sinnattraktors »positive Person« bzw. »negative Person« beeindruckend genug ist. Das Wort »kritisch« bedeutet auch jenseits des Experiments bei unterschiedlichen Menschen nicht genau dasselbe. Auch innerhalb unserer Kultur und ihren Subkulturen, Institutionen und Gruppen sowie aufgrund der jeweils persönlichen Sozialisation in der Familie etc. sind hinsichtlich des Begriffs »kritisch« jeweils unterschiedliche Bedeutungsnuancen zu finden. Auch der interaktive Sinnattraktor in der Mutter-Tochter-Dynamik (Abbildung 7), der grob mit »Autonomie versus Kontrolle in der Pubertät« bezeichnet werden könnte, ist nicht nur zwischen dieser Mutter und dieser Tochter entstanden. Dazu ist die Problematik viel zu prototypisch, als dass sie ausschließlich den beiden zugeschrieben werden könnte: »Autonomie versus Kontrolle« ist ein allgemeines Entwicklungsthema und, in spezifischerer Form und auf die Pubertät bezogen, ein Sinnattraktor, der auch in der Kultur vorkonstelliert ist. Allerdings wird der spezifische Attraktor in dieser Mutter und dieser Tochter in seiner genauen Form, verbunden mit diesen Handlungsweisen, Zuschreibungen, Streitpunkten etc., eben nur von diesen beiden in ihrer interaktiven Ordnung so und nicht anders gestaltet. 92 Gemeint sind die kognitiv-affektiven Verarbeitungsprozesse der einzelnen Beteiligten. 93 Die besondere Rolle der Kulturwerkzeuge wird in Unterkapitel 2.3 erwähnt und in 5.5 ausführlicher diskutiert.
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Gerade für die typischen Problematiken, mit denen Menschen eine Beratung aufsuchen, gibt es eine Reihe von malignen Sinnattraktoren, welche die Interpretations- und Handlungsoptionen verringern und welche ebenso prototypisch für unsere Kultur sind. So sind beispielsweise die Dichotomien »gut« – »böse«, »wahr« – »falsch«, »krank« – »gesund«, »schuldig« – »unschuldig«, »richtig – falsch« etc. solche allgemeinen und typischen gesellschaftlichen Sinnattraktoren, welche allzu oft die Komplexität realen Geschehens in simplifizierender und festschreibender Weise reduzieren. Oft werden diese bei Problemen innerhalb von Paaren, Familien, Teams, Organisationen etc. sogar noch personifiziert – im Sinne von »Du bist der Schuldige«, »Der ist der Böse« – und damit noch stärker festgeschrieben. Das ist dann meist nicht lösbar, denn »der Schuldige« wird meist Gründe für sein Verhalten vorweisen können – die aber »natürlich« nur als »Ausreden« verstanden werden. Dass diese (und weitere) Dichotomien oft solche maligne Dynamik zu einem rigiden Sinnattraktor entwickeln, ist allerdings kein Grund, diese Begriffe zum Tabu zu erklären. Vielmehr handelt es sich um durchaus große und wichtige Themen menschlicher Orientierung und Bewertung. Daher wäre es gewiss nicht ratsam, diese aus der Alltagskommunikation und aus Fachdiskursen zu verbannen, um Probleme zu vermeiden. Es sind nicht Themen (charakterisiert durch die angegebenen Attribute) selbst, welche die maligne Kraft entfalten. Vielmehr ist es die (nicht selten) dahinterstehende Sichtweise, diese sowohl in Form von Dichotomien als auch totalitär zu verstehen. Damit ist gemeint, dass beispielsweise versucht wird, endgültig zu klären, wer denn nun der Böse in der Familie ist, oder was unter allen Umständen als falsch zu gelten hat, statt dies als ein Diskursthema zu verstehen, was die Einzelnen für die betreffende Situation als »böse« empfinden oder was man was »falsch« und was als »richtig« ansieht. In solchen Diskursen wird man schnell feststellen, dass erneut die Situationen viel komplexer und fließender sind, unterschiedliche Perspektiven und Begründungen ermöglichen etc., als dass man das so einfach definitorisch festschreiben könnte. Aber gerade diese Vielfalt ermöglicht (meist), einen gemeinsamen Konsens zu finden, wie man damit umgehen will – gegebenenfalls sogar, dass man dies weiterhin unterschiedlich sieht und das dann auch aushält.
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In unserer Gesellschaft ist allerdings eine solche entwickelte Diskurskultur eher nur rudimentär entwickelt – zugunsten einfacher, festschreibender, personalisierender Bewertungskategorien. Auch in den drei kleinen Fallvignetten zu Beginn von Kapitel 1 wirken kulturelle Sinnattraktoren mit an der Gesamtdynamik: Konzepte wie »Burn-out« oder »Depression« steuern zur Selbstbeschreibung und zum Selbstverständnis von Manfred bestimmte Erklärungsmuster bei. Im Fall von Bettina und ihrer Mutter geht es auch um die kulturellen Sinnattraktoren, die mit Begriffen wie »Schule« oder »selbstständig« verbunden sind: Welche Einflüsse üben die Bedeutung von Bildung oder von Erziehungs- und Entwicklungsverläufen auf die Interaktion zwischen der Mutter und Bettina aus? In Bezug auf die dritte Vignette wurde bereits diskutiert, wie stark eine festschreibende Reduktion »Julian hat eine Verhaltensstörung« Handlungsoptionen nehmen und hilflos machen kann. Gerade die in Unterkapitel 3.8 dargestellten mechanistischen Metaphern des vorherrschenden Menschenbildes sind starke formative Kräfte für die Bedeutungsstrukturen der Alltagswelt. 4.3.2 Exkurs: Genogramm – Bindeglied zwischen mikro- und makrosozialen Sinnattraktoren In der Realität des Alltags (und damit auch in der Betrachtung dieser Realität in Psychotherapie, Beratung und Coaching) wirken die sinnattrahierenden Einflüsse aus mikro- und makrosozialen Prozessen meist komplex zusammen. Allerdings kann es gerade daher sehr sinnvoll sein, in der Beratung einen Diskurs über die (möglichen bzw. subjektiv empfundenen) Quellen anzuregen. Nicht, um »die Wahrheit« herauszufinden, aber um entlastende Perspektiven zu generieren und in den Fokus zu bringen, die aufzeigen, dass belastende, destruktive Sinndeutungen eigentlich nie allein ausgedacht worden und lediglich einem »kranken Hirn« entsprungen sind, sondern in der Regel eine lange, verworrene, Entwicklungsgeschichte haben, die sich in der Person lediglich aktualisiert hat. Eine gute Möglichkeit für einen solchen Exkurs bietet die Arbeit mit »Genogrammen«, da diese individuelle, familiäre bzw. mikrosoziale, generationsübergreifende und damit zumindest teilweise makrosozial-kulturelle Aspekte zur Sprache und Darstellung bringt. Ohne hier auf grundsätzliche Details in der Arbeit mit Genogrammen einzugehen zu wollen94 lässt sich grob sagen, dass die Arbeit meist mit einem Inter94 Gute Darstellungen geben Beushausen (2012), Hildenbrand (2007), McGoldrick, Gerson und Petry (2016) sowie Roedel (2010).
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view eines Beratungssuchenden (»Klienten«) über seine Sicht auf wichtige familiäre Ereignisse beginnt. Es geht darin um Namen und Daten von Geschwistern, Eltern, Großeltern – sowie gegebenenfalls von Partner und Kindern – dieser Person. Neben Geburtsdaten werden auch Heiraten, Scheidungen und andere bedeutsame Ereignisse erfragt, Berufe und andere wichtige Aspekte bereichern die Information, und alles wird in einem großen Bild, einem sogenannten »Familiengenogramm«, dargestellt. Aus dieser recht schlichten und sachlichen Information entsteht in der Zusammenstellung bereits oft ein beeindruckendes Bild von Zusammenhängen und Merkwürdigkeiten. Da zieht sich ein Vorname, vielleicht der des Klienten, bereits durch Generationen. Oder es fällt auf, dass über die Familie des Vaters sehr viel, aber über die der Mutter fast gar keine Kenntnisse vorhanden sind. Oder es werden zeitliche Zusammenhänge zwischen Todesfällen oder Geburten und besonderen Krisen deutlich. Typische Leit-(und: Leid-!)Sätze in den Familien, die häufig auch schon ungefragt von Klienten offenbart werden, stehen in frappierender Übereinstimmung oder in Kontrast zueinander bzw. zu wichtigen Themen des Klienten etc. In der weiteren Arbeit wird meist auch deutlich (besonders wenn man darauf achtet und entsprechende Anregungen gibt), wie die (narrativen) »Geschichten«, die dabei zum Vorschein kommen, mit der (historischen) »Geschichte« verwoben sind. Angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa sind viele der so erzählten Ereignisse über drei Generationen gewöhnlich auch in historische Brüche und Umbrüche unserer Kultur eingebettet: Vertreibungen, Um- und Aussiedlungen, längere Gefangenschaften oder durch den Krieg verursachte Todesfälle noch junger Familienväter und -mütter sind nur einige solcher Aspekte. Schon diese wenigen, sachbezogenen Daten geben oft kurze, aber ergreifende Einblicke in schwere und verworrene Schicksale. Und sie lassen noch viel mehr solcher mühsam vernarbte Brüche erahnen, die im Zusammenhang mit den historischen Wirrungen stehen – auch mit Verstrickungen in die Schuld der NS-Diktatur. Ohne viele Worte und Erklärungen werden häufig auch Zusammenhänge offenbar, wie Brüche und Umbrüche in den historischen wie biografischen Entwicklungen die Kreativität der Familien herausgefordert haben. Und wie dies nicht selten zu recht merkwürdigen Lösungen der Probleme führte. Hier können sich schon Sinnzusammenhänge abzeichnen, wie vielleicht das aktuelle Leid des Klienten mit solchen »Lösungen« zusammenhängen könnte, die einmal in der Not der Umstände gefunden wurden. Und es lässt sich daraus auch schon ahnen, wie sich dies auf die Lebensdynamik des Alltags auswirkt – d. h., wie diese »Lösungen« nicht selten als Schutz davor wirken sollen, dass neuerlich schmerzhafte Brüche und Umbrüche entstehen.
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Unter einer solchen Perspektive geht es also um Fragen, wie die »Probleme« oder »Symptome« in Sinnzusammenhänge eingebettet sein könnten. Wie vielfach betont, geht es nicht so sehr um die in unserer Alltagswelt so typische – und meist so hinderliche – Frage nach der »Verursachung« oder »Schuld«. Sondern es geht um die Frage danach, was die »Probleme« oder »Symptome« stabilisiert und was eine Veränderung eher behindert. Die Arbeit mit Genogrammen zeigt somit deutlich, dass die Familie immer als Mittler zwischen den Mikro- und Makroprozessen zu sehen ist, die das Wesen der Kultur ausmachen. Dabei ist es letztlich egal, ob es sich um eine klassische Familie oder aber eine Patchwork- bzw. Rumpffamilie handelt. Längst bevor die Schule und andere formale Institutionen greifen können, wird über die Familie der Bezug zur Sozialgemeinschaft hergestellt. Durch sie wird der Mensch in die Geschichte und die Geschichten der Vorgenerationen eingebettet, indem das als Selbstverständlichkeit vermittelt wird, was als Sinn- und Unsinn, als Normen und Werte, als Gebote und Verbote, als Regeln und Freiheiten die Struktur einer bestimmten Kultur ausmacht. Die Familie ist aber ebenso Basis für die Entwicklung der Individualität, die immer als eine »bezogene Individuation« (Stierlin, 1969, 2001) gesehen werden muss. Sie hat somit das Kunststück zu vollbringen, gleichzeitig die Botschaft zu vermitteln: »Werde wie wir!« und: »Werde ganz du selbst!« – ein dialektischer Widerspruch, wie er herausfordernder an die Entwicklung eines jungen Menschen nicht sein kann. Und letztlich ist die »Familie« auch und weiterhin nicht nur Grundmuster für soziale Beziehungen, sondern zudem eine Projektionsfläche für Wünsche, Bedürfnisse und Phantasien hinsichtlich Geborgenheit, Intimität und Vertrauen (also Sinnattraktoren auf der Mikroebene). Die Bilder über die Erfüllung gerade dieser Grundbedürfnisse werden von der Werbeindustrie in hohem Maße »verwendet« und in bestimmter Weise, oft mit merkwürdigen Familienbildern verknüpft, für deren Zwecke eingesetzt (was wieder eine Verknüpfung mit den Sinnstrukturen der Makroebene ist). 4.3.3 Synlogisation und Bedeutungsfelder: Die gemeinsame Kreation von Sinn Spätestens im vorangegangen Abschnitt mit der Betrachtung der vielfältigen Bedeutungseinflüsse, die z. B. beim Genogramm zur Sprache und Darstellung kommen, sollte klargeworden sein, dass Darstellungen wie Abbildung 42 eine idealtypische Fokussierung der Bottom-up- und Top-down-Prozesse sind, um die Dynamik eines Sinntraktors zu erläutern. Allerdings wurde immer schon betont, dass sich die Bedeutung des Wortes »kritisch« eben nicht nur aus den
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anderen Wörtern in diesem Experiment von Asch ergeben. Vielmehr ist die Bedeutung von zahlreichen semantischen Kräften abhängig: Denn »kritisch« ist ein Wort der deutschen Sprache, das im üblichen Alltagsgebrauch auf so etwas wie »nicht gedankenlose Zustimmung« verweist. Aber in der Schule oder im Rhetorikunterricht sind weitere bzw. teilweise andere Bedeutungskräfte am Werk. Und wieder andere Bedeutungsnuancen findet man in der Kirche oder beim Militär. Weitere Einflüsse kommen aus der Biografie des Hörers, aus seiner aktuellen Familie und aus vielen weiteren Erfahrungsbereichen. Es wirken also gerade im Hinblick auf Sinn und Bedeutung Einflüsse von etlichen »Quellen« zusammen. Jede einzelne könnte man so wie in Abbildung 42 darstellen, wobei mit den jeweiligen Operatoren zirkuläre Bottom-up- und Topdown-Dynamiken stattfinden – und das noch gleichzeitig in Bezug auf mehrere Systeme und Systemebenen. Dies ist freilich eine Vorstellung, die erfahrungsgemäß nicht nur dem Kopf des Autors Schwierigkeiten bereitet. Interessanterweise macht es weit weniger Schwierigkeiten, den bereits eingeführten Begriff des Feldes zu verwenden – obwohl sich die Vorstellung hier gewöhnlich nicht mit der Ordnung bzw. dem Attraktor verbindet, sondern mit den ordnenden bzw. attrahierenden »Kräften« (im Sinne von formenden Einflüssen – und nicht physikalisch). Sich vorzustellen, dass eine Kompassnadel in der Nähe eines Eisenmagneten von der bisherigen Ausrichtung abgelenkt wird und dass sich – wenn nun noch ein Elektromagnet hinzukommt – die Ausrichtung nochmals ändert, ist erfahrungsgemäß nicht so schwer. Inklusive der (korrekten) Vorstellung, dass sich hier drei Magnetfelder – das der Erde, das des Eisenmagneten und das des Elektromagneten – überlagern. Wir scheinen uns auch daran gewöhnt zu haben, dass zahlreiche Felder von Fernsehsendern gleichzeitig durch unsere Wohnzimmer »wabern« – und von den Fernsehern je nach »Tuning« in Bild und Ton umgesetzt werden können. Ähnlich mit den unzähligen »Handys« in unserer Umgebung. Die Vorstellung von sich überlagernden Feldern scheint somit inzwischen in unserer Kultur zur Alltagsmetaphorik zu gehören.95 In der Personzentrierten 95 Was sich der Einzelne dabei genau vorstellt und wie weit dies »objektiv« physikalischer Humbug ist, soll lieber nicht problematisiert werden. Allerdings: Dies ist auch gar nicht nötig: Die Metapher von sich überlagernden Einflüssen (dessen jeder einzelne mit den systemtheoretischen Prinzipien dargestellt werden könnte) reicht für unsere Belange aus. Auch das Bohr-Modell das Atoms mit planetenähnlich umkreisenden Elektronen ist in den meisten physikalischen Kontexten »Humbug« – aber es ist eine Metapher, die selbst etliche theoretische Physiker gern benutzen, weil es das historisch letzte anschauliche Modell war, bevor »die Welt« der Physik in den Abstraktionen unanschaulicher Gleichungssysteme verschwand (persönliche Mitteilung von Herbert Pietschmann anlässlich von Gesprächen über die Tiefen des Jung-Pauli-Dialogs).
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Systemtheorie wurde daher der Begriff des »Bedeutungsfeldes« eingeführt (Kriz, 2006a). Solche Bedeutungsfelder werden nun typischerweise bereits erzeugt, wenn zwei oder mehrere Personen in einer Beziehung bestimmten Wörtern, Begriffen, Gesten etc. eine spezifische Bedeutung geben – und zwar gemeinsam. Dazu ein Beispiel: Beispiel: »Manuel« Ein Ehepaar sitzt an einem lauen Frühlingsabend mit einigen Bekannten im Gartenrestaurant. Zum Essen wird Rotwein serviert. Man sitzt schon einige Zeit beieinander. Als »er« erneut sein halbvolles Glas ergreift, hält er kurz inne, schaut »sie« an, sagt »Manuel«, und prostet »ihr« ein wenig zu. Sie stutzt, lächelt dann, und bei beiden wird das Lächeln für einen Moment zu einem Strahlen. Dann wenden sie sich wieder der Runde zu.
Weder die Bekannten noch wir wissen genauer, was hier los war. Man kann spekulieren, dass »Manuel« offenbar ein Wort darstellt, das auf irgendetwas verweist. Das tun freilich fast alle Wörter (sofern sie nicht einfach Befindlichkeitsextensionen sind). Nur: Meist meinen die Anwesenden weitgehend zu wissen, auf was verwiesen wird. Hier kann man bestenfalls grob spekulieren. Allerdings scheinen zumindest »sie« und »er« sich zu verstehen – wohl durchaus im doppelten Sinne: Beide wissen, was gemeint sein soll, und sind froh über das Glück gegenseitiger Verständigung. Prototypisch an dieser Szene ist, dass »Manuel« offenbar zur Privatsprache der beiden gehört – ein Wort, dessen Bedeutung von beiden exklusiv verwendet wird und diese Exklusivität auch dann teilweise behält, wenn die beiden die anderen am Tisch »aufklären«. So könnten sie der etwas verwirrten Runde mitteilen (!), dass »Manuel« sich auf Manuel Benitez Perez bezieht, den bedeutenden spanischen Stierkämpfer, mit dem sie zufällig vor einigen Jahren in einem kleinen Gartenrestaurant in der Nähe von Cordoba in Andalusien zusammensaßen. Der inzwischen alte Mann, wusste prächtig von seinen Stierkämpfen zu erzählen, es gab viel Rotwein, und es war sowieso ein wunderschöner Abend, dem eine ebenso eindrucksvolle Nacht der beiden folgte. Doch obwohl wir (und die Runde) nun wissen, worum es geht: Wie weit teilen wir wirklich die inneren Bilder und deren Bedeutung, die diesen beiden bei dem Wort »Manuel« kommen? Wohl nur sehr rudimentär. Selbst wenn sich dies durch die Aufforderung: »Ach, erzählt doch mal genauer!« weiter bereichert werden könnte. Nur diese beiden waren an dem Abend zusammen bei Cor-
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doba, haben leibhaftig Manuel gesehen und gesprochen, die vielfältigen Düfte, die Geräusche, das Mobiliar, den Garten und die laue Nacht gespürt – ganz zu schweigen von dem Gemeinsamen danach. Sie können uns noch so viel mitteilen: dieses abendliche und nächtliche Erlebnis haben nur sie miteinander geteilt. Doch: Was haben die beiden eigentlich wirklich »geteilt«? Die Flasche Wein, gegebenenfalls das Essen, den Raum im Gartenlokal, die Anwesenheit von Manuel und später das Bett. Aber schon von einem »miteinander geteilten Erlebnis« zu sprechen, ist recht bedenklich. Nimmt man die biosemiotische Perspektive ernst, mit der die beiden Subjekte den Abend zwar in derselben Umgebung, aber jeder in seiner eigenen Umwelt miteinander verbracht haben, sind Vorbehalte gegenüber einer zu objektivistischen Sichtweise angebracht. Trotz der Teilhabe an der Intersubjektivität kultureller Symbolwelten bleiben es zwei, im Detail sogar recht unterschiedliche, Erlebnisse, die hier zeitlich, räumlich stattfinden. Auch wenn das je individuelle (!) Bewusstsein davon, dass der andere bei diesem Geschehen nicht nur zugegen ist, sondern an dem, was wir »Begegnung« nennen, »Teil nimmt«, ein behagliches Gefühl auslösen mag. Selbst den Wein, das Essen, den Raum und das, was sie mit »Manuel« meinen, dürften die beiden durchaus unterschiedlich erlebt haben. Und in der gemeinsamen Nacht hat »er« sie als Frau und »sie« ihn als Mann erlebt – was bekanntlich nicht nur recht unterschiedlich ist, sondern das Wesentliche dieser Subjektivität ist gegenseitig nur schwer vermittelbar. So gesehen ist es eigentlich erstaunlich, wenn wir davon sprechen, wir hätten ein Erlebnis mit unserem Partner oder einem bzw. mehreren anderen »geteilt«. Und es wäre sehr ignorant und egozentrisch, davon auszugehen, dass der andere genau gleich wahrnimmt, erlebt und das äußere Geschehen für ihn die gleiche Bedeutung hat wie für einen selbst. Allerdings – und dies ist nun der Fokus auf das Gemeinsame – dürfen wir zu Recht davon ausgehen, dass die Vorstellungen der beiden ähnlicher sind als bei den anderen Anwesenden des Abendessens im Frühling. Auch wenn jeder der beiden den Sommerabend, »Manuel« etc. im Detail anders erlebt hat, bieten Wein, Gerüche, Garten, Manuel, Liebesnacht genügend viel an Übereinstimmendem, das weit mehr ist als räumlich-zeitliche Teilhabe. Vor allem können sie gemeinsam sagen: »Wir haben diesen Wein getrunken, den Abend mit Manuel genossen, die Nacht zusammen verbracht.« Trotz unterschiedlichen Erlebens wird hier also auf gemeinsame Bedeutungsaspekte dieses Erlebens verwiesen. Die anderen Personen am Tisch verstehen zunächst einmal fast nichts, was mit »Manuel« gemeint sein könnte. Sofern aber die beiden anfangen zu berichten, beginnen diese anderen in ihren Köpfen Assoziationen und Affekte zu generieren, die zunehmend denen von A und B ähnlicher werden (es sei denn, jemand ist »auf dem Holzweg«): Aufgrund eigener Erfahrungen kann sich jeder eine laue
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Sommernacht in einem südlichen Gartenrestaurant mit einem faszinierenden alten Mann und einer folgenden Liebesnacht vorstellen. Natürlich sind es nur die eigenen Erfahrungen, die hier verarbeitet werden, und sie haben auch ihre realen Grenzen. Denn im Gegensatz zum erzählenden Paar waren die anderen eben nicht in jener Situation damals dabei, sondern bestenfalls in ähnlichen Situationen. Jeder kann sich irgendwie einen alten Stierkämpfer, der viel erlebt hat und zu berichten weiß, vorstellen. Aber gehört, gesehen und erlebt hat nur das Erzählerpaar den Manuel an jenem Abend in jenem Gartenrestaurant. Alle anderen können also nicht sagen: »Wir waren dabei.« Der Unterschied in den »inneren Bildern« zwischen den beiden Erzählern ist daher gegenüber denen der Zuhörer deutlich geringer. Ein spezifischer Sprachgebrauch ist für die Fachsprachen der diversen Berufe oder in den wissenschaftlichen Disziplinen typisch. Wie das zwar fiktive, aber gleichwohl prototypische Beispiel von »Manuel« zeigen sollte, herrschen auch im Alltag unterschiedliche Grade an Gemeinsamkeit von Bedeutung vor. Dies ist für viele Situationen in Therapie, Beratung und Coaching relevant. Jedes Paar, jede Familie, jede Gruppe entwickelt solche exklusiven – d. h. nicht vollends für jeden in der Kultur verständliche – Begriffe, Wörter und Verweise. Dabei bedeutet Exklusivität wörtlich und grundsätzlich, dass sich Menschen von manchem ausgeschlossen fühlen. Sowohl in der Interaktion zwischen Gruppen als auch zwischen Einzelpersonen wird die Relevanz einer gemeinsamen Bedeutungsfindung wegen der scheinbaren »Selbstverständlichkeit« der alltagsweltlichen Intersubjektivität oft unterschätzt. Zwischen Gruppen kommt es aufgrund solcher Vorannahmen, die sich dann aber als nicht »selbstverständlich« erweisen, zu Konflikten. Und auch dem Partner unterstellt man nicht selten, dass er doch verstehen müsste, was man meint, und »mitfühlen« müsste, was man erlebt, »wenn er mich nur wirklich lieben würde« oder zumindest nicht »böswillig« oder »verrückt« wäre. Gerade angesichts intensiv erlebter »Gemeinsamkeiten« gerät leicht aus dem Blick, dass der andere ein völlig eigenständiges Wesen ist und dass es der Verständigungsarbeit an dem Glück bedarf, verstanden zu werden und den anderen zu verstehen. In Therapie, Beratung und Coaching ist dies deswegen ein Problem, weil einerseits Berater und Klient zunächst wenig gemeinsame Erlebnisse haben, gleichwohl aber sehr intensive gemeinsame Erkundungen der Erlebenswelt vornehmen. Daher muss gerade bei recht weit auseinandergerückten Erlebens- und Ausdruckweisen eine gemeinsame Sprache, Begrifflichkeit und Narration gefunden werden. Diese Aufgabe stellt sich besonders für Therapeuten bei Klienten mit sogenannten »frühen Störungen«, da deren Strukturierungen ihrer Lebens-
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welt wegen bereits vorsprachlicher Beeinträchtigungen in essenziellen Bedürfnisbereichen oft solche Muster im Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Ausdruck angenommen haben, die sich aus den Prozessen kultureller Standardverständigung als »bizarr« herausheben. Abgemildert aber gilt dieses »Fremde« in der Begegnung grundsätzlich – eine Schlucht zwischen den subjektiven Lebenswelten, die einerseits nicht ignoriert werden darf, andererseits für intensive gemeinsame Erkundungen eben doch irgendwie überbrückt werden muss. Um diese gemeinsamen Erzeugungs- und/oder Abstimmungsprozesse von Bedeutung überhaupt zu thematisieren, bedarf es eines Begriffs. Üblicherweise findet man in der Literatur die Aussage, dass die Bedeutungen »synchronisiert« werden. Doch dies ist in der Regel unzutreffend – bedeutet doch »Synchronisation« die zeitliche Koordination von Vorgängen: So werden zwei Menschen ihre Bewegungen synchronisieren müssen, wenn sie hinreichend gemeinsam tanzen wollen. Bei der geschilderten Abstimmung von Bedeutung spielt Zeit allerdings keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Dies wird sofort deutlich, wenn man sich zwei Menschen vorstellt, die einen Brief- oder Mailkontakt beginnen: Unabhängig von der zeitlichen Struktur – zwischen zwei Briefen können Wochen liegen – werden vor allem Bedeutungen miteinander abgestimmt: »Was genau meinst du, wenn du ›X‹ schreibst?«, »Was bedeutet dir ›Y‹ wirklich?« etc. Da sich nun »Synchronisation« aus den beiden Wortteilen »syn« (zusammen) und »chronos« (Zeit) zusammensetzt, bietet sich als Begriff für die Koordination von Bedeutungen »Synlogisation« (logos = Sinn) an. Das entsprechende Verb heißt dann »synlogisieren«. Und was dabei entsteht, ist ein gemeinsames »Bedeutungsfeld«. Für die Betrachtung des Vorgangs der Synlogisation können wir bei Abbildung 42 anknüpfen. In dieser Abbildung wird links nochmals an die Dynamik erinnert, welche bottom-up ein Feld (bzw. Attraktor oder Gestalt) generiert, das top-down die weitere Dynamik im Sinne dieses Feldes beeinflusst. Bei Sinnattraktoren stabilisiert sich so im Asch’schen Beispiel aus den Attributen der Sinnattraktor einer »positiven« bzw. »negativen« fiktiven Person. Dies geschieht aber analog genauso, wenn zwei Personen an diesem Prozess beteiligt sind – da liest dann nicht ein »Versuchsleiter« einem »Untersuchungsteilnehmer« irgendwelche Eigenschaften vor, sondern beide Personen reden miteinander, ohne dass zunächst sehr klar wäre, was der jeweils andere für Bedeutungen mit manchen Begriffen, Aussagen, Sprachbildern etc. verbindet. Aber in der zirkulären Dynamik synlogisieren eben beide eine zunehmend gemeinsame Bedeutung. Dies ist in Abbildung 43 rechts schematisiert dargestellt.
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Abbildung 43: Die Synlogisation zu einem gemeinsamen Bedeutungsfeld zweier Personen (rechts) analog zur Dynamik, mit welcher für eine Person Bedeutung attrahiert (links)
Gemeinsame Bedeutungsfelder dienen vor allem der Pragmatik der Verständigung. Es geht üblicherweise nicht um völlige Übereinstimmung einer sprachlichen Bezeichnung in allen Details – etwa im Sinne der Begriffsdefinition in einem Wörterbuch. Synlogisation hat daher auch kein festes »Endprodukt« als festgeschriebene Bedeutung, sondern unterliegt den weiteren fließenden Bedeutungsprozessen in der Alltagswelt. Es reicht, solange und soweit man sich verständigen kann (d. h. gegenseitig verstanden fühlt in dem, was man jeweils »mit-teilen« möchte). Der Vorteil des Konzeptes der Synlogisation und der Bedeutungsfelder besteht darin, dass sich Bedeutungen aus unterschiedlichen Systemprozessen überlappen können und nicht im Sinne der Mengenlehre entweder dem einen oder dem anderen Kontext zugeordnet werden müssen. So ist es beispielsweise bei Handlungen oder gar Entscheidungen häufig so, dass der Mensch unterschiedliche Motive in sich spürt – je nachdem, welchen Bedeutungskontext er gerade damit verbindet. Populäre Konzepte wie das »innere Team« von Schulz von Thun (2013) haben dieses Phänomen aufgegriffen und dazu eine umfangreiche Praxeologie entwickelt. Auch im Bereich des Coachings bzw. der Mediation von Unternehmerfamilien erscheint das Konzept der Bedeutungsfelder weit angemessener zu sein als die überwiegend übliche Darstellung als »Drei-Kreise-Modell« (Gersick, Davis, McCollem Hampton u. Lansberg, 1997), demzufolge »ein Familienunternehmen ein soziales Gebilde darstellt, das eine Familie, die Eigentümer und ein Unternehmen mit ihren je spezifisch-charakteristischen Eigendynamiken vereint. Die bekannten drei überlappenden Kreise, die in keinem Werk über Familienunternehmen fehlen dürfen, stehen für diese Erkenntnis« (Groth, 2008, S. 31). Im Gegensatz zu »überlappenden Kreisen«, die man eher aus der Mengenlehre kennt und wo es um Zugehörigkeit und Abgrenzung statischer Elementkonfigurationen geht, liegt den Bedeutungsfeldern eine dynamische Betrachtung im Sinne von formativen Einflüssen auf die graduelle Frage zugrunde, ob man sich in einer konkreten Situation gerade stärker als Familienmitglied oder stärker als Unternehmer sieht und versteht.
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Beispiel In einem typischen Beispiel (von Schlippe u. Groth, 2006) ergab sich daraus ein Konflikt, dass Unternehmereltern ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter angeboten hatten, die Firma als »Nachfolger« zu übernehmen. Als der Sohn dann aber weitreichende Businesspläne entwickelte und vortrug, fühlten sie sich »undankbar« aus dem Unternehmen gedrängt. Die Analyse von von Schlippe und Groth macht deutlich, dass sich der Sohn als Unternehmer angesprochen fühlte – und daher primär unternehmerische Initiative und Planungsfähigkeit angefragt sah. Während das Angebot vom Vater nicht an den Unternehmer, sondern an den Sohn gerichtet war – und daher primär Dankbarkeit und Loyalität erwartet wurden. Zu Recht lässt sich wohl hinterfragen (Kriz, 2011), ob dieses Problem angemessen mit dem angegebenen »Drei-Kreise-Modell« erfasst werden kann. Denn bei einer Inkompatibilität der beiden Systeme »Familie« und »Unternehmen« ergeben sich auch Fragen wie: »Was machte es, familiär, dem Sohn so schwer, sich auch als Sohn angesprochen zu fühlen? Will oder muss er sich seiner Frau gegenüber beweisen? Ist auch sonst die familiäre Interaktion zwischen Vater und Sohn unproblematisch? Wäre es frei von Konflikten und Missverständnissen, wenn der Vater beispielsweise dem Enkelkind familiäre Ereignisse erzählen würde, von denen dessen Eltern meinen, das Enkel sollte dies (noch) nicht wissen?« Innerhalb des Systems »Unternehmen« kann man fragen, ob man davon ausgehen kann, dass eine rein unternehmerische Kooperation zwischen einem eher konservativen und einem innovativen Partner ohne Konflikte und Missverständnisse anläuft. Letztlich, um ein ganz anderes »System« exemplarisch ins Spiel zu bringen: Wäre es nicht für die Beziehung Vater-Sohn wie auch für die von Partner zu Partner in einem Unternehmen eine konfliktträchtige Belastung, wenn z. B. der eine sich einer religiösen Sekte anschlösse oder zu einer lebensgefährlichen Expedition aufbräche? Solche vielfältigen graduellen (und eben nicht: Entweder-oder-)Einflüsse auf die (Be-)Deutung des Geschehens werden gut durch Bedeutungsfelder repräsentiert.96
96 Von Schlippe (2014) stellt zudem die Verbindung von Bedeutungsfeldern zu den »ErwartungsErwartungen« im Ansatz von Luhmann (1984) her – was aus Sicht der Personzentrierten Systemtheorie nochmals betont, dass alle Kommunikation durch das Nadelöhr persönlicher Sinndeutungen gehen muss.
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Der Aspekt der Bedeutungsfelder lässt sich natürlich auf mehr als zwei Personen erweitern – auf Familien, Gruppen, Organisationen oder gar Kultur – wie in Abbildung 43 schematisiert ist. Allerdings wird dies der realen Komplexität der Bedeutungsprozesse in einer Kultur auch nicht annähernd gerecht. Denn die unterschiedlichen sich überlagernden Bedeutungsfelder, die intentionale Besetzung vieler Themen (durch Massenmedien, institutionelle Verlautbarungen etc.), die sehr unterschiedlichen Zeitfenster, in denen Veränderungen geschehen und viele weitere Themen sind ja in Abbildung 44 gar nicht angesprochen. Gleichwohl kann man auch hier sagen, dass z. B. bestimmte Themen in zunächst engen Bereichen auftauchen und als »Mode« bottom-up auf der makroskopischen Ebene einen Sinnattraktor etablieren können. Themen, die gerade in Mode sind, beeinflussen top-down die Aufmerksamkeit und Bereitschaft dafür, die entsprechenden Phänomene und Aspekte in die aktuellen Diskurse einzubringen. Allerdings bleiben solche Themen nicht sehr lange relevante Sinnattraktoren, weil eben die große Konkurrenz an Themen aus anderen Bedeutungsfeldern die gesamten Umgebungsbedingungen vergleichsweise rasch ändert.
Abbildung 44: Synlogisation eines gemeinsamen Bedeutungsfeldes vieler Personen
Wichtiger für die Arbeit von Psychotherapeuten, Beratern und Coaches ist daher, die Top-down-Perspektive zu berücksichtigen: nämlich sich klar zu machen, dass die Prozesse auf der psychischen und die auf der interpersonellen Ebene sowie deren gegenseitige Beeinflussungsdynamik in erheblichem Maße von den langfristigen und kurzfristigen Bedeutungsfeldern der Kultur stark beeinflusst werden. Interpersonelle Kommunikation muss daher nicht nur durch das »Nadelöhr« persönlicher Sinndeutungen gehen, sondern sowohl persönliche als auch interpersonelle Sinndeutungen sind immer schon in die (Be-)Deutungsprozesse der Kultur eingebettet.
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4.4 Die körperliche Prozessebene Bereits bei der Darstellung und Diskussion der systemischen Dynamik auf der psychischen Ebene (Unterkapitel 4.2) wird nicht das Unbehagen daran verschwiegen, dass dort vor allem kognitive Aspekte aus der Ganzheit des biopsycho-sozialen Geschehens herausgestellt und künstlich-analytisch fokussiert wurden. Es sei daher zunächst nochmals betont, dass entsprechend dem Credo der Personzentrierten Systemtheorie in jeder Situation Prozesse auf allen Ebenen zusammenwirken. Oder besser andersherum: dass das ganzheitliche Geschehenen, welches jede Lebenssituation eines oder mehrerer Menschen kennzeichnet, nur künstlich zerlegt und unzureichend einzelnen Ebenen zugeordnet werden kann. Dieses Problem wird besonders deutlich bei der Verschränkung psychischer und körperlicher Prozesse.97 So ist zwar das Anliegen von Unterkapitel 4.1, die Vernetzung der psychisch-kognitiven Prozesse mit der interpersonellen Ebene herauszuarbeiten – und von Unterkapitel 4.3., die Zusammenhänge mit der kulturellen Ebene aufzuzeigen. Doch indem wir in diesem Kapitel nun deren Beziehung zwischen psychischen und körperlichen Prozessen erörtern, wird deutlich, dass diese so eng miteinander verflochten sind, dass sich die relevanten Aspekte und Phänomene kaum sinnvoll auseinanderdividieren lassen. Diese enge Verbundenheit ist auch Teil unseres täglichen Erlebens – etwa wenn wir den Ärger in uns aufsteigen spüren, nur weil wir an die ungerechtfertigte Kritik am Morgen durch einen Kollegen denken, oder andersherum, bei starkem Hungergefühl merken, wie wir kaum noch richtig denken können. 97 Es mag erstaunen, dass in einem Buch über »Subjekt und Lebenswelt« fast ausschließlich vom »Körper« statt (auch) vom »Leib« gesprochen wird – betont doch »Leib« die Perspektive des Subjekts auf die von innen erfahrbare Basis meiner Bedürfnisse und Affekte, während »Körper« eher etwas von außen Betrachtetes, Objektives meint. Der Grund der Vermeidung des »Leib«-Begriffs liegt nicht in mangelnder Wertschätzung für dessen Relevanz, sondern umgekehrt im Bedürfnis, dieses wichtige Konzept nicht durch Oberflächlichkeit im Rahmen dieses Buches zu verwässern. Eine sorgfältige Berücksichtigung angesichts der Themenweite dieses Bandes hätte sowohl mich als vermutlich auch die Leser überfordert. Die vorgenommene Beschränkung ist daher vergleichbar mit der Vermeidung einer erkenntnistheoretisch sorgfältigen Konzeptualisierung der kritisch-realistischen Perspektive der Gestalttheorie (vgl. Fußnote 136 u. 137). Gleichwohl lässt sich darauf verweisen, dass sich fast nur »Körperpsychotherapie« statt »Leibtherapie« durchgesetzt hat. Eine umfassende Auseinandersetzung mit diesen Konzepten leistet Ulf Geuter (2015) in seinem Band über Körperpsychotherapie. Hier finden sich auch Argumente, weshalb er den Begriff »Körper« gegenüber dem Begriff »Leib« bevorzugt. Andersherum ist nicht zuletzt Hilarion Petzold (2003, 2004) im Rahmen seiner »Integrativen Therapie« für eine Berücksichtigung des Leibkonzeptes eingetreten.
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Der Grund dafür, dass wir dennoch in Unterkapitel 4.2 vorwiegend die kognitiven Prozesse wie Erinnern, Wahrnehmen und sinnhaftes Verstehen ins Zentrum gestellt haben, während die Affekte, Gefühle und Stimmungen erst in diesem Kapitel über die »körperliche Prozessebene« näher betrachtet werden, liegt darin, dass die systemischen Dynamiken überaus komplex und facettenreich werden, wenn wir nun auch die körperlichen – vor allem die affektiven – Prozesse mit berücksichtigen. Es erscheint daher sinnvoll, die zunächst leichter isolierbaren Aspekte in den Unterkapiteln 4.1 bis 4.3 zu diskutieren. 4.4.1 Der Körper als Integrator von Fühlen und Denken Bereits 1982 hat Luc Ciompi mit seinem Konzept der »Affektlogik«, welches das Zusammenspiel von Fühlen und Denken ins Zentrum stellt, die psychotherapeutischen Diskurse befeuert.98 Indem Ciompi betont, dass in jedem Augenblick Affekte und Kognitionen gleichzeitig und in komplexer Wechselwirkung das menschliche Leben bestimmen, versteht er sowohl »Affekte« wie auch »Kognitionen« (oft kurz als »Logik« gekennzeichnet) in einem weiten Sinn: Da es in der Fachliteratur keine einheitlichen Definitionen für Begriffe wie Gefühl, Emotion, Affekt, Stimmung, Befindlichkeit etc. gibt, verwendet er »Affekt« als Oberbegriff über gefühlsartige Befindlichkeiten auf der Basis umfassender psycho-physischer Prozesse. Es geht um ganzheitliche, körperlich-seelische Gestimmtheiten von unterschiedlicher Dauer, Intensität, Qualität und Bewusstseinsnähe. Auch »Kognition« wird im Rahmen der Affektlogik als Sammelbegriff für eine Reihe von Einzelfunktionen verwendet, darunter insbesondere Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und kombinatorisches Denken.99 98 Auch wenn Ciompi – leider zu Recht – noch 2016 beklagt, »dass das allgegenwärtige Zusammenwirken von Denken und Fühlen im allgemeinen wissenschaftlichen, politischen und sozialen Diskurs noch keineswegs hinreichend berücksichtigt wird«. Auch Ciompis frühe Arbeiten zur Affektlogik zeigen bereits das Suchen nach einer angemessenen systemtheoretischen Basis für das Verständnis des »Menschen in seiner Welt«: Während die Affektlogik 1982 noch primär auf Prigogines »dissipativen Strukturen« Bezug nimmt (»Synergetik« und »Haken« ebenso wie »Autopoiese«, »Luhmann« »Maturana und Varela« noch nicht auftauchen), ist dies bei der 1997 erschienenen »Die emotionalen Grundlagen des Denkens« deutlich anders: Das synergetische Grundmodell spielt hier eine größere Rolle. Ähnlich die etwa zeitgleich begonnene Entwicklung der »Personzentrierten Systemtheorie«, die zunächst noch an der Autopoiese ansetzte, um sich erst dann der Synergetik zuzuwenden. Tatsächlich bin ich Luc Ciompi erstmals auf einer Tagung der psychologisch-therapeutischen »Synergetiker« in den 1990er Jahren begegnet. 99 In Anlehnung an Wikipedias »Affektlogik« – deren Erstfassungen von Ciompi selbst stammen und daher als hinreichend autorisiert anzusehen sind. Der Begriff »Logik« ist dort (im Rahmen dieses Ansatzes) gekennzeichnet als »die Art und Weise, wie einzelne kognitive Elemente zu einem umfassenden Ganzen (einem ›Denkgebäude‹, zum Beispiel einer bestimmten Theorie, Weltsicht, Mentalität oder Ideologie) verbunden werden«.
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Zwar nimmt Ciompi nicht explizit eine biosemiotische Perspektive ein.100 Aber er teilt implizit mit dieser die zentrale Einsicht, dass die affektiven Befindlichkeiten in hohem Maße die kognitiven Prozesse moderieren.101 Um zu betonen, wie stark der (systemische) Einfluss von affektiven Grundstimmungen auf Wahrnehmen, Denken und Verhalten gesehen werden muss, führt Ciompi aus: »[…] im Zustand der Angst zum Beispiel sehen wir die Welt vorwiegend im Rahmen einer (bewussten oder unbewussten) Angstlogik. Entsprechend gibt es eine Logik der Wut oder des Hasses, eine Logik der Freude, der Liebe, der Trauer usw.« (Ciompi, 2016).102 Andersherum betrachtet kommen affektive Stimmungen nicht einfach aus dem Nichts, sondern werden oft, in zirkulärer Dynamik, von situativen Gegebenheiten der Umwelt beeinflusst (was wir nicht selten in unserer Lebenswelt unter einseitigem Blickwinkel gar als »verursacht« bezeichnen). Evolutionär ist die Bedeutsamkeit von Affekten sogar darin zu sehen, dass damit Organismen auf lebenswichtige Verhaltensweisen bei der Bewältigung situativer Gesamt gegebenheiten eingestellt werden. So werden beispielsweise bei der »Bedrohung« durch einen »Feind« die Verhaltenssequenzen von Flucht oder von Kampf ausgelöst – je nachdem, ob der Affekt »Angst« oder »Wut« zum Tragen kommt. Die kognitiven und integrativen Leistungen des Organismus bei solchen kategoriellen Zuordnungen werden bereits in Unterkapitel 2.3 angesprochen. Freilich – und daran wird die Zirkularität kognitiver und affektiver Prozesse deutlich – hängt die Bedeutungszuweisung »Feind« und damit »Bedrohung« eben auch wiederum von den Gestimmtheiten ab: Zumindest beim Paarungsverhalten oder beim Fütterinstinkt ist das augenfällig: Ohne entsprechende Gestimmtheit wird die Löwin vom Löwen eben gar nicht erst als »Sexualpartner« oder ein geschlüpfter Vogel von einem Altvogel als »zu fütterndes Wesen« wahrgenommen.
100 Ciompi nutzt daher für seine Affektlogik auch nicht die Unterscheidung von Umgebung und Umwelt bzw. Lebenswelt sowie die damit zusammenhängende Subjektivität der Bedeutungszuweisung. 101 Solche Aussagen sind im Sinne der Personzentrierten Systemtheorie immer so zu verstehen, dass die affektive Stimmung eine relevante Umgebungsbedingung für das System der kognitiven Prozesse darstellt. (Weitere Komponenten der Umgebungsbedingungen sind u. a. die interpersonellen und kulturellen Bedeutungsfelder.) 102 Dies steht in unmittelbarer Übereinstimmung mit unseren Ausführungen in Kapitel 2, wo bereits für die Umwelt der Tiere in Bezug auf Paarung oder Kampf die affektive Grundstimmung betont wird. Selbst bei von Uexkülls Lieblingsbeispiel, dem Einsiedlerkrebs, hängt die Bedeutungszuweisung zu dem, was wir »Anemone« nennen, (auch) von den Gestimmtheiten ab und nicht von einem »objektiven« Gegenstand namens »Anemone«.
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In der Lebenswelt des Menschen haben wir uns nun zwar von einer solchen instinktmäßigen Abstimmung mit den Sozialpartnern in hohem Maße befreit. Unzählige Affektnuancen und Verhaltensmöglichkeiten sind hinzugekommen. Dennoch sollten wir die in Unterkapitel 2.3 angesprochenen Kategorisierungen unserer Wahrnehmung und unseres Denkens aufgrund der evolutionär erworbenen Architektur unseres Organismus nicht unterschätzen. Und dies gilt eben nicht nur für Kategorien wie »Gesicht« (vgl. Abbildung 3), sondern auch der Einfluss körperlicher Grundgestimmtheiten ist nicht unbeträchtlich. Diese wenigen Hinweise und Beispiele machen die vielfältigen zirkulären Einflüsse zwischen kognitiven und affektiven Prozessen deutlich: Affekte wirken auf Denken und Wahrnehmen (»Wutlogik«) und damit auch auf das Verhalten. Andersherum werden Affekte durch Denken beeinflusst – etwa, wenn jemand starke Eifersucht auch dann spürt, wenn er sich nur vorstellt, sein Partner könnte sich einem anderen zuwenden. Ebenso wirken sich »Erfolg« oder »Misserfolg« von Handlungen und wahrgenommene »äußere Gegebenheiten« auf Affekte aus – auch wenn diese wiederum stark der Bedeutungszuweisung in der Merk- und der Wirkwelt unterliegen. Wieder sehen wir, wie stark sich die Prozessebenen gegenseitig beeinflussen. In unserer Alltagswelt neigen wir allerdings dazu, diese komplexen zirku lären Dynamiken auf einen »äußeren Verursacher« oder gar »Täter« zu reduzieren. Denn es handelt sich ja um Erklärungen, bei denen das greift, was wir als Sinnattraktoren bezeichnen (vgl. Abschnitt 4.1.4). Und indem wir unsere Affekte spüren, die anderen und die Umwelt sehen oder uns daran erinnern, kommt die hohe konstruktive Leistung unserer »Erinnerung« (Unterkapitel 4.2) zum Tragen: Wir »wissen« dann, wer oder was uns »schlechte Laune« oder aber auch viel »Freude« beschert hat. Aus situativen Bruchstücken der Erinnerung lassen sich unter dem Einfluss starker Affekte besonders gut einleuchtende Zusammenhänge in Form einer plausiblen Geschichte zusammenfügen (bzw. »narrativieren«). Dass wir dabei auch für unsere affektiven Stimmungen selbst ganz überwiegend andere oder Ereignisse aus der »Außenwelt« verantwortlich machen103, ist nur allzu verständlich. Denn wie auch sonst in unserer Lebenswelt erscheint uns »die Welt da draußen« gut zugänglich und vertraut. Im Gegensatz dazu sind uns die inneren Zusammenhänge unseres Seelen lebens weit weniger vertraut und zugänglich. Dies soll in der folgenden »Fall«Vignette deutlich werden:
103 Mit der Ausnahme, wenn es sich klar um diffuse Stimmungen handelt, die wir als »unerfindlich« beschreiben (siehe Unterkapitel 5.3).
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Fallvignette: Thomas – oder Die »Wutlogik« in der Praxis Im Rahmen eines Fünf-Tage-Seminars mit Professionellen aus dem psychosozialen Bereich fand am Morgen des dritten Tages die übliche »Runde« statt: Alle saßen im Kreis auf dem Boden und jeder sollte kurz sagen, wie es ihm gerade ginge, was wichtig wäre etc. Als die Reihe an Thomas war, meinte er zum Seminarleiter: »Mir geht es schlecht. Ich habe die ganze Nacht kaum geschlafen. Immer wieder kam mir die Bemerkung in den Sinn, die Sie gestern Abend über mich gemacht haben. Das hat mich sehr verletzt. Je mehr ich daran dachte, desto wütender wurde ich. Und ich merke, dass ich jetzt auch noch ›stinksauer‹ bin.« Der Seminarleiter fragte, welche Bemerkung Thomas meinte. Als dieser erzählte, welche Äußerung ihn so beschäftigte, fiel dem Seminarleiter ein, tatsächlich dies oder so etwas Ähnliches gesagt zu haben – allerdings hatte er es anders gemeint und eigentlich sollte es witzig sein. Aber selbst ganz wörtlich und ernst genommen konnte diese Bemerkung nicht der einzige Grund für Thomas Ärger sein. Also lud er Thomas ein, daran mit ihm zu arbeiten (genau solche Arbeit war ja der Gegenstand des Seminars). Der Leiter bat Thomas, sich nahe zu ihm, Face-to-Face, auf den Boden zu setzen. Ihre Gesichter waren nun weniger als einen halben Meter entfernt. Er bat Thomas, ihm zunächst direkt ins Gesicht zu sehen. Dann sagte er: »Nun schließen Sie bitte ihre Augen und versuchen das Bild meines Gesichts vor Ihrem inneren Auge zu behalten – gleichzeitig aber Ihre Wut möglichst deutlich zu spüren. Lassen Sie sich Zeit – und wenn Sie diese Wut intensiv im ganzen Körper spüren können, heben Sie ganz leicht die rechte Hand, damit ich Bescheid weiß.« Es dauerte – wie erwartet – etwa vier bis fünf Minuten, bis Thomas leicht seine Hand hob. Der Leiter sagte: »Nun öffnen Sie Ihre Augen und schauen mich an!« Thomas öffnete die Augen. Dann runzelte er etwas die Stirn, schüttelte leicht den Kopf und schaute verwundert drein. Plötzlich kam ein leichtes Lachen über sein Gesicht.104 Der Seminarleiter sagte: »Okay – schließen Sie noch mal die Augen. Lassen Sie sich Zeit – und gehen der Differenz der Bilder nach.« Was war geschehen?
104 Es ist keineswegs immer so, dass im Sinne eines Aha-Erlebnisses sofort (hinreichend zunächst) deutlich wird, was es mit der »Differenz« auf sich hat. Oft wird das erst nach und nach klar, wenn dann mit der Differenz der Bilder gearbeitet wird – wie und worin sie sich unterscheiden, welche Erinnerungen und Gefühle sie wachrufen (besonders natürlich das »veränderte« bzw. »teilweise wieder erinnerte/rekonstruierte« Bild).
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Unter »normalen« Bedingungen ist es nicht schwer, sich ein Bild über einige Minuten »vor Augen« zu halten.105 Doch während wir subjektiv den Eindruck haben »etwas vor Augen« zu halten, läuft im Gehirn unbemerkt ein interessanter Prozess ab: Das »Arbeitsgedächtnis« kann Information, also auch ein solches Bild, ja nur wenige Sekunden präsent halten.106 Daher wird es immer wieder im Langzeitgedächtnis zwischengespeichert, von dort neu aufgerufen, zwischengespeichert etc. Auch wenn unser Bewusstsein davon nichts mitbekommt: Es handelt sich um einen iterativen Prozess zwischen Arbeits- und Langzeitgedächtnis. Und dieser unterliegt den gleichen Dynamiken, die wir immer wieder in diesem Buch anführen haben – man denke nur an die Veränderung von Zeugenaussagen oder an »Erlebnisse«, wie man vermeintlich in einem Supermarkt verloren gegangen ist in Abschnitt 4.2.1. Sich das gerade gesehene Bild eines Gesichts einige Minuten lang zu »vergegenwärtigen«, klappt dennoch unter »normalen« Bedingungen hinreichend gut, wie man leicht ausprobieren kann. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn diese iterativen kognitiven Prozesse in einer »Umgebung« von massiven Affekten ablaufen. Das, was auch Ciompi als »Wutlogik« bezeichnet, wird hier wirksam: Die starken Affekte beeinflussen in hohem Maße die kognitiven Prozesse. Und in der Regel merken wir dies nicht einmal selbst. Auch bei Thomas veränderte sich das innere visuelle Bild des Leiters durch die starken Affekte, unter denen der kognitive Zyklus des »Vor-Augen-Haltens« stattfand. Selbst aber bekam er von dieser Veränderung zunächst nichts mit, sondern hielt vermeintlich das »Bild« vor Augen konstant. Erst als er nach vier bis fünf Minuten die Augen öffnete und sein »inneres« Erinnerungsbild mit der Wahrnehmung des »äußeren« Bildes konfrontiert wurde, war auch die Veränderung so offensichtlich, dass er recht verwundert reagierte. Ein solcher Überraschungseffekt ist für die weitere Arbeit sehr hilfreich, denn sie macht ohne große Erklärungen das Ausmaß an Konstruktion der »Realität« erfahrbar deutlich. Bei Thomas war es so, dass ihm nach der Überraschung recht schnell das Aha-Erlebnis kam, dass sein »inneres Bild« wesentliche Gesichtszüge eines Lehrers angenommen hatte, der – vor dem Abitur und rund zwei Jahrzehnte zurückliegend – oft Witze auf Thomas’ Kosten gemacht und ihn so vor der Klasse gedemütigt hatte. Das hatte Thomas inzwischen »eigentlich« längst vergessen und selbst in der schlaflosen Nacht kam er in seiner inten-
105 Auch wenn es wegen der geringen Distanz ein weit real-detaillierteres Bild ist, das man sich »vor Augen hält«, als das Bild einer bekannten oder gar weniger bekannten Person, das man sich »einfach gerade aus der Erinnerung« oder bei flüchtigem Hinsehen vorstellt. 106 Vgl. hierzu Abschnitt 4.2.1 und Abbildung 36.
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siven Auseinandersetzung mit seinem Ärger nicht auf die Idee, dass hier ein Zusammenhang bestehen könnte. Nachdem Thomas dies erzählt und durch Nachfragen des Leiters weitere Aspekte geklärt hatte, war es nur noch wichtig, dass der Leiter auch explizit sagte: »Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Ich hatte nicht geahnt, was das auslösen könnte. Aber ich bin nicht der, welcher Witze auf Ihre Kosten machen will!« Eine solche klare und explizite Aussage dient der Festigung der Stimmigkeit zwischen kognitiver und affektiver Ebene. Nach dieser kurzen Arbeit war zwar Thomas Ärger auf den Leiter weitgehend verflogen. Aber seine Stimmung hatte sich nicht gleichermaßen aufgehellt. Es war nun eine komplexe Gemengelage aus Ärger über den Lehrer, Wehmut über seine damalige Machtlosigkeit, sich nicht besser wehren zu können, und Traurigkeit darüber, keine Hilfe von Eltern oder anderen erhalten zu haben. Dies beschäftigte ihn noch eine geraume Zeit.
Diese Nachsätze zur Fallvignette verweisen auf einen wichtigen Aspekt im Verhältnis von affektivem und kognitivem Geschehen: Denn einerseits bestimmt in jedem Moment unseres Lebens eine komplexe Verwobenheit von gleichzeitig ablaufenden affektiven und kognitiven Prozessen unser Dasein. Andererseits spielen sich affektive Gestimmtheiten und rational-logische Denkprozesse – besonders deren Veränderung – in unterschiedlichen Zeitfenstern ab107, die es besonders in Therapie, Beratung und Coaching zu beachten gilt: Wenn ein Lastwagen gerade lebensgefährlich nah an mir vorbeifuhr und ich »fast« überfahren wurde, so bedarf es höchstens Sekunden für die logische Operation: »Ich bin nicht überfahren worden!«. Doch der Schreck in diesem Augenblick kann mir sowohl »in die Glieder fahren« (z. B. in Form von Muskelverspannungen) als auch Hormone ausschütten (u. a. Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin). Dies lässt sich nicht so schnell wieder beseitigen. Noch Stunden später können sich die Wirkungen dieser so veränderten Körperprozesse auf meine Wahrnehmungen, meine Gedanken und mein Verhalten bemerkbar machen. Die vor allem an biochemische Prozesse gebundenen affektiven und anderen körperlichen Vorgänge laufen somit üblicherweise in vergleichsweise großen Zeitfenstern ab. Gestimmtheiten sind recht andauernd und nur langsam änderbar. Im Gegensatz dazu ermöglichen es die bioelektrischen Vorgänge in den Nervenzellen im Neocortex, logische Denkoperationen sehr schnell zu vollziehen und damit gegebenenfalls auch eine bestimmte (logisch fundierte) »Sicht« zu ändern. 107 Dies hat bereits Ciompi 1982 in seiner »Affektlogik« ausgeführt.
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Wenn Klienten eine solche veränderte Einsicht äußern, sollten Therapeuten vorsichtig und wachsam bleiben: Es gibt sehr selten Probleme und Beschwerden, die ausschließlich auf der rationalen Ebene liegen und die nicht auch affektiv verkörperlicht sind. Kognitive »Einsichten« benötigen daher Zeit, bevor sie für den ganzen Menschen – kognitiv und affektiv – »stimmig« werden können. Und es ist daher gut, dies in Rechnung zu stellen und gegebenenfalls auch zu vermitteln, warum die Gefühle nicht so plötzlich mit der Einsicht »stimmig« werden können. 4.4.2 Der Körper als biologische Basis unserer Lebenswelt Die Vignette mit Thomas soll anschaulich machen, wie stark unsere Affekte die kognitiven Prozesse beeinflussen können. Sie demonstriert aber auch den umgekehrten Einfluss – der besonders auch für die Praxis von Psychotherapie, Beratung und Coaching wichtig ist: Es zeigte sich ja, wie die vergleichsweise kurze Arbeit mit Thomas dazu führte, dass sich dieser an seinen Lehrer, die damaligen Situationen und Demütigungen erinnern konnte. Damit war ihm auch klar, dass ein Großteil des Ärgers, an dem er die ganze Nacht »gekaut« hatte, eigentlich dem Lehrer galt – womit sich Thomas Ärger auf den Seminarleiter veränderte (auch wenn sich seine Stimmungslage erst langsam wieder aufhellte). Die Erinnerung an den Lehrer war somit in Thomas Organismus präsent, führte sogar in der aktuellen Situation über Stunden zu massiven psychischen und auch verhaltensmäßig belastenden Prozessen. Ohne dass Thomas aber selbst zunächst auf diese Erinnerungen als eine wichtige Wirkursache zugreifen konnte, sondern für ihn der Seminarleiter der »Grund« war. Damit verbunden sollte man sich eigentlich auch wundern, dass in der Übung zwar das »Bild« des Seminarleiters – sich verändernd – »vor Augen gehalten« werden konnte (was oben als Zyklus von Speichern und Aufrufen im Arbeitsbzw. Kurzzeitgedächtnis erklärt wurde), dass aber dabei das »Bild« des Lehrers vor dem Öffnen der Augen nicht auftauchte. Dennoch muss dieses ja nicht nur irgendwie im Langzeitgedächtnis vorhanden gewesen sein, sondern löste sogar die Affekte (mit) aus, welche das »Bild« des Seminarleiters veränderten. Die damit zusammenhängenden Fragen erfordern es, zu den funktionellen Leistungen des Organismus, wie diese im Schema Abbildung 36 skizziert sind, explizit das (reflexive) Bewusstsein als gesonderten Prozess zu berücksichtigen. »Ein Bild vor Augen halten« bedeutet dann nicht nur, dass das gerade gesehene Gesicht des Seminarleiters immer wieder aus dem Langzeitgedächtnis ins Arbeitsgedächtnis geholt wird, sondern das bedeutet zusätzlich, dass das Arbeitsgedächtnis dies dem Bewusstseinsprozess zur Verfügung stellt. Die
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Erfahrungen von Thomas mit seinem Lehrer, die ebenfalls im Langzeitgedächtnis gespeichert sind (und vermutlich in weiteren Systemen, die eher dem Körpergedächtnis zugrunde liegen), werden eben (zunächst) nicht bewusst. Gleichwohl beeinflussen sie die Affekte, die Wahrnehmung und das Verhalten. Da unser kognitiv-psychisches Bewusstsein allerdings nach »Ordnungen« und »Gründen« sucht, war in der Nacht zuvor der Seminarleiter der »Grund« für die starken negativen Affekte.108 Dass der Organismus jenseits unseres Bewusstseins ein so starkes Eigenleben führt, sollte uns eigentlich mit Verweis auf die überaus beachtlichen Fähigkeiten der Tiere, die wir in Kapitel 2 nur angedeutet haben, nicht besonders verwundern. Schließlich haben die Tiere kein – oder höchstens ein vergleichsweise rudimentäres – Bewusstsein. Gleichwohl können sie in den unterschiedlichen Umwelten ihrer gemeinsamen Umgebung vortrefflich leben. Und es sei daran erinnert, dass sie in hochkomplexer Weise situationsangemessen auf Anforderungen und beträchtliche Veränderungen ihrer Umwelt reagieren können – und das alles auf der Basis ihrer ererbten Ausstattungen und instinktiven Programme, aber auch auf der Basis von Lernvorgängen. Dazu benötigen sie kein (reflexives) Bewusstsein. In Bezug auf den Menschen gehört es allerdings zur alltagsweltlichen Selbstverständlichkeit unserer Kultur (besonders der »westlichen«), dass wir uns ständig als weitgehend bewusst Handelnde verstehen und dass unser Bewusstsein zentral und unabdinglich sei, um die täglichen Aktivitäten auszuführen. Jeder Einzelne sieht sich dabei als ein Subjekt, das weitgehend selbstbestimmt auf der Basis vernünftiger Abwägungen und wahrgenommener Bedürfnisse Entscheidungen fällt. Wobei wir als bewusst Handelnde freilich auf die Sachzwänge und die Anforderungen anderer »reagieren« und den Möglichkeiten und Grenzen des Bereichs, auf den wir einwirken wollen, selbstverständlich auch Rechnung tragen. Wenn dieses Bild von uns selbst zuträfe, so wären allerdings Psychotherapie, Beratung und Coaching – und wohl auch dieses Buch – weitgehend überflüssig. Doch es wird in Unterkapitel 4.1 gezeigt, dass es uns oft am Bewusstsein für die Macht interpersoneller Dynamiken fehlt und unsere »bewusste« Erklärung, nur auf den anderen zu reagieren, weder richtig noch hilfreich ist. In Unterkapitel 4.3 stellen wir heraus, dass es uns meist am Bewusstsein für den massiven Einfluss der »kulturellen Werkzeuge« – besonders der Sprache mit ihren Metaphern und Erklärungsprinzipien – mangelt und wir uns damit oft selbst missverstehen. Unterkapitel 4.2 zeigt, dass wir auch weitgehend kein Bewusstsein 108 Immerhin hatte er mit seiner Bemerkung ja tatsächlich den affektiven Prozess angestoßen.
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von den kognitiven Dynamiken haben, mit denen wir die uns dann bewusste »Realität« aus den vielfachen Deutungsmöglichkeiten als »selbstverständlich wahre Ansicht« konstruieren. Und oben zeigen unsere bisherigen Ausführungen zur beispielhaften Affektlogik und zur »Wutlogik« von Thomas, wie stark unsere Vorstellung darüber fehlgehen kann, was in uns vorgeht und warum wir wie handeln, weil wir ein nur mangelhaftes Bewusstsein für die eigentlich wirkenden körperlichen Prozesse haben. Bei Thomas war es so, dass er sein Erleben zwar angemessen als »Wut und Ärger« wahrnahm, aber in seiner »selbstverständlichen« bewussten Erklärung hierfür keine Einsicht in einen Teil seines Innenlebens hatte. Wir wissen aber aus Therapien und bei uns selbst, dass wir in manchen Situationen spontan oder nur scheinbar überlegt handeln und uns die zugrunde liegenden Affekte und Motive erst später oder gar nicht bewusst werden. Wenn wir daher die Rolle des Köpers im systemischen Zusammenspiel mit psychischen, interpersonellen und kulturellen Prozessen angemessen verstehen wollen, müssen wir dessen »Eigenleben« etwas genauer ins Auge fassen: Dazu ist es hilfreich, auf der Basis des »klassischen Grundmodells des Gedächtnisses« (Abbildung 36) ein funktionelles Schema des Organismus ohne Bewusstsein (Abbildung 45a) mit dem Schema zu kontrastieren, in welches der Bewusstseinsprozess explizit eingezeichnet ist (Abbildung 45b).
(a)(b) Abbildung 45: Das klassische kognitive Grundmodell des Gedächtnisses (aus Abbildung 36) ergänzt (a) um weitere Körperprozesse und (b) zusätzlich um den Bewusstseinsprozess Abkürzungen: VSTM = Very Short Term Memory, AS = Arbeitsgedächtnis, LTM = Long Term Memory, EK = Efferente Kommunikationen, AK = Afferente Kommunikationen, SK = Selbst referente Kommunikationen (zu EK, AK, SK siehe S. 137), BEW = Bewusstseinsprozess
Dabei ist Abbildung 45a gegenüber dem »klassischen Grundmodell« lediglich etwas erweitert: Zum einen ist explizit der »Körper« eingezeichnet, weil neben den Affekten auch beispielsweise Spannungen in Muskeln und Sehnen im Sinne der Bioenergetik ebenfalls biografische Erfahrungen »gespeichert«
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haben und nun ständig über Interozeptoren die aktuellen kognitiven Prozesse beeinflussen. Zum anderen ist ein dünner Pfeil vom Strom des Ausdrucks zum Strom der Eindrücke hinzugefügt. Dies soll darauf hinweisen, dass ein Teil des Einwirkens auf die Umwelt vom Organismus selbst wieder wahrgenommen wird.109 Abbildung 45b trägt unserer obigen Argumentation und dem Beispiel von Thomas Rechnung, dass auch in einem solchen, rein funktionellen Modell in Bezug auf den Menschen zusätzlich ein Prozess ergänzt werden muss, der gemeinhin als Bewusstsein – bzw. Bewusstseinsstrom im Sinne von William James (1890)110 – bezeichnet wird. Um nun das hervorgehobene »Eigenleben« des Organismus zu würdigen, sei auf dessen beachtliche Leistungen »ohne Bewusstsein« – also rein auf der Basis der in Abbildung 45a angeführten funktionellen »Module« – hingewiesen. Bereits im ersten Kapitel wird als Beispiel eine Situation gewählt, in der wir am Steuer eines Wagens sitzen und einen hinreichend vertrauten Weg zurücklegen. Wir können mit unserem Bewusstsein ganz in einem intensiven Gespräch mit dem Beifahrer vertieft sein – oder auch einfach nur intensiv über ein Problem nachdenken. Trotz der vertrauten Wegstrecke kann man hier in Bezug auf die zu vollbringenden kognitiven Leistungen keineswegs im üblichen Verständnis von »automatisch« sprechen. Denn trotz der scheinbaren »Routine«, die uns ermöglicht, diesen Weg zu fahren, muss sich unser Organismus mit seiner Merkwelt und Wirkwelt (d. h. den AK und EK) in ein komplexes Geschehen (Straßenverkehr) »einklinken«. Er muss dabei in hohem Maße situationsspezifische »Reize«, etwa das Verhalten der anderer Verkehrsteilnehmer selektiv wahrnehmen, gezielt auf umfangreiche im Gedächtnis gespeicherte Information zugreifen und diese in adäquater Weise verarbeiten (z. B. die Bedeutung von Schildern, Ampeln und anderen Zeichen verstehen). Und gleichzeitig muss unser Organismus mit ebenso wohlkoordinierten motorischen Reaktionen auf 109 Abbildung 45a entspricht daher weitgehend dem Funktionskreis von von Uexküll (vgl. Abbildung 1 bzw. 2), auch wenn hier für die Diskussion die kognitiven Aspekte (AG und LTM) von den affektiv-körperlichen (»Körper«) unterschieden werden. Daher sei daran erinnert, dass die Bezeichnung »Strom der Eindrücke« (AK) sich auf die Merkwelt bezieht und »Strom des Ausdrucks« (EK) auf die Wirkwelt. Abbildung 45a enthält daher nichts, was typisch für den Menschen und seine Lebenswelt wäre – gilt also weitgehend genauso für Tiere (besonders für Säugetiere). Erst mit dem zusätzlichen Bewusstseinsprozess, den selbstreferenten Kommunikationen (SK) können wir uns auf das typisch Menschliche beziehen. Damit die Darstellung für Leser nicht zu »technisch« oder »abstrakt« erscheint, wird hier bevorzugt statt von AK, EK und SK salopp und alltagspsychologisch entsprechend gesprochen von: Eindrücken oder Wahrnehmungen/Ausdruck, Verhalten und Handeln/Bewusstsein. 110 Der Begriff »Strom« trifft die subjektive Kontinuität des Bewusstseins gut. Es sei bemerkt, dass mit Bewusstseinsstrom in der Literaturwissenschaft eine Erzähltechnik bezeichnet wird, die scheinbar in ungeordneter Folge Bewusstseinsinhalte einer oder mehrerer Figuren wiedergibt.
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die Umwelt einwirken (Lenken, Bremsen, Schalten, Zeichen geben etc.). Wobei zwischen den intersubjektiven Aspekten der Umgebung und den subjektiven der Umwelt keine allzu große Diskrepanz herrschen darf – sonst käme es schnell zu einem Unfall. Dies alles ist ein kaum zu fassender komplexer kognitiver und motorischer Koordinationsprozess, mit dem wir uns auch dann in interaktive und kulturelle Prozesse einfädeln, wenn unsere bewusste Aufmerksamkeit mit ganz anderen Inhalten beschäftigt ist. Selbst typische Wegveränderungen (z. B. Hindernisse) werden koordiniert und adaptiv bewältigt, ohne dass wir dabei aus unseren Gedanken oder dem Gespräch gerissen werden. Wir vertrauen freilich darauf, dass wir die Führung wieder bewusst übernehmen würden, wenn eine wirklich gefährliche oder absolut neue Situation entstehen würde. Dies ist nur ein kleines alltagstypisches Beispiel. In einer umfassenden Darstellung sowohl von empirischen Ergebnissen als auch von phänomenologischen Befunden und Analysen belegt Julian Jaynes (1993)111 recht eindrucksvoll, zu welch umfassenden und differenzierten Leistungen der Mensch auch ohne reflexives Bewusstsein fähig ist. Selbst viele beachtliche Kulturleistungen sind demnach keineswegs an die Voraussetzung eines reflexiven Bewusstseins gebunden. Wie immer man zu der Analyse von Jaynes stehen mag: Gemeinhin überschätzen wir für unser Alltagsverhalten die Rolle bewusster Vorgänge ebenso, wie wir die Bedeutsamkeit affektiver – und allgemein: körperlicher – Prozesse auf das Bewusstsein und unser Handeln unterschätzen.112 Erst die dichterischen und philosophischen Vorläufer des »Unbewussten« des 19. Jahrhunderts – wie u. a. Schopenhauer, Dostojewski, Nietzsche – und dann natürlich Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts eröffneten in unserer Kultur die Einsicht in den hohen Anteil nicht bewusster Prozesse in den
111 Auch wenn ich der – in der Fachliteratur vielfach diskutierten – Kernthese von Jaynes nur begrenzt zustimme, nach welcher das, was wir (reflexives) Bewusstsein nennen, erst sehr spät in der Menschheitsgeschichte aufgetreten ist, nämlich vor etwa 2.500 Jahren, zwischen der Entstehung von »Ilias« und »Odyssee«: Es lohnt nicht nur, in den ersten rund hundert Seiten seines Werkes den Argumenten nachzugehen, sondern auch seine Befunde und Thesen anzuschauen, nach denen die viel älteren beeindruckenden Kulturleistungen der Ägypter, Chinesen, anderer Kulturen und selbst der frühen Griechen durchaus mit einer Organisation der Hirnleistungen möglich war (ich sage vorsichtiger: möglich gewesen wäre), ohne ein Bewusstsein im heutigen Verständnis vorauszusetzen. 112 Und, wie wir oben resümierend feststellen, auch die Bedeutsamkeit interpersoneller, kultureller und kognitiver Wirkungen – besonders dann, wenn sie nicht einem einfachen Ursache- Wirkungs-Schema entsprechen, sondern komplexen, systemisch-zirkuläre Vernetzungen unterliegen.
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Aktivitäten der alltäglichen Lebenswelt.113 Freud und dann andere Psychoanalytiker und Therapeuten zeigten auf, wie wenig wir bei unseren Entscheidungen und unserem Verhalten »Herr im eigenen Haus« sind, sondern eher dem Steuermann auf einem kleinen Boot ähneln, das auf dem ungeheuren Strom des Unbewussten dahinmanövriert. Doch obwohl diese Erkenntnis zentrale Basis einer über hundertjährigen Entwicklung und Praxis besonders der Psychoanalytischen und (zeitverzögert, seit fünfzig Jahren) der Humanistischen Psychotherapie ist, hat diese Sichtweise durch Diskurse über die Bedeutsamkeit von »Bauchentscheidungen« (Gigerenzer, 2007) oder »Embodiment« (Storch u. Tschacher, 2015) eigentlich erst in letzter Zeit größere Aufmerksamkeit und Akzeptanz in breiteren Kreisen gefunden. Dabei wird die Unterscheidung, die Freud mit den Begriffen »Bewusstsein«, »Unbewusstes« und »Vorbewusstes« getroffen hat, als eine geradezu notwendige Differenzierung deutlich, wenn man in dieser Hinsicht die recht grob-funktionellen Abbildungen 45a und 45b miteinander kontrastiert: In dem Beispiel mit Thomas kann das Wissen darüber, dass der Vater früh gestorben ist, welches im Langzeitgedächtnis (LTM) »gespeichert« ist, durchaus die Prozesse im Arbeitsgedächtnis moderieren – und damit dann de facto auch die Art der »Verarbeitung von Informationen«, die Bedeutungszuschreibung bei der Wahrnehmung (AK) und letztlich auch das Verhalten (EK). Aber dies muss keineswegs bewusst sein. So wie bei Thomas das Wissen über seinen Lehrer und dessen Demütigungen in der geschilderten Situation (zunächst) nicht bewusst war, aber wesentlich den Ärger »über den Seminarleiter« bestimmte. In anderen Situationen hätte dies vielleicht gar massives Handeln ausgelöst – so wie nicht selten »dumpfe Wut« sich irgendwelche Opfer sucht oder »plausible Gründe« für die aggressiven Handlungen in der »Außenwelt« entstehen lässt.114 Wobei es Sinn macht, mit Freud das, was nicht bewusst ist, nochmals zu differenzieren: 113 Die Abhandlung von Sigmund Freud »Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum« aus dem Jahre 1904, war neben seiner »Traumdeutung« eine der zentralen frühen Schriften zur Psychoanalyse. Für die Diskussion dazu aus Sicht der Personzentrierten Systemtheorie siehe Kriz (2003). 114 Die narrative Kreativität unserer »Erklärungen« zeigen eindrucksvoll auch die Untersuchungen von Roger Sperry (1988) sowie Michael Gazzaniga (1989, 2000) an Split-Brain-Patienten (bei denen aufgrund medizinischer Indikation der Balken zwischen den beiden Hemisphären durchtrennt wurde): Gibt man der rechten Hirnhälfte die Anweisung, zu lachen, und fragt dann über die linke, warum der Patient lacht, findet er auf der Stelle eine plausible Erklärung: »Weil ihr so komische Leute seid!« Gibt man der rechten Hirnhälfte die Anweisung »reiben«, kratzt sich der Patient; fragt man ihn, warum er das tue, erklärt er: »Weil es mich juckt.«
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1. Etwas ist nur gerade im Moment nicht bewusst – so wie im obigen Beispiel Verkehrszeichen unsere Wahrnehmung für andere »Dinge« (weitere Verkehrszeichen, andere Verkehrsteilnehmer) und unsere motorischen Aktionen im Auto (Lenken, Schalten, Beschleunigen etc.) moderieren, während wir mit unserem Bewusstsein tief im Gespräch mit dem Beifahrer sind. Man kann sich zwar hinterher nicht einmal mehr an viele dieser Situationen, die rein vom Organismus »bewältigt« wurden, erinnern. Aber wir könnten eigentlich jederzeit unser Bewusstsein auf diese Verkehrszeichen und unser Handeln lenken. 2. Etwas ist grundsätzlich – oder zumindest typischerweise – nicht bewusst. Im Verkehr darf uns das beim Erfassen der Verkehrszeichen nicht passieren. (Beim Schalten etc. – also bei Prozessen des »prozeduralen Gedächtnisses« wird das allerdings schon diffiziler – vgl. Abschnitt 4.4.3). In Bezug auf die im LTM »gespeicherte« »Information« über den Tod des Vaters und etliche weitere Erlebnisse von Thomas zeigt die Psychologie freilich, dass es gute Gründe geben kann, dass die Gesamtheit der Prozesse im AG dazu führt, dass diese Aspekte nicht bewusst werden können – beispielsweise, weil schon bei Anflügen davon massive Gefühle aufsteigen oder weil die »Worte« dafür fehlen oder weil dies den Organismus in zu große Unruhe versetzt und er »gelernt« hat, dies herunterzuregeln. Das »Eigenleben« des Organismus ergibt sich somit dadurch, dass Anteile seiner Regulationsprozesse, die ins Bewusstsein gelangen können, keineswegs ins Bewusstsein gelangen müssen – weil unsere Aufmerksamkeit gerade auf anderes gerichtet ist (Fall 1) oder aber systematisch vorher wegreguliert wird (Fall 2) im Dienste einer eher konfliktfreien Gesamtorganisation.115 Das gilt analog auch für solche Lebenserfahrungen, die jenseits des Langzeitgedächtnisses in anderen Strukturen des Körpers repräsentiert sind: Von besonderer Bedeutung sind neben dem Hormonsystem die muskulären Strukturen – ein Aspekt, den Körperpsychotherapeuten schon immer betont haben. Auch hier sind Regelkreise typisch: So können starke Emotionen, besonders Angst, dadurch unterdrückt werden, dass man den Atem flach hält. Muss dies chronisch erfolgen – z. B. bei ungünstigen emotionalen Bedingungen seitens der Eltern – so werden die entsprechenden Muskeln chronisch angespannt. Wie 115 Eine weitere, klinisch wichtige Unterscheidung in Bezug auf Fall 2 wäre, ob man sich über sein Verhalten und/oder Erleben selbst wundert (sogenanntes »ich-dyston«) – was dann eher dem »neurotischen« Formenkreis zugeordnet wird – oder ob man davon ganz gefangen ist und keine Einsicht in die »Merkwürdigkeiten« hat (sogenanntes »ich-synton«) – was dann eher dem »psychotischen« Formenkreis zugeordnet wird.
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alle Muskeln werden diese durch solches »Training« zunehmen. Dies nun wiederum kann dazu führen, dass typische muskuläre Verspannungen und Verhärtungen (sogenannte »muskuläre Panzer«116) ausgebildet werden, welche die Atmung und die Emotionen auch dann noch flach halten, wenn der Mensch vielleicht erwachsen geworden ist und sich längst von den Eltern gelöst hat. Über Interozeptoren beeinflussen somit viele andere Bereiche des Körpers die Prozesse im Arbeitsgedächtnis – und damit wiederum auch, auf welche Information im Langzeitgedächtnis überhaupt zugegriffen wird sowie was davon ins Bewusstsein gelangt. Unsere »Weise in der Welt zu sein« ist somit von vielfältigen systemisch vernetzten Prozessen im Organismus mitbestimmt, wovon aber nur manches dem Bewusstsein zugänglich ist. Wenn man dies mit der obigen Vignette von Thomas und dessen »Ärgerlogik« in Verbindung bringt, so kann man unschwer dem recht allgemein formulierten (Grob-)Ziel von Psychotherapie, Beratung und Coaching zustimmen, das bereits Freud (1933/1969, S. 86) mit dem Kernsatz kennzeichnete: »Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.« Es geht hier darum, dem Bewusstsein (dem »Ich«) einen möglichst große Anteil der (bewusstseinsfähigen) organismischen Prozesse (des »Es«) zu erschließen – besonders die offensichtlich symptomatischen Aspekte. Und wie bereits mehrfach auch in diesem Buch betont, benötigen wir dazu die Kulturwerkzeuge der sprachlichen Symbolisierung. Allerdings – auch das war schon Freuds Anliegen mit seiner Problematisierung des »Über-Ich« (den Normen und Werten der Kultur) – nur in gleichzeitig kritischer Reflexion auch dieser gesellschaftlichen Strukturen, d. h. auch einer Problematisierung lebensweltlicher »Selbstverständlichkeiten«. Dies ist eine wichtige Basis, um die »Täterschaft« für sein Leben zu übernehmen und vom Getriebenen zum Gestalter zu werden (vgl. Abschnitt 4.1.4). In den gegenwärtigen Diskursen im Bereich von Psychotherapie, Beratung und Coaching wird hierzu besonders der Aspekt der »Achtsamkeit« hervorgehoben. Wobei es, in aller Kürze, im Kern genau um diese Zirkularität geht, nämlich die affektiven und körperlichen Prozesse, die unser Denken und Handeln beeinflussen, selbstreflexiv dem Bewusstsein zugänglich zu machen. Ziel ist, sich handelnd und denkend sein eigenes Fühlen so »anzueignen«, dass man sich selbst besser verstehen kann oder sich zumindest von diesen affektiven Prozessen kognitiv zu distanzieren vermag. 116 Oder »Charakterpanzer«, wie dies u. a. Wilhelm Reich (1933/1970) und Alexander Lowen (1979) genannt haben. Ein Charakterpanzer enthält die »erstarrte Lebensgeschichte« eines Menschen, »die funktionelle Summe aller vergangenen Erlebnisse« (Reich).
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Im weiteren Sinne ist damit aber auch eine Distanzierung in Form einer kritischen Überprüfung von jenen Anteilen des bewussten Erlebens gemeint, die zum eigenen organismischen Erleben nicht wirklich »stimmig« sind (vgl. S. 186 f., S. 190 f.), weil sie zusammen mit den Kulturwerkzeugen des Verstehens unbemerkt solche Metaphern, Prinzipien, Werte etc. vermitteln, die gar nicht zum eigenen Erleben passen. Sie wirken dann als von außen vorgegebene Fremdkörper, sogenannte »Introjekte«. Eine häufig verwendete Metapher hierfür ist, dass die eigene Wohnung teilweise mit Möbeln vollgestellt ist, die jemand (z. B. die Eltern) dort einfach abgeladen hat. So kann beispielsweise ein kleines Mädchen, das öfter von der Mutter die Bewertung gehört hat, ein lustvolles Berühren von Körperregionen »da unten rum« sei etwas Unanständiges, diese Bewertung für sich selbst übernehmen. In späteren Jahren kann dies bei lustvoller Stimulation bei sich selbst oder durch Partner nicht nur zur (korrekt differenzierenden) Erinnerung führen, »meine Mutter fand das anstößig« – was vielleicht die Befürchtung auslöst, dass auch andere »so was« anstößig finden könnten. Sondern sie kann sich selbst sagen, dass dies »unanständig« sei – oder, sogar weiter verallgemeinert, zu dem Schluss führen: »Ich bin unanständig!« Es ist verständlich, dass eine solche Introjektion ihren eigenen organismischen Prozessen zuwiderläuft und eine befriedigende Sexualität damit eher erschwert ist. Für eine Verringerung der unbefriedigenden Konstellation wäre hier – wieder global gesagt – die Unterstützung von Achtsamkeit für die wirklich eigenen Empfindungen wichtig. Ebenso aber auch die Achtsamkeit für die hinderlichen Bilder, Erinnerungen und Bewertungen, die dabei ins Bewusstsein strömen. Faktisch hat jede therapeutische Richtung Konzepte und Vorgehensweisen entwickelt, wie die Entwicklung zu mehr Achtsamkeit gefördert werden kann. Letztlich war ja auch die »Burn-out«-Problematik in der Vignette mit »Manfred« (zu Beginn des Kapitels 1) mit einem solchen Introjekt verbunden – das zudem für den Coachingbereich prototypisch ist: »Ich bin nur etwas wert (und verdiene Zuwendung), wenn ich für andere etwas leiste«, was vor allem dann zum Problem wird, wenn es mit dem Aspekt verbunden wird: »Egal, wie es mir dabei geht.« Im Kontrast zur Bewertung durch die Mutter im Beispiel eben, die tatsächlich in Satzform ausgedrückt haben mag, wie unanständig sie das Verhalten ihrer Tochter findet, wird Manfred die beiden Teilsätze (in Duform) vermutlich nicht wirklich zu hören bekommen haben (denn solche explizit formulierten Sätze hätten eher zur Rebellion gegen die Botschaft geführt). Sondern es handelt sich um ein erst von Manfred selbst so formuliertes Prinzip, nach welchem er seine Erfahrungen organisiert hat.
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Nach diesem Prinzip hat er sich weitgehend in seinem Handeln ausgerichtet. Und dies »funktionierte« lange Zeit auch recht gut: Er war auf diese Weise tatsächlich vielen etwas wert. Wie beim geschilderten unbewussten Autofahren hat Manfred sich erfolgreich mit diesem Prinzip durch seine Lebenswelt manövriert. Sein Bewusstsein konnte sich auf andere Dinge richten und sein Organismus sorgte dafür, dass er Anerkennung, Zuwendung und Aufmerksamkeit erhielt und die eigenen Belastungen bzw. Überlastungen nicht das Bewusstsein störten. Zudem dürften viele Personen in seiner Umgebung diese Strukturen seiner Lebenswelt aus Eigeninteresse gern unterstützt haben – wenn auch meist ebenso wenig bewusst und intentional. Vielmehr handelt es sich auch hier um ein wenig bewusstes interpersonelles systemisches Muster auf der Basis der sozialen Präformierungen und Bedeutungsfelder in unserer Kultur. Je mehr »Effektivität« und »Nützlichkeit« in den Vordergrund unserer Arbeits»kultur« gerückt werden, desto stärker werden solche Konstellationen gefördert. 4.4.3 Der Körper als Ort ganzheitlicher Organisation Oftmals wurden in diesem Kapitel bereits die beachtlichen Koordinationsleistungen unseres Körpers in unterschiedlichen Zusammenhängen hervorgehoben. Koordinationsleistungen, von denen wir mit unserem »Hausverstand« unterstellen, dass sie vom Bewusstsein gesteuert werden, obwohl wir eigentlich, wie beim Autofahren in der Stadt und im Gespräch mit dem Beifahrer, eigentlich ständig anderes erleben. Diese Aspekte sollen in diesem Abschnitt um weitere ergänzt werden, weil sich daraus zusätzlich erhellende Einsichten in das Zusammenspiel von Bewusstsein und Körper ergeben. Dazu beginnen wir mit einem Beispiel, das am besten jeder selbst mit seinen Fingern auf dem Tisch (oder auf dem Buch) nachvollziehen kann: Beispiel: Pseudoklavierspielen Man halte Zeige- und Mittelfinger beider Hände leicht über dem Tisch – so als wolle man »Klavier spielen«. Nun senke man rechts den Zeigefinger und links den Mittelfinger (Abbildung 46 links) – so als drücke man die imaginären »Klaviertasten«. Dann wechsle man – wie beim »Pseudoklavierspielen« – die Finger, sodass nun rechts der Mittelfinger und links der Zeigefinger die imaginären »Klaviertasten« drückt (Abbildung 46 rechts). Dies wiederhole man langsam, sodass eine asymmetrische Fingerbewegung entsteht (wie in der Abbildung 46 insgesamt skizziert ist).
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Nun beschleunige man nach und nach die Bewegungen und führe sie zunehmend schneller aus. Man wird feststellen, dass ab einer bestimmten Geschwindigkeit zunächst eine Instabilität auftritt – was sich wie »Verheddern« anfühlt – und bei noch höherer Geschwindigkeit die Bewegung symmetrisch wird: Die Zeigefinger beider Hände senken sich gleichzeitig und wechseln sich mit dem ebenfalls gleichzeitigen Senken beider Mittelfinger ab (siehe Abbildung 47). Offensichtlich lässt sich die asymmetrische Bewegung (Abbildung 46) bei zunehmender bzw. höherer Geschwindigkeit trotz des »Willens« dazu nicht durchhalten (routinierte Klavierspieler freilich etwas länger als Laien). Beginnt man hingegen gleich mit einer langsamen symmetrischen Bewegung (Abbildung 47) und beschleunigt diese, so tritt kein Wechsel auf: Mühelos lässt sich dieses Bewegungsmuster so schnell durchführen, wie man die Finger bewegen kann.
Abbildung 46: Asymmetrische Bewegung von Zeige- und Mittelfinger (»Pseudoklavierspielen«)
Abbildung 47: Symmetrische Bewegung von Zeige- und Mittelfinger (»Pseudoklavierspielen«)
Ganz offensichtlich ist das Bewegungsmuster »Symmetrie« in dieser Übung also hoch dominant gegenüber dem Bewegungsmuster »Asymmetrie«. Aber warum ist das so?
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(Vor dem Weiterlesen bitte selbst einmal versuchen, eine Erklärung zu finden!)
Sofern dieses Beispiel (oder ein ähnliches) nicht bereits bekannt ist, wird gewöhnlich zu folgender Erklärung gegriffen: Vieles in unserem Organismus ist symmetrisch aufgebaut – Augen, Ohren, Beine mit Füßen, Arme mit Händen und Fingern (also auch Zeige- und Mittelfinger), etc. Auch die Neurone im Motorcortex, welche die Bewegung der Finger steuern, sind links und rechts in den beiden Gehirnhälften grob symmetrisch vorhanden. Da ist es doch geradezu selbstverständlich, dass viel leichter und daher bevorzugt beide Zeigefinger bzw. beide Mittelfinger zu koordinierter, gleichzeitiger Bewegung angesteuert werden können als z. B. das Bewegungsmuster in Abbildung 46. Diese Erklärung ist einleuchtend – aber sie ist falsch. Beispiel Den Irrtum kann man leicht feststellen, wenn man die gleiche Übung durchführt, nun aber bei nur einer Hand (z. B. links) statt des Zeigefingers (ZF) den Ringfinger (RF) nimmt und bei beiden Händen weiterhin den Mittelfinger (MF) verwendet. Die asymmetrische Bewegung sieht dann, analog zu Abbildung 46 so aus: ZF rechts + RF links ← → MF rechts + MF links Wieder beginne man langsam und beschleunige: Sehr bald schlägt diese Bewegung in eine »optisch symmetrische« um, nämlich: ZF rechts + MF links ← → MF rechts + RF links. Und auch diese »optisch symmetrische« Bewegung kann man, sofern man damit beginnt, beliebig beschleunigen.
Dies ist insofern erstaunlich, als ja nun bei der »asymmetrischen« Bewegung beide Mittelfinger gleichzeitig, also symmetrisch, bewegt werden. Hingegen gibt es bei der »optisch symmetrischen« Bewegung keinerlei Symmetrie der Finger selbst: Zeigefinger plus Mittelfinger einerseits wechseln sich mit Mittelfinger und Ringfinger andererseits ab. Es sind also nicht die spiegelbildlichen Muskeln bzw. entsprechende Motoneuronen von linker und rechter Körperhälfte aktiv. Und es würden also nach der obigen »Erklärung« jeweils unterschiedliche Motoneurone für dieses bevorzugte Bewegungsmuster verantwortlich sein. Eine solche Bewegungsfolge hat man aber sicher nicht vorher »trainiert«. Sie gelingt vielmehr auf Anhieb. Und sie gelingt im Gegensatz zur Bewegungsfolge, wo zumindest die Mittelfinger – und damit symmetrische bzw. spiegelbildliche
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Muskelgruppen, innerviert durch ebenso spiegelbildlich angeordnete Nerven – sich im gleichen Takt bewegen. Es sei zudem bedacht, dass mit »optische Symmetrie« keineswegs die visuelle Feedbackkontrolle durch das Auge gemeint ist (oder durch ein anderes Sinnesorgan), wie dies etwa bei Handlungskontrolle unterstellt wird.117 Denn »symmetrisch« sieht dies nur für den Beobachter aus – man selbst kann bei Ausführung der Übung genauso die Augen schließen. Es geht auch nicht um propriozeptives Feedback im üblichen Sinne118: Denn was sollte für das Tastempfinden eine solche Symmetrie bedeuten, die durch unterschiedliche Finger erzeugt wird? Wir haben es hier also mit einem Phänomen zu tun, wo das motorische System einer Bewegungsgestalt auf Grundlage des recht abstrakten Prinzips »Symmetrie« folgt – und zwar gleichgültig, mit welchen Nerven und Muskeln der Organismus das im Detail ausführt. Diese Bewegungsgestalt ist sogar gegenüber meinem Willen dann dominant, wenn ich die Finger nicht recht langsam bewege und damit den Bewegungsablauf schrittweise willentlich kontrolliere, sondern durch die Schnelligkeit eine solche Detailkontrolle unrealistisch wird. Was hier bei nur oberflächlicher Betrachtung vielleicht als ein nettes Sonderphänomen abgetan werden könnte, das zudem mit dem »eigentlichen Anliegen« von Psychotherapie, Beratung und Coaching nichts zu tun haben scheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als etwas sehr Wesentliches zum Verständnis des Zusammenspiels von Bewusstsein und Körper (und damit auch für die anderen Prozessebenen).119 Dies wird leichter verständlich, wenn wir noch ein paar weitere experimentelle Befunde aus einem ähnlichen Bereich mit heranziehen:
117 Gemeint ist hier das »TOTE«-Modell von Miller, Galanter und Pribram (1960), das eines der ersten systemtheoretisch-kybernetischen Modelle zur Handlungssteuerung ist: Ein Test prüft den Unterschied zwischen Soll- und Ist-Zustand; bei Abweichung wird eine Operation ausgeführt. Danach erfolgt wieder der Test. Bei Abweichung wird diese Schleife so lange durchlaufen, bis Soll- und Ist-Zustand übereinstimmen – dann kann die Handlung als erfolgreich angesehen und die Handlungsschleife beendet werden (à Exit). 118 Wenngleich Propriozeption vermutlich wichtig ist – aber eben als Teil einer komplexen ganzheitlichen Verarbeitung. 119 Trotz (oder vielleicht: wegen) seiner Einfachheit wurden diese Befunde »Nature« – eine wissenschaftlichen Zeitschrift mit dem höchsten Ranking – publiziert (Mechsner et al., 2001; siehe auch Mechsner, 2004) – was vielleicht auf deren Bedeutsamkeit hinweist. Tatsächlich wurden schon zwei Jahrzehnten zuvor aufwendige Experimente mit Hochgeschwindigkeitskameras und mathematisch anspruchsvollen Analysen (vgl. Haken u. Haken-Krell, 1992, S. 35 ff.) unternommen. Die überzeugende Einfachheit von Mechsners Argumentation und Experimenten ist daher bestechend.
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Beispiel: Kognitive Gestalten ordnen motorische Dynamik Wieder handelt es sich um eine sehr einfache Versuchsanordnung – wobei der Leser den ersten Schritt sofort selbst ausprobieren kann, zumal er dem obigen Experiment mit dem »Pseudoklavierspielen« sehr ähnlich ist (Tatsächlich ist das obige Experiment auch erst nach dem folgenden als didaktisch vereinfachende Version ausgedacht worden): Man strecke die Zeigefinger beider Hände aus und bewege diese langsam parallel hin und her (wie in Abbildung 48b skizziert). Nun erhöhe man die Geschwindigkeit dieser Bewegung zunehmend und beobachte, was passiert: Ab einer bestimmten Geschwindigkeit merkt man, dass sich die Finger gar nicht mehr parallel, sondern symmetrisch aufeinander zubewegen (wie in Abbildung 48a skizziert). Wenn man allerdings von vorneherein langsam mit einer symmetrischen Bewegung beginnt und diese beschleunigt, so wird man keine Probleme haben: Diese bleibt symmetrisch. Symmetrie ist also dominant.
Abbildung 48: Symmetrische (a) bzw. parallele (b) Bewegung von Zeigefingern (aus Mechsner, Kerzel, Knoblich u. Prinz, 2001)
Wenn man das obige Experiment mit dem »Pseudoklavierspielen« nicht kennt, würde man als Erklärung für die Symmetriedominanz die Symmetrie der Neuronen, Nerven. Muskeln etc. im Körper anführen. Doch wie oben kann man dies durch eine einfache Umordnung der Aufgabe widerlegen: Man drehe dazu nur eine der Handflächen um (links schaut man dann z. B. auf den Handrücken, rechts auf die Innenfläche) und bewege wieder beide Finger parallel. Diese Bewegung entspricht nun aber, bezüglich der Muskeln und den motorischen Neuronen, der symmetrischen Bewegung oben, weil ja eine Hand gedreht ist. Man sollte dies nun also beliebig beschleunigen können. Es zeigt sich aber, dass man wieder in eine – nun »optische« Symmetrie verfällt – obwohl dies der obigen motorischen und neuronalen Parallelbewegung entspricht. Wieder ist also die Symmetrie der ausgeführten Bewegung dominant – obwohl nun Muskeln und motorische Neurone in ganz anderer Weise daran beteiligt sind.
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Zwischenresümee Zusammenspiel von Motorik, Wahrnehmung und Wille Man sieht auf dieser einfachen Ebene menschlichen Verhaltens, dass ein komplexes Zusammenspiel zwischen Muskeln, Neuronen, Wahrnehmung, Wille etc. 1. eine bestimmte Ordnung ergibt; 2. dass diese Ordnung durch eine Variable, die auf den ersten Blick scheinbar nichts mit dieser zu tun hat, nämlich »Geschwindigkeit«, ganz erheblich beeinflusst werden kann – nämlich von »parallel« auf »symmetrisch« wechselt; 3. dass dieser Wechsel hier nicht einmal willentlich beeinflusst werden kann, sondern Folge dieser Variablen »Geschwindigkeit« ist; 4. dass offensichtlich eine so ganzheitlich-abstrakte Größe wie »Symmetrie« diese Ordnung bestimmt – und nicht die Mikroprozesse der Muskeln und einzelner motorischer Neuronen. Die Systemtheorie spricht von typischen »Top-down«-Einflüssen, weil ganzheitliche Strukturen von »höherer Ebene« auf diese Prozesse der Mikroebene »hinunter«wirken: Die Motoneurone folgen scheinbar einfach dem ganzheitlichen Prinzip der Symmetrie.
Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses hat Mechsner nun weitergehende und noch interessantere Anordnungen zur Untersuchung solcher Topdown-Einflüsse erdacht: In diesen Experimenten sollten Personen nahezu unmögliche Koordinationsbewegungen ausführen – beispielsweise gleichzeitige Kreisbewegungen des linken und des rechten Unterarms im Verhältnis von 4:7. Wenn man dies ohne Übung versucht, wird man kläglich scheitern. Typischerweise käme man in unserer Kultur auf die Idee, dass die einzige Lösung dieser Aufgabe in intensivem Training läge. Doch Mechsner verwendete eine einfache Apparatur: Mittels beidhändig zu bedienender Kurbeln und eines Übersetzungsgetriebes für die Drehung von Zeigern wurde die komplizierte Bewegung visuell sehr einfach strukturiert – beispielsweise symmetrisch (siehe Abbildung 49).
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Abbildung 49: Verdeckte Beidhandbewegungen (aus Mechsner, Kerzel, Knoblich u. Prinz, 2001)
Auch sehr komplizierte motorische Koordination konnte nun von Versuchspersonen dann ausgeführt werden, wenn die Wahrnehmungsgestalt einfach (und bevorzugt symmetrisch) war – und zwar auf Anhieb, ohne großes Training. Allerdings funktionierte dies nur, wenn die Versuchspersonen nicht bewusst auf die Bewegung ihrer Hände achteten. Mit Mechsner können wir dies so interpretieren, dass eine äußere Bewegungsgestalt top-down dann die nötigen Abläufe für die Muskeln unbewusst und unwillentlich koordiniert.120
Mechsner hat später professionelle Marionettenspieler befragt, wie sie die komplizierten Bewegungen des Steuerkreuzes und der vielen Fäden daran bewerkstelligen, zumal einige Spieler sogar eine Puppe mit der linken und eine andere mit der rechten Hand steuern können. Die Antworten liefen darauf hinaus121, dass sich die Puppenspieler (fraglos auf der Basis bzw. unter Einsatz elementar gelernter Techniken zu grundlegenden Steuerbewegungen), »in die Puppe, bzw. in die Szene hineinversetzen«. Das heißt, dass die Bewegungen der Gliedmaßen der Puppe in der Anschauung122 der Spieler repräsentiert sind und sie so die Handbewegungen im Sinne einer imaginierten Bewegungsgestalt steuern. 120 Mechsner steht damit in der Tradition der Gestalttheorie: Bereits vor achtzig Jahren hat Kurt Goldstein (1934) das Konzept der »Selbstaktualisierung« eingeführt. Er zeigte, dass ein Käfer, dem man eines seiner Beine entfernt, in einer ganzheitlichen Umorganisation die verbliebenen Teile spontan in einer neuartigen Weise erfolgreich zur Fortbewegung umorganisiert. Goldsteins Credo war, dass der Organismus für seine Ordnung keinen externen »Organisator« braucht. Sondern in Relation zur Umwelt strebt der dynamische Prozess selbst zu einer angemessenen Ordnung, bei der die inneren Möglichkeiten und äußeren Gegebenheiten dynamisch zu einer ganzheitlichen Gestalt abgestimmt werden. 121 Mündliche Mitteilung anlässlich der Verleihung des Wolfgang-Metzgang-Preises an Mechsner 2003 in Karlsruhe. 122 Die Gestaltpsychologie spricht in Bezug auf das, was wir mit »Anschauung« bezeichnet haben, von der »phänomenalen Welt«. Dies ist die »Welt«, wie sie unmittelbar in meinem Bewusstsein vorhanden ist – also nicht die »Welt« der elektromagnetischen Schwingungen und physikalischen Kräfte, wie sie z. B. ein Physiker beschreibt, sondern die »Welt« der Farben, Werte, Bedeutungen, die ich als Subjekt erlebe.
Die körperliche Prozessebene
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Es geht hier tatsächlich um eine imaginierte Bewegungsgestalt123, denn die Bewegungen der Puppen müssen ja für die Zuschauer möglichst »echt« aussehen. Der Blickwinkel der Zuschauer auf die Bewegungen ist aber zentral, von vorn, während die Puppenspieler selbst objektiv von hinten und von schräg oben hinunterblicken. Etwas pathetisch ausgedrückt könnte man sagen, dass sich die Spieler mit ihrem Geist (als aufmerksamkeitsfokussiertem Bereich des Bewusstseins) ganz in den imaginierten Körper der Puppe versenken, um etwas für die Zuschauer auszudrücken. Zur Vermeidung von Missverständnissen soll erwähnt werden, dass die Betonung der anschaulichen Repräsentation im Bewusstsein, womit letztlich die Bewegungen der Puppe gesteuert werden, keineswegs im Widerspruch dazu steht, dass Puppen- oder Geigenspieler, Tänzer, Schauspieler etc. diese Steuerungen nur auf der Basis von erlernten und geübten »Techniken« ausüben können. Im Gegensatz zu Mechsners kompliziert-komplexen Bewegungen, die spontan und ungeübt ausgeführt werden können, wenn die Bewegungsgestalt einfach ist, reicht zum guten Violinspiel eben nicht einfach nur eine entsprechende Bewegungsgestalt (ergänzt gegebenenfalls um eine Musikgestalt) zum ausdrucksvollen Spiel einer bestimmten Passage. Sondern diese Bewegungsgestalt muss auch realisiert werden können, wozu grundlegende Techniken und konkretes Üben gehören. Gleichwohl darf man andersherum sagen, dass letzteres allein eben auch nicht ausreicht – bzw. selbst von Laien ein solches Unterfangen an einem vielleicht »technisch einwandfreien«, aber »seelenlosen« Spiel erkannt werden kann. Die ganzheitliche organismische Koordination der Lebensprozesse benötigt jedenfalls nicht unbedingt die Kontrolle des Bewusstseins, sondern kann dadurch gegebenenfalls eher gestört werden. Zu der komplexen Bewegung in Mechsners Versuchen gibt es ein viel älteres Bonmot, das diese Problematik ausdrückt: Der Tausendfüßler, der anfängt, über seine Bewegungen nachzudenken oder gar diese kontrolliert auszuführen, wird sich nicht mehr fortbewegen können. Interessanterweise finden wir dies bei manchen Zwangskranken bestätigt: Da das Gehen wesentlich darauf beruht, dass man dem Organismus zutraut, sich koordiniert auffangen zu können, wenn man sich vertrauensvoll nach vorne fallen lässt, führt eine zwanghafte Kontrolle des Gehvorgangs dazu, dass dies zu einem »langsam über den Boden Schlurfen« führt. Und schon 1964 hat Wolfgang Metzger124 mit der Frage »Was geschieht, wenn wir einen Arm bewegen, 123 Das Thema hat der Gestalttheoretiker Gerhard Stemberger (2009) in einem Beitrag zum Mehrfelderansatz behandelt: In der phänomenalen Welt des Puppenspielers wird demnach die Gestalt eines zweiten Ichs (des Marionetten-Ichs) in einer zweiten phänomenalen Welt ausgegliedert. 124 Metzger (1965/1986, S. 265) verweist dabei auf J. Pikler (1917) (zitiert nach Stemberger, 2015, S. 21 f.).
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Die vier zentralen Prozessebenen
etwa, um nach einem Gegenstand zu greifen?« unsere Anschauung als allgemeine Steuerinstanz hervorgehoben, die dann quasi vertrauensvoll dem Organismus die eigenständige Koordination überlässt. Metzger verweist dabei auf den Unterschied zwischen dem von der Person gespürten, gesehenen und bewegten Arm in dessen anschaulichem Bewusstsein einerseits und dem objektiv-physischen Arm andererseits: Der Angriffspunkt meiner willkürlichen Bewegung, mit der ich nach dem Gegenstand greife, liegt in meinem anschaulichen Bewusstsein klar in der Hand, die ich bewegen will. Hingegen befinden sich die Angriffspunkte der zugehörigen Innervationen »ebenso gewiss zum Beispiel in der Oberarmund Schultermuskulatur« (Metzger, 1965/1986, S. 272). Es scheint angebracht zu sein, diesen Abschnitt über den »Eigensinn« und das »Eigenleben« des Körpers mit einem Verweis auf Heinrich von Kleist zu beenden, um zu zeigen, dass die Problematik von reflexivem Bewusstsein und organismischer Koordinationsleistung bereits vor über zweihundert Jahren thematisiert wurde: In seiner Erzählung »Über das Marionettentheater« beschreibt Kleist (1810/2013) u. a., wie ein junger Mann, der zufällig und intuitiv eine Pose voller Anmut eingenommen hatte, diese Stellung nicht wiederholen konnte, als er darauf aufmerksam gemacht worden war. Je mehr er versuchte, diese Haltung durch bewusste Kontrolle seiner Muskeln herzustellen, desto verkrampfter und lächerlicher wirkte der Ausdruck. Das Bemühen, bewusst und intentional über eine muskulär-motorische Steuerung und Kontrolle der Bewegungen, eine komplexe Bewegung (siehe Mechsner), ein Greifen nach etwas (siehe Metzger) oder gar einen anmutigen Ausdruck (siehe Kleist) hervorbringen zu wollen, lässt dies eher scheitern. Wir kennen das, wenn wir »unbefangen« beim Fotografen lächeln oder uns »ganz natürlich« vor laufender Kamera bewegen sollen. Und die breite Palette pragmatischer Paradoxien, die besonders von der systemischen Therapie diskutiert werden, zeigt, wie stark das bewusste Erreichenwollen autonomer Funktionen manche Probleme erst schafft, verstärkt oder aufrechterhält: Der Versuch (oder das Befolgen der Aufforderung) »spontan zu sein«, sich »gewaltig« anzustrengen, »ganz locker zu sein« oder das krampfhafte Bemühen, in der Nacht vor einem wichtigen Termin zur Ruhe zu kommen, um einschlafen zu können, sind solche pragmatischen Paradoxien. Ebenso kann ein übermäßiges Beachten des Stotterns dieses eher verstärken: Das flüssige Sprechen setzt voraus, dass der Aufmerksamkeitsschwerpunkt beim Gegenüber und der Beziehung zu ihm liegt und nicht auf dem Sprechvorgang oder gar auf den Sprechorganen.125 125 Vgl. Stemberger (2015, S. 20 f.), der ausführt, dass Stottern »in der Regel mit einer spezifischen Störung der Ganzbeziehungen in der phänomenalen Welt verbunden« ist.
5 Die Welt des Bewusstseins
5.1 Die Komplementarität von subjektiver und objektiver Sicht auf Bewusstseinsprozesse126 Das vorangegangene Unterkapitel ist dem überaus komplexen Netzwerk an gegenseitigen Wirkungen auf unterschiedlichen Prozessebenen gewidmet. Hier befassen wir uns nun mit dem Zentrum127 dieses Wirkungsnetzes. Es geht um den Menschen als Subjekt128, das mit seinem reflexiven Bewusstsein sich selbst und seine Lebenswelt betrachtet. Diese Welt, wie sie sich anschaulich für das Bewusstsein darstellt, wird üblicherweise als »phänomenale Welt« bezeichnet. Im Gegensatz zur »physikalischen Welt« der Schall- bzw. elektromagnetischen Wellen, der Festkörper und anderer Objekte handelt es sich um eine Welt der Töne, Melodien und Farben, der Gebrauchsgegenstände, Bäume, Tiere und Mitmenschen etc. Vor allem aber ist es eine sinnvolle Welt: Statt isolierter Einzelphänomene enthält sie sinnvoll geordnete Gestalten. Selbst wenn in psychologischen Experimenten kurzzeitig rein zufällige Reize erzeugt und dargeboten 126 Bei genauerer Analyse erweist sich das, was mit »subjektiv« und »objektiv« gemeint sein könnte, als wesentlich diffiziler, als es in diesem Unterkapitel entfaltet werden kann: Schon um von meinen subjektiven Erfahrungen zu reden, bedarf es – wie bereits betont wurde und auch hier weiter ausgeführt wird – der Kulturwerkzeuge, also zumindest intersubjektiven Sinns. Andererseits sind natürlich intersubjektive oder gar objektive Erörterungsgegenstände (z. B. Familien oder Berge) für mich in meinem subjektiven Bewusstsein gegeben. Noch einmal etwas anderes thematisiert die Unterscheidung in phänomenale und transphänomenale Welt (siehe weiter unten). Offenbar muss man mit dieser Unschärfe und Mehrperspektivität leben (oder müsste ein unhandliches Begriffswerk konstruieren). Nimmt man einen Begriff wie »Lebenswelt«, so ist dieser selbst bei Husserl mal dem Bewusstsein des Subjekts, mal den intersubjektiven Sinnstrukturen zugeordnet. 127 Dies ist keine ontologische oder theologische Aussage – etwa der Mensch als Zentrum oder gar »Krone« der Schöpfung. »Zentrum« bezieht sich vielmehr auf die gewählte Perspektive dieses Buches. 128 Bereits in Kapitel 2 wird die biosemiotische Sicht herausgearbeitet, nach der z. B. auch der Einsiedlerkrebs als Subjekt aus der Umgebung seine spezifische Umwelt konstituiert. Allerdings gehen wir davon aus, dass der Krebs kein reflexives Bewusstsein hat, sich selbst also nicht als Subjekt sieht.
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Die Welt des Bewusstseins
werden – z. B. künstliche Arrangements, in denen Lampen an unterschiedlichen Stellen zeitlich zufällig aufblitzen, oder Silben und Farben in zufälliger, wechselnder Zuordnung präsentiert werden – sieht man »sich bewegende Gebilde« und bemerkt (nicht vorhandene) »Regelmäßigkeiten« in den Zuordnungen.129 In einer rein chaotischen, sinnleeren und sinnlosen Lebenswelt würden wir uns nicht nur zu Tode ängstigen130, sondern eine solche Welt ist für uns im wahrsten Sinne undenkbar.131 Denn Denken enthält immer Elemente, die bereits Sinn enthalten und zu anderen Elementen in sinnhaften Beziehungen stehen. Auch für das Subjekt selbst gilt, dass es in einer Lebenswelt nur existieren kann, indem es sich ständig vor dem Hintergrund einer hinreichend sinnvollen Vergangenheit »hier und jetzt« auf eine ebenso hinreichend sinnvolle Zukunft hin entwirft. Die in diesem Buch geschilderten Prozessdynamiken und herangezogenen Beispiele lassen sich daher auch unter der Fragestellung betrachten, was unsere phänomenale Welt beeinflusst. Denn Menschen kommen in Psychotherapie, Beratung und Coaching, weil es Bereiche, Vorgänge oder Erfahrungen in ihrer Lebenswelt gibt, die sie als »leidvoll« oder »problematisch« erleben. Sie mögen sich in anderen Bereichen noch so kompetent erleben, vielleicht sogar weitgehend zufrieden sein. Aber es gibt in ihrer Lebenswelt eben auch diesen problematischen Bereich, der auf unverstandene Weise Leid verursacht und wo die möglicherweise verstandenen Anteile dieses Leids offensichtlich nicht weiterhelfen oder gar Abhilfe schaffen können. Allerdings gibt es in ihrer phänomenalen Welt auch das Wissen – gegebenenfalls durch andere an sie herangetragen –, dass es Psychotherapeuten, Berater und Coaches gibt, die dabei helfen können, dass sie zu ihrem Erleben und Denken, ihrem Wahrnehmen und Handeln einen besseren Zugang finden. Das kann zunächst auch nur als Frage formuliert sein – etwa, was man denn machen könne, wenn die Umstände oder die anderen »so sind«, wie sich das in ihrem Bewußtsein darstellt. Dass das Bewusstsein des Subjekts eine so zentrale Rolle für die möglichen Unterstützungsangebote spielt, mag angesichts der vier Prozessebenen der Personzentrierten Systemtheorie nicht sofort klar sein. Denn es wird ja im Buch bisher beispielsweise der Fokus auf interpersonelle Muster der Interaktion und Kommunikation gelegt. Ebenso wird die strukturierende Macht der Sprache mit ihren Metaphern, Erklärungsprinzipien und Narrationen erläutert. Und letztlich 129 Hier werden die vielfältigen Dynamiken wirksam, die in Kapitel 3 und 4 diskutiert werden und die zu Sinnattraktoren führen. 130 Das habe ich u. a. in »Chaos, Angst und Ordnung« ausgeführt (Kriz, 1997/2011). 131 Als abstraktes Konzept kann man natürlich schon »sinnlose, chaotische Welt« denken, aber alle Wörter oder Bilder, die man zur konkreten Ausführung dieser Bezeichnung verwenden würde, sind bereits mit sinnhaften Bedeutungen versehen.
Die Komplementarität von subjektiver und objektiver Sicht auf Bewusstseinsprozesse
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wird gerade der oft nicht bewusste Einfluss des Körpers mit seinen Affekten, präformierten Kategorisierungen und verkörperten Repräsentationen biografischer Erfahrungen hervorgehoben. Dennoch: Gerade an den Mustern interpersoneller Interaktion wird bei genauerer Betrachtung der Einfluss des Bewusstseins deutlich, weil eben jede Kommunikation immer durch das Nadelöhr persönlicher Sinndeutungen gehen muss. Daher sieht sich in dem Mutter-Tochter-Beispiel die Tochter als »Opfer« der »kontrollsüchtigen« Mutter. Unsere systemtheoretische Erklärung aus der Perspektive eines Beobachters, dass es sich um eine zirkuläre Dynamik handelt, unter der zwar jeder der beiden als Opfer leidet, aber gleichermaßen als Täter dazu beiträgt, ist weder bei der Tochter noch bei der Mutter im Bewusstsein. Analog gilt dies für die Prozesse auf den anderen Ebenen: Auch wenn man nie wirklich im Einkaufszentrum verloren gegangen ist, spüren jene, die nach wenigen Hinweisen und der kognitiven »Komplettierungsdynamik« davon überzeugt sind, noch jetzt die Verlassenheit und Angst bei diesen »Erinnerungen«. In der phänomenalen Welt ertappt man sich auch immer wieder dabei, dass man Anforderungen der anderen auch dann nicht ablehnt, wenn es klar an die eigene Substanz geht, und dass es misslingt, trotz bester Vorsätze und redlichem Bemühen, auf einer Party einmal ganz locker und spontan zu sein. All dies spielt sich »auf der Bühne des Bewusstseins« ab (vgl. Unterkapitel 6.2). Dies ist der »Angriffspunkt« für die Wirkung der dargestellten systemischen Prozesse auf die Lebenswelt des Subjekts. Freilich kann man auch ohne eine solche Berücksichtigung der phänomenalen Welt professionell in die Welt hineinwirken. Das Subjekt mit seinem Bewusstsein muss dabei also nicht besonders beachtet werden. Ein Mediziner, der gegen körperliche oder psychische Beschwerden Pillen, Tropfen oder Krankengymnastik verschreibt, richtet sein Augenmerk auf jene Funktionsweisen des Organismus, die sich gegebenenfalls (wie Pharmaforschung und evidenzbasierte Studien herausgefunden haben) auch auf das Funktionieren der Psyche auswirken. Und wie man einen Hund konditionieren, dressieren, abrichten und trainieren kann, lässt sich auch in Psychotherapie, Beratung und Coaching eine ähnliche Perspektive im Umgang mit Organismen einnehmen: Das Bewusstsein des Patienten bzw. Klienten dient dann primär dazu, dass es Beschwerden und Probleme zu berichten vermag. Und dem Bewusstsein kann dann auch die Aufgabe übertragen werden, nach Anleitung die »Dressur« oder das »Training« des Organismus selbst zu überwachen bzw. die Veränderung konditionaler Bedingungen zu bewerkstelligen und zu kontrollierten. Diese Arbeitsperspektive ist nicht »falsch«: Denn auch professionelle psychosoziale Helfer haben unterschiedliche Biografien, Orientierungen und unterschiedliche Zugänge zur »Welt«. Zumal eine solche Art der Intervention nicht
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Die Welt des Bewusstseins
nur nachweislich gut funktioniert, sondern auch trefflich zu den Tendenzen unserer Kultur passt, die Ordnung von Prozessen durch Kontrolle herzustellen und aufrechtzuerhalten (vgl. Unterkapitel 3.8). Daher sind fraglos auch viele für eine Anleitung bzw. Unterstützung zur (besseren) Selbstkontrolle dankbar. Und es ist keineswegs ungewöhnlich, dass psychologische Patientenschulung vor allem dahingehend auf das Bewusstsein einwirken soll, die Compliance für die Maßnahmen der Ärzte und ihren Medikationen zu erhöhen sowie den manchmal komplizierten Umgang mit bestimmten Medikamentenzusammenstellungen und Apparaten zu trainieren und der diesbezüglichen Vergesslichkeit abzuhelfen.132 Allerdings ist genauso richtig und relevant, sich auf seine Klienten als Subjekte einzulassen: Mit den Augen des Menschen, der mir in der Beratung gegenübersitzt, blickt mich vor allem ein Subjekt an, das wesentlich durch sein Bewusstsein charakterisiert ist. Ein Subjekt also, das sich seine eigenen Gedanken und Vorstellungen über das macht, was zwischen uns geschieht und was ich ihm anzubieten habe. Ein Subjekt, das zwar mit mir in derselben physischen Welt lebt, das sogar einen Großteil der Alltagswelt mit ihren interpersonellen Sinndeutungen und Kulturwerkzeugen mit mir teilt, das aber im Detail seine eigenen Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle und Handlungsmöglichkeiten in seiner persönlichen Lebenswelt hat. Diese rein persönlichen Bereiche werden mir zwar verschlossen bleiben – was umgekehrt genauso für das Subjekt gilt, das mir gegenübersitzt. Aber im ohnedies umfassenden interpersonellen Bereich der Alltagswelt können wir uns – im Sinne der Synlogisation (Abschnitt 4.3.3) – einen gemeinsamen Raum aus vertieften gemeinsamen Bedeutungen einrichten. Dort können wir auch jene Aspekte nutzen, die in der Alltagswelt nicht oder kaum zur Sprache kommen und dennoch zumindest ein teilweises gegenseitiges Verstehen ermöglichen – aufgrund unserer gemeinsamen Menschheitsgeschichte und unserer vielen gemeinsamen biografischen Aspekte innerhalb einer gemeinsamen Kultur. Beispiel So kann ich verstehen, dass der Klient mir gegenüber, der ständig von seinen Erfolgen und Leistungen spricht, zwar vordergründig meine Bewunderung erwecken will, es ihm aber eigentlich darum gehen könnte, von mir – und vermutlich auch anderen – gesehen und beachtet zu werden. Auch wenn ich nicht weiß, wie sich diese Sehnsucht nach Beachtung für ihn wirklich genau anfühlt, kann ich ihn einladen und dabei begleiten, sich mit seinem Bewusstsein näher mit dieser Sehn132 Dies ist in Kriz (1994) diskutiert.
Die Komplementarität von subjektiver und objektiver Sicht auf Bewusstseinsprozesse
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sucht auseinanderzusetzen. Ich könnte ihn auch fragen, ob ihn eigentlich auch andere, nicht so gute und nicht so erfolgreiche Begebenheiten in seinem Leben bewegen, und mein Interesse daran bekunden, auch von diesen Aspekten zu hören und nicht nur immer seine »Schokoladenseite« präsentiert zu bekommen. Auch wenn er nun wiederum nicht genau wissen kann, was meinen Äußerungen in meinem Inneren entspricht – welche Empfindungen ich z. B. damit verbinde oder wie der weitere Kontext des Gesagten ist –, würde ihn meine eingenommen Perspektive vielleicht etwas verwundern. Meine Zuwendung zu seinen eher dunklen Seiten könnte gegebenenfalls eine (leicht) neue Erfahrung generieren und die jahrelang als Prinzip umgesetzte Hypothese »Ich bekommen nur Zuwendung für Leistungen und Erfolge« infrage stellen. Hier könnte ein Weg beginnen, wo er sich eingeladen fühlt, sich auch selbst mit seinem Bewusstsein diesen dunkleren Seiten zuzuwenden und dabei Szenen »erinnernd« zu generieren, in denen Zuwendung ausblieb oder gar Ablehnung erfolgte. Das wiederum könnte eigene Anfragen und Erkundungen seiner inneren Räume auslösen, wie wichtig ihm was und von welchen Menschen ist. Letzteres führt vielleicht zu einer Abwägung der »Kosten« und des »Nutzens«, sich ständig als Ganzes zu verstecken und nur seine strahlende Seite zu präsentieren. Zumal diese Seite vielleicht sogar Menschen, deren Zuwendung er haben möchte, auf die Nerven gehen könnte.
Diese skizzenhafte Schilderung von typischen Aspekten einer solchen gemeinsamen sinnorientierten Wanderung sollte deutlich machen, dass trotz letztlich gegenseitig nicht betretbarer subjektiver Bewusstseinsräume dennoch hilfreiche Angebote zu deren Erkundung und gegebenenfalls Neuorientierung möglich sind. Allerdings ist es dafür gut, wenn professionelle Begleiter einiges über die vernetzten Wirkungen der unterschiedlichen Prozessebenen wissen – beispielsweise über die unterschiedlichen Zeitfenster bei der Veränderung rational-kognitiver oder affektiver Strukturen, oder über den Zusammenhang von verkrusteten Interaktionsdynamiken mit reduzierten Sinndeutungen der Beteiligten. Immer ist dabei aber die grundlegende Komplementarität zweier Perspektiven zu beachten – nämlich die Perspektive, die wir einnehmen, wenn wir »die Welt« beschreiben, im Kontrast zur Perspektive, die wir einnehmen, wenn wir »die Welt« erleben.133 Es ist die Unterscheidung zwischen der Außensicht auf das Subjekt und der Innensicht des Subjekts selbst. Dem sollen einige Überlegungen gewidmet werden: 133 Wie noch in Unterkapitel 6.2 herausgearbeitet wird, ist das freilich nicht einfach trennbar, wie das auf den ersten Blick erscheint und auch in der kontrastierenden Debatte um die ErstePerson-Perspektive und die Dritte-Person-Perspektive in der Psychotherapie unterstellt wird.
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Die Welt des Bewusstseins
Aus der Außensicht von Psychologie, Physiologie und Hirnforschung auf unser (reflexives) Bewusstsein gehen wir davon aus, dass dieses mit den Prozessen im Arbeitsgedächtnis verbunden ist. Wie oben herausgearbeitet wird, gelangt zwar ein großer Teil dessen, was in einem funktionalen Gedächtnismodell im Arbeits»speicher« geschieht, nicht unbedingt ins Bewusstsein.134 Gleichwohl ist das, was wir als »Aufmerksamkeitsspanne« des Bewusstseins bezeichnen, von den umfangsmäßigen (sieben plus/minus zwei »Elemente«) und zeitlichen (circa 20 Sekunden) Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses abhängig: Was nicht erneut wahrgenommen oder über Schleifen explizit immer wieder in »Erinnerung« gebracht wird, entschwindet nach sehr kurzer Zeit dem Bewusstsein.135 Ganz im Gegensatz zu diesem sehr kurzen objektiven Prozess»fenster« des Arbeitsgedächtnisses steht der subjektive Inhalt des Bewusstseins. Wir haben den Eindruck, nicht nur das Hier und Jetzt zu erleben, sondern unser ganzes bisherige Leben überschauen zu können – dies freilich mehr oder minder verschwommen und bruchstückhaft und mit Abstrichen in Bezug auf die ersten Lebensjahre. Wichtige Stationen, Ereignisse, Beziehungen (und deren Entwicklungen) in der bisherigen Biografie erscheinen uns gegenwärtig zu sein. Dies gilt allerdings ebenso für bestimmte Ereignisse in naher Zukunft – z. B. der kommende Abend, eine Reise am Wochenende oder der nächste Geburtstag. In Abbildung 50 sind die Beziehungen zwischen beiden »Welten« schematisiert dargestellt: Das »Jetzt« bezieht sich auf jene Zeitspanne in der objektiven, physikalischen Zeit, während derer Inhalte im Arbeitsgedächtnis präsent gehalten werden können. Was in der objektiven Zeit eben noch Zukunft war (z. B. dass eine Kirchturmuhr gleich schlagen wird), ist nun Gegenwart (sie schlägt »jetzt« gerade) und wird gleich Vergangenheit (dann hat sie aufgehört zu schlagen – und selbst die letzten Schläge muss ich mir nach wenigen weiteren Sekunden in Erinnerung rufen). Wahrnehmung und Handeln finden immer in der Gegenwart statt – die Bedeutungszuweisungen im Sinne der Biosemiotik finden also stets »jetzt« (objektiv) statt. 134 Vgl. Abschnitt 4.4.2 und Abbildung 45. 135 Diese grobe Kapazitätsangabe hinsichtlich Umfang und Zeit sowie die stark vereinfachende Darstellung reicht trotz einer ungeheuren Fülle an differenzierten experimentellen Befunden und entsprechenden Abhandlungen über das Gedächtnis (und speziell auch über das Arbeitsgedächtnis) für unsere Zwecke: Die erheblichen Unterschiede je nach Sinnesmodalität und genauem Untersuchungskontext erscheinen mir für den Fokus unserer Argumentation nicht bedeutsam. Ebenso die Frage, ob ein »Arbeitsgedächtnis« (das ja ohnedies nur als Teil eines funktionalen Modells zu sehen ist!) nicht besser als prozessorientiert aktivierte Teile des Langzeitgedächtnisses zu modellieren ist – wie dies u. a. das »Embedded Processing Model of Working Memory« (Cowan, 1999) vorschlägt. Meine Erachtens werden unsere Kernaussagen von diesen Differenzierungen nicht tangiert.
Die Komplementarität von subjektiver und objektiver Sicht auf Bewusstseinsprozesse
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Abbildung 50: Unterscheidung und Beziehung zwischen der objektiven und der subjektiv phänomenalen Welt
Doch bereits die Beschreibungen in den Klammern – »Kirchturmuhr wird gleich schlagen«, »schlägt jetzt« und »hat vor Kurzem geschlagen« – beziehen sich auf meine phänomenale Welt, in der es Erwartungen hinsichtlich der Kirchturmuhr gibt und Erinnerungen an Wahrgenommenes. Und in dieser Welt kann sich mein Bewußtsein (fast) beliebig in der Zeit bewegen und auf (fast) beliebige Denkgegenstände richten: Ich kann mich z. B. vor einer Unterredung mit meinem Chef fürchten, die er für übermorgen angesetzt hat und hinsichtlich derer ich vermute, dass er mir Vorhaltungen über einige Fehler machen wird, für die ich mich in der Tat schäme. Ich kann mir die Situation lebhaft ausmalen – was er sagen wird, was ich entgegnen könnte, wie die Spannung steigt und wie ich immer kleinlauter werde, weil ich keine guten Erklärungen und Gründe vorbringen kann. Und während ich dies (objektiv) »hier und jetzt« denke und dabei die Furcht, die Spannung und die Scham spüre, bin ich mit meinem Bewusstsein weitgehend »dann und dort«, bin innerlich voll in der imaginierten Auseinandersetzung. Wobei im imaginierten »Dann und Dort« die Scham sogar mit Fehlern zusammenhängt, die ich in der objektiven Zeit längst früher und an einem noch anderen Ort begangen habe. Doch diese räumlich und zeitlich unterschiedlichen »Standpunkte« stören keineswegs mein Bewusstsein, sondern sie sind sogar typisch: Ohne diese Fähigkeit gäbe es diese Szene gar nicht – denn ob sie sich objektiv überhaupt und in welcher Weise abspielen wird, ist mehr als fraglich.
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Die Welt des Bewusstseins
5.2 Das Subjekt in seiner phänomenalen Welt Wir nehmen somit in unserem Bewusstsein wie selbstverständlich eine Perspektive ein, deren Blickpunkt quasi außerhalb des objektiven Zeitstromes liegt – so als könnten wir auf diesen Zeitstrom des Lebens blicken, wie wir von einem Berg auf einen Flusslauf schauen. Und indem sich aus objektiver Außensicht alles ausschließlich im »Hier und Jetzt« des nur wenige Sekunden umfassenden Zeitfensters neuronaler Prozesse abspielt, ist mein Leben als »innere Erzählung« scheinbar präsent. Dass dies freilich eher eine diffuse Abstraktion ist, wird dann deutlich, wenn ich versuche, einige Details meines letzten Geburtstages zu erinnern. In der Regel wird mir dies gelingen – aber gleichzeitig kann ich dabei wahrnehmen (sofern ich darauf achte!), dass ich hier wirklich Denk- und Erinnerungsarbeit verrichten muss, um mir diese Details aus dem Gedächtnis (objektiv ist es das Langzeitgedächtnis) ins Bewusstsein zu »holen«. Die Erinnerung, dass ich letztes Jahr in Wien war, dass gestern ein Brief kam, der mich veranlasste, weiter am Manuskript zu arbeiten, dass ich morgen zur Universität gehen und da wahrscheinlich Herrn X treffen werde – all dies findet also »hier und jetzt« statt; ebenso alle Ängste, Werthaltungen, Körpergefühle etc., die ich damit verbinde. Wie das obige Beispiel der zukünftigen Unterredung mit meinem Chef prototypisch zeigt, wird sogar das »Hier und Jetzt« oft nicht erlebt, weil hier und jetzt ständig Vergangenes erinnert und Zukünftiges antizipiert wird. Das gesamte Erleben ist dann so sehr von diesen (Raum- und) Zeit-Projektionen ausgefüllt, dass vieles, was von den Sinnen tatsächlich (objektiv) hier und jetzt aufgenommen wird, gar nicht ins Bewusstsein gelangt (z. B. Körpergefühle, Gerüche, Geräusche etc.). Wenn nicht gerade recht interessante äußere Situationen oder intensive innere Wahrnehmungen (z. B. Zahnschmerzen) meine Aufmerksamkeit »gefangen nehmen«, bedarf es sogar meist besonderer und vorsätzlicher Achtsamkeit, sich deutlich dem Hier und Jetzt zuzuwenden (die Aufmerksamkeit also nicht frei in Vergangenheit und Zukunft herumschweifen zu lassen). Auch die üblicherweise sinnvolle Unterscheidung danach, ob Gefühle auf eine Interaktion mit der Umwelt zurückgehen (Wahrnehmung) oder auf eine Interaktion mit sich selbst (Denken), ist in einer solchen, intensiv erlebten Szene in der phänomenalen Welt belanglos. Wenn man in Ruhe darüber nachdenkt, lässt sich gut zwischen beidem unterscheiden. Man weiß einfach, ob sich die Gefühle auf Wahrnehmungen beziehen – z. B. Ekel angesichts Erbrochenem am Straßenrand oder Freude über den Enkel, der einem mit ausgebreiteten Armen entgegenläuft – oder ob die Gefühle auf gedankliche Tätigkeit zurückgehen – z. B. mit der Vorstellung, ein guter Freund besucht mich in einer Woche oder man
Das Subjekt in seiner phänomenalen Welt
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fällt bei der Prüfung übermorgen durch. Doch obwohl die angeführte Szene mit dem Chef eine rein gedankliche Vorstellung ist, nimmt einen diese so gefangen, dass man eben diese Szene »wirklich wahrnimmt« (auch wenn hinterher klar wird, dass man »nur seinen Gedanken nachgehangen« hat). Wohin sich mein Bewusstsein wendet – bzw. in der phänomenalen Welt: Wo ich gerade mit meinem Bewusstsein bin –, ist selbst oft kein spürbarer Willensakt. Daher kommt es in der phänomenalen Welt häufig vor, dass man seine Aufmerksamkeit z. B. auf die Unterredung mit dem Chef richtet, ohne dass man sich dies bewusst vorgenommen hat. Nicht selten ist es sogar so, dass das Bewusstsein immer wieder zu Szenen wandert, von denen man sich vorher und nachher bewusst sagt, dass man daran eigentlich nicht mehr oder gerade jetzt nicht denken will. Doch trotz aller unangenehmen Gefühle, die vielleicht damit verbunden sind, treibt es einen geradezu zu dieser Szene. Und was »dort« geschieht, kann dann mein weiteres Handeln im Hier und Jetzt bestimmen – etwa indem ich (jetzt) zum Telefonhörer greife und einen befreundeten Arzt anrufe, ihm von starken Schmerzen berichte und ihn frage, ob er mich nicht für ein paar Tage krankschreiben kann. (Obwohl mir gleichzeitig dabei bewusst ist, dass dies keine wirkliche Lösung des Problems mit dem Chef ist. Aber es ist jetzt immerhin erst mal eine Lösung meiner Spannung, was ich deutlich spüre, als der Arzt zusagt.) Wie bereits skizziert, verhält es sich mit Imaginationen des Bewusstsein hinsichtlich der »Vergangenheit« ebenso: Der innere Blick in meiner phänomenalen Welt richtet sich z. B. auf etwas, das einige Monate zurückliegt und mit intensiven Gefühlen von Traurigkeit verbunden ist. Ich hatte da einen todkranken Freund in einer anderen Stadt besucht, um Abschied zu nehmen; und tatsächlich war er am nächsten Tag gestorben. Immer wieder kommt mir diese letzte Szene vor Augen, vermischt mit vielen anderen aus unserer gemeinsamen Vergangenheit. Und ich spüre jetzt die Trauer. Falls mir dabei und dadurch einfällt, dass ich seiner Schwester noch einige Fotos schicken wollte, bringt mich das jetzt zum Handeln, indem ich aufstehe, um die Bilder herauszusuchen. Da diese »Welt des Bewusstseins« für den allergrößten Teil unserer alltäglichen Welt eine hohe Bedeutung hat, sollte dies auch für den professionellen Kontext von Psychotherapie, Beratung und Coaching gelten. So ist es ein großer Unterschied, ob ich bestimmte Aspekte meiner Zukunft plane – d. h. explizit und möglichst detailliert niederlege, wann in objektiver Zeit und Raum welche Schritte mit welchem Ziel zu erfolgen haben. Oder aber, ob ich Zukünftiges imaginiere – d. h. gerade nicht detailliert, sondern ganzheitlich sowie unpräzise und gefühlsmäßig mir bestimmte Zukunftsbilder vor Augen führe bzw. »ausmale« (ausführlicher in Abschnitt 6.3.3).
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Die Welt des Bewusstseins
Sowohl die objektive als auch die phänomenale Welt haben somit ihren Stellenwert für professionelle psychosoziale Tätigkeit. Sie sind nicht als ein »Entweder-oder« sondern als komplementär (ein »Sowohl-als-auch«) zu verstehen. So wird besonders im vorangegangenen Kapitel der starke Einfluss von nicht bewussten Prozessen an vielen Stellen herausgestellt. Es ging um Affekte und andere körperliche Prozesse, um die Deutungsmacht der Sprache und weiterer kultureller Gegebenheiten, um interpersonelle Verstrickungen und Sinnattraktoren, deren Dynamik sich auf unser Wahrnehmen, Denken und Handeln zum großen Teil unbemerkt auswirkt. In meiner »Welt des Bewusstseins« bin ich hingegen der Akteur, der wahrnimmt und handelt, der sich als »Opfer« von Gegebenheiten oder Machenschaften sieht (auch wenn ihn psychologische Literatur auf die Möglichkeit seiner »Täterschaft« hinweist), der traurig oder verzweifelt, glücklich, voller Hoffnungen und Erwartungen ist, der liebt und leidet, der sein eigenes Handeln und Erleben und das der anderen zu verstehen versucht und der frustriert, enttäuscht oder verunsichert ist, wenn und wo ihm das nur unzureichend gelingt. Die Berliner Gestaltpsychologie, deren Blüte im »Dritten Reich« beendet wurde, hat in besonders konsequenter Weise diese sogenannte »phänomenale Welt« der »physischen Welt« gegenübergestellt. Die Gestalttheorie bestand und besteht dabei auf einer strikten terminologischen Trennung beider Bereiche, was letztlich in den Beschreibungen zu einer »Verdoppelung der Welt« führt.136 Das ist bisweilen notwendig – z. B. bei psychologischen Untersuchungen zur Wahrnehmung oder bei erkenntnistheoretischen Fragen –, meist aber recht unpraktisch. So ist für Klempner oder für Bäcker diese Unterscheidung weitgehend irrelevant: Sie teilen nicht nur das alltagsweltliche Wissen wie wir alle in dieser Kultur. Sondern auch ihr spezifisches Fachwissen kann praktikabel davon ausgehen, dass die Welt »da draußen« so ist wie ihre phänomenale Welt. Unterschiede würden dann ins Gewicht fallen, wenn der Klempner- oder Bäckerkollege Fachfragen ganz anders behandelt und die Gegenstände der Arbeitswelt ganz anders »sieht«. Doch genau das übereinstimmende »Sehen« gewährleistet die Fachausbildung: die Herstellung einer hinreichend gemeinsamen Fachrealität, die eben eine intersubjektive und damit eine Dritte-Person-Perspektive ist. 136 Obwohl – bzw. gerade weil – die Gestaltpsychologie überaus umfangreich und detailliert die Beziehung zwischen physikalischen Reizgegebenheiten und der Gestaltbildung in der menschlichen Wahrnehmung untersucht und sich in der Folge u. a. auch mit den Bedingungen für kreatives, schöpferisches Denken oder für gruppendynamische Prozesse auseinandersetzt, hält sie diesen Aufwand für notwendig: Er ist der Preis dafür, wenn man die unterschiedlichen »Welten« nicht zu sehr konzeptuell und begrifflich miteinander vermengen will.
Das Subjekt in seiner phänomenalen Welt
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Auch als praktischer Techniker oder sogar als theoretischer Physiker oder anderer Naturwissenschaftler kann man sein Tun und Verständnis weitgehend auf die Dritte-Person-Perspektive beschränken – jedenfalls mindestens solange man nicht gerade explizit über die erkenntnistheoretischen Grundlagen seines Faches nachdenkt. Für Personen im psychosozialen Bereich hat allerdings ihre Arbeit in hohem Maße mit den Erste-Person-Perspektiven der Menschen zu tun, die von ihnen Hilfe erwarten – also dem Welt- und Selbstverständnis, dem subjektiven Erleben, den »inneren Landkarten«. Dennoch lässt sich auch einiges aus der Dritten-Person-Perspektive über das Bewusstsein und sein Erleben sagen. Dies ist ja ohnedies ganz überwiegend die Perspektive auch humanwissenschaftlicher Disziplinen – besonders der akademischen Psychologie. Begriffe, die auch in vielen Abschnitten dieses Buches zu finden sind, wie »Arbeitsgedächtnis«, »Gehirn«, »Körper«, »Hormone« zielen darauf ab, Phänomene der intersubjektiven Alltagswelt für eben solche interpersonellen Diskursprozesse und daraus resultierendes Handeln hinreichend übereinstimmend festzulegen.137 Das gilt auch noch für Begriffe, die deutlicher auf die kognitiven Konzepte von Subjekten verweisen – wie »Affekte«, »Raum«, »Zeit«, »Täter«, »Opfer«. Und letztlich kann man aus der Dritten-Person-Perspektive über »Achtsamkeit«, »Melodie«, »Gestalt« oder ein »Ich« reden, obwohl diesen Begriffen jenseits der phänomenalen Welt des Menschen kaum noch etwas in der transphänomenalen Welt entspricht. Immerhin wird aber selbst in Kapitel 2 über die Subjektivität des Einsiedlerkrebses aus einer intersubjektiven Perspektive gesprochen. Die Ausführungen von von Uexküll darüber, dass der Krebs aus der gemeinsamen Umgebung seine subjektive Umwelt über den Funktionskreis bedeutungsmäßig herstellt, sind für uns ohne Weiteres verständlich, auch wenn niemand weiß, wie der Krebs selbst das, was wir Anemone nennen, »wirklich« innerlich erfährt. Daher ist es angemessen, ohne sprachlich ständig die »Verdoppelung der Welt« explizit zu bezeichnen, über die phänomenale Welt zu sprechen und dabei auf einige (weitere) wichtige Aspekte hinzuweisen. Dies ist vergleichbar 137 Auch wenn das, was diese Begriffe meinen, genau genommen, für die an diesen Diskursen beteiligten Subjekte nur in ihrer jeweils phänomenalen Welt auf diese Weise vorhanden sein können. Da aber ebenfalls zum Konsens gehört, dass sie sich auf die physische Welt (wie sie z. B. von den Naturwissenschaften beschrieben wird) beziehen sollen – und wie bereits betont, das evolutionäre Überleben der Menschheit es erfordert, dass diese konstituierte Realität die »Wirklichkeit« zumindest viabel repräsentiert, spricht die Gestalttheorie von einer »kritisch-phänomenalen Welt«. Dieses steht im Gegensatz zur »naiv-phänomenalen Welt« der unmittelbaren Anschauung, die aber wiederum als Gegenstand auch der wissenschaftlich betriebenen Psychologie und insbesondere Psychotherapie relevant ist bzw. sein sollte (Metzger, 1965/1986, S. 277 f.; Bischof, 1966).
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damit, dass wir jemandem eine Landschaft beschreiben, in der weder wir noch er sich zurzeit aufhält. Dennoch können wir ihm einige Hinweise über markante Eigenarten dieser Landschaft vermitteln. Diese »markanten Eigenarten« sind natürlich keine ontologischen Eigenschaften der Landschaft selbst, sondern rühren aus der Erkenntnistätigkeit des Menschen her. Das freilich ist eine Position, wie sie längst sogar von den Naturwissenschaften eingenommen wird.138 Zur Struktur der phänomenalen Welt gehört ganz wesentlich, dass diese immer sinnhaft geordnet ist. Zwar kann ich, wie viele Menschen, gelegentlich oder hinsichtlich einzelner Aspekte oder sogar ganz massiv unter »Sinnlosigkeit« leiden. Aber dies bestätigt nur, wie sehr es das Bewusstsein beschäftigt, wenn es partiell nicht gelingt, alles sinnvoll zu ordnen (Kriz, 1997/2011). Schon mein inneres Bild der Unterredung mit dem Chef übermorgen stellt geordnete Zusammenhänge zwischen sehr vielen einzelnen Aspekten her. Und indem ich mich weiter damit beschäftige, dabei nachdenke, was er und was ich sagen könnte, meine unangenehmen Gefühle wahrnehme und nach Lösungsoder Vermeidungsmöglichkeiten suche, stelle ich mir mit meinem reflexiven Bewusstsein weitere Sinnzusammenhänge her. Ich greife dabei in erheblichem Umfang auf Wissen zu, das zwar kurz vorher nicht in meinem Bewusstsein, sondern nur in meinem Gedächtnis war, mir aber nun helfen soll, mehr »Sinn in das Ganze« zu bringen. Ich kann also gegebenenfalls manche Aspekte gezielt in einen sinnvollen Zusammenhang stellen. Im Gegensatz dazu aber war der Sinnzusammenhang beim Auftauchen des inneren Bildes von der Unterredung mit dem Chef sicher nicht gezielt hergestellt. Es wäre daher falsch, zu sagen, dass ich die Teile meiner phänomenalen Welt ordne; adäquater wäre schon, dass diese Teile sich ordnen. Allerdings gibt es in meiner phänomenalen Welt häufig keine »Teile, die sich ordnen«, sondern sie treten als geordnete Gestalt ins Bewusstsein. Danach können aus der Gestalt »Teile« ausgegliedert und andere hinzuassoziiert werden. Dies kann zur Umgruppierung einer bestehenden in eine neue Ordnung führen – was beim Lösen einer komplexen Aufgabe dann oft mit einem emotional-erleichterten »Aha!« verbunden ist. In der phänomenalen Welt gibt es gewöhnlich keine »blinden Flecken«. Schon auf der rein visuellen Ebene gib es keinen Ausfall im Wahrnehmungsfeld aufgrund fehlender Rezeptoren im Auge (dort wo der Sehnerv durch die Netzhaut tritt). Sondern die neuronale Komplettierungsdynamik füllt den Fleck mit 138 Eines meiner Lieblingszitate ist bereits über ein halbes Jahrhundert alt: »Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehung zur Natur« (Heisenberg, 1955, S. 21).
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einer sinnvollen Ergänzung des Wahrnehmungsfeldes. Und es bedarf raffinierter experimenteller Bedingungen, damit der blinde Fleck erfahren wird. Diese Komplettierung gilt auch für komplexere und abstraktere Bereiche der phänomenalen Welt. Auch sorgen weitere Prinzipien der Ordnungsbildung für eine verbundene, sinnvolle Welt. Hierzu zählen auch die in Unterkapitel 3.1 referierten Beispiele aus der Gestaltpsychologie – etwa die Wahrnehmung »kausaler« Zusammenhänge, wobei »Kausalität« eben nicht auf Interpretation oder gar logischen Schlüssen beruht, sondern unmittelbar erlebt wird. Ähnlich verhält es sich mit der Wahrnehmung »sozialer Beziehungen« selbst zwischen materiellen Objekten bzw. gezeichneten geometrischen Figuren (z. B. in Zeichentrickfilmen), wenn diese in bestimmter Weise bewegt werden (siehe S. 69). Auch diese werden unmittelbar erlebt und beruhen nicht auf Denkvorgängen. Die phänomenale Welt hat somit ihre eigenen Strukturierungsprinzipien, die besonders in Bezug auf den Wahrnehmungsvorgang im Rahmen experimenteller Psychologie eingehend von der Berliner Gestaltpsychologie untersucht und beschrieben wurden.139 Stärker phänomenologisch und auf das Bewusstsein bezogen sind die folgenden Strukturaspekte, die ergänzend zur Darstellung systemtheoretischer Prinzipien in Kapitel 3 und deren konkreter Erscheinung auf unterschiedlichen Prozessebenen in Kapitel 4 im Folgenden kurz referiert werden sollen.
5.3 Exkurs: Kognitive und affektive Strukturaspekte des (phänomenalen) Bewusstseins In einem Abschnitt über »die Eigenschaften des Bewusstseins« hat Julian Jaynes (1993) folgende Strukturmerkmale hervorgehoben: ȤȤ Spatialisierung (Verräumlichung): Die phänomenale Welt hat im Wesentlichen die Struktur des dreidimensionalen euklidischen Raumes. Das scheint für die (innere Präsentation) unseres physischen Körpers und die ihn umgebenden physischen Gegenstände eher trivial zu sein. Die Verräumlichung gilt aber auch für Denkgegenstände, die keine Entsprechung im physischen Raum haben. Wenn man sich z. B. die zeitliche Abfolge wichtiger Ereignisse des letzten Jahrhunderts vorstellt, so wird man typischerweise eine Art inneren Zeitstrahl imaginieren, auf dem die erinnerten Ereignisse von links 139 Die Diskurse hierzu sind so umfangreich und differenziert, dass es den Rahmen dieses Buches sprengen würde, darauf näher einzugehen. Verwiesen sei auf Metzger, 1965/1986; Lewin, 2009; Metz-Goeckel, 2008; Stemberger, 2015.
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nach rechts (oder von vorn nach hinten – oder umgekehrt) aneinandergereiht sind. »Zeit« (physikalisch gefasst) ist aber kein räumliches Phänomen. Und schon gar nicht ist »links« und »rechts« oder »vorn« und »hinten« eine Eigenschaft physikalischer Zeit. Ähnlich spatialisierend werden z. B. Argumente einander »gegenübergestellt«. ȤȤ Exzerpierung (Auszüge verwenden): Im Bewusstsein »sehen« wir niemals etwas zur Gänze. Wird man gebeten, sich einen Zirkus vorzustellen, so taucht das Bild eines Zirkuszeltes auf oder einiger Clowns oder Trapezkünstler oder eines Zuschauerraums mit Pferden in der Manege. Ähnlich, wenn man sich eine Stadt vorstellt, in der man kürzlich war: Man wird einzelne markante Bauwerke oder einen Park (eher nur einen Teil davon) oder eine markante Kreuzung oder andere Einzelheiten vor dem inneren Auge sehen. Denkt man an eine seiner Tanten, so werden auch hier einzelne Szenen oder Ansichten exzerpiert. Bewusst sind also nicht die »Dinge« sondern nur die Exzerpte, die wir gerade daraus machen.140 Es ist klar, dass die Exzerpte über andere Menschen mit den Affekten zusammenhängen: Wenn man jemand mag – oder gerade in guter Stimmung ist (siehe unten) –, werden die Exzerpte eher angenehme Seiten und Aspekte aufweisen. Wobei die Einflüsse wieder zirkulär zu sehen sind.141 ȤȤ Narrativierung (Einbettung in Geschichten bzw. Erzählungen) und Kompatibilisierung (Strukturierung als Anpassung an bereits bestehende Ordnungen): Jaynes greift mit diesen beiden Strukturaspekten des Bewusstseins etwas auf, das wir ebenfalls schon vielfach betont haben: In der phänomenalen Welt gibt es faktisch keine singulären Gegenstände oder Ereignisse. Vielmehr wird alles zu sinnvollen Geschichten (zumindest: kurzen Teilgeschichten) miteinander verbunden. Sieht man ein weinendes Kind auf der Straße, narrativiert man im Geist ein verirrtes Kind und eine ängstlich suchende Mutter (oder etwas Ähnliches). Jaynes »Kompatibilisierung« entspricht im Wesentlichen 140 Natürlich kann man sich in Ruhe hinsetzen und gezielt das, was man vom Leben der Tante weiß und was man mit ihr erlebt hat, nach und nach ins Bewusstsein rufen. Aber das ist ein anderer Vorgang, der nicht nur erheblich Zeit benötigt, sondern bei dem eine bestimmte Szene, die ich gerade detailliert im Bewusstsein hatte, wieder in den Hintergrund versinkt, wenn ich mich der nächsten Szene zuwende – selbst hier bleiben somit letztlich nur eine oder wenige Szenen jeweils als Exzerpt bewusst. 141 Das genaue Verhältnis zwischen Exzerpten und Sinnattraktoren scheint mir ungeklärt: Zumindest teilweise können Exzerpte in bestimmten Situationen entstandene und nun erinnerte Sinnattraktoren sein. Da Sinnattraktoren allerdings eine Entstehungszeit brauchen, während Exzerpte faktisch sofort auf Abruf auftauchen können, sollte man beide nicht als identisch ansehen.
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unserer »Komplettierungsdynamik«: Teilaspekte oder Neues werden bevorzugt in die Dynamik bisheriger Sinnattraktoren hineingezogen und dabei entsprechend sinnvoll ergänzt oder eingepasst. ȤȤ Doppelte Ich-Perspektive142: In meiner phänomenalen Welt trete ich unter zwei Perspektiven auf. Zum einen bin ich einfach der Akteur in dieser Welt – ich bin es, der im obigen Beispiel übermorgen zum Chef gehen muss und der seinen Freund kürzlich verloren hat; ich fühle meine Angst bzw. Trauer bei diesen Vorstellungen. Und ich bin es, der gerade diese Zeilen schreibt. Zum anderen trete ich auf der »Bühne meines Bewusstseins« (vgl. Unterkapitel 6.2) auf – besonders in den typischen konstruktiv-narrativen Szenen, die oft mit Erinnerungs- und Zukunftsbildern verbunden sind. Wenn man gebeten wird, sich zu erinnern, wie man an einem Tag im letzten Sommer im Meer geschwommen ist, sieht man vor dem inneren Auge vielleicht die brausenden Wellen des Meeres in Strandnähe auftauchen, man erinnert das helle Licht der Sonne vom weitgehend blauen Himmel, vielleicht hat man sogar eine akustische Erinnerung an die lärmenden Kinder, die in der Nähe im Wasser herumspringen. Und man sieht sich selbst im Wasser schwimmen. Alle diese Teilaspekte scheinen einfach Erinnerungen zu sein. Aber: Was man wirklich letztes Jahr in dieser Situation gesehen hat und somit genaugenommen »erinnern« kann, sind einige Wellen vor den Augen, vielleicht die eine oder andere Hand und bestenfalls den Arm dazu. Im Erinnerungsbild »sieht« man sich freilich (meist) aus einer Vogelperspektive, schwimmend, umgeben von Wasser. Dies ist etwas, was man nie wirklich mit seinen Augen gesehen hat – sondern was über die obige Narrativierung und Kompatibilisierung in diese Szene hineinkonstruiert wird. Ähnlich verhält es sich, wenn ich mich an eine Szene erinnere, wie ich vor Jahrzehnten von meiner Mutter eine massive Strafpredigt bekam. Ich sehe meine aufgebrachte Mutter, die herumfuchtelt und schreit. Und vor ihr stehe ich, verunsichert, verängstigt. Und ich »sehe« den kleinen Jungen da in seiner Gänze vor seiner Mutter stehen – eine Szene, die ich so nie gesehen haben kann. Wir haben besonders in Abschnitt 4.2.1 die große konstruktiv-kreative Leistung beim vermeintlichen »Erinnern« hervorgehoben, wo in einer attrahierendstabilisierenden Dynamik etliche Details rasch vergessen, andere »passend« gemacht und noch weitere (ohne Absicht) »erfunden« werden. Wenn man an 142 Die beiden Perspektiven heißen bei Jaynes »Ich qua Analogon« und »Ich qua Metapher« – die damit im Detail verbundene recht aufwendige Terminologie wird in unserem Kontext um der Kürze willen unterlaufen.
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das Experiment von Loftus denkt, in dem viele Menschen nach einigen Hinweisinformationen glaubten, dass sie als Kind in einem Einkaufszentrum verloren gegangen wären, und sie reichhaltige Details dieser Erlebnisse schilderten, sollte es uns nicht wundern, dass unser Bewusstsein auch in Bezug auf uns selbst plausibel erfundene Szenen bereitstellt. Was bei Jaynes zu kurz kommt, sind die affektiven Aspekte des Bewusstseins. Gemeint sind hierbei nicht die in Unterkapitel 4.4 erörterten »objektiven« Einflüsse auf unser Wahrnehmen, Handeln und Denken und damit natürlich auch auf das Bewusstsein. Dort wird ja weitgehend aus der Dritten-Person-Perspektive argumentiert. Gemeint sind vielmehr die auch im phänomenalen Bewusstsein auftauchenden, klar oder diffus gespürten affektiven Phänomene, die wir mit Begriffen wie Stimmung, Gefühl, Befindlichkeit, Atmosphäre benennen. Auf die unklare Begrifflichkeit dieser (und weiterer) affektiven Phänomene ist bereits hingewiesen worden. Es mag hier genügen, zwischen »Gefühlen« und »Stimmungen« zu unterscheiden: Gefühle sind dabei unwillkürlich, von kurzer Dauer (dafür oft heftig) und auf etwas gerichtet. Paul Ekman (1975, 2010) spricht von sieben Basisgefühlen, die kulturübergreifend sind und daher wahrscheinlich evolutionär erworben wurden. Insbesondere liegen sie dem Gesichtsausdruck zugrunde und dürften daher in unserer phänomenalen Welt eine zentrale Rolle spielen. Es handelt sich dabei um: Fröhlichkeit, Überraschung, Traurigkeit, Wut, Ekel, Angst und Verachtung. Typisch für unsere phänomenale Welt sind aber auch noch Gefühle wie Scham, Schuld, Interesse und Verzweiflung sowie sexuelle Erregung oder Mutter-Kind-Liebe.143 Stimmungen sind in Abgrenzung zu Gefühlen typischerweise und wesentlich gekennzeichnet durch:144 ȤȤ Größere Dauer – dagegen hören Gefühle schneller wieder auf. ȤȤ Geringere Intensität: Die kurzlebige, aber hohe Dynamik der Gefühle (»Aufwallungen«) findet sich kaum bei Stimmungen, die eher im Hintergrund wirken. ȤȤ Nicht-Lokalisierbarkeit, wobei man oft nicht einmal bemerkt, wo die Stimmungen herkommen und wann sie begonnen haben. Während man »Wut 143 Man sieht an dieser Aufzählung, dass Ekmans Konzept – wie fast alles in der Wissenschaft – kontrovers diskutiert wird. Uns geht es aber nicht um Emotionstheorien, sondern darum, die bedeutsame Unterscheidung zwischen Gefühlen und Stimmungen in den Fokus zu rücken. 144 Dies ist nur ein kurzes Exzerpt aus einer Abhandlung von Thomas Fuchs (2013) zur Phänomenologie der Stimmungen – ein Text, der die Vielfalt unterschiedlicher Aspekte hervorragend herausarbeitet.
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im Bauch« oder »Trauer im Herzen« spüren kann, durchdringen Stimmungen die gesamte phänomenale Welt; nicht zufällig wird daher zu Begriffen des Klimas gegriffen: »heiter«, »düster«, »gedrückt«, »hitzig«. Allerdings ist dies mit einer Tendenz verbunden, Stimmungen zu konkretisieren – sich also auf der Suche nach Erklärungen Objekte zu wählen: In gereizter Stimmung findet man schnell jemand, auf den man wütend sein kann. ȤȤ Fehlen von Intentionalität: Wut hat man auf etwas oder jemanden, Freude über etwas. Stimmungen hingegen richten sich nicht auf einen intentionalen Gegenstand; ȤȤ Ausrichtende Wirkung auf andere Lebensprozesse: Stimmungen begünstigen zu ihnen passende Gefühle, Erinnerungen und Gedanken sowie die Wahrnehmung und Bewertung von Situationen. Sie fördern eher bestimmtes Handeln sowie eine passende Körperhaltung (z. B. »gedrückt, gebeugt« bei Niedergeschlagenheit oder »stolz, aufgerichtet« bei Euphorie).
5.4 Zur Intersubjektivität und Stabilität der Lebenswelt Zu den fraglosen Selbstverständlichkeiten der Alltagswelt gehört auch, dass jeder weiß, dass es auch andere Subjekte gibt, die ähnliche Erlebenswelten haben wie man selbst. Dabei werden diese anderen zwar nicht zur selben Zeit und über dieselben Anlässe glücklich, traurig oder enttäuscht sein und nicht dieselben Sehnsüchte und Pläne oder Erinnerungen haben wie man selbst. Aber wir gehen davon aus, dass diese anderen Subjekte in prinzipiell ähnlicher Weise empfinden und daher solche inneren Erfahrungen kennen.145 Insbesondere aber hinterfragen wir nicht die Annahme, dass wir alle in hohem Maße eine Alltagswelt teilen, welche für uns üblicherweise einfach und unproblematisiert »die Welt« ist – angefüllt mit den Häusern, Autos und Fahrrädern, Computern, Zeitungen und Fernsehgeräten, Schulen, Finanzämtern und Polizeistationen. In dieser Alltagswelt ist ferner klar, dass »wir alle« (in unserem Staat) über mehr oder weniger »Welt«-Wissen verfügen – etwa über Gesetzesbücher, Parlamente und Wirtschaftssysteme, die geschichtliche Vergangenheit mit zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert, die Einbettung in die europäische Staatengemeinschaft und das Vorhandensein anderer Kontinente und Völker etc. Zwar gehört zur Alltagswelt auch das Wissen, dass andere Menschen – und Gruppen von Menschen – unterschiedliche Sichtweisen, Auffassungen und Vorlieben haben und 145 Eine Annahme, die zumindest bei manchen psychischen Störungen – von der antisozialen Persönlichkeitsstörung bis hin zu schizophrenen Schüben – deutlich zu optimistisch ist.
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ihre Akzentuierungen in dieser Alltagswelt unterschiedlich setzen. Gleichwohl teilen wir einfach das unsagbar große Ausmaß an gemeinsam unhinterfragten Fakten dieser Alltagswelt, in der wir uns wie selbstverständlich bewegen. Die hiermit zusammenhängende Frage nach dem Verhältnis von subjektivem Sinn und intersubjektiver Alltagswelt ist eingehend von Philosophen, Soziologen und anderen erörtert worden. So formulieren beispielsweise Berger und Luckmann in einem der zentralen Beiträge zu dieser Thematik: »Wie ist es möglich, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird?«146 In unserem Kontext mag es genügen, einerseits auf die gemeinsamen evolutionären Prästrukturierungen, andererseits auf die Sozialisation der Menschen in einer immer schon ihre individuelle Lebensspanne weit überdeckende Gesellschaft zu verweisen. Denn Sozialisation hat insbesondere den Zweck, den von der Vorgeneration erlernten Sinn der Produkte gesellschaftlicher Entwicklung an die Nachgeneration zu vermitteln – vor allem den »richtigen Umgang« mit materiellen (Werkzeuge, Gebäude und Fahrzeuge), sozialen (Institutionen, Gesetze und Gebräuche) und symbolischen (Sprache, Schrift und Massenmedien) Repräsentationen des intersubjektiven kulturellen Sinns. Letztlich geht es hier um die Trivialisierungen im Sinne von Foersters (siehe Abschnitt 3.4.3). Diese Hinweise beantworten auch schon weitgehend eine andere Frage, nämlich danach, was unsere Lebenswelt so stabil macht, obwohl doch das Arbeitsgedächtnis nur eine so extrem kurze Zeitspanne Inhalte im Bewusstsein präsent halten kann. Neben der eher unsicheren und unzuverlässigen »Ablage« im Langzeitgedächtnis und der für eher rational-logisch ausgelegtes Denken mehrdeutig und unklar ausgelegten Repräsentation in anderen Bereichen des Körpers, ist hier eben die Verlagerung von Information in die physische Außenwelt von Belang: In dem ununterbrochen von allen Gesellschaftsmitgliedern bestätigten Rahmen alltagsweltlicher Sinnstrukturen legt jeder seine persönlichen »externen« Langzeitspeicher an. Gemeint sind zunächst einmal Notizen, die man aufschreiben oder elektronisch speichern und dann wieder über die Wahrnehmung ins Arbeitsgedächtnis und Bewusstsein holen kann. Und auf gleiche Weise kann (und muss – z. B. im Rahmen der Schul146 Berger und Luckmann, 1966; dt. 1969, S. 20. Die Untersuchungen zu dieser zunächst recht einseitig gestellten Frage lässt dann allerdings bereits bestehende »objektive Faktizität« nicht aus – sowohl in Form evolutionärer Prästrukturierung: »Der Mensch ist biologisch bestimmt, eine Welt zu konstruieren und mit anderen zu bewohnen« (S. 195) als auch in Form der Einschränkungen im Rahmen der Sozialisation. Die Autoren beziehen sich auf ähnliche bedeutende Diskurse von Alfred Schütz (1932/1974; vgl. auch Schütz u. Luckmann, 1975), die ihrerseits auf dem Konzept der Lebenswelt von Husserl (1936/2007) aufbauen. Diese umfangreiche und hoch elaborierte Analyse kann hier nicht annähernd dargestellt werden.
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bildung) auf ähnliche Produkte von anderen zugegriffen werden. Dabei wird übrigens nicht selten der Aspekt der Bedeutungserteilung unmittelbar erfahrbar – denn oft zerbricht man sich nicht nur den Kopf, was die Aufzeichnungen von anderen bedeuten könnten, sondern man rätselt auch über die Bedeutung seiner eigenen Aufzeichnungen: Was meinte man da noch genau, als man dies niederlegte, welche Botschaft ist darin enthalten und welchem Zweck sollte das dienen? Allerdings ist auch vieles andere, was uns umgibt, als Botschaften von uns selbst und anderen an uns selbst und andere zur Aufrechterhaltung einer hinreichend stabilen Lebenswelt zu verstehen: Wohnung und Haushalt, Einrichtungsgegenstände, das Bild an der Wand, das an den Urlaub erinnert, die Freunde mit denen man sich umgibt, der Arbeitsplatz sowie Vereine und Institutionen in denen man aktiv ist – das alles hilft den Menschen, sich ständig zu erinnern, als was sie sich sehen und gesehen werden wollen. Solche Aspekte einer bodenständigen, ja fast banalen, zirkulären Einbettung in den Nahbereich der selbst gestaltbaren Alltagswelt, sollten von Psychotherapeuten, Beratern und Coaches nicht zu gering geschätzt werden. Denn die Bedeutungsfelder, die von diesen Arrangements ausgehen, interferieren sicherlich mit jenen, die unmittelbar im Sinne der Arbeit an den Sinnattraktoren im Fokus stehen. Wenn man beispielsweise in Lehrbüchern zur familientherapeutischen Arbeit Transkripte über beachtliche Einsichten liest, so stellt sich wohl zu Recht die Frage, wie diese in der neutral und wohlgeordneten Zone einer Beratungsstelle erbrachte Erkenntnis konkret in die Alltagspraxis umgesetzt wird. Und da dürfte es nicht das Gleiche sein, ob die Familie in eine Slumwohnung oder in eine Villa zurückkehrt. Andererseits können solche Rückkopplungsschleifen mit »banalen« alltagsweltlichen Strukturen auch hilfreich zur Unterstützung von Veränderung eingesetzt werden – etwa, indem Einsichten vorrübergehend stabilisiert werden. Der Unterschied zwischen der Schnelligkeit gedanklich-logischer Operationen und den affektiv damit verbundenen Gefühlen oder gar Stimmungen wird im Zuge der Diskussion der Affektlogik (Abschnitt 4.4.1) bereits erwähnt. Erfahrungsgemäß verblassen solche kognitiven Einsichten in der Geschäftigkeit des Alltagslebens allzu oft rasch wieder – zumal dieses meist zunächst nach »den alten Regeln« weiterläuft, da z. B. Partner, Kollegen etc. ja nicht an dieser Einsicht teilgenommen haben. Es kann also hilfreich sein, mit dem Klienten gemeinsam zu überlegen, wie die Erinnerung an diese – von ihm selbst als »wichtig« benannte – Einsicht vorübergehend unterstützt werden kann, bis diese Einsicht eben konkret auch Strukturen des Alltags verändert hat. Neben dem Aufmalen auf ein Plakat, das in der Wohnung aufgehängt wird, fallen Klienten da biswei-
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len originelle Lösungen ein: Ein Klient, der morgens gemächlich sein Frühstück mit einer großen Teetasse zelebrierte, schrieb wenige Hinweisstichworte auf diese Tasse. Ein anderer, der Botendienste mit dem Fahrrad ausführte, schrieb sich diese auf seine Handschuhe, die er gerade in der Winterzeit trug und gut vor sich am Lenker sehen konnte. Da für Psychotherapie, Beratung und Coaching wesentlich ist, an der Destabilisierung von solchen (über)stabilen Strukturen zu arbeiten, die sich gemeinhin als Symptome oder Probleme präsentieren, ist allerdings auch die Wichtigkeit stabiler Grundstrukturen zu beachten. Petzold (2003) hat mit seinem Modell von »fünf Säulen der Identität« auf typische Segmente in der Lebenswelt des Menschen verwiesen, die Stabilität verleihen können. Diese beziehen sich auf (a) Leiblichkeit, (b) Arbeitsplatz, (c) enge soziale Partnerschaft, (d) Wohnraum und (e) materielle Basis. Sollte also ein Klient kürzlich einen Autounfall erlitten und dabei (a) seine leibliche Unversehrtheit bedeutsam eingebüßt haben, weshalb er (b) seinen Arbeitsplatz verloren, (c) seine Frau sich von ihm getrennt und er (d) letztlich auch noch sein Haus und die (e) materieller Sicherheit verloren hat, so dürfte z. B. in einer Therapie ganz sicher zunächst keine Förderung weiterer Instabilität angesagt sein.
5.5 Die »Person« in der Personzentrierten Systemtheorie Diese Ausführungen legen es nahe, sich dem ersten zentralen Begriff der »Personzentrierten Systemtheorie« – nämlich »Person« – etwas genauer zuzuwenden. Denn wenn wir das obige Zitat von Berger und Luckmann (1966, dt. 1969) nochmals aufgreifen – »Wie ist es möglich, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird?« – lässt sich mit Hinblick auf die vier erörterten Prozessebenen und die biosemiotische Perspektive fragen, wie sehr der »subjektiv gemeinte Sinn« wirklich dem Subjekt zugerechnet werden kann. Damit wird nicht nur die Frage gestellt, wie weit »objektiv gesehen« die sinnvolle Struktur der Lebenswelt im Bewusstsein des Subjekts von sehr vielen nicht subjektiven Prozessdynamiken abhängt. Dies haben wir bereits eingehend erörtert und die Einflüsse der vier Prozessebenen herausgearbeitet. Vielmehr berührt dies darüber hinaus auch die Frage, wie weit das Subjekt selbst (also: »subjektiv gesehen«) sich der Anteile nicht subjektiven Sinns im Klaren ist (auch wenn dies sicher nicht immer im Fokus der Aufmerksamkeit steht). Immerhin betont der bekannte Satz »Man kann nicht nicht kommunizieren« (Watzlawick et al., 1967, dt. 1969), dass ein Mensch zumindest nach den ersten Lebensjahren, in denen er sein reflexives Bewusstsein entfaltet hat, sich davon
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(fast)147 nicht wieder lösen kann. Selbst wenn er sich in seine Wohnung zurückzieht, niemand sehen und hören will und tatsächlich mit niemandem äußerlich interagiert, ist er sich der »communio« mit der Welt und besonders den anderen Menschen bewusst (gegebenenfalls mehr oder weniger vage). Er weiß, dass Freunde erwarten, dass er sich mal wieder meldet oder dass die Nachbarn (mit denen er zuvor intensiveren Kontakt hatte) sich vermutlich wundern, dass er die Wohnung nicht verlässt. Kurzum: Zum reflexiven Bewusstsein gehören die sogenannten Erwartungserwartungen – dass man ständig Erwartungen darüber hat, was »die Welt« und besonders die anderen von einem erwarten (könnten), was dann wiederum handlungsleitend wird.148 Diese zentralen Aspekte, die auch den Begriff der Person im Rahmen der Personzentrierten Systemtheorie bestimmen, sollen hier in wenigen Punkten resümierend entfaltet werden: 5.5.1 »Person« ist nicht angeboren – aber das evolutionär vorstrukturierte Potenzial dazu Der Ansatz, der auch im deutschen Sprachraum im Kontext von Psychotherapie, Beratung und Coaching am stärksten mit dem Konzept der »Person« verbunden wird, ist der personzentrierte Ansatz von Carl Rogers (z. B. Rogers, 1961, dt. 1973). Es handelt sich um einen Ansatz der humanistischen Psychologie, der aber zunächst vom menschlichen Organismus ausgeht und keinen Zweifel daran lässt, dass die Potenziale der Aktualisierung dieses Organismus hin zur Person als evolutionär vorstrukturiert angesehen werden. Damit diese Potenziale sich angemessen zur spezifischen Umwelt – zunächst einmal (in unserer Kultur) repräsentiert durch die Mutter bzw. die Eltern und die Familie, zunehmend durch weitere Menschen – zur »Person« entfalten können, bedarf es hinreichend guter Entwicklungsbedingungen. Neben der Sicherstellung der Bedingungen zum physischen (Über-)Leben und Gedeihen betont der personzentrierte Ansatz besonders ein psychosoziales Beziehungsangebot, das durch drei Kernaspekte einer Grundhaltung beschrieben werden kann: (a) Eine Wertschätzung des Menschen als Subjekt, die nicht an Bedingungen gebunden 147 Hier setzen fast alle sehr unterschiedlichen meditativen und transpersonalen Techniken an: Das »innere Selbstgespräch«, das wesentlich die Alltagswelt im Bewusstsein aufrechterhält (neben dem Eintauchen in Wahrnehmungen der »äußeren Welt«), soll unterminiert oder gar unterbrochen werden. Ähnliches geschieht allerdings auch im sogenannten »Flow« – z. B. dem intensiven Versinken in Tanz oder Musizieren. 148 Das Konzept der Erwartungserwartungen wird meist Luhmann (1984) zugeschrieben, der es aber von Mead (1968) übernommen hat.
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ist, die dieser dafür erfüllen muss. (b) Ein kongruentes Angebot von organismischen Erfahrungsmöglichkeiten und deren Symbolisierung, insbesondere durch sprachliche Begleitung. (c) Das empathische Einfühlen in die Bedürfnisse des anderen – also zunächst des neuen Erdenbürgers. Dieses Beziehungsangebot ist übrigens auch als Grundhaltung für die nachsozialisierende Rolle von Therapeuten, Beratern und Coaches ihren Klienten gegenüber wesentlich. Das Potenzial zur Aktualisierung des Menschen als Person149 kann also weder im physisch noch psychosozial »leeren« Raum geschehen. Gern wird in diesem Zusammenhang auf die humanistischen Kernsätze von Martin Buber verwiesen: »Der Mensch wird am Du zum Ich« oder: »Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.«150 Gleichzeitig hat allerdings der Begriff »Person« zumindest ursprünglich eine doppelte Bedeutung151: Einerseits verweist »Person« auf das Von-selbst-Zustandekommen, also Selbstständigsein, und In-sich-selbstGegründetsein, also Unabhängigkeit, Autonomie. Auf der anderen Seite meint »Person« ein In-Beziehung-Sein, ein Zustandekommen von außen her. Beide Aspekte bilden ein Spannungsfeld, das auch unsere ganze Kultur mit ihrer Sozialisation durchzieht. Lautet doch die Botschaft der Elterngeneration an ihre Kinder: »Werde ganz du selbst – ein eigenverantwortlicher, autonom handelnder Mensch!« und gleichzeitig: »Werde wie wir – teile unsere Werte und Normen!« (vgl. Unterkapitel 2.3 und Abschnitt 4.3.2) – eine Botschaft, die nicht selten in problematischen Einseitigkeiten oder weniger geglückten Synthesen zur Symptombildung beiträgt. Bereits diese Vermittlung und Abstimmung grundlegender Strukturen der Lebenswelt zwischen Neugeborenem und der Elterngeneration setzt voraus, dass die bio-physiologische Struktur des menschlichen Hirns bereits ab der Geburt wie auch in der weiteren Entwicklung auf ein Leben in einer sozialen Gemeinschaft hin ausgelegt ist.152 So hat die seit drei bis vier Jahrzehnten international intensiv betriebene Säuglingsforschung zunehmend erstaunliche Leistungen in 149 Nicht zufällig heißt eines der zentralen Werke von Rogers »On Becoming a Person«. 150 Buber (1923, S. 18). Neuere Textanalysen zeigen allerdings, dass Martin Buber (1878–1965) die Ich-Du-Thematik ebenso wie das zentrale Konzept der »Begegnung« und weiterer Aspekte von Jacob Levy Moreno (1890–1974), dem Begründer des Psychodramas, übernommen hat (Waldl, 2005, 2006). Neben Bubers religionsphilosophischer Ausarbeitung ist für Psychotherapeuten daher Morenos psychodramatische Einbettung der Ich-Du-Begegnung beachtenswert, da diese die »Begegnung« in einen umfassenderen sozialen Kontext stellt (eine Sicht, die auch für mich wesentlich ist – vgl. Kriz, 2014a, 2014b). 151 Ich folge hier Peter Schmid (2002, 2011), der sich im Rahmen personzentrierter Anthropologie und Philosophie wohl am umfangreichsten mit den begrifflichen und konzeptionellen Grundlagen von »Person« auseinandergesetzt hat. 152 In neueren Diskursen wird der Fokus unter dem Begriff »Soziales Gehirn«/»Social Brain« (z. B. Dunbar, 1998; Fuchs, 2008; Adolphs, 2009; Pawelzik, 2013) auf diese notwendige evolutionär entwickelte soziale Ausrichtung des Menschen und speziell seines Gehirns gelegt.
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der Abstimmung zahlreicher organismischer Prozesse zwischen dem Neugeborenem und seiner Mutter belegt.153 Dem entsprechen in den Vorgenerationen viele ebenfalls evolutionär erworbene Dispositionen, sich dem Säugling zuzuwenden und sein Verhalten hinreichend empathisch zu verstehen – beispielsweise das berühmte »Kindchenschema« (gedrungener Körper, kurze Extremitäten, großer Kopf mit großen Augen, etc.). 5.5.2 Die »Person« bedarf gerade in ihrer Subjektivität der Kulturwerkzeuge Wir haben schon an mehreren Stellen im Text argumentiert, dass eine scharfe Abgrenzung einer subjektiven (oder Ersten-Person-)Perspektive gegenüber einer objektiven (oder Dritten-Person-)Perspektive – wie sie besonders von humanistischen Psychologen und Psychotherapeuten gefordert wird – nicht unbedingt weiterführend ist. Denn als Subjekt steht im Zentrum zunächst intensives Spüren und Erleben. Doch wie mache ich mir als Subjekt dieses, mein Spüren und Erleben, überhaupt zugänglich und verständlich? Gehen wir dieser Frage nach, so wird deutlich, dass unsere Gefühle von Traurigkeit, Stolz, Sinnlosigkeit oder Einsamkeit zwar auf unser ureigenes Erleben verweisen – und daher, nochmals betont, durch keine Beschreibung, Beobachtung oder gar Messung ersetzt werden können. Gleichwohl beruht aber die Symbolisierung, also das verstehende Einordnen unseres Spürens und Erlebens, auf der Verwendung von Wörtern, Begriffen, Kategorien, Bildern, Metaphern, Verstehensprinzipien etc., die aus unserer Kultur stammen. Kurz: Eine verstehende Aneignung seines eigenen subjektiven Erlebens ist für das Individuum nur möglich, wenn es dabei die kognitiven Werkzeuge seiner Kultur verwendet. Damit sind bereits auf elementarer Ebene die Erste-Person-Perspektive und die Dritte-Person-Perspektive miteinander verschränkt. Natürlich gibt es beim Menschen auch rein organismisches Erleben so wie auch beim Tier – das ja auch seine Umwelt sowie innere Prozesse wahrnimmt, darauf bewertend reagiert (z. B. mit Flucht, Erstarren, Bellen etc.) und komplexe, situationsadäquate Reaktionen steuern kann. Aber um dieses organismische Erleben selbst zu verstehen – und erst recht, um sich damit anderen verständlich zu machen – bedarf es der Anwendung von Kulturwerkzeugen. Und dabei geht es eben nicht nur im engeren Sinn um die Symbolisierung von inneren Zuständen. Sondern mit den Werkzeugen der Symbolisierung – vor allem der Sprache – werden Metaphern, Vorstellungen und Verstehensprinzipien transportiert, die in unterschiedlichen Gesellschaften 153 Überblicksartige Darstellungen z. B. bereits in Stern, 2005; Trevarthen, 2011.
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und Gruppen (z. B. in Familien) ebenso unterschiedlich wie hoch bedeutsam sein können. Und sie transportieren über Familiengeschichten sowie über kulturelle Narrationen, die gleichzeitig mit der historischen Geschichte der jeweiligen Gesellschaft verwoben sind, weitere Bilder, Prinzipien, Werte etc. Diese vermitteln Wahrnehmungs-, Interpretations-, Denk-, Fühl- und Handlungsprozesse dahingehend, wie man leben und was man fürchten soll, wie man mit Krisen umgeht oder wofür es sich zu kämpfen lohnt bzw. wann Flucht, Erstarren oder Resignation angesagt ist. Gerade unsere Kultur in Mitteleuropa, die durch zwei Weltkriege mit Millionen Toten, Zerstörungen und Vertreibungen, das Naziregime und den Holocaust etc. innerhalb nur eines Jahrhunderts mitgeprägt wurde, ist übervoll von solchen Leit- und Leidgeschichten. Deren Bewältigungsprinzipien geistern u. a. als implizite Verstehensbilder »der Welt« und »der anderen« durch die Familien – und sind damit wiederum Basis für die Kulturwerkzeuge, mit denen sich das Neugeborene langsam ein Verstehen seines individuellen eigenen Erlebens aneignet – d. h. letztlich ein Verstehen von sich selbst. Es ist daher zwar gut für die Entwicklung des Neugeborenen, wenn die Mutter (oder eine andere Bindungsperson) das Kind in seinen Affektäußerungen und Bedürfnissen »lesen« und adäquat darauf eingehen kann. Für die Entwicklung einer »Person« würde das allerdings nicht ausreichen. Sondern dafür ist es notwendig, dass das »Du« im obigen Sinne mit seinen empathischen Rückmeldungen an das Baby eine sinnverstehende Symbolisierung der wahrzunehmenden Welt, der eigenen Gefühle und Verhaltensweisen heranträgt. Das heißt, die Beziehungspersonen sind auch dafür zuständig, dass die inneren, subjektiven, »individuellen« Prozesse mit den äußeren, objektiven, interpersonellen Prozessen und ihren geronnenen Kulturwerkzeugen zusammengebracht werden. Nur so kann der sich entwickelnde Mensch seine »Weisen, in der Welt zu sein«, selbstreflexiv verstehen und sprachlich sich selbst und anderen verständlich machen.154 In der »Person« sind somit immer schon die drei angeführten Perspektiven miteinander verschränkt: die des Ich-Subjekts (Erste-Person-Perspektive), die der objektiven und objekthaften Außensicht (Dritte-Person-Perspektive) und ein begegnendes und sozialisierendes »Du« (Zweite-Person-Perspektive), das eben diese Verbindung gewährleistet. Gemäß diesem Verständnis fungieren Psychotherapeuten (ähnlich aber auch Berater und Coaches) als ein »Du«, welches 154 Wo eine solche Symbolisierung partiell misslingt – wo also Teile oder Aspekte des eigenen Geschehens nicht verstanden werden – wird in Rogers personzentriertem Ansatz von »Inkongruenz« gesprochen. Dies hat inzwischen auch die psychodynamischen Diskurse erreicht, die sogar noch mit dem Konzept des Mentalisierens den Aspekt hinzugefügt haben, dass nicht nur die eigenen Befindlichkeiten, sondern auch die von anderen verstanden werden müssen (Allen, Fonagy u. Bateman, 2008; Asen u. Fonagy, 2014).
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inkongruente Muster zwischen erster und dritter Person im realen Erleben der Patienten bzw. Klienten empathisch symbolisieren hilft. Dazu ist »Begegnung« im Sinne der humanistischen Therapie nötig, die weder eine konfluierende Überstülpung der Erlebensperspektive noch eine distanzierte Welterklärung anbietet, sondern sich selbst als Person einbringt. 5.5.3 »Person« als Brennpunkt unterschiedlicher Perspektiven und Prozessebenen Psychotherapeuten, Berater und Coaches müssen bei ihrer Arbeit somit sowohl die Verschränkung der drei »Person«-Perspektiven als auch die vier Prozessebenen berücksichtigen. Indem sie das Subjekt in seiner Lebenswelt aus ihrer eigenen Perspektive – quasi von außen, aus der Dritten-Person-Perspektive – betrachten, setzen sie ihr Wissen über evolutionär-organismische und gesellschaftlich-kulturelle Umgebungsbedingungen ein, um die Prozesse im typischen Arbeitsfokus, nämlich auf der psychischen und der interpersonellen Ebene, mit dem oder den Klienten gemeinsam zu gestalten. Sie treten in dieser Rolle als Repräsentanten der Kulturwerkzeuge auf, die alltagsweltliche Verstehensprinzipien an ihre Klienten herantragen und mit ihnen deren Verwendung kritisch auf Adäquatheit für eine erfolgreiche und zufriedenstellende Gestaltung der Lebenswelt überprüfen und hinterfragen. Ebenso setzen sie ihr Wissen über die Stabilisierung und Überstabilisierung sowie von verändernder Destabilisierung der Sinnattraktoren sowohl auf individueller als auch auf interpersoneller Ebene und deren gegenseitig vernetzte Beeinflussung ein. Dabei berücksichtigen sie die Einflüsse der kulturellen und organismischen Strukturen auf diese prozessuale Arbeit. Beide unterstützen in vielen Fällen eher die Überstabilisierung auch leidvoller psychischer und interpersoneller Muster, können nun aber für Veränderung herangezogen werden – beispielsweise durch gezielte Leiberfahrungen, wie sie die körperpsychotherapeutische Arbeit im Fokus hat, oder durch De- und Re-Kontextualisierung von kulturellen Beschreibungen und Prinzipien (genauer: deren individuelle Deutungen), was z. B. im Rahmen von systemischem »Reframing« typisch ist. Wesentlich ist aber auch, die »Person« als Subjekt, in der Ersten-Person-Perspektive wahrzunehmen und sich selbst in den Arbeitsprozess so einbringen zu können. Hier steht dann die Grundhaltung der Begegnung im Zentrum, also eine »Ich-Du-Beziehung«, die das Subjekt zuallererst in dessen Erleben empathisch zu verstehen sucht. Wegen der Verschränkung der Ersten- und DrittenPerson-Perspektive wird dabei für jene Aspekte organismischen Geschehens (beim Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Handeln), zu welchen das Subjekt selbst
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keinen Zugang hat und die es daher selbst nicht versteht, symbolisierendes Kulturwerkzeug angeboten. Wobei darauf zu achten ist, dass damit möglichst wenig eigene Geschichten, Werthaltungen, richtungsweisende Prinzipien etc. vermittelt werden. Vielmehr sollte möglichst nur »zur Sprache gebracht« werden, was stimmig zum eigenen Erleben des Subjekts ist. In dieser Rolle sind Berater eher signifikante andere, welche eine »Nachbeelterung« oder »Nachsozialisation« unterstützen. Allerdings wird auch dabei das Wissen über die vier Prozessebenen und ihre dynamische Vernetzung hilfreich sein. Einladungen, auf der »Bühne des Bewusstseins« den leidvoll-stabilisierenden Erfahrungsstrukturen personalisierte Gestalt zu geben – also beispielsweise Beziehungserfahrungen zu »erinnern« bzw. zu »re-inszenieren« – um die zugrunde liegenden gestaltenden Kräfte erfahrbar und damit verstehbar zu machen und gegebenenfalls den leidvollen Szenen Alternativen zur Seite zu stellen, wären hier eine typische Möglichkeit.155 Mit dem Begriffsteil »Person« betont die Personzentrierte Systemtheorie somit eine humanistische Sicht auf den Menschen, bei der »Person« immer nur und immer schon im Zusammenwirken des Individuums mit seiner sozialen Mitwelt in einem Kontext evolutionärer, bio-psycho-sozialer und soziogenetischkultureller Entwicklungsdynamik gesehen werden kann und muss. Zentrale Aspekte wie Sinn, Bedeutung oder Kohärenz finden primär auf der Ebene personaler Prozesse statt – auch wenn diese ganz erheblich durch soziale Prozesse in ihrer biografischen und historischen Dynamik sowie durch verkörperte Erfahrungsstrukturen beeinflusst werden. Ein Sozialsystem wie die Familie oder gar die Gesellschaft kann etwas als »sinnvoll« definieren oder vorschreiben – aber ob es als etwas Sinnvolles erfahren wird, ist ein Prozess innerhalb der Person. In der »Person« sind gleichzeitig immer schon das Ich-Subjekt (Erste-PersonPerspektive), die objektive und objekthafte Außensicht (Dritte-Person-Perspektive) und ein begegnendes und sozialisierendes »Du« (Zweite-Person-Perspektive) miteinander verschränkt. Der humanistische Kernsatz: »Nur am Du kann man zum Ich werden« erhält in der Personzentrierten Systemtheorie somit einen umfassenderen Kontext, der u. a. makro- und mikrosoziale, historische oder evolutionäre Perspektiven auf die aktuelle Du-Ich-Begegnung miteinbezieht. Denn das »Du« ist zunächst eine Bindungsperson, die im guten Falle sowohl über Empathie als auch über die Kulturwerkzeuge zur Symbolisierung des Verstehens und des Verstandenen verfügt. 155 Dies wird im nächsten Kapitel mit Bezug auf die Arbeitsweise von Albert Pesso deutlicher. Es sollte aber klar sein, dass es hier um das geht, was Psychoanalytiker mit »Übertragung« und »Re-Inszenierung« thematisieren.
6 Personzentrierte Systemtheorie im Kontext der Praxis
Das Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie ist es, das große Spektrum an vorhandenen Konzepten und Vorgehensweisen in Psychotherapie, Beratung und Coaching besser nutzen zu können. »Besser« meint dabei, dass aufgrund von Einsichten in übergreifende Zusammenhänge und grundlegende Prinzipien von diesem Spektrum problem-, kompetenz- und situationsspezifisch Gebrauch gemacht werden kann. Denn ein eklektisches, theorieloses Aneinanderreihen von »Tools« ist für viele Professionelle ebenso unbefriedigend wie die unnötige Einschränkung der Arbeit durch schulenorientierte Denk- und Anwendungsverbote. Diese Grundlagen und Prinzipien der Personzentrierten Systemtheorie mit ihrer ganzheitlichen Sicht auf die Lebensprozesse der Menschen sowie auf das dynamische Zusammenwirken der vier zentralen, analytisch untergliederten Betrachtungsebenen werden in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt. Das Spektrum an vorhandenen Konzepten und Vorgehensweisen selbst ist nicht Gegenstand dieses Buches.156 Es wird auch bereits im Unterkapitel 1.1 betont, dass es wünschenswert ist, dass viele Menschen, die bereits im weiten Bereich der Beratung professionell aktiv sind, sich mit ihren bisherigen Konzepten und Vorgehensweisen an etlichen Stellen dieses Buches wiederfinden und mit ihrer Praxis gut daran anknüpfen können. Erfolgreiche Praxis ist ohnedies keine »Umsetzung« oder »Anwendung« von Theorien. Vielmehr respektiert gute Praxis – als eine Kunst sui generis – die gängigen Erkenntnisse und Diskurse und dient, andersherum, als Basis für die Weiterentwicklung von Theorien, welche dann diese erfolgreiche Praxis zu erklären beanspruchen. 156 Hier muss auf die überaus umfangreiche, jeweils spezifische Literatur verwiesen werden. Ein Überblick über die zentralen Grundkonzepte der vier wichtigsten psychotherapeutischen Orientierungen – psychodynamisch, verhaltenstherapeutisch, humanistisch und systemisch – wird zwar z. B. in Kriz (2014a) geboten. Allerdings ist es auch dort nicht das Anliegen, konkrete Praxis zu vermitteln. Dies würde im Rahmen eines seriösen Unterfangens ein vielbändiges Werk erfordern, das zudem weitgehend die sehr vielen ausgezeichneten Werke und praktischen Lehrbücher der jeweils einzelnen Ansätze wiedergeben würde.
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Personzentrierte Systemtheorie im Kontext der Praxis
Da die Personzentrierte Systemtheorie allerdings im Ringen um Antworten auf wesentliche Fragen des Alltags und der konkreten psychosozialen Praxis entstanden ist und den Anspruch hat, auch für die professionelle Praxis relevant zu sein, sollen in diesem letzten Kapitel exemplarisch Aspekte im Zentrum stehen, die im Zusammenhang mit konkreter praktischer Arbeit auftauchen. An vielen Stellen sind ja bereits Beispiele, Vignetten und praktische Hinweise in der Darstellung der Prinzipien und prozessualen Zusammenhänge eingeflossen. Dieser auf Praxis bezogene Fokus wird nun einen größeren Anteil einnehmen. Gleichwohl muss für die Frage der detaillierten Umsetzung in der Praxis auf die Literatur verwiesen werden.157
6.1 Grundaspekte des praktischen Umgangs mit »Problemen« 6.1.1 Was ist überhaupt ein »Problem«? Menschen begeben sich in Psychotherapie, Beratung oder Coaching, weil sie »ein Problem haben« – selbst wenn dieses bisweilen darin besteht, dass andere Menschen, die ihnen wichtig sind, darauf insistieren, mit ihnen »ein Problem zu haben«, das sie selbst nicht so empfinden. Hier soll der Begriff »Problem« in einem sehr weiten Sinne gemeint sein: Es umfasst krankheitswertige Symptome, deren Behandlung üblicherweise Gegenstand von Psychotherapie ist. Ebenso gehören scheinbar nicht zu bewältigende Anforderungen des Berufs-, Sozial- und Alltagslebens dazu oder problematische Konstellationen in diversen Lebenssituationen, Paar- und Familiendynamiken, 157 Besonders auf Martin Rufer (2012), der die konkrete Arbeit im psychotherapeutisch-beraterischen Bereich auf der Basis der auch in diesem Band vertretenen Prinzipien sehr detailliert darstellt und diskutiert: Rufers Buch bietet einen engen und expliziten Bezug zwischen sechs sehr ausführlich dargestellten Fallbeispielen – einschließlich genauen Erwägungen, welche Problemsicht sich jeweils für den Therapeuten ergibt und welche konkreten Schritte er daraus folgert – und systemtheoretischen Konzepten. Lesern, die nach der praktischen Umsetzung fragen, sei daher dieses Werk ausdrücklich empfohlen. Wie bereits in Unterkapitel 3.2 erwähnt, bezieht sich Rufer dabei zwar auf eine zusammenfassende Aufbereitung systemtherapeutischer Prinzipien durch Schiepek, Kröger und Eckert (2001, S. 276), die er als »generische Prinzipien« bezeichnet. Doch besteht hinsichtlich der Grundorientierung hohe Übereinstimmung mit der Personzentrierten Systemtheorie. Dies ist freilich kein Wunder, denn diese Prinzipien haben sich als Formulierungen aus den Diskursen einer Gruppe herauskristallisiert, die ab 1990 auf der Basis des interdisziplinären systemtheoretischen Programms der Synergetik von Hermann Haken (1981, 1992) um eine psychologisch-sozialwissenschaftliche Interpretation und Umsetzung bemüht war. Dazu gehören neben mir vor allem Schiepek, Tschacher und Brunner (siehe u. a. Tschacher, Schiepek u. Brunner, 1992; Schiepek u. Tschacher, 1997).
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die gewöhnlich in Beratungen behandelt werden. Ferner bestehen »Probleme« auch in der empfundenen Stagnation erforderlicher Entwicklungen auf individueller Ebene oder bei Gruppen und Organisationen – was üblicherweise ein Gegenstand von Coaching ist. All diese Probleme verweisen auf solche prozessualen Ordnungen (bzw. Muster oder Strukturen) in den – ebenfalls sehr weit verstandenen – kognitiven oder interaktiven Prozessen, die zum Kontext der Situation oder zu den Anforderungen nicht passen. Diese Ordnungen sind also einerseits nicht genügend oder nicht mehr adäquat für das, was die Beteiligten zur Bewältigung anstehender Aufgaben erwarten. Sie sind anderseits aber auch nicht adaptiv an die Struktur der neuen Herausforderungen, d. h. sie können nicht von den Beteiligten selbst in neue Lösungsmuster transformiert werden. Die Ordnungen erweisen sich in inadäquater Weise als überstabil und gegen Veränderungen offenbar resistent. Für Psychotherapeuten, Berater und Coaches ergibt sich daraus die Aufgabe, die »Ordnungs-Ordnungs-Übergänge« (vgl. Abschnitt 4.2.2) zu fördern – also jene Teilprozesse zu unterstützen, welche von »leidvollen« Ordnungen zu situations- und aufgabenspezifisch adäquaten Ordnungen führen. Da die Personzentrierte Systemtheorie ja eher Einsichten in förderlichen Werkzeuggebrauch statt eines konkreten Werkzeugkastens vermitteln will, werden hier zunächst noch einmal in aller Kürze die »Essentials« einer Unterstützung von Veränderungsprozessen resümiert und nachfolgend im Einzelnen dargestellt.
Essentials für eine Unterstützung von Veränderungsprozessen Um die Aufgaben und die Handlungsmöglichkeiten bei der Förderung von Veränderungsprozessen näher ins Auge zu fassen, ist es angebracht, zunächst einmal ȤȤ die Leistungen und die Not-Wendigkeit solcher stabilen Muster und Ordnungen zu sehen und wertzuschätzen; dann aber ebenfalls ȤȤ die Notwendigkeit von deren Destabilisierung zu berücksichtigen, damit »Ordnungs-Ordnungs-Übergänge« stattfinden können; sodann ȤȤ nachzuvollziehen, was diese »Ordnungs-Ordnungs-Übergänge« behindert; insbesondere ȤȤ das »Fürchterliche« an der Destabilisierung nachzuvollziehen; womit dann ȤȤ die Rolle von Psychotherapeuten, Beratern und Coaches als Begleiter durch diesen »fürchterlichen« Übergang deutlich wird; woraus sich wiederum ȤȤ Konsequenzen für die »Therapeutische Beziehung« ergeben.
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6.1.2 Ein Loblied auf die Ordnung und Struktur der Alltagswelt An vielen Stellen des Buches wird deutlich, was wir ohnedies als ständige Ahnung mit uns herumtragen: Die Etablierung von Ordnung in unserer Lebenswelt ist im wörtlichen Sinne »Not-wendig«: denn sie wendet die unfassbare Not, der wir im Erlebenschaos ausgeliefert wären. Schon auf der Ebene des Subjekts lassen psychotische Einbrüche, Alpträume, Panik etc. uns in nur leichten Vorstufen erahnen, wie eine Welt ohne jede kognitive Ordnung für uns wäre. Ein hinreichendes Kohärenzgefühl ist eine der wichtigsten Bedingungen für psychische Gesundheit. Wie eine mindestens hundertjährige Diskussion um das Konzept der Lebens- bzw. Alltagswelt158 herausgearbeitet hat, schafft die Intersubjektivität der menschlichen Sozialgemeinschaft jene hinreichenden Bedingungen, dass sich das Subjekt immer schon nur in bereits vorhandenen kulturellen Sinnstrukturen zu einem »Ich« entwickelt – bei allen Beschränkungen der Deutungsmöglichkeiten von potenzieller Wirklichkeit zu konkreter Realität, die damit verbunden sind: Gesellschaft dient immer dazu, den Raum an unhinterfragten Selbstverständlichkeiten zu vergrößern – auf Kosten von Deutungsalternativen und Veränderungspotenzialen.159 Ohne diese Einbettung in intersubjektive Sinnstrukturen wäre das Subjekt gar nicht vorstellbar. Freilich ist die Teilhabe an diesen Sinnstrukturen zunächst auf die entwicklungsgerechte Vermittlung in einer »Ich-Du«-Beziehung und später in Primär- und Sekundärsozialisation angewiesen. Und dies wiederum ist, noch grundlegender gesehen, nur aufgrund eines evolutionär-organismisch entwickelten Social Brains möglich, das diese Passungsprozesse zwischen Elternund Kindgeneration in hohem Maße vorstrukturiert. Diese Sinnstrukturen sind allerdings nicht von der gesellschaftlichen Ebene über meso- und mikrosoziale Einheiten hinunter für das Subjekt als hierarchi158 Hier ist besonders der Lebensweltbegriff zu nennen, wie ihn Edmund Husserl (1936/2007) aus dessen Verwendung in der Jenaer Romantik (u. a. Schlegel) entwickelt hat – durchaus auf der Basis des (zunächst von ihm selbst verwendeten) Umweltkonzeptes von Uexkülls und der Bio semiotik, aber eben damit die spezifisch menschliche Umwelt charakterisierend. Lebenswelt ist bei Husserl bewusst mehrdeutig, nämlich zum einen die rein persönliche Erfahrungswelt des Subjekts, zum anderen die mit dem sozialen Subjekt immer schon verbundenen intersubjektiven Sinnstrukturen. Daher bevorzuge ich den Begriff der »Alltagswelt« des Husserlschülers Alfred Schütz (1932/1974), wenn der Fokus (aus der Dritten-Person-Perspektive) auf diese Sinnstrukturen gelegt wird (was eine überscharfe Trennung ist, da Schütz selbst den Begriff der »Alltagswelt« ebenfalls mehrdeutig verwendet hat). 159 Diesen Aspekt haben besonders Berger und Luckmann (1966, dt. 1969) – mit Bezug auf Husserl und Schütz – herausgearbeitet.
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sches Korsett zu verstehen, sondern als Bedeutungsfelder für die Prozesse auf unterschiedlichen sozialen Komplexitätsebenen. Somit gibt es in der makroskopischen Alltagswelt der Kultur zahlreiche »Sinnprovinzen«160 mit jeweils ebenso selbstverständlichen, aber teilweise spezifischen Sinnstrukturen. Denn auch für Paare, Familien und Organisationen wäre ein Fehlen von Regeln – oder auch nur eine chaotische, anarchische Ordnung – unerträglich. Zur wichtigen Stabilität von Sinnstrukturen trägt die Dynamik von Sinnattraktoren und Komplettierungsdynamiken in einem Gesamtgeschehen bei, das von weiteren Bedeutungsfeldern durchzogen ist. Sowohl die ungeheure Vielfalt von Sinnbruchstücken als auch die Vieldeutigkeit (Polysemantik) jeden Augenblicks und jeder wahrgenommenen Äußerung wird auf Einfaches, weitgehend Bekanntes und narrativ Strukturiertes reduziert. Auch wenn Subjekte oft die Macht interaktiver Strukturen und gemeinsamer Bedeutungsfelder nicht durchschauen, müssen sie sich doch ihren »Reim« darauf machen. Die Sinn deutenden und Komplexität reduzierenden Narrationen über »Opfer« und »Täter«, über die Unterschiede zwischen »anderen« und »uns« etc. werden so nicht nur fortgeschrieben und neu ausgelegt, sondern sie dienen auch der Stabilisierung von Realität und Gruppenkohärenz. All diese Ordnungstendenzen und -stabilisatoren (die hier nur sehr kurz und bruchstückhaft resümiert wurden) gilt es als positive Seite der Ordnung unserer Alltagswelt zu würdigen. Denn nur diese Konstruktion von regelhaft wiederkehrenden Klassen von Phänomenen ermöglicht Prognosen, reduziert damit die Unsicherheit und schafft so Verlässlichkeit. Diese verlässliche Ordnung begleitet uns von den ersten Lebenstagen an. Unser Reden und Träumen von »einmaligen« Situationen und Erlebnissen, der Wunsch, aus dem Alltagstrott auszubrechen und sich »völlig neuen« Erfahrungen hinzugeben ist daher geradezu maßlos übertrieben: Wir meinen damit in Wirklichkeit eine bestenfalls partielle Lockerung von festgefügten Ordnungssystemen aus Sinnstrukturen auf unterschiedlichen Ebenen, die zusammenwirken und als Alltagswelt weitgehend »die Realität« ausmachen. 6.1.3 Die Notwendigkeit von Ordnungs-Ordnungs-Übergängen Genauso »Not-wendig« wie die Ordnung der Lebenswelt, ist die phasenweise Transformation von Ordnungsstrukturen: Die erstere wendet die Not, in lebensfeindlichem Chaos zu versinken, die zweite wendet die Not, in inadäquaten
160 Ebenfalls ein Begriff von Schütz (1932/1974).
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Zwangsordnungen zu erstarren.161 Stabilität und Kohärenz der Lebenswelt sind nämlich nicht auf die Weise möglich, dass eine einmal etablierte Ordnung und ein gefundener, erreichter oder erkämpfter Sinn »eingefroren« oder »versteinert« werden. Schon diese Begrifflichkeit weist darauf hin, dass dynamische Prozesse, um die es ja in Bezug auf Phänomene des Lebens immer geht, nicht wie ein Marmordenkmal einfach eine vergleichsweise lange Zeit überstehen können. Die Stabilität von Attraktoren bzw. Sinnattraktoren ist immer nur relativ zur Systemumgebung zu verstehen. In unserer Welt sind die jeweiligen Umgebungsbedingungen allerdings nicht konstant sondern ändern sich fortwährend. Und somit stellen sich Entwicklungsaufgaben, bisher erreichte strukturelle Lösungen an die veränderten Anforderungen anzupassen. Dies geschieht in Form von Ordnungs-Ordnungs-Übergängen: Nicht mehr adäquate Ordnungen adaptieren sich dabei an die neuen Bedingungen, indem sie sich zu einer (partiell) neuen Ordnung transformieren. Dieses »Stirb und werde!« ist so typisch für alle Entwicklungsprozesse, dass besonders wichtige Übergänge mit Riten begleitet (z. B. Abitur, Promotion, Trauung, Pensionierung) und mit Konzepten belegt werden (z. B. »Change-Management«). Üblicherweise geschehen solche Ordnungs-Ordnungs-Übergänge auf vielen Ebenen unzählige Male in unserer Alltagswelt – und zwar recht brauchbar und hinreichend zufriedenstellend.162
161 Es sei nochmals auf »Chaos, Angst und Ordnung« verwiesen (Kriz, 1997/2011), wo dies ausführlich dargestellt wird. 162 Wie bereits erwähnt, wurden diese Vorgänge für die Prozessebene der kognitiven Ordnungen in Passung zur »Welt« schon von dem Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget mit seinen Konzepten der »Assimilation« und »Akkommodation« thematisiert: Mit Assimilation ist gemeint, dass der Mensch versucht, sich die Welt entsprechend seiner kognitiven Ordnungen anzupassen. Ein solches Ordnungsmuster nennt Piaget in Übernahme des Konzeptes von Bartlett (1932) »Schema«. Die sinnbildende Kraft eines Schemas führt somit dazu, dass der Mensch seine Erfahrungen auf bekannte und vertraute Aspekte zurückführt und dem so Verstandenen entsprechende, d. h. bisher erfolgreiche, Handlungsweisen folgen lässt. Sofern dies dann irgendwann nicht mehr gelingt und der Misserfolg der Assimilation zu groß wird, folgt in der Regel die Akkommodation. Damit ist gemeint, dass der Mensch nun seine Schemata – also die kognitiven Ordnungen und Handlungsmuster – notwendig den Gegebenheiten der Welt anpassen muss. Assimilation beinhaltet somit ein Festhalten an und Anwenden von bisherigen Ordnungsprinzipien, Akkommodation meint einen Ordnungs-Ordnungs-Übergang (siehe unten). Und dieses Wechselspiel zwischen »sich die Welt anpassen« (Assimilation) und »sich der Welt anpassen« (Akkommodation) ist typisch für Entwicklungsvorgänge, welche wiederum typisch für Leben sind (Piaget, 1976).
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6.1.4 Was die Ordnungs-Ordnungs-Übergänge behindert Psychotherapie, Beratung und Coaching sind dann gefragt, wenn »Not-wendige« Ordnungs-Ordnungs-Übergänge nicht vollzogen werden. Dann wird Not eben nicht gewendet. Vielmehr wird z. B. typischerweise beim gesamten Formenkreis der (»klassischen« Kategorie der) neurotischen Störungen immer wieder zu Lösungen für Probleme gegriffen, die es so längst nicht mehr gibt. Paare und Familien beharren auf Interaktionsmustern, obwohl alle Beteiligten diese als leidvoll erleben, und scheinen wie gelähmt, neue Lösungsmöglichkeiten für die Herausforderungen zu entwickeln. Und ähnlich greifen auch Teams und Betriebe zu alten, einst vielleicht erfolgreichen »Rezepten« und Lösungen, obwohl sie sehen, dass diese längst nicht mehr funktionieren. Das genau ist ein »Problem«. Auch wenn für solche Stagnationen bereits zu Beginn dieses Buches die statisch-dinghafte Metapher eine »Berges« auf dem Weg zurückgewiesen wird zugunsten eines dynamisch-prozessualen Strudels im Fluss des Lebens, erscheint diese Erfahrung von Überstabilität gerade aus systemtheoretischer Perspektive erstaunlich, sind doch Systeme immer adaptiv an ihre Umgebungsbedingungen. Der scheinbare Widerspruch löst sich allerdings auf, wenn man sich klar macht, dass es eben immer um die Gesamtheit aller Bedingungen geht und nicht nur um die von einem äußeren Beobachter beschriebenen. Wesentlich sind somit auch bzw. gar primär die subjektiven Deutungen der Betroffenen. Auch die kognitive Verhaltenstherapie beruft sich auf den rund zwei Jahrtausende alten Satz:163 »Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen und die Beurteilungen über die Dinge.« Konzepte der humanistischen Therapie, welche in der therapeutischen bzw. beraterischen Arbeit den »inneren Bezugsrahmen« des Menschen betonen, haben dies seit jeher aufgegriffen (Eckert, Biermann-Ratjen u. Höger, 2012). Allerdings sind nicht nur »die Dinge selbst«, sondern eben auch »die Meinungen und Beurteilungen« in hohem Maße der Beliebigkeit einer rein individuellen Verfügbarkeit entzogen. Das Subjekt, das mit den Kulturwerkzeugen seine inneren Befindlichkeiten und Motive deutet, kann sich dabei ganz erheblich über sich selbst irren – das wird oft gerade in der Psychotherapie deutlich. Der Mensch versteht sich, sein Erleben, Fühlen und Handeln dann selbst nicht. Wurde beispielsweise sein Schreien aus dem Bedürfnis nach Nähe heraus von den Fürsorgepersonen typischerweise als »Hunger« missverstanden und mit Nahrungsangebot beantwortet, wendet dieser Mensch vielleicht später ebenfalls auf dieses merkwürdige innere Erleben die symbolhafte Erklärung »Hunger« an. Und 163 Nach Epiktet (circa 50–138 n. Chr.): »Handbüchlein der Moral«.
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obwohl er längst gesättigt ist und sich weiter oder gar zunehmend unwohl fühlt, stopft er Nahrung in sich hinein – die doch seinen eigentlichen Hunger, nämlich nach Zuwendung, nicht stillen, sondern bestenfalls nur übertünchen kann. Die »Meinungen und Beurteilungen« sind zudem in Netze interpersoneller Sinnattraktoren eingewoben, die selbstorganisiert sich gegenseitig stabilisierende »Sinnprovinzen« erzeugen. Dabei spielen noch umfassendere und stabilere Bedeutungsfelder eine Rolle, die aus sozialen Strukturen stammen, welche die Lebensspanne des Individuums oder konkreter interpersoneller Systeme weit überdauern. Das Handeln auf der Lebensbühne ist allerdings ohne diese längst vorhandenen und zudem schwer verschiebbaren »Kulissen« an Bedeutungen nicht möglich. Letztlich tragen auch die nicht so leicht veränderbaren biosomatischen Strukturen der Bedeutungserteilung zur Stabilität der Sinnattraktoren bei – sei es in Form von evolutionär prästrukturierten und dann in spezifischer biografischer Erfahrung aktualisierten sinngenerierenden Ordnern, oder sei es in selbstorganisierten somatischen Strukturen aus der Biografie, wie sie beispielsweise von Körperpsychotherapeuten thematisiert werden. Auf allen diesen Ebenen bilden sich Ordnungen (Muster, Strukturen, Regelmäßigkeiten) aus, die an die Gesamtbedingungen adaptiv sind. Zu diesen Gesamtbedingungen gehören aber jeweils auch die anderen Prozessebenen, was bedeutet, dass eine überaus komplexe Interaktionsdynamik die Stabilität bzw. die Veränderung bestimmt. Eine erfolgreiche Veränderung z. B. der familiären Interaktionsmuster wird sich somit auch auf den körperlichen Ebenen der Einzelnen manifestieren und, umgekehrt, erfolgreiche Körperpsychotherapie wird auch die familiäre Interaktion verändern. In Psychotherapie, Beratung und Coaching geht es daher darum, diese Gesamtheit und sich gegenseitig stabilisierende bzw. destabilisierende Einflüsse zumindest in Betracht zu ziehen. 6.1.5 »Schreckliche« Instabilität als Problemüberwindung Ein Ordnungs-Ordnungs-Übergang ist kein gradliniger Weg. Man kann zwar durch Essen von einem Zustand des Hungers in einen Zustand der Sättigung kommen, wobei sich mit jedem Bissen Nahrung der Magen etwas mehr füllt. Da ein Attraktor aber eine dynamisch stabile Ordnung ist, kann ein neuer Attraktor nur über eine Phase der Instabilität erreicht werden. Und da Sinnattraktoren die Komplexität von Deutungs- und Verstehensmöglichkeiten erheblich reduzieren, ist diese Instabilität mit der Zufuhr von Komplexität verbunden. Das bedeutet aber die Aufgabe von sicheren, weil reduzierten, vorhersagbaren und vertrauten Mustern. Dieses Loslassen von Vertrautem, das Stürzen
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ins Abenteuer des Unvertrauten, in der Hoffnung, danach wieder Stabilität in besseren Lösungen der Entwicklungsaufgaben zu finden, ist keineswegs leicht. Es ist das oft zitierte »Stirb und werde!« (von Teilstrukturen). Wie leidvoll die alten Muster auch immer erlebt werden: Sie sind vertraut. Man weiß, worauf man sich verlassen kann. Unsicherheit, Komplexität, das Wagnis von neuen Sichtweisen und die Aufgabe des Vertrauten sind in der Tat nicht angenehm. Das erfährt man selbst beim Lösen einer kreativen Aufgabe, wo der Ideen- und Lösungsraum immer komplexer – aber auch spannungsreicher – wird, bis beim »Aha!« der Lösung dann deutliche Entspannung eintritt. Auch bei Paaren, Familien oder in Teams steigt die Unruhe und Unsicherheit bei Übergängen zu neuen Lösungen deutlich an. Gleichgültig, ob dies ein selbst durchgeführter Ordnungs-Ordnungs-Übergang ist oder von einem Berater begleitet wird: Dieser Übergang darf zu Recht als verstörend und »schrecklich« bezeichnet werden. Bei den selbst durchgeführten Übergängen kann allerdings die Angst durch die Faszination des Aufbruchs und das Vertrauen darin, die neue Herausforderung irgendwie zu meistern, überdeckt werden. 6.1.6 Berater als Begleiter durch die »Schrecken der Instabilität« Bei den »Problemen«, mit denen um Beratung nachgesucht wird, gibt es meist besonders gute Gründe, die Aufgabe der alten Ordnung zu fürchten. Vielleicht wurden diese Lösungen einmal unter besonders hohem Einsatz erworben – auf der individuellen Ebene beispielsweise war es die Möglichkeit, überhaupt psychisch oder gar physisch zu überleben; bei Organisationen war es vielleicht eine Lösung, die sie in schwerer Krise einst gerettet hat. So etwas stellt man nicht leichtfertig zur Disposition. Hinzu kommt, dass in der näheren Umgebung des Attraktors – die vorsichtig zu erkunden man noch gewillt ist – meist in der Tat eher schlechtere Lösungen zu finden sind. Ordnungs-Ordnungs-Übergänge bestehen eben, wie oben betont, nicht aus kleinen, linearen Schritten (die natürlich auch für Veränderung relevant sind – nur: Dann braucht man keine Beratung!). Daher beruhen alle psychotherapeutischen und beraterischen Techniken im Kern auf der Offenlegung, Hinterfragung, Perspektivänderung, Neubewertung, Reflexion etc. des bisher allzu »Selbstverständlichen« – also auf einer Anreicherung der Komplexität. Die bisherige, aber eben maligne Sicherheit im Abspulen der immer gleichen kognitiven Schleifen wird somit instabil, die Anzahl an möglichen (Teil-)Weltdeutungen und Bewertungen steigt. Und damit vergrößert sich auch der Raum an neuen Deutungen, Bewertungen und, damit verbunden, an Lösungsmöglichkeiten – auch wenn diese nicht gleich akzeptiert
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bzw. umgesetzt, sondern vorerst nur einmal wahrgenommen werden. Mit einer sodann konkret erprobten und weiterverfolgten neuen Lösung wird der Raum der Möglichkeiten und Deutungen allerdings später wieder enger: Es entsteht ein neuer Sinnattraktor, d. h. eine neue dynamisch-stabile Ordnung in der Lebenswelt, die an die neuen Bedingungen besser adaptiert ist. Diese Begleitung in einem Ordnungs-Ordnungs-Übergang – »durch das Tor des Chaos« – ist die zentrale Aufgabe von Psychotherapeuten, Beratern und Coaches. Was sie Hilfreiches tun können, läuft letztlich darauf hinaus, Umgebungsbedingungen zu etablieren, unter denen ein Ordnungs-Ordnungs-Übergang möglich wird. 6.1.7 Konsequenzen für die »Therapeutische Beziehung« Aus dem Verständnis, dass Psychotherapie, Beratung und Coaching die Förderung und Begleitung von Ordnungs-Ordnungs-Übergängen ist, folgen bestimmte Anforderungen an die Arbeitsbeziehung, wie sie von professionellen Helfern gestaltet werden sollte. Denn auch wenn das »Stirb und werde!« sich nur auf einzelne, nicht passende und daher leidvolle Strukturen bezieht und die Instabilität nicht die gesamte Lebenswelt des Menschen erfasst, sondern bei vielen Störungen sowie bei typischen Beratungs- und Coachingproblemen auf recht klar begrenzte Bereiche beschränkt bleibt, ist die berechtigte Angst vor der Instabilität groß genug. Das erwähnte Beispiel von Zwangskranken, die nur noch über den Boden schlurfen, ist hier eine gute Metapher: Auch beim üblichen Gehen muss man, um einen Schritt zu machen, den sicheren Stand verlassen und sich nach vorne fallen lassen – in dem Vertrauen, dass man dort festen Boden unter den Füßen hat und sich auffangen kann (und falls man strauchelt: aufgefangen wird). Ohne ein solches Vertrauen wird man keinen Schritt wagen. Dies nun gilt genauso im übertragenen Sinne: Die bloße Vermutung oder auch rationale Einsicht, dass man nach einem deutlichen Fort-Schritt einen vielleicht besseren Stand hat als gegenwärtig, setzt sehr viel Vertrauen voraus. Daher ist eine vertrauensvolle und sichere Beziehung zwischen Klient und Berater(in) eine zentrale Voraussetzung. Berater sollten sich dabei als Begleiter durch solche Phasen der Instabilität verstehen – Begleiter, die weder schubsen, noch ein Bein stellen, noch bremsen und eigene Interessen verfolgen, sondern die sich den Möglichkeiten und dem Tempo derer anpassen, die sich ihnen anvertraut haben. Das Bewusstsein für Veränderung durch eine Phase oder mehrere Phasen der Instabilität, lässt den Blick auch auf missbräuchlichen Umgang richten. Denn je instabiler jemand ist, desto zugänglicher wird er für »Tipps«, »Struk-
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turierungsvorschläge« etc., die ihm seine unbehagliche Unsicherheit verringern helfen. Damit ist aber der Beeinflussung Tür und Tor geöffnet – sei es aus Eigeninteresse oder aus unreflektierter »Hilfe«. Letztere kann gut gemeint sein, aber zu Recht betont der Volksmund, dass »gut gemeint« oft das Gegenteil von »gut gemacht« ist. Denn solange die Sinnattraktoren stark wirken – z. B. zu Beginn der Therapie – können Berater viele Vorschläge machen und sie werden immer wieder hören; »Will ich ja, aber …« oder »Hab’ ich schon versucht, aber …« oder »Das geht nicht, weil …«. Je größer aber die Instabilität wird, je unsicherer und orientierungsloser sich der Klient fühlt, desto eher wird er nach Orientierung gebenden Hinweisen greifen, wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm. Nicht zufällig arbeitet auch »Gehirnwäsche« mit der Destabilisierung zentraler Strukturierungsprinzipien, um dann die erwünschten Inhalte und Ideologien einzupflanzen. Daher müssen sich Berater ganz besonders dann zurücknehmen, keine inhaltlichen Vorschläge zu machen bzw. Richtungen vorzugeben, wenn die Instabilität durch die Komplexitätsanreicherung sehr virulent ist. Dann ist besonders wichtig, eine feste, vertrauensvolle und sichere Beziehung anzubieten, die den Menschen den Raum lässt, zu erspüren und herauszufinden, was sie selbst wollen und können.
6.2 Die Bühne des Bewusstseins 6.2.1 Arbeit mit den formativen Kräften Das zentrale Geschehen, das in Psychotherapie, Beratung und Coaching wirklich relevant ist, spielt sich auf der Bühne des Bewusstseins ab. Einen solchen Satz von einem »Systemiker« zu lesen, mag (ohne die vorangegangenen Kapitel) vielleicht auf den ersten Blick erstaunen. War es doch die systemische Therapie, die in den 1980er Jahren vollmundig proklamierte, auf so »antiquierte« Konzepte wie Psyche, Bewusstsein, Subjekt, Person etc. könne man nun verzichten und sich ausschließlich auf die Interaktionen (damals bevorzugt: familiäre Interaktionen) konzentrieren. Das war freilich eine maßlose Überschätzung des fraglos wichtigen Beitrags der Familientherapie, der die Funktion von stabilisierenden bzw. destabilisierenden Einflüssen von sozialen Systemen für die Lebensprozesse der einzelnen Menschen ins Gespräch gebracht hat. Daraus entstanden viele fruchtbare praktische Bearbeitungsmöglichkeiten von Problemen und Symptomen, indem auf eben dieser interpersonellen Ebene interveniert wurde. Gleichwohl muss jede Interaktion durch das Nadelöhr subjektiver Sinndeutungen gehen: Die Familie, die Gruppe oder die Gesellschaft
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mag etwas als sinnvoll definieren, erklären oder vorschreiben – aber ob das Subjekt dies auch als sinnvoll empfindet, ist etwas anderes. Dies wird in dem bekannten Beispiel, »Die Geschichte mit dem Hammer«, von Watzlawick (2011, S. 37 ff.) – immerhin ein »Urvater« der systemischen Diskurse über menschliche Kommunikation – deutlich, in dem interpersonell nur beobachtbar ist, dass jemand ohne erkennbaren Grund seinen Wohnungsnachbarn überfallartig beschimpft: Zitat »Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er ›Guten Tag‹ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: ›Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!‹«
Auch wenn diese Geschichte amüsant und prägnant übertrieben ist, so erkennt sich wohl fast jeder in bestimmten Momenten wieder: Man spinnt sich mögliche Geschehnisse aus, die dann handlungsleitend werden können – auch in Bezug auf andere Personen. So erläutert auch Watzlawick sein Beispiel wie folgt: Zitat »Wenige Maßnahmen eignen sich besser zur Erzeugung von Unglücklichsein als die Konfrontierung des ahnungslosen Partners mit dem letzten Glied einer langen, komplizierten Kette von Phantasien, in denen dieser eine entscheidende, negative Rolle spielt. Seine Verwirrung, Bestürzung, sein angebliches Nicht-Verstehen, seine Ungehaltenheit, sein Sich-herausreden-Wollen aus seiner Schuld sind die endgültigen Beweise, daß Sie natürlich recht haben.«
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Man kann davon ausgehen, dass auch der Partner zu »typischen« Verhaltensweisen greift, um nicht immer wieder überrascht und verunsichert zu werden. Auf der Beobachtungsebene ergeben sich daraus interpersonelle Muster, die als stabilisierende, reduzierende Attraktoren im Raum möglicher Handlungsalternativen zu sehen sind. Gleichzeitig sind sie aber immer auch mit Sinnattraktoren auf der Ebene des Subjekts verbunden. Das gilt für alle interpersonellen Beispiele in diesem Buch: angefangen von den drei Fallvignetten, der Blick-Interaktion von Ute und Peter, über die beiden Männer im Boot oder die Mutter-TochterInteraktion bis hin zu den Mehr-Personen-Interaktionen der Teambeschreibungen von »Schikanierern« oder der familiären Festschreibung der »Verhaltensstörung« von Julian. Immer gehen auf der Ebene des Bewusstseins der Subjekte bestimmte Deutungsmuster einher mit interpersonellen Attraktoren. Dieses Zusammenwirken in einem, nur analytisch trennbaren, Gesamtprozess ist ja gerade zentraler Gegenstand dieses Buchs. Diese gegenseitige Stabilisierung der Prozessebenen besonders bei problematischen Mustern kommt in dem typischen Satz von Klienten in Bezug auf ihre Partner oder Teammitglieder zum Ausdruck: »Selbst wenn ich etwas anderes machen würde: Mein Partner (bzw. die anderen) würde(n) das gar nicht zur Kenntnis nehmen!« Dies ist oft nicht nur eine Befürchtung, sondern leidvolle Erfahrung. Die Klienten haben vielleicht einiges eingesehen, wie sie mit ihrem Verhalten zur problematischen Situation beitragen, und beschließen, etwas anders zu machen. Sie setzen das zunächst in die Tat um. Aber die anderen nehmen diese neuen Verhaltensnuancen nur in denselben alten Kategorien wahr, die sie schon vorher auf die Person, deren Verhalten und zahlreiche Situationen angewendet haben. Hier wirken eben die Sinnattraktoren, welche ständig die polysemantischen Situationen stark im Sinne bisheriger Deutungsmuster reduzieren. Man schaut gar nicht mehr so genau hin, was wirklich vor sich geht, sondern nimmt erste, nur grob wahrgenommene Äußerungen als Trigger für die je eigene Komplettierungsdynamik, mit der die Szene zu Ende »phantasiert« wird. Das ist kein böser Wille, sondern das eben meint bereits auf der Basis einfachster Lebewesen die »Bedeutungszuschreibung« komplexer objektiver Umgebungsgeschehnisse zu den vergleichsweise groben Kategorien der Umwelt aus Merk- und Wirkfunktionen. Noch viel mehr reduziert das Subjekt seine unfassbar hochkomplexe Reizwelt auf eine fassbare sinnhafte Lebenswelt. Für das erlebende Subjekt, das sich um neues Verhalten bemüht, ist dies freilich enttäuschend und dann oft ein Grund, dieses Bemühen wieder einzustellen. Denn auch für das Subjekt ist es zunächst recht aufwendig, unsicher und fragwürdig, immer wieder die »alten Muster« in den konkreten Handlungen zu überwinden. Zu Recht würde dann aber ein Beobachter der Interaktionen feststellen, dass sich nichts verändert hat.
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Trotz des zentralen Stellenwertes der »Bühne des Bewusstseins« ist diese somit weder leer noch beliebig bespielbar. Denn das Subjekt, als Regisseur, Dramaturg und Bühnenbildner, kann nur das inszenieren, was ihm »in den Kopf« kommt. Und hier ist neben weiteren zahlreichen (teilweise noch recht unerforschten) evolutionär-organismischen Präformierungen beispielsweise auch das mitbestimmend, was Bowlby »inner working Model« auf der Basis früher Bindungserfahrungen nannte: ein evolutionär angelegtes Musterbildungspotenzial (bzw. eine »formative Tendenz«) hinsichtlich der Verlässlichkeit eines Bindungspartners (meist: Mutter), das sich durch eben diese Erfahrungen seine spezifische Struktur aktualisiert. Oder, vergleichbar, das evolutionär angelegte Musterbildungspotenzial hinsichtlich der grammatischen Struktur der Sprachumgebung, das sich durch eben diese Erfahrungen mit Lautströmen dann zu der spezifischen Grammatik und Sprache der umgebenden Kultur aktualisiert. Und all diese sich aktualisierenden Musterbildungsprozesse finden in den Bedeutungsfeldern kultureller und familiärer Intersubjektivität statt. Albert Pesso, der einen spezifischen Ansatz für therapeutische Arbeit auf der »Bühne des Bewusstsein« entwickelt hat164, betont besonders den Aspekt, dass die Inszenierungen des Bewusstseins im Hier und Jetzt wesentlich durch Schlüsselszenen aus der frühen Biografie beeinflusst werden. Diese Schlüsselszenen hängen wiederum mit dem Ausmaß sowie der Art und Weise zusammen, wie zentrale Grundbedürfnisse des Menschen sichergestellt – oder oft eben auch nicht sichergestellt – wurden: Es geht um Bedürfnisse, die mit »Platz«, »Raum und Verbundenheit«, »Nahrung und Anerkennung«, »Unterstützung«, »Schutz und Geborgenheit« sowie »Begrenzung« umschrieben werden. Neben den schwerwiegenden Formen der Missachtung solcher Bedürfnisse aufgrund von Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch und anderen traumatisierenden Erfahrungen gibt es auch subtilere Konstellationen, in denen die Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Eine typische Form ist die Überforderung des Kindes durch Funktionen, die seinem Alter nicht gemäß sind – in die es aber oft sogar selbst »hineindrängt«, weil die wahrgenommene Leerstelle im sozialen System (in der Regel die Familie) aufgrund evolutionärer Präformierungen dazu »auffordert«. Pesso spricht hier von »Holes in Roles«, also Lehrstellen im sozialen Rollengefüge.165 Eine solche Leerstelle liegt beispielsweise dann vor, wenn der Vater früh stirbt und der noch jugendliche Älteste diese 164 Pesso (1999) sowie Pesso und Perquin (2007). Die Überschrift dieses Unterkapitels 6.2 ist durchaus als Referenz an diese letztere Publikation zu verstehen, die ebenfalls den Titel »Die Bühnen des Bewusstseins« trägt. 165 Pesso geht davon aus, dass – ähnlich wie allgemeine Grundstrukturen der sprachlichen Grammatik – auch Grundstrukturen familiärer Muster evolutionär erworben sind, mit denen die
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Vaterrolle substituiert. Dies geschieht, wie gerade gesagt, auch ohne dass dazu von der Mutter oder anderen explizit aufgefordert wird. Sondern es wird versucht, ein empfundenes Vakuum auszufüllen. Ähnlich typisch ist die Substitution der jung verstorbenen Mutter durch die älteste Tochter. Dies sind aber nur zwei Grundtypen eines großen Spektrums an Möglichkeiten – auch gestorbene, rollenwidrig sich verhaltende oder Erwartungen nicht erfüllende Geschwister werden substituiert. Oder es werden Funktionen und Rollen eingenommen, um Belastungen im Familiensystem zu mildern. Zumindest unbewusst werden im letzteren Fall von einem Elternteil (oder beiden) bestimmte Erwartungen an das Kind herangetragen, um eigenen Konflikte zu entlasten. Alle solche Rollenund Funktionsübernahmen enthalten aber etwas für den jeweiligen Menschen Fremdes, das dessen eigenen Bedürfnissen nicht gerecht wird.166 Pessos Ansatz besteht wesentlich darin, diesen Szenen mangelnder Bedürfniserfüllung durch inszenierte Rollenspiele ideale Situationen bzw. Konstellation und Verhaltensweisen als eine Art »Gegengift« (Antidot) im Gedächtnis zur Seite zu stellen. Wegen der üblicherweise starken emotionalen Beteiligung des Klienten beim Wahrnehmen und Miterleben der inszenierten Szenen, werden diese als relevante Aspekte genauso im Gedächtnis gespeichert wie die ursprünglichen Szenen.167 Die inszenierten idealen Geschehnisse dienen somit der »Bühne des Bewusstseins« als eine Art zweite Blaupause für das, was in Hinkunft erinnert wird. Dazu eine Fallvignette: Beispiel In einer Demonstration im Anschluss an eine Vorlesung über »The Roots of Justice are in the Body«168 arbeitet Pesso mit einer Teilnehmerin der Vorlesung, die sich freiwillig gemeldet hat.
Betroffenen in der Lage sind, die »Leerstellen« in dieser Struktur zu erkennen, und es als Aufforderung erleben, sie irgendwie zu füllen – auch wenn sie damit überfordert sind. 166 Diese problematische Substitution von familiären Rollen hat bereits vor über einem halben Jahrhundert Horst Eberhard Richter (1962) eindrucksvoll herausgearbeitet. 167 Aus Sicht der Personzentrierten Systemtheorie ist es dabei übrigens gleichgültig, ob diese Szenen »wirklich« so stattgefunden haben und real erinnert werden oder ob es sich um Reinszenierungen auf der Basis von Strukturen handelt, die aufgrund der Erfahrungen entstanden sind (also ob es beim Erinnern also um genaue Inhalte oder aber Strukturen geht): Vermutlich ist es meist eine Mischung aus beiden. 168 Vorlesung und Demonstration fanden 2007 an der Universität Osnabrück statt. Die Vorlesung ist auf YouTube unter www.youtube.com/watch?v=4onQEFTxxHU im Internet zu finden. Sie zeigt auch, dass Pesso sich gerade hinsichtlich der strukturellen Wirkungsdynamik des Körpers auf das Bewusstsein explizit auf Aspekte der Personzentrierten Systemtheorie beruft.
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Die Studentin, die anfangs keine Probleme vorbringt, weil sie sich ja nur zu Demonstrationszwecken zur Verfügung gestellt hat, ist zunächst irritiert, dass von ihr nichts Bestimmtes erwartet wird, was sie tun soll. Durch Pessos »Micro-Tracking« – einem sehr kleinschrittigen, sehr detaillierten »Zur-SpracheBringen« wahrgenommener Gemütsregungen – wird aber zunehmend deutlich, dass für das Erleben der Aspekt bedeutsam ist, dass nichts erwartet wird, und die Teilnehmerin die »Erlaubnis« hat, einfach »so sein« zu können. Von dieser Erfahrung ausgehend kommen rasch Bilder ins Bewusstsein, wo sie nicht einfach so sein konnte (und noch heute nicht sein kann): nämlich bei der Mutter, die als Kind ihren Vater (also den Großvater der Studentin) verloren hatte und erheblichen Anforderungen in der Familie ausgesetzt war. Die erzählten Geschehnisse der Mutter (und wohl auch deren unbewusste Erwartungen an ihre Tochter) brachten die Studentin dazu, ihrerseits die Mutter zu schonen, deren Traurigkeit zu verstehen, für diese »da zu sein« und selbst eben nicht einfach »so sein« zu können. In der Szene stellt Pesso der Rollenspielerin für die Mutter einen »idealen Vater« zur Seite, der nicht gestorben wäre, sowie eine Mutter (also die Mutter der Mutter), die gemeinsam mit ihrem Mann die Bedürfnisse der Mutter der Studentin als Kind nach Sicherheit, Anerkennung und Unterstützung erfüllt hätte. Angesichts dieser Szene wird der Studentin deutlich »Wenn das meine Mutter erlebt hätte, hätte sie nicht so traurig und belastet sein müssen – und ich hätte viel freier leben und leichter ›so sein‹ können.«
Diese – hier auf wenige Aspekte verkürzte – Vignette macht das für unseren Kontext Wichtige deutlich: Bedeutsam für Veränderungen sind Erfahrungen, die nicht einfach durch bestehende Sinnattraktoren immer wieder in die alten Kategorien in Form von sprachlichen Begriffen und Konzepten oder nichtsprachlichen Bildern und Szenen einsortiert werden. Vielmehr ist es Aufgabe von Psychotherapeuten, Beratern und Coaches, dafür zu sorgen, dass eben das Geschehen tatsächlich neu und anders erfahren werden kann. Dabei ist das oben kurz skizzierte Konzept von Pesso mit seinen konkreten Umsetzungen natürlich nur ein Beispiel aus einem großen Spektrum möglicher Vorgehensweisen. Ähnlich, aber jeweils im Detail mit anderen Schwerpunkten, gehen die Inszenierungen des Psychodramas vor (Moreno, 1959; Hutter u. Schwehm, 2009; aus Sicht der Personzentrierten Systemtheorie: Kriz, 2014b) oder die Skulpturarbeit, wie sie in der Tradition der entwicklungsorientierten Familientherapie entwickelt wurde (z. B. Satir, 1990), und letztlich auch die
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Arbeit mit »Aufstellungen«, wenn sie nicht so apodiktisch daherkommt wie in der Hellinger-»Gemeinde«, sondern sich als Möglichkeit der besinnlichen Betrachtung der Szenarien auf der »Bühne des Bewusstseins« versteht (Hellinger, 1994; Weber, 1993; Sparrer u. Varga von Kibed, 2000). 6.2.2 Vom Sinn zur Sinnlichkeit Allen diesen Vorgehensweisen ist gemeinsam, dass sie faktisch die sinnreduzierende und stabilisierende Kraft der Sprache mit ihren Begriffen und Kategorien unterlaufen (vgl. Abschnitt 3.3.1). Wenn die Vielzahl der Situationen und Verhaltensweisen im Beispiel von Julians »Verhaltensstörung« erst einmal auf diese Wahrnehmungs- und Erklärungskategorie reduziert und festgeschrieben ist, sehen alle Beteiligten die »Welt« in Bezug auf Julian durch die Brille dieses Konzepts. Die Familienmitglieder haben sich de facto darauf unbewusst geeinigt, dass auf der Bühne ihres Bewusstseins ein »Julian mit Verhaltensstörung« auftritt – jedenfalls dann, wenn mit Julian etwas »Problematisches« vorfällt, das man sich so schnell nicht anders erklären kann (oder will – weil es zu aufwendig wäre). Abstrakter, kategorialer Sinn hat hier eine sorgfältige und differenzierte Erfassung der Situationen mit den Sinnen (genaues Hinsehen, Hinhören, etc.) und sinnlichen Bedeutungszuweisungen (Einfühlen, sich Ansprechen lassen, sich Berühren lassen) ersetzt. Daher können Anregungen hilfreich sein, die »Welt« – zumindest in Bezug auf den »Problembereich« – verstärkt sinnlich zu erfassen.169 Im Vergleich zur Beschreibung durch Kategorien ist eine solche sinnliche Zuwendung zur »Welt« per se weitaus komplexer – ein Aspekt, der für die erwünschten Ordnungs- Ordnungs-Übergänge bedeutsam ist. Beispiel Eine ganz einfache Übung ist beispielsweise, ein zerstrittenes Paar in der Therapie zu bitten, sich schweigend für sieben oder acht Minuten einander gegenüberzusetzen und sich anzusehen. In sehr vielen Fällen ist dies eine bewegende Erfahrung. Man hat den zerstrittenen Partner nämlich meist schon sehr lange nicht mehr in Ruhe, ohne ein bestimmtes Ziel, betrachtet und sich selbst der Betrachtung ausgesetzt. »Selbstverständlich« weiß man, wie der Partner aus169 Auch für Cassirer (1944, dt. 1960) ergibt sich die symbolische Formenwelt aus der Verbindung von Sinn und Sinnlichkeit. Der Geist hat demnach nicht die Fähigkeit, sich selbst zu ergreifen, sondern er ist auf die Vermittlung durch einen sinnlichen Gehalt angewiesen.
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sieht – so wie man auch immer schon weiß, was er sagen will, wenn er nur den Mund aufmacht. Es ist aber nicht wirklich der Partner, der in solchen Erinnerungen und Vorannahmen auf der Bühne des Bewusstseins auftritt, sondern ein kategoriell organisiertes Bild des Partners – also eine Abstraktion, die zudem noch gefärbt ist von Affekten wie Ärger oder Enttäuschung. Nun aber taucht (ähnlich wie in einigen Beispielen im Buch) durch die visuellen Sinneseindrücke zunehmend ein reichhaltigeres Bild auf der Bühne des Bewusstseins auf. Zum Beispiel werden kleine Fältchen erkannt, deren Entstehen man bisher gar nicht mitbekommen hat. Man sieht in den Augen des Partners ein Subjekt, das einen zudem selbst anblickt.
Diese winzige Sequenz macht deutlich, wie die Förderung sinnlicher Erfahrung die Bühne des Bewusstseins neu beleben kann und statt der inneren Filme mit abstrakten Geistwesen in alten, sattsam bekannten Klamotten vor immer denselben Kulissen und wiederkäuender Rollenrhetorik der Wahrnehmung im Hier und Jetzt einen größeren Platz einräumt. In der Arbeit von Pesso oder mithilfe von Skulpturen, Aufstellungen, psychodramatischen Inszenierungen und anderen auf sinnliche Erfahrung zentrierten Vorgehensweisen wird oft auch deutlich, wie diese »inneren Filme« biografisch entstanden sind. Zudem können durch die mit dieser Arbeit verbundene Entschleunigung, Achtsamkeit und dem Fokus auf das Hier und Jetzt des Erlebens feinere strukturelle Bedeutungsfelder aus dem Organismus Szenen auf der Bühne des Bewusstseins konstellieren, die sonst überdeckt werden. Hierzu gibt es noch wenig Forschung. Allerdings lässt die intuitive Erfassung der Bedeutung von Aufstellungskonstellationen und auch Pessos Annahme von »Holes in Roles«, mit denen er seine Kernerfahrungen einer jahrzehntelangen Arbeit beschreibt, solche evolutionär erworbenen Strukturierungspotenziale vermuten. Dennoch sollte man sich klarmachen, dass solche evolutionär erworbenen Kategorien der Bedeutungszuweisung sehr globale Sinnattraktoren darstellen, deren dazugehörige Bedeutungsfelder – ähnlich wie die kulturell-kognitiven Begriffskategorien – einem differenzierten »In-der-Welt-Sein« im Hier und Jetzt zuwiderlaufen. Je stärker solche, das Erleben strukturierende Kräfte am Werk sind, desto gröber und wenig ausdifferenziert werden entsprechende »Objekte« der Umgebung mit Bedeutung versehen: Bei starkem Hunger ist das Spektrum möglicher Nahrung eben groß und grob. Ebenso das »Suchschema« bei einem starken sexuellen Bedürfnis. Ähnlich ist auch die Auswahl an Plüschund Kuscheltieren, an die man »sein Herz hängen« kann, besonders dann groß
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und wenig differenziert, wenn solche Ersatzobjekte für Zuwendung mit einem starken Bedürfnis einhergehen. Ein anschauliches Beispiel hierfür sind die ausdrucksstarken »Willow Tree «-Figuren von Susan Lordi (Abbildung 51), deren Abbildungen man zuhauf findet, wenn man dieses Stichwort in Internetsuchmaschinen eingibt. Es handelt sich dabei um circa zwanzig Zentimeter hohe Skulpturen, die einzelne Menschen, meist aber Paare und Familien, in sehr markanten Posen darstellen. In der therapeutischen Skulpturarbeit würde man das wohl als Wunschskulpturen von »heilen« Familien bzw. Paaren »à la Hollywood« bezeichnen und als Klischees bzw. Kitsch bewerten. Doch gleichgültig, ob Kitsch oder Kunst: In unserem Kontext ist relevant, dass die große Verbreitung der Skulpturen und die offenkundig hohe Nachfrage danach darauf hindeuten, dass diese in ihrem Ausdruck etwas ansprechen, was für viele Menschen etwas von ihrem Inneren ausdrückt, sodass sie sich das hinstellen oder verschenken (ähnlich wie die »süßen« Teddybären oder Stofftiere mit Merkmalen des angeführten »Kindchenschemas«).
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Abbildung 51: »Willow Tree®«-Figuren von Susan Lordi
Anmerkung: Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin Susan Lordi und DEMDACO. Fotograf: Darryl Bernstein, Bernstein Productions Inc.
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Schon die Tatsache, dass die Köpfe keine Gesichtsdetails zeigen, weist darauf hin, dass diese als Figuren in ihren Konstellationen als Projektionsobjekte zur Ausgestaltung auf der Bühne des Bewusstseins gedacht sind. Im Gegensatz zur Paar»übung« oben ist eben nicht differenziertes Wahrnehmen des Gegenübers170 als Subjekt bzw. eine differenzierte soziale Konstellation gefragt, sondern die Bedienung von evolutionär vorstrukturierten Prototypen und Bedürfnissen. Von der Bereitstellung solcher Projektionsflächen lebt auch die Werbeindustrie, die dabei Verknüpfungen mit dem Kaufobjekt herstellt: Wenn sich leicht bekleidete, junge und attraktive Frauen in sexuell aufreizender Kleidung und Posen auf teuren Luxusautos räkeln, handelt es sich eben nicht um logisch- kategorielle Verbindungen. Vielmehr soll den evolutionären »Suchschemata« suggeriert werden, dass ein Kaufakt nicht nur die Verfügbarkeit über das beworbene Produkt herstellen würde, sondern dass man damit auch der Verfügbarkeit über diese sexuellen Wunschprojektionen ein Stück näher kommen könnte. Diese Dynamik in der Ordnungsbildung von Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Verhalten aufgrund evolutionär erworbener Strukturierungsprinzipien hat bereits C. G. Jung mit seinen Konzept der »Archetypen« umfangreich dargestellt. Männer, welche sich oft Hals über Kopf und vehement in eine Frau verlieben, um sich dann nach kurzer Zeit ebenso vehement der nächsten zuzuwenden, verlieben sich eigentlich in eine Projektion ihrer eigenen Wünsche. Je näher sie diese Frau dann allerdings kennenlernen, desto weniger lässt sich die erlebte Realität von den Wunschprojektionen überformen – die Diskrepanzen werden zunehmend wahrgenommen. Enttäuscht wendet man(n) sich ab, um seine Sehnsucht nach Zärlichkeit, Begehren, Verschmelzung etc. – und vor allem deren (in hohem Maße unbewusste) imaginierte Umsetzung – auf die nächste Partnerin zu projizieren. Therapie, Beratung und Coaching verfolgen unter dieser Perspektive den Weg, die strukturierenden Kräfte auf der Bühne des Bewusstseins zu identifizieren und/oder die Ressourcen eröffnenden Teilaspekte daran mit einem neuen Kontext zu umgeben, sodass sie konstruktiv für die notwendigen Entwicklungsaufgaben eingesetzt werden können. So stellt beispielsweise der skizzierte Ansatz von Pesso den malignen Kräften Gegenkräfte (die oben angeführten »Antidots«) zur Seite. Der Ansatz des »reflektierenden Teams« (vgl. Unterkapitel 6.4) würde sich stärker auf die konstruktiven Aspekte in der Vielfalt an möglichen Deutungen und Verstehensweisen konzentrieren, welche in jedem Verhalten enthalten sind und so zu einer ressourcenorientierten Umdeutung beitragen. 170 Die Kleidung der Figuren ist westlich orientiert und ist daher in manchen Kulturen wohl unpassend. Die Posen allerdings dürften viel allgemeingültiger sein.
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Ein weiterer Ansatz wäre eine Förderung der Achtsamkeit auf die eigenen inneren Prozesse. Denn selbst wenn Gefühle gut benannt werden können – bzw. oft gerade dann – besteht die Gefahr, dass diese Benennungen sich auf bereits Bekanntes und Kategorielles beziehen, das dem differenzierten inneren Geschehen nicht gerecht wird. Das komplexe, aber nicht-sprachliche Wissen des Körpers wird dann nicht für einen lebendigen Dialog mit sich selbst und seinen Befindlichkeiten genutzt, sondern »weg-kategorisiert«. Ähnlich wie beim Partner, den man meint zu kennen und bei dem man daher nicht mehr genau hinhört und hinschaut, meint man die Gefühle zu kennen – und schaut damit auch von der Differenziertheit des Erlebens weg. Doch wie bei rein rationalen Entscheidungen, die hundertprozentig durchdacht und überzeugend logisch begründet sein können, bleibt dann etwas, das nicht »stimmig« ist – eine bestimmte Stimmung, die zunächst gar nicht weiter benannt werden kann, da sie auch nicht intentional mit etwas »Innerem« oder »Äußerem« verbunden werden kann. Man sagt dann: »Ich habe mich hundertprozentig für A entschieden« oder »Mir geht es eigentlich so ganz gut« – und doch spürt man (wenn man etwas innehält und entschleunigt), dass da etwas nicht »stimmt«. Eugene Gendlin (2012, 2014) hat mit seinem Ansatz des »Focusing« eine umfassende Konzeption entwickelt, aus der heraus eine Arbeitsweise zur Förderung und Begleitung solcher achtsamen Kontaktaufnahme mit den sprachlich zunächst nicht erreichbaren inneren Prozessen möglich wird. Dabei wird Aufmerksamkeit auf den Körper, besonders den Brust- und Bauchraum gerichtet. Oft ergibt sich dann ein (zunächst nur) gefühlter Sinn über Zusammenhänge des inneren Erlebens mit einer bestimmten Gefühlslage oder einem Problem in Form einer diffusen, unklaren Empfindung, den Gendlin als »felt sense« bezeichnet. Eine Auseinandersetzung damit kann zunächst in einer ebenfalls noch rein gefühlsmäßigen Veränderung bestehen (»felt shift«), die eine größere Stimmigkeit der einzelnen Aspekte aufweist. Da es aber letztlich auch um die kognitivselbstreflexive Aneignung des Erlebten geht, muss das gefühlsmäßige Ergebnis des Focusing aus der Un- oder Vorsprachlichkeit in das Licht der sprachlichen Sinnzuweisung gehoben werden, die nun aber insgesamt als stimmig(er) erlebt wird. Falls man sich dann weiter damit beschäftigt, was eigentlich zur Unstimmigkeit geführt hat, wird oft deutlich, welche formativen Kräfte des Körpers auf der Bühne des Bewusstseins das Spiel der Akteure beeinflussen. So ist die Erkenntnis typisch, welche leeren, alten Sprüche, Erklärungen und Benennungen immer wieder abgespult werden und einer freien Ausgestaltung der Rollenmöglichkeiten und situationsgerechten Anforderungen im Wege stehen. Gleich, welche konkrete Vorgehensweise man wählt, es geht um eine Rückbindung der Lebenswelt an die unmittelbare sinnliche Erfahrung, die oft verlo-
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ren gegangen ist. Wenn beispielsweise in Shakespeares »Hamlet« Polonius fragt: »What do you read, my lord?«, und Hamlet antwortet: »Words, words, words«, so drückt dies genau die Sinnleere aus, die Worte in einer Welt der Verzweiflung haben können – Worte, die nicht mehr berühren. Worte, die zu den eigentlichen Empfindungen nicht stimmig sind. Wichtig ist auch hier, die alten, malignen Muster in ihrer Aufrechterhaltung zu verstören: Es geht immer darum, eine sprachlich-logische oder archaisch- affektive kategorielle Erfassung der Welt – welche durch viel zu reduzierte, viel zu stabile Sinnattraktoren Veränderung behindert – durch die Komplexität sinnlich-differenzierter Erfahrungen zu destabilisieren und so zum notwendigen Ordnungs-Ordnungs-Übergang beizutragen.
6.3 Von der Zukunft her denken: Intuition, Imagination und Kreativität 6.3.1 Die Teleologie der Intuition Während Achtsamkeit den Aufmerksamkeitsfokus eher auf das »innere«, oft nur diffus wahrnehmbare, gefühlsmäßige Erleben richtet, geht es bei der Intuition eher um eine ebenso diffuse Erfassung »äußeren« Geschehens in seiner Entwicklungsdynamik. In Wörterbüchern und Lexika wird hervorgehoben, dass mittels Intuition etwas erfahren und erfasst wird, was wir uns nicht auf die üblich rationale, planerische, denkerische Weise aneignen. »Es« fällt uns vielmehr zu, ohne dass wir den Weg dieser Aneignung genau – z. B. analytisch in zielgerichtete Schritte zerlegt oder operationalisiert – planen oder auch nur beschreiben könnten. Allerdings »gibt« es dieses »Es« irgendwie – was die Intuition z. B. von einer Halluzination oder einer Konstruktion im Sinne des sogenannten »Radikalen Konstruktivismus« unterscheidet: Intuition ist deutlich auf Vorgänge »in der Welt« gerichtet, stellt also eine Beziehung zwischen dem, der die Intuition hat, und der Welt dar bzw. her. Auch bei künstlerischem und sonstigem kreativen Schaffen spricht man daher oft von »Intuition«. Bedeutsamer Kern ist auch hier ein ganzheitlicher Vorgang bei der Erfassung, Verarbeitung und gegebenenfalls resultierenden Handlung bzw. des Ausdrucks in einer komplexen Situation.171 171 Mit »Intuition« ist hier somit ausdrücklich nicht eine (auch) alltagssprachliche Verwendung gemeint, die sich gegen Kritik immunisiert und zur Machtausübung eingesetzt wird (vgl. die Kritik von von Schlippe, 2012).
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In diesem Buch wird vielfach die kaum fassbare, bewundernswerte Leistung des Organismus herausgestellt, der jenseits der kognitiv-rationalen Denkvorgänge der reflexiven Bewusstseinsprozesse »seinen« Zugang zur Umwelt hat. Man muss der Argumentation von Julian Jaynes nicht folgen, dass jahrtausend alte, noch heute bestaunte Kulturleistungen, z. B. in Ägypten, Indien, China oder Mittelamerika, ohne »reflexives Bewusstsein« (im heutigen Verständnis) zustande gekommen sind. Hält man sich allerdings nochmals die typische Szene vor Augen, wo man tief im Gespräch oder in Gedanken sein Auto durch den Großstadtverkehr steuert und Verkehrsschilder, Ampeln, andere Verkehrszeichen, die komplexen Bewegungen zahlreicher anderer Verkehrsteilnehmer und deren Bedeutung (z. B. »Vorfahrt«) adäquat verarbeitet und motorisch umsetzt, wird die Differenziertheit deutlich, mit der unser Organismus auch ohne bewusste (oder zumindest aufmerksamkeitsfokussierte) Steuerung am Geschehen seiner Lebenswelt teilnimmt. Diese erstaunliche Leistung machen wir uns kaum bewusst, doch sollte sie uns Bewunderung für den menschlichen Organismus abringen – ebenso wie für die wundersamen Fähigkeiten von Zugvögeln, Lachsen, Walen oder auch nur Spinnen. Obwohl das 21. Jahrhundert zum »Jahrhundert des Gehirns und Bewusstseins« erklärt wurde und zahlreiche neugeschaffene Professuren in »Kognitive Science« sich mit detaillierten Gehirnvorgängen beschäftigen, widmen wir uns kaum dem Verständnis dieser ganzheitlichen Leistung des Organismus, obwohl diese, wie gezeigt, die kognitiv-rationalen Prozesse, das Bewusstsein und das Handeln in beträchtlichem Maße beeinflussen (allerdings wiederum in zirkulären Wirkungsnetzen zwischen allen Prozessebenen). Diese Leistungen werden allerdings besonders dann deutlich, wenn die enge Verbindung zwischen reflexivem Bewusstsein und sprachlichen Kategorien, welche alltagsweltliche Realität stabilisieren, gelockert ist. Nach intensiver Beschäftigung mit einem komplexen Problem, »kommen« einem nicht selten Lösungen unter der Dusche oder beim Einschlafen bzw. Aufwachen – also unter Bedingungen einer aufgeweichten starren Rationalität und Logik. Auch dies ist ein typischer Ordnungs-Ordnungs-Übergang, denn die »intensive Beschäftigung mit dem Problem« schafft eine Anreicherung mit Aspekten und Ideen, mit der das Problem (die alte Ordnung) sich unter destabilisierenden Bedingungen zu einer Lösung (neue Ordnung) formieren kann. Ein Fallbericht von Sacks (1990, S. 120) soll deutlich machen, wie in der Tat die »Behinderung« alltäglicher Fertigkeiten die Sensibilität so steigern kann, dass eine Situation intuitiv eher angemessen beurteilt wird, während wir in der üblichen Alltagshaltung darüber »hinwegsehen« und uns täuschen lassen:
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Beispiel Bei einer vom Fernsehen übertragenen Rede des amerikanischen Präsidenten (vermutlich Reagan) wurden die meisten Patienten auf der Aphasiestation eines Krankenhauses von Lachkrämpfen geschüttelt, andere wirkten besorgt und verwirrt, während Sacks und das andere Personal nichts Besonderes an der Rede bemerkten. Schwere Aphasiker können zwar aufgrund einer Störung bzw. Verletzung im sensorischen Sprachzentrum (im linken Schläfenlappen) die Bedeutung von Worten nicht begreifen, verstehen aber in alltäglichen Situationen dennoch das meiste, was man zu ihnen sagt. Sie leiten dies aus Gestik und Mimik, Tonfall, Rhythmus, Satzmelodie etc. des Sprechers ab und sind somit notgedrungen besonders sensibel dafür. »Folglich«, so schreibt Sacks gegen Ende seiner ausführlichen Schilderung der Reaktion der Patienten auf die Rede des Präsidenten, »waren es die Mimik, die schauspielerischen Übertreibungen, die aufgesetzten Gesten und vor allem der falsche Tonfall, die falsche Satzmelodie des Redners, die diesen sprachlosen, aber ungeheuer sensiblen Patienten heuchlerisch erschien.« Ähnlich reagierte eine andere Patientin dieser Station, die aber aufgrund einer Störung im rechten Schläfenlappen an totaler Agnosie litt. Diese war ganz auf die richtige Wahl der Wörter und deren Beziehung zueinander angewiesen, um das Gesagte zu verstehen, da sie keine Fähigkeit mehr hatte, den »evokativen« Anteil der Sprache zu erfassen – jener Anteil, in dem z. B. Tonfall und Gefühl vermittelt werden. Zur Rede des Präsidenten bemerkte sie: »Er gebraucht die falschen Worte. Entweder ist er hirngeschädigt oder er hat etwas zu verbergen.« Sacks resümiert: »Wir ›Normalen‹ wurden […] tatsächlich gründlich hinters Licht geführt. Die Täuschung durch die Worte war, im Verein mit der Täuschung durch den irreführenden Tonfall, so gekonnt, dass nur die Hirngeschädigten davon unbeeindruckt blieben.«
In diesem Zusammenhang erscheinen auch die folgenden beiden Verweise relevant für Psychotherapie, Beratung und Coaching:172 Zitate In einem seiner letzten Beiträge, kurz vor seinem Tod, schreibt der bekannte humanistische Therapeut Carl Rogers (1986, S. 242): »Wenn ich als […] Therapeut ganz auf meinem Höhepunkt bin, entdecke ich ein weiteres Merkmal. Ich bemerke, wenn ich meinem inneren, intuitiven Selbst ganz nahe bin, wenn 172 Ausgeführt mit mehr Beispielen in Kriz, 2001a, 2013.
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ich irgendwie mit dem Unbekannten in mir in Berührung bin, wenn ich mich vielleicht in einem etwas veränderten Bewusstseinszustand in der Beziehung befinde, daß alles, was immer ich tue, voller Heilung zu sein scheint. […] Es gibt nichts, was ich tun kann, um diese Erfahrung zu erzwingen. […] [Ich handle] in seltsamer und impulsiver Weise in der Beziehung, in einer Weise, die ich rational nicht rechtfertigen kann, die nichts mit meinen Denkprozessen zu tun hat. […] In solchen Augenblicken scheint es, daß mein innerer Sinn [inner spirit] sich hinausgestreckt und den innersten Sinn des anderen berührt hat. […] Ich sehe mich gezwungen anzunehmen, daß ich, wie viele andere, die Wichtigkeit dieser […] Dimension unterschätzt habe.« In der Erläuterung ihrer »Systemischen Strukturaufstellungen« meinen Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd, dass der ganze Körper in der Gesamtkonstellation der Aufstellung als eine Art »Wahrnehmungsorgan« fungiert, über das man allein und in anderen Kontexten so nicht verfügt. Ebenso unterscheidet sich nach ihnen die repräsentierende Wahrnehmung von sich selbst – d. h. wenn der Protagonist in der Aufstellung an jene Stelle geht, die bisher ein anderer an seiner Stelle eingenommen hat – erheblich von der Alltagswahrnehmung. Dieses intuitive Erfassen der Gesamtkonstellation und der eigenen Position darin findet ähnlich statt wie beim externen Repräsentanten; und das dabei entstehende innere Bild ist zugleich sehr fremd und sehr vertraut (Sparrer u. Varga von Kibéd, 2000).
Beides mag ein wenig nach Esoterik klingen. Nimmt man freilich die biosemiotische Perspektive und die evolutionär erworbenen bzw. präformierten Bedeutungskategorien (siehe Kapitel 2) ernst, so ist es gar nicht so unerklärlich, dass es Situationen und Bedingungen zu geben scheint, bei denen die Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber der üblichen Alltagswahrnehmung erheblich gesteigert ist. Möglicherweise hängt dies mit geringerer Ablenkung vom »Blick auf das Wesentliche« durch die Kategorisierungen unserer üblichen Alltagswelt zusammen – ein Blick, der in der starken Reizflut des Alltags schwerer möglich ist als z. B. in den Strukturaufstellungen. So wie ja auch die Sterne tagsüber durch das starke Sonnenlicht oder auch nachts durch starkes Streulicht der Beleuchtung einer Großstadt nicht oder nur kaum wahrgenommen werden können. Aus Sicht der Personzentrierten Systemtheorie ist hier ein weiterer Aspekt wichtig: Die Entwicklungen, die mithilfe von Intuition erfasst werden, sind gewöhnlich in ihren Anfangsstadien noch recht schwach ausgeprägt, bewegen sich aber auf eine Ordnung hin, die zunehmend »sichtbar« wird. Genau dieses Phänomen wird aber mit dem Konzept des »Attraktors« thematisiert: Bei der
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Entwicklung und Veränderung von dynamischen Ordnungen bewegt sich ein Prozess auf einen Ordnungszustand zu, der sich erst nach und nach etabliert. Es handelt sich hierbei fraglos um ein teleologisches Prinzip, das lange Zeit als »obskur« aus der klassisch-abendländischen Wissenschaft verbannt war und nun über den Begriff des »Attraktors« wieder in die moderne Naturwissenschaft zurückgekehrt ist. Sieht man sich nochmals die Abbildungen 14, 15 oder 34 und die dazugehörigen Diskussionen an, so lässt sich aus der Perspektive einer etablierten Ordnung sagen, dass eine noch sehr unvollständige Ordnung bei einem attrahierenden Prozess zunehmend komplettiert wird (sogenannte »Komplettierungsdynamik«). Da in diesen drei Abbildungen freilich von einer ungeordneten komplexen Anordnung ausgegangen wird und die formalen Betrachtungen in diesem Band den Lesern erspart bleiben, sind vielleicht die Abbildungen 52a und b für die teleologische Entwicklung einer Ordnung leichter nachzuvollziehen. Dabei wird auf einen zufällig gewählten Punkt eine bestimmte Operation (Transformation) ausgeübt, was einen weiteren Punkt ergibt. In der in diesem Band vielfach diskutierten Weise wird dies nun iterativ wiederholt und derart entstehen immer weitere Punkte. Je nach Transformationsregeln ergibt sich so z. B. ein »Farn« (Abbildung 52a) oder ein »Ahornblatt« (Abbildung 52b).173 Zunehmend entfaltet sich also die Form (Ordnung) des »Blattes« bzw. »Farns«. Die Bilder ganz rechts enthalten jeweils 20.000 Punkte, die Bilder in der Mitte jeweils 500 und die Bilder links nur 50 Punkte. Trotzdem können die meisten Menschen bereits zumindest in der Mitte (nur fünf Prozent der Punkte) die sich anbahnende Ordnung erkennen. Eine solche ganzheitliche Erfassung ist aber geradezu typisch. In Abbildung 53 ist eine weitere attrahierende Dynamik dargestellt.174 Dies entspricht aber auch unserer Wahrnehmung eines anderen Menschen – wenn wir nur kurz hinblicken (und diesen Menschen vorher nicht gesehen haben), haben wir einen vagen Eindruck wie im ersten Bild der Folge in Abbildung 53. Es ist aber immer das vage Bild einer Gesamtheit und keineswegs ein scharf gesehenes Auge und ein Ohr und sonst nichts – wie in Abbildung 54 schematisiert ist. 173 Es handelt sich bei Abbildung 52 natürlich um dieselben Transformationen, welche auch bereits in Abbildung 15 das »Ahornblatt« als Attraktor erzeugt haben. Wie dort besprochen, läuft ein Attraktor ja gerade von sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen auf dieselbe Endstruktur – hier das »Ahornblatt« bzw. den »Farn« – zu (d. h. die komplexe Punktekonfiguration in Abbildung 14 oder die Konfiguration »KRIZ« in Abbildung 15 sowie ein einzelner Punkt in Abbildung 52a führt zum gleichen Attraktor »Ahornblatt«). Interessierte an den genaueren formalen Abläufen seien auf Kriz (1992, 1999) verwiesen. 174 Diese funktioniert nach denselben Prinzipien der rekursiven Entfaltung von Operationen wie Abbildung 52, 14 etc. – genauer in Kriz, 1992.
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Abbildung 52a (oben) und b (unten): Iterative Punktdynamiken (nach Kriz, 1992)
Abbildung 53: Iterative Entfaltung eines Bildes (analog zu Abbildung 52 oder 14)
Abbildung 54: Stückhafte Teile – hier: Ohr und Auge – aus Abbildung 53
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Wenn man dann länger oder öfter hinsieht, werden Bereiche des ganzheitlichen Bildes immer schärfer175 – aber es kommen nicht etwa weitere »Stücke« hinzu. Ähnlich ganzheitlich, diffus und vage – und nicht analytisch-präzise auf der Basis bisheriger Kenntnisse – kann man die Intuition beschreiben, mit der man oft solche weiteren Entwicklungsdynamiken, die auf einen Attraktor als Ordnung bzw. Struktur zulaufen, erfassen kann. Es ist somit ein Denken, das stärker vom zukünftigen Attraktor bestimmt ist als durch die lineare Weiterverfolgung bisher eingeschlagener Wege. Der Unterschied kann am (komplementären) Gegensatzpaar zwischen »Planen« und »Imaginieren« verdeutlicht werden: 6.3.2 Planen versus Imaginieren Die teleologischen Aspekte, die mit einer auf die Zukunft ausgerichteten Imagination zu tun haben, sind typisch für viele lebensweltliche Prozesse: Wenn man einen Studenten, der gerade die Treppe zu einem Hörsaal hinaufgeht, fragt, warum er dies tut, so wird er selten Gründe aus der Vergangenheit bemühen – etwa weil er Abitur gemacht habe oder weil er unten losgegangen sei und so viel Schwung hatte. Sondern man wird eher Erklärungen finden, die mit seiner Imagination der Zukunft zu tun haben. Er wird z. B. anführen, dass er eine Vorlesung hören wolle. Auf die Nachfrage: »Warum?« wird er vielleicht sagen, dass er demnächst seine Prüfung machen möchte, und dies wiederum, weil ihm vorschwebe, den Beruf »X« zu ergreifen. Dass menschliches Handeln sich zu wesentlichen Anteilen an Bildern der Zukunft orientiert, ist eigentlich recht selbstverständlich. Daher erscheint es geradezu absurd, dass teleologische Erklärungen lange Zeit selbst in der Psychologie verpönt waren und man versuchte, alles einseitig aus den »Kräften der Vergangenheit« heraus zu erklären. Letztere geben allerdings dadurch Sicherheit, dass sie auf den früher bewährten Prinzipien und Erfahrungen beruhen und nur in die Zukunft weitergeschrieben werden müssen. Der oben zitierte Student, der zum Hörsaal strebt, hat allerdings weder eine klare Vorstellung von der Vorlesung, die ihn gleich erwartet, noch gar von seinem späteren Beruf. Das ist mit erheblicher Unsicherheit verbunden. Doch genau diese Unsicherheit kann auch ein Vorteil sein: Denn die nur vage intuierte Zukunft erlaubt es, sich an verändernde Bedingungen zu adaptieren und überraschende Umstände dafür zu nutzen, letztlich etwas recht ande175 Dies schließt nicht aus, dass recht bald bestimmte Bereiche bevorzugt genau angesehen werden – etwa blau strahlende Augen oder auffällige Ohren – sie bleiben aber immer in ein »ganzes Gesicht« eingebettet.
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res zu realisieren, als zunächst vermutet wurde. Die Imagination gibt dabei die grobe Ausrichtung vor, auf deren Basis erste Entscheidungen getroffen werden müssen. Diese Entscheidungen machen wiederum das Ziel etwas klarer und ziehen andere Entscheidungen nach sich. So entsteht bei der Annäherung an das vage Ziel ein immer klareres Bild von dem, worauf man sich zubewegt. Und dieses kann ständig überprüft, neu ausgerichtet und sogar verändert werden. So kann im Anfangsstadium in Abbildung 52 aus den wenigen Punkten des werdenden Farns noch leicht ein Blatt entstehen, wenn irgendwelche Änderungen der Bedingungen dies nahelegen. Ebenso kann der Student, der einem imaginierten Berufswunsch nachgeht, sich zunächst noch relativ leicht an neue Gegebenheiten (z. B. der Berufswelt) oder Erkenntnisse (über eigene Stärken und Schwächen) anpassen – und dann beispielsweise statt eines Mathematiklehrers ein Physiklehrer oder lieber Lehrer an einer Grundschule werden oder vielleicht gar kein Lehramt ergreifen. Statt Kontrolle der einzelnen Schritte ist hier Vertrauen in die werdende »Gestalt« wichtig. Wenn hingegen das Studium bis aufs Letzte im Hinblick auf einen bestimmten Beruf und sogar dessen genaue Ausübung »durchgeplant« ist (etwa auf jeden Fall eine Stelle am Gymnasium in X-Stadt angestrebt wir), ist eben Kontrolle notwendig, weil sonst ein Scheitern droht. Bei planerisch-determinierten Prozessen wird zwar auch ein Bild in die Zukunft (oder gar: der Zukunft) entworfen. Die Informationsbasis und die »Gesetzmäßigkeiten«, auf denen der Plan beruht, stammen aber aus der bisherigen Vergangenheit. Das Einhalten der planerischen Schritte kann kontrolliert werden – ja, in dieser Kontrollmöglichkeit wird sogar eine Stärke guter Pläne und deren Realisation gesehen. Kontrolle ist nichts »Schlechtes«. Für manche klar vorgegebenen Ziele (aus welchen Gründen auch immer) ist dies sehr effizient. Allerdings hat eine solche Dynamik auch nichts Überraschendes mehr – bzw. Überraschungen treten nur als Abweichungen vom Plan auf und sind daher fast immer »böse Überraschungen«. Pläne sind somit vorgezeichnete, starre Wege, deren Einhaltung kontrollierbar ist, und wobei Abweichungen vom Plan festgestellt und revidiert werden können – das genau ist die Aufgabe eines Plans. Prinzipiell kann natürlich auch ein Plan revidiert oder verändert werden. Das wäre dann aber in dieser Logik ein neuer Plan. Es macht wenig Sinn, Planen und Imaginieren in Bezug auf Entwicklungen gegeneinander auszuspielen. Allerdings ist es wohl so, dass in unserer Kultur einseitig auf das Prinzip der Planung gesetzt wird. Die Vorteile einer teleologischimaginativen Zukunftsgestaltung werden dagegen recht selten thematisiert. Die Ausrichtung an recht vagen Vorstellungen, die überhaupt erst zunehmend klarer werden, indem man ihnen folgt und sie zunehmend realisiert, wird weitgehend diskreditiert. Dies zeigt sich beispielsweise an der Bevorzugung manualisierter
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Psychotherapie, bei der möglichst feingliedrig operative Ziele in einem Behandlungsplan festgelegt werden – gegenüber einer Entfaltung von Prinzipien, wie dies den nicht behavioralen Psychotherapiekonzepten wesentlich zugrunde liegt. 6.3.3 Zum Einsatz imaginativer Vorgehensweisen Wenn man die skizzierte Bedeutsamkeit einer teleologischen Entwicklungsperspektive angemessen in Rechnung stellt, so ergibt sich daraus ein Plädoyer für die stärkere Berücksichtigung imaginativer Vorgehensweisen zur Förderung intuitiver Prozesse: Imagination ist gegenüber Sprache eher rechtshemisphärisch und ganzheitlich. Denn im Kern werden beim Imaginieren Bilder und Vorstellungen kreiert, die dann erst in Handlungen umgesetzt oder durch Handlungen realisiert werden. So ist beispielsweise die »Wunderfrage« aus der ressourcenorientierten systemischen Therapie – »Woran würden Sie merken, wenn Sie morgen früh aufwachen, dass X eingetreten ist?« – eine typisch imaginative Technik. Sie lässt spielerisch Möglichkeiten und Unterschiede in Entwicklungen vor dem geistigen Auge entstehen, die vielleicht erst in der Zukunft (und meist auf noch sehr unklarem Wege) aus dieser Imagination heraus realisiert werden. Und bekanntlich wirken besonders jene »Wunderfragen« besonders gut, die in der Interaktion zwischen Therapeut und Klient reichhaltig, suggestiv-überzeugend, detailreich und mit »großer Zugkraft« ausgemalt werden. Ebenso ist die typisch lösungsorientierte Frage nach den »Ausnahmen« (von Leid, Symptomen, belastenden Situation etc.) eine Einladung zur Imagination. Es geht hier um Lösungsmöglichkeiten, die zwar bereits vorhandenen sind und sogar auch schon angewendet wurden, die aber durch die bisherigen Sinnattraktoren (und ihre sprachlich-semantischen Kategorien) dem intuitiven Einblick verdeckt blieben. Der Klient oder das Klientensystem sieht dann eher die Probleme und das, was alles nicht geschafft wurde bzw. werden kann. Die bereits erbrachten Leistungen und Ausnahmen (wenn also etwas erfolgreich geklappt hat) wurden hingegen aus den Augen verloren. Dies ist übrigens typisch für Attraktorenlandschaften (vgl. Abbildung 23): Das nächste Tal in einer solchen Landschaft, das gegebenenfalls mit einer besseren Lösung (in der Gesamtdynamik) verbunden ist, ist hinter den Hügeln der Landschaft verborgen. Diese müssen erst überwunden werden, damit sich das System einem neuen Attraktor nähern kann. Es handelt sich dabei aber oft gerade nicht um fundamental »neue« Lösungen, sondern um solche, die bereits vorhanden sind, die sich auch schon abgezeichnet haben (darauf zielt ja die Frage nach den Ausnahmen). Diese müssen dann vor allem ins kognitive Zentrum
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gerückt werden, um ihre Wirksamkeit und Attraktivität zu einer veränderten dynamischen Ordnung zu entfalten. Die Berücksichtigung von Intuition und Imagination ist für Berater wie für zu Beratende ein wichtiger Aspekt: Bei Therapeuten geht es im Hinblick auf ihre Intuition um die Förderung der Fähigkeit, anbahnende Entwicklungen ganzheitlich schon weit früher wahrzunehmen, als es der rational-analytische Blick auf die Details erlauben würde. In Bezug auf die Klienten geht es hingegen eher um die Frage, wie mittels der Imagination die Entwicklung von Zukunftsbildern seitens des Therapeuten gefördert werden können – beispielsweise in Form von Metaphern, poetischen Narrationen oder gar der Einbeziehung expressiver künstlerischer Gestaltungsarbeit (siehe im Folgenden). Berater und Klient entwickeln dabei zusammen einen Entfaltungsraum – eine Art »Play-Space« – in dem spielerisch, künstlerisch und kreativ der Intuition Raum gegeben wird, um hilfreiche Imaginationen zu entwickeln. Die Bezeichnung »Zukunftsbilder« darf dabei nicht nur in der Alltagsbedeutung verstanden werden – etwa, »sich ein Bild der Zukunft auszumalen«. Vielmehr geht es auch hier um die intuitive Bezugnahme zu noch unklaren, aber schon vorhandenen und ansatzweise gespürten Aspekten des eigenen Erlebens. Diese Aspekte manifestieren sich in der weiteren Arbeit zunehmend deutlicher und lassen sich dann auch weitgehend symbolisieren und versprachlichen und somit auch dem rationalen Bewusstsein zugänglich machen – ein Aspekt, der auch beim oben angegebenen »Focusing« im Zentrum der Arbeit steht. 6.3.4 Über Kreativität Ähnlich wie sich Intuition im Vergleich zur nach innen gerichteten Achtsamkeit eher auf äußere Prozesse richtet, bezieht sich Kreativität im Vergleich zu den Ordnungs-Ordnungs-Übergängen bei Leidenszuständen eher auf das Lösen von Aufgaben in der Alltagswelt (einschließlich der Berufswelten). Dabei wird bereits in Abschnitt 3.3.1 angesichts der Prozessorientierung der Personzentrierten Systemtheorie zugespitzt formuliert, dass man eigentlich nicht fragen sollte: »Wie kommt Neues in die Welt?«, sondern erklären müsste, wie wir »Altes und Bekanntes in unserem Kopf erzeugen«. Das Grundproblem in der Förderung von Kreativität hängt daher mit dem zusammen, was oben nochmals allgemein als »Problem« resümiert wurde: Die Behinderungen für Kreativität liegen im Erfolg unserer Denkgewohnheiten und Weltbeschreibungen. Unter stabilen Bedingungen wären die bisherigen Beschreibungen und Lösungen weitgehend die optimale Strategie: Was sich bewährt hat, wird weiter so gedacht und gemacht. Damit ist zwar nicht ausge-
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schlossen, dass es unter denselben Bedingungen nicht noch weit bessere Vorgehensweisen bzw. Lösungen von Aufgaben gäbe. Aber in der Regel wäre es ein schwer zu verantwortender Luxus, Gutes und Etabliertes aufzugeben, nur um nach noch Besserem zu suchen. Eine Oase zu verlassen und sich in die unerforschte Wüste hinaus zu begeben, nur weil die Möglichkeit einer noch fruchtbareren Oase nicht auszuschließen ist, wird immer nur einzelnen Abenteurern vorbehalten sein. Es macht daher durchaus Sinn, am Alten festzuhalten. Zu diesem »Alten« gehören übrigens auch die oft erwähnten typischen und zahlreichen Ordnungs-Ordnungs-Übergänge in der Alltagswelt, die als kulturelle Standardlösungen für Veränderungen ebenfalls gut bekannt sind. Diese erfüllen meist einen hervorragenden Dienst in der ständigen Adaptation an die Aufgaben, welche sich im Verlauf individueller und mikrosozialer Entwicklung stellen. Diese sind nur bedingt als kreative Akte zu bezeichnen, weil es eben dafür bekannte Standardlösungen gibt. Dies ändert sich allerdings erheblich, wenn sich die Bedingungen unerwartet und ungünstig verändern: Der Nutzen einer Erkundung wirklich neuer Möglichkeiten erhöht sich nun. Aktivitäten sollten dann auf die Erkundung ungenutzter Ressourcen oder gar ganz Neuem ausgerichtet sein. Und hier ist dann Kreativität gefragt. Die Psychologie hat schon seit Langem mit vielerlei Begriffen und Konzepten beschrieben, wie im Alltag die Entfaltung von Kreativität durch überstabile Ordnungen behindert wird. So wird unter »funktioneller Gebundenheit« (Maier, 1931) verstanden, dass Gegenstände, denen eine bestimmter Funktion zugeschrieben wird – sei es durch konkrete Vorerfahrung in der Verwendung oder auch nur durch Vorinformation anhand von Skizzen oder Beschreibungen – selten für andere Funktionen eingesetzt werden. Und zwar auch dann nicht, wenn dies zur Lösung eines gestellten Problems notwendig wäre: Beispielsweise wurden Personen gebeten, bestimme Experimente mit elektrischen Geräten – Relais, Schalter etc. – durchzuführen. Danach wurde ihnen eine Aufgabe gestellt, zu deren Lösung sie Gewichte an ein Seil zu befestigen hatten. Sehr signifikant wurden als »Gewichte« nun nicht jene Geräte gewählt, deren elektrische Funktionsweise zuvor verwendet wurde, sondern andere Geräte, mit denen man keine oder weniger (aktuelle) Erfahrung hatte. Das Wissen und die Erfahrung um den »richtigen« Gebrauch solcher Gegenstände oder Werkzeuge – d. h. deren Bedeutung in bestimmten Handlungszusammenhängen – erschweren somit einen neuen, kreativen, ungewöhnlichen Einsatz. Ähnlich bezeichnet man mit »situativer Gebundenheit« mangelhafte Transferleistungen von guten Strategien und Lösungen in einen anderen oder neuen Bereich, in dem man dies »nicht gewohnt« ist. Und mit »Rigidität« bzw. »Automatismen« ist der Hang gemeint, von einmal gefundenen und verwendeten
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Lösungswegen – z. B. bei Rechenaufgaben oder bei Abfolgen in der Bedienung von Handy oder Computer – selbst dann nicht abzusehen, wenn es in neuen Konstellationen einfachere Wege gäbe oder die bisherigen Lösungen gar nicht mehr funktionieren (Luchins, 1942). 6.3.5 Dezentrierung als Spiel-Raum für Kreativität Unter diesen Aspekten ist zur Entfaltung der kreativen Ressourcen eine Rückbindung an die Komplexität und Einmaligkeit unmittelbarer Erfahrungen wichtig sowie das Loslassen von sprachlich-abstrahierenden Kategorien. Die erwähnten Situationen wie Duschen, Einschlafen oder andere unwillkürliche »Lockerungen« etc. sind typisch für solches Loslassen. Allerdings ist man dort darauf angewiesen, dass einem die neue Ordnung als Lösung einfach »einfällt«. Eine Möglichkeit, solche Bedingungen im Rahmen von Therapie, Beratung und Coaching gezielt herbeizuführen und zu begleiten, ist der Einsatz künstlerischer Techniken, wie dies beispielsweise in Anleitungen zur Dezentrierung (Bürgi u. Eberhart, 2004; Eberhart u. Knill, 2010) mittels intermodalen künstlerischen Arbeitens geschieht. Beispiel Dabei wird mit dem Klienten zunächst eine Beschreibung der Problemsituation aus dessen Sicht (als Ausgangsordnung) dialogisch erarbeitet. Daraufhin begeben sich Berater und Klient zu einem anderen Ort im Raum – oder gar einen Nebenraum – der ein großes Angebot an Materialien für eine »künstlerische« Betätigung enthält: Papiere, Farben, Stifte, Stoffe und Buntpapiere zum Ausscheiden oder Zerreißen, Klebstoffe, formbare Materialien und Gegenstände, Musikinstrumente und Objekte zur Tonerzeugung, etc. Wichtig ist, dass vermittelt wird, dass diese Betätigung keine besondere künstlerische Begabung oder Professionalität verlangt, sondern eher ein spielerisches Ausprobieren sein soll (also ein »play space« mit »low skills«, aber »high sensitivity« – vgl. Kriz, 2002, 2010b). Es gilt, Mut zu machen, sich einfach von den Materialien ansprechen zu lassen und seiner Intuition und dem zu folgen, worauf man gerade Lust hat und was einem einfällt. Eine (explizite) Bezugnahme auf das eben geschilderte »Problem« soll während der Arbeit am Werk möglichst vermieden werden. Und auch die gemeinsame Besprechung beginnt zunächst mit dem Erleben – Gefühlen, Wahrnehmungen, Gedanken, Schwierigkeiten und Hindernissen, Einfällen und Ideen – beim Produzieren des Werkes. Erst in einem weiteren Schritt wird der Fokus auf mögliche Zusammenhänge mit dem »Problem« gelenkt.
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Durch eine solche Arbeit ist es möglich, dass über das entstandene Werk eine exzentrische reflektierende Position eingenommen werden kann. Dies wird auch in anderen systemischen Ansätzen betont (z. B. beim »reflektierenden Team« – vgl. Unterkapitel 6.4), doch dort geht es oft um stärker sprachlich-reflexive Positionen. Das geschaffene Werk und seine Gestaltung stellen im »Spiel-Raum« bereits eine bestimmte »Lösung« dar. Allerdings geschieht dies eben zunächst losgelöst bzw. dezentriert von der sprachlichen Version des Problems. Die Aufmerksamkeit ist mit der Komplexität der sinnlichen Erfahrung befasst, die aus der Gestaltung der künstlerischen Materialien resultiert. So kommt es zwar oft vor, dass einem unter der Dusche keine Lösung von Problemen »einfällt«. Aber es ist unmöglich, im »Spiel-Raum« der Dezentrierung »nichts« zu produzieren. Denn das, was dabei herauskommt, ist für die therapeutische Konversation aus einer exzentrisch-reflektierenden Position auf jeden Fall wertvoll und aufschlussreich. Selbst im extremen Fall, bei dem gar kein Werk entsteht, weil der Klient einfach nur dasitzt und weder vom Material (Musik, Malen) noch von seinem Körper (Tanz, Ausdrucksbewegung, Darstellung) »Gebrauch« macht, lässt sich über die Hemmungen, Widerstände, die dabei begleitenden Phantasien, Befürchtungen, Bilder, Wünsche, Leitideen (und Leid-Ideen) reden, lassen sich Verbindungen zur Alltagswelt und zum Problem herstellen etc. Zudem ist dieser Extremfall kaum denkbar, da auf freundliche Einladungen, zumindest »irgendwelche« Töne oder Geräusche zu erzeugen, bunte Papiermaterialien zumindest »irgendwie« zu legen und anzuordnen oder »irgendwie« von den Farben etwas aufs Papier zu bringen, faktisch nie eine völlige Verweigerung folgt. Im Gegensatz zum Alles-oder-nichts-Prinzip der zufälligen »Einfälle« kann hier also bei Bedarf mit minimalen Schritten gearbeitet werden, die dennoch Eröffnungen für große Erkenntnisse über die Leit- und Leid-Regeln der augenblicklichen Situation sein können. Daher ist es auch nicht unbedingt störend und hinderlich, wenn gerade die ersten Schritte im künstlerischen Prozess für jemanden, der sich nie zuvor »mit so etwas« auseinandergesetzt hat, von Vorurteilen, Stereotypen und Klischees beeinflusst sind – etwa darüber, wie »richtiges« Malen, Tanzen oder Musizieren sein sollte. Klienten sind dann oft zunächst gehemmt, weil sie Angst haben, solchen Erwartungen nicht zu entsprechen und sich nicht so ausdrücken zu können wie ein ihnen bekanntes Künstlervorbild. Genau diese Ängste, Hemmungen und Vorurteile lassen sich aber zum Gegenstand der Arbeit machen und daraufhin befragen, was an ihnen typisch und was neu ist. Üblicherweise aber werden die Einladungen zu einem »Spiel-Raum« in diesem Rahmen ohnehin leichter angenommen als in »klassischen« Therapien und Beratungen. Da durch die künstlerische Disziplin neue Regeln gesetzt werden,
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welche die Struktur und den Rahmen dieses Spielraums bestimmen, können mitgebrachte stereotype Vorstellungen über den gesellschaftlich »richtigen« Ausdruck im Vergleich zu anderen, auf der Alltagssprache basierenden Therapieformen auch leichter überwunden werden.176 Dies soll zumindest kurz und exemplarisch an einer Fallvignette erläutert werden: Fallvignette Frau E. kennzeichnet den (erfragten) »möglichen Titel für ihre Problemgeschichte« mit einem erwachsenen Sohn, der immer noch zu Hause wohnt, mit: »Immer dasselbe«. Wunschziel von Frau E. für die Sitzung ist es, »eine Idee zu haben, um etwas anderes probieren zu können«. Die Arbeit beschreibt der Coach (Herbert Eberhart) folgendermaßen: »Die Dezentrierung besteht aus einer Installation auf einem kleinen Tisch mit einer beschränkten Zahl von Gegenständen. Die Installation wird anschließend intermodal mit einem Haiku (einer einfachen Form eines kleinen Gedichts) ergänzt. Dem ganzen Werk gibt Frau E. den Titel ›Freiheit‹. Die kurz gehaltene ästhetische Analyse ergibt einige klare Aussagen und in der Phase der Ernte 176 Damit wird auch der Unterschied in der Funktion von Sprache deutlich, wie sie einerseits im Rahmen von Wissenschaft und Alltag eingesetzt wird im Vergleich zum Kontext von Psychotherapie, Beratung und Coaching andererseits – und besonders der Verwendung von imaginativ-künstlerischem Vorgehen (z. B. Dezentrierung), etwa beim Schreiben von Gedichten. Bei der Verwendung von Sprache in der Wissenschaft geht es um möglichst eindeutige (»monosemantische«) Aussagen und eine Beschreibung von »Fakten«. Dieser Forderung folgen auch große Bereiche der Alltagswelt hinlänglich. Dass hier zumindest eine solche Eindeutigkeit normativ unterstellt wird, zeigt sich schon daran, dass bei Defiziten und Scheitern in der Kommunikation meist von »Missverständnissen« gesprochen wird und selten von »Deutungsschwierigkeiten«. Im Rahmen der üblichen therapeutischen Klärungen, Deutungen etc. geht es nicht primär um »Fakten«, sondern um formulierte »Anfragen« des Menschen an sich selbst und sein Dasein in der Welt. Das wird nochmals deutlicher, wenn man sprachliche »Kunstwerke« im Rahmen der Dezentrierung betrachtet – etwa die Produktion eines Gedichtes. Denn Gedichte zeichnen sich durch eine nicht alltägliche Verwendung von Sprache aus. Wie alle Kunstwerke enthalten auch sie eine möglichst hohe Vieldeutigkeit (»Polysemantik«). Dabei ist selbst (fast) jedem Laien klar, dass es nicht um »Missverständnisse« gehen kann, sondern nur um Deutungen bzw. Interpretationen. Und eine Interpretation ist als eine Antwort zu verstehen und keineswegs als eine Erklärung im Rahmen irgendeiner Theorie – auch nicht als Erklärung im Rahmen einer Alltagstheorie. Daher wird im »Spiel-Raum« der Dezentrierung schnell deutlich, dass gerade keine Stereotype und Klischees gefragt sind – zumal das Feld der Kunst recht abgegrenzt vom Bereich der normalen Alltagswelt ist. Wie oft erleben wir hingegen in »normalen« Therapien, dass Patienten immer wieder mit Erklärungen kommen, statt Antworten auf die inneren und äußeren Herausforderungen zu geben und dabei ihr Erleben und ihre Gefühle zuzulassen und zu spüren.
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ist Frau E. in der Lage, eine ganze Liste von möglichen Beziehungen zum Ausgangsgespräch zu nennen. Näher anschauen und vertiefen möchte Frau E. den möglichen Bezug zwischen dem gefundenen Titel für ihr Werk ›Freiheit‹ und ihrer Situation. Sie erlebt diesen Bezug als ein Gefühl. Es ist ihr im Moment nicht möglich, das Gefühl mit Worten zu beschreiben, doch kommt ihr ein Bild dazu in den Sinn: Es ist früher Morgen lange vor Sonnenaufgang. Sie steht am Ufer eines Meeres im Norden. Langsam beginnt es, über dem Meer zu tagen. Es ist ein diesiger Tag, sodass die Trennlinie zwischen Himmel und Wasser verschwimmt. Das langsam aufsteigende Licht, keineswegs strahlend, aber doch wahrnehmbar stärker werdend, ergibt vielfältige Farbeffekte. Von vorne, eher von rechts, entsteht etwas Bewegung im Meer. Es ist so, wie wenn das Licht und das Wasser miteinander spielen würden. […] Frau E. ist offensichtlich vom Bild fasziniert. Der Coach lässt sie deshalb das Bild in allen Details und dann auch in seiner Wirkung auf die Betrachterin beschreiben. Zusätzliche Fragen, die sich alle auf die Oberfläche des Bildes respektive der Szene beziehen (Unterschiede im Farbenspiel in der rechten Bildhälfte im Vergleich zur linken, sich verändernde Bewegungen im Meer und Ähnliches) bringen weitere Einzelheiten zum Vorschein. Die abschließende Intervention der Sitzung besteht lediglich im Hinweis des Coachs, dass das Bild und seine Atmosphäre so etwas wie einen Gradmesser dafür darstellen könnten, was für Frau E. in ihrer jetzigen Lebenssituation wichtig sei. In der nächsten Sitzung, nach einer sechswöchigen Sommerpause, berichtet Frau E. von einer grundlegenden Veränderung ihres Verhaltens gegenüber dem Sohn, was wiederum dessen Verhalten beeinflusste. Ihre Beziehung zu ihm sei eindeutig besser geworden. Ihr übliches Mahnverhalten sei verschwunden. Stattdessen ergäben sich öfters kurze, gute Gespräche. ›Meine Ohren sind nicht mehr so gespannt weit offen. Das Verhältnis zu ihm ist so gewöhnlich geworden. Ich bin einfach da.‹ Kürzlich kam vom Sohn sogar der Vorschlag, zusammen essen zu gehen. Dieses Essen fand dann auch statt, ›und ich habe ihm mit wachsendem Interesse zugehört‹« (Eberhart u. Knill, 2009, S. 141 f.).
Aus Sicht der Personzentrierten Systemtheorie besteht hier zunächst eine prototypische Diskrepanz zwischen der deutlich gespürten Entwicklungsaufgabe, das Verhältnis zum erwachsen gewordenen Sohn zu ändern, und der Verhinderung eigener Ideen durch das eingefahrene Muster »Immer dasselbe«. Kaum wird aber der stabil eingeengte Fokus auf das Problem dadurch gelockert, dass ein künstlerischer Spiel-Raum betreten wird, stellen sich andere Sichtweisen
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ein. Diese können als zwar kleine, aber neue Möglichkeiten, sich anders zu verhalten, ohne große Schwierigkeiten auf die Alltagsproblematik übertragen werden. Als Nächstes ist bedeutsam, dass sich ein Leitbild für eine andere Wahrnehmung des Problems entfaltet – und zwar, wie berichtet wird, nicht durch rationale Analyse, sondern indem einem Gefühl gefolgt wird, das aus der inneren Bezugnahme auf den Titel entsteht. Die analytische Bedeutung des Bildes bleibt letztlich im Detail unklar. Aber vielleicht gerade deshalb – und typisch für einen kognitiven Attraktor – werden teleologische Kräfte im phänomenalen Feld aufgebaut (Kriz, 2013), wobei das Bild zu einem Leit-Bild wird, das hilft, eine andere Orientierung einzuschlagen. Ebenso typisch ist, dass die Veränderung auf dieser individuellen Ebene der Sichtweisen nicht nur das eigene Verhalten beeinflusst, sondern dass dies wiederum als eine Umgebungsbedingung dafür zu verstehen ist, dass auch der Sohn seine Verhaltensweisen modifiziert. Damit wird also auch die Ordnung der interpersonellen Dynamik destabilisiert und kann einen Ordnungs-Ordnungs-Übergang hin zu einem neuen Muster durchlaufen. Wenn der Sohn befragt worden wäre, hätte sich ganz sicher das gezeigt, was hier vielfach betont wurde: dass diese Interaktionen immer durch das Nadelöhr persönlicher Sinndeutungen laufen – konkret: dass sich seine Sichtweisen gegenüber der Mutter und sich selbst und der Blick auf sein Leben ebenfalls verändert haben. Auch wenn die Fallvignette hier nur kurz kommentiert werden kann, sollte deutlich werden, wie durch die Dezentrierung etwas geschickt umgangen werden kann, was wesentlich zu Problemen beiträgt: nämlich die stabilisierenden, attrahierenden Einflüsse verdinglichender Sprache, reduzierender Konzepte und Kategorien sowie altvertrauter Narrationen, welche die Deutungen unzähliger Situationen festlegen. So kann das Dezentrieren, als eine exemplarische Ausprägung von kunst- und ressourcenorientierter Arbeit, jenseits von problemstabilisierenden Kräften der Alltagsdiskurse und ihrer Realitätserzeugung kreative Kräfte freilegen und eine verändernde Wirkung durch Erhöhung der Komplexität entfalten.
6.4 Die Kunst angemessener Verstörung Aus Sicht der Personzentrierten Systemtheorie dienen letztlich alle psychotherapeutischen Techniken der Unterstützung von Ordnungs-Ordnungs-Übergängen. Durch Hinterfragen, Perspektivänderung, Offenlegung, Neubewertung, Reflexion etc. wird das bisher allzu »Selbstverständliche« mit Verstehens- und Deutungskomplexität angereichert. Die bisherige, aber eben maligne Sicherheit
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im Abspulen der immer gleichen kognitiven Schleifen wird somit instabil, die Anzahl an möglichen (Teil-)Weltdeutungen und Bewertungen steigt. Und mit den neuen Deutungen und Bewertungen werden meist auch neue Lösungsmöglichkeiten erblickt. Diese Deutungen und Bewertungen oder gar bestimmte Lösungen sollten freilich nicht als neue »Wahrheiten« festgeschrieben, sondern vorerst nur einmal als Möglichkeiten gesehen werden. Was wirklich sinnvoll und machbar ist, muss sich erst im Alltag erweisen. Daher ist förderlich, die Komplexität des Möglichkeitsraums nicht zu schnell wieder zu reduzieren. Mit den dann konkret erprobten und weiterverfolgten neuen Lösungen wird der Raum der Möglichkeiten und Deutungen allerdings später wieder enger: Es entsteht ein neuer Sinnattraktor, d. h. eine neue dynamisch-stabile Ordnung in der Lebenswelt, die an die neuen Bedingungen besser adaptiert ist. Eine wenig invasive Vorgehensweise bei der Komplexitätserhöhung ist das sogenannte »Reflektierende Team«, ein Ansatz, der auf den Norweger Tom Andersen (1990) zurückgeht. Die Struktur besteht im Wesentlichen darin, dass zwischen zwei Gruppen getrennt wird: 1. Die Familie (bzw. das Paar, Arbeitsteam oder andere Konstellationen von Menschen, in deren alltäglichem Miteinander Probleme auftreten) sitzt zusammen mit einem oder zwei Therapeuten, deren Hauptaufgabe es ist, möglichst viele Aspekte über die Sichtweisen und Problemdefinitionen der Familie (bzw. das Paar, Arbeitsteam etc.) anzusprechen. 2. Im selben Raum anwesend, aber deutlich abgerückt davon, befindet sich ein weiteres Team von zwei bis vier Therapeuten, die den Prozess aufmerksam verfolgen, aber zunächst nicht eingreifen. Nachdem die Therapeuten (1) die Familie circa zwanzig Minuten »interviewt« haben, wenden sie sich um und blicken nun gemeinsam mit der Familie auf das andere Team (2). Dieses beginnt nun für circa fünf bis zehn Minuten über das Wahrgenommene miteinander, d. h. unter sich, zu »reflektieren.« Aufgabe dieser »Reflexionen« ist es, möglichst viele neue Deutungen, Lösungsentwürfe, Ideen, Perspektiven etc. zu entwickeln. Diese sollen wertschätzende, positive Konnotationen sein – wobei »positiv« nicht bedeutet, alles gutzuheißen. Vielmehr können die Äußerungen durchaus auch Konfrontationen derart enthalten, dass daraus ein Bemühen um Begegnung und Verständnis erfahrbar wird (besser wäre daher vielleicht, von »nicht abwertenden, nicht beurteilenden« Konnotationen zu sprechen). Ferner sollen die Äußerungen im Konjunktiv vorgebracht werden und sie sollen insgesamt »neutral« sein – d. h. Erklärungen, Beschreibungen etc. sollen nicht »auf Kosten« einer Person oder anderer Personen vorgenommen werden.
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Diese Sequenz aus Interview und reflektierendem Team wird meist dreimal pro Sitzung durchlaufen – d. h., nach rund dreißig und sechzig Minuten geht es mit dem Interview weiter). Die zweite und dritte Sequenz wird jeweils mit der Frage an die Familie (bzw. das Paar, Arbeitsteam etc,) begonnen, ob für sie irgendwelche bemerkenswerten oder »brauchbaren« Ideen dabei waren. Die Interviewer und das reflektierende (besser: kontextualisierende) Team schaffen dabei eine Umgebung mit sehr hoch angereicherter Semantik: Die Deutungen, Erwartungen, Vermutungen der Klienten »kommen nun auf den Tisch« – was allein schon weit mehr semantische Komplexität ermöglicht, als es aufgrund bisher stillschweigender Vermutungen möglich war. Dieses Spektrum an Sichtweisen und Deutungen der Familienmitglieder (bzw. des Paares, Arbeitsteams etc.) wird zudem um die Perspektiven aus dem reflektierenden Team bereichert. Andersen selbst hat die Faszination dieses Settings mit der Metapher beschrieben, dass jemand einen Flur entlanggeht und an einer halb offenen Tür vorbeikommt. Er hört, wie in dem Raum dahinter einige Leute gerade über ihn reden. Er wird sich der Versuchung kaum entziehen können, stehen zu bleiben und interessiert zuzuhören. Die Wirkung der Äußerungen des reflektierenden Teams wird dadurch erhöht, dass es weder Grund noch Gelegenheit gibt, sich irgendwie verteidigen zu müssen. Als Klient wird man ja von diesem Team gar nicht angesprochen. Sondern es geht nur um dessen Sicht- und Interpretationsweisen. Zudem werden die vielen Deutungshypothesen mit aktuellem Bezug in positiver Konnotation (siehe oben) formuliert. Ohne belehrend oder vorschreibend zu sein, wird mit dieser Vorgehensweise ein großes Spektrum unterschiedlicher Sichtweisen spielerisch eröffnet. In diesem Spektrum werden alle Beiträge der einzelnen Familienmitglieder (bzw. des Paares, Arbeitsteams etc.) zur Gesamtdynamik wertschätzend in den Fokus gestellt. Denn man kann bei genauem Hinsehen tatsächlich bei allen Mitgliedern Versuche zu positiven Beiträgen erkennen, selbst wenn diese vielleicht misslungen sind oder sich destruktiv auswirken. Die Ratsuchenden nehmen sich aus diesem Deutungsspektrum das, was für sie »passt«, um es im weiteren Verlauf zu testen. Die Berater maßen sich also nicht an, zu wissen, was für die Ratsuchenden das Beste ist und was umgesetzt werden könnte. Diese Enthaltsamkeit ist gut, denn auch theoretisch würde eine solche Anmaßung eigentlich eine jahrelange Exploration aller Lebensumstände, Motivationen, Möglichkeiten und Gegebenheiten nicht nur der Ratsuchenden selbst, sondern auch deren Lebenskontexte voraussetzen. Aus Sicht der Personzentrierten Systemtheorie handelt es sich um eine recht »softe« Art, die zu starren, zu rigiden, nicht mehr adaptiven, zu wenig kom-
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plexen Sinnattraktoren in Form von Wirklichkeitsbeschreibungen zu verändern. Gleichwohl gilt zu beachten, dass auch hier letztlich altvertraute Regeln, Gewohnheiten und Strukturen aufgegeben und durch neue ersetzt werden müssen, damit sich wirksam etwas ändert. Das ist keineswegs immer leicht, und meist mit Unsicherheiten und Ängsten verbunden. Denn die leicht realisierbaren Änderungsvorschläge haben diese Ratsuchenden längst von Angehörigen, Freunden und Nachbarn zuhauf erhalten. Deren Nutzen und Wirkung in sehr vielen anderen Situationen und Konstellationen soll auch nicht unterschätzt werden. Doch wenn diese auch im vorliegenden Fall zur Lösung des Problems wirksam beigetragen hätten, wären die Klienten nicht in die Beratung gekommen. Für den Kontext dieses Buches ist aber nicht nur bedeutsam, wie sich auf eine so kooperative Weise der Möglichkeitsraum an alternativen Verstehensund Handlungsweisen vergrößern lässt und die bisherigen malignen Muster im »Weltverständnis« destabilisiert werden können. Sondern bedeutsam am reflektierenden Team ist auch der Wandel der Perspektive für die Klienten von einem Dialog zum Zuschauer. »Dialoge« werden zwar gemeinhin als etwas sehr Positives erachtet. Aber gerade die Menschen, die psychosoziale Hilfe benötigen, haben in ihrer Biografie viele Erfahrungen mit malignen »Dialogen«, in denen sie beschuldigt, missachtet, gedemütigt, nicht verstanden und schon gar nicht wertgeschätzt wurden. Diese Erfahrungen strukturieren in nicht zu unterschätzendem Ausmaß die Bedeutungsfelder, welche das Verstehen im Hier und Jetzt mitbestimmen – d. h., die Polysemantik, die in jeder Situation, in jedem Satz, in jeder Wahrnehmung vorhanden ist, wird auf einen bestimmten Sinnattraktor reduziert. Dies soll an zwei kleinen Vignetten erläutert werden – die zugleich zeigen, dass es für diesen Perspektivwechsel nicht eines reflektierenden Teams aus mehreren Therapeuten bedarf, sondern die Kernstruktur genauso im Einzelsetting eingesetzt werden kann: Fallvignette Marco, 34, hatte in seiner Kindheit miserable Entwicklungsbedingungen. Kennzeichnend war, dass sein Vater oft seine Mutter schwer verprügelte und auch ihn – besonders wenn er versuchte, ihr zu Hilfe zu kommen. Statt den damals erst wenige Jahre alten Marco zu schützen oder sich mit ihm aus dem Wirkungskreis des Vaters zu entfernen, machte die Mutter Marco zu ihrem Komplizen und Vertrauten, bei dem sie sich ausweinte. Neben der körperlichen Gewalt erfuhr Marco vom Vater nur Ablehnung, Entwertung und Unverständnis.
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In der Therapie hatte der Therapeut den Eindruck, dass Marco öfter dissoziierte: Sein Blick ging dabei »ins Leere«, der Atem wurde flach, der Körper war wie erstarrt, und Marco reagierte auf nichts mehr, was vom Therapeuten kam. Dieser fragte sich, ob Marco dann überhaupt irgendwie erreichbar wäre. Als wieder eine solche Situation eintrat, sagte der Therapeut: »Ich weiß jetzt grad nicht weiter und fühle mich recht hilflos. Ich würde das gern mit meinem inneren Supervisor besprechen. Ich mache das aber laut, damit nichts hinter Ihrem Rücken geschieht.« Damit nahm er einen leeren Stuhl und stellte diesen sich gegenüber – etwa in 90 Grad zur Achse von sich und Marco, sodass Marco auf beide in gleichem Abstand schauen konnte. Allerdings schien Marco davon keine Notiz zu nehmen – jedenfalls war keine sichtbare Reaktion erkennbar. Der Therapeut begann nun, dem »Supervisor« – d. h. dem leeren Stuhl – zu berichten, dass er sich recht hilflos fühle, weil er nicht wisse, ob und wie er Marco erreichen könne. Nach einigen Sätzen wechselte er die Position und sprach nun als »Supervisor« zum leeren Stuhl, auf dem er gesessen hatte, so als ob er mit dem Therapeuten spreche. Er sagte, dass die Schwierigkeiten für ihn nachvollziehbar wären, aber der Therapeut vielleicht noch nicht alles getan habe, damit Marco sich wirklich sicher fühlen könne, sodass er nicht »weggehen« müsse. Der Therapeut wechselte wieder den Stuhl und versicherte nun dem Supervisor, dass er das ja versuche, aber keine Rückmeldung habe, was er tun solle und was nicht, d. h., was Marco sich vielleicht an »Sicherheitszeichen« wünsche. Beim dritten Wechsel kam dem Supervisor die Idee, vielleicht Marco mit einzubeziehen in die Frage, was er brauche, um leichter »dableiben« zu können. »Okay«, sagte der Therapeut, »ich kann das ja mal versuchen!« Das Gespräch zwischen Therapeut und Supervisor war intensiv – und peripher, aus dem Augenwinkel, konnte der Therapeut wahrnehmen, dass sich dabei Marcos Haltung im Sessel änderte und er aufmerksamer wirkte. Als er sich nun zu Marco drehte, war er offenbar »wieder da« (was aber nach einem solchen Zeitraum auch sonst nicht ungewöhnlich war). »Wie war das für Sie?«, fragte der Therapeut. Marco zögerte etwas und sagte dann: »Ja, das war schon recht interessant.« Dabei verzog er seinen Mund zu einem leichten Grinsen – etwas, das bisher eigentlich nie vorgekommen war. Und mit der Frage des Therapeuten »Haben Sie eine Idee, was ich tun könnte, damit Sie sich sicherer fühlen und wir mehr in Kontakt bleiben können?«, konnte eine gemeinsame Suche eingeleitet werden. Es war Marco zwar selbst auch nicht klar, was er brauchte, aber sie konnten gemeinsam Ideen entwickeln, etwas auszuprobieren. Konkret konnten sie tatsächlich gemeinsame Zeichen entwickeln (vgl. die »Synlogisation« in Abschnitt 4.3.3) – z. B. ein Heben von Marcos Hand, das signalisierte, dass er jetzt gerade etwas »Raum« benötige (was als
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aktiver Schritt etwas anderes bedeutet, als unversehens abzutauchen) oder ein Ausstrecken beider Hände des Therapeuten, wenn er den Eindruck hatte, den Kontakt zu Marco zu verlieren.
Diese kleine Szene ist nur ein Tropfen im Fluss von Marcos Therapie. Sie sollte aber zeigen, wie der Wechsel des Dialogs von einer »Bühnenrolle« in eine »Zuschauerrolle« (und umgekehrt) einen Kontext herstellt, in dem etwas gesagt und auch gehört wird, was vorher kaum möglich gewesen wäre. Die gleichen Worte des Therapeuten direkt an Marco gerichtet, wären eher als Vorwurf oder Beschuldigung verstanden worden – auch wenn der Therapeut seine eigene Unsicherheit und Ratlosigkeit ins Zentrum gestellt hätte (was ja Marco nur zu gut von ähnlichen Szenen mit seiner Mutter kannte). Ein anderer Patient überraschte den Therapeuten mit einer Lösung, die so in den Therapiesitzungen keineswegs explizit erarbeitet worden war, geschweige denn, dass der Therapeut dies vorgeschlagen hätte. Auf die Idee wäre er selbst auch gar nicht gekommen – was zeigt, wie kreativ Menschen werden, wenn sie für sich einen Freiraum zum Erproben neuer Möglichkeiten sehen: Fallvignette Karl, 52, hatte große Probleme mit seiner Frau. Dies war zwar nicht der Kern, weswegen Karl in Therapie war, aber die ständigen Reibereien mit seiner Frau trugen auch nicht gerade dazu bei, dass es ihm besser ging (wobei wir auch hier eine zirkuläre Stabilisierung von Befindlichkeit und empfundenem Paarkonflikt vermuten dürfen). In Karls Wahrnehmung war seine Frau oft aggressiv und entwertend. Sie zeige seit Langem keine spürbare Zuwendung für ihn, sagte er. Wenn er auch nur versuchte, Probleme anzusprechen, würde sie immer gleich ausrasten. Die therapeutische Arbeit konzentrierte sich vorwiegend auf anderes, was Karl für die Bewältigung seines Alltags noch wichtiger war. Allerdings tauchte sein Klagen über die Beziehung zu seiner Frau immer wieder am Rande auf. Doch eines Tages überraschte er den Therapeuten mit der Mitteilung, dass sie sich seit einigen Tagen besser verstünden. Was war geschehen? Karl war recht religiös; seine Frau zwar weniger, aber sie akzeptierte dies als eine Eigenheit von ihm. Seit sehr vielen Jahren hatte sich als Gewohnheit eingeschlichen, dass er abends im Wohnzimmer im Sessel betete, während sie meist irgendein Buch las. »Ich bin auf die Idee gekommen«, sagte er zum Therapeuten, »laut zu beten.« Und er tat dies in einer Weise, dass er zunächst Gott für alles dankte, was er
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Gutes an diesem Tag erlebt hatte. Im Weiteren trug er auch Gott seine Traurigkeit und seine Sehnsüchte vor, besser gehört zu werden, aber auch die Bitte, vielleicht selbst besser zuhören zu können. Eigentlich kam in den Gebeten vieles »an Gott gerichtet« vor, was er versucht hatte, seiner Frau direkt zu sagen. Doch während sie nach seinen Angaben bei dieser direkten Ansprache immer »ausrastete«, konnte sie nun offenbar zuhören. Die ersten Male hörte sie scheinbar nicht mit Lesen auf; sprach ihn aber später darauf an – und was ihm wichtig war: ruhig und an einem gemeinsamen Weg interessiert. Einige Tage später legte sie dann sogar das Buch beiseite und hörte ihm offen zu. Selbst wählte sie zwar nicht den Weg, mit ihm gemeinsam zu beten. Es begannen aber zunehmend gemeinsame Gespräche über das, was sie jeweils bedrückte und sich vom anderen wünschten. Dies blieb auch – zumindest weitgehend – so bis zum Therapieende einige Monate später – wobei Probleme der Beziehung ohnedies in der Therapie immer weniger thematisiert wurden.
Es ist eben ein großer Unterschied, ob man »auf der Bühne des Bewusstseins« als Mitspieler angesprochen wird, oder sich in den »Zuschauerraum« begeben kann und denselben Worten auf einer scheinbar anderen Bühne und an andere adressiert einfach lauschen kann.177 Im ersten Fall können die jahrelangen Verletzungen und Anschuldigungen, die während solcher »Ansprachen« erlebt wurden und das Rollenmuster entwickelt und stabilisiert haben, das Bewusstsein so sehr mit der Suche nach Verteidigungsstrategien ausfüllen, dass gar nicht wirklich zugehört wird. Im Sinne der Komplettierungsdynamik läuft ein innerer Film ab, der durch die wahrgenommene Rollensituation angetriggert wird. Im zweiten Fall, in der Zuschauerrolle, gibt es keinen Anlass, sich verteidigen zu müssen, denn man spielt ja offiziell gar nicht mit. Gleichwohl ist man als Zuschauer – wie im richtigen Theater – durchaus eingeladen, über das Gehörte nachzudenken. Denn schon Hinhören bedeutet ja, dem Gesagten Bedeutung beizumessen und dies irgendwie sinnvoll in die eigene Geschichte einzuordnen. Kritisch sei aber auch angemerkt, dass der Perspektivwechsel des reflektierenden Teams keineswegs immer eine hilfreiche Lösung ist. Dies mussten wir erfahren, als wir in den 1990er Jahren an meinem Lehrstuhl viel mit den reflek177 Hierin unterscheiden sich auch die kleinschrittige sorgfältige Überprüfung, ob die vom Therapeuten wahrgenommenen und zur Sprache gebrachten Gefühle »stimmig« mit dem Erleben des Patienten sind in Rogers »Symbolisieren« (vgl. Unterkapitel 5.5) und Pessos »MicroTracking« (vgl. Abschnitt 6.2.1): In Ersterer wird dies direkt von der Person des Therapeuten geäußert, in Letzterer äußert der Therapeut die Wahrnehmungen eines »Zeugen«, was eine andere Perspektive in den Dialog einbringt.
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tierenden Teams gearbeitet und einige Beratungsstellen dahingehend supervidiert hatten (Kriz, von Schlippe u. Westermann, 1996). Ein Großteil der Ratsuchenden, meist Paare und Familien, empfand dieses Vorgehen als recht hilfreich. Aber es gab auch eine Anzahl (circa zwanzig Prozent) der Ratsuchenden, die davon offensichtlich nicht profitierten. Dies wurde eigentlich immer schon nach der ersten Sequenz der ersten Sitzung deutlich: Sinngemäß wurde auf die Frage danach, ob brauchbare Ideen beim reflektierenden Team gehört wurden, geantwortet: »Ich muss da erst mal Folgendes richtigstellen …«. Das heißt, es ging um die Verteidigung einer bestimmten Sichtweise gegenüber »offensichtlich falschen Deutungen« des reflektierenden Teams. Kein Wunder, dass man mit einer solchen Einstellung auch nicht von Vielfalt möglicher anderer Sichtweisen profitieren konnte. Wir haben uns das so erklärt, dass diese Personen durch das reflektierende Team nicht angemessen, sondern unangemessen verstört wurden. Sie fühlten sich in ihrer Wahrheit und Sicht so bedroht, dass sie statt einer Öffnung ihrer Verstehensräume eher eine verteidigende und abwehrende Schließung und Festigung vornahmen. Wir haben allerdings – innerhalb des Ansatzes eines reflektierenden Teams – keinen Weg gefunden, auf diese Weise angemessener zu verstören. Es schien uns leichter, andere systemische und nicht systemische Vorgehensweisen für die weitere Beratungsarbeit mit diesen Personen zu wählen. Es darf also nicht unterschätzt werden, dass aufgrund der unterschiedlichen Lebenserfahrungen von Menschen das, was als eine »angemessene« Verstörung angesehen werden kann, eine recht große Variationsbreite aufweist.
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Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Merkkästen
Abbildungen Abbildung 1: Funktionskreis als Regelkreis auf der vegetativen Stufe (nach von Uexküll, 1920) 36 Abbildung 2: Vollständiger Funktionskreis mit »Neuem Kreis« (aus von Uexküll, 1920, S. 117; https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4344470) 43 Abbildung 3: Zwei Gesteinsformationen auf der Mars-Oberfläche (Fotos: NASA) . . . . . . . . 53 Abbildung 4: Zwei Gesteinsformationen an den Hängen des Tempelfjords von Spitzbergen 54 Abbildung 5: »Störungen« der Integration von Teilbedeutungen zu einem »Gesicht« . . . . . 54 Abbildung 6: Zwei Personen im Boot beim Versuch, das Schaukeln auszugleichen . . . . . . . 65 Abbildung 7: Das zirkuläre Muster der Interpunktion zwischen Mutter und Tochter (gemäß Tabelle 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Abbildung 8: Zirkuläre Verknüpfung der Populationsdynamiken von Luchsen und Schneehasen (Räuber-Beute-Zyklus) (nach MacLulich, 1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Abbildung 9: »Triviale Maschine« nach von Foerster (1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Abbildung 10: »Nichttriviale Maschine« nach von Foerster (1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Abbildung 11: Reine I-O-Beziehung (Input-Out-Beziehung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Abbildung 12: I-O-Beziehung als Teil eines Netzwerkes und daher mit Rückkopplung . . . . 95 Abbildung 13: Netzwerk »nichttrivialer« Maschinen (nach von Foerster, 1988) . . . . . . . . . . 95 Abbildung 14: Ordnungsentstehung durch wiederholte Anwendung ein und derselben Operation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Abbildung 15: Ein und dieselbe Ausgangsform – hier »KRIZ« – führt je nach rückgekoppelter Operation zu unterschiedlichen Attraktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Abbildung 16: Spezifische Operation gemäß Abbildung 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Abbildung 17: Grafische Darstellung der Dynamik von Tabelle 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Abbildung 18: Reduktion vieler unterschiedlicher Situationen auf den Sinnattraktor bezüglich des Controllingteams C: »C sind Schikanierer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Abbildung 19: Reduktion vieler unterschiedlicher Situationen auf den Sinnattraktor »Julian hat eine Verhaltensstörung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Abbildung 20: Zusammenhänge zwischen zentralen Aspekten und Begriffen der zirkulären Dynamik am Beispiel »Töne und Melodie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
290
Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Merkkästen
Abbildung 21: Strukturelle Gleichheit der drei Beispiele hinsichtlich der Bottom-upund Top-down-Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Abbildung 22: Veranschaulichung der klassisch-mechanistischen Weltsicht durch einen Kasten auf einer ebenen Fläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Abbildung 23: Veranschaulichung der systemischen Prinzipien (Entwicklungspfade nach Waddington, 1957) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Abbildung 24: »Abfolge« zweier Kommunikationen K1 und K2 zwischen den Personen P1 und P2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Abbildung 25: Kommunikation mit der Zentrierung auf die Person P1 . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Abbildung 26: »Abfolge« zweier Kommunikationen K1 und K2 zwischen den Personen P1 und P2 (unter Berücksichtigung der biosemiotischen Subjektivität der Person) .138 Abbildung 27 links: Zirkuläres Muster aus Abbildung 7; rechts: Zugrunde liegende Teilkommunikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Abbildung 28: Frage der Mutter an die Tochter im »Sender-Empfänger-Schema« . . . . . . . . 139 Abbildung 29: Eine »Familie« (rechts) ist nicht einfach eine beliebige Anordnung von Personen (links) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Abbildung 30: Scheinbar ideale Partnerschaft in der »oralen« Kollusion (frei nach Willi, 1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Abbildung 31: In einen Paarkonflikt umgeschlagene Partnerschaft (frei nach Willi, 1975) . 145 Abbildung 32: Triangulation – der verdeckte Konflikt zwischen den Eltern (V, M) wird durch den Fokus auf das Kind (K) »entschärft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Abbildung 33: Schema der »seriellen Reproduktion« einer Punktekonfiguration als rückgekoppelte Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Abbildung 34: Serielle Reproduktion eines komplexen Punktemusters bei zwanzig aufeinanderfolgenden Versuchspersonen (nach Stadler u. Kruse, 1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Abbildung 35: Zerfall des eher unvertrauten Bildes einer ägyptischen »Eule« zugunsten eines »Katzen«-Bildes (nach Bartlett, 1932, S. 81 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Abbildung 36: »Klassisches Grundmodell« des Gedächtnisses (a) – »Erinnern« als iterativer Prozess (b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Abbildung 37: Mittlere Profiländerung in der Beschreibung eines (typischen) Untersuchungsteilnehmers (Kriz u. Kriz, 1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Abbildung 38: Mittlere Profiländerung in der Beschreibung von drei Versuchsgruppen (VG) (Kriz u. Kriz, 1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Abbildung 39: Männergesicht oder kniende Frau? (nach Fisher, 1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Abbildung 40: Hysterese gemäß Abbildung 39 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Abbildung 41: Beurteilung einer »Frau, die ihren Mann erschlug« durch zwei Untersuchungsteilnehmer in Abhängigkeit von der Reihenfolge gegebener Informationen (nach Pohl, 1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Abbildung 42: Aschs Experiment als Sinnattraktor und Komplettierungsdynamik in einem kognitiven Feld (links zur Erinnerung das Grundschema nach Abbildung 20) . . . . . 167 Abbildung 43: Die Synlogisation zu einem gemeinsamen Bedeutungsfeld zweier Personen (rechts) analog zur Dynamik, mit welcher für eine Person Bedeutung attrahiert (links) . . . . 181 Abbildung 44: Synlogisation eines gemeinsamen Bedeutungsfeldes vieler Personen . . . . . . 183
Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Merkkästen
291
Abbildung 45: Das klassische kognitive Grundmodell des Gedächtnisses (aus Abbildung 36) ergänzt (a) um weitere Körperprozesse und (b) zusätzlich um den Bewusstseinsprozess . . . 193 Abbildung 46: Asymmetrische Bewegung von Zeige- und Mittelfinger (»Pseudoklavierspielen«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Abbildung 47: Symmetrische Bewegung von Zeige- und Mittelfinger (»Pseudoklavierspielen«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Abbildung 48: Symmetrische (a) bzw. parallele (b) Bewegung von Zeigefingern (aus Mechsner, Kerzel, Knoblich u. Prinz, 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Abbildung 49: Verdeckte Beidhandbewegungen (aus Mechsner, Kerzel, Knoblich u. Prinz, 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Abbildung 50: Unterscheidung und Beziehung zwischen der objektiven und der subjektiv phänomenalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
®
Abbildung 51: »Willow Tree «-Figuren von Susan Lordi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Abbildung 52a (oben) und b (unten): Iterative Punktdynamiken (nach Kriz, 1992) . . . . . . 261 Abbildung 53: Iterative Entfaltung eines Bildes (analog zu Abbildung 52 oder 14) . . . . . . . . 261 Abbildung 54: Stückhafte Teile – hier: Ohr und Auge – aus Abbildung 53 . . . . . . . . . . . . . . . 261
Tabellen Tabelle 1: Perspektiven auf die drei Fallvignetten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Tabelle 2: Interpunktion als systemisch-psychologisches Phänomen (hier zwischen Mutter und Tochter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Tabelle 3: Eine von 256 möglichen Wertetabellen bei vier Input- und vier Output- Zuordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Tabelle 4: Eine von 102466 möglichen Zuordnungstabellen bei vier Input- und vier Output-Zuordnungen »nichttrivialer Maschinen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Tabelle 5: Beispiel für die Input-Output-Sequenz einer »nichttrivialen Maschine« . . . . . . . . 89 Tabelle 6: Beliebige Ausgangszahlen (in einem bestimmten Bereich) laufen auf den Attraktor 24 zu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Tabelle 7: Beispiele für Mikro-Makro-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Tabelle 8: Vervollständigtes Schema der Interpunktionen (aus Tabelle 2 bzw. Abbildung 7) unter Berücksichtigung sowohl der »Opfer«- als auch der »Täter«-Narrationen . . . . . . . . . . 148
Merkkästen Definition der Personzentrierten Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Zwischenresümee zum systemtheoretischen Verständnis von Problemstrukturen. . . . . . . . . 68 Zusammenstellung essenzieller Prinzipien der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Dynamisch-systemisches versus klassisches Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Zwischenresümee zum Zusammenspiel von Motorik, Wahrnehmung und Wille . . . . . . . . . 205 Essentials für eine Unterstützung von Veränderungsprozessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Personenregister
Adolphs, R. 230 Allen, J. 232, 251 Andersch, N. 59, 166 Andersen, T. 272 f. Antonovsky, A. 57 Asch, S. 167 f., 171, 176, 180 Asen, E. 232 Atkinson, R. C. 156 Baddeley, A. 156 Bartlett, F. C. 83, 91, 99, 151, 160, 240, 290 Bateman, A. 232 Bateson, G. 119, 147 Bauer, A. W. 23 Beavin, J. H. 66, 147 Beher, S. 31 Berger, P. L. 58, 170, 226, 228, 238 Bertram, W. 63 Beushausen, J. 173 Biermann-Ratjen, E.-M. 241 Binswanger, L. 166 Bischof, N. 219 Boscolo, L. 30 Bowlby, J. 169, 248 Brunner, E. J. 236 Buber, M. 230 Bucci, W. 45 Bühler, K. 166 Bürgi, A. 267 Cassirer, E. 59 f., 111, 130, 166 Cecchin, G. 30 Chomsky, N. 169 Ciompi, L. 37, 45, 151, 185 f., 189 f. Cowan, N. 156, 214 Cramer, F. 50, 75 f.
Davis, J. A. 181 Descartes, R. 22 DiPietro, V. 53 Dunbar, R. 230 Eberhart, H. 267, 269 f. Eckert, J. 112, 236, 241 Ekman, P. 224 Epiktet 127, 241 Everett, C. 78 Fischer, H. R. 75 Fisher, G. H. 162, 290 Foerster, H. von 86, 88–90, 95, 136, 171, 226, 289 Fonagy, P. 232 Freud, S. 43, 48, 59, 195 f., 198 Fuchs, T. 224, 230 Galanter, E. 203 Gazzaniga, M. S. 196 Geigges, W. 63 Gendlin, E. T. 255 Gersick, K. E. 181 Gerson, R. 173 Geuter, U. 184 Gigerenzer, G. 196 Goldstein, K. 52, 98, 166, 206 Grawe, K. 14, 57, 99 Groth, T. 181 f. Gruber, T. 157 Haken, H. 9, 17, 72, 94, 128, 185, 203, 236 Haken-Krell, M. 203 Hampton, M. 181 Havighurst, R. J. 84 Heider, F. 69
293
Personenregister
Heisenberg, W. 220 Hellinger, B. 251 Heraklit 75 Hildenbrand, B. 173 Höger, D. 241 Hontschik, B. 63 Husserl, E. 15, 209, 226, 238 Hutter, C. 250 Jackson, D. D. 66, 147 James, W. 194 Jaynes, J. 195, 221–224, 257 Jung, C. G. 56, 59, 254 Kaempfer, W. 75 Kant, I. 33, 52, 58 Kast, V. 56 Keller, H. 57 Kerzel, D. 204, 206, 291 Kessler, T. 165 Kleist, H. von 208 Klosko, J. S. 99 Knill, P. J. 267, 270 Knoblich, G. 204, 206, 291 Koffka, K. 52, 98 Kohler, I. 55 Köhler, W. 52, 98 Konorski, J. 40 Kriszat, G. 136 Kriz, J. 96, 136, 147, 165, 230 Kriz, W. C. 159 f., 290 Krüll, M. 119 Kruse, P. 154 f., 290 Lacan, J. 59 Lansberg, I. 181 Lazarus, A. 41 Lewin, K. 52, 98, 111, 116 Loftus, E. 157 f., 224 Lordi, S. 253, 291 Lorenz, E. 94 f. Lorenzer, A. 59 Lowen, A. 24, 198 Luchins, A. 83, 267 Luckmann, T. 111, 170, 226, 228, 238 Luhmann, N. 119, 182, 185, 229 MacLean, P. 44 f. MacLulich, D. A. 79, 289 Maier, R. 266
Matthews, H. 78 Maturana, H. 119, 185 Mausfeld, R. 49–51, 53 McGoldrick, M. 173 McNally, R. J. 158 Mead, G. H. 229 Mechsner, F. 203–208, 291 Meichenbaum, D. H. 41, 123 Metzger, W. 207 f., 219, 221 Metz-Goeckel, H. 221 Michotte, A. 69 Miller, G. A. 203 Minuchin, S. 140 Molenaar, G. 53 Moreno, J. L. 230, 250 Morris, C. 39, 59 Murch, G. M. 156 Nagel, T. 35 Newton, I. 93 Nisbett, R. E. 58, 71 Omer, H. 19 Ovsiankina, M. 116 Pawelzik, M. R. 230 Pawlow, I. P. 40 Peirce, C. S. 39, 59 Perquin, L. 248 Pesso, A. 121, 234, 248–250, 252, 254, 277 Petry, S. 173 Petzold, H. G. 184, 228 Petzold, T. D. 57 Piaget, J. 59, 99, 152, 240 Pietschmann, H. 176 Pikler, J. 207 Plassmann, W. 63 Pohl, M. 164 f., 290 Poincaré, H. 94 Prata, G. 30 Pribram, K. A. 203 Prigogine, I. 185 Prinz, W. 204, 206, 291 Reich, W. 24, 198 Retzlaff, R. 31 Richter, C. 38 Richter, H. E. 249 Roedel, B. 173 Rogers, C. R. 28, 57, 115, 229 f., 232, 258, 277
294 Rohracher, H. 55 Rothschild, F. S. 34 Rufer, M. 9, 72, 236 Runde, B. 165 Sacks, O. 257 f. Satir, V. 30, 121, 147, 250 Saussure, F. de 59 Schiepek, G. 9, 72, 84, 128, 236 Schlippe, A. von 9, 19, 29, 60, 182, 256, 278 Schmid, P. F. 230 Schulz von Thun, F. 181 Schütz, A. 111, 226, 238 f. Schwehm, H. 250 Schweitzer, J. 9, 29 Sebeok, T. A. 34 Selvini Palazzoli, M. 30 Shiffrin, R. M. 156 Simpson, G. G. 56 Skinner, B. F. 71, 169 Sparrer, I. 251, 259 Sperry, R. 196 Stadler, M. 154 f., 290 Stahl, G. E. 22 f. Stemberger, G. 207 f., 221 Stern, D. 28, 46, 231 Stierlin, H. 175 Stoff, M. 108 Storch, M. 196 Stützle-Hebel, M. 108 Sydow, K. von 31
Personenregister
Trevarthen, C. 46, 231 Tschacher, W. 196, 236 Uexküll, J. v. 34, 37, 43 f., 49, 59 f., 111, 136, 186, 194, 219, 238, 289 Uexküll, T. v. 34, 44, 63 Varela, F. 119, 185 Varga von Kibed, M. 251, 259 Volbert, R. 158 Vollmer, G. 56 Waddington, C. H. 129, 290 Waldl, R. 230 Watzlawick, P. 66, 146–148, 228, 246 Weber, G. 251 Weishaar, M. E. 99 Wertheimer, M. 52, 55, 98 Westermann, B. 278 Whorf, B. L. 78 Willi, J. 144–146, 290 Wolpe, J. 41 Woodworth, G. L. 156 Young, J. E. 99 Zeigarnik, B. 116
Sachregister
Achtsamkeit 137, 198 f., 216, 219, 252, 255 f., 265 Adaptation 38, 74, 84, 122, 128, 132, 143, 158, 266 Affektlogik 37, 40, 45, 151, 185 f., 190, 193, 227 Aha-Erlebnis 117, 130, 189 Akkommodation 240 Alltagssprache 83, 97, 111, 119, 269 Alltagswelt 27, 67, 71, 77, 93, 120, 123 f., 155, 162, 173, 175, 181, 187, 212, 219, 225–227, 229, 238–240, 259, 265 f., 268 f. Analyse 19, 32, 59, 98, 121, 126 f., 132, 147, 166, 182, 195, 209, 226, 269, 271 Anemone 36 f., 40, 50, 56, 70, 186, 219 Anforderungsstruktur 19 Angst 18, 37, 41, 50, 85, 186, 197, 210 f., 223 f., 29, 240, 243 Animal Symbolicum 59 f., 63, 130 Anschauung 206, 208, 219 Antidot 249 Äquivalenzklasse 50, 71, 76 Arbeitsgedächtnis 156 f., 189, 191, 193, 196, 198, 214, 219, 226 Assimilation 240 Attraktor 68 f., 72, 97–99, 101–103, 106 f., 113, 123, 128, 132, 141, 143 f., 146, 161, 163, 171, 176, 180, 242, 260, 262, 264, 271, 291 Aufstellung 259 Ausdruck 23, 75, 121, 137, 150, 180, 194, 208, 247, 253, 269 Autokatalyse 118 Autonomie 101, 171, 230 Autopoiese 119, 134, 185 Bartlett-Szenario 91, 99, 151–160, 290 Bedeutung 12 f., 15–17, 22, 25, 28, 36 f., 39, 41 f., 45, 48–50, 52–54, 56, 60, 70, 73 f.,
91, 102, 104, 110–113, 140, 144, 152, 154, 163, 167 f., 170 f., 173, 175–181, 194, 197, 217, 227, 230, 234, 252, 257 f., 266, 271, 277, 290 Bedeutungserteilung, -zuweisung 33, 44, 47–49, 51 f., 53, 56, 58 f., 157, 186 f., 196, 214, 227, 242, 251 f. Bedeutungsfeld 49, 175, 177, 180–183, 186, 200, 227, 239, 242, 252, 274, 290 Bedürfniserfüllung 249 Befürchtung 21, 199, 247, 268 Begegnung 65, 178, 180, 230, 233 f., 272 Behaviorismus 98, 127 Beobachter 15, 31–33, 48, 65, 92, 122 f., 133, 135, 170, 203, 211, 241, 247 Bewegungsgestalt 203, 206 f. Bewusstsein 26, 44, 47 f., 56, 77, 137, 178, 189, 191–200, 203, 206–217, 219–222, 224, 226, 228 f., 244 f., 248–250, 257, 265, 277 Beziehung, therapeutisch 237, 244 Bezugsrahmen, innerer 115, 241 Bindungstheorie, -person 47, 56 f., 169, 232, 234, 248 Bioenergetik 193 Biografie 19, 48, 132, 176, 214, 242, 248, 274 Biosemiotik 15, 30, 33 f., 39, 47, 49, 58–61, 63, 76, 92, 153, 214, 238 Bottom-up 106–108, 110 f., 113, 120, 131 f., 166, 175 f., 290 Bühne des Bewusstseins 211, 234, 245, 248 f., 251 f., 254 f., 277 Bühnenrolle 276 Burn-out 18, 21, 26, 29, 29 Chaos 50, 76, 90 f., 95, 169, 210, 239 f., 244 Chaostheorie 91, 94 Charakterpanzer 198
296 Denken 9, 37, 39, 43, 58–60, 69, 71, 92, 98, 118 f., 124, 151, 180, 185–187, 198, 210, 216, 218, 224, 226, 233, 254, 262 Depression 18, 26, 29 Destabilisierung 228, 233, 237, 245 Determinismus 125, 127, 132 Deutung 41, 53, 58, 107, 127, 135, 141 f., 165, 173, 182 f., 193, 196, 211 f., 218, 233, 238, 241–243, 245, 247, 254, 268 f., 271 f., 278 Dezentrierung 267–269, 271 Dressur 90, 211 Eigendynamik 24, 130 Eigentrivialisierung 89 f., 92 Einfühlen, empathisches 230 Einmaligkeit 70, 77, 91, 127, 132, 267 Einsiedlerkrebs 50, 56, 60, 70, 76, 186, 209 Elterncoaching 19 Embodiment 121, 196 Emotion 44, 137, 150 f., 185, 197 f. Empfänger 139–141, 290 Energie 22, 122 Entfaltung 128, 260, 263 f., 266 f., 291 Entwertung 24, 274 Entwicklungsaufgabe 84, 130, 146, 240, 243, 254, 270 Entwicklungsbedingung 24, 229, 274 Entwicklungspfad 49, 128 f., 290 Entwicklungsschritt, -sprung 17, 19 f., 129 Erinnern 96, 151, 156 f., 185, 223, 249, 290 Erklärungsprinzip 13, 58, 67, 78, 84, 119 f., 124, 126, 192, 210 Erwartung 31, 46, 48, 61 f., 80 f., 91, 97, 109, 124, 140, 143, 152, 182, 215, 218, 229, 249 f., 268, 273 Es 196–198 Evidenzbasierung 130 f., 211 Evolution 36, 46, 50, 54, 70, 133, 170 Experiment 38–41, 54 f., 71, 87, 93, 98, 122, 137, 151, 153, 160, 162, 165–167, 171, 176, 203–206, 209 f., 214, 221, 224, 266, 290 Exzerpierung 222 Familiendynamik 32, 75, 82, 236 Familientherapie 29–31, 121, 133 f., 245, 250 Feld 73, 111–113, 154, 167, 180, 269, 271, 290 Feldtheorie 108, 111, 127 felt sense, -shift 255 Flow 229
Sachregister
Focusing 255, 265 Freiheit 127, 132, 269 f. Fremdorganisation 118, 125, 131 Fremdtrivialisierung 89 f. Fühlen 39, 55, 58, 151, 180, 185, 198, 233, 241, 254 Funktionskreis 35 f., 44, 50, 60 f., 194, 219, 289 Gebundenheit, funktionelle 266 Gebundenheit, situative 266 Gedächtnis 62, 152, 156 f., 168, 185, 194, 214, 216, 220, 249 Gedächtnis, Kurzzeit- 156 f., 191 Gedächtnis, Langzeit- 156 f., 189, 191 f., 196–198, 214, 216, 226 Gedächtnis, prozedurales 156 f., 197 Gefühl 57 f., 63, 85, 112, 135, 137, 150, 170, 178, 185, 188, 191, 197, 212, 216 f., 220, 224 f., 227, 231 f., 255, 258, 269–271, 277 Gehirn, soziales (s. Social Brain) Genogramm 173, 175 Geschichtslosigkeit 126 f., 132 Gestalt 97–99, 108–110, 112–115, 118, 154, 158, 168, 180, 203 f., 206 f., 209, 218 f., 220, 234, 263 Gestaltpsychologie 17, 33, 52, 55, 57, 69 f., 98 f., 106, 108, 115–117, 124, 127, 152 f., 167, 184, 206 f., 218 f., 221 Gesundheit 12, 57, 59, 73, 238 Grundbedürfnis 175, 248 Gruppendynamik 108 f., 112 f., 116, 118 Hier-und-jetzt 61, 112, 210, 214–217, 248, 252, 274 Himmelsmechanik 94 Holes in Roles 248, 252 Hormonsystem 197 Humanistische Psychologie 17, 57, 70, 98, 111, 126, 131, 196, 229–231, 233–235, 241 Hysterese 161–165, 290 ICD-Diagnose 19 Ich-Du-Beziehung 233 ich-dyston 197 ich-synton 197 Identität 123, 228 Ikon 59 Ilias 195 Imagination 217, 256, 262–265
Sachregister
Individualität 56, 127, 132, 175 Initiationsriten 84 Inkongruenz 252 f. Instinktverhalten 47 Integrative Therapie 184 Interaktionsdynamik 22, 32, 98, 120, 147, 242, 107 Interaktionsmuster 65 f., 116, 120–122, 138, 142, 144, 241 f. Interpunktion 66, 147, 289, 291 Intersubjektivität 33, 42, 56 f., 60, 170, 178 f., 225, 238, 248 Introjekt 199 Intuition 118, 256, 259, 262, 265, 267 Jäger-Beute-Dynamik 81 Kausalität 17, 53, 71, 125, 127, 132, 167, 221 Kausalität, lokale 125, 127, 132 Kausalität, zirkuläre 167 Kindchenschema 46, 97, 231 Klatschrhythmus 74, 107, 120 Kohärenz 15, 17, 57, 118, 234, 240 Kollusion 144–146, 290 Kommunikation 95, 108 f., 111, 115, 117, 133–137, 139 f., 147, 166, 170, 182 f. Kommunikation, afferente 136 f., 170 Kommunikation, efferente 136 f., 170 Kommunikation, Face-to-Face- 133 Kommunikation, selbstreferente 136 f., 170, 194 Kompatibilisierung 222 f. Komplettierungsdynamik 101, 113–115, 132, 158, 167 f., 211, 220, 223, 247, 260, 277, 290 Komplexität 9 f., 12, 14, 38, 70, 77, 86, 90 f., 102, 104 f., 123, 143, 150, 154, 166, 170, 172, 183, 239, 242 f., 256, 267 f., 271–273 Komplexitätsreduktion 150, 154, 166, 172, 239, 242, 272 Konditionieren 40, 46, 70 f., 211 Konfrontation 14, 272 Kongruenz 230 Konnotation 167, 273 Konnotation, positive 272 Konstruktivismus 33, 49, 256 Kontext 17, 25, 31, 39, 45, 59, 70, 73, 82, 85, 94, 98, 110 f., 115, 122, 126 f., 158, 165, 168, 181, 213, 217, 223, 226, 229 f., 234 f., 237, 250, 253 f., 269, 274, 276
297 Kontrolle 15, 41, 43, 113, 125, 127 f., 132, 171, 207 f., 212, 107, 263 Körper 13, 22–24, 78, 94, 121–123, 134, 184 f., 188, 191, 193 f., 200, 203 f., 207, 219, 231, 255, 259, 268, 275 Körperkoordination 195, 200–208 Körperpsychotherapie 184, 242 Körperschema 12, 15 Kreativität 256, 265–267 Kultur 16, 22 f., 25–29, 31, 46, 49, 58–60, 63, 69–71, 73, 75–78, 81, 91, 93, 123 f., 133, 151, 154, 164, 167, 170–176, 178–180, 183 f., 186, 192, 195, 198, 200, 205, 212, 218, 224, 226, 229–234, 239, 248, 252, 254, 257, 263, 266 Kultur, dependente/interdependente 57 Kulturleistung 44, 59, 195, 257 Kulturwerkzeug 27 f., 57 f., 60, 137, 192, 198 f., 209, 212, 231–234, 241 Kunsttherapie 256, 265, 267–271 Lebensraum 109, 111–113 Lebenswelt 71 f., 75–77, 80, 83, 91 f., 97, 114, 117–119, 122, 130, 134, 136 f., 139, 158, 168, 170 f., 179, 184, 186 f., 191, 194, 196, 200 Leib 184 Leidbild 20, 22, 26, 29, 174, 232, 268 Leitbild 26, 71, 126, 174, 232, 268, 271 Macht 210, 239 Magersucht 12–15 Mailänder Team 30 Makroebene 74, 106 f., 113, 120, 175 Manual 42, 131 Marionette 206 f. Maschine 73 f., 86–90, 126, 136, 139 f., 289, 291 Maschine, nichttriviale 86, 95, 107 Maschine, triviale 86 Massenmedien 183, 226 Medizin, integrierte 63 Mehrgenerationenfamilie 26 Melodie 107–111, 114–117, 120, 168, 219, 289 Menschenbild 112, 123 f., 130 Mentalisieren 137, 232 Merkorgan 36, 43, 70, 136 Merkwelt 35–37, 43, 45, 50, 52, 62, 136 f., 170, 194
298 Metapher 45, 58, 63, , 82, 173, 176, 192, 199, 210, 223, 231, 241, 244, 265, 273 Micro-Tracking 250, 277 Mikroebene 74, 106 f., 113, 120, 175, 205 Misstrauen 163 Missverständniss 61, 182, 207, 269 Mobbing 14 f., 18, 21, 29 Möglichkeitsraum 114, 274 Motoneuron 202, 205 Motorik 50, 205, 291 Musikwahrnehmung 108, 110 f., 114, 116 Muskel, Muskulatur 24, 190, 193, 197 f., 202–206, 208 Muster 21, 25, 31, 38, 62, 65 f., 68 f., 83 f., 91, 95, 97, 106, 114, 121, 129, 131, 136, 138, 141–147, 149, 153, 180, 200, 210, 233, 237, 242, 246 f., 255 f., 271, 273 f., 289, 29 Muster, zirkuläres 66, 79, 138, 141, 146 Mutter-Tochter-Dynamik 67, 101, 161, 171 Nachbeelterung 234 Narrativierung 222 f. Naziregime 26, 98, 232 Netzwerk 60, 95, 209, 289 Odyssee 195 Operator 95 f., 99 f., 142, 176 Opfer 66 f., 146–150, 196, 211, 218 f., 239, 291 Ordnung 13, 50, 62 f., 74, 76, 83 f., 90 f., 95–99, 101, 106 f., 110, 113–118, 120, 131 f., 140, 144, 150, 153–155, 163, 168, 171, 176, 192, 205 f., 210, 212, 220, 222, 237–240, 242–244, 107, 257, 259–262, 264 f., 267, 270–272 Ordnungs-Ordnungs-Übergang 84, 123, 131, 240, 242–244, 256 f., 271 Organismus 13, 22–27, 34, 39, 42, 46, 49–57, 59, 62, 70, 87, 136, 157, 170, 186 f., 191–194, 197 f., 200, 202 f., 206–208, 211, 229, 252, 257 Paarkonflikt 145, 276, 290 Paradoxie, pragmatische 208 Parametrisierung 169 Partnerschaft 25, 144 f., 169, 228, 290 Partnerwahl 144 Passung 46 f., 142 f., 240 Person 14, 16 f., 20, 25, 30, 39, 55, 120, 135–139, 167 f., 171, 173, 213, 228–234, 245, 290
Sachregister
Perspektive, Erste-Person- 14, 137, 213, 219, 231–234 Perspektive, Zweite-Person- 232–234 Perspektive, Dritte-Person- 14, 120, 122, 135, 137, 213, 218 f., 224, 231–234, 238 phänomenologisch 32–34, 58, 70, 72 f., 76, 99, 110 f., 116, 120, 124, 127, 195, 206–211, 215–225, 271 Phonem 47, 117, 169 Planen 116–118, 128, 130 f., 182, 217, 256, 262–264 Play-Space 265 Polysemantik 111, 168, 239, 269, 274 Populationsdynamik 107 Präformierung 42, 57, 200, 248 Prägnanztendenz 115, 153 Praxis 14, 16, 42, 60, 72, 105, 131, 142, 146, 188, 190 f., 193, 196–198, 202–206, 208, 235 f., 245 Primacy-Effekt 167 Prinzipien, generische 72 f., 236 Problem 12 f., 14, 16, 19 f., 68, 73, 77, 82, 85, 105, 115, 131, 142, 146, 149, 161, 171 f., 174 f., 182, 199, 207 f., 210 f., 228, 236 f., 241–245, 251, 255, 257, 264, 272, 276 f. Problemmetaphorik 81 Problemstruktur 14, 64, 67 f., 105, 247, 291 Prognose 124, 239 Propriozeption 203 Prozessebene, interpersonelle 25, 28, 134–149, 171 Prozessebene, körperliche 184–208 Prozessebene, kulturelle 13, 170–183 Prozessebene, psychische 134 f., 150–169 Psychosomatik 23, 34, 44, 63 Pubertät 48, 122, 171 Randbedingungen (s. Umgebungsbedingungen) Räuber-Beute-Zyklus 80 Realität 58, 68, 85, 109, 111, 119, 159, 161, 165, 168, 173, 189, 193, 219, 238 f., 254, 257 Reduktion 9, 76, 91, 104–106, 154, 168, 173, 289 Reframing 233 Regel 10, 13, 25–28, 32, 39, 48, 63, 67, 70, 74, 82, 84, 96 f., 104, 114 f., 120, 138, 157, 173, 175, 180, 189, 208, 216, 227, 239 f., 248, 266, 268, 274 Reifikation (s. Vedinglichung)
Sachregister
Re-Inszenierung 234 Reiz 40 f., 53, 55, 71, 86 f., 89, 114, 117, 127, 152, 157, 168, 194, 209, 218, 247, 259 Reiz-Reaktions-Schema 40, 86 f., 89, 127 Reizwelt 49, 70, 77, 247 Reproduktion, serielle 91, 151, 153, 155, 160 f., 290 Resignation 62, 232 Ressourcenorientierung 131, 254, 264, 266 f., 271 Rezeptionswelt 77, 122 Rhythmus 74, 113 f., 118, 258 Rigidität 83, 115, 145, 266 Rollenspiele 249 Rückkopplung 73 f., 85 f., 90–95, 97 f., 100, 102, 106 f., 120, 289 Salutogenese 57 Säuglingsforschung 46–48, 53, 169, 230–232 Schema 83 f., 97, 99, 120, 139 f., 148, 152 f., 157, 162, 191, 193, 195, 240, 290 f. Schema-Theorie 152 schizophrenogene Mutter 71 Schläfenlappen 258 Schrei-Baby 72, 142 f. Schuld 69, 72, 141, 174 f., 224, 246 Selbstgespräch, inneres 136, 229 Selbstorganisation 98, 116, 118, 123, 131, 170 Shaping 71 Sinnattraktor 102, 104–106, 114, 116, 150, 158, 160–165, 167–173, 175, 180, 183, 187, 210, 218, 222 f., 227, 233, 239 f., 242, 244 f., 247, 255 f., 264, 271–274, 289, 107 Sinndeutung 127, 135, 173, 182 f., 211–213, 245, 271 Sinnlichkeit 77, 251 Sinnprovinzen 239, 242 Situationskreis 44 Skulptur 121, 250, 252 f. Social Brain 47 f., 56, 60, 230 Sozialisation 44, 57 f., 90, 171, 226, 230 Spatialisierung 221 Spiel-Raum 267–270 Split-Brain 196 Sprache 10, 27 f., 31, 45 f., 58–60, 70–72, 76, 78, 80 f., 169, 171, 173, 175 f., 179, 192, 210, 212, 218, 226, 231, 234, 248, 250 f., 258, 264, 269, 271, 277 Sprachproblem, systemisches 81
299 Stabilisierung 14, 16, 21, 77, 91, 121–123, 168, 233, 239, 107, 276 Stagnation, Blockierung 126, 237, 241 Stereotyp 268 stille Post 151 Stimmung 13, 37–39, 50, 70, 170, 185–187, 190, 222, 224 f., 227, 255 Störung, frühe 179, 225 Stottern 208 Struktur 10, 24, 41, 44, 46, 73, 80, 96 f., 101, 106, 117, 120, 128, 132, 140 f., 161, 168, 175, 180, 220 f., 228, 230, 237 f., 248 f., 262, 269, 272 Strukturaufstellung 259 Stuhl, leerer 275 Symbol 15, 43–45, 58–60, 70 f., 76, 119, 134, 140, 166, 168, 170 f., 226, 241, 251 Symbolisieren 137, 198, 230–234, 265, 277 Symbolwelt 56, 60, 63, 78, 110 Symmetrie 155, 201–205 Symptom 80, 131, 161, 175 Synergetik 9, 17, 72, 185, 236 Synlogisation 175, 180 f., 183 Synthese 126 f., 132, 230 Täter 66 f., 78, 147–150, 187, 211, 219, 239, 291 Team 13, 15, 18, 21 f., 30, 73, 90, 97, 104 f., 121, 268, 272, 142, 29, 107, 267, 272–274, 278 Team, reflektierendes 254, 272–274, 277 f. Teleologie 128, 132, 256, 260, 262–264, 271 Tendenz 24, 69, 116, 144, 212, 225, 248 Teufelskreis 141, 146 Theorie 9, 48, 59, 94, 119, 122, 127, 152, 185, 235, 269 Top-down 107 f., 110 f., 113, 116, 120, 131, 166, 175 f., 183, 205, 290 »TOTE«-Modell 203 Training 10, 90, 118, 198, 205 f., 211 Transformation 96, 239, 260 Triangulation 31, 133, 149 f., 290 Trivialisierung 86–92, 95, 97, 136, 139, 171, 226 Über-Ich 198 Überstabilität 68, 82 f., 85, 115, 161–163, 241 Übertragung 234 Umgebung 30, 32, 34–40, 43 f., 46, 49 f., 52, 56–58, 74, 83, 97, 114, 119–123, 128, 130,
300 133 f., 136 f., 146, 153, 157, 169–171, 176, 178, 186, 189, 192, 195, 200, 209, 219, 243, 252, 273 Umgebungsbedingung 122, 129–132, 183, 186, 233, 240 f., 270 f. Umwelt 15, 19, 31, 34–40, 42, 44, 46 f., 49 f., 52, 56, 59 f., 63, 70, 97, 111, 119 f., 122 f., 133, 136, 170, 178, 186 f., 192, 194 f., 206, 209, 216, 219, 229, 231, 238, 247, 257 Unsicherheit 64, 165, 239, 243, 245, 262, 274, 276 Ursache-Wirkungs-Modell 17, 67–70, 72, 81, 124–126, 129–132, 141, 187, 191, 195 Veränderung 14, 16, 20 f., 24, 27, 65, 72 f., 84, 104, 118, 121–123, 125 f., 128–130, 139, 148, 155, 175, 183, 189 f., 192, 211, 213, 227, 233, 237, 242–244, 250, 255 f., 260, 266, 270 f., 291 Verdinglichung 58, 77 Verflüssigung 104 f. Vergangenheit 61, 87, 127 f., 210, 214, 216 f., 225, 262 f. Verhaltensstörung 18, 22 f., 26, 105 f., 149 f., 161, 173, 29, 247, 107 Verhaltenstherapie, kognitive 123, 241 Verkehrszeichen 26, 197, 257 Verkrustung 104 Verstören 131, 142 Verstörung, angemessene 271–278 Verteidigung 37, 278 Vertrauen 64, 163, 175, 243 f., 263 Vertrauenswürdigkeit 127 Vertreibung 26, 174, 232 Vorbewusstes 196
Sachregister
Wachstum 71 Wahrnehmung 15, 32, 43, 47 f., 53, 55 f., 60 f., 63, 68–71, 73, 99, 107, 113 f., 116, 120 f., 127, 137, 150, 153, 162, 185, 187, 189 f., 192, 194, 196 f., 205, 212, 214, 216, 218, 221, 225 f., 229, 252, 254, 259 f., 267, 271, 274, 276 f., 291 Wahrnehmungsorgan 259 Weltbild, klassisches 74, 93, 127, 132, 291 Weltbild, systemisches 71, 132 f., 291 Welt, phänomenale 32–34, 58, 70, 72 f., 76, 99, 110 f., 116, 120, 124, 127, 195, 206–211, 215–225, 271, 291 Welt, transphänomenale 99, 209, 219 Werbeindustrie 175, 254 Werkzeug 60, 76, 192, 226, 231, 246, 266 Wertschätzung 127, 184, 229 Wirklichkeit 43, 58–60, 68, 70, 119, 121, 155, 158, 170, 219, 238 f. Wirkorgan 43, 136 Wirkwelt 35 f., 38, 45, 50, 52, 137, 170, 187, 194 Wissenschaft 34, 40, 92 f., 112, 126, 224, 260, 269 Wunderfrage 264 Wutlogik 37, 186–190, 193, 196, 225 Zeichen 10, 15, 23, 34, 37, 39 f., 44, 56, 59 f., 62, 92, 119, 194 f., 275 Zirkularität 31, 58, 66–68, 79, 107, 113, 138 f., 141, 146–148, 153, 157, 167, 176, 180, 186 f., 195, 198, 211, 222, 227, 257, 276 Zukunftsbild 128, 217, 265 Zuschauerrolle 276 f.