Stunde der Ökonomen: Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974 9783666351495, 9783525351499, 9783647351490, 3525351496


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Stunde der Ökonomen: Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974
 9783666351495, 9783525351499, 9783647351490, 3525351496

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 166

1 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 166 Alexander Nützenadel Stunde der Ökonomen

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 2 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Stunde der Ökonomen Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974

von

Alexander Nützenadel

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 3 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Umschlagabbildung: Bundestagssitzung vom 11. Mai 1971: Debatte zur Währungsstabilität, Rede des Bundesministers für Wirtschaft, Karl Schiller. © Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Bundesbildstelle), Foto: Detlef Gräfingholt.

Für Friederike, Felix und Leonard

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-35149-6 Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

4 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Inhalt

Vorwort ...........................................................................................................

9

Einleitung ....................................................................................................... 11

Erster Teil: Laboratorien der Wirtschaft ....................................................... 25 I.

Nationalökonomie auf neuen Wegen .................................................... 1. Der lange Schatten der Historischen Schule ................................... 2. Denken in Ordnungen. Die Freiburger Schule und der Ordoliberalismus ............................................................................... 3. Die Rezeption der Neoklassik und die Anfänge der modernen Volkswirtschaftslehre ......................................................................... 4. »New Economics«: Keynesianismus und Neoklassische Synthese .....................................................................

25 27 33 44 51

II. Wachstum und Konjunktur .................................................................... 1. Erbe und Auftrag: Die »Große Krise« im politischen Diskurs nach 1945 .............................................................................. 2. Konjunktur- oder Wachstumszyklus? ............................................... 3. Von der Finanzwirtschaftslehre zur »Fiscal Theory« .......................

63

III. »Am Röntgenschirm der Volkswirtschaft« ............................................. 1. Der Aufstieg der empirischen Wirtschaftsforschung ...................... 2. Nachholende Modernisierung: Die Einführung der Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ............................................. 3. Der Blick in die Zukunft ...................................................................

90 92

64 72 81

99 108

5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Zweiter Teil: Verwissenschaftlichung der Politik ........................................ 123 IV. Nationalökonomen als Politikberater .................................................. 123 V.

Das Erbe Weimars: Die Debatte um den Bundeswirtschaftsrat ........ 136 1. Der Weimarer Reichswirtschaftsrat als Vorbild? ............................ 136 2. Wirtschaftsdemokratie oder »Verbändeparlament«? ....................... 139 3. Das Scheitern des korporatistischen Beratungsmodells ................ 146

VI. Experten, Öffentlichkeit und Politik: der Sachverständigenrat ......... 152 1. Ein deutscher »Council of Economic Advisors« ............................ 152 2. Politische Widerstände und neue Koalitionen ............................... 154 3. Die Diskursmacht der Wissenschaft ............................................... 164

Dritter Teil: Zwischen Kaltem Krieg und Europäischer Integration ......... 175 VII. »Kompetitive Koexistenz«. Die Auseinandersetzung mit der sozialistischen Planwirtschaft ............................................................... 177 1. Wie schnell wächst die DDR-Wirtschaft? ...................................... 179 2. Annäherung im Wandel? Die Konvergenzdebatte in den sechziger Jahren ................................................................................ 187 3. Politik ohne Ideologie. Kybernetik, Systemtheorie und Planungssteuerung in Ost und West ............................................... 197 VIII. Europäische Integration und gaullistische Herausforderung ............ 205 1. Müller-Armack und das »Europäische Konjunkturboard« ............ 206 2. Welches Wirtschaftsmodell in Europa? Die Auseinandersetzung mit der französischen »Planification« ................................ 214 3. Robert Marjolin und die Offensive der EWG-Kommission ........ 222 4. Konflikt und Integration .................................................................. 228

Vierter Teil: Die Globalsteuerung der Wirtschaft ........................................ 233 IX. Unzähmbare Konjunktur 1955–1960 .................................................. 234 1. Von Marx zum Markt: Die SPD als wirtschaftspolitische Reformpartei ..................................................................................... 234 2. Konflikt als Lernprozess: Adenauer, Erhard und die »Gürzenich-Affäre« ........................................................................... 244 3. Die Konjunktur im Visier der Politik ............................................. 264 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

X.

Die »Zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft« 1960–1966 ........... 279 1. Ende der Nachkriegszeit? ................................................................. 279 2. »Ewige Hochkonjunktur und kommandiertes Wachstum«: Die Debatte über das Stabilitätsgesetz ............................................. 283 3. Die Rezession von 1966/67 und das Ende der Ära Erhard ............ 295 4. Von Erhard zu Schiller – eine wirtschaftspolitische Zäsur? .......... 303

XI. Im »magischen Viereck« 1967–1969 ..................................................... 307 1. Die »Magna Charta« des Keynesianismus ....................................... 308 2. Konzertierte Aktion – ein neuer »contrat social«? .......................... 316 3. Die Konjunkturprogramme von 1967/68 und Schillers »Aufschwung nach Maß« .................................................................. 321 4. Die Planung der Zukunft ................................................................. 328 5. Brüchiger Konsens: Das Scheitern der Konzertierten Aktion und die Aufwertungskrise 1969 ....................................................... 336 XII. Ausblick: Globalsteuerung in der Krise 1970–1974 ............................ 344 Resümee .......................................................................................................... 353

Abkürzungen .................................................................................................. 363 Quellen- und Literaturverzeichnis ............................................................... 365 Register ........................................................................................................... 416

7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

8 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Vorwort

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2004 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Ohne die tatkräftige Hilfe zahlreicher Personen und Institutionen wäre die Anfertigung dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Mein herzlicher Dank geht zuerst an Wolfgang Schieder: für seine langjährige Förderung, die anregende Atmosphäre im Umkreis seines Lehrstuhls und für die außerordentlich günstigen Arbeitsbedingungen während meiner Kölner Assistentenjahre. Gleichermaßen danken möchte ich Margit Szöllösi-Janze, die mich nach ihrer Berufung an die Universität zu Köln in jeder erdenklichen Weise unterstützt hat. Die Studie verdankt ihr mehr, als sie selbst zugeben würde. Ein Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung ermöglichte mir einen 18-monatigen Forschungsaufenthalt an der Columbia University in New York. Es war ein Privileg, in dem spannenden intellektuellen Umfeld dieser Universität arbeiten zu dürfen. Besonderen Dank schulde ich meinem Gastgeber Volker Berghahn, der dafür sorgte, dass die Zeit in New York ebenso angenehm wie produktiv war. Gerne erinnere ich mich an die Gespräche, die wir während langer Spaziergänge am Hudson River führten. Hans-Peter Ullmann hat das Manuskript für die Aufnahme in die »Kritischen Studien« empfohlen und – wie auch die anderen Herausgeber der Reihe – wertvolle Hinweise für seine Überarbeitung gegeben. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich den Gutachtern der Habilitationskommission Wolfgang Schieder, Margit Szöllösi-Janze, Toni Pierenkemper und Volker Neuhaus. Olaf Bartz, Thomas Horstmann, Jörg Huwer, Boris Loheide, Detlev Mares, Alfred Reckendrees, Desiree Schauz und Christoph Strupp haben das Manuskript sorgsam und kritisch gelesen. Von ihren Hinweisen und Verbesserungsvorschlägen hat der Text sehr profitiert! Die Alexander von HumboldtStiftung und die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung haben die Veröffentlichung der Studie durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss möglich gemacht. Die letzten Korrekturen für die Drucklegung des Manuskriptes erfolgten während eines Aufenthaltes am Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences. Nirgendwo anders lässt es sich konzentrierter arbeiten als hinter den Dünen von Wassenaar. Dem Rektor des Instituts, Wim Blockmans, sei herzlich für die Einladung als Fellow gedankt. 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Ökonomie handelt von Knappheit. Diese Arbeit über die Ökonomen hat viel zu viel knappe Zeit meines Familienlebens in Anspruch genommen. Meine Frau Friederike hat darüber stets großzügig hinweg gesehen und mir den Freiraum geschaffen, um das Buch zu schreiben. Ihr möchte ich an dieser Stelle besonders danken. Die Geburt meines Sohnes Felix, die in die Schlussphase dieser Arbeit fiel, hat mich daran erinnert, dass die »Stunde der Ökonomen« auch ein Ende haben muss.

Wassenaar, im Mai 2005

Alexander Nützenadel

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Einleitung Wer in der Bundesrepublik Anfang der siebziger Jahre über das Verhältnis von Wirtschaft und Politik nachdachte, tat dies im Bewusstsein tiefgreifender Veränderungen. »Ein riesiges Areal, ein Arsenal umfassend gestaltender Interventionstätigkeit des Staates« habe sich in den vergangenen Jahren herausgebildet, konstatierte der Journalist Hans-Henning Zencke 1970 und deutete damit jene Ambivalenz an, die viele politische Beobachter damals verspürten. Politik, bedauerte Zencke, sei »in der Bundesrepublik wesentlich nur noch Wirtschaftspolitik – aber ganz großen Stils. Das Kabinett verhandelt und beschließt, wie die Protokolle seiner Beratungen zeigen, über andere Themenbereiche nur noch am Rande. Alle anderen, früher blühenden Felder traditioneller Politik sind verdorrt.«1 Mag diese Bestandsaufnahme auch überpointiert erscheinen, so besitzt sie doch einen wahren Kern. Die Wirtschaftspolitik rückte in den zwei Jahrzehnten seit der Gründung der Bundesrepublik in das Zentrum der Politik und beherrschte Parteiprogramme, Wahlkämpfe und öffentliche Diskussionen mehr als alles andere.2 »Ohne die wirtschaftliche Entwicklung, von der das politische Leben getragen wird, läßt sich die Bonner Demokratie nicht begreifen«, urteilte der französische Politologe Alfred Grosser 1974.3 Das politische Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik wurde maßgeblich durch seine wirtschaftlichen Erfolge bestimmt. Der rasante ökonomische Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg schuf nicht nur die Voraussetzung für die Entfaltung einer stabilen Demokratie, sondern auch für die internationale Emanzipation des westdeutschen Teilstaates. »Wachstum« und »Stabilität« avancierten zu Leitbegriffen, die wissenschaftliche Theorien, gesellschaftliche Diskurse und politisches Handeln nachhaltig prägten. Im Gegenzug wurden ökonomische Instabilität und konjunkturelle Krisen stets als fundamentale Bedrohung für den gesellschaftlichen Grundkonsens wahrgenommen. Bis heute, bemerkte jüngst ein polnischer Publizist, sind Wirtschaftskrisen »in Deutschland stets Identitätskrisen«.4 1 Zencke, S. 136. 2 So waren nach der Gründung der Bundesrepublik acht der insgesamt 14 Bundesministerien mit wirtschafts- und sozialpolitischen Aufgaben bedacht. Zur Bedeutung der Wirtschaftspolitik für die Wahlkämpfe der fünfziger und sechziger Jahre vgl. Kaltefleiter; Spicka. 3 Grosser, S. 253; vgl. auch Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 11ff. 4 J. Tychner, Alles Haushalt, oder was?, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.12.2003, S. 9; vgl. auch Schönhoven, Aufbruch, S. 132f.

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Ob die Bundesrepublik in dieser Hinsicht tatsächlich ein Sonderfall in der internationalen Entwicklung darstellt, ist allerdings fraglich. Vielmehr scheint das Ausgreifen des »Ökonomischen« in fast alle Politikfelder und gesellschaftliche Bereiche ein Merkmal moderner Industriegesellschaften überhaupt zu sein.5 Diese Entwicklung hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates, der Etablierung umfassender wirtschafts- und finanzpolitischer Aufgabenplanung und der zunehmenden internationalen Koordination wirtschaftlicher Beziehungen erheblich beschleunigt.6 Einher ging dieser Prozess mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung, Verbreitung und Anwendung ökonomischen Wissens. Die Wirtschaftstheorie hatte sich infolge der »keynesianischen Revolution« der dreißiger und vierziger Jahre nachhaltig verändert.7 Nicht nur die modelltheoretische Darstellung und Analyse hochkomplexer Volkswirtschaften schien nun möglich. Darüber hinaus trat die neue makroökonomische Theorie ihren Siegeszug mit dem Versprechen an, die Wirtschaftspolitik mit wissenschaftlichen Methoden gestalten und optimieren zu können. Die Grenze zwischen »reiner« und »normativer« Theorie wurde durchlässig. Theoretische Analyse, angewandte Forschung und politische Expertise rückten in keiner Disziplin so nah zusammen wie in den Wirtschaftswissenschaften.8 Die Nachkriegsepoche war nicht nur eine Zeit exzeptioneller Wachstumsraten, hoher Beschäftigung und stabiler Währungsverhältnisse. Sie war, so der Titel eines viel gelesenen Buches aus dem Jahre 1968, auch das »Zeitalter der Ökonomen«. Das eigentlich Revolutionäre, glaubte sein Verfasser Walter Heller, sei nicht so sehr der Fortschritt der theoretischen Erkenntnis, sondern die Tatsache, dass »die moderne Volkswirtschaftslehre schnell und in immer stärker werdendem Maße Eingang in das Denken und Handeln der Nation gefunden hat«.9 Was Heller – Professor an der University of Minnesota und von 1961 bis 1964 Vorsitzender des »Council of Economic Advisors« – für die USA feststellte, traf zweifellos auch für die Bundesrepublik zu. In den fünfziger und sechziger Jahren standen die Nationalökonomen dort »in einem hohen Ansehen wie kaum je zuvor«.10 Das an Universitäten und Forschungseinrichtungen stark expandierende Fach löste sich von seiner vormals engen Verbindung zu den Staats- und Gesellschaftswissenschaften und gewann damit nicht nur akademisch an Profil, sondern professionalisierte auch wissenschaftliche Ausbildung und Berufsstand. 5 Vgl. Furner/Supple; Lacey/Furner; Coats, Development. 6 Vgl. Sutcliffe, S. XIII. 7 Vgl. Klein; Clarke, The Keynesian Revolution and its Making; Hall, Political Power; Bernstein. 8 Vgl. Coats, Economists in Government; ders., Sociology; Nelson, Economic Profession; Rivelin; Aaron; Pechmann; Mohr. 9 Heller, S. XV; vgl. auch Stein, Economics Industry; Bernstein, S. 91ff. 10 Borchardt, Anerkennung, S. 202.

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Zugleich nahm das öffentliche Prestige der Wirtschaftswissenschaften ungemein zu. Volkswirte wie Erich Schneider, Wilhelm Röpke, Franz Böhm und Herbert Giersch waren regelmäßig in den Medien präsent. Einflussreiche Politiker der Nachkriegsära wie Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack, Karl Schiller oder Helmut Schmidt verdankten ihre Autorität nicht zuletzt ihrem ökonomischen Sachverstand und der kompetenten Darstellung wirtschaftlicher Probleme in der Öffentlichkeit. Staatsbürgerliche Vereinigungen wie die »Aktionsgemeinschaft für Soziale Marktwirtschaft« oder die »Wirtschaftspolitische Gesellschaft« trugen mit ihren breit angelegten, durch moderne Kommunikationsmittel unterstützten Informationskampagnen zu einer Popularisierung ökonomischer Sachverhalte bei. In Zeitungen und anderen Medien nahm die Wirtschaftsberichterstattung einen immer größeren Raum ein. Aktienkurse, Wachstumsprognosen und volkswirtschaftliche Statistiken wurden zum Tagesgespräch. Schließlich erfuhr die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung einen unvergleichlichen Boom. Die Mitglieder des 1963 gegründeten Sachverständigenrates wurden schon damals ehrfürchtig als die »Fünf Weisen« bezeichnet und genossen in der Öffentlichkeit eine beinahe »päpstliche Autorität«.11 Die Ökonomie war in den Jahren des Wirtschaftswunders »geradezu eine gesellschaftliche Leitwissenschaft« geworden.12 Die vorliegende Arbeit will Hintergründe, Triebkräfte und Folgen dieser Entwicklung nachzeichnen. Sie untersucht den Übergang von der älteren, noch von den Traditionen der Historischen Schule geprägten Nationalökonomie zur modernen Volkswirtschaftslehre, fragt nach den disziplinären Arbeitsfeldern und Schwerpunkten des Faches, arbeitet die Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Politik heraus und analysiert den Wandel der Wirtschaftspolitik seit den fünfziger Jahren. Dabei wird von der These ausgegangen, dass die Volkswirtschaftslehre eine besondere Form der Expertenkultur hervorbrachte, die sich von anderen Disziplinen grundlegend unterschied. Sie begründete jene Sonderrolle des Faches, das sich in seinem methodischen Selbstverständnis zunehmend am mathematisch formalisierten Modelldenken der Naturwissenschaften orientierte und zugleich aufgrund seines Gegenstandes große gesellschaftspolitische Relevanz besaß.13 Die wachsende Bedeutung und Komplexität wirtschaftspolitischer Aufgaben und der hohe theoretische Abstraktionsgrad der Wirtschaftswissenschaften hatten zur Folge, dass ökonomische Experten seit den fünfziger Jahren eine herausragende Stellung einnahmen und die wissenschaftliche Politikberatung stark dominierten.14

11 So Kanzler Ludwig Erhard in einer Bundestagsdebatte am 17.2.1966; Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 60, Bonn 1966, S. 949. 12 Spree, Einleitung, in: ders., Geschichte, S. 21. 13 Vgl. allgemein Mirowski; Boumans. 14 Vgl. Mayer, Truth, S. 16f.; Hutchison, S. 286f.

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Mit diesem Anliegen bewegt sich die Arbeit im Grenzbereich von Wissenschafts-, Wirtschafts- und politischer Zeitgeschichte. In den Abschnitten, die sich mit der disziplinären Entwicklung der Volkswirtschaftslehre und ihrer Stellung im Wissenschaftssystem der Bundesrepublik befassen, werden dogmenhistorische, wissenschaftssoziologische und kulturgeschichtliche Ansätze aufgegriffen und miteinander verknüpft. Die klassische Dogmengeschichte, die nach der immanenten Entwicklung von Theorien, Methoden und wissenschaftlichen Schulen fragt, soll dabei erweitert werden zu einer umfassenden Geschichte des ökonomischen Wissens, welche Wissenschaft nicht als autonomes, in sich geschlossenes System betrachtet, sondern das politische, soziale und kulturelle Umfeld mit einbezieht, nach der Relevanz und Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis fragt, Institutionalisierungsprozesse in den Blick nimmt und die Diffusion und Popularisierung von wissenschaftlichem Wissen berücksichtigt.15 Hier zeigen sich Berührungspunkte zu kultur- und diskurstheoretischen Ansätzen, die von der Wissenschafts- und insbesondere der ökonomischen Dogmengeschichte lange Zeit vernachlässigt worden sind. Neuerdings zeichnen sich vor allem in der angloamerikanischen Forschung Bemühungen zu einem methodischen Brückenschlag ab, so etwa in den theoretischen Studien von McCloskey, die sich mit den narrativen Strukturen ökonomischer Aussagen befassen.16 Inzwischen gibt es auch eine Reihe von historischen Untersuchungen, die sich um eine Kontextualisierung ökonomischer Wissensproduktion bemühen. Dazu zählt die weit ausgreifende Arbeit von Michael Bernstein über die amerikanischen Wirtschaftswissenschaften im 20. Jahrhundert, ferner die wichtige Untersuchung von Adam Tooze zur Entstehung der modernen volkswirtschaftlichen Statistik in Deutschland zwischen 1900 und 1945.17 Zu erwähnen ist ferner die jüngst erschienene, ideengeschichtliche Studie von Mark Blyth, welche das Wechselspiel von wirtschaftlichen Leitbildern und institutionellem Wandel im 20. Jahrhundert untersucht.18 Im Mittelpunkt dieser Forschungen steht nicht zuletzt die Frage, worauf sich die spezifische Deutungsmacht der Wirtschaftswissenschaften gründet und welche Funktion diese für die Entstehung (und Auflösung) von gesellschaftlichem Konsens besitzt. Der Amerikaner Robert Nelson hat die moderne ökonomische Theorie sogar in die Nähe religiöser Phänomene gerückt.19 Dieser Interpretation schließt sich die vorliegende Arbeit zwar nicht an. Doch es bleibt eine berechtigte Frage, welche Funktion ökonomisches Wissen in modernen Gesell15 Vgl. Stehr, Wissen. 16 McCloskey, Writing of Economics; dies., If You’re so Smart; dies., Knowledge and Persuasion; dies., Rhetoric of Economics; vgl. auch Hutchison. 17 Bernstein; Tooze, Statistics. 18 Blyth. 19 Nelson, Economics.

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schaften spielt und worauf sich seine besondere Deutungskompetenz gründet.20 Dies verweist auf neuere, vor allem in der Soziologie geführte Debatten über die Entstehung der modernen »Wissensgesellschaft«.21 Sie gehen von der Annahme aus, dass wissenschaftliches Wissen zur wichtigsten ökonomischen Ressource avanciert, alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt und soziale Beziehungen ebenso wie das kulturelle Selbstverständnis nachhaltig prägt. Im Zuge dieser Entwicklung werden die Grenzen zwischen Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Subsystemen (Wirtschaft, Recht, Politik, Kultur usw.) zunehmend durchlässig. Dieser umfassende Prozess der »Verwissenschaftlichung«, dessen Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, hat mit der Auflösung der klassischen Industriegesellschaft seit den fünfziger Jahren offenbar stark an Dynamik gewonnen.22 In der Geschichtswissenschaft wird daher zu Recht dafür plädiert, das Konzept der »Wissensgesellschaft« zu historisieren und als analytische Kategorie für die Geschichte des 20. Jahrhunderts nutzbar zu machen.23 Für die Nachkriegsepoche ist dies umso mehr berechtigt, als technokratische Planungskonzepte stark an Bedeutung gewannen.24 Der neuerdings als soziologische Kategorie verwendete Begriff der »Verwissenschaftlichung« war in der politischen Sprache der sechziger Jahre geradezu ubiquitär.25 Wie neuere Arbeiten zeigen, prägte das szientistische Planungsund Reformdenken fast alle gesellschaftlichen und politischen Handlungsfelder und verdient daher die Aufmerksamkeit der zeithistorischen Forschung.26 Um den Prozess der »Verwissenschaftlichung« angemessen zu untersuchen, müssen die Übergänge von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft besonders gründlich ausgeleuchtet werden. Das Augenmerk gilt daher der Rolle des ökonomischen Experten, der durch seine Gutachten, die Mitarbeit in Beratungsgremien und publizistische Aktivität wissenschaftliches Wissen für die Gesellschaft verfügbar macht. Wie hat sich das Selbstverständnis der akademischen Nationalökonomie durch die Herausforderung prozesspolitischer Planung und Steuerung verändert? Hat sie lediglich auf eine von außen vorgegebene Entwicklung reagiert oder durch die Definition bestimmter Handlungsfelder 20 Vgl. allgemein Barbour; J. Renn, In der Kirche der Wissenschaft, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.12.2002. 21 Grundlegend: Stehr, Arbeit; ders./Böhme; Weingart, Stunde. 22 Weingart, Verwissenschaftlichung. 23 Vgl. v.a. Raphael; Szöllösi-Janze, Knowledge Society. 24 Vgl. Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft. 25 Vgl. z.B. Schmölders, Verwissenschaftlichung; Lompe, S. 9; Müller-Armack, Wissenschaft und Wirtschaftspolitik, S. 83. 26 Vgl. die umfassende und überzeugende Habilitationsschrift von Metzler, Konzeptionen, deren Ergebnisse für diese Studie leider nicht mehr verwendet werden konnten; vgl. außerdem die Beiträge in Haupt/Requate sowie in Fisch/Rudloff.

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und Probleme selbst eine wachsende Nachfrage nach wissenschaftlicher Expertise erzeugt?27 Inwiefern hing der Bedeutungszuwachs ökonomischen Wissens mit der Neubestimmung und Erweiterung von Staatsfunktionen zusammen, die sich auf dem Gebiet der Wirtschaft in besonderem Maße bemerkbar machte? Die Arbeit betritt nicht nur methodisches Neuland, sondern bewegt sich auch auf einem historisch bislang wenig erforschten Gelände. Zwar stößt die deutsche Zeitgeschichte nach 1945 seit einiger Zeit gerade bei jüngeren Historikern auf großes Interesse. Fast könnte der Eindruck entstehen, als ob die Weimarer Republik und der Nationalsozialismus als Kernepochen der zeithistorischen Forschung in den Hintergrund gedrängt werden. Der Umbruch von 1989/90 hat einer umfassenden Historisierung nicht nur der DDR, sondern auch der »alten« Bundesrepublik Vorschub geleistet.28 Inzwischen stehen der Geschichtswissenschaft auch wichtige Archivbestände aus den fünfziger und sechziger Jahre offen, die eine quellengestützte Analyse überhaupt erst ermöglichen. Doch der überwiegende Teil der vorhandenen Untersuchungen konzentriert sich auf die Vor- und Gründungsgeschichte der Bundesrepublik, während die epochalen Veränderungen der fünfziger und sechziger Jahre zwar allgemein hervorgehoben, in ihren spezifischen Ausprägungen aber noch wenig erforscht sind.29 Gerade ökonomische Fragen finden trotz ihrer für die Entwicklung der Bundesrepublik unbestrittenen Relevanz kaum mehr das Interesse der historischen Forschung.30 Das hat zweifellos disziplinäre Gründe und hängt mit der kulturwissenschaftlichen Wende innerhalb des Faches zusammen, die zu einer weitreichenden »Ent-Ökonomisierung der Geschichtsbetrachtung« geführt hat.31 Hinzu kommt, dass ökonomische Probleme und ihre wissenschaftliche und politische Diskussion nach 1945 so sehr an Komplexität gewonnen haben, dass sie ohne einschlägiges volkswirtschaftliches Vorwissen kaum nachzuvollziehen sind. Die Historiker stehen daher vor einem ähnlichen »Expertenproblem« wie die zeitgenössischen Politiker. Umso erstaunlicher ist es allerdings, dass bisher auch die wirtschaftshistorische Forschung gegenüber diesem Zeitabschnitt eine spröde, kaum nachvollziehbare Zurückhaltung an den Tag gelegt hat. Die wichtigste, bis heute andauernde Kontroverse zur Nachkriegszeit dreht sich um die Frage, welche Faktoren für die wirtschaftliche Erholung Westdeutschlands verantwortlich 27 Vgl. Barber; Stehr, Arbeit, S. 350–420. 28 Kleßmann/Sabrow. 29 Vgl. Metzler, Breite Straßen; erste Einblicke in Forschungsprojekte in Schildt u.a., Dynamische Zeiten; Haupt/Requate. 30 Vgl. aber Kaelble; Dietrich, Eigentum; Scheybani; Oertzen; Nonn; Altmann, Arbeitsmarktpolitik. 31 Kocka, S. 503.

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waren. Im Zentrum steht dabei vor allem die Frage nach den wirtschaftlichen Auswirkungen von Währungsreform und Marshallplan.32 Zahlreiche Arbeiten sind inzwischen auch zur Wiedereingliederung der Bundesrepublik in den Weltmarkt und die Anfänge der europäischen Integration erschienen.33 Kaum eine dieser Untersuchungen geht jedoch über die fünfziger Jahre hinaus.34 Die eigentliche Kernepoche der Bundesrepublik ist aus wirtschaftshistorischer Sicht nach wie vor terra incognita.35 Die wenigen grundlegenden Forschungen auf diesem Gebiet stammen bezeichnenderweise nicht von Historikern bzw. Wirtschaftshistorikern, sondern von Ökonomen und Sozialwissenschaftlern, die freilich meist keine genuin historische Fragestellung verfolgen und nicht systematisch Archivquellen heranziehen.36 Dies gilt etwa für die vergleichenden Untersuchungen zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum von Ludger Lindlar und Thomas Bittner oder die Studien zur Geld- und Konjunkturpolitik, die Helge Berger und Björn Alecke jüngst vorgelegt haben.37 Diese eher ökonomisch als historisch angelegten Untersuchungen haben unsere Kenntnisse über die quantitative Wirtschaftsentwicklung nach 1945 erheblich bereichert und stellen eine wichtige Grundlage für die vorliegende Studie dar. Als hilfreich haben sich ferner institutionengeschichtliche Arbeiten, etwa zur Bundesbank oder zum Wirtschaftsministerium, erwiesen.38 Auch die historische Analyse der bundesdeutschen Volkswirtschaftslehre befindet sich trotz wichtiger Einzelstudien noch ganz in den Anfängen. Während das Denken und der politischer Einfluss der ordoliberalen Gründungsväter wie Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack, Ludwig Erhard und Alexander Rüstow durch biographische und ideengeschichtliche Studien recht gut erforscht sind,39 fehlt es an weiterführenden Arbeiten zur Entwicklung der Volkswirtschaftslehre in den fünfziger und sechziger Jahren. Dies dürfte zum einen auf die schlechte Quellenlage zurückzuführen sein: Es gibt nur wenige private Nachlässe, edierte Schriftwechsel oder autobiographische Zeugnisse von führenden Volkswirten der Bun32 Vgl. als Überblick über die Literatur: d’Elia; Nützenadel, Abschied. 33 Vgl. Küsters, Gründung; Bührer, Ruhrstahl; ders., Westdeutschland; Buchheim, Wiedereingliederung; Herbst u.a., Marschallplan; Dickhaus; Thiemeyer; Neebe. 34 Vgl. zuletzt auch die englischsprachigen Beiträge von van Hook, Grünbacher und Mierzejewski. 35 So gibt es bislang nur wenige, wissenschaftlichen Standards genügende Gesamtdarstellungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik. Grundlegend Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte; vgl. außerdem Weimar; Schröter. 36 Vgl. z. B. Glastetter, Altvater u.a.; Giersch u.a., Fading miracle. 37 Berger; Lindlar; Alecke; Bittner. 38 Dickhaus; Deutsche Bundesbank, Fünfzig Jahre; Löffler. 39 Biographisch: Welter; Hollerbach; Lenel; Peukert; Meier-Rust; Henzler; Hentschel, Erhard; Kowitz; Dietzfelbinger; Yamawaki; zur Entstehung der ordoliberalen Schule und zu ihrem politischen Einfluss: Blumenberg-Lampe, Programm; Ambrosius, Durchsetzung; Peacock/Willgerodt; Tribe; Nicholls.

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desrepublik.40 Archive von Universitäten und Forschungseinrichtungen sind für die hier behandelte Zeit wenig ergiebig, weil es sich überwiegend um personenbezogene Daten handelt, die mindestens fünfzig Jahre unter Verschluss bleiben. Doch hat das fehlende Interesse offensichtlich auch interpretatorische Gründe. In der Forschung dominiert bis heute die Auffassung, dass die ordoliberale Freiburger Schule nicht nur die theoretische Entwicklung des Faches seit 1945 bestimmt, sondern auch die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik geprägt habe. Der Ordoliberalismus, der neuerdings im Kontext der »Constitutional Economics« eine internationale Renaissance erlebt, gilt als wichtigster deutscher Beitrag zur Entwicklung der Wirtschaftstheorie im 20. Jahrhundert. Die großen Werke dieser Schule stammen jedoch aus den vierziger und frühen fünfziger Jahren, so dass die meisten historischen Untersuchungen ihren Schwerpunkt in dieser Zeit haben. Die keynesianische und die neoklassische Wirtschaftstheorie haben nach verbreiteter Auffassung in Deutschland nur zögerlich und lediglich als »amerikanische Importe« Verbreitung gefunden.41 Bundesdeutsche Ökonomen hätten, so wird argumentiert, keinen originären Beitrag hierzu geleistet. Der in den fünfziger und sechziger Jahren international dominierende Keynesianismus habe in der Bundesrepublik allenfalls das Wirtschaftsprogramm der oppositionellen SPD beeinflusst, für die Politik bis Ende der sechziger Jahre aber keine Rolle gespielt.42 Diese Interpretation wird inzwischen jedoch relativiert. So hat Ernst Heuß kürzlich betont, dass »die Verwurzelung des ordoliberalen Gedankengutes nur teilweise gelungen ist«.43 Die vielfach auf die Freiburger Schule zurückgeführte Idee der »Sozialen Marktwirtschaft« wird inzwischen eher als ein offenes und wandlungsfähiges Konzept begriffen. »Sie ist kein einstimmiger gregorianischer Choral, sondern eher ein mehrstimmiges Madrigal.«44 Häufig werde ihr tatsächlicher politischer Einfluss überschätzt. Nach Auffassung des britischen Wirtschaftshistorikers Keith Tribe beschreibt der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft gar kein »specific economic regime«. Es handle sich vielmehr um einen politischen Slogan, »whose analytical content lacks any specific directives for the formation of policy«.45 Und Helge Berger hat in seiner Studie zur Konjunkturpolitik der fünfziger Jahre gezeigt, dass ordoliberale Ideen bereits in dieser Phase für die Wirtschaftstheorie und -politik an Relevanz verloren hatten. Die westdeutsche Nationalökonomie, so Berger, habe sich in den 40 Vgl. allerdings sehr detailliert Blesgen. 41 Richter, S. 596; vgl. außerdem Portes; Hagemann, Post-1945 Development; ders., Einfluß. 42 Vgl. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 100f. u. S. 297–301; zum Wirtschaftsprogramm der SPD Ott, Wirtschaftskonzeption; Held. 43 Heuß, Kontinuität, S. 340. 44 Schulz, Soziale Marktwirtschaft, S. 171. 45 Tribe, S. 204.

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fünfziger Jahren rasch dem internationalen Mainstream der keynesianischneoklassischen Synthese angeschlossen.46 Diese These ist in der Forschung bislang noch nicht systematisch und in größerer zeitlicher Perspektive nachgeprüft worden. Weder Bergers Studie noch die einschlägigen dogmengeschichtlichen Untersuchungen gehen über die fünfziger Jahre hinaus.47 Die vorliegende Arbeit bricht diese zeitliche Begrenzung auf und nimmt die Entwicklung von der Gründung der Bundesrepublik bis Mitte der siebziger Jahre in den Blick – jene Jahrzehnte also, für die sich in der internationalen Forschung der Epochenbegriff des »Golden Age« eingebürgert hat.48 Durch die Erweiterung der zeitlichen Perspektive werden die Transformationen und Umbrüche der bundesdeutschen Nachkriegsära überhaupt erst erkennbar. Zudem verweist der Begriff des »Golden Age« auf länderübergreifende Erfahrungen und Entwicklungen. Für die meisten Industriestaaten handelte es sich um eine Periode hoher Wachstumsraten, andauernder Vollbeschäftigung und exzeptioneller Prosperität. Fast überall übernahm der Staat die Aufgabe, wirtschaftliches Wachstum und soziale Stabilität durch Eingriffe in das Marktgeschehen zu sichern. Diese internationalen Entwicklungen gilt es zu berücksichten, denn die Bundesrepublik agierte gerade auf dem Feld der Wirtschaftspolitik nach 1945 nicht mehr autonom, sondern war in ein enges Netz internationaler Organisationen, Verträge und Austauschbeziehungen eingebunden.49 Allerdings zwingt eine solche zeitliche Erweiterung, Schwerpunkte in bestimmten Bereichen zu setzten, während viele Fragen nur kursorisch behandelt werden können. So kann die Geschichte der Volkswirtschaftslehre nicht in ihrer Gesamtheit rekonstruiert werden. Vielmehr wird vor allem die Entwicklung der Wachstums- und Konjunkturtheorie sowie der empirischen Wirtschaftsforschung und Statistik nachgezeichnet, welche für die Fragestellungen der vorliegenden Studie besonders relevant sind. In der Darstellung der Wirtschaftspolitik wird die inzwischen gut erforschte Gründungszeit der Bundesrepublik nur am Rande berücksichtigt. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die »langen sechziger Jahre«, die inzwischen als eigenständige Teilepoche der bundesdeutschen Geschichte angesehen werden.50 Die Entwicklung der frühen siebziger Jahre wird nur in Form eines Ausblicks behandelt, da die 46 Berger, S. 28–33; vgl. auch Scheide; Altmann, Planung, S. 35–37. 47 Vgl. als nach wie vor beste deutschsprachige Gesamtdarstellung Stavenhagen sowie Pribram. 48 Marglin/Schor; außerdem: Crafts; Hobsbawm. 49 Buchheim, Wiedereingliederung; zur internationalen Vernetzung der Wirtschaftswissenschaften vgl. Coats, Economists in International Agencies; ders., Post-1945 Internationalization. 50 Vgl. K. D. Bracher, Die Bewährung der Zweiten Republik (Einleitung), in: Hildebrand, S. 7–16, hier 16; Erker, S. 220; Schildt, Nachkriegszeit; Schönhoven, Aufbruch, S. 128; Metzler, Breite Straßen, S. 247ff.

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einschlägigen Archivquellen in der Phase der Materialsammlung für diese Arbeit noch nicht zugänglich waren. Die Arbeit stützt sich auf ein breites Korpus an veröffentlichten und archivalischen Quellen. Systematisch ausgewertet wurden die bislang noch nicht geordneten Bestände der Bundesministerien für Wirtschaft und für Finanzen.51 Ihre Bearbeitung hat sich infolge der chaotischen Originalregistraturen als außerordentlich langwierig herausgestellt. Verbleibende Lücken konnten durch die Akten des Kanzleramtes (v.a. der Referate für Wirtschafts- und Finanzpolitik) sowie durch Bestände anderer Ministerien geschlossen werden. Als recht ergiebig erwiesen sich ebenfalls die zahlreichen Nachlässe von Politkern, Wissenschaftlern und Verwaltungsfachleuten. Systematisch ausgewertet wurden ferner die historischen Archive der großen Parteien sowie der Deutschen Bundesbank. Publizierte Quellen stellen die zweite wichtige Informationsgrundlage dar. Außer den einschlägigen Quelleneditionen (z.B. die Kabinettsprotokolle der Bundesregierungen, Bundestagsprotokolle usw.) wurde vor allem die wirtschaftswissenschaftliche Literatur konsultiert, und zwar hierbei nicht nur die einschlägigen Fachorgane und wissenschaftlichen Monographien, sondern auch die umfangreiche, häufig zwischen wissenschaftlicher Analyse und politischer Bewertung stehende »graue« Literatur. Die Studie gliedert sich in vier systematisch angelegte Teile. Auf eine strikt chronologische Darstellung wurde angesichts wechselnder Perspektiven und Interpretationslinien bewusst verzichtet. Der erste Teil folgt einem wissenschaftshistorischen Zugriff. Zunächst werden in einem Überblick die tiefgreifenden Veränderungen der deutschen Nationalökonomie zwischen Historischer Schule, Ordoliberalismus und neoklassisch-keynesianischer Volkswirtschaftslehre dargestellt. Dafür sind historische Rückblicke bis in die zwanziger Jahre erforderlich, um Kontinuitäten und Brüche über die Systemwechsel von 1933 und 1945/49 hinweg zu ergründen. Hierauf aufbauend werden die Schwerpunkte und theoretischen Auseinandersetzungen des Faches in den fünfziger und sechziger Jahren herausgearbeitet. Spielte im Nachklang der keynesianischen Debatten und der Depression der dreißiger Jahre die Konjunkturtheorie eine wichtige Rolle, avancierte die Wachstumsforschung zur eigentlichen Königsdisziplin der bundesdeutschen Volkswirtschaftslehre. In diesem Kontext wird es auch darum gehen, den erfahrungsgeschichtlichen Hintergrund von wissenschaftlichen Diskussionen und Forschungsschwerpunkten herauszuarbeiten. Welche Rolle spielten etwa die historische Erinnerung und diskursive Verarbeitung der Weltwirtschaftskrise für die Entwicklung der Wirtschaftstheorie? Welche internationalen Einflüsse, etwa der angloamerikanischen New Economics, lassen sich nachweisen? Wie hat sich das Bild des Staates als eines wirtschaftspolitischen Akteurs verändert? 51 Bei der Zitierung der Aktenstücke musste z.T. die vorläufige Numerierung des Bundesarchivs verwendet werden.

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Der zweite Teil leuchtet die Schnittstellen und Übergänge zwischen wissenschaftlicher Theorie und praktischer Anwendung aus. Wie hat sich das Selbstverständnis der Volkswirtschaftslehre im Spannungsfeld von akademischer Forschung und wirtschaftspolitischer Beratung verändert? Die komplizierte Institutionalisierung der Politikberatung seit den fünfziger Jahren wird in diesem Teil ebenso nachgezeichnet wie die engen, vielfach aber auch konfliktreichen Beziehungen zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik. Dabei wird zu fragen sein, welche Rolle ältere, vor allem in der Weimarer Republik geprägte Traditionen spielten. Welche Beratungsmodelle existierten, und wie ließen sich diese mit den korporatistischen Vorstellungen vereinbaren, welche die wirtschaftspolitische Beratung und Entscheidungsfindung in Deutschland traditionell stark prägten? Schließlich wird auch der Einfluss des angloamerikanischen policy counseling zu untersuchen sein. Der dritte Teil nimmt internationale Transfer- und Perzeptionsvorgänge in den Blick, die für die Entwicklung der Bundesrepublik von großer Bedeutung waren. Der weltweite Siegeszug der angloamerikanischen Wirtschaftstheorie prägte auch die disziplinäre Neuorientierung der westdeutschen Volkswirtschaftslehre nach 1945. Ob es sich hierbei lediglich um einen Prozess der »Amerikanisierung« handelt, ist indes zweifelhaft.52 Mindestens ebenso wichtig war der Einfluss der europäischen Integration auf das wirtschaftspolitische Denken und Handeln seit den späten fünfziger Jahren. In diesem Zusammenhang soll auf ein frühes, heute längst vergessenes Projekt eingegangen werden, das auf eine deutsche Initiative zurückging: die Errichtung eines »Europäischen Konjunkturboards«. Diese und andere, v. a. von der EWG-Kommission unter Leitung des früheren französischen Planungskommissars Marjolin verfolgten Projekte wurden zwar nicht oder doch nur unvollständig realisiert, prägten jedoch die wirtschaftspolitischen Debatten in der Bundesrepublik maßgeblich. Für die Etablierung der Wachstums- und Konjunkturpolitik in den sechziger Jahren war ein zweites »externes« Moment konstitutiv: die Systemkonkurrenz mit dem sowjetischen Kommunismus, die zwar auch in anderen westlichen Ländern spürbar war, jedoch in der Bundesrepublik infolge der deutschen Teilung eine besonders starke Wirkung entfaltete. Wachstumsforschung und Wachstumspolitik, so die zentrale These dieses Abschnitts, erhielten durch das Konkurrenzverhältnis zur DDR wichtige Impulse. Der vierte und umfangreichste Teil der Arbeit befasst sich mit der politischen Umsetzung der Wachstums- und Stabilitätspolitik in den langen sechziger Jahren. Während die Forschung bislang davon ausgegangen ist, dass die Idee einer aktiven staatlichen Konjunktur- und Wachstumssteuerung erst mit der Bildung der Großen Koalition 1966/67 zum Tragen kam, wird hier die These 52 Zu Begriff und Konzeptionalisierung vgl. Berghahn, Americanisation; Lüdke u.a.; De Grazia; Doering-Manteuffel; Gassert.

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vertreten, dass sich bereits Mitte der fünfziger Jahren ein breiter politischer Konsens über die Notwendigkeit einer solchen Politik formierte. Die Zäsur bildete die so genannte »Gürzenich-Affäre« im Jahre 1956, die nicht nur die erste Regierungskrise der Adenauerzeit auslöste, sondern auch den Beginn einer wirtschaftspolitischen Neuorientierung markierte. Um 1956 war nicht nur die Wiederaufbauphase der westdeutschen Wirtschaft so gut wie abgeschlossen, auch die großen wirtschafts- und sozialpolitischen Reformwerke (Rentenreform, sozialer Wohnungsbau, Wettbewerbsgesetz, Lastenausgleich usw.) waren vollendet. Im Bewusstsein der Zeitgenossen begann eine »zweite Phase« der Sozialen Marktwirtschaft, in der neue wirtschaftspolitische Instrumente und Konzepte zum Durchbruch gelangten.53 Spätestens seit dem Godesberger Programm der SPD 1959 konvergierten die wirtschaftspolitischen Konzepte der großen Volksparteien und ermöglichten jene modernisierungspolitische Wende, die mit den Reformen der Großen Koalition ihren Abschluss fand. Planungsdenken und technokratischer Habitus sowie ein ungebrochener Fortschrittsoptimismus prägten die Politik. Die bundesdeutsche »Expansivgesellschaft«54 gewann nun ihre spezifischen Konturen. Freilich stieß das keynesianisch inspirierte Planungsdenken schon in den frühen siebziger Jahren sichtbar an seine Grenzen und wurde durch den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, die Ölpreiskrise von 1973/74 und die daraufhin einsetzende »Stagflation« nachhaltig diskreditiert. In diesem weitgehend chronologisch angelegten Teil werden das komplizierte Zusammenspiel von wissenschaftlichen Beratungsgremien, wirtschaftlichen Verbänden, Parteien und Regierungsvertretern analysiert, politische Entscheidungsprozesse rekonstruiert, und es wird nach den Wirkungen und Erfolgen der staatlichen Wachstums- und Konjunkturpolitik gefragt. Besonderes Augenmerk gilt der Genese des 1967 verabschiedeten Wachstums- und Stabilitätsgesetzes, das als »New Deal der Wirtschafts- und Finanzpolitik« gefeiert wurde.55 Warum scheiterte dieses Gesetz in der politischen Praxis, obgleich es ein umfassendes Instrumentarium makroökonomischer Planung und Steuerung vorsah, das international ohne Vorbild war? Wenn, wie hier argumentiert wird, die Neubestimmung moderner Staatlichkeit in den »langen« sechziger Jahren auf die Dynamisierung von Verwissenschaftlichungsprozessen zurückzuführen ist, dann stellt sich die Frage, ob auch der Umkehrschluss gilt. Markierte die Krise staatlicher Steuerungsfähigkeit in siebziger Jahren auch eine erste Krise der modernen Wissensgesellschaft? Und wie veränderte sich dadurch das Verhältnis von Wissenschaft, 53 Müller-Armack, Zweite Phase; vgl. auch H. Tietmeyer, Konzertierte Aktion. Konzept, Praxis und Erfahrungen, Vortrag im Seminar für angewandte Wirtschaftslehre der Univ. Bochum, 17.1.1969 (BAK, B 102/93253). 54 Schiller, Konjunkturpolitik, S. 4. 55 Stern, S. 7f.

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Politik und Gesellschaft? Diese Fragen verweisen auf den tiefgreifenden Wandel, der sich in den siebziger Jahren im Übergang von der klassischen Industriegesellschaft zur »zweiten Moderne« vollzogen hat. Sie zeigen zugleich, dass die Geschichte des ökonomischen Wissens nur im Kontext gesellschaftlicher Transformationen und kultureller Umbrüche zu verstehen ist.

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Erster Teil: Laboratorien der Wirtschaft

»Die Ökonomen sind Wahrsager unseres Zeitalters, so wie die Psychiater die modernen Dämonenvertreiber sind.«1

I. Nationalökonomie auf neuen Wegen »In einer Zeit, in der das Abendland in seinen Grundfesten erschüttert ist, schicken sich unsere Hohen Schulen an zum Neu- und Wiederaufbau wissenschaftlicher Forschung und Lehre. … Die notwendige Kontinuität von Forschung und Lehre ist durch den Krieg in einer bisher ungekannten Weise zerrissen worden. Die Brücken, die die deutsche Wissenschaft mit dem Ausland verbanden, sind zerbrochen. Wir befinden uns in einem Zustand geistiger Verarmung, wie er bisher in der Geschichte unseres Volkes niemals bestanden hat«. Mit diesen Worten umschrieb der Wirtschaftswissenschaftler Erich Schneider die Lage seines Faches anlässlich seiner Antrittsvorlesung an der Universität Kiel im Januar 1946.2 Trotz ihres düsteren Untertons waren diese Äußerungen keineswegs pessimistisch gemeint. Vielmehr erkannte Schneider die Chance, die Nationalökonomie in Deutschland neu aufzubauen, nachdem sie durch den Nationalsozialismus diskreditiert und durch die erzwungene Emigration zahlreicher Wissenschaftler ins Mittelmaß abgeglitten war. Die »geistige Verarmung« war für Schneider freilich nicht allein Folge der nationalsozialistischen Herrschaft, sondern hatte tiefere Ursachen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichten: die Dominanz der Historischen Schule, die dazu geführt habe, dass »die deutschen Wirtschaftswissenschaften in verhängnisvoller Weise für mehr als drei Jahrzehnte aus dem überall in der Welt sich machtvoll entfaltenden Strom theoretischen Denkens herausgerissen« worden seien. Das modelltheoretische Denken der Neoklassik, das die Ökonomie seit der Jahrhundertwende in den angelsächsischen, aber auch in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern prägte, habe in Deutschland nie recht Fuß fassen können. Ähnliches gelte für die seit dem Ersten Weltkrieg entwickelten 1 Rebecca West, zit. n. Schiller, Ökonom, S. 11. 2 Schneider, Wirtschaftstheorie, S. 3.

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Ansätze der empirischen Wirtschaftsforschung, der Konjunkturtheorie und der Ökonometrie. Die historische Nationalökonomie Deutschlands sei, so Schneider, mit ihrem naiven Empirismus an diesen »Pionierleistungen achtlos vorübergegangen« und habe sich statt dessen mit »allerlei Nebendingen« beschäftigt.3 Die polemische Schärfe, mit der Schneider über die akademischen Traditionen und wissenschaftlichen Leistungen des eigenen Faches urteilte, spiegelte auch persönliche Enttäuschungen wider. Schneider hatte nach dem Studium der Physik, Mathematik und Ökonomie in Frankfurt über ein geldtheoretisches Thema promoviert.4 1932 habilitierte er sich bei Joseph Schumpeter in Bonn mit einer Studie über die Monopoltheorie,5 doch gelang es ihm nicht, eine Professur in Deutschland zu erhalten. Erst nach langjähriger Tätigkeit im Schuldienst erhielt er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Århus, wo er gemeinsam mit dem dänischen Ökonomen Jørgen Pedersen die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät aufbaute. Dort konnte er für seine weitere Laufbahn wichtige Kontakte zu amerikanischen, englischen und skandinavischen Forschern knüpfen.6 Im Winter 1945/46 folgte er einem Ruf nach Kiel und widmete sich mit großer Energie dem Neuaufbau der westdeutschen Wirtschaftswissenschaft. Dabei ging es ihm nicht nur um die theoretische Orientierung des Faches, sondern auch um die Entwicklung moderner Lehrcurricula, die sich an internationalen Standards orientieren sollten. Schneider gehörte zu der kleinen Gruppe von emigrierten Ökonomen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Ausland zurückgekehrt war und die Entwicklung der bundesdeutschen Wirtschaftswissenschaften maßgeblich prägte. Allerdings muss die Frage gestellt werden, ob das von Schneider gezeichnete Bild einer brachliegenden und orientierungslosen Disziplin der Situation an den westdeutschen Universitäten entsprach. Was bedeutete die Zäsur des Jahres 1945 für die Entwicklung der Nationalökonomie? Welche älteren Traditionen wirkten fort, und wie beeinflussten sie den Neuaufbau des Faches nach dem Zweiten Weltkrieg? In welcher wechselseitigen Beziehung standen die Historische Schule der Nationalökonomie, der Ordoliberalismus Freiburger Prägung sowie die neoklassischen und keynesianischen Ansätze der anglo-amerikanischen Welt? Diesen Fragen soll im Folgenden, mit kurzen Rückblicken in die zwanziger und dreißiger Jahre, nachgegangen werden.

3 Ebd., S. 18. 4 Die Dissertation wurde nicht gedruckt: Schneider, Kalkül; zu Schneider vgl. Bombach, Schneider; Schäfer, Schneider. 5 Schneider, Theorie. 6 Vogt, S. 18f.

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1. Der lange Schatten der Historischen Schule Obgleich die Historische Schule der Nationalökonomie spätestens mit dem Tod von Gustav von Schmoller im Jahre 1917 ihren Zenit überschritten hatte, war ihre Wirkung noch über Jahrzehnte hinweg zu spüren.7 Führende Ökonomen der zwanziger und dreißiger Jahre wie Werner Sombart oder Arthur Spiethoff fühlten sich weiterhin dieser Tradition verpflichtet. Sombart gehörte zu den prominentesten Wissenschaftlern der Weimarer Republik, sein Hauptwerk »Der moderne Kapitalismus« wurde in den zwanziger Jahren mehrfach aufgelegt und war in dieser Zeit das meistgelesene ökonomische Fachbuch.8 Ganz in der Tradition seines akademischen Lehrers Schmoller versuchte Sombart, wirtschaftliche Entwicklungen durch kulturelle Faktoren wie Religion oder Bildung zu erklären. Dennoch verstand er die Nationalökonomie nicht als theorielose, empirische Wissenschaft. Vielmehr ließen sich seiner Auffassung nach historische Darstellung und theoretisch-systematische Betrachtungsweise miteinander verbinden. Durch die Bestimmung typischer Elemente hoffte Sombart, systematische Erkenntnisse über spezifische »Wirtschaftsstile« und »Wirtschaftssysteme« zu erhalten, um auf diese Weise die empirisch-deskriptive Stufentheorie Schmollers zu überwinden.9 Das auf Max Weber zurückgehende Konzept des »Wirtschaftsstils« besaß in den zwanziger Jahren großen Einfluss10 und wurde auch von Arthur Spiethoff übernommen, der 1933 versuchte, eine »allgemeine Volkswirtschaftslehre als geschichtliche Theorie« zu begründen.11 Der Wirtschaftsstil einer Epoche ließ sich für Spiethoff nach fünf Merkmalen – Wirtschaftsgeist, natürliche und technische Grundlagen, Gesellschaftsordnung, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftslauf – bestimmen. Dieser Ansatz prägte auch Spiethoffs Konjunkturtheorie, die seit Mitte der zwanziger Jahre im Zentrum seiner Forschungstätigkeit stand. So deutete er konjunkturelle »Wechsellagen« als typische Erscheinung des kapitalistischen Wirtschaftsstils.12 Die Ursachen dieser Bewegungen ließen sich nach seiner Auffassung nicht modellanalytisch, sondern nur aus einer möglichst konkreten Darstellung der wirtschaftlichen Vorgänge ableiten. Trotz dieses Bekenntnisses zur historischen Methode bemühte sich Spiethoff durchaus um eine allgemeine Erklärung der konjunkturellen Schwankungen, die für ihn überwiegend realwirtschaftlicher Natur waren. Stockungen und Krisen ließen sich vor allem auf zu hohe Sachkapitalanlagen 7 8 9 10 11 12

Vgl. Schefold, Nachklang. Sombart, Kapitalismus; vgl. zu Sombart Lenger. Vgl. Sombart, Ordnung, S. 14–20. Vgl. Kaufhold. Spiethoff, Volkswirtschaftslehre; vgl. dazu auch Clausing. Spiethoff, Beiträge; ders., Wechsellagen.

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zurückführen, die wiederum Bestandteil des wirtschaftlichen Austausches waren. Spiethoff hat als einer der Begründer der nicht-monetären Überinvestitionstheorie auch im Ausland Anerkennung gefunden. Insbesondere verhalf er der Idee einer »anschaulichen Theorie« zum Durchbruch. Mit ihr versuchte eine Gruppe von Nationalökonomen in den zwanziger Jahren, die Historische Schule zu erneuern und an theoretische Fragestellungen heranzuführen, ohne dabei die Prämissen der klassischen und neoklassischen Theorie zu übernehmen.13 Sombarts und Spiethoffs Bemühungen, die historische Methode mit der modernen Wirtschaftstheorie zu verbinden, war langfristig kein Erfolg beschieden. Dennoch gab es nach 1945 zahlreiche Versuche, wieder an das wissenschaftliche Programm der Historischen Schule anzuknüpfen. Spiethoff selbst hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg noch mehrfach für eine Wiederbelebung dieser Tradition eingesetzt.14 Eine wichtige Rolle spielte ferner der Historiker und Ökonom Carl Brinkmann, wie Spiethoff ein Schüler Schmollers. Der 1885 geborene Brinkmann publizierte bis in die dreißiger Jahre überwiegend historische Arbeiten zur preußischen Agrar- und Handelsgeschichte, zur Verfassungsgeschichte sowie zur politischen Geschichte Englands und der Vereinigten Staaten.15 Schon vor dem Krieg hatte er sich für eine »sozialökonomische Synthese« stark gemacht, welche soziologische, historische und ökonomische Ansätze miteinander verknüpfen sollte.16 Eine rein theoretische Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge betrachtete er als wirklichkeitsfremd, vielmehr müsse die historische Entwicklung als »Kontrollinstanz« berücksichtigt werden.17 Allerdings lehnte auch er eine historische Darstellung ohne theoretische Fundierung ab. Nach dem Krieg, als er 1947 mit 62 Jahren einem Ruf an die Universität Tübingen folgte, setzte sich Brinkmann noch einmal für eine Integration von Geschichte, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften ein.18 Seine Tübinger Antrittsvorlesung »Nationalökonomie als Sozialwissenschaft« war ein wortgewaltiges Plädoyer gegen die zunehmende Spezialisierung und methodische Abschottung der einzelnen Disziplinen.19 Dies hieß freilich nicht, dass Brinkmann auf den ontologischen Wirtschaftsbegriff der universalistischen Schule um Othmar Spann und Friedrich von

13 Ders., Theorie; vgl. zur Wirkungsgeschichte Stavenhagen, S. 200f. und Rieter, S. 154f. 14 Spiethoff, Wechsellagen (vgl. v.a. das Vorwort, S. 11–16). 15 Brinkmann, Wustrau; ders., Freiheit; ders., Handelspolitik; ders., Geschichte; ders., Englische Geschichte. 16 Ders., Problem. 17 Ders., Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 18 Brinkmann hatte seit 1923 in Heidelberg gelehrt und 1942 eine Professur an der Berliner Universität erhalten; vgl. die biographischen Skizzen von Weippert, Brinkmann; Beckerath, Lynkeus, S. 52–64. 19 Brinkmann, Nationalökonomie.

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Gottl-Ottlilienfeld rekurrierte.20 Eher handelte es sich um ein heterodoxes Theorieverständnis, mit dem er verschiedene Schulen und Richtungen zu verbinden suchte. Diesen Anspruch hat Brinkmann noch einmal mit Nachdruck in seiner 1948 erschienenen »Wirtschaftstheorie« formuliert, einem Buch, das von einem kritischen Rezensenten als »devil’s brew of sociology, history, philosophy, Austrian, Swedish, British and American theory« bezeichnet wurde.21 Tatsächlich führte die summarische und unsystematische Aneinanderreihung unterschiedlicher Methoden und Theorien vor Augen, dass Brinkmanns »sozialökonomische Synthese« kein tragfähiges Konzept darstellte. So geriet das Werk nach Brinkmanns Tod im Jahre 1954 schnell in Vergessenheit. Doch Brinkmann war nicht der einzige, der nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Wiederbelebung historischer und soziologischer Ansätze in den Wirtschaftswissenschaften plädierte. Otto von Zwiedineck-Südenhorsts »Allgemeine Volkswirtschaftslehre«, die 1948 in zweiter, überarbeiteter Auflage erschien, muss in diesem Zusammenhang ebenso genannt werden wie Georg Weipperts 1953 veröffentlichte Studie über »Werner Sombarts Gestaltidee des Wirtschaftssystems«.22 Es war jedoch vor allem der in Basel lehrende Edgar Salin, der nach 1945 die Kontinuität der historisch-soziologischen Nationalökonomie verkörperte. Salin (Jg. 1892) war Schüler von Max und Alfred Weber und hatte nach dem Ersten Weltkrieg als Assistent von Eberhard Gothein und Mitglied des George-Kreises in Heidelberg gewirkt.23 Seine Interessen reichten von ökonomischen Theorieproblemen bis hin zu literarischen und philosophischen Fragen.24 Mit Spiethoff prägte er in den zwanziger Jahren den Begriff der »anschaulichen Theorie«, die den naiven Historismus Schmollers überwinden, zugleich aber seine geisteswissenschaftlichen Traditionen fortführen sollte. Salin lehrte seit 1927 an der Universität Basel, doch blieb er in Deutschland außerordentlich präsent und zählte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den einflussreichsten Ökonomen im deutschsprachigen Raum. Im Jahre 1947 gründete er die Zeitschrift »Kyklos«, die eine Integration von Sozial- und Wirtschaftswissenschaften anstrebte und sich rasch als eines der führenden Fachorgane etablieren sollte. Salin setzte sich immer wieder für eine Revitalisierung der historisch-verstehenden Methode ein, die er – ähnlich wie Brinkmann – 20 Vgl. schon kritisch ders., Schmoller; ders., Wirtschaftsform. 21 Ders., Wirtschaftstheorie; Rezension des Buches von Emil Kauder in: WWA, Bd. 63, 1949, S. 68. 22 Zwiedineck-Südenhorst; Weippert, Sombarts Gestaltidee; vgl. auch ders., Wirtschaftslehre. 23 Vgl. Schefold, Nationalökonomie. 24 So hatte er bei Alfred Weber 1913 über Probleme der wirtschaftlichen Konzentration promoviert und sich 1920 bei Gotheins mit einer Arbeit über »Platon und die griechische Philosophie« habilitiert.

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mit den Erkenntnissen und Methoden der formalen Wirtschaftstheorie in Einklang bringen wollte.25 »Rationale« und »anschauliche« Theorie standen sich seiner Auffassung nach keineswegs unversöhnlich gegenüber, sondern ergänzten sich gegenseitig. Eine theorieferne Wirtschaftsgeschichte ohne feste »Begriffssysteme« und »Sinndeutungen« werde »notwendig in Empirie, Positivismus, Relativismus entarten«. Die Beschränkung auf bloße theoretische »Modellschreinerei« drohe dagegen an den Problemen der Wirklichkeit vorbeizugehen. Die alleinige Ableitung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus theoretischen Modellen erschien Salin auch aus Relevanzgründen verfehlt, da die »logische Richtigkeit« nichts über die »sachliche Wichtigkeit einer Theorie« aussage. 26 Das Bestreben, die Tradition der Historischen Schule im modernisierten Gewand der »anschaulichen Theorie« in die westdeutsche Volkswirtschaftslehre zu integrieren, schien Anfang der fünfziger Jahre keineswegs unmöglich. Zahlreiche Lehrstühle und Professuren waren zu diesem Zeitpunkt noch (oder wieder) mit Ökonomen besetzt, die selbst aus dieser Tradition stammten oder zumindest mit ihr sympathisierten. Zu dieser Gruppe können der in Marburg lehrende Volkswirt Gerhard Albrecht sowie Woldemar Koch und Christian Eckert an der Universität zu Köln gerechnet werden, die alle drei noch bei Schmoller studiert hatten. Weitere Vertreter waren der Frankfurter Finanzwissenschaftler Wilhelm Gerloff, der Wirtschaftshistoriker Heinrich Bechtel an der TH München und der Spiethoff-Schüler Gustav Clausing, der seit 1950 eine Professur in Erlangen bekleidete. Genannt werden müssen schließlich der Kieler Volkswirt und Bevölkerungswissenschaftler Gerhard Mackenroth sowie der in Gießen lehrende Verkehrsexperte Hellmuth Seidenfus. Der historisch-soziologischen Methode standen ferner die in der Bundesrepublik noch zahlreich vertretenen Anhänger einer ontologischen Wirtschaftslehre nahe, etwa der bekannte Finanzwissenschaftler Horst Jecht, der nach dem Krieg in Göttingen, Münster und München wirkte, der Göttinger Professor Erich Egner sowie Joseph Back und Georg Weippert, die beide in Erlangen lehrten. Doch trotz der von vielen weiterhin postulierten Einheit von Nationalökonomie, Geschichte und Soziologie verlor der historische Ansatz in der wissenschaftlichen Praxis rapide an Einfluss. Selbst Ökonomen, die sich grundsätzlich für die Traditionen der Historischen Schule stark machten, gingen in ihrer eigenen Forschungstätigkeit längst andere Wege. Dies galt etwa für Hans Ritschl, Schüler und langjähriger Assistent von Spiethoff, der 1921 über die 25 Vgl. Salin, Wirtschaft; ders., Ökonomie. 26 Ders., Geschichte, S. 195f. Optimistisch hoffte Salin, dass sich die »Rationaltheorie aller Richtungen der Realität nähere« und »selbst die ausgesprochensten Feinde des Historismus nicht umhin [können], in einer neuen Verbindung von Geschichte und Theorie und Statistik, von Volks- und Betriebswirtschaftslehre die Lösung zu suchen«; ebd., S. 168f.

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Wiedertäufer in Münster promoviert hatte, seinen Forschungsschwerpunkt jedoch bald auf das Gebiet der Finanzwissenschaften verlagerte.27 Nach dem Krieg verfasste er eine Reihe von grundsätzlichen Beiträgen zur Wirtschaftstheorie, in denen er die von Weber und Sombart begründeten Stilgedanken zu einer »strukturanalytischen Theorie der Wirtschaftsordnungen« weiterentwickelte. Eine solche Theorie müsse neben »geistigen Prinzipien der Wirtschaftsordnung die Gestaltungsformen der Wirtschaft und Technik« im jeweiligen historischen Kontext berücksichtigen.28 Knüpfte Ritschl damit inhaltlich an die Stilforschung der zwanziger und dreißiger Jahre an, zeugte sein »strukturanalytischer« Zugriff doch von einem gewandelten Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge. In seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit widmete er sich überwiegend aktuellen finanzwissenschaftlichen Problemen. In den fünfziger und sechziger Jahren gehörte Ritschl zu den führenden Steuerexperten der Bundesrepublik und war langjähriges Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfinanzministerium.29 Ritschl (Jg. 1897) gehörte zu einer Generation von Wirtschaftswissenschaftlern, deren wissenschaftliche Sozialisation noch unter dem Einfluss der Historischen Schule erfolgt war, die in ihrer weiteren Forscherlaufbahn jedoch eine Hinwendung zur theoretischen Ökonomie vollzog. Zu dieser Generation zählte auch der Schmoller-Schüler Erwin von Beckerath (Jg. 1889), Professor in Bonn und unumstrittener Doyen der bundesdeutschen Nationalökonomie in den fünfziger Jahren. Bis zu seinem Tod im Jahre 1964 war Beckerath Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium und prägte die Entwicklung des Faches in hohem Maße. Besonders markant erscheint der wissenschaftsbiographische Bruch im Falle Heinz Sauermanns, der in den zwanziger Jahren seine wissenschaftliche Karriere als Schüler von Gottl-Ottlilienfelds mit historisch-soziologischen Arbeiten begonnen hatte. Seit seinem Ruf an die Universität Frankfurt 1945 wandte er sich konsequent der theoretischen Volkswirtschaftslehre zu und veröffentlichte wichtige Beiträge zur Konjunktur-, Geld- und Kapitaltheorie. Sauermann, der 1949/50 eine Gastprofessur an der University of Chicago wahrnahm, dürfte nicht zuletzt durch seine Kontakte mit amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern beeinflusst worden sein.30 Seit Mitte der fünfziger Jahre fristete die Historische Schule mit ihren Nebenlinien nur noch ein Schattendasein.31 Die Wirtschafts- und Sozialge27 Ritschl, Kommune; ders., Theorie. 28 Ders., Grundlagen, S. 151–158; vgl. außerdem ders., Volkswirtschaftslehre. 29 Vgl. u.a. ders., Steuerreform; ders., Besteuerung. 30 Sauermann setzte sich nach 1945 für einen konsequenten Ausbau der Soziologie in Westdeutschland ein. Diese müsse sich nicht nur internationalen Entwicklungen öffnen, sondern solle zugleich die Nähe zu den angrenzenden Disziplinen, insbesondere zur Nationalökonomie suchen; vgl. Sauermann, Gegenwartsaufgaben. 31 Vgl. auch Schefold, Nachklang, S. 43.

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schichte begann sich an vielen Universitäten als eigenständiges Fach zu etablieren, was zu der Enthistorisierung der allgemeinen Volkswirtschaftslehre beitrug. Die im Jahrzehnt zwischen 1945 und 1955 endgültig vollzogene Trennung der Nationalökonomie von den Sozial- und Geisteswissenschaften lässt sich an den Veröffentlichungen der führenden wirtschaftswissenschaftlichen Fachorgane leicht erkennen. Im ersten Nachkriegsband von »Schmollers Jahrbuch« forderte der Herausgeber, Georg Jahn, noch mit Nachdruck einen »Neubeginn im Geiste Schmollers«. Die Volkswirtschaftslehre, so Jahn, müsse »aus der fachlichen Enge, in der sie seit geraumer Zeit geraten ist, wieder herausgeführt und von neuem zu der umfassenden Kulturwissenschaft gemacht werden, als die sie der Historiker, Soziologe, Volkswirt und Politiker Schmoller immer betrachtet hat«.32 Doch diesem Anspruch wurde man in den folgenden Jahren immer weniger gerecht. Zwar publizierte »Schmollers Jahrbuch« neben nationalökonomischen Aufsätzen regelmäßig Beiträge aus den Geistesund Sozialwissenschaften, doch ein übergreifender methodischer Ansatz ließ sich nur noch selten erkennen. Im Gegenteil: Gerade das unverbundene Nebeneinander von Beiträgen verschiedener Fächer führte vor Augen, wie sich die Disziplinen auseinander bewegten. Auch die anderen Fachorgane – die »Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft«, die »Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik« sowie das »Finanzarchiv« – versuchten bei ihrer Neugründung vergeblich, an das integrative Konzept früherer Zeiten anzuknüpfen. Mehr noch als »Schmollers Jahrbuch« vollzogen sie die Wende zur modernen Volkswirtschaftslehre. Ein dezidiert ökonomisches Profil entwickelten auch die nach dem Krieg neu gegründeten Zeitschriften »Ordo« (seit 1948) und »Konjunkturpolitik« (seit 1954), während das 1950 ins Leben gerufene »Jahrbuch für Sozialwissenschaft« unter der Herausgeberschaft von Carl Brinkmann, Andreas Predöhl und Reinhard Schaeder eine Verbindung von Wirtschafts- und Sozialwissenschaften anstrebte. Dabei stand allerdings eher Schumpeter als Schmoller Pate. Den Herausgebern des »Jahrbuchs« ging es in erster Linie um eine Einbindung der Soziologie in die moderne Wirtschaftstheorie, während die Wirtschaftsgeschichte ausdrücklich ausgeschlossen blieb.33 Die von Edgar Salin begründete Zeitschrift »Kyklos« trat mit dem Anspruch auf, der Spezialisierung und Zersplitterung der Disziplinen entgegenzutreten. Alle Fächer und Schulen, die sich mit dem »Phänomen Wirtschaft« befassten, sollten nach Auffassung Salins Berücksichtigung finden.34 Zugleich war Salin bestrebt, die Zeitschrift zu einem internationalen Diskussionsforum zu machen, indem er renommierte Forscher aus dem Ausland in den Herausgeberkreis aufnahm und regelmäßig fremdsprachige Beiträge abdrucken ließ. So entwickelte sich 32 Jahn, S. 2. 33 Vgl. Predöhl, Jahrbuch. 34 Salin, Einführung.

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»Kyklos« rasch zur einer der führenden Fachzeitschriften im deutschsprachigen Raum, die auch im Ausland hohes Ansehen genoss.35 Freilich verhinderte gerade die konsequente internationale Öffnung, dass das von Salin angestrebte »Zusammenwirken aller Wissenschaftszweige« Bestand haben konnte.36 Es dominierten volkswirtschaftliche Beiträge neoklassischer, postkeynesianischer und heterodoxer Ökonomen, während Geistes- und Sozialwissenschaftler hier immer seltener publizierten.

2. Denken in Ordnungen. Die Freiburger Schule und der Ordoliberalismus Die methodische Ambivalenz, welche die deutsche Nationalökonomie zwischen Weimarer Republik und früher Bundesrepublik kennzeichnete, prägte auch die Werke der ordoliberalen Richtung, die sich seit Ende der zwanziger Jahre in Freiburg um Walter Eucken, Franz Böhm und Hans GroßmannDoerth zu etablieren begann. Es kann hier weder das wissenschaftliche Programm der Freiburger Schule noch ihre Bedeutung für die Wirtschaftspolitik der frühen Bundesrepublik dargestellt werden.37 Vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, welchen Stellenwert diese Richtung für die Entwicklung des Faches im Übergang von einer »verstehenden Nationalökonomie« älteren Typs zu einer modernen Wirtschaftstheorie besaß. Unter den Vertretern der Freiburger Schule ragte Walter Eucken (Jg. 1891) weit heraus. Mehr als seine Mitstreiter hat er sich um eine umfassende theoretische Fundierung des Ordoliberalismus bemüht und diesen mit einem konzisen wirtschaftspolitischen Programm verknüpft. Während Euckens persönlicher Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik begrenzt blieb – er hatte nie ein politisches Amt inne und verstarb schon 1950 – gehört sein wissenschaftliches Werk bis heute zu den wichtigsten Beiträgen der deutschen Nationalökonomie im 20. Jahrhundert.38 Eucken ist für den hier diskutierten Zusammenhang auch deshalb so interessant, weil sein wissenschaftliches Werk sichtlich aus den Traditionen der Historischen Schule erwachsen ist, zugleich aber entschieden zu ihrer endgültigen Überwindung beitrug.39 Nach seiner Promotion bei Hermann Schumacher in Bonn über »Die Verbandsbil35 Hagemann, Journals, S. 50f. 36 Salin, Einführung, S. 1. 37 Vgl. zum theoretischen und ideengeschichtlichen Hintergrund: Blumenberg-Lampe, Programm; Goldschmidt; Haselbach; Tribe; Heinemann; zum Einfluss auf die Wirtschaftspolitik: Motelli; Blum; Ambrosius, Durchsetzung; Peacock/Willgerodt; Rieter/Schmolz; Nicholls. 38 Vgl. Jöhr, Lebenswerk; Welter; Lenel, Eucken. 39 Vgl. Lane, S. 28–39.

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dung in der deutschen Schiffahrt« hatte sich Eucken 1921 in Berlin mit einer Studie über die internationale Stickstoffproduktion habilitiert.40 Beide Arbeiten waren trotz ihres Gegenwartsbezuges der historisch-soziologischen Methode alter Prägung verpflichtet, doch Euckens weitere Forschungen deuteten in eine andere Richtung. Bereits 1923 legte er eine kleine Studie vor, in der er sich kritisch mit der Zahlungsbilanztheorie der Inflation auseinandersetzte, mit der er zugleich aber auch einen Beitrag zur aktuellen politischen Diskussion leisten wollte.41 Die Hyperinflation in Deutschland war nach Eucken nicht auf die Reparationen zurückzuführen, sondern auf die öffentlichen Haushaltsdefizite und die verfehlte Geldpolitik der Reichsbank. Bereits hier machten sich der Einfluss des neoklassischen Theorieansatzes sowie Euckens Präferenz für eine liberale Wirtschaftsverfassung bemerkbar. Zweifellos wurde der Ökonom, der 1927 einem Ruf an die Universität Freiburg folgte, durch die Ideen der österreichischen Schule – und insbesondere durch Ludwig von Mises und Friedrich A. von Hayek – beeinflusst. Allerdings entfernte sich Euckens später entwickeltes Konzept der Ordnungspolitik von der klassischen liberalen Idee einer Selbststeuerung der Märkte. Vielmehr traten nun die institutionellen Grundlagen wirtschaftlichen Handelns stärker in den Vordergrund. Dabei war dem Staat die zentrale Rolle zugedacht, wettbewerbsfeindliche Konzentrationsprozesse zu verhindern und der Vermachtungsdynamik von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden Einhalt zu gebieten. Es gehört zu der bereits angesprochenen Ambivalenz des Ordoliberalismus, dass er einerseits eine dezidiert ahistorische Position einnahm, andererseits aber mit der Betonung rechtlicher, politischer und sozialer Institutionen analytisch an die Tradition der Historischen Schule anknüpfte.42 In der Tat hat Eucken in seinen theoretischen Studien – etwa in dem einflussreichen Lehrbuch über die »Grundlagen der Nationalökonomie« von 193943 – immer wieder auf historische Beobachtungen rekurriert, um bestimmte, allgemeingültige Zusammenhänge wirtschaftlichen und sozialen Handelns zu illustrieren. Es ging ihm, wie er mehrfach betonte, nicht um eine Enthistorisierung der Nationalökonomie, sondern um eine Verbindung von »geschichtlicher Erfahrung mit theoretisch-rationaler Analyse«.44 Damit distanzierte er sich methodisch gleichermaßen von den Ansätzen der klassischen Nationalökonomie und der Historischen Schule. Letztere habe den Fehler begangen, über die Historisierung ökonomischer Phänomene einem naiven Empirismus zu verfallen, ohne ökonomische Zusammenhänge wirklich zu begreifen. Überdies störte Eucken die Verbindung von deterministischem Entwicklungsdenken 40 41 42 43 44

Eucken, Verbandsbildung; ders., Stickstoffversorgung. Ders., Betrachtungen. Vgl. auch Yamawaki. Eucken, Grundlagen. Ders., Überwindung, S. 86; vgl. auch ders., Wissenschaft.

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und historischem Relativismus, welche er auf den Einfluss der Marx’schen Lehre, der neukantianischen Philosophie Wilhelm Diltheys, der Spekulationen Friedrich Nietzsches und Oswald Spenglers sowie der Wissenssoziologie Karl Mannheims zurückführte.45 Schließlich bescheinigte er der Historischen Schule einen inneren Widerspruch. Sie erhebe einerseits Relativität und Zeitbedingtheit zum epistemologischen Prinzip, andererseits wende sie dieses Prinzip nicht auf sich selbst an. Der Glaube an die historische Singularität und Unabänderlichkeit sei dafür verantwortlich, dass sich viele Wissenschaftler in Deutschland vor den praktischen Aufgaben der Wirtschaftsgestaltung scheuten. Der »Kultus des Faktischen« führe dazu, dass die Ökonomen »die wirtschaftspolitischen Geschehnisse nur mit Begleitmusik umrahmen, sich aber nicht zutrauen, sie gestalten zu helfen«.46 Auf der anderen Seite lehnte Eucken die abstrakten Modellanalysen der modernen Wirtschaftstheorie als wirklichkeitsfremd ab. Viele dieser Modelle seien nichts anderes als »l’art pour l’art«, ihnen fehle die Dimension der »wissenschaftlichen Erfahrung«.47 So könne man Wirtschaftstheorien oft nicht zur Erklärung konkreter ökonomischer Probleme wie etwa der Weltwirtschaftskrise heranziehen, weil sie sich auf unrealistische Annahmen stützten. Es habe wenig Sinn, ein Modell mit vollständiger Konkurrenz auf allen Märkten zu konstruieren, wenn in Wirklichkeit ganz andere Marktformen, etwa Monopolmärkte, existierten. Eine moderne Nationalökonomie müsse daher nicht nur theorieorientiert sein, sondern sich zugleich um ein »Einbohren in die einzelnen Tatbestände« bemühen.48 Wie aber ließ sich die »große Antinomie« zwischen Historie und Theorie überwinden? Eucken rekurrierte auf Max Webers Begriff des Idealtypus zur Charakterisierung wirtschaftlicher Phänomene. Durch »pointierend hervorgehobene« bzw. »isolierende« Abstraktion »individueller Tatbestände« sollten Idealtypen zur Bestimmung theoretischer Zusammenhänge gebildet werden. Idealtypen waren somit nichts anderes als gedankliche Modelle, die aus der konkreten Wirklichkeit gewonnen wurden und die ihrerseits der Erkenntnis der Wirklichkeit dienen sollten.49 Aus diesen Überlegungen heraus entwickelte Eucken seine morphologische Lehre, mit der er alle Wirtschaftsformen systematisch zu erfassen beanspruchte. Eucken unterschied dabei idealtypisch zwischen zwei »Hauptmodellen«, der zentral geleiteten Wirtschaft und der Verkehrswirtschaft.50 Diese waren wiederum in verschiedene Unterformen gegliedert. So gab es nach der 45 46 47 48 49 50

Ders., Überwindung, S. 67. Ebd., S. 77. Ders., Grundlagen, S. 39f. Ebd., S. 89. Ebd., S. 148. Ebd., S. 96.

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Eucken’schen Morphologie vier Formen der zentral geleiteten Wirtschaft: die totale Zentralverwaltungswirtschaft sowie solche, bei denen es freien Konsumguttausch, freie Konsumwahl oder freie Wahl des Arbeitsplatzes gab. Bei der Verkehrswirtschaft unterschied Eucken gar 25 Varianten, die sich aus der möglichen Kombination von je fünf Marktformen (vollständige Konkurrenz, Teiloligopol, Oligopol, Teilmonopol und Monopol) auf der Angebots- und der Nachfrageseite ergaben. Darüber hinaus ließen sich für die Geldwirtschaft drei »reine« Geldsysteme ableiten. Eucken vertrat die Auffassung, dass sich alle Wirtschaftssysteme in Vergangenheit und Gegenwart nach dieser Morphologie beschreiben ließen, ja dass es überhaupt nicht möglich sei, ein System außerhalb dieser Klassifikation zu finden.51 So wie alle Worte einer Sprache durch die Kombination der immer gleichen Buchstaben des Alphabets geformt würden, so ließen sich sämtliche Wirtschaftsformen nach dieser Morphologie analytisch erfassen. Eucken bestritt nicht, dass es jenseits dieser theoretisch bestimmbaren Ordnung Faktoren gab, die das wirtschaftliche Geschehen beeinflussten, wie etwa Technik, Bildung, menschliche Bedürfnisse, Arbeit sowie die rechtliche und soziale Organisation einer Gesellschaft. Diese zählte er jedoch nicht zu den »ökonomischen Tatsachen«, sondern zu den »Daten«, welche durch die Theorie selbst nicht erfasst werden konnten.52 Die Analyse des »Datenkranzes« müsse der historischen Anschauung überlassen werden, während die Theorie zeigen könne, wie die ökonomischen »Tatsachen« von den »Daten« abhingen. So könne man mit Hilfe der ökonomischen Theorie erklären, inwiefern eine Preisbewegung durch eine bestimmte Markform (z.B. Monopol oder freier Wettbewerb) bestimmt werde, nicht jedoch, warum sich diese Form der institutionellen Ordnung durchgesetzt habe. Euckens Morphologie unterschied sich damit klar von den Stufen- und Stiltheorien, welche die Historische Schule in ihren verschiedenen Ausprägungen entwickelt hatte.53 Dieser Unterschied manifestierte sich nicht nur in der idealtypischen Abstraktion und Modellhaftigkeit seiner Lehre, sondern auch in ihrem zeitlosen, universalen Anspruch. Das von Eucken geforderte »Denken in Ordnungen« richtete sich freilich nicht nur gegen den Historismus, sondern insbesondere auch gegen den dialektischen Materialismus der marxistischen Lehre. Euckens Ordnungsprinzip lag ein normativer Begriff von Wissenschaft zugrunde. Wichtig war für ihn, auf der Basis theoretisch gewonnenen Wissens Handlungsanleitungen zur Lösung aktueller wirtschaftspolitischer Probleme zu gewinnen. Das galt insbesondere für das Grundproblem, eine möglichst konsistente und wettbewerbsintensive Wirtschaftsordnung zu finden. Denn 51 Ebd., S. 97. 52 Ebd., S. 189–197. 53 Jöhr, Lebenswerk.

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die optimale Wirtschaftsordnung entstand weder aus sich selbst heraus noch war sie das unabänderliche Ergebnis eines historischen Entwicklungsprozesses. Vielmehr musste sie gesetzt werden, und hierbei erhielt die Wissenschaft als »ordnende Kraft« eine herausragende Bedeutung. Denn wenn, so Eucken, »das wissenschaftliche Denken sich der ordnungspolitischen Aufgabe entzieht, gibt es keine Potenz, die sie bewältigen kann. Was das bedeutet, wissen wir: Auslieferung an anarchische, politische und wirtschaftliche Machtgruppen, an ihre Funktionäre und Ideologien.«54 Vor allem in seinen 1952 postum erschienenen »Grundsätzen der Wirtschaftspolitik« hat Eucken diesen normativen Anspruch noch einmal formuliert. Die Wissenschaft besaß demnach nicht nur die Aufgabe, klare wirtschaftspolitische Wertungen vorzunehmen, sondern vor allem den institutionellen und rechtlichen Rahmen einer optimalen Wirtschaftsordnung zu bestimmen. Da nach Eucken die Teilordnungen der Wirtschaft in unmittelbarer Beziehungen zur Staats- und Gesellschaftsordnung standen, fiel den Ökonomen eine zentrale Bedeutung zu: »Eine selbständige Währungspolitik oder Agrarpolitik oder Staatsfinanzpolitik sollte es nicht mehr geben. Sie alle sollten nur Teile der Wirtschaftsordnungspolitik sein. Ein neuer Typus des Fachmannes ist im Entstehen und ist notwendig: Er kennt die Tatsachen und Erfahrungen seines Fachgebietes. Aber er sieht alle Fragen im Rahmen des wirtschaftlichen Gesamtprozesses, in der wirtschaftlichen Gesamtordnung und in der Interdependenz der Ordnungen.«55 Auf Euckens Interdependenztheorie wird an anderer Stelle noch eingegangen. Hier soll zunächst die Rolle der übrigen Vertreter der ordoliberalen Schule für die methodische Erneuerung der Wirtschaftswissenschaften seit den dreißiger Jahren beleuchtet werden.56 Zum engeren Kreis der Freiburger Schule können neben Eucken der Agrarökonom Constantin von Dietze, die Juristen Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth sowie die Wirtschaftswissenschaftler Adolf Lampe und Leonhard Miksch gezählt werden. Eine wichtige Rolle spielten ferner Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Alfred Müller-Armack, die zwar nicht zum Freiburger Kreis gehörten, jedoch in enger Verbindung zu ihm standen. Franz Böhm (Jg. 1895), gelernter Jurist, hat die Verbindung von Rechtswissenschaft und Nationalökonomie am konsequentesten verfolgt. Eine solche Verknüpfung war für die nationalökonomische Tradition in Deutschland keineswegs ungewöhnlich. Die Historische Schule hatte der Frage nach den rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns von jeher besonderes Gewicht beigemessen. Doch bereits in seiner 1933 veröffentlichten Freiburger Habilitationsschrift über »Wettbewerb und Monopolkampf« machte Böhm deutlich, dass es ihm um etwas anderes ging: um den 54 Eucken, Grundsätze, S. 342. 55 Ebd., S. 345. 56 Vgl. Rieter/Schmolz.

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Nachweis, dass freie Verkehrswirtschaft eine »Rechtsordnung im positiven verfassungsrechtlichen Sinne« darstelle.57 Böhm, der vor seiner Habilitation als Kartellreferent im Reichswirtschaftsministerium tätig gewesen war, wollte damit nicht nur die politische Bedeutung der Monopolkontrolle unterstreichen. Er verfolgte auch ein wissenschaftstheoretisches Ziel, nämlich »das Lehrgebäude der klassischen Wirtschaftsphilosophie aus der Sprache der Nationalökonomie in die Sprache der Rechtswissenschaft zu übersetzen«.58 Diesen Anspruch hat er in seiner 1937 erschienenen Arbeit »Die Ordnung der Wirtschaft als rechtsschöpferische Aufgabe« weiterverfolgt. Böhm begründete darin das für die weitere Entwicklung in Deutschland so prägende Konzept der Ordnungspolitik, welche die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht als historisch gewachsenes Ensemble betrachtet, sondern als »politische Gesamtentscheidung über die Ordnung des nationalen Wirtschaftslebens«.59 Im Gegensatz zu Böhm fehlte Wilhelm Röpke (Jg. 1899) der juristische Hintergrund, und auch die Betonung des Ordnungsgedanken ist bei ihm deutlich schwächer ausgeprägt. Röpke hatte nach seiner Marburger Habilitation bei Walter Troeltsch im Jahre 1922 rasch Karriere gemacht.60 Nach kurzer Tätigkeit als Berater für Reparationsfragen im Auswärtigen Amt erhielt er mit 24 Jahren eine Professur in Jena. Es folgten ein USA-Aufenthalt mit einem Stipendium der Rockefeller Foundation, Ordinariate in Graz und Marburg, schließlich 1933 die Emigration in die Türkei, nachdem er von den Nationalsozialisten von seiner Marburger Professur aus politischen Gründen vertrieben worden war. 1937 übernahm er einen Lehrstuhl am Institut des Hautes Études Internationales in Genf. In den zwanziger Jahren gehörte Röpke zu den angesehensten Nationalökonomen in Deutschland. Seine zahlreichen Veröffentlichungen umfassten die Kapital- und Konjunkturtheorie, die Außenhandelstheorie und die Wirtschaftspolitik.61 Methodischer Bezugspunkt war für Röpke die neoklassische Theorie, wobei er sich eher der österreichischen als der angelsächsischen Richtung verbunden fühlte. Ähnlich wie Friedrich von Hayek und Ludwig von Mises verfasste er in den zwanziger Jahren wichtige Beiträge zur Konjunkturtheorie, die ihn zu einem gesuchten Berater der Wirtschaftspolitik machten.62 So wurde er 1930 in die »Brauns-Kommission« berufen, die Vorschläge zur Bekämpfung der Depression in Deutschland machen sollte. Doch hier soll zunächst die Frage interessieren, auf welche Weise Röpke in Beziehung zur Freiburger Schule trat und wie sich dies auf seine wissenschaft57 58 59 60 61 62

Böhm, Wettbewerb, S. IX. Ebd. Vgl. das Vorwort in ders., Ordnung, S. XIX. Vgl. Haselbach, S. 162–173. Vgl. ausführlich zu wissenschaftlichem Werk und Biographie Peukert. Röpke, Konjunktur; ders., Krise.

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liche Arbeit auswirkte. Das von Eucken und Böhm proklamierte »Denken in Ordnungen« bot für Röpke zunächst keinen wirklichen Anknüpfungspunkt. In seiner 1937 publizierten »Lehre von der Wirtschaft«, die zahlreiche Auflagen erfuhr, finden sich nur wenige Aussagen, welche an die ordnungspolitischen Konzepte der Freiburger anschließen.63 Noch weniger war Röpke bereit, die modelltheoretischen und quantitativen Methoden aufzugreifen, wie sie sich in den angelsächsischen Ländern in der Zwischenkriegszeit durchzusetzen begannen. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten blieb er meist einer verbalen, qualitativen Analyse von wirtschaftlichen Problemen verhaftet. Seine Nähe zu Eucken und Böhm ergab sich vor allem aus seinen wirtschaftsliberalen Grundüberzeugungen, die in den dreißiger Jahren unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik und des Desasters der sowjetischen Planwirtschaft an Kontur gewannen. Röpke fühlte sich den Ideen der Freiburger eng verbunden und unterstützte sie durch seine publizistische Tätigkeit aus der Schweiz, ohne jedoch selbst zur theoretischen Fundierung dieser Richtung beizutragen. Ohnehin hatte Röpke seit Anfang der vierziger Jahre kaum noch wissenschaftliche Texte veröffentlicht, sondern neben journalistischen Beiträgen zu aktuellen Fragen vor allem geistesgeschichtliche Schriften verfasst. Die neuen theoretischen Entwicklungen waren ihm fremd. Das Wesen der Wirtschaft, so Röpke 1953, müsse man in Zusammenhängen suchen, »die so vertrackt unmathematisch sind, wie ein Liebesbrief oder eine Weihnachtsfeier, in moralischgeistigen Kräften, in Reaktionen und Meinungen, die jenseits der Kurven und Gleichungen liegen, im ewig Unberechenbaren und Unvoraussehbaren«.64 So zog sich Röpke immer weiter aus dem Wissenschaftsbetrieb zurück und wirkte vor allem durch seine publizistischen Aktivitäten. In seiner viel beachteten Trilogie »Civitas Humana«, »Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart« und »Internationale Ordnung« verband sich geschichtsphilosophische Zeitdiagnose mit konservativer Kulturkritik. Röpke warnte vor den Gefahren der modernen Industriegesellschaft, die zu einer »Vermassung« und »Proletarisierung« führen werde, vor denen auch die prosperierende Bundesrepublik nicht gefeit sei.65 Ein ähnlich pessimistischer Grundton kennzeichnete auch Alexander Rüstows »Ortsbestimmung der Gegenwart«, ein dreibändiges Werk, mit dem der Autor (Jg. 1885) eine geschichtssoziologische Totalanalyse der Menschheit anstrebte.66 Wie Röpke befürchtete Rüstow, dass sich soziale Bindungen immer weiter auflösen würden und eine »Atomisierung« der Gesellschaft nicht 63 64 65 66

Ders., Lehre. Ders., Der wissenschaftliche Ort, S. 370. Ders., Gesellschaftskrisis; ders., Civitas Humana; ders., Ordnung. Rüstow, Ortsbestimmung.

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aufzuhalten sei.67 Die Folgen von technischem Fortschritt, Verstädterung und Industrialisierung schienen ihm so bedrohlich, dass er für eine »Vitalpolitik« plädierte, die eine »Wiederverwurzelung« des Menschen etwa durch ländliche Siedlungsmaßnahmen bewirken sollte. Das waren Forderungen, die sich mit dem dynamischen Wandel der Nachkriegsgesellschaft kaum vereinbaren ließen. Tatsächlich war Rüstow – anders als Röpke – kein Ökonom, sondern hatte Klassische Philologie und Philosophie studiert.68 Erst nach dem Ersten Weltkrieg begann er sich unter dem Einfluss Franz Oppenheimers für wirtschaftspolitische Fragen zu interessieren. 1919 trat er als Wissenschaftlicher Referent ins Reichwirtschaftsministerium ein und wurde 1924 Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung beim »Verein deutscher Maschinenbauanstalten«. Rüstows Wendung vom religiösen Sozialismus hin zum Liberalismus führte jedoch erst Anfang der dreißiger Jahre zu einer Annäherung an die Ideen der sich formierenden ordoliberalen Richtung, wobei Röpke, der ihm 1933 eine Professur für Wirtschaftsgeographie und Sozialgeschichte in Istanbul verschafft hatte, eine wichtige Rolle spielte. In seinem wissenschaftlichen Werk hat sich Rüstow, der 1949 Istanbul verließ und Nachfolger von Alfred Weber in Heidelberg wurde, um eine Verbindung von Geistesgeschichte, Ökonomie, Anthropologie, Theologie und Soziologie bemüht. Neben seiner bereits erwähnten »Ortsbestimmung« sind hier vor allem seine Studien zum »Verfall der abendländischen Baukunst im 19. Jahrhundert« und zum »Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Phänomen« zu erwähnen.69 Sein disziplinübergreifender Ansatz orientierte sich freilich weniger an den Fragestellungen der Historischen Schule als an der Universalgeschichte Spenglers und Toynbees sowie der Wiener kulturhistorischen Schule um P. Wilhelm Schmidt. So blieb Rüstow trotz seines großen Ansehens in der Öffentlichkeit wissenschaftlich eher ein Außenseiter, und sein Werk geriet nach seinem Tod 1963 rasch in Vergessenheit. Die eigentümliche Verbindung von Kultursoziologie, Geistesgeschichte und Nationalökonomie kennzeichnete auch das wissenschaftliche Oeuvre Alfred Müller-Armacks (Jg. 1901), der 1923 in Köln bei Leopold von Wiese mit einer Arbeit über die Marx’sche Krisentheorie promovierte.70 Wenige Jahre später habilitierte er sich mit einer Arbeit über die »Ökonomische Theorie der Konjunkturpolitik«.71 Das starke Interesse für wirtschafts- und konjunkturtheoretische Probleme trat Anfang der dreißiger Jahre in den Hintergrund. Beeinflusst von der konservativen Staatstheorie Carl Schmitts und der universalistischen Kulturkritik Oswald Spenglers und Othmar Spanns, gehörte Mül67 68 69 70 71

Vgl. Haselbach, S. 184–224. Vgl. Meier-Rust, S. 17–100. Rüstow, Ursachen; ders., Versagen. Müller-Armack, Krisenproblem; zur Biographie vgl. Kowitz. Müller-Armack, Theorie.

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ler-Armack wie sein Kölner Kollege Erwin von Beckerath zu jenen Intellektuellen der Weimarer Zeit, die den faschistischen Korporationsstaat Mussolinis bewunderten und als Modell für die Bewältigung der politischen und wirtschaftlichen Probleme in Deutschland empfahlen.72 In seinem Buch »Entwicklungsgesetze des Kapitalismus« von 1932 knüpfte Müller-Armack an den historistischen Stilbegriff Spiethoffs und Sombarts an. Der von ihm proklamierte »neue Geschichtsaktivismus« ging jedoch in eine ganz andere Richtung, wie seine ein Jahr später erschienene apologetische Schrift über »Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich« deutlich machte.73 Sein Ziel bestand darin, »die marxistische wie die liberale Staats- und Wirtschaftstheorie von ihren Grundanschauungen aus zu überwinden und durch eine neue positive Form der Staats- und Geschichtstheorie zu ersetzen«.74 Müller-Armack, der 1939 nach langer beruflicher Durststrecke eine Professur an der Universität Münster erhielt, hatte sich seit Mitte der dreißiger Jahre überwiegend mit geschichts- und kultursoziologischen Fragen befasst.75 Erwähnenswert sind vor allem religionssoziologische Arbeiten, in denen er – in Anlehnung an Max Weber – den Zusammenhang von Religion und Wirtschaftsstil untersuchte.76 Dieses Interesse hielt auch nach 1945 an, obgleich Müller-Armack sich nun wieder mehr volkswirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fragen zuwandte.77 Sein Engagement für eine liberale marktwirtschaftliche Verfassung und seine politische Tätigkeit im Bundeswirtschaftsministerium haben ihn nicht davon abgehalten, sich immer wieder zu grundlegenden geschichtsphilosophischen Fragen zu äußern. Seinen Schriften fehlte aber der pessimistische, kulturkritische Unterton, der die Veröffentlichungen Röpkes und Rüstows kennzeichnete. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die sich in den dreißiger Jahren formierende ordoliberale Richtung vor allem über gemeinsame wirtschafts- und gesellschaftspolitische Vorstellungen zusammenfand. Von einem übergreifenden theoretischen Konzept war sie jedoch weit entfernt. Selbst die von Eucken und Böhm entwickelte Ordnungslehre, die als der ambitionierteste Versuch einer theoretischen Neubegründung des Faches gelten muss, wurde von den übrigen liberalen Ökonomen trotz grundsätzlicher Anerkennung nicht konsequent aufgegriffen. Weder Röpke noch Müller-Armack haben die morphologische Lehre Euckens oder Böhms rechtswissenschaftliche Fundierung der Wirtschaftstheorie zur Grundlage ihrer eigenen Forschungen 72 Vgl. Schieder, Faschismus. 73 Müller-Armack, Entwicklungsgesetze; ders., Staatsidee. 74 Ebd., S. 11. 75 Ob dies tatsächlich Ausdruck einer »inneren Emigration« war, sei dahingestellt; vgl. zu dieser These Dietzfelbinger, S. 73. 76 Die religionssoziologischen Arbeiten sind abgedruckt in Müller-Armack, Religion. 77 Vgl. ausführlich zu seinem politischen Wirken nach 1945 Kowitz.

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gemacht. Noch weniger gilt das für Rüstow, dessen Werk von einem stark geistesgeschichtlichen Ansatz geprägt war. Euckens »Grundlagen der Nationalökonomie« und Röpkes »Lehre von der Wirtschaft« bemühten sich jeweils aus verschiedenem Blickwinkel, die deutsche Nationalökonomie endgültig aus dem Bann der Historischen Schule zu befreien. Dabei wurden grundlegende Annahmen der neoklassischen Theorie – Gleichgewichtsprinzip, methodologischer Individualismus, Selbststeuerung der Güter- und Faktormärkte durch den Preismechanismus – prinzipiell anerkannt, ohne auf der anderen Seite die Gefahr von Vermachtung und Marktasymmetrie zu vernachlässigen. Insbesondere Eucken bemühte sich, durch seine Marktformenlehre die unterschiedliche institutionelle Ausgestaltung von Wirtschaftssystemen analytisch zu bestimmen. Durch die Betonung der rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Beziehungen stellte Eucken freilich eine Brücke zum historischen Ansatz her, so dass man in ihm sogar den »Vollender des Programms der Historischen Schule« gesehen hat.78 Diese Einschätzung muss man nicht teilen, doch es fällt auf, dass die meisten Vertreter der ordoliberalen Richtung – und das gilt in noch stärkerem Maße für Röpke, Müller-Armack und Rüstow als für Eucken und Böhm – ihre ökonomischen Studien in einen größeren gesellschaftspolitischen, vielfach sogar kulturgeschichtlichen Zusammenhang gestellt haben. Euckens Interdependenztheorie, Böhms Idee der Gesamtverfassung, Müller-Armacks religionssoziologische Fundierung der Wirtschaftstheorie, Rüstows universalgeschichtliche Kulturkritik und Röpkes pessimistische Zeitdiagnose – sie alle zeigen auf unterschiedliche Weise, wie stark diese Gruppe noch in der Tradition der älteren deutschen Nationalökonomie mit ihren Verbindungen zu Soziologie und Geschichte stand.79 Die Fixierung auf das institutionelle Gefüge von Wirtschaft und Gesellschaft war, wie Knut Borchardt zu Recht betont hat, ein Reflex auf die dramatischen Umbrüche und Systemwechsel, die Deutschland seit 1918 durchlaufen hatte. Sie verweist aber auch auf das Fortwirken disziplinärer Traditionen, denen sich die Ökonomen der Freiburger Schule nicht entziehen wollten oder konnten.80 Ordoliberale Ideen haben die Politik in der Phase des wirtschaftlichen Aufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt.81 Das hatte Gründe, die hier nur angedeutet werden können. In den Nachkriegsjahren spielte die Frage der Wirtschaftsordnung eine zentrale Rolle. Die Freiburger Schule bot hierfür mit ihrem ordnungspolitischen Konzept eine Handlungsoption, die nicht nur die Probleme der westdeutschen Wirtschaft zu lösen versprach, sondern auch eine Alternative zur sozialistischen Planwirtschaft wie zum nationalsozialistischen 78 79 80 81

Schefold, Nationalökonomie, S. 315. Vgl. auch Nolte, S. 290–298. Borchardt, Beratung, S. 114f.; ders., Anerkennung, S. 218; vgl. auch Kolb, S. 110ff. Vgl. Behlke; Ambrosius, Durchsetzung; Löffler, S. 40–86.

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Interventionsstaat darstellte. Sie konnte daher auch mit der Unterstützung der westlichen Alliierten rechnen.82 Schließlich galten die Freiburger Ökonomen durch ihre Verbindungen zum konservativen Widerstand als politisch unbelastet.83 Doch ihr Einfluss auf die Weiterentwicklung der Wirtschaftswissenschaften entsprach keineswegs ihrem politischen Einfluss und öffentlichen Ansehen.84 An den bundesdeutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen hatten die Vertreter der Freiburger Schule in den fünfziger und sechziger Jahren keineswegs eine beherrschende Stellung inne. Viele Ordoliberale der »ersten Generation« waren während des Krieges oder unmittelbar danach verstorben. Dies galt für Hans Großmann-Doerth, der 1944 gefallen war, und für Adolf Lampe, der 1948 kurz nach seiner Berufung an die Universität Bonn starb. Zwei Jahre später erlag Eucken auf einer Vortragsreise in England einem Herzinfarkt. Leonhard Miksch, ein Schüler Euckens und Berater Erhards in dessen Zeit als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, ereilte im Jahr darauf dasselbe Schicksal. Röpke blieb bis zu seinem Tod im Jahre 1966 in Genf, obgleich er Angebote von deutschen Universitäten erhielt. Seine Schriften und zahlreichen Zeitungsartikel stießen in der Bundesrepublik auf große Resonanz, doch hatte sich Röpke, wie erwähnt, seit den vierziger Jahren von der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung weitgehend verabschiedet. Noch mehr galt dies für Alexander Rüstow, der in Heidelberg vor allem seinen kulturphilosophischen Interessen nachging, nicht jedoch an Alfred Webers bedeutende wirtschaftstheoretische Forschungen anknüpfte. Constantin von Dietze befasste sich in Freiburg als Direktor des Instituts für Agrarpolitik vor allem mit siedlungs- und agrarwirtschaftlichen Themen. Franz Böhm lehrte in Frankfurt nicht an der wirtschafts-, sondern an der rechtswissenschaftlichen Fakultät. Überdies widmete er einen großen Teil seiner Zeit politischen Aufgaben, so als großhessischer Kultusminister 1945–46, als Delegationsleiter der Wiedergutmachungsverhandlungen mit Israel 1952 oder als juristischer Gutachter für das Wettbewerbs- und Kartellgesetz. Zwischen 1953 und 1965 war Böhm überdies Bundestagsabgeordneter der CDU.85 Auch Müller-Armack, seit 1949 Professor in Köln, begann 1952 eine politische Karriere im Bundeswirtschaftsministerium, so dass die wissenschaftliche Forschung bei ihm immer mehr in den Hintergrund trat.86 Friedrich Lutz – einer der begabtesten Schüler Euckens und Autor wichtiger Beiträge zur Wachstums- und Außenwirtschaftstheorie – nahm 1953, nach langem Aufenthalt in

82 83 84 85 86

Vgl. Müller, Grundlegung; Nicholls. Vgl. Blumenberg-Lampe, Programm. Diese These vertritt auch Heuß, Nationalökonomie, S. 69. Löffler, S. 72. Vgl. Kowitz.

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England und den USA, eine Professur in Zürich an, obgleich er einen Ruf als Nachfolger Euckens in Freiburg erhalten hatte.87 Eine wichtige Rolle im westdeutschen Wissenschaftsbetrieb der fünfziger und sechziger Jahre spielte dagegen eine Reihe von jüngeren Eucken-Schülern. Dazu zählten Hans Otto Lenel, Schriftleiter der Zeitschrift »Ordo« und Professor an der Universität Mainz, und Karl Paul Hensel, langjähriger Assistent Euckens und seit 1957 Professor in Marburg. Hensel gehörte zu den wenigen Ökonomen der Bundesrepublik, die Euckens morphologische Lehre als wissenschaftliches Programm fortgeführt haben.88 Schließlich wäre Bernhard Pfister zu nennen, der seit 1949 als Nachfolger von Adolf Weber an der Universität München lehrte und zugleich dem Vorstand des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung angehörte. Zu den einflussreicheren Schülern Euckens zählte ferner Fritz Walter Meyer, der seit 1948 den Lehrstuhl für wirtschaftliche Staatswissenschaften in Bonn innehatte. 1963 wurde er als Gründungsmitglied in den »Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« berufen. Die Freiburger Schule war somit an den bundesdeutschen Universitäten während der fünfziger und sechziger Jahre zwar weiterhin präsent, doch eine dominante Stellung besaß sie keineswegs. Insbesondere in der Forschung ging ihr Einfluss kontinuierlich zurück. Dies hing auch damit zusammen, dass ihre Methoden und Ansätze immer weniger in den internationalen Mainstream des neoklassischen und keynesianischen Denkens hineinpassten. Der Aufschwung der Makroökonomik mit ihrer Präferenz für die Wachstums- und Konjunkturtheorie sowie die methodische Hinwendung zur Ökonometrie und mathematisch formalisierten Modelltheorie führten dazu, dass die Ordnungslehre Euckens und Böhms im Ausland nahezu unbeachtet blieb. Auch in Deutschland verlor sie in dem Maße wissenschaftlich an Einfluss, in dem die Volkswirtschaftslehre Anschluss an internationale Debatten suchte.

3. Die Rezeption der Neoklassik und die Anfänge der modernen Volkswirtschaftslehre Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die deutsche Nationalökonomie in der Zwischenkriegszeit ein außerordentlich heterogenes Bild bot.89 Eine klar dominierende Richtung oder methodische Schule gab es nicht. Historische Nationalökonomie und ontologische Lehre, Ordoliberalismus, Klassik und 87 Vgl. Rühl, Lutz. 88 Allerdings forschte Hensel vor allem über die sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft sowie den wirtschaftlichen Systemvergleich; vgl. z.B. Hensel, Einführung. 89 Vgl. Krohn, Wirtschaftstheorien.

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andere Richtungen standen nebeneinander. Überdies gab es eine große Zahl heterodoxer Ökonomen, die sich keiner spezifischen Schule oder Denkrichtung zuordnen ließen. Auch die in der internationalen Forschung dominierenden neoklassischen Ansätze – der Begriff »Neoklassik« hatte sich erst in den dreißiger Jahren eingebürgert90 – waren in Deutschland keineswegs unbekannt. Die Grenznutzenlehre und die ihr zugrunde liegende subjektive Werttheorie, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in jeweils eigenständiger Form von Carl Menger, Leon Walras und W. Stanley Jevons entwickelt worden waren, wurden in Deutschland aber nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung und gegen starken Widerstand rezipiert.91 Doch spätestens seit dem Ersten Weltkrieg wurden auch in Deutschland neoklassische Theorieansätze aufgegriffen und weiterentwickelt. Ein wichtiges Indiz für das neu erwachende Interesse an dieser Richtung ist die Tatsache, dass die Hauptschriften und Lehrbücher von Antoine Cournot, Enrico Barone und Stanley Jevons ins Deutsche übersetzt wurden, nachdem Marshalls »Principles« bereits 1905 in deutscher Sprache erschienen war. Bedeutende skandinavische Ökonomen wie Knut Wicksell hatten sogar gleich auf Deutsch publiziert, was ihre Rezeption in Deutschland erleichterte.92 Noch größere Verbreitung als Wicksells Studien fanden hier jedoch die Arbeiten des schwedischen Ökonomen Gustav Cassel. Die Eingängigkeit und klare Gedankenführung seiner Schriften begünstigte die Aufnahme unter den wenig theoriegeschulten deutschen Ökonomen. Sein 1918 erschienenes Lehrbuch »Theoretische Sozialökonomie« avancierte innerhalb kurzer Zeit zu dem am meisten gelesenen Lehrbuch in Deutschland.93 Cassel hat seine darin entwickelte Gleichgewichtstheorie ohne Rückgriff auf das Grenznutzenprinzip als reine Preislehre entwickelt, da er die Marginaltheorie entschieden ablehnte. Sein Werk war im Vergleich zum damaligen internationalen Forschungsstand nicht sonderlich innovativ, doch Cassels Verdienst war es, in Deutschland einem breiten Publikum den Zugang zu einem mathematisch fundierten Gleichgewichtsmodell ermöglicht zu haben.94 Sein »neu-klassischer« Ansatz hat unter anderem Adolf Webers Lehrbuch zur Volkswirtschaftslehre beeinflusst.95 Die Wahrnehmung und Rezeption internationaler Theoriedebatten wurde nicht zuletzt durch die wachsende Präsenz ausländischer Ökonomen an deutschen Universitäten verstärkt. So lehrte der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter seit 1925 in Bonn, bis er 1932 eine Stelle an der Harvard Univer90 91 92 lung. 93 94 95

Vgl. Aspromourgos. Vgl. Pribram, S. 693–718. Vgl. z.B. Wicksell, Geldzins; zu Wicksells Rolle in Deutschland vgl. Holtfrerich, EntwickCassel; vgl. zu Cassel Kurz, S. 24. Predöhl, Cassel. Weber, Volkswirtschaftslehre.

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sity antrat.96 Eine wichtige Rolle spielte ferner der seit 1901 in Berlin lehrende Mathematiker und Ökonom Ladislaus von Bortkiewicz, der grundlegende Forschungen zur theoretischen Statistik und zur Standorttheorie durchführte. In Berlin förderte er zudem eine Reihe begabter jüngerer Wissenschaftler, die Russland nach der Oktoberrevolution verlassen mussten.97 Zu diesen gehörten etwa Jakob Marschak, der zu den Begründern der Ökonometrie gezählt wird, sowie der Erfinder der Input-Output-Analyse und spätere Nobelpreisträger Wassily Leontief. Es wäre jedoch verfehlt, die Entwicklung der theoretischen Volkswirtschaftslehre und die Rezeption der neoklassischen Theorieansätze allein auf äußere Einflüsse und die Präsenz ausländischer Wissenschaftler zurückzuführen. Vielmehr geriet die nationalökonomische Forschung in Deutschland während der zwanziger Jahre insgesamt in Bewegung, und diese Dynamik war gerade in den theoretischen Teilgebieten zu spüren. Zu nennen wäre hier etwa die Raum- und Standorttheorie, die seit Thünen zu den Schwerpunkten der deutschen Nationalökonomie gehörte.98 Alfred Weber hat Thünens landwirtschaftliche Standortlehre auf die industrielle Produktion ausgeweitet und zugleich eine reine Theorie des Standorts entwickelt, die an moderne preistheoretische Erkenntnisse anknüpfte. Bedeutende Forschungen legten auf diesem Gebiet ferner Andreas Predöhl und August Lösch vor, welche die Standorttheorie mit der allgemeinen Gleichgewichtstheorie verbanden und damit wichtige Anstöße für die Theorie des internationalen Handels gaben.99 Auch die mit dem neoklassischen Ansatz verbundene mathematische Methode fand in Deutschland zunehmend Anhänger.100 Neben Rudolf Streller und Hans Peter muss vor allem Heinrich von Stackelberg genannt werden, der in den späten zwanziger und dreißiger Jahren als der begabteste theoretische Ökonom in Deutschland galt.101 Stackelberg, der sich 1934 in Köln als Schüler Erwin von Beckeraths habilitierte, forschte vor allem auf dem Gebiet der Marktformenlehre sowie der Preis- und Kapitaltheorie. Entgegen der herrschenden Meinung ging er von einer Gleichgewichtslosigkeit der Märkte aus.102 Neben der systematisch aufgebauten Typologie der Marktformen ragen vor allem Stackelbergs spieltheoretische Arbeiten zum Oligopolproblem heraus. Alle seine Veröffentlichungen – einschließlich eines 1943 publizierten Lehrbuches – waren durch eine konsequente algebraische Darstellung wirt96 Vgl. zu Schumpeter März, Schumpeter; Shionoya; zur Rezeption in Deutschland Stavenhagen, S. 298f. 97 Krohn, Entlassung, S. 46f. 98 Vgl. Salin, Thünen; Stavenhagen, S. 465–511. 99 Predöhl, Standorttheorie. 100 Vgl. etwa die Lehrbücher von Kühne und Weinberger. 101 Vgl. zur Biographie die Einleitung von Hans Möller in: Kloten/Möller, S. 1–74. 102 Stackelberg, Marktform.

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schaftlicher Zusammenhänge geprägt.103 Langfristig blieb der Einfluss Stackelbergs, der 1943 eine Professur in Madrid annahm und dort drei Jahre später starb, nicht zuletzt wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus begrenzt. Ein weiteres Feld, auf dem die nationalökonomische Forschung nach dem Ersten Weltkrieg einen starken Auftrieb erfuhr, war die Konjunkturlehre, welche die ältere, auf Marx und Malthus zurückgehende Krisentheorie in den zwanziger Jahren endgültig ablöste.104 Der Ausbau dieses Forschungszweiges war zweifellos eine Reaktion auf die durch Inflation und wirtschaftliche Wechsellagen geprägte Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg. Sie war aber auch das Ergebnis disziplinärer Forschritte und Debatten, die in Deutschland besonders in Erscheinung traten. Es würde zu weit führen, die theoretischen Auseinandersetzungen in ihren Einzelheiten zu rekonstruieren. Hier soll der Hinweis auf einige der wichtigsten »Schulen« genügen. Neben etablierten Gelehrten wie Schumpeter und Spiethoff waren es gerade jüngere Ökonomen, die sich diesem Forschungsgebiet zuwandten. Hier wäre vor allem die von Bernhard Harms begründete »Kieler Schule« am »Institut für Weltwirtschaft« in Kiel zu nennen, wo Ende der zwanziger Jahre Gerhard Colm, Hans Neisser, Karl Schiller, Adolf Löwe und Fritz Burchardt sowie kurze Zeit auch Wassily Leontief tätig waren. Wichtig waren auch die an der Universität Heidelberg unter Emil Lederer durchgeführten Forschungen.105 Schließlich gewann seit Mitte der zwanziger Jahre die empirisch ausgerichtete Konjunkturforschung an Bedeutung, wobei sich das von Ernst Wagemann 1925 gegründete »Institut für Konjunkturforschung« in Berlin als institutionelles Zentrum herausbildete.106 Nicht zuletzt stieß das Konjunkturproblem auch unter der sich langsam formierenden liberalen Schule in Deutschland auf starkes Interesse, wie die Arbeiten von Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke und Friedrich A. Lutz deutlich machen.107 Die biographischen Studien von Hagemann und Krohn haben gezeigt, dass unter den nach 1933 entlassenen und vertriebenen Wirtschaftswissenschaftlern besonders viele Vertreter innovativer Forschungsrichtungen waren.108 Emigrieren mussten vor allem jüdische und sozialdemokratische Wissenschaftler, aber auch liberale Kritiker des NS-Regimes wie Röpke sowie viele Vertreter der Wiener Schule. Insgesamt wurden im deutschsprachigen Raum 252 Wirtschaftswissenschaftler aus ihren Stellungen an Universitäten, in der Verwaltung und in Forschungseinrichtungen entlassen. Von diesen wanderten 103 Ders., Grundzüge. 104 Vgl. Pütz-Neuhauser; Rühl, Beitrag. 105 Hagemann, Zerstörung; Esslinger. 106 Vgl. Wissler, Wagemann; außerdem Kulla sowie Tooze, Statistics, S. 103–176. 107 Vgl. neben den zitierten Arbeiten von Müller-Armack und Röpke v.a. Lutz, Konjunkturproblem. 108 Vgl. Hagemann, Emigration; ders./Krohn, Handbuch.

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221 aus.109 Besonders betroffen waren die Universitäten Heidelberg und Frankfurt sowie das Kieler »Institut für Weltwirtschaft«. An diesen Institutionen wurde zum Teil über die Hälfte der Wissenschaftler entlassen.110 Zu den Emigranten gehörten prominente Hochschullehrer wie Adolf Löwe und Emil Lederer, die Finanzwissenschaftler Fritz Neumark und Fritz Karl Mann, die Agrarökonomen Karl Brand und Fritz Baade sowie zahlreiche jüngere Ökonomen, die später im Ausland bedeutende Forschungen durchführten. Eine starke Emigration von Ökonomen verzeichnete ferner Österreich. Fast alle Vertreter der Wiener Schule verließen nach 1933/38 das Land, darunter Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises, Gottfried Haberler, Fritz Machlup, John von Neumann und Oskar Morgenstern.111 Der Großteil der Emigranten ging in die USA, wo sie – häufig unterstützt durch Stipendien der »Rockefeller Foundation« – an den Universitäten der Ostküste, in Regierungsbehörden und an der eigens zur Aufnahme von emigrierten Wissenschaftlern gegründeten »University in Exile« an der »New School of Social Research« in New York unterkamen.112 Ein wichtiges Zufluchtsland war ferner Großbritannien, wo 35 Wissenschaftler eine neue Wirkungsstätte fanden, gefolgt von Palästina, der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden und der Türkei.113 Der überwiegende Teil der emigrierten Ökonomen kehrte nicht wieder nach Deutschland zurück. Insbesondere in den USA, wo die Aufnahmebedingungen besonders günstig waren, gelang vielen Wissenschaftlern ein Karrieresprung, der eine spätere Rückkehr unattraktiv machte. Dies galt etwa für John von Neumann und Oskar Morgenstern, die in den vierziger Jahren in Princeton gemeinsam die mathematische Spieltheorie begründeten, für Jakob Marschak, der grundlegende Forschungen im Bereich der Ökonometrie durchführte, für Richard A. Musgrave, der in den USA zu den Vorreitern der modernen Finanzwissenschaften avancierte, ferner für Albert O. Hirschman, Hans Singer, Paul Streeten und Alexander Gerschenkron, die nach dem Zweiten Weltkrieg der neu entstehenden Entwicklungstheorie wichtige Impulse gaben.114 Die durch die Nationalsozialisten herbeigeführte Wissenschaftleremigration zerstörte damit zu einem erheblichen Teil gerade jenes innovative Forschungspotenzial, das sich in Deutschland seit Mitte der zwanziger Jahre in den theorieorientierten Teildisziplinen formiert hatte. Dennoch bedeutete das Jahr 1933 nicht das Ende der theoretischen Forschung in Deutschland. Zwar gewannen Verfechter völkischer, ständestaatlicher und romantisch-historisti109 110 111 112 113 114

Dies., Emigration, S. XIII. Vgl. ebd., S. XVIII. Craver; Krohn, Emigration. Vgl. Krohn, Wissenschaft. Hagemann/Krohn, Emigration, S. XXIV. Hagemann, Einleitung, in: ders., Emigration, S. 17–29.

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scher Vorstellungen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme zunehmend an Einfluss und konnten wichtige Positionen an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen besetzen.115 Vertreter der nationalsozialistischen Wirtschaftslehre wie Gottfried Feder, Max Frauendorfer und Otto Wagener verwarfen die preistheoretische Begründung des neoklassischen Gleichgewichtsmodells und ihre Implikationen, mehr noch, sie lehnten jede Form der modelltheoretischen Abstraktion wirtschaftlicher Vorgänge und Zusammenhänge als wirklichkeitsfremd, formalistisch und »undeutsch« ab.116 Dennoch zeigen neuere Untersuchungen, dass die nationalsozialistische Machtübernahme keineswegs zu einem Abbruch der in den zwanziger Jahren eingeschlagenen Theorieentwicklung geführt hatte. Vielmehr konnten sich neben den völkisch-romantischen und ständestaatlich-universalistischen Ideen auch solche Forschungsrichtungen behaupten, die sich als Fortentwicklung des klassischen und neoklassischen Paradigmas verstanden. Hierbei können zwei Hauptrichtungen unterschieden werden: Zum einen die seit dem Krieg in der von Jens Jessen geleiteten Klasse IV der Akademie für Deutsches Recht organisierte Gruppe von Ökonomen, die eine Verbindung von liberaler Wettbewerbsordnung und starkem Staat propagierte. Hier ist vor allem die »Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre« unter Leitung Erwin von Beckeraths zu nennen, dem neben den Freiburgern Eucken, Lampe, Dietze und Miksch eine Reihe von theoretisch versierten Ökonomen wie Hans Peter und Heinrich von Stackelberg angehörte.117 Nach der Auflösung der Akademie im März 1943 führte diese Gruppe ihre Arbeit als »Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath« fort, wobei Fragen der wirtschaftlichen Neuordnung nach dem Krieg im Mittelpunkt standen.118 Zum anderen kam es nach 1933 zu einem bemerkenswerten Aufschwung der makroökonomischen Kreislaufanalyse und der konjunktur- und geldtheoretischen Forschung, die zum Teil an Debatten der späten zwanziger Jahre anknüpften. Diese Arbeiten haben in der dogmengeschichtlichen Literatur lange Zeit kaum Beachtung gefunden. Erst vor kurzer Zeit hat Hauke Jansen eine umfassende Untersuchung zur »Neuen Wirtschaftslehre« vorgelegt, die seit Mitte der dreißiger Jahre an Bedeutung gewonnen und die völkisch-romantischen und historistischen Ansätze zunehmend in den Hintergrund gedrängt hatte.119 Es waren vor allem jüngere, häufig gerade erst in universitäre Positionen vorgerückte Ökonomen, die für diesen Forschungszweig eine wichtige Rolle spielten. Zu dieser Gruppe gehörten etwa die Geldtheoretiker 115 Vgl. Jansen, S. 142–195. 116 Vgl. Woll; außerdem Barkai; Kruse, Volkswirtschaftslehre. 117 Vgl. ausführlich die Darstellungen in Blumenberg-Lampe, Programm; außerdem Herbst, Der totale Krieg. 118 Vgl. die Dokumentation von Blumenberg-Lampe, Weg. 119 Jansen; zur Konjunkturtheorie in Deutschland nach 1933 außerdem Vilk.

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Eduard Lukas in München, Robert Nöll von der Nahmer in Breslau und Otto Donner in Berlin, ferner der in Kiel lehrende Finanzwissenschaftler Hans Fick sowie der einflussreiche Konjunkturtheoretiker Rudolf Stucken.120 Im Mittelpunkt ihrer Forschungen standen die kritische Auseinandersetzung mit dem neoklassischen Gleichgewichtsparadigma und die Suche nach neuen Formen der Wirtschaftslenkung. Auch Karl Schiller und Erich Preiser, die beide nach 1945 eine herausragende Rolle für die Verbreitung der keynesianischen Makroökonomik spielten, haben sich in den dreißiger Jahren mit den Möglichkeiten gezielter staatlicher Intervention befasst. So veröffentlichte der am Kieler Institut für Weltwirtschaft tätige Schiller 1936 eine Studie über »Arbeitsbeschaffung und Finanzordnung in Deutschland«, während Preiser, seit 1937 Professor in Rostock und Mitglied der »Arbeitsgemeinschaft für Volkswirtschaftslehre«, die Möglichkeit einer direkten Wirtschaftslenkung in Erwägung zog.121 In diesen Zusammenhang sind auch die Forschungen zur Kreislaufanalyse und InputOutput-Rechnung einzuordnen, die mit den Namen Carl Föhl, Ferdinand Grünig, Hans Peter und Walter Waffenschmidt verbunden sind. Auf sie wird noch ausführlich einzugehen sein, weil sie die volkswirtschaftliche Kreislauftheorie nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich prägten.122 Adam Tooze hat gezeigt, wie sehr führende Wirtschaftsexperten und Statistiker in die makroökonomische Planung der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft eingebunden waren.123 Insbesondere das »Institut für Konjunkturforschung« Wagemanns übernahm zentrale Aufgaben in der Erhebung und Aufarbeitung der Industrie- und Wirtschaftsstatistik und kooperierte eng mit dem Planungsamt Hans Kehrls und anderen wirtschaftspolitischen Stellen des NS-Regimes, wobei die Statistiker Rolf Wagenführ und Walter Grävell als leitende Figuren wirkten. Der Ausbau der angewandten, häufig außerhalb der Universitäten angesiedelten Forschung entsprach im übrigen einem allgemeinen Trend, der auch in anderen Wissenschaftsbereichen seit den späten dreißiger Jahren zu beobachten war und der für die Entwicklung des Nationalsozialismus offenbar insgesamt kennzeichnend war.124 Vielfach ist das Interesse an konjunktur- und geldtheoretischen Problemen und der Ausbau der makroökonomischen Forschung in der NS-Zeit mit der »keynesianischen Revolution« in Verbindung gebracht worden, die das ökonomische Denken seit Mitte der dreißiger Jahre insbesondere in den angelsächsischen Ländern tiefgreifend verändert hat.125 So hat bereits Jörg Ohl 1953 von 120 Vgl. ausführlich Jansen, S. 413–505 sowie S. 511–601 (biographischer Anhang). 121 Schiller, Arbeitsbeschaffung; Preiser, Wesen. Vgl. zu Preiser Blesgen, bes. S. 125–145. 122 Vgl. Kap. III.2. 123 Tooze, Statistics, S. 215–282. 124 Vgl. Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft in Deutschland. 125 Vgl. zu Großbritannien und den USA A. Hansen, Influence; Otto; Hamouda/Price; allgemein: Mehta; Hall, Political Power.

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einem »Keynesianismus ohne Keynes« gesprochen und dabei auf die zahlreichen konjunkturpolitischen Vorschläge hingewiesen, die in Deutschland eine »Revolution des ökonomischen Denkens« ausgelöst hätten. Ohl glaubte daher, eine »Parallelität der Entwicklungen der angelsächsischen und deutschen Beschäftigungstheorie« feststellen zu können.126 Diese Überzeugung hat sich auch der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler George Garvy zu Eigen gemacht, nach dessen Auffassung die deutschen Konjunkturtheoretiker viele Ideen Keynes’ vorweggenommen hätten. Dies sei aber von den angelsächsischen Ökonomen – insbesondere von Keynes selbst – kaum wahrgenommen worden und habe daher in der Dogmengeschichte des 20. Jahrhunderts keine angemessene Würdigung gefunden.127 Garvy verwies dabei auf die konjunkturpolitischen Empfehlungen von Wilhelm Lautenbach während der Weltwirtschaftskrise sowie auf Carl Föhls bahnbrechende Untersuchungen zur Kreislaufanalyse.128 Warum die konjunkturtheoretischen Beiträge deutscher Ökonomen international so wenig Beachtung gefunden haben, kann hier nicht diskutiert werden.129 Weitaus wichtiger ist die Frage, in welchem Maße die mit Keynes verbundene »Revolution« der ökonomischen Theorie in Deutschland aufgegriffen bzw. sogar eine spezifische deutsche Variante des Keynesianismus entwickelt wurde.

4. »New Economics«: Keynesianismus und Neoklassische Synthese John Maynard Keynes war bereits seit dem Ersten Weltkrieg kein unbekannter Mann in Deutschland. Als Chefunterhändler des britischen Finanzministeriums nahm er 1919 an den Friedensverhandlungen in Versailles teil.130 Seine scharfe Kritik an der alliierten Reparationspolitik, deren wirtschaftliche Folgen er für verheerend hielt, brachte ihm in Deutschland viel Sympathie ein.131 Mehrfach wurde Keynes zu Vorträgen und als wissenschaftlicher Berater von 126 Ohl, S. 4. 127 Garvy. Bereits 1951 hatte Edgar Salin darüber geklagt, dass »viele Keynesschen Gedanken nur darum in der angloamerikanischen Wissenschaft als ›revolutionär‹ wirkten, weil die Ergebnisse und die Fragen der deutschen Wissenschaft unbekannt geblieben waren«. Deutsche Konjunkturtheoretiker wie Hahn, Schumpeter und Spiethoff würden »vielleicht gelegentlich genannt, aber nicht gelesen«; Salin, Geschichte, S. 8. 128 Vgl. auch Hohn. 129 Die »Wiederentdeckung« der deutschen Konjunkturtheoretiker und ihre Einordnung in die keynesianische Theorie setzte Anfang der siebziger Jahre ein; vgl. v.a. Bombach u.a., Keynesianismus II; ders. u.a., Keynesianismus III; kritisch dazu Borchardt, Aufarbeitung. 130 Vgl. zu Keynes’ Rolle in der britischen Deutschlandpolitik Peter, Keynes und die Deutschlandpolitik. 131 Keynes’ Schrift über die Folgen der Reparationsauflagen wurde rasch ins Deutsche übersetzt: Keynes, Folgen.

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Politikern eingeladen.132 Auch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen und die daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Ideen waren weder unbekannt noch stießen sie auf größeren Widerstand als anderswo. Zwar fanden Keynes’ Ideen keinen Eingang in die Finanz- und Geldpolitik der zwanziger Jahre, und auch die nach 1932 einsetzende wirtschaftliche Erholung war nicht auf keynesianisches »demand management« zurückzuführen.133 In deutschen Fachkreisen wurden die Lehren des britischen Ökonomen aber mit großem Interesse aufgenommen. So wurden seine Hauptwerke »A Treatise on Money« (1932) und »The General Theory of Employment, Interest and Money« (1936) fast unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung ins Deutsche übersetzt und in allen einschlägigen Fachzeitschriften rezensiert.134 Keynes gehörte zu den wenigen Ausländern, die in der 1933 erschienenen Festschrift für Arthur Spiethoff einen Beitrag veröffentlichen durften.135 Knut Borchardt hat die Unbefangenheit gegenüber den Theorien von Keynes darauf zurückgeführt, dass sich das neoklassische Denken in Deutschland während der Zwischenkriegszeit noch nicht so fest etabliert hatte wie in anderen Ländern.136 Keynes’ Kritik an der neoklassischen Orthodoxie verstieß in Deutschland gegen keine herrschenden Dogmen und wurde deshalb auch nicht als wissenschaftliche Revolution begriffen. Auch das Denken in makroökonomischen Aggregaten und volkswirtschaftlichen Kreisläufen sei, so Borchardt, den im Schatten von Marx aufgewachsenen Ökonomen weniger fremd gewesen als ihren angelsächsischen Kollegen. Ferner habe man in Deutschland keine Schwierigkeiten gehabt, dem Staat Aufgaben der wirtschaftlichen Stabilisierung zu übertragen, wie das Keynes in seinen Schriften forderte. Borchardts Interpretation wird durch Keynes eigene Erwartung gestützt, dass er »bei den deutschen Lesern auf etwas weniger Widerstand stoßen werde als bei den englischen«.137 Der britische Ökonom begründete diese Einschätzung nicht nur mit der fehlenden Tradition neoklassischen Denkens, sondern mit dem Fehlen jeglicher theoretischer Orientierung überhaupt. Deutschland habe sich »im Gegensatz zu seiner Gewohnheit in den meisten Wissenschaften während eines ganzen Jahrhunderts damit begnügt, ohne eine vorherrschende und allgemein anerkannte formelle Theorie der Wirtschaftslehre auszukommen«.138 Worin bestand nun die »keynesianische Revolution«?139 Zunächst stellte 132 Dillard, S. 117f. 133 Erbe; James, What is Keynesian; Ritschl, Deficit Spending. 134 Keynes, Vom Gelde; ders., Allgemeine Theorie. 135 Ders., Stand. 136 Borchardt, Anerkennung, S. 211–214. 137 So Keynes in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe; Keynes, Allgemeine Theorie, S. VIII; vgl. auch zum Vorwort Schefold, General Theory. 138 Keynes, Allgemeine Theorie, S. VIII. 139 Zum Begriff der »Keynesianischen Revolution« vgl. Klein, Revolution; Mehta; Clarke,

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Keynes wesentliche Grundannahmen der neoklassischen Theorie (rationale Erwartung, individuelle Nutzenmaximierung, vollständige Konkurrenz) und das darauf beruhende Gleichgewichtsmodell in Frage.140 Das Say’sche Gesetz, nach dem sich das Angebot auf funktionierenden Märkten seine Nachfrage gleichsam selber schafft und sich deshalb automatisch ein Gleichgewichtszustand einstellt, hielt Keynes für falsch. Insbesondere auf den Arbeitsmärkten könne nicht von vollständiger Konkurrenz und Reallohnflexibilität ausgegangen werden, woraus er schloss, dass Unterbeschäftigung auch unter Gleichgewichtsbedingungen auf dem Güter- und Geldmarkt möglich sei. Dauerhafte Unterbeschäftigung ergibt sich nach dem Keynes’schen Modell auch daraus, dass nicht das gesamte aus der Beschäftigung erzielte Einkommen nachfragewirksam wird. Keynes ging davon aus, dass Wirtschaftssubjekte einen Teil ihres Vermögens liquide in Kasse halten, um Transaktionen zu tätigen und um Geld für persönliche Bedürfnisse oder Spekulationen zur Verfügung zu haben. Diese »Liquiditätspräferenz« führt dazu, dass ein Teil der Einkommen nicht nachfragewirksam wird, da er weder gespart, noch in Konsum umgesetzt werden kann. Auch die Investoren verhalten sich nach Keynes anders als die klassische Theorie postuliert hatte. Für Investitionsentscheidungen ist die Kalkulation der internen Verzinsung (Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals) erforderlich, die wiederum bestimmt wird von künftigen Erlösen und Kosten. Da nicht von rationaler Erwartungsbildung ausgegangen werden kann, ist die Investitionsfunktion hochgradig instabil, zumal sich – das war ein weiterer Baustein in Keynes’ Krisentheorie – die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals in fortgeschrittenen Industriegesellschaften vermindert. Die Weltwirtschaftskrise, vor deren Hintergrund er die »General Theory« verfasst hatte, war daher nicht nur auf besonders heftige konjunkturelle Schwankungen, sondern auch auf einen langfristigen Trend zurückzuführen, der sich aus zunehmender Liquiditätsvorliebe der privaten Haushalte und der Investitionsmüdigkeit der Unternehmen in hoch industrialisierten Ländern ergab.141 Keynes’ ehrgeiziges Ziel bestand darin, ein Totalmodell zu entwickeln, in dem sich die funktionale Beziehung aller volkswirtschaftlichen Aggregate auf Güter-, Geld- und Arbeitsmärkten bestimmen ließ. Dabei griff er durchaus auf Sätze der Neoklassik, nicht zuletzt seiner akademischen Lehrer Marshall und Pigou, zurück, die er jedoch in einen makroökonomischen Kontext stellte.142 So entsprach Keynes’ Gesamtangebotsfunktion der Marshall’schen AnKeynesian Revolution in the Making; Clarke, Keynesian Revolution and its Consequences; der Begriff ist inzwischen allerdings umstritten. Vgl. etwa Tomlinson, Revolution; Rollings; Booth; Laidler. 140 Keynes, End. 141 Ders., Allgemeine Theorie, S. 318f. und passim; vgl. auch aus der umfänglichen KeynesLiteratur zum Werk A. Hansen, Guide; Dimand; sowie biographisch Skidelsky, Keynes. 142 Pribram, S. 937.

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gebotsfunktion des einzelnen Unternehmens. Sein Begriff des Sozialprodukts entsprach dem, was Marshall als »laufenden Produktionsertrag« eines Unternehmens betrachtet hatte. Das gleiche galt für die in sein Modell eingebaute Marginalanalyse, die er ebenfalls mit dem Methodeninstrument der mikroökonomischen Grenznutzentheorie aufbaute. Die Etablierung der Makroökonomik als eigenständiges Gebiet volkswirtschaftlicher Analyse war sicher das wichtigste Resultat der »General Theory«.143 Sie hat sowohl die Ex-post-Analyse in Form der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als auch die Ex-ante-Analyse von Volkseinkommen, Preisniveau und Beschäftigung in hohem Maße beeinflusst. Schließlich begründete Keynes ein neues Verständnis von staatlicher Wirtschaftspolitik. Keynes wollte durch sein Modell nicht nur Unterbeschäftigung erklären, sondern auch die staatliche Stabilisierungspolitik auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen. Aufgrund fehlender endogener Stabilisierungsmechanismen fiel dem Staat nach Keynes die Aufgabe zu, durch globale Nachfragesteuerung sowie eine Beeinflussung der Investitionen korrigierend in den Wirtschaftsprozess einzugreifen.144 Wie bereits erwähnt, erfreute sich Keynes in Deutschland großer Bekanntheit. Gegenüber seinen Vorschlägen bestanden zunächst sogar weniger Vorbehalte als in seinem Heimatland Großbritannien, wo viele Ökonomen staatliche Interventionen vehement ablehnten. Entgegen seiner eigenen Einschätzung traf Keynes in Deutschland auf ein geschultes und mit den internationalen Debatten vertrautes Publikum, das den wissenschaftlichen Gehalt seiner Arbeiten kritisch zu würdigen wusste.145 Dennoch kann von einem »deutschen Keynesianismus« insbesondere für die Zeit nach 1933 nicht gesprochen werden. Viele Protagonisten der konjunkturpolitischen Debatte während der Weltwirtschaftskrise – namentlich Röpke, Neisser und Colm – emigrierten, während Lautenbach und Föhl, die später häufig als »deutsche Keynesianer« bezeichnet worden sind, in den dreißiger Jahren akademische Außenseiter waren.146 Ein Blick auf die Besprechungen der »General Theory« in den einschlägigen Fachzeitschriften zeigt, wie reserviert man Keynes und seinen Theorien im nationalsozialistischen Deutschland begegnete. Die positive Resonanz, welche seine Arbeiten aus den zwanziger Jahren, insbesondere aber sein 1932 in 143 Vgl. L. R. Klein sowie die Beiträge in Hagemann/Steiger und Pasinetti/Schefold. 144 Vgl. Pollard. 145 Vgl. Dillard; Backhaus; Hagemann, Analysis. 146 Lautenbach, der sich Ende der zwanziger Jahre vergeblich um eine Professur bemüht hatte, war Ministerialrat im Reichswirtschaftsministerium und wechselte nach seiner Entlassung 1934 in die Außenhandelsabteilung des Statistischen Reichsamtes. Föhl war studierter Ingenieur und promovierte erst 1937 an der Wirtschaftshochschule in Berlin. Anschließend war er in der privaten Wirtschaft tätig. Erst 1955 wurde er Honorarprofessor in Tübingen; Jansen, S. 530 u. 552.

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deutscher Sprache publiziertes Werk »Treatise on Money«147 gefunden hatten, wich nun einer skeptischen bis ablehnenden Haltung. Das galt nicht nur für die wenigen in Deutschland verbliebenen Wirtschaftsliberalen wie Walter Eucken oder Adolf Weber.148 Auch die Vertreter einer »neuen Wirtschaftslehre«, die sich für lenkende Eingriffe in den Wirtschaftsprozess aussprachen, setzten sich überwiegend kritisch mit den Ideen des britischen Ökonomen auseinander.149 Obwohl Keynes auch nach 1933 in wissenschaftlichen Kreisen keineswegs unbeachtet blieb, hat seine Lehre doch nicht die gleiche Wirkung entfalten können wie in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern. Dort gelang es ihm, »die Fachwelt in zwei Lager, in das seiner Fürsprecher und das seiner Gegner, zu teilen und so endlich die Diskussion zu beherrschen wie kein anderer Ökonom in diesem Jahrhundert«.150 Wie Jansen zu Recht betont hat, entwickelten sich neue Ansätze der makroökonomischen Theorie in Deutschland weitgehend unabhängig von den angloamerikanischen »New Economics«.151 Auch die expansive Ausgaben- und Beschäftigungspolitik, welche die Nationalsozialisten 1933 in die Wege leiteten, hatte wenig mit der antizyklischen fiskal- und geldpolitischen Rezeptur zu tun, die Keynes empfohlen hatte.152 Die Wirkung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen war letztlich gering, und die Fiskalpolitik konnte dem privaten Konsum bis 1936 keinen expansiven Impuls verleihen. Von einer konsequenten Politik des »deficit spending« kann erst mit Beginn des Vierjahresplanes gesprochen werden, als freilich längst nicht mehr beschäftigungspolitische Ziele, sondern kriegswirtschaftliche Mobilisierung und Aufrüstung im Mittelpunkt standen. Schließlich hat Albrecht Ritschl gezeigt, dass die konjunkturelle Erholung bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme eingesetzt hatte. Auch danach habe es sich um einen sich selbst stützenden Konjunkturaufschwung gehandelt, der im Übrigen auch in anderen westlichen Industrieländern zu beobachten war.153 Erst nach 1945 kam es daher in Deutschland zu einer umfassenden Rezeption keynesianischer Ideen. Dafür wirkten die Lehren des britischen Ökonomen nun in ähnlicher Weise polarisierend, wie zehn Jahre zuvor in den angloamerikanischen Wirtschaftswissenschaften. Ein Blick in die führenden westdeutschen Fachzeitschriften zeigt, dass über keinen anderen Ökonomen 147 Keynes, Vom Gelde. 148 Weber, Keynes; vgl. auch die Besprechung des Weber-Schülers Alfred Kruse sowie von Alfred Ammon: Kruse, Theorie; Ammon, Keynes. 149 Vgl. Jöhr, ›Verbrauchsneigung‹; Lautenbach, Zinstheorie; Peter, Zins; Forstmann, Arbeit. 150 Jansen, Nationalökonomie, S. 271. 151 Ebd., S. 17f. 152 Ritschl, Deficit Spending; ders., Krise; vgl. auch James, Slump; Buchheim, Natur. 153 Ritschl, Deficit Spending.

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so häufig und intensiv geschrieben wurde wie über Keynes.154 Dies bedeutet nicht, dass seine Ideen durchweg positiv aufgenommen und ohne Widerstand in die volkswirtschaftliche Lehrmeinung der frühen Bundesrepublik integriert wurden. Dies geschah, wie noch zu zeigen ist, nur in langsamen Schritten. Insbesondere die politischen Schlussfolgerungen, die Keynes aus seiner Modellanalyse ableitete, waren Gegenstand kontroverser Erörterungen. Sofern keynesianische Ideen von der Schulökonomie aufgegriffen wurden, bezog sich diese weniger auf Keynes’ ursprüngliche Lehre, sondern auf deren Fortentwicklung durch amerikanische Ökonomen, die sich um eine Verbindung von keynesianischen und neoklassischen Elementen bemühten. Symptomatisch für das starke Interesse an Keynes ist die Tatsache, dass bereits 1950 eine erste Einführung in seine Wirtschaftstheorie in deutscher Sprache erschien: Andreas Paulsens »Neue Wirtschaftslehre« war ein eher einfach gehaltener, lehrbuchartiger Überblick in Keynes’ Theorie, die dem Autor auch deshalb so wichtig erschien, weil Studenten sich mit den Originaltexten des britischen Ökonomen schwer täten.155 Paulsen, der sich 1946 in Leipzig habilitiert und 1949 nach kurzer Lehrtätigkeit in Jena einen Lehrstuhl für theoretische Nationalökonomie an der FU Berlin übernommen hatte, hielt die »General Theory« für das wichtigste nationalökonomische Werk des 20. Jahrhunderts. Die darin behandelten Probleme betrachtete er gar als »wahrhafte Schicksalsfragen für den Bestand der abendländischen Gesellschaftsordnung und Kultur«.156 Einen keynesianischen Einschlag wies auch seine 1956 publizierte »Allgemeine Volkswirtschaftslehre« auf, die in mehreren Auflagen erschien.157 Weit stärker beeinflusste der bereits eingangs erwähnte Kieler Volkswirt Erich Schneider die Rezeption angloamerikanischer Wirtschaftstheorien nach dem Zweiten Weltkrieg. Schneider, der seit 1961 auch das Kieler »Institut für Weltwirtschaft« leitete, war Mitglied zahlreicher Akademien und Forschungsgremien, Vorsitzender des »Vereins für Socialpolitik« und wurde mit mehreren Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. Er gehörte bis zu seinem Tod im Jahre 1970 zu den einflussreichsten Ökonomen und Wissenschaftsorganisatoren der Bundesrepublik und prägte die Entwicklung seines Faches in jener Zeit wie kaum ein anderer.158 Schon vor dem Krieg hatte Schneider durch seine kosten- und produktionstheoretischen Arbeiten internationales Ansehen erlangt. Er galt neben Ragnar Frisch, Edward Chamberlin und Heinrich von Stackelberg als einer der führenden Marktformentheoretiker.159 Sein Schwer154 Vgl. z. B. Forstmann, Theorie; Peacock, Nationalökonomie; Rose, Bedeutung; März, Hauptpunkte; Rüstow, Sparen. 155 Paulsen, Wirtschaftslehre. 156 Ebd., S. VI. 157 Ders., Volkswirtschaftslehre. 158 Vgl. Bombach, Schneider; Vogt. 159 Schneider, Theorie.

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punkt lag daher zunächst im Bereich der Mikroökonomik, auch nach seinem Wechsel an die Universität Århus, wo er als Lehrstuhlinhaber für Betriebswirtschaftslehre vor allem über Fragen der Investitionstheorie und des industriellen Rechnungswesens forschte. Allerdings machte Schneider in seiner dänischen Zeit ausgiebig Bekanntschaft mit der von Knut Wicksell geprägten Stockholmer Schule um Eli Hekscher, Gunnar Myrdal, Erik Lindahl und Bertil Ohlin. Unter diesem Einfluss begann seit Ende der dreißiger Jahre Schneiders Rezeption der keynesianischen Lehre. So übernahm er in seinem Aufsatz »Ersparnis und Investition in der geschlossenen Verkehrswirtschaft«, der 1943 in »Schmollers Jahrbuch« erschien, den Keynes’schen Einkommensbegriff und andere Elemente der »General Theory«.160 Schon vor seiner Berufung nach Kiel im Jahre 1947 ist deshalb eine Hinwendung zur makroökonomischen Theorie keynesianischer Prägung zu erkennen, welche dann auch Eingang in seine dreibändige »Einführung in die Wirtschaftstheorie« fand. Diese erschien in mehreren Auflagen, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und avancierte zum einflussreichsten volkswirtschaftlichen Lehrbuch der frühen Bundesrepublik.161 Während der erste Band der Kreislauftheorie und der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gewidmet war, verarbeitete Schneider im zweiten Band vor allem seine eigenen Forschungen zur Theorie der Wirtschaftspläne und des wirtschaftlichen Gleichgewichts, zur Haushalts- und Produktionstheorie sowie zur Marktformenlehre. Im dritten, 1952 publizierten Band über Geld, Kredit, Volkseinkommen und Beschäftigung ist der Einfluss der Keynes’schen Lehre am deutlichsten zu spüren. Dennoch war Schneider im Gegensatz zu Paulsen kein lupenreiner Keynesianer. So hat er sich kritisch mit dem Stagnationstheorem auseinandergesetzt, das vor dem Hintergrund des Nachkriegsbooms auch kaum mehr zu rechtfertigen war.162 Auch die methodischen Probleme, die mit der Aggregation mikroökonomischer Verhaltenshypothesen verbunden waren, entgingen ihm nicht. Die Zinstheorie von Bertil Ohlin erschien ihm überzeugender als diejenige von Keynes.163 Bei aller Korrekturbedürftigkeit im Einzelnen verteidigte Schneider die »General Theory« jedoch gegen solchen Fachkollegen, welche das gesamte keynesianische Gedankengebäude als falsch oder gar unwissenschaftlich betrachteten. Zu den schärfsten Kritikern der Keynes’schen Lehre gehörten im deutschsprachigen Raum vor allem Wilhelm Röpke und Albert Hahn. Ihre Äußerungen wurden auch deshalb aufmerksam wahrgenommen, weil sie – wie Keynes – in den dreißiger Jahren die Brüning’sche Deflationspolitik abgelehnt und selbst Vorschläge für eine expansive Konjunkturpolitik zur Überwindung der 160 161 162 163

Ders., Ersparnis; vgl. auch ders., Grundfragen. Ders., Einführung. Vgl. Scherf, Schneiders Keynes-Rezeption, S. 54. Scherf, S. 56.

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Rezession gemacht hatten.164 Hahn hatte bereits 1920 in seiner Dissertation die These der autonomen Kreditschöpfungsmacht der Banken vertreten und auf die Wirkungen hingewiesen, die eine Kreditexpansion für Beschäftigung und Investitionen haben konnte.165 Erst im amerikanischen Exil – Hahn musste als Jude emigrieren und lehrte seit 1939 an der »New School« in New York – vollzog er eine radikale Abkehr von seinen früheren Thesen, die er als »Jugendsünden« abtat, und wurde zu einem der schärfsten Kritiker expansiver Beschäftigungspolitik keynesianischer Prägung.166 Großen Einfluss hatte sein 1949 erschienenes Buch »The Economics of Illusion«, eine furiose Generalabrechnung mit der keynesianischen Vollbeschäftigungspolitik, die er als inflationstreibend und potenziell planwirtschaftlich bezeichnete. Auch das wissenschaftliche Instrumentarium von Keynes hielt Hahn für komplett verfehlt. Anstatt von einer »Keynesian Revolution« wollte er lieber von einer »Keynesian General Confusion« sprechen.167 Obwohl Hahn nach dem Krieg in den USA blieb und nur gelegentlich zu Vortragsreisen in seine frühere Heimat zurückkehrte, stießen seine Veröffentlichungen in Deutschland auf große Resonanz.168 Mit ähnlicher Stoßrichtung argumentierte Röpke in den fünfziger Jahren gegen die Verbreitung des Keynesianismus, der ihm als »Typus einer kollektivistisch-inflationären Wirtschaftspolitik« erschien.169 Röpke war nicht grundsätzlich gegen den Einsatz antizyklischer Makropolitik in schweren Krisen – hier blieb er seinen eigenen Thesen aus früheren Zeiten treu – hielt jedoch die Verallgemeinerung einer Vollbeschäftigungspolitik für falsch: »Wie man in äußerster Seenot möglicherweise die Masten kappen und die Ladung über Bord lassen muß, so kann es auch im Wirtschaftsleben Orkane geben, die uns nötigen, vorübergehend die Grundsätze gesunder Wirtschafts- und Geldpolitik zu mißachten, aber nicht ungestraft erklärt man sie für überholt, weil sie einer Politik der ›Vollbeschäftigung‹ unbequem sind, auf die man sich unter der Schockwirkung der großen Depression versteift hat.«170 Röpke wies darauf hin, dass sich die »auf den Keynesianismus gestützte Theorie des ständigen antideflatorischen und antiinflatorischen Ausgleichs« in den Nachkriegsjahren nicht bewährt habe, ja er erklärte damit sogar die Inflationstendenz in Staaten wie Großbritannien oder den USA.171 Suspekt war Röpke ferner das mathematisch-quantifizierende Denken der »neuen Ökono164 Vgl. Hahn, Kredit; zur giralen Kreditschöpfungslehre von Hahn vgl. auch Holtfrerich, Entwicklung, S. 116–124. 165 Hahn, Theorie. 166 Ders., Grundirrtümer. 167 Ders., Economics; vgl. kritisch Martell. 168 Vgl. besonders Hahn, Wirtschaftswissenschaft; ders., Geld; ders., Hochkonjunktur. 169 Röpke, Keynes (1959), S. 263; frühere kürzere Fassungen: ders., Keynes (1952). 170 Ders., Keynes (1959), S. 262. 171 Ders., Nationalökonomie.

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men«. Er hielt dies für das »typische Merkmal einer intellektualistischen Konstruktion, die über der Integralrechnung die gesellschaftliche Wirklichkeit vergißt«.172 Röpke und Hahn waren freilich nicht die einzigen, die sich gegen Vollbeschäftigungsgedanken Keynes’scher Prägung aussprachen. Eine ähnliche Skepsis gegenüber diesen Vorstellungen findet sich etwa bei Eucken und dessen Schüler Fritz Meyer sowie bei vielen anderen Ökonomen aus dem Umfeld der Freiburger Schule. Sie befürchteten, dass die Anwendung Keynes’scher Konzepte in einen planwirtschaftlichen Dirigismus führen werde.173 Skepsis äußerte auch der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning, der einflussreichste Vertreter der katholischen Soziallehre nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Vollbeschäftigungspolitik lehnte er als »neosozialistische Utopie« ebenso ab wie die »Sandkastenstrategie des Modelldenkens« der modernen Makroökonomik: »Als Abbilder der Wirklichkeit brauchen wir keine Modelle; sie wären reiner Luxus.«174 Erich Schneider hat sich vor allem mit Röpkes und Hahns Kritik auseinandergesetzt und versucht, zwischen den theoretischen Grundannahmen von Keynes und den daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Konzeptionen zu unterscheiden.175 Während er letztere für durchaus diskussionswürdig hielt, stand für ihn außer Zweifel, dass viele von Keynes’ theoretischen Überlegungen nicht zu widerlegen seien und von der internationalen Forschung auch weitgehend akzeptiert würden. Dabei betonte Schneider, dass es nicht um eine Ablösung der neoklassischen Theorie, sondern nur um eine Erweiterung und Fortentwicklung ginge. Für ihn stand die »General Theory« in der großen klassischen Tradition von Adam Smith, David Ricardo und John Stuart Mill bis hin zu Leon Walras und Alfred Marshall. Im Übrigen sei das keynesianische Modell eines Unterbeschäftigungsgleichgewichtes keinesfalls in allen wirtschaftlichen Situationen anwendbar, sondern gelte nur in bestimmten Phasen wie etwa den dreißiger Jahren. Für ebenso falsch hielt er die Gleichsetzung von Keynesianismus und Zentralverwaltungswirtschaft, da »das wirtschaftspolitische Ziel von Keynes das gleiche gewesen war wie das von Adam Smith und Eucken: Die Erhaltung und Sicherung der Marktwirtschaft.«176 Schneiders Ziel, die keynesianische Lehre mit den Grundannahmen der Neoklassik zu versöhnen, stand im Einklang mit der Entwicklung der angloamerikanischen Theoriediskussion nach dem Zweiten Weltkrieg.177 Bereits 1937 hatte der in Oxford lehrende Ökonom John R. Hicks ein statisches 172 Ders., Keynes (1959), S. 269. 173 Eucken, Grundsätze, S. 140–145; Meyer; Mering; Maier; Mayer; Forstmann, Neue Wirtschaftslehren. 174 Nell-Breuning, Gemeinsames, S. 219 u. 224. 175 Schneider, Hahn; ders., Streit. 176 Ebd., S. 96 177 Suranyi-Unger.

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Gleichgewichtsmodell entwickelt, das zentrale Neuerungen der Keynes’schen Theorie integrierte.178 Hicks’ berühmtes IS/LM-Modell, das Kapital- und Geldmarkt in einem temporären Gleichgewicht abbildete und das fortan die Grundlage jeder makroökonomischen Modellanalyse sein sollte, wurde in den vierziger Jahren in den USA unter dem Einfluss von Franco Modigliani, Alvin Hansen, David Patinkin und Paul Samuelson fortentwickelt.179 Seit Anfang der fünfziger Jahre hat sich die unter der Bezeichnung »neoklassische Synthese« erfolgte Verbindung von Keynes’scher Einkommens- und Beschäftigungstheorie, klassischer Lehre und der in der einzelwirtschaftlichen Wahlentscheidung verwurzelten Mikroökonomie zur international dominierenden Richtung entwickelt und auch die deutsche Volkswirtschaftslehre maßgeblich bestimmt.180 Demgegenüber hat Keynes’ Ursprungslehre, welche z.B. die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion in Großbritannien beherrschte, in Deutschland eine weit geringere Rolle gespielt. Die nachhaltige Wirkung der neoklassischen Synthese amerikanischer Prägung lässt sich auch daran erkennen, dass Paul Samuelsons 1949 erschienenes Lehrbuch »Economics« bereits drei Jahre später in deutscher Übersetzung erschien, verlegt von dem gewerkschaftsnahen Kölner Bund-Verlag.181 Es wurde in den fünfziger und sechziger Jahren neben Schneiders »Einführung in die Wirtschaftstheorie« zum volkswirtschaftlichen Standardlehrbuch an deutschen Universitäten. Auch in den führenden Fachzeitschriften der Bundesrepublik fand die amerikanische Theoriediskussion seit Anfang der fünfziger Jahre großes Interesse. Deutsche Ökonomen schrieben ausführlich über die Debatten und Entwicklungen jenseits des Atlantiks.182 Zudem wurden häufig Beiträge amerikanischer Fachvertreter abgedruckt, zunehmend auch in englischer Sprache.183 Kaum jemand mochte in den fünfziger Jahren noch daran zweifeln, dass die wichtigsten wissenschaftlichen Trends an amerikanischen Universitäten und Forschungseinrichtungen aufgestellt wurden. Die Bereitschaft zur Rezeption ausländischer Theorieentwicklungen beruhte auf der Einsicht, dass Deutschland nach dem Krieg wissenschaftlich einen großen Rückstand aufzuholen habe.184 Noch 1960 konstatierte Knut Borchardt in einer im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellten »Denkschrift zur Lage der Wirtschaftswissenschaften« erhebliche Defizite in Forschung und Lehre und betonte die »Notwendigkeit der Rezeption eines bedeutenden wissenschaftlichen Vorsprungs durch das Ausland«.185 178 179 180 181 182 183 184 185

Hicks, Keynes. Vgl. Pribram, S. 946–970. Hagemann, Einfluß; vgl. auch Dillard; Hirschman. Samuelson, Volkswirtschaftslehre. Vgl. z.B. Heinig. Vgl. z.B. Niefeld; Hansen, Influence; Colm, Selbstverpflichtung. Brinkmann, Wirtschaftstheorie, S. 7f.; Kruse, Nationalökonomie, S. 10f. Borchardt, Denkschrift, S. 22.

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Studienaufenthalte in den USA ermöglichten vielen deutschen Wissenschaftlern, Kontakte zu amerikanischen Fachkollegen zu knüpfen und den Wissenschaftsbetrieb jenseits des Atlantiks kennenzulernen. Schon in den zwanziger und dreißiger Jahren hatten zahlreiche deutsche Ökonomen in den USA studiert oder Forschungsstipendien wahrgenommen, häufig finanziert durch die Rockefeller Foundation.186 Der wissenschaftliche Austausch mit den USA wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich verstärkt und durch zahlreiche Regierungsprogramme und Stiftungsinitiativen institutionalisiert. Eine Reihe von jüngeren Ökonomen, die in den fünfziger und sechziger Jahren neue Methoden und Fachgebiete an westdeutschen Universitäten etablierten, hatte zuvor in den USA geforscht.187 Das galt etwa für Edwin von Böventer, der 1956 an der Universität Ann Arbor in Michigan promoviert hatte und seit 1964 das Alfred-Weber-Institut in Heidelberg leitete. Zu nennen sind ferner der Wachstumsforscher Walther G. Hoffmann und der Ökonometriker Wilhelm Krelle, die beide Anfang der fünfziger Jahre ein Rockefeller-Stipendium erhalten hatten. Gastprofessuren führten den Frankfurter Volkswirt Heinz Sauermann 1949–50 nach Chicago, Herbert Giersch 1962–63 an die Yale University und Norbert Kloten 1957–58 und 1962–63 an das Bologna Center der Johns Hopkins University in Baltimore.188 Eine wichtige Brücke zur amerikanischen scientific community stellten die in der NS-Zeit emigrierten Ökonomen dar. Zwar entschlossen sich nur wenige von ihnen zu einer dauerhaften Rückkehr nach Deutschland.189 Doch viele knüpften nach 1945 wieder persönliche und wissenschaftliche Kontakte in ihr Heimatland und waren durch Vortragsreisen, Veröffentlichungen und Gastprofessuren an deutschen Universitäten präsent. So nahm etwa der seit 1936 in Berkeley lehrende Carl Landauer 1949/50 eine Gastprofessur an der gerade gegründeten Freien Universität in Berlin an. Der 1936 emigrierte Finanzwissenschaftler Fritz Karl Mann hielt in den fünfziger Jahren regelmäßig an der Universität zu Köln Gastvorlesungen. Wolfgang Stolper, Sohn des Volkswirtes Gustav Stolper und einer der führenden Entwicklungsökonomen in den USA, wirkte als Gastprofessor in Münster, Heidelberg und Kiel.190 Die neoklassisch-keynesianische Makroökonomik amerikanischen Stils hat in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik trotz der Widerstände ordoliberaler Ökonomen erheblich an Bedeutung gewonnen. Zu den bekennenden 186 Durch die Rockefeller Foundation finanzierte USA-Aufenthalte hatten u.a. Wilhelm Kromphardt (1932–33), Friedrich Lutz (1937–38), Bernhard Pfister (1930–32) erhalten; vgl. Hochschullehrer. 187 Samuelson, Wirtschaftswissenschaft, S. 678. 188 Biographische Daten in Hochschullehrer. 189 Insgesamt kehrten nach 1945 nur 11 der 131 aus dem deutschen Sprachraum in die USA emigrierten Wissenschaftler ihre alte Heimat zurück; Hagemann/ Crohn, Emigration, S. XXIV u. XXXV. 190 Vgl. die Einträge in Hagemann/Krohn, Handbuch sowie Hagemann, Einfluß, S. 557.

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Anhängern der Keynes’schen Lehre gehörten Anfang der fünfziger Jahre neben Schneider und Paulsen vor allem Karl Schiller, der seit 1946 eine Professur an der Universität Hamburg innehatte, der Direktor des Kieler »Instituts für Weltwirtschaft« Fritz Baade, der 1948 nach langen Jahren des Exils in der Türkei und einem zweijährigen USA-Aufenthalt nach Deutschland zurückgekehrt war, ferner die in Heidelberg lehrenden Volkswirte Erich Preiser und Wilhelm Kromphardt sowie Helmut Meinhold in Frankfurt, Hans Peter in Tübingen und Gerhard Weisser in Köln.191 Wie sehr keynesianische Vorstellungen in wissenschaftlichen Kreisen an Boden gewannen, zeigte sich bereits 1949/50, als die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik vorübergehend anstieg. In dieser Phase diskutierten nicht nur der »Verein für Socialpolitik« und die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, sondern auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium intensiv über die Möglichkeiten beschäftigungspolitischer Maßnahmen.192 Diese Einrichtungen, auf sie wird später noch eingegangen, sollten auch in den folgenden Jahren eine zentrale Rolle für die Durchsetzung staatlicher Wachstums- und Konjunkturpolitik spielen. Spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre zeichnete sich somit ein Ende des deutschen »Sonderwegs« in der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie ab. Nicht nur die Historische Schule führte fortan nur noch eine Randexistenz; auch die ordoliberale Richtung konnte die wissenschaftliche Entwicklung nicht mehr in jenem Umfang prägen, wie das noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Fall gewesen war. Die bundesdeutsche Volkswirtschaftslehre geriet nun zunehmend unter den Einfluss der angloamerikanischen Wirtschaftstheorie. Dies veränderte nicht nur Methoden und Schwerpunkte des Faches, sondern bewirkte auch ein Wandel des wissenschaftlichen Selbstverständnisses. Das Arbeiten mit komplexen makroökonomischen Modellen, die an die Stelle der verbalen Darstellung traten, die Durchsetzung mathematischer und quantifizierender Methoden und die Etablierung ökonometrischer Prognoseverfahren bedeuteten einen radikalen Bruch, der alle früheren Paradigmenwechsel in den Schatten stellte.

191 Vgl. Scheide, S. 249–251; Giersch u.a., Fading Miracle, S. 52. 192 Vgl. Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftwissenschaftlicher Forschungsinstitute, Lebensfähigkeit; Albrecht, Problematik. Für den Beirat beim Wirtschaftsministerium hatte die Arbeitslosigkeit allerdings in erster Linie strukturelle Ursachen, so dass expansive kredit- und fiskalpolitische Maßnahmen in dieser Phase nicht empfohlen wurden. Grundsätzlich wurden konjunkturpolitische Eingriffe jedoch nicht ausgeschlossen; vgl. Gutachten vom 26.2.1950, in: Wissenschaftlicher Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, Gutachten 1948–50, S. 55ff.; zum weiteren Kontext Berger, S. 30f. Die Bundesregierung leitete Anfang 1950 ein Arbeitsbeschaffungsprogramm in die Wege, das allerdings nur eine schwache Wirkung auf die Konjunktur entfaltete. Der rasche Abbau der Arbeitslosigkeit war vor allem auf den mit dem Korea-Krieg einhergehenden Boom zurückzuführen; vgl. Adamsen, S. 56–111.

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II. Wachstum und Konjunktur Ende 1955 wandte sich Wirtschaftsminister Ludwig Erhard in einer Rundfunkansprache an die deutsche Bevölkerung: »Es galt für viele Jahrzehnte als eine eherne Gesetzmäßigkeit, daß auf die Hochkonjunktur der Abschwung, die Depression, und die Krise folgen müßten und aus ihr sich erst wieder die Aufschwungkräfte entwickeln könnten. Demgegenüber wollen wir eine neue Ordnung setzen, die in der Hochkonjunktur und in der Erhaltung des wirtschaftlichen Fortschritts die Normallage erkennt.«1 Erhards Worte zeugten von einem neuen Selbstbewusstsein der bundesdeutschen Wirtschaftspolitiker, die auf außergewöhnliche Erfolge zurückblicken konnten. Seit der Währungsreform von 1948 hatte der westdeutsche Staat einen einzigartigen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt. Kein Industrieland der Welt – mit Ausnahme Japans – hatte seit dem Zweiten Weltkrieg ähnlich hohe Wachstumsraten erzielt. Doch das deutsche »Wirtschaftswunder« erschien nicht nur im Vergleich zu anderen Industriestaaten exzeptionell. Es hob sich auch von den leidvollen Erfahrungen ab, welche die deutsche Bevölkerung durch Inflation, Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gemacht hatte. Vor allem die wirtschaftliche Depression der frühen dreißiger Jahre prägte die Diskussion über Wachstum und Stabilität nach dem Zweiten Weltkrieg. Die kollektive Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise – oder besser: die nach 1945 vorherrschende Interpretation dieses Ereignisses – bildete die negative Vergleichsfolie für das Wachstums- und Stabilitätspostulat, das die Wirtschaftspolitik der jungen Bundesrepublik kennzeichnete. Tiefsitzende Krisenängste und euphorische Wohlstandshoffnungen lagen dabei dicht beieinander. So sehr man die Gefahren einer neuen Depression beschwor, so war man doch zuversichtlich, dass diese Gefahren mit einer wissenschaftlich fundierten Wirtschaftspolitik gebannt werden könnten. Dieser Gestaltungsoptimismus prägte nicht nur das Denken Erhards, sondern durchzog auch die wirtschaftswissenschaftlichen Theoriedebatten wie ein roter Faden. In den folgenden Abschnitten wird zunächst die Diskussion über Hintergründe und Ursachen der Weltwirtschaftskrise in der wissenschaftlichen Literatur und politischen Publizistik der Nachkriegszeit untersucht. Daran anknüpfend soll die Neuorientierung der Konjunktur- und Wachstumstheorie in den fünfziger und frühen sechziger Jahren dargestellt werden. In einem 1 Ansprache am 14.10.1955, abgedr. in: Hohmann, S. 456f.; vgl. ähnlich Erhard, Wohlstand, S. 7f.

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dritten Schritt wird der Frage nachgegangen, wie sich die Rolle des Staates aus der Perspektive der ökonomischen Theorie veränderte. Dazu soll vor allem die Entwicklung der Finanzwissenschaften analysiert werden, welche sich nach 1945 von der klassischen Finanzwirtschaftslehre abwandte und in die allgemeine Volkswirtschaftstheorie eingebunden wurde.

1. Erbe und Auftrag: Die »Große Krise« im politischen Diskurs nach 1945 Nach dem Zweiten Weltkrieg mochte kaum jemand bestreiten, dass die Weltwirtschaftskrise von 1929 zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gehörte. Historiker und Ökonomen waren gleichermaßen darum bemüht, die Ursachen und Folgen der »Großen Depression« zu verstehen.2 Das Bedürfnis nach historischer Aufarbeitung schien in Deutschland besonders groß, schließlich hatte die Krise nach verbreiteter Auffassung zur Destabilisierung der Weimarer Republik und zum Aufstieg der Nationalsozialisten entscheidend beigetragen. Doch die Debatte über die Weltwirtschaftskrise war niemals eine rein historische Fachkontroverse. »Alle Probleme der Weltwirtschaftspolitik der Gegenwart«, schrieb der in Münster lehrende Volkswirt Andreas Predöhl 1953, »sind aus dieser Krise erwachsen, wie immer der zweite Weltkrieg das politische Gesicht der Welt revolutioniert haben mag. Jedes Urteil in weltwirtschaftlichen Fragen der Gegenwart ist bewußt oder unbewußt bestimmt durch ein Urteil über die Weltwirtschaftskrise.« Diese Äußerungen zeugen von dem starken Zeitbezug des historischen Urteils, und es ist kein Zufall, dass der Ökonom Predöhl seinen Aufsatz über die »Epochenbedeutung der Weltwirtschaftskrise« in den soeben gegründeten »Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte« veröffentlichte.3 In der Tat waren es in den fünfziger Jahren in erster Linie Ökonomen, Publizisten und Politiker, welche sich zu dieser Thematik äußerten und dabei vielfach auf persönliche Erfahrungen rekurrierten. Bereits 1946 erschien eine populärwissenschaftliche Darstellung von Ferdinand Friedensburg zur Geschichte der Weimarer Republik, die sich ausführlich mit den wirtschaftlichen Problemen der frühen dreißiger Jahre befasste. Friedensburg, der in der Weimarer Republik eine preußische Beamtenkarriere durchlaufen hatte und 1933 als Regierungspräsident von Kassel abgesetzt worden war, hatte dieses Buch bereits 1934 fertig gestellt, ohne es jedoch veröffentlichen zu können.4 Seit 2 Petzina, S. 186f. 3 Predöhl, Epochenbedeutung, S. 97; vgl. auch ders., Weltwirtschaftskrise; ders., Ende. 4 Friedensburg, Weimarer Republik.

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1939 war er auswärtiger Mitarbeiter des Berliner »Instituts für Konjunkturforschung«, dessen Leitung er nach 1945 übernahm.5 Für Friedensburg stand außer Zweifel, dass die Weltwirtschaftskrise »das Ansteigen des Radikalismus in Deutschland erleichtert und damit den verhängnisvollen Ausgang wahrscheinlich überhaupt erst ermöglicht« hatte. Er führte dies auf »die mangelnde Einsicht in die Natur dieses Phänomens« zurück, die Anfang der dreißiger Jahre einer fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik den Weg bereitet habe.6 Ähnlich sah dies der Journalist Wilhelm Grotkopp, der 1954 eine umfassende Darstellung über die »Große Krise« in Deutschland publizierte, die in weiten Teilen auf persönlichen Erinnerungen beruhte.7 Grotkopp, in den zwanziger Jahren Auslandskorrespondent des Ullstein-Verlags und seit 1927 Herausgeber der Zeitschrift »Europa-Wirtschaft«, hatte seinerzeit selbst zahlreiche Beiträge zu konjunkturpolitischen Fragen verfasst.8 Er gehörte mit Heinrich Dräger, Rudolph Dalberg und Walter Grävell zu den Gründern der »Studiengesellschaft für Geld- und Kreditwirtschaft«, die während der Depression neue Ansätze zur staatlichen Krisenbekämpfung diskutierte. Grotkopps Buch über die Große Krise war keine wissenschaftliche Untersuchung. Es ging dem Autor in erster Linie darum, die Versäumnisse der Brüning’schen Deflationspolitik aufzuzeigen, welche die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland sogar noch verschärft habe. Umfassende, kreditfinanzierte Beschäftigungsprogramme, wie sie damals von der »Studiengruppe« vorgeschlagen worden seien, hätten die Krise zumindest abmildern können. Ausführlich beschrieb Grotkopp die wirtschaftspolitischen Konzepte der »Reformer« seit 1930, die lange vor Keynes Vorschläge für eine antizyklische Konjunkturpolitik entwickelt hätten.9 Diese Vorschläge seien zwar wissenschaftlich nicht so fundiert gewesen wie Keynes’ »General Theory«, in ihrer praktischen Bedeutung hätten sie den Rezepten des großen britischen Ökonomen aber um nichts nachgestanden. Grotkopps Buch war somit auch ein Stück Traditionspflege. Es sollte die Leistungen und Innovationen der wirtschaftspolitischen Außenseiter in der Weimarer Zeit belegen, zu denen er sich selbst zählte. Doch es ging ihm nicht nur um eine nachträgliche Rechtfertigung eigener Positionen und Programme. Vielmehr wollte Grotkopp mit seiner Darstellung auch Einfluss auf die aktuelle Wirtschaftspolitik nehmen, denn für ihn bestand kein Zweifel, dass sich die Katastrophe von 1929 jederzeit wiederholen könne.10 Durch die historische Aufarbeitung ließen sich daher 5 Vgl. autobiographisch ders., Lebenserinnerungen; ders., Deutschlands Einheit; vgl. zur Neugründung des DIW unter Friedensburg auch Krengel, Institut, S. 58. 6 Friedensburg, Woran scheiterte die Weimarer Republik?, S. 131. 7 Grotkopp, Krise. 8 Vgl. z.B. ders., Gefahren. 9 Ders., Krise, S. 8f. 10 Diese Ansicht war in den fünfziger Jahren weit verbreitet; vgl. z.B. Wissler, Hauptprobleme, S. 60; Jöhr, Hochkonjunktur oder Stutz, S. 6: »Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir …

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Erkenntnisse gewinnen, »wie wir möglichen Krisen dank den Erfahrungen von einst begegnen könnten«.11 Grotkopps Interpretation wurde durch Gerhard Krolls vier Jahre später veröffentlichtes Buch »Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur« bestätigt.12 Es handelte sich bei der über 700 Seiten starken Untersuchung um eine Auftragsarbeit des Münchner »Instituts für Zeitgeschichte«, das Kroll zwischen 1949 und 1951 kommissarisch geleitet hatte. Kroll war studierter Ökonom und hatte 1933 in Berlin mit einer Arbeit zur Kredit- und Konjunkturtheorie promoviert. Aus politischen Gründen blieb ihm nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten der Weg in eine universitäre Karriere versperrt.13 Wie Friedensburg kam Kroll im Berliner »Institut für Konjunkturforschung« unter und hielt sich mit Stipendien und statistischen Auftragsarbeiten über Wasser. Nach dem Krieg gehörte er zu den Gründern der CSU in Bamberg, wurde bayerischer Landtagsabgeordneter und Mitglied des Parlamentarischen Rates, bevor er sich 1949 der historischen und publizistischen Tätigkeit widmete. Nach seinem Ausscheiden aus dem »Institut für Zeitgeschichte« wurde er Chefredakteur des »Neuen Abendlandes« und Mitglied im Forschungsbeirat des »Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung«.14 Wie Grotkopp ging es Kroll in seinem Buch nicht in erster Linie um eine historische Rekonstruktion der Ereignisse. Zwar war seine Studie abgewogener und weniger polemisch gefärbt als die Darstellung Grotkopps, doch auch bei ihm vermischte sich die historische Analyse mit wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen. Für ihn bestand kein Zweifel an dem Versagen der Weimarer Wirtschaftspolitiker, die ein erhebliches Maß an Verantwortung für die darauf folgende Katastrophe trügen. Kroll verarbeitete in seinem monumentalen Buch frühere Überlegungen wie etwa die Theorie der »automatischen Deflation«, die er bereits in den dreißiger Jahren entwickelt hatte und mit der er die Depression als dynamischen, sich selbst verstärkenden Prozess erklärte.15 Die erfolgreiche Bekämpfung einer schweren Rezession sei nur durch massive und frühzeitig durchgeführte Kreditschöpfung möglich. Andernfalls gleite die Wirtschaft in eine Abwärtsspirale hinein, aus der es kaum einen Aufschwung und eine Hochkonjunktur erlebt, die sich nur mit den Ereignissen vor 1929 vergleichen lassen. Die Entwicklung während der beiden Perioden 1914–1929 und 1939–1955 zeigt zum Teil tatsächlich verblüffende Parallelen. In den Jahren 1954–1955 haben z.B. die Börsenkurse ein Niveau erreicht, das sich nur noch mit jenem von 1929 vergleichen läßt. Abgesehen davon zeichnen sich in einigen wichtigen Industriegruppen Überproduktionserscheinungen ab.« 11 Grotkopp, Krise, S. 9. 12 Kroll, Weltwirtschaftskrise. 13 Vgl. Hinweise bei Fait, S. 207 und Die CSU 1945–1948, S. 1892. 14 Vgl. Möller, Institut, S. 19ff. sowie den Nachruf auf Gerhard Kroll von H. Krausnick, in: VfZ, Bd. 12, 1964, S. 104f. 15 Kroll, Deflation; vgl. außerdem ders., Geld.

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noch ein Entkommen gebe. Als vorbildlich erschien Kroll die Krisenpolitik von Roosevelts »New Deal«, doch auch die in Deutschland seit 1932 eingeleiteten Maßnahmen hielt er nachträglich für richtig. Man dürfe expansive geldund fiskalpolitische Rezepte nicht allein deshalb verdammen, weil sie von den nationalsozialistischen Machthabern aufgegriffen worden seien. »Eine Verurteilung der jüngsten Geschichte in Bausch und Bogen«, so Kroll, »könnte nur dazu dienen, uns auch noch um den echten Zuwachs an wirtschaftlicher Erfahrung zu bringen, den uns dieser schreckensreiche Abschnitt deutscher Geschichte doch immerhin zu vermitteln vermag.«16 Ökonomische Krisen waren somit eine wiederkehrende Erfahrung moderner Industriegesellschaften, gegen die auch die prosperierende Bundesrepublik nicht gefeit schien. Im Gegenteil: Die hohen Investitionen der Nachkriegsjahre trugen nach Krolls Auffassung »den Keim zu einer kommenden großen Krise in sich, die, wenn ihr nicht rechtzeitig durch staatliche Maßnahmen vorgebeugt wird, die Ereignisse der Weltwirtschaftskrise noch weit in den Schatten stellen dürfte«.17 Die Steuerung der Konjunktur bleibe daher »Aufgabe staatlicher Wirtschaftspolitik, selbst dann, wenn der Staat diese Aufgabe weitgehend an eine unabhängige Notenbank oder eine sich selbst verwaltende Wirtschaft delegiert«.18 Krolls eindringliche Mahnung hatte in den fünfziger Jahren auch deshalb Gewicht, weil er als konservativer Politiker und Publizist kaum in den Verdacht geraten konnte, planwirtschaftlichen Experimenten zugeneigt zu sein. Sein Buch wurde breit rezipiert und galt für lange Zeit als das wissenschaftliche Standardwerk über die Geschichte der Weltwirtschaftskrise in Deutschland. Mochte auch nicht jeder Krolls spezifische Diagnose teilen, waren doch die Grundlinien seiner Deutung unumstritten. Kaum jemand bezweifelte in den fünfziger Jahren, dass die Große Depression maßgeblich für den Zusammenbruch der ersten deutschen Demokratie verantwortlich war und die damaligen Politiker versagt hatten.19 Es könne, so der in St. Gallen lehrende Volkswirt Walter Jöhr, »kein Zweifel bestehen, daß die Weltgeschichte einen völlig anderen Verlauf genommen hätte, wenn die Depression in Deutschland überwunden worden wäre, bevor die Arbeitslosigkeit die Drei- oder Vier-Millionen-Grenze überschritten hatte«.20 Scharf verurteilte Werner Ehrlicher, 16 Ders., Weltwirtschaftskrise, S. 9. 17 Ebd., S. 721. 18 Ebd., S. 719. 19 Die Defizite der Brüning’schen Politik wurden selbst von solchen Ökonomen als Faktum angesehen, die zu den dezidierten Gegnern einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik zählten; vgl. z.B. Schmölders, Konjunkturen, S. 17; Hahn, Hochkonjunktur, S. 9. Knut Borchardt gehörte zu den ersten, die sich kritisch mit dieser Interpretation auseinandersetzten; vgl. z.B. Borchardt, Zwangslagen; vgl. außerdem Müller, Aussagen, S. 291–325, der ausführlich auf die von Borchardt ausgelöste Diskussion in den achtziger Jahren eingeht. 20 Jöhr, Hochkonjunktur, S. 3.

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Ordinarius an der Universität Freiburg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium, den »prozyklischen Charakter« der Finanzpolitik und die desaströsen Folgen der Brüning’schen Notverordnungen. Diese hätten »zweifelsohne entscheidend dazu beigetragen«, die »Abwärtsbewegung der Wirtschaft zu verschärfen«. Die seinerzeit ergriffenen Maßnahmen erschienen Ehrlicher »vom heutigen Stand der theoretischen Einsicht fast grotesk«.21 Nach der Auffassung des Präsidenten des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans Langelütke, entsprach das »liberalistische Wunsch- und Leitbild des Selbstheilungsprozesses«, welches der Wirtschaftspolitik Brünings zugrunde gelegen habe, schon damals nicht mehr dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand. So sei es zur Anwendung eines »therapeutisch falschen Rezepts« gekommen – mit fatalen Folgen für die Stabilität der deutschen Volkswirtschaft.22 Auch Müller-Armack verwies auf Lehren, die man aus den katastrophalen Erfahrungen der dreißiger Jahre ziehen müsse: »Gerade das Versagen in bezug auf die Konjunkturpolitik hat die letzte Weimarer Regierung diskreditiert und den herandrängenden nazistischen Mächten nach 1933 durch ihre Arbeitsbeschaffung ihren Anhang in breiten Schichten gesichert.«23 Grundsätzlich erschien Müller-Armack auch die Nachkriegsgesellschaft nicht vor solchen Szenarien geschützt. Angesichts drohender »Konjunkturrückschläge« betrachtete er den »Einbau eines equilibrierenden Instrumentes als wesentliche Voraussetzung, um in einer unruhigen Wetterlage die marktwirtschaftliche Ordnung auf Dauer ertragen zu können.«24 Starke Beachtung fand schließlich die Darstellung zur Weltwirtschaftskrise von Kenneth Galbraith, die 1961 in deutscher Übersetzung erschien. Galbraith’ keynesianisch inspirierte Interpretation des »Großen Krachs« war ein großer publizistischer Erfolg, weil sie die komplizierten wirtschaftspolitischen Probleme und Entwicklungen von 1929 in einfacher Sprache darstellte.25 Es mochte Zeitgenossen nicht unbedingt auffallen, dass sich in der Debatte überwiegend solche Personen zu Wort meldeten, die schon in den frühen dreißiger Jahren zu den Kritikern der Brüning’schen Deflationspolitik gehört hatten und die sich nun um eine nachträgliche Anerkennung ihrer früheren Positionen bemühten. »Als Künder der neuen Lehre gilt Keynes«, beklagte etwa Wilhelm Grotkopp. »Dagegen werden kaum noch die deutschen Autoren erwähnt, die im Beschreiten neuer Wege bahnbrechend gewesen sind.«26 Wie 21 Ehrlicher, Deutsche Finanzpolitik seit 1924, S. 8. 22 Langelütke, Konjunkturforschung, S. 4. 23 Müller-Armack, Institutionelle Fragen. 24 Ders., Wirtschaftslenkung, S. 125. 25 Galbraith, Krach; Originalausgabe unter dem Titel »The Great Clash 1929« (Boston 1955). 26 Grotkopp, Krise. – Auch Fritz Baade betonte: »[In] einer Zeit, in der sich wieder Krisenzeichen in der Weltwirtschaft zeigen und in manchen Kreisen auch der Wissenschaft noch immer

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Kroll ging es Grotkopp darum, die eigenen Leistungen in ein rechtes Licht zu rücken. Ähnliche Motive dürften hinter der Neuveröffentlichung einschlägiger Dokumente und Schriften aus den frühen dreißiger Jahren gestanden haben. So erschien 1952 eine Sammlung mit Aufsätzen von Wilhelm Lautenbach, der als »deutscher Keynes« die damalige Konjunkturdebatte maßgeblich geprägt hatte.27 Lautenbach war 1947 gestorben, doch eine Veröffentlichung seiner gesammelten Schriften erschien dem Herausgeber Wolfgang Stützel wichtig, obgleich er ihnen keine bleibende Bedeutung für die Wirtschaftstheorie zumaß. Stützel erhoffte sich von der Publikation vor allem einen Beitrag zur Lösung »gegenwärtiger und zukünftiger wirtschaftspolitischer Aufgaben«.28 Vier Jahre später wurde auch Heinrich Drägers Studie »Arbeitsbeschaffung durch produktive Kreditschöpfung« aus dem Jahr 1932 nochmals aufgelegt.29 Der Lübecker Industrielle initiierte darüber hinaus eine mehrbändige Dokumentation über die konjunkturpolitischen Diskussionen der dreißiger Jahre, die von der Dräger-Stiftung finanziert wurde.30 Schließlich erschien Rudolf Stuckens »Deutsche Geld- und Kreditpolitik 1914 bis 1937« im Jahre 1953 in zweiter Auflage.31 Stucken, ein Schüler von Bernhard Harms und seit 1939 Professor in Erlangen, hatte seit Mitte der zwanziger Jahre zahlreiche Beiträge zur Geld- und Konjunkturtheorie verfasst und versucht, den Zusammenbruch der Weltwirtschaft mit wissenschaftlichen Methoden zu analysieren.32 Sein Urteil war abgewogener als das von Dräger oder Grotkopp, doch auch er bescheinigte der Politik Brünings schwere Fehler und Versäumnisse, da sie zur Erfüllung der Reparations- und Kreditverpflichtungen gegenüber dem Aus-

eine Neigung besteht, dem Aberglauben an die Unentrinnbarkeit des Zyklus zu verfallen, dürfte es sehr nützlich und verdienstvoll sein, einmal das ganze geistige Ringen zwischen Anhängern und Gegnern der aktiven Konjunkturpolitik aus den Jahren vor 1932 in wissenschaftlicher Weise vor unserem Bewußtsein wiedererstehen zu sehen. Auch heute ist immer noch vieles von dem, was damals geschrieben worden ist, außerordentlich lesenswert.« (Baade, Methoden, S. 77f.); Borchardt vermutet allerdings, dass viele rückblickende Darstellungen aus der Nachkriegszeit ein verzerrtes Bild abgeben und mahnt daher zur Vorsicht im Umgang mit diesen Quellen: »Weil man nach dem Zweiten Weltkrieg vielfach vom ›Versagen‹ der Wirtschaftswissenschaftler in der Krise sprach, haben nicht wenige Gelehrte ihre und die Rolle von Kollegen geschönt – absichtlich oder nicht.« (Borchardt, Beratung, S. 115). 27 Lautenbach, Zins. 28 W. Stützel, Einleitung, in Lautenbach, Zins, S. 14; Stützel betreute auch die bereits erwähnte Dissertation von Jörg Ohl aus dem Jahre 1953, welche ausführlich die konjunkturtheoretischen Debatten der dreißiger Jahre rekonstruierte (Ohl). 29 Dräger. 30 Hinweise auf dieses Vorhaben bei Grotkopp, Krise, S. 9; allerdings erschienen die ersten Bände dieser Dokumentation erst in den siebziger Jahren; Bombach, Keynesianismus I u. II. 31 Stucken, Geld- und Kreditpolitik (1. Auflage 1937). 32 Vgl. z. B. ders., Konjunkturen.

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land eine »Konjunkturverschlechterung« »bis an die Grenze der Selbstaufgabe« in Kauf genommen habe.33 Die Debatte über die Weltwirtschaftskrise hatte in den fünfziger Jahren nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine geschichtspolitische Funktion, indem sie an die wirtschaftspolitischen Irrtümer und Versäumnisse der frühen dreißiger Jahre erinnerte.34 Ähnlich wie man bei der Gestaltung des Bonner Grundgesetzes aus den Konstruktionsfehlern der Weimarer Reichsverfassung lernen wollte, sollte die Depression der dreißiger Jahre den Wirtschaftspolitikern als mahnendes Beispiel für eine fehlgeleitete Krisenbekämpfung dienen. Aus dem historischen Erbe ergab sich daher eine besondere Verantwortung für die handelnden Politiker. So warnte Eduard Werlé, Vorstandsmitglied des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und des CDU-Bundesausschusses für Wirtschaftspolitik: »Nach dem überzeugenden Misserfolg des Experimentes Brüning, die Bereinigung der Weltwirtschaftskrise im Deutschen Reich grundsätzlich den Selbstheilungskräften zu überlassen, dürfte wohl heute niemand mehr das Bedürfnis haben, ein solches Experiment zu wiederholen. … Die Quittung für diese geistige Fehlleistung war damals die Machtübernahme durch den Nationalsozialismus. Es ist wohl keine Frage, welcher ›Ismus‹ diesmal eine solche Fehlleistung – sollte sie wiederholt werden – liquidieren würde.«35 Und in einer Veröffentlichung der deutschen Gruppe des »Comité Européen pour le Progrès Economique et Social«, der prominente Wissenschaftler wie Paul Binder und Hans Möller angehörten, hieß es: »Mehr als elf Jahre sind seit Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen, ohne daß bisher ein ernsthafter Konjunkturrückschlag zu verzeichnen war. Gleichwohl mag es angebracht sein, an die Zeit vor und nach 1929 zu erinnern. Wieder liegt eine lange Periode des Wiederaufbaus und der wirtschaftlichen Expansion hinter uns; wieder überwiegt die Meinung, daß der Prozeß des wirtschaftlichen Wachstums auch in der Zukunft nicht oder nur kurzfristig durch milde Rezessionen unterbrochen werden wird. Das Jahr 1929 erinnert daran, daß es gefährlich ist, in der Nachkriegsprosperität eine naturgegebene Dauererscheinung zu sehen.«36 Im Rückblick markiert die Depression daher einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik, war doch durch sie der »Glaube an den Vollbeschäftigungsmechanismus der freien Marktwirtschaft in seinem Kern erschüttert worden«.37 Befürworter staatlicher Konjunkturpolitik evozierten regelmäßig die Erinnerung an die Große Krise. Sie wurde als wirtschaftliche Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts betrachtet, an der sich alle künftigen ökonomischen 33 34 35 36 37

Ders., Geld- und Kreditpolitik, S. 85. Vgl. Winkel. Werlé, Investitionen, S. 8f. Comité Européen pour le Progrès Economique et Social (Cepes), Konjunkturpolitik, S. 8. Schneider, Entwicklungen, S. 9.

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Ordnungs- und Politikmodelle orientieren mussten.38 Die Geschichte, betonte etwa Otto A. Friedrich, habe gelehrt, »daß der Glaube der alten Liberalen irrig ist, es werde sich von selbst alles zum Besten entwickeln, wenn dem freien Lauf der Interessen Raum gegeben werde. Besonders die große Weltkrise hat gezeigt, welche Gefahren darin liegen, wenn der technische Fortschritt, die wirtschaftliche Entwicklung, Investitionen, Löhne, Preise, Gewinne, Geldbewegungen nicht ständig durchleuchtet, statistisch durchforscht und beeinflußt werden.«39 Und selbst eingefleischte Wirtschaftsliberale wie Ludwig Erhard stellten die Frage, »ob wir heute tatsächlich gegen eine mögliche Wiederholung jener politischen, wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe gefeit sind?«40 Die Wahrscheinlichkeit einer neuen Depression hielt Erhard aufgrund einer stabilen weltwirtschaftlichen Ordnung und gewandelter ökonomischer Einsichten allerdings für gering. »Es kann kein Zweifel bestehen, daß wir das konjunktur- und wirtschaftspolitische Rüstzeug heute besser und wirksamer zu handhaben wissen – und nicht zuletzt durch Schaden klug geworden sind.«41 Die Große Depression war Erbe und Auftrag zugleich, und diese Verknüpfung machte das Ereignis zu einem zentralen wirtschaftspolitischen »Fixpunkt« der Nachkriegszeit.42 Sogar das 1967 verabschiedete Wachstums- und Stabilitätsgesetz enthielt einen langen Prolog über die Große Depression, deren zerstörerische Wirkung für Demokratie und Wohlstand noch einmal in allen Facetten geschildert wurde.43

38 Dies war allerdings kein deutsches Spezifikum, sondern lässt sich in ähnlicher Form auch in anderen westlichen Industriestaaten beobachten; vgl. etwa für die USA Frühbrodt/Holtfrerich. 39 BAK, B 126/2076: Otto A. Friedrich, Gedanken zur Vortragsaussprache mit dem Ortsausschuß Hamburg des DGB am 17.4.1956; vgl. auch ACDP, I-093, 16/1: Friedrich, Notiz betr. Gespräch Dr.F./Dr.Kiesinger, 13.01.1967: »Das Hauptversäumnis der Brüning-Regierung bei der beginnenden Krise in den Jahren 1929/30 war, daß sie nur Kredite zur Verfügung stellte, aber nicht selber eine kräftige Initiative zu öffentlichen Aufträgen ergriff, sondern alles dem Haushaltsausgleich opferte«; vgl. ähnlich Paulsen, Wirtschaftsforschung, S. 30. 40 Erhard, Dreißig Jahre, S. 10; auch Erhard argumentierte auf der Grundlage historischer Erfahrung, so etwa in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler am 18.10.1963. Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, so Erhard, diene »zugleich der Erhaltung der politischen Ordnung. Gerade die Geschichte der Weimarer Republik zeigt die enge Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft auf. In diesem Zusammenhang kommt der Fortentwicklung des konjunkturpolitischen Instrumentariums zunehmende Bedeutung zu.« (Erhard, Bundestagsreden, S. 177). 41 Ders., Dreißig Jahre, S. 10; vgl. auch Erhard, Konjunkturpolitik sowie Bundestagsreden Erhards vom 11.10.1962, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 51, Bonn 1962, S. 1702 und vom 24.4.1963, ebd., Bd. 51, Bonn 1963, S. 3371: »Es gibt wohl Konjunkturlagen, in denen man die Nachfrage erhöhen muß. Gott sei es geklagt, daß z.B. Herr Brüning das im Jahre 1928 nicht getan hat, sondern den Weg der Deflation gegangen ist.«. 42 Petzina, S. 187. 43 Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vom 8.6.1967, BGBl. I, S. 582; vgl. auch Stern, S. 3f.

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2. Konjunktur- oder Wachstumszyklus? Wenn bundesdeutsche Politiker und Ökonomen in den fünfziger und sechziger Jahren die Gefahren wirtschaftlicher Krisen beschworen und dabei auf die Erfahrung der großen Depression verwiesen,44 stand dies in eigentümlichem Kontrast zur tatsächlichen ökonomischen Entwicklung nach 1949. Zwar blieb die Bundesrepublik – wie die meisten anderen westlichen Industriestaaten – von konjunkturellen Schwankungen keineswegs verschont, doch schwere Krisen wie in der Zwischenkriegszeit traten vorerst nicht mehr auf.45 Bis Ende der sechziger Jahre verzeichnete die westdeutsche Wirtschaft selbst in Phasen konjunkturellen Abschwungs hohe Wachstumsraten; seit Mitte der fünfziger Jahre herrschte für fast zwei Jahrzehnte ununterbrochen Vollbeschäftigung. Wie hat sich diese Entwicklung auf die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion nach dem Zweiten Weltkrieg ausgewirkt? Zum einem setzte sich die Überzeugung durch, dass man über Theorien und Instrumente verfüge, um starke zyklische Schwankungen zu verhindern und das Wachstum zu verstetigen. Führende Ökonomen wie Herbert Giersch gingen davon aus, dass die Politik durch geeignete makroökonomische Intervention in der Lage sei, »einen Konjunkturrückschlag aufzufangen und eine Depression zu verhüten. Die Lektion über die Deflation, die uns die dreißiger Jahre erteilt haben, ist weithin begriffen worden; die Regierungen brauchen sie nur zu berücksichtigen.«46 Auch Friedensburg war der Auffassung, dass sich eine schwere Konjunkturkrise vermeiden ließe, »wenn die Wirtschaftswissenschaftler auf dem Posten sind und wenn die Politik vielleicht noch etwas mehr als bisher ihr Ohr dem Rat der Wirtschaftswissenschaftler leiht«.47 Ähnlich äußerte sich der Direktor des Kieler »Instituts für Weltwirtschaft«, Fritz Baade: »Die Vorstellung eines unentrinnbaren Konjunkturzyklus trifft für die moderne Wirtschaft, die über die Instrumente der aktiven Konjunkturpolitik verfügt, nicht mehr zu.«48 Manche Wissenschaftler prognostizierten gar, dass es schon bald überhaupt keine Konjunktur mehr geben werde. So sprach der in Wien lehrende deutsche Volkswirt Theodor Pütz 1961 von einer »Dämmerung« des klassischen Phänomens der Konjunkturschwankungen.49 Einige Jahre später fand in London eine hochrangig besetzte Tagung zum 44 Vgl. mit unterschiedlicher Akzentuierung Wagenführ, Vollbeschäftigung; Giersch, Wachstum. 45 Borchardt, Zäsuren. 46 Giersch, Wachstum, S. 156. 47 Friedensburg, Festansprache, S. 10. 48 Baade, Gedanken, S. 149; vgl. auch den Brief Baades an Fritz Hellwig, 10.12.1955, ACDP, I-083, A062. 49 Vgl. z.B. Pütz, S. 179.

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Thema »Is the Business Cycle Obsolete?« statt.50 Die Leitfrage der Tagung wollte zwar nur eine Minderheit der Anwesenden mit einem uneingeschränkten »Ja« beantworten, doch herrschte Einigkeit, dass konjunkturelle Ausschläge nicht mehr das Hauptproblem der industrialisierten Volkswirtschaften darstellten.51 Bereits 1962 hatte der bekannte österreichisch-amerikanische Ökonom Gottfried Haberler einen Aufsatz mit dem programmatischen Titel »Why depressions are extinct« veröffentlicht. Darin vertrat er die These, dass »like the dinosaur, wild economic swings from boom to bust are things of the past«.52 Vielfach wurde davon ausgegangen, dass sich zyklische Schwankungen entlang einem langfristigen Wachstumstrend bewegten. Nach dieser Vorstellung konnten Rezessionen das gesamtwirtschaftliche Wachstum verlangsamen, nicht jedoch zu einer Schrumpfung des Sozialproduktes führen. Diese veränderte Deutung des Konjunkturphänomens schlug sich auch in einem wissenschaftlichen Begriffswandel nieder: Anstatt vom »Konjunkturzyklus« sprach man nun immer häufiger vom »Wachstumszyklus«.53 Zugleich trat das Interesse an den von Keynes aufgeworfenen Problemen von Einkommen und Beschäftigung immer mehr in den Hintergrund. Noch in den Nachkriegsjahren waren zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen erschienen, die sich mit den Möglichkeiten einer Vollbeschäftigungspolitik befassten.54 Unter anderem hielt der »Verein für Socialpolitik« im Oktober 1950 eine dreitägige Konferenz zu diesem Thema ab.55 Hintergrund dieser Debatten war nicht nur die noch beträchtliche Arbeitslosigkeit in Westdeutschland, sondern auch die internationale Entwicklung, namentlich der 1946 verabschiedete Employment Act in den USA und das in der UN-Charta verankerte Ziel der Vollbeschäftigung. Doch seit Anfang der fünfziger Jahre ebbte die Flut der wissenschaftlichen Veröffentlichungen über diese Thematik rasch ab. Hatte die Konjunkturforschung in der Zwischenkriegszeit zu den dynamischsten Teilgebieten der Nationalökonomie gehört, nahm die Forschungstätigkeit nach 1945 deutlich ab bzw. konzentrierte sich auf spezifische Probleme wie die ökonometrisch gestützte Konjunkturdiagnose. So entwickelte etwa Wilhelm Krelle in den fünfziger Jahren ein komplexes stochastisches Modell konjunktureller Bewegungen.56 Nicht mehr die theoretische Erklärung der 50 Bronfenbrenner. 51 »We feel that econometric methods are now capable of making a further contribution … to the economic stabilization and eventual obsolescence of the business cycle.« (Evans/Klein, S. 360). 52 Think, April 1962, S. 50–68. 53 Vgl. Wagner; Ott, Wachstumszyklen. 54 Vgl. z.B. Rakowski; Meyer; Forstmann, Theorie; Mering; Quante; Paulsen, Wirtschaftslehre; Wagenführ, Vollbeschäftigung; Rüstow, Vollbeschäftigung. 55 Albrecht, Problematik. 56 Krelle, Grundlagen.

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Konjunktur, sondern eine möglichst exakte Messung makroökonomischer Bewegungen und deren künftige Entwicklung traten nun ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Die empirische, ökonometrisch abgestützte Wirtschafts- und Konjunkturforschung – auf die an anderer Stelle noch ausführlich einzugehen sein wird – strebte eine enge Verknüpfung von theoretischer Modellanalyse, wissenschaftlicher Prognose und wirtschaftspolitischer Expertise an. Sie grenzte sich bewusst von der »Symptomatologie« der klassischen Konjunkturlehre ab.57 Diese hatte zyklische Bewegungen entweder als Ergebnis exogener Störungen des Wirtschaftsablaufes oder aber als notwendige und unabänderliche Begleiterscheinung ökonomischer Entwicklung begriffen.58 Die Konjunkturlehre wurde nach 1945 in die allgemeine makroökonomische Theorie eingebettet, welche eine Bestimmung der funktionalen Zusammenhänge zwischen den volkswirtschaftlichen Aggregaten wie Einkommen, Sozialprodukt, Konsum, Investitionen und Ersparnisse anstrebte. Sie verlor damit ihren früheren Status als eigenständiges Teilgebiet der Nationalökonomie und spielte innerhalb des Faches nur noch eine untergeordnete Rolle.59 Zugleich wurde sie immer stärker durch die Wachstumstheorie überformt, welche in den fünfziger Jahren – nicht zuletzt als Reflex auf den Nachkriegsboom – erheblich an Bedeutung gewann. In methodischer Hinsicht war die moderne Wachstumstheorie auch eine kritische Antwort auf die Keynes’sche Beschäftigungstheorie, die sich ausschließlich auf Veränderungen innerhalb kurzer Perioden konzentrierte und auf einem statischen Modell einer Wirtschaft basierte, deren Produktionspotenzial nicht wächst. Die Frage nach den langfristigen und dynamischen Prozessen wirtschaftlichen Wandels war in der »General Theory« unbeachtet geblieben, so dass eine Reihe von Ökonomen eine Erweiterung des keynesianischen Modells forderte. Einen ersten Schritt zu einer Dynamisierung der statischen Kreislaufanalyse unternahm 1939 der britische Ökonom Roy Harrod, der ein Modell eines (instabilen) Wachstums im Gleichgewicht entwickelte.60 Harrod unterschied zwischen der tatsächlichen Wachstumsrate des Volkseinkommens, der befriedigenden Wachstumsrate, welche die gewünschte Auslastung des Kapitalstocks sicherstellt, und der natürlichen Wachstumsrate, die durch technischen Fortschritt und Bevölkerungszunahme bestimmt wird. Ein totales Gleichgewicht bestand nach Harrod nur bei Übereinstimmung 57 Langelütke, Grenzen, S. 17. 58 So etwa Bombach, Wirtschaftswachstum, S. 9f: »Zwar sind die Zuwachsraten des Sozialproduktes nicht konstant und können es auch gar nicht sein, aber sie schwanken in einem im Vergleich zu früher sehr engen Bereich. Die Fluktuationen um den Trend haben sich auf ein Minimum reduziert, und der Trend ist heute nicht mehr nur eine statistische Fiktion.« 59 Sauermann, Probleme, S. 13. 60 Harrod, Essay; vgl. auch ders., Trade Cycle; ders., Dynamic Economics.

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aller drei Raten. Abweichungen zwischen tatsächlicher und befriedigender Wachstumsrate manifestierten sich in konjunkturellen Schwankungen, während eine Diskrepanz zwischen natürlichem und befriedigendem Wachstum zu säkularen Gleichgewichtsstörungen führte. Harrod sprach daher von einem instabilen Wachstum, von einem Wachstum »auf Messers Schneide«.61 Harrods Versuch, die Beziehungen zwischen Wachstum, konjunkturellen und säkularen Gleichgewichtsstörungen in einem dynamischen System zu vereinigen, sollte für die theoretische Entwicklung der kommenden Jahrzehnte wegweisend sein. Die dynamische Gleichgewichtstheorie wurde in den vierziger und frühen fünfziger Jahren durch grundlegende Beiträge von Evsey David Domar, Erik Lundberg, Joan Robinson, James Duesenberry und John R. Hicks weitergeführt. So entwickelte Domar ein Modell zur Bestimmung langfristiger Wachstumstrends, das auf ähnlichen Prämissen beruhte wie Harrods Theorie. Anders als Keynes, der lediglich den Einkommenseffekt von Investitionen beachtet hatte, untersuchte Domar auch die Auswirkungen auf den Realkapitalbestand der Volkswirtschaft (Kapazitätseffekt). Ihn interessierte vor allem die Frage, wie die Nettoinvestitionen (und damit das Einkommen) wachsen mussten, um eine langfristige Auslastung der Produktionskapazitäten zu erreichen. Domar leitete daraus die Notwendigkeit einer expansiven Wirtschaftspolitik ab, um ein Wachstum zu garantieren, das durch den Gleichgewichtspfad vorgezeichnet ist.62 Großen Einfluss auf die Wachstumstheorie der Nachkriegszeit besaßen ferner die Arbeiten des britischen Ökonomen John R. Hicks. Anknüpfend an Samuelsons »Schwingungstheorie« erarbeitete Hicks ein Modell, in dem zyklische Schwankungen um einen Gleichgewichtspfad wirtschaftlichen Wachstums oszillierten. Die starken konjunkturellen Ausschläge, die Hicks durch die Wechselwirkung von Multiplikator und Akzelerator erklärte, waren durch einen Korridor begrenzt, dessen obere Grenze sich aus der Vollauslastung der Kapazitäten ergab, während die untere Grenze durch die Unmöglichkeit einer Desinvestition jenseits der Abnutzung entstand.63 Die überwiegend in den USA und England entwickelten »postkeynesianischen« Wachstumstheorien fanden auch in der Bundesrepublik starken Widerhall. Es waren überwiegend jüngere, ökonometrisch versierte Ökonomen mit starkem Bezug zur angelsächsischen Theoriediskussion, die sich seit Anfang der fünfziger Jahre um eine Rezeption wachstumstheoretischer Ansätze bemühten. Neben dem bereits erwähnten Kieler Ökonom Erich Schneider müssen vor allem dessen Schüler Winfried Vogt und Gottfried Bombach genannt werden. Bombach hatte nach dem Studium in Cambridge und Kiel 1952 mit einer wachstumstheoretischen Arbeit promoviert, war anschließend 61 Ebd. 62 Domar, Capital Expansion; ders., Expansion and Unemployment; ders., Problem. 63 Hicks, Contribution.

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für einige Jahre als Referent beim Europäischen Wirtschaftsrat tätig, bis er 1957 einen Lehrstuhl in Basel annahm. In seiner Dissertation und mehreren Aufsätzen versuchte Bombach, die Grundannahmen der dynamischen Gleichgewichtsmodelle von Harrod, Domar und Hicks zu übernehmen und durch produktions- und verteilungstheoretische Überlegungen zu ergänzen.64 So schlug er vor, die Bedeutung der Arbeitsproduktivität mit Hilfe einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion zu berücksichtigen.65 Bombach nahm damit Überlegungen der neoklassischen Wachstumstheorie vorweg, die später insbesondere durch den amerikanischen Ökonomen Robert Solow entwickelt wurde.66 Ferner hielt Bombach es für notwendig, die hoch aggregierten Größen der bisherigen Wachstumsmodelle durch sektorale Betrachtungen zu ergänzen, wobei ihm die von Leontief entwickelte InputOutput-Analyse als mögliches Instrument vorschwebte.67 Schließlich stellte er Überlegungen zu einer Theorie des optimalen Wachstums an, die insbesondere von seinem Schüler Carl Christian von Weizsäcker fortgeführt wurden.68 Weizsäcker promovierte 1961 in Basel mit einer Arbeit über »Wachstum, Zins und optimale Investition« und übernahm nach Auslandsaufenthalten am Massachusetts Institute of Technology in Boston und an der Cambridge University 1966 einen Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie an der Universität Heidelberg. Seine im gleichen Jahr erschienene Habilitationsschrift befasste sich mit dem Verhältnis von technischem Fortschritt und Wachstum und war damit ebenfalls einem Grundproblem der Wachstumstheorie gewidmet.69 Erfasste die durch Harrod, Domar und Hicks eingeleitete »wachstumstheoretische Wende« in den fünfziger Jahren somit auch die bundesdeutsche Volkswirtschaftslehre, bleibt zu fragen, in welcher Form diese theoretischen Ansätze aufgenommen und in nationale Forschungstraditionen eingefügt wurden. In den frühen fünfziger Jahren dominierten vor allem solche Studien, die eine Bestandsaufnahme der überwiegend angloamerikanisch geprägten Forschungen anstrebten. Zu diesen zählen zuvorderst die Veröffentlichungen von Karl Brandt und Willy Kraus, insbesondere aber die Kölner Habilitationsschrift von Klaus Rose aus dem Jahre 1957, die dem Stabilitätsproblem im Wirtschaftswachstum gewidmet war.70 Rose, seit 1961 Professor für Volkswirtschaftslehre in Mainz, hat diesem Thema noch eine Reihe weiterer wichtiger Aufsätze gewidmet. Dabei wies er nicht zuletzt auf die Notwendigkeit hin, die abstrakten 64 Bombach, Beiträge; ders., Quantitative und monetäre Aspekte; ders., Wirtschaftswachstum; ders., Neoklassik. 65 Dies hatte allerdings schon Jan Tinbergen 1942 in einem international wenig beachteten Aufsatz getan, auf den Bombach sich auch bezog; vgl. Tinbergen, Theorie. 66 Bombach, Theorie. 67 Ebd., S. 161. 68 Ders., Optimales Wachstum. 69 Weizsäcker, Theorie. 70 Kraus, Wirtschaftswachstum; Brandt; Rose, Stabilität.

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mathematischen Modellableitungen an ihrem praktischen Erkenntniswert zu messen und nach möglichen Anwendungsgebieten zu suchen.71 Diese Forderung wurde auch von anderen Ökonomen wie Walter G. Hoffmann oder Gottfried Bombach erhoben.72 Die nachkeynesianischen Wachstumsmodelle beruhten nämlich auf extrem vereinfachten Grundannahmen – einem konstanten Kapitalkoeffizienten, der Limitationalität der Produktionsfaktoren oder einer stabilen Konsumfunktion – und blendeten Faktoren wie Staatstätigkeit, Außenhandel oder internationaler Kapitalverkehr aus. Überdies schienen Harrods und Domars pessimistische Prognosen über eine »säkulare Instabilität« des Wachstums vor dem Hintergrund des westdeutschen Nachkriegsbooms ebenso unrealistisch wie Keynes’ Stagnationstheorem. Auch in der internationalen Forschung mehrten sich seit geraumer Zeit die Vorbehalte gegenüber den postkeynesianischen Wachstumstheorien, denen man neue, wieder stärker am neoklassischen Paradigma orientierte Modelle entgegensetzte. So stellte der amerikanische Ökonom Robert Solow 1956 ein Modell vor, das auf der Grenzproduktivitätstheorie aufbaute und das Wachstum auf das Zusammenwirken der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zurückführte.73 Solow übernahm dafür eine formal einfach zu handhabende makroökonomische Produktionsfunktion vom Cobb-Douglas-Typ, welche anstatt der Limitationalität der Produktionsfaktoren deren Substitutionalität unterstellte. Die Höhe der Wachstumsrate war nicht – wie in den postkeynesianischen Theorien – von der Spar- und Investitionsquote bzw. vom Unternehmerverhalten abhängig, sondern wurde allein durch die Faktoren Arbeit, Kapital, technischer Fortschritt sowie die Produktionselastizitäten determiniert. Die von Solow begründete »neoklassische« Wachstumstheorie beruht auf der Annahme vollständiger Konkurrenz und flexibler Preise; Unternehmen sind in diesem Fall reine Mengenanpasser, d.h. sie treffen ihre Entscheidung nicht – wie im keynesianischen Modell – autonom, sondern orientieren sich an gegebenen Preisen und Kosten. Die neoklassische Variante der Wachstumstheorie stieß in der bundesdeutschen Volkswirtschaftslehre auf großes Interesse, wenngleich die zugespitzte Kritik von Solow am keynesianischen Paradigma von vielen nicht geteilt wurde. Die scharfen Kontroversen der amerikanischen Forschung fanden in Deutschland kein Echo; vielmehr bemühte man sich um eine Integration postkeynesianischer und neoklassischer Ansätze. Diese Bemühungen lassen sich bereits Anfang der fünfziger Jahre bei Bombach erkennen, der – darauf wurde bereits hingewiesen – 1953 den Vorschlag machte, das HarrodDomar-Modell mit einer substitutionalen Produktionsfunktion zu verbin71 Vgl. ders., Erkenntniswert. 72 Hoffmann, Realitätsbezogenheit; Bombach, Theorie, S. 162. 73 Solow.

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den.74 Alfed E. Ott, ein Schüler Erich Preisers, versuchte, die Rolle des technischen Fortschritts für das Wachstum modelltheoretisch zu bestimmen und kombinierte dabei ebenfalls das Harrod-Domar-Modell mit produktionstheoretischen Ansätzen.75 Der Versuch eines solchen methodischen Brückenschlages ist auch bei den Arbeiten von Willy Kraus, Karl-Heinrich Oppenländer und Hajo Riese zu erkennen.76 Riese, wie Bombach ein Schüler Erich Schneiders, wies etwa darauf hin, dass nach dem neoklassischen Ansatz zwar die Wachstumsrate nicht von den Investitionen abhinge, jedoch das Niveau des Sozialproduktes, auf dem sich der Wachstumspfad einspielt: »Nur eine Synthese der keynesianischen und der neoklassischen Wachstumstheorie kann demnach zu befriedigenden Resultaten führen.«77 So sehr die Auseinandersetzung mit den großen amerikanischen und britischen Ökonomen im Vordergrund stand, lassen sich doch spezifische, aus der deutschen Wissenschaftstradition erwachsene Schwerpunkte und Interessen beobachten. Dies galt etwa für die historische Wachstumsforschung, die vor allem von Walter G. Hoffmann und seinem Schülerkreis an der Universität Münster betrieben wurde. Hoffmann, der bereits 1931 eine Studie zur Industrialisierungsgeschichte vorgelegt hatte, interessierte sich vor allem für den langfristigen Strukturwandel im Rahmen von Wachstumsprozessen.78 Allerdings grenzte er sich bewusst von der älteren, vom Historismus geprägten Stufen- und Stiltheorie ab. Ihm ging es darum, »Bedingungen kreislaufmäßiger Art aufzuzeigen, unter denen das Wachstum der Wirtschaft in seinen verschiedenen Formen denkbar ist, so daß eventuell daraus Anhaltspunkte für eine langfristige Wirtschaftspolitik gewonnen werden können«.79 Hoffmann strebte also keine historische Forschung um ihrer selbst willen an, sondern betrachtete die Geschichte als »Verifikationsfeld … wachstumstheoretischer Lehrsätze«.80 Er scheute sich auch nicht, vergangene Trends in die Zukunft zu extrapolieren, um daraus mittelfristige Wachstumsprognosen abzuleiten.81 Die historische Wachstumsforschung besaß für ihn stets auch eine aktuelle »wirtschaftspolitische Relevanz«.82 Ein weiteres Gebiet, auf dem sich westdeutsche Ökonomen profilierten, war die Verteilungstheorie, die in den Nachkriegsjahrzehnten eng mit der Wachstumstheorie verzahnt war und die insbesondere durch Forschungen 74 75 76 77 78 79 80 81 82

Bombach, Theorie, S. 158f. Ott, Produktionsfunktion. Kraus, Wirtschaftswachstum; Riese, Strukturprobleme; Oppenländer, Wachstumstheorie. Riese, Gleichgewichtswachstum, S. 62. Hoffmann, Stadien; ders., Wachstum. Diskussionsbeitrag von Walther G. Hoffmann, in Albrecht, Problematik, S. 31. Hoffmann, Wachstumstheorie, S. 156. Ders., Möglichkeiten; ders., Wachstumstheorie. Ders., Wachstum, S. VI.

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von Erich Preiser, Wilhelm Krelle und Gottfried Bombach Impulse erhielt.83 Denn es war keineswegs geklärt, ob die funktionale Einkommensverteilung in einer sich dynamisch verändernden Wirtschaft konstant blieb oder ob sich Verschiebungen innerhalb der Einkommensaggregate (Kapitalzins, Lohn, Rente, Unternehmergewinn) ergaben. Umgekehrt musste die Frage gestellt werden, inwiefern die Einkommensverteilung selbst Einfluss auf den Wachstumsprozess hat. Auch in diesem Bereich zeigte sich das Bemühen der deutschen Volkswirte, die klassische, auf der mikroökonomischen Grenzproduktivitätstheorie beruhende Verteilungslehre mit makroökonomischen Kreislaufbetrachtungen zu verbinden.84 Schließlich richtete sich das Interesse in der Bundesrepublik – und dies kann ebenfalls auf spezifische disziplinäre Traditionen zurückgeführt werden – in besonderem Maße auf die Rolle des Staates und seiner Institutionen.85 Wenngleich unumstritten war, dass die hohen Wachstumsraten der Nachkriegszeit vor allem auf der dynamischen Entwicklung des privaten Sektors beruhten, stellte sich die Frage, welche Bedeutung Staat und Parafisci für das gesamtwirtschaftliche Wachstum besaßen.86 Denn trotz der eher konservativen Haushaltspolitik der fünfziger und frühen sechziger Jahre stiegen die öffentlichen Ausgaben sowohl absolut als auch relativ zum Sozialprodukt. Niemand konnte bestreiten, dass der Staat jenseits der reinen Ordnungsaufgaben immer größere Bereiche des wirtschaftlichen Lebens bestimmte.87 Die Wachstumstheorie, egal ob stärker neoklassisch oder keynesianisch orientiert, versuchte diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen, wenn auch mit unterschiedlichen Perspektiven. Während sich die »potenzialorientierte« Neoklassik insbesondere für die Frage interessierte, inwiefern der Staat – durch Ausbildung, Forschung und Technologieförderung – den technischen Fortschritt und damit das Wachstum des Produktionspotenzials beeinflusste, verwiesen keynesianisch ausgerichtete Ansätze vor allem auf die Rolle der Investitionen, die zur Sicherstellung eines dynamischen Gleichgewichts erforderlich waren. Bei der wissenschaftlichen Begründung staatlicher Wachstumspolitik mischten sich freilich meist beide Argumentationslinien, denn Maßnahmen in einem Bereich schlossen Wirkungen in dem anderen nicht aus – im Gegenteil: Komplementäreffekte wurden sogar für sehr wahrscheinlich gehalten.88 So wurde unterstellt, dass öffentliche Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastrukturen nicht nur technischen Fortschritt induzierten, sondern 83 Bombach, Preisstabilität; Krelle, Income Distribution; Preiser, Wachstum; Krelle, Verteilungstheorie; Bombach, Neoklassik; vgl. außerdem Stobbe. 84 Dies gilt vor allem für Preiser, Wachstum und Krelle, Income Distribution. 85 Senf, Finanzpolitik; Werlé, Öffentliche Investitionen; Hesse, Einfluß des Staates; Wittmann; Dürr, Wachstumstheorie; Michel. 86 Vgl. z.B. Littmann, Staatstätigkeit; Neumark, Fiscal Policy. 87 Zahlen bei Adami, S. 13. 88 Vgl. z.B. Hansen, Beitrag.

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auch zu einer Erhöhung der Investitionsquote und damit zu einer Ausweitung der Produktionskapazitäten führten. Die Verschmelzung der Konjunkturlehre mit der Wachstumstheorie veränderte auch die Sicht auf die Wirtschaftspolitik. Betrachtete man nämlich Konjunkturbewegungen als Störungen des Wachstumstrends – und diese Auffassung setzte sich seit Mitte der fünfziger Jahre immer stärker durch –, dann waren Konjunktur- und Wachstumspolitik zwei Seiten der gleichen Medaille und mussten eng aufeinander abgestimmt werden.89 So betonte der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium 1956, die Ziele der Konjunkturpolitik seien nur dann verwirklicht, wenn gleichzeitig die Wachstumsrate »stets positiv und möglichst stetig gehalten« werde.90 Und in eine ähnliche Richtung gingen die Überlegungen von Theodor Pütz, der die Konjunkturpolitik als Teil einer »Gesamtwirtschaftspolitik« betrachtete, »welche alle ihre Maßnahmen am Ziel eines möglichst stetigen Wachstums orientiert«.91 Bombach betrachtete eine eigenständige Konjunkturpolitik gar als hinfällig: »Wenn stetiges Wachstum zum Postulat der Wirtschaftspolitik erhoben wird, ist es somit überflüssig, gleichzeitig noch Stabilisierung der ökonomischen Aktivität zu fordern. Stetiger Fortschritt und eine Entwicklung frei von zyklischen Einkommens- und Beschäftigungsschwankungen sind identische Forderungen.«92 Aus wissenschaftlicher Sicht stellte sich freilich die Frage, was unter »möglichst stetigem Wachstum« zu verstehen war. Wie groß durften die Abweichungen vom Trend sein, um noch als »stetig« zu gelten? Überdies blieb offen, wie dieser Trend überhaupt aussehen sollte, mit welcher Geschwindigkeit also eine Volkswirtschaft zu wachsen habe. Die frühen Wachstumstheorien hatten darüber keine Auskunft gegeben. Wenn etwa Harrod 1949 von einer »natürlichen« Wachstumsrate als »the rate of advance which the increase of population and technological improvements allow« sprach,93 ließen sich daraus nur bedingt Schlussfolgerung ziehen, welches Wachstum von einer Gesellschaft angestrebt werden sollte. Ein in den sechziger Jahren auch von deutschen Wachstumstheoretikern beschrittener Weg zielte darauf, ein »optimales« Wachstum mit Hilfe der Wohlfahrtstheorie zu bestimmen.94 So entwickelte Hans-Jürgen Vosgerau in seiner 89 Vgl. die von der Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute veranstaltete Tagung über »Konjunkturpolitik oder Wachstumspolitik?« am 19.1.1962 in Berlin; Vorträge und Dokumente in BAK, B 126/2083. 90 Gutachten vom 11.10.1955, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1955–56, S. 28–71. 91 Pütz, S. 187. 92 Bombach, Wirtschaftswachstum, S. 69. 93 Harrod, Dynamic Economics, S. 87. 94 Vgl. v.a. Bombach, Optimales Wachstum; Weizsäcker, Wachstum; Riese, Gleichgewichtswachstum; zur internationalen Diskussion v.a. Meade; Phelps; Robinson.

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Heidelberger Habilitationsschrift aus dem Jahre 1963 ein dynamisches Wachstumsmodell, das eine volkswirtschaftliche Produktionsfunktion mit einer gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion verknüpfte.95 Vosgerau wies ausdrücklich auf die praktische Relevanz seiner Forschung hin, nämlich den politischen Entscheidungsträgern eine wissenschaftliche Grundlage für ihr Handeln zu geben. Freilich war er sich bewusst, dass sein hoch aggregiertes und auf restriktiven Annahmen beruhendes Modell nur bedingt auf die Wirklichkeit übertragbar war.96 Die Bestimmung eines »Optimalwachstums« blieb letztlich ein theoretisches Problem, dessen Lösung keine unmittelbaren Anwendungsmöglichkeiten für die politische Praxis bot. Wachstumspolitische Zielgrößen wurden – dies wird noch eingehend dargestellt – eher intuitiv oder aus empirisch gewonnenen Durchschnittswerten bestimmt. Viel stärker interessierte man sich für die Herausforderung, inwieweit Wachstumsprozesse beeinflusst oder gar gesteuert werden konnten. Die vielfach gestellte Frage »Wieweit ist Wirtschaftswachstum machbar?«97 verwies auf ein komplexes Bündel wirtschaftspolitischer Aufgaben und Planungen des Staates. »Mit dem Anwachsen der öffentlichen Haushalte«, so Alfred Hartmann, »hat der Staat über den Rahmen seiner reinen Verwaltungstätigkeit hinaus immer umfangreichere Aufgaben übernommen, so daß heue die Finanzpolitik staats-, gesellschafts- und wirtschaftspolitische Zielsetzungen umfaßt.«98 Der Kölner Professor für Staatswissenschaften Günter Schmölders sprach von einer »Polythematik der Finanzpolitik«, welche Wissenschaft und Politik vor neue Herausforderungen stelle.99 In der Tat vollzogen sich auf dem Gebiet der Finanzwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg tiefgreifende Veränderungen, die das traditionelle Selbstverständnis des Faches erschütterten.

3. Von der Finanzwirtschaftslehre zur »Fiscal Theory« Die Finanzwissenschaft galt in Deutschland lange Zeit als »Sonderdisziplin« der Nationalökonomie. Durch ihre traditionelle Zugehörigkeit zu den Kameralwissenschaften besaß sie zwar eine herausgehobene Bedeutung, blieb aber von der nationalökonomischen Forschung weitgehend separiert. Das Hauptaugenmerk der Disziplin richtete sich bis in die 1920er Jahre hinein vor allem auf historisch-institutionelle Fragen sowie auf praktische Probleme der Fi95 96 97 98 99

Vosgerau. Ebd., S. 114f. Oppenländer, Wirtschaftswachstum. Hartmann, S. 189. Schmölders, Finanzpolitik, S. 4.

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nanzgesetzgebung und der Steuerverwaltung.100 Wie sich die Steuer- und Budgetpolitik auf die Funktionsweise der Gesamtwirtschaft auswirkt, blieb demgegenüber unbeachtet. Das hing auch mit der eigentümlichen Trennung von Einnahme- und Ausgabenseite zusammen, welche die akademische Tradition in Deutschland kennzeichnete. Noch 1952 sah Wilhelm Gerloff das »Erkenntnisobjekt« der Finanzwissenschaft in der »öffentlich-wirtschaftliche(n) Beschaffung und Bereitstellung der einer öffentlichen Wirtschaft zur Erfüllung ihrer Zwecke erforderlichen Mittel«, während die Ausgabenseite Gegenstand der Verwaltungslehre sei.101 Ferner hielt Gerloff eine übertriebene Theoretisierung des Faches für schädlich. In der Finanzwissenschaft, betonte er in seinem 1948 erschienenen Lehrbuch, sei »in der Regel nicht die Theorie den Tatsachen vorausgegangen«, vielmehr hätten die Tatsachen »der Theorie die Aufgaben gestellt und den Weg gewiesen«.102 Die noch ganz in der Tradition der klassischen Finanzwirtschaftslehre stehende Auffassung Gerloffs war Anfang der fünfziger Jahre aber nicht mehr herrschende Meinung. Allseits wurde nun die »Ökonomisierung der Finanzwissenschaften« propagiert, welche Fritz Karl Mann bereits 1929 als methodische Herausforderung des Faches bezeichnet hatte.103 Die Theorie der öffentlichen Finanzen sollte demnach Bestandteil der allgemeinen Volkswirtschaftstheorie sein und mit Hilfe makroökonomischer Modelle analysiert werden.104 Dieses zugleich ausgreifende und integrative Verständnis entsprach einem allgemeinen Forschungstrend, der vor allem von amerikanischen Ökonomen wie Alvin Hansen, Edward Allen und Carl Shoup propagiert und unter der Bezeichnung »fiscal theory« in die internationale Diskussion eingeführt wurde.105 Die Zusammenführung von klassischer Finanzwirtschaftslehre und moderner Makroökonomik war nicht zuletzt das Werk jener deutschen Ökonomen, die in den dreißiger Jahren in die Vereinigten Staaten emigrieren mussten und dort rasch Anschluss an neue Methoden fanden. Eine herausragende Rolle spielte in diesem Zusammenhang Gerhard Colm, der bereits in seiner 1927 erschienenen Habilitationsschrift den Versuch unternommen hatte, die Wirkung der Staatsausgaben auf den volkswirtschaftlichen Kreislauf zu bestim-

100 Vgl. Schulz, Dogmengeschichte; Häuser. 101 Gerloff, Grundlegung, S. 17. 102 Ders., Finanzwirtschaft. 103 Mann, Staatswirtschaft. 104 Vgl. Haller, Finanzpolitik; das erste Kapitel dieser Einführung trug den Titel: »Die öffentliche Finanzwirtschaft als Glied der Volkswirtschaft« und enthielt eine umfassende kreislaufanalytische Darstellung der Staatstätigkeit; außerdem Littmann, Problematik; Bombach, Staatshaushalt. 105 Vgl. Peacock, Entwicklungen. Zu den Kritikern der »fiscal theory« gehörte in Deutschland v.a. der Kölner Finanzwissenschaftler Günter Schmölders; vgl. Schmölders, Finanzpolitik.

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men.106 Colm, der nach längerer Tätigkeit im Statistischen Reichsamt die Abteilung für internationale Konjunkturforschung am Kieler »Institut für Weltwirtschaft« geleitet hatte, emigrierte 1933 nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst in die USA. Dort nahm er zunächst an der New Yorker »New School« eine Professur an, bis er 1939 in die New Deal-Administration von Präsident Roosevelt wechselte.107 Zwischen 1940 und 1946 war er an leitender Stelle im Budgetamt tätig, 1946 wurde er als Senior Economist in den neu gegründeten »Council of Economic Advisors« berufen und zwischen 1952 und 1968 war er Chefökonom der »National Planning Association«. Colms Bemühungen, die staatliche Budget- und Steuerpolitik mit Hilfe statistischer Planungsmethoden auf die Erfordernisse der Volkswirtschaft abzustimmen, wurden auch in Deutschland mit großem Interesse wahrgenommen. Er galt als einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und des Nationalbudgets. Bereits 1949 erschien ein Beitrag Colms mit dem Titel »Der Staatshaushalt und der Haushalt der Gesamtwirtschaft« im »Finanzarchiv«, drei Jahre später verfasste er den Beitrag über »Haushaltsplanung, Staatsbudget, Finanzplan und Nationalbudget« in dem von Wilhelm Gerloff und Fritz Neumark herausgegebenen »Handbuch der Finanzwissenschaft«, das 1952 in neuer Auflage erschien.108 Colm publizierte in Deutschland nicht nur zu Problemen der Wirtschaftstheorie und -statistik, sondern informierte das deutsche Publikum auch regelmäßig über die amerikanische Wirtschaftspolitik.109 Bereits 1946 war er als Berater der amerikanischen Militärverwaltung nach Deutschland zurückgekehrt, um an den alliierten Planungen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau mitzuwirken. Gemeinsam mit Raymond Goldsmith und Joseph M. Dodge verfasste er ein Gutachten über die Währungs- und Finanzlage in Deutschland, das der weiteren Debatte über die Währungsreform wichtige Impulse gab (Colm-Dodge-GoldsmithPlan).110 In den fünfziger Jahren hielt er zahlreiche Vorträge in Deutschland, wurde mehrfach ausgezeichnet und stand insbesondere in engem Kontakt mit seiner früheren Wirkungsstätte, dem Kieler »Institut für Weltwirtschaft«.111 Noch stärker als Colm prägte der deutschstämmige Ökonom Richard Abel Musgrave die theoretische Erneuerung der Finanzwissenschaften. Musgrave 106 Colm, Volkswirtschaftliche Theorie. 107 Ausführlich zu Biographie und Werk: Hoppenstedt; vgl. außerdem den biographischen Artikel von Hagmann in: Krohn u.a., S. 104–113. 108 Colm, Staatshaushalt; ders., Haushaltsplanung. 109 Ders., Entwicklungen; ders., Selbstverpflichtung; ders., Beschäftigungsgesetz; ders., Konjunkturpolitik. 110 Möller, Vorgeschichte, S. 214ff. 111 U.a. erhielt Colm 1960 das Große Bundesverdienstkreuz, wurde 1961 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Frankfurt und 1964 mit dem Bernhard-Harms-Preis des Kieler Instituts für Weltwirtschaft ausgezeichnet; seit 1962 war er auswärtiger Korrespondent des Instituts.

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war im Herbst 1933 mit Hilfe eines bereits 1932 genehmigten DAAD-Stipendiums an die Rochester University (N.Y.) gegangen und hatte 1934 ein Ph.D.Studium in Harvard begonnen, wo er u.a. Kurse bei Schumpeter, Leontief und Alvin Hansen besuchte. In dieser Zeit lernte er zahlreiche Wissenschaftler der jüngeren Generation kennen, darunter Paul Samuelson, Simon Kuznets und Lloyd Metzler, welche in den fünfziger und sechziger Jahren eine wichtige Rolle in den amerikanischen Wirtschaftswissenschaften spielen sollten.112 Musgraves steile akademische Karriere – nach einer sechsjährigen Tätigkeit in der Forschungsabteilung des »Board of Directors« der amerikanischen Notenbank nahm er Professuren an der University of Michigan in Ann Arbor, an der Johns Hopkins University in Baltimore sowie in Princeton und Harvard an – wurde bereits durch seine Dissertation begründet.113 Anknüpfend an die Arbeiten von Pigou, Wicksell und Lindahl entwarf Musgrave die Grundlinien einer Theorie des öffentlichen Sektors, welche die Bereitstellung kollektiver Güter auf individuelle Nutzenbedürfnisse zurückführte. Staatliche Eingriffe und die Produktion von öffentlichen Gütern dienten demnach in erster Linie der Kompensation externer Effekte. Mit seiner später entwickelten Theorie der »meritorischen« Güter wich Musgrave allerdings von seiner rein nutzentheoretischen Begründung ab, denn sie rechtfertigte staatliche Eingriffe jenseits der individuellen Präferenzordnungen. Insbesondere Musgraves 1959 veröffentliche »Theory of Public Finance«, die 1967 in deutscher Übersetzung erschien, gilt als Meilenstein der finanzwissenschaftlichen Lehrbuchliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg.114 Seine darin formulierte »multiple Theorie des öffentlichen Haushaltes« stellt ein übergreifendes Ordnungsschema für die Begründung staatlicher Tätigkeit bereit. Der Ausgangspunkt ist die gedankliche Aufspaltung des Budgets in drei Abteilungen (branches). Die Allokationsabteilung hat dafür zu sorgen, kollektive und meritorische Güter bereitzustellen, Marktversagen zu verhindern und externe Effekte auszugleichen. Der Distributionsabteilung fällt die Aufgabe zu, über die Steuer- und Ausgabenpolitik soziale Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Die Stabilitätsabteilung soll durch kompensatorische Budgetpolitik Vollbeschäftigung, Wachstum und Preisniveaustabilität sichern. Ein übergeordneter, simultaner Budgetprozess koordiniert die Aufgaben der einzelnen Abteilungen.115 Musgraves normative Begründung der Staatstätigkeit und deren Einordnung in ein marktwirtschaftliches Umfeld hat in der Bundesrepublik starken Anklang gefunden – gerade weil sich hier für die deutsche Steuer- und Finanzlehre vielfältige Anknüpfungspunkte boten. Musgrave verband auf einzigartige Weise die Systematik der älteren Finanzwissenschaft mit den theoretischen 112 113 114 115

Musgrave, Traditions, S. 33. Ders., Voluntary Exchange Theory. Ders., Theory of Public Finance; ders., Finanztheorie. Ders., Theory of Public Finance, S. 3–27.

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Neuerungen der mikroökonomischen Wohlfahrtstheorie und der keynesianischen Kreislaufanalyse. Seine Theorie wurde nicht nur durch seine ins Deutsche übersetzten Lehrbücher, sondern auch durch zahlreiche Fachaufsätze in Deutschland bekannt. So stellte er seine »multiple Budgettheorie« bereits 1957 – zwei Jahre vor dem Erscheinen seines bahnbrechenden Buchs – im »Finanzarchiv« vor, ferner verfasste er den Beitrag über die »Theorie der öffentlichen Schuld« im »Handbuch der Finanzwissenschaft«.116 Auch persönlich knüpfte Musgrave rasch wieder Kontakte in die alte Heimat – bereits 1948 kehrte er als Mitglied einer amerikanischen Delegation nach Deutschland zurück, um die Möglichkeiten eines Wiederaufbaus zu erkunden – und wurde mit mehreren Ehrendoktorwürden sowie dem Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung ausgezeichnet.117 Zu den Vermittlern zwischen amerikanischen und deutschen Wissenschaftstraditionen zählte auch Fritz Karl Mann, der Ende der zwanziger Jahre die Kölner Schule der Finanzwissenschaften begründet hatte. Mann verließ Deutschland 1936 als rassisch Verfolgter des NS-Regimes und ging mit Hilfe eines Rockefeller-Stipendiums in die USA, wo er bereits kurz nach seiner Ankunft auf eine Professur an der American University in Washington berufen wurde.118 Eine Generation älter als Colm und Musgrave und noch stärker durch die klassische deutsche Finanzlehre geprägt, hat Mann die makroökonomische Erweiterung der Finanzwissenschaften nicht in gleichem Maße vorangetrieben wie seine beiden Fachkollegen. Der Schwerpunkt seiner Forschungen blieb die Steuerwirkungslehre, ferner bemühte er sich seit den fünfziger Jahren um eine Verknüpfung der soziologischen und finanzwissenschaftlichen Forschung und veröffentlichte mehrere dogmengeschichtliche Arbeiten.119 Dennoch trug er dazu bei, die amerikanische Diskussion im Nachkriegsdeutschland bekannt zu machen, denn obwohl er sich nicht zu einer endgültigen Rückkehr in sein Heimatland entscheiden konnte, hielt er regelmäßig Gastvorlesungen an der Kölner Universität und publizierte mehrere Beiträge zur amerikanischen Budgettheorie in deutschen Fachzeitschriften.120 Zur Erneuerung der deutschen Finanzwissenschaften trug in den fünfziger Jahren ein weiterer Emigrant bei: Fritz Neumark, der 1952 aus dem türkischen Exil – wo er mit Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke an der Universität Istanbul gelehrt hatte – nach Deutschland zurückkehrte und einen Ruf an die 116 Ders., Multiple Theory; ders., Theorie der öffentlichen Schuld. 117 W. Wiegard, Richard Abel Musgrave, in: Krohn u.a., S. 483. 118 Vgl. K. Weinhard, Fritz Karl Mann, in: ebd., S. 410–415. 119 Mann, Finanztheorie. 120 Bereits 1952 erschien im Handbuch der Finanzwissenschaft ein Artikel Manns über die »Geschichte der angelsächsischen Finanzwissenschaft«; Mann, Geschichte; außerdem ders., Wirtschaftsgleichgewicht; ders., Konjunktur- und finanzpolitische Lage; vgl. auch Finanzwissenschaftliche Forschung; Hansmeyer/Mackscheidt.

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Universität Frankfurt als Nachfolger seines Lehrers Wilhelm Gerloff annahm.121 Neumark war neben dem in Köln lehrenden Günter Schmölders zweifellos der einflussreichste Finanzökonom der Nachkriegszeit.122 Als Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik und als Mitglied zahlreicher wirtschaftspolitischer Fachgremien prägte er nicht nur die wissenschaftliche Entwicklung seines Faches, sondern übte als Politikberater und Publizist auch großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik aus. Zugleich verkörperte Neumark wie kein anderer den tiefgreifenden Wandel der deutschen Nationalökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine 1929 erschienene Frankfurter Habilitationsschrift über den Reichshaushaltsplan stand noch in der Tradition der klassischen finanz- und verwaltungswissenschaftlichen Schule. Nach 1945 gehörte er jedoch zu jenen Wissenschaftlern in Deutschland, die sich um eine konsequente internationale Öffnung des Faches bemühten. So stammten etwa zwei Drittel aller Beiträge in dem von Neumark gemeinsam mit Gerloff herausgegebenen Handbuch der Finanzwissenschaften von ausländischen bzw. im Ausland lehrenden Autoren, darunter so renommierte Ökonomen wie Ugo Papi, Jan Tinbergen und Alan Peacock.123 Von dem zweiten Band ab – Gerloff starb 1954 – führte Neumark die Herausgeberschaft alleine fort und konnte dabei seine internationalen Kontakte nutzen, die er u.a. während seiner Lehrtätigkeit in der Türkei geknüpft hatte. Dies wirkte sich auch auf seine Tätigkeit als Herausgeber des »Finanzarchivs« (1955–88) aus, das seit Mitte der fünfziger Jahre immer häufiger ausländische Beiträge veröffentlichte. Neumark war – anders als Musgrave oder Colm – kein revolutionierender Theoretiker seines Faches. Trotz originärer Forschungsarbeiten zum Haushalts- und Einkommenssteuerrecht bestand seine eminente Bedeutung in erster Linie darin, verschiedene Methoden und Richtungen der finanzwissenschaftlichen Forschung aufzugreifen und auf ihre praktische Anwendbarkeit zu überprüfen.124 Neumark war skeptisch gegenüber dem generalisierenden und gleichsam naturgesetzlichen Charakter, den viele Ökonomen für ihre Theorien beanspruchten. Vielmehr ging er davon aus, dass die »materiellen wie ideologischen Bedingungen der ökonomisch-sozialen Wirklichkeit« zu berücksichtigen seien, um wirtschaftliche Phänomene zu erklären.125 Neumark löste sich daher nicht vollständig von dem Empirismus der Historischen Schule, so wenig er deren theoretische Prämissen in anderer Hinsicht auch teilen mochte. 121 Vgl. zur Emigrationserfahrung autobiographisch Neumark, Zuflucht; außerdem H. Peukert, Fritz Neumark, in: Krohn u.a., S. 500–508 sowie Buhbe. 122 Vgl. Timm. 123 Gerloff/Neumark. 124 So auch in seinen Arbeiten zum Einkommensteuerrecht; vgl. z.B. Neumark, Entwicklungstendenzen. 125 Ders., Gedanken, S. 474.

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Trotz der fortbestehenden Verbundenheit mit der historisch-institutionalistischen Tradition der deutschen Nationalökonomie plädierte Neumark für eine Adaption der jenseits des Atlantiks diskutierten Neuerungen der »Fiscal Policy« und der Budgetplanung.126 In einem Aufsatz, den Neumark 1957 in einer Festschrift für Ludwig Erhard veröffentlichte, unterschied er zwischen einer »dirigistischen« und einer »interventionistischen« Politik.127 Während jene auf unsystematischen und punktuellen Eingriffen in das Wirtschaftsgeschehen beruhte, die häufig – wie etwa im Falle von Einzelsteuern und Subventionen – zur Befriedigung von Sonderinteressen dienten, verstand er unter einem »rationalen Interventionismus« eine zielgerichtete und langfristig orientierte Politik zur Sicherung von Wachstum, Vollbeschäftigung und Verteilungsgerechtigkeit. Letztere müsse jedoch »marktkonform« sein, d.h. nur durch »indirekte (finanziell-monetäre) und rein quantitative Eingriffe« wirken.128 Neumark hielt es für unvermeidbar, dass die Staatsausgaben der modernen Industriestaaten immer weiter steigen würden, hielt allerdings einen relativen Rückgang der Staatsquote angesichts hoher Wachstumsraten durchaus für möglich.129 Dass mit den wachsenden Aufgaben des Staates auch neue Instrumente der politischen Planung und Entscheidungsfindung geschaffen werden mussten, war Neumark durchaus bewusst. Die klassische staatliche Haushaltsführung mit ihrer strikten Orientierung am Deckungsprinzip und einem relativ engen Zeithorizont durch die einjährige Rechnungsperiode hielt er für obsolet. Vielmehr müssten moderne Budgetverfahren eingeführt werden, »damit der Haushaltsplan nicht nur für eine ordnungsmäßige Verwaltung, sondern auch für eine weit über das Fiskalische hinausreichende Rationalität der öffentlichen Finanzwirtschaft, kurz gesagt: eine optimale Allokation der gesamtwirtschaftlichen Ressourcen, ein brauchbares Mittel darstellt.«130 Als Vorbild einer solchen »Rationalität der öffentlichen Finanzwirtschaft« betrachtete Neumark – und mit ihm viele andere Wissenschaftler – die USA, wo seit den dreißiger Jahren die Möglichkeiten einer modernen Finanzplanung diskutiert und partiell umgesetzt wurden.131 Unter anderem war zu Kriegsbeginn eine »Fiscal Analysis Divison« im amerikanischen Budgetamt eingerichtet worden, welche die Probleme der Kriegsfinanzierung bewältigen sollte. Nach dem Krieg wurden im Zuge des Employment Acts von 1946 weitreichende Budgetplanungsver126 Ders., Fiscal Policy; vgl. auch ders., Fiskalpolitik. 127 Ders., Steuerpolitik; vgl. auch Haller, Staatsintervention. 128 Neumark, Steuerpolitik, S. 459. 129 Ders., Aktuelle Fragen. 130 Ders., Planung, S. 174; ders., Mittelfristige Finanzplanung; vgl. auch zur Debatte Stucken/Sies. 131 Vgl. etwa Baade, Longterm-Plan; Schmölders, Entwicklung; Mann, Wirtschaftsgleichgewicht.

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fahren implementiert.132 Dass sich der Blick der deutschen Volkswirte in erster Linie auf Amerika richtete – und nicht etwa auf Großbritannien, die Niederlande oder Schweden, wo nach 1945 ähnliche Methoden praktiziert wurden –, dürfte nicht zuletzt auf den Einfluss deutsch-amerikanischer Ökonomen wie Musgrave, Mann und Colm zurückzuführen sein.133 Auch in politischen Kreisen wuchs das Interesse an der amerikanischen Budgetpraxis und an den jenseits des Atlantiks entwickelten Methoden des »Planning-programming-budgeting« und der »Cost-benefit-analysis«. So wurden im Bundesfinanzministerium und am Bundesrechnungshof seit 1952 Überlegungen angestellt, eine Reform des Bundeshaushaltsrechtes durchzuführen. Sie sollte die im Juni 1950 in Kraft getretene »Vorläufige Haushaltsordnung« ablösen, die auf der Reichshaushaltsordnung von 1922 beruhte und als hoffnungslos veraltet galt.134 Als Vorbild diente dabei das amerikanische Finanz- und Budgetsystem.135 Auch wenn die Reform der öffentlichen Finanzen erst in den späten sechziger Jahren vollendet wurde, zeichnete sich schon im Jahrzehnt nach Gründung der Bundesrepublik ein Paradigmenwechsel in der finanzwissenschaftlichen und -politischen Diskussion ab. Dieser Wechsel war durch zwei Entwicklungen gekennzeichnet. Zum einen wurde die Finanzlehre in die moderne ökonomische Theorie eingebettet. Die »Theorie der öffentlichen Finanzen«, welche den Staatssektor als Ganzes in den Blick nahm und in seinen ökonomischen Funktionen und Wechselwirkungen mit der Gesamtwirtschaft analysierte, gewann in den fünfziger und sechziger Jahren großen Einfluss. Dabei amalgamierten die deutschen Traditionen der Staatswissenschaften mit den angelsächsischen Strömungen der modernen Makroökonomie, woran deutsch-amerikanische Ökonomen wie Musgrave und Colm einen maßgeblichen Anteil hatten. Zum anderen trat der Staat nun als wirtschaftlicher Akteur stärker ins Blickfeld der Ökonomen. Dabei ging es nicht nur, wie bei den Vertretern der Historischen Schule, um eine Darstellung und Typisierung staatlichen Wirtschaftshandelns. Es ging auch weniger darum, die Rolle staatlicher Institutionen für die Funktionsfähigkeit von Marktprozessen zu analysieren, wie dies die Ordnungstheorie der Freiburger Schule getan hatte. Vielmehr sollte ein 132 Stein, Fiscal Revolution; Jones; Rosenof; Balisciano; Frühbrodt/Holtfrerich. 133 Vgl. Hagemann, Einfluß. 134 Vialon, S. 108–118. 1954 wurde vom BMF und vom Bundesrechnungshof eine Arbeitsgruppe zur Reform des Haushaltsrechts eingesetzt. 135 So begab sich im Sommer 1955 eine hochrangige Delegation deutscher Finanzexperten auf eine sechswöchige Reise in die USA, um Einblicke in die amerikanische Budgetpraxis zu gewinnen. Vgl. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses betr. Reise in die USA zum Studium der amerikanischen Budget-Verhältnisse, 12.10.1955, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. I/245; Bericht der Abgeordneten Schoettler, Blank und Vogel über die Ergebnisse der Reise in die USA zum Studium der amerikanischen Budget-Verhältnisse, in: ACDP, I–475, 005/6.

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wissenschaftliches Instrumentarium geschaffen werden, das korrigierende Eingriffe des Staates in den laufenden Wirtschaftsprozess ermöglichte und rechtfertigte. Im Mittelpunkt stand somit nicht mehr die qualitative Analyse, sondern die quantifizierende Untersuchung wirtschaftlicher Prozesse. Dies erforderte allerdings den Einsatz umfassender ökonometrischer Verfahren, die wiederum auf gesicherte Daten und Statistiken angewiesen waren. Die Stunde der empirischen Wirtschaftsforschung hatte geschlagen.

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III. »Am Röntgenschirm der Volkswirtschaft« Im September 1954 hielt Hans Langelütke auf der 25. Jahresversammlung der »Deutschen Statistischen Gesellschaft« in Trier einen viel beachteten Vortrag.1 Unter dem Titel »Integrative Tendenzen der Wirtschafts- und Sozialforschung« beschrieb Langelütke – Leitender Regierungsdirektor im Bayerischen Statistischen Landesamt und als ehemaliger Mitarbeiter Ernst Wagemanns Experte auf dem Gebiet der empirischen Wirtschaftsforschung – die Probleme, Chancen und künftigen Aufgaben seines Faches. Langelütke beklagte das »systemlose Vielerlei unverbundener Theorien und verselbständigter Teilbereiche«, welche die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Deutschland immer noch kennzeichne.2 Wie in anderen Disziplinen, etwa der Physik, der Medizin oder der Psychologie, müsse es auch in der ökonomischen Forschung zu einer Integration verschiedener Richtungen unter dem Dach einer »Wirtschaftswissenschaft« kommen. So wie der Internist ein Bild vom gesamten Körper und dessen Funktionszusammenhängen haben müsse, selbst wenn er nur die Krankheit eines bestimmten Organs diagnostiziere, benötige auch der Ökonom ein breites Wissen über wirtschaftliche Gesamtzusammenhänge.3 Wenn Langelütke von einer »Integration« sprach, dachte er dabei nicht an die »ontologischen« Wirtschaftslehren der Zwischenkriegszeit, sondern an eine systematische Verbindung von Wirtschaftstheorie, mathematischer Modellanalyse und empirischer Sozialstatistik. Nur so könne man »sich aus der fachwissenschaftlichen Isolierung« lösen und zur »verbindenden Systemeinheit Wirtschaft« gelangen, die den Anforderungen und Standards des internationalen Wissenschaftsbetriebes gerecht würde.4 Doch es ging Langelütke nicht nur um eine fachinterne Neuorientierung. Sein Plädoyer für eine ökonometrische Wende in der Wirtschafts- und Sozialforschung zielte vielmehr auch auf die praktische Anwendung. So prognostizierte Langelütke einen wachsenden Bedarf der Unternehmen an wissenschaftlich fundierten Marktund Absatzanalysen. Ferner müssten neue »Durchleuchtungsinstrumente« wie die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zum »Bestandteil einer modernen Wirtschafts- und Staatsführung« werden.5

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Langelütke, Tendenzen. Ebd., S. 314. Vgl. ders., Integrationserscheinungen, S. 319. Ders., Tendenzen, S. 320. Ebd., S. 324.

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Ganz ähnlich sah dies auch Albert Wissler, Leiter der Konjunkturabteilung im »Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung« in Berlin und Herausgeber der 1955 gegründeten Zeitschrift »Konjunkturpolitik«.6 Wissler plädierte dafür, an die empirische Wirtschaftsforschung die gleichen methodischen Maßstäbe anzulegen wie an die Naturwissenschaften. Als Vorbild betrachtete er die moderne Physik, die auf der Basis theoretischer Vorannahmen mathematisch formalisierte Modelle konstruierte und diese durch exakte Messung empirisch überprüfte.7 Nach diesen Prinzipien sollte auch die Wirtschaftsforschung verfahren, was freilich bedeutete, dass sie sich voll und ganz von ihren geisteswissenschaftlichen Traditionen zu lösen hatte. Zugleich warnte Wissler aber auch vor einer »Politisierung der Wirtschaftswissenschaft«. Trotz aller praktischen Relevanz, die wissenschaftliche Erkenntnisse zweifelsohne besäßen, müsse sich die Ökonomie einem hohen Objektivitätsanspruch unterwerfen und eine klare Trennung von »normativen« und »formal und experimentell arbeitenden Erkenntnisrichtungen« wahren. Politische und ethische Normen seien »in der Garderobe vor Eintritt in den Arbeitssaal der modernen Wissenschaft« abzugeben.8 Wissenschaftlicher Objektivitätsanspruch und ein am mathematisch-naturwissenschaftlichen Denken orientiertes Methodenbewusstsein prägten somit die ökonometrische Forschung, welche nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland einen starken Aufschwung erlebte. Das gewandelte Wissenschaftsverständnis schlug sich auch in der praktischen Organisation der Forschung nieder, die immer weniger im Rahmen individueller Tätigkeit bewältigt werden konnte. Langelütke, seit 1955 Präsident des Ifo-Instituts, machte diesen Sachverhalt deutlich, wenn er die wachsende Bedeutung von »team work« hervorhob. Dies widersprach keineswegs seinem integrativen Wissenschaftsverständnis – im Gegenteil: Der Zwang zur Spezialisierung und Arbeitsteilung ließ sich seiner Auffassung nach nur durch eine enge institutionelle Kooperation mehrerer Wissenschaftler bewältigen. Das galt für Langelütke nirgendwo mehr als in der empirischen Wirtschafts- und in der Konjunkturforschung, die »zum orchestralen Einsatz unter Heranziehung aller Instrumentalisten geradezu zwingt«.9

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Vgl. Nachruf von H. Martell auf Wissler, in: Konjunkturpolitik, Bd. 3, 1957, S. 259–264. Wissler, Empirische Konjunkturforschung, S. 64. Ebd., S. 78. Langelütke, Integrationserscheinungen, S. 318.

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1. Der Aufstieg der empirischen Wirtschaftsforschung Das Bedürfnis, aktuelle Entwicklungen der Wirtschaft möglichst präzise zu messen und durch statistische Standardverfahren zu erfassen, war keineswegs neu. Schon in den zwanziger Jahren hatte es Bemühungen gegeben, eine systematische Konjunkturbeobachtung zu etablieren, um nicht nur die Politik, sondern auch Unternehmen und Verbände über gegenwärtige und zukünftige Trends zu informieren. Vorreiter auf diesem Gebiet waren die USA, wo nach dem Ersten Weltkrieg statistische Verfahren für die Erfassung von Produktions-, Preis- und Einkommensbewegungen entwickelt worden waren. So publizierte das 1917 eingerichtete »Harvard University Committee of Economic Research« seit 1919 ein »Konjunkturbarometer«. Die Barometermethode beruhte auf Preisstatistiken aus der Vorkriegszeit, die zu drei Kurven zusammengefasst wurden, welche die Entwicklung auf dem Effekten-, Waren- und Geldmarkt abbildeten. Es wurde davon ausgegangen, dass die Phasenbewegungen der drei Kurven in ihrem zeitlichen Ablauf Regelmäßigkeiten aufwiesen, aus denen sich allgemeine Konjunkturprognosen ableiten ließen.10 Seit 1920 legte das »National Bureau of Economic Research« in New York ebenfalls in regelmäßigen Abständen Konjunkturberichte mit Daten über Beschäftigung, Einkommen und Preise vor.11 Auch in Deutschland wurde die Wirtschaftsbeobachtung in den zwanziger Jahren institutionell ausgebaut. Eine wichtige Rolle spielte dabei das 1925 von Wilhelm Vershofen ins Leben gerufene »Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware« in Nürnberg, das sich vor allem der Markt- und Konsumforschung widmete und nach 1945 in der »Gesellschaft für Konsumforschung« in Nürnberg aufging, ferner das Berliner »Institut für Konjunkturforschung« (IfK), das der Präsident des Statistischen Reichsamtes Ernst Wagemann 1925 eingerichtet hatte, um ergänzend zur amtlichen Statistik Wirtschaftsinformationen für Politik, Verwaltung und Unternehmen aufzubereiten.12 Das IfK übernahm wesentliche Elemente der in Amerika entwickelten Barometermethode und führte ergänzende Forschungen zur Industrieproduktion und zur Volkseinkommensrechnung durch. Eine wichtige Bedeutung besaß schließlich das bereits 1914 von Bernhard Harms gegründete »Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft« in Kiel, das 1926 eine Abteilung für Statistische Weltwirtschaftskunde und Internationale Konjunkturforschung einrichtete und das in der Weimarer Republik zu den innovativsten 10 Harvard University Committee on Economic Research. 11 Colm, Entwicklungen, S. 9. 12 Die Konjunkturforschung der Zwischenkriegszeit ist inzwischen gut erforscht. Vgl. Coenen; Kulla; Tooze, Statistics.

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wirtschaftswissenschaftlichen Forschungszentren zählte.13 Die empirische Wirtschaftsforschung spielte, wie Adam Tooze jüngst gezeigt hat, auch im Rahmen der nationalsozialistischen Wirtschafts- und Rüstungsplanung eine zentrale Rolle, etwa zur Koordinierung der Industriestatistik während des Krieges.14 Das Jahr 1945 stellte daher für die Wirtschaftsstatistik und angewandte Konjunkturforschung keine »Stunde Null« dar. Vielmehr lassen sich vielfältige personelle und institutionelle Kontinuitäten erkennen, die eher das Bild eines langsamen Übergangs denn eines scharfen Bruchs nahelegen.15 Besonders gilt dies für das »Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung« (DIW) in Berlin, das aus dem IfK hervorgegangen war und im Sommer 1945 unter der Leitung von Ferdinand Friedensburg wieder aufgebaut wurde. Friedensburg hatte sich, wie bereits erwähnt, nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst 1933 als auswärtiger Mitarbeiter am IfK über Wasser gehalten.16 Im Zusammenhang mit der Verhaftung Ullrich von Hassels und Werner von Stauffenbergs nach dem 20. Juli 1944 – beide waren ebenfalls externe Mitarbeiter des DIW – wurde Friedensburg gekündigt, obwohl er selbst keine Verbindung zum Widerstand hatte.17 Der studierte Bergassessor gehörte nach 1945 zu den Begründern der Berliner CDU und wurde im Dezember 1946 zum Stellvertretenden Oberbürgermeister von Berlin gewählt.18 Die enge Verbindung von wissenschaftlichem und politischem Engagement sollte für seine Nachkriegskarriere prägend sein. Friedensburg blieb bis 1968 Präsident des DIW und lehrte als Honorarprofessor an der TU Berlin, zugleich vertrat er von 1952 bis 1965 die Berliner CDU im Bundestag und seit 1954 auch im Europaparlament. Unter der Leitung von Friedensburg entwickelte sich das DIW zu einer der führenden Institutionen der außeruniversitären Wirtschaftsforschung. Charakteristisch für diese Einrichtung war die Verbindung von empirischer Arbeit, Grundlagenforschung und Gutachtertätigkeit für Politik und Verwaltung. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren, als das DIW überwiegend aus Mitteln des Berliner Senats finanziert wurde, konzentrierte sich seine Tätigkeit vor allem auf regionale Probleme der Berliner Wirtschaft und ihres Wiederaufbaus.19 Doch bereits 1947 knüpfte man an frühere Traditionen unter Wagemann an und widmete sich wieder der überregionalen Wirtschaftsent13 Vgl. Glaeßer; Kulla, S. 136–162; vgl. außerdem Kap. I.3. 14 Tooze, Statistics, S. 177–282. 15 Dies wurde auch von führenden Repräsentanten der empirischen Wirtschaftsforschung so gesehen; vgl. etwa Friedensburg, Institut für Wirtschaftsforschung, S. 18. 16 Ders., Lebenserinnerungen, S. 242f. 17 Krengel, Institut, S. 58. 18 Friedensburg, Deutschlands Einheit. 19 Vgl. z.B. Wolf, Geld- und Kreditprobleme; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlins Wirtschaft.

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wicklung. Seit Herbst 1948 erschienen die »Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung« mit regelmäßigen Berichten über die wirtschaftliche Lage. Seit Anfang 1950 wurde der 1942 eingestellte »Wochenbericht« mit laufenden Erhebungen wieder publiziert.20 1954 begann das Institut auf Initiative von Albert Wissler mit der Herausgabe einer weiteren Zeitschrift, die unter dem Titel »Konjunkturpolitik« vor allem wissenschaftliche Beiträge zur empirischen Wirtschaftsforschung und Statistik publizierte.21 Nachdem eine erste Bestandsaufnahme der westdeutschen Wirtschaft einschließlich einer provisorischen »Volkswirtschaftlichen Eröffnungsbilanz« bereits 1947 vorgelegt worden war,22 verstärkten sich die Bemühungen, neue Verfahren der Sozialproduktsberechnung am Institut zu etablieren. Im Mittelpunkt stand dabei die Konjunkturabteilung, die bis 1948 von Eduard Wolf geleitet und nach dessen Wechsel zur Bank deutscher Länder der Obhut von Albert Wissler unterstellt wurde, ferner die neu gegründete Abteilung für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung unter Leitung Ferdinand Grünigs, der seit 1945 am DIW tätig war. Grünig hatte bereits 1933 eine Pionierstudie zur Kreislauftheorie vorgelegt.23 Nach 1933 war er zunächst im Mitarbeiterstab von Rudolf Heß tätig, bevor er 1936 die Leitung der Volkswirtschaftlichen Abteilung bei der Reichswirtschaftskammer übernahm.24 Obgleich Grünigs Einstellung beim DIW im Sommer 1945 aufgrund seiner NS-Vergangenheit auf Widerstände stieß, übertrug ihm Friedensburg nicht nur die Leitung einer eigenen Abteilung, sondern ernannte ihn auch zum stellvertretenden Präsidenten.25 Neben dem DIW – das im Bereich der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der Industriestatistik eine führende Rolle einnahm – profilierte sich in den fünfziger Jahren eine zweite Institution auf dem Gebiet der angewandten Forschung: das »Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung« in München, das im Januar 1949 aus der Fusion zweier Institutionen entstanden war. Bei den Vorgängern handelte es sich zum einen um das von Ludwig Erhard 1947 gegründete »Süddeutsche Institut für Wirtschaftsforschung«, das seinen Schwerpunkt in der regionalen Industrie- und Wirtschaftsbeobachtung hatte.26 Die 20 Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, Jg. 18, 1948ff.; Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung, Jg. 18, 2.1.1950. Seit Ende 1950 wurde auch die »Gemeinschaftsdiagnose« der »Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute« im Wochenbericht veröffentlicht. 21 Konjunkturpolitik. Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung, Jg. 1, 1954/55ff. Die Zeitschrift wurde von Wissler alleine herausgegeben. Monographische Forschungen und Tagungsbeiträge wurden regelmäßig in den »Beiheften der Konjunkturpolitik« publiziert. 22 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Deutsche Wirtschaft. 23 Grünig, Wirtschaftskreislauf; zur Biographie vgl. Arndt, Grünig sowie Krengel, Institut, S. 81–82 u. 110–112. 24 Tooze, Statistics, S. 202. 25 Krengel, Institut für Wirtschaftsforschung, S. 82. 26 Erhard leitete seit 1943 das von der Reichsgruppe Industrie finanzierte »Institut für Industrieforschung«; vgl. Hentschel, Erhard, S. 7–35.

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zweite Einrichtung war die »Informations- und Forschungsstelle«, die der Präsident des Bayerischen Statistischen Landesamts, Karl Wagner, 1947 ins Leben gerufen hatte, um auf der Basis der amtlichen Statistik aktuelle Wirtschaftsdaten für Politik, Industrie und Verbände aufzubereiten.27 Nach Erhards Ernennung zum Direktor der Wirtschaftsabteilung der britisch-amerikanischen Zonenverwaltung wurden beide Einrichtungen im Januar 1949 miteinander vereinigt und der Leitung Wagners unterstellt. Damit führte man zwei unterschiedliche Traditionen der empirischen Wirtschaftsforschung in einer Institution zusammen: die volkswirtschaftliche Statistik und die stärker praxisbezogene Markt- und Konsumforschung.28 Es war nicht zuletzt diese Verbindung, die dem Ifo-Institut eine herausragende Stellung in der angewandten Wirtschaftsforschung verschaffte. Neben der allgemeinen Wirtschaftsbeobachtung und der Gutachtertätigkeit für private und öffentliche Einrichtungen entwickelte das Institut 1950 ein eigenes Konjunkturtest-Verfahren, das auf monatlichen Befragungen von Unternehmen verschiedener Branchen und Regionen beruhte. Dabei konnte auf die Methoden der Meinungsforschung zurückgegriffen werden, die der amerikanische Sozialwissenschaftler George Gallup in den dreißiger Jahren entwickelt hatte und die durch das 1947 gegründete Allensbacher »Institut für Demoskopie« in der Bundesrepublik verbreitet wurden.29 Auch die Idee, Unternehmen für Konjunkturprognosen zu befragen, stammte aus den USA. So hatte das »Office of Business Economics« des »Department of Commerce« 1945 erstmals Fragebögen an Unternehmen versandt, um Auskunft über deren Investitionspläne zu erhalten. Das Wirtschaftsmagazin »Fortune« führte seit 1947 halbjährig Unternehmensbefragungen durch, die sich auf 20.000 Fragebögen stützten.30 In Westdeutschland hatte die »Informations- und Forschungsstelle« beim Bayerischen Statistischen Landesamt bereits nach der Währungsreform von 1948 Interviews mit Unternehmern durchgeführt, um die Auswirkung der Geldumstellung auf Produktion und Investitionsverhalten abschätzen zu können.31 Unter Mitarbeit des Wirtschaftsstatistikers Oskar Anderson verfeinerte Hans Langelütke schließlich in den kommenden Jahren ein formalisiertes Testverfahren. Für diese Tests wurden zunächst einige hundert, Anfang der sechziger Jahre ca. 10.000 Unternehmen aus verschiedenen Branchen über ihre Einschätzung der wirtschaftlichen Lage und ihre Erwartungen für die 27 Langelütke, Konjunkturforschung, S. 6. 28 Vgl. BAK, B 146/345: Referat von Dr. Wagner, Präsident des Ifo-Instituts München, auf der 3. Arbeitstagung der AG deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute in München, 5.7.1951. 29 Vgl. Nicolas. Zu Gallup und seiner Rezeption in der Bundesrepublik vgl. Noelle; Gallup. 30 Stutz, Konjunkturtest, S. 32. 31 Marquardt/Strigl, Konjunkturtest, S. 11.

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nähere Zukunft befragt.32 Dabei verzichtete man bewusst auf quantitative Erhebungen. Durch die individuelle Befragung sollte kurzfristigen psychologischen Einflüssen und Stimmungen von Verbrauchern und Unternehmern stärker Rechnung getragen werden als dies die allgemeine Statistik ermöglichte. »An Stelle der notwendigerweise immer vergangenheitsorientierten Querschnittsanalyse der Statistik wird gleichsam ein Querschnitt durch die Köpfe der Wirtschaftssubjekte gelegt.«33 Das Prinzip des »Zählens ohne Zahlen«, welches der Tendenzbefragung zugrunde lag, trug auch einer verbreiteten Skepsis gegenüber der Aussagekraft makroökonomischer Statistik Rechnung.34 »Wissen und Urteil einer repräsentativen Zahl von Unternehmerpersönlichkeiten«35 wurden daher als Ergänzung und Korrektiv der volkswirtschaftlichen Konten- und Kreislaufrechnung betrachtet, die im Übrigen auch am Ifo-Institut ausgebaut wurde. Denn das Ifo-Institut verstand sich von Anfang an nicht nur als Informationsstelle für private Unternehmen, sondern auch als Forschungseinrichtung zur Politikberatung.36 So wurden – mit Hilfe beträchtlicher Fördermittel der Fritz Thyssen Stiftung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Stiftung Volkswagenwerk – die Forschungskapazitäten im volkswirtschaftlichen Bereich erheblich erweitert. Unter anderem richtete man Abteilungen für Allgemeine Wirtschaftsbeobachtung und Konjunkturpolitik sowie für Finanzpolitik ein. 1961 verfügte das Institut, das sich als eingetragener Verein überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen, öffentlichen Zuschüssen und Erträgen aus Veröffentlichungen und Gutachten finanzierte, über zehn Abteilungen mit rund 160 Mitarbeitern.37 Für die angewandte Wirtschaftsforschung spielte in der frühen Bundesrepublik eine dritte Einrichtung eine wichtige Rolle: das Kieler »Institut für Weltwirtschaft«, das durch seine Anbindung an die Christian-Albrechts-Universität ein stärker akademisches Profil besaß.38 Das in den letzten Kriegsmonaten weitgehend zerstörte Institut wurde von Fritz Baade wieder aufgebaut, der im Frühjahr 1948 die Leitung in Verbindung mit dem Lehrstuhl für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Kiel übernahm. Die Wahl Baades zum Präsidenten beruhte weniger auf seiner wissenschaftlichen Reputation als auf seiner wichtigen Rolle als wirtschaftspolitischer Berater und sozialdemokratischer Politiker vor 1933. Baade galt in erster Linie als Fachmann 32 Anderson, Konjunkturtest und Statistik; Langelütke/Marquardt, S. 189; Anderson, Konjunkturtest-Verfahren. 33 Stutz, S. 31. 34 Langelütke/Marquardt, S. 189. 35 Langelütke, Konjunkturforschung, S. 7. 36 Langelütke/Marquardt, S. 192. 37 Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung; Marquardt. 38 Vgl. zur Geschichte des Instituts Zottmann.

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für agrarpolitische Fragen, hatte allerdings auch 1932 zusammen mit Fritz Tarnow und Wladimir Woytinsky ein konjunkturpolitisches Programm, den so genannten WTB-Plan, entworfen.39 1935 war er in die Türkei emigriert, wo er als agrarpolitischer Berater der türkischen Regierung und als Professor an der Universität Ankara wirkte. Nach dem Krieg beriet Baade die amerikanische Regierung in Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in Europa. Die enge Verbindung von wissenschaftlichem und politischem Engagement prägte auch seine weitere Tätigkeit. So wurde er im Herbst 1948 als Vertreter des Landes Schleswig-Holstein in den Verfassungsausschuss der Ministerkonferenz der westlichen Besatzungszonen berufen, von 1949 bis 1965 war er Abgeordneter der SPD im Bundestag. Das »Institut für Weltwirtschaft« bewegte sich in den fünfziger Jahren an der Schnittstelle von internationaler Wirtschaftsbeobachtung, wissenschaftlicher Gutachtertätigkeit und volkswirtschaftlicher Grundlagenforschung.40 Die internationale Konjunkturbeobachtung wurde durch die halbjährlich erscheinende Schrift »Die Weltwirtschaft« und durch wissenschaftliche Monographien zu Fragen des internationalen Handels, der Weltrohstoffmärkte oder der europäischen Integration dokumentiert. Zugleich bemühte sich Baade darum, der Institutszeitschrift »Weltwirtschaftliches Archiv« ein wissenschaftliches Profil zu geben.41 Eine konsequente Hinwendung zur volkswirtschaftlichen Grundlagenforschung wurde allerdings erst unter Erich Schneider, der Baade 1961 nachfolgte, vollzogen. Schneider baute insbesondere die Forschungsabteilung des Instituts aus und bemühte sich, international renommierte Gastwissenschaftler nach Kiel zu holen.42 Neben die drei Haupteinrichtungen der empirischen Wirtschafts- und Konjunkturforschung traten noch weitere Institutionen, die häufig eine regionale oder fachliche Spezialisierung aufwiesen. Zu nennen sind etwa die »Gesellschaft für Konsumforschung« in Nürnberg, die auch nach 1945 als führende Einrichtung der Markt- und Verbraucheranalyse galt, sowie das »Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung« (RWI), das bis 1943 dem DIW als »Abteilung Westen« angehört hatte und seitdem als eigenständige Einrichtung wirkte, um regionale Probleme des Bergbaus und der Schwerindustrie zu untersuchen. Eine wichtige Rolle spielte ferner das bereits 1908 gegründete »Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv« (HWWA), das ursprünglich vor allem dokumentarische Aufgaben erfüllte, nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch verstärkt in der empirischen Forschung tätig wurde.43

39 40 41 42 43

Zu Baade vgl. den Eintrag von W. Schäfer in Hagemann/Crohn, S. 17–19. Baade, Aufgaben. Vgl. ders., Zum Geleit, in: WWA, Bd. 62, 1949, S. XIIIf. Zottmann, S. 64. So wurde 1949 ein Wissenschaftlicher Dienst am Institut eingerichtet, vgl. Köhler.

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Die wachsende Nachfrage öffentlicher und privater Institutionen nach wissenschaftlicher Expertise und die zunehmende Komplexität der Konjunkturbeobachtung führten zu einer Spezialisierung der Forschungsprofile, zugleich aber auch zu einer stärkeren Kooperation zwischen den Instituten. Auf Anregung Ludwig Erhards wurde bereits im Oktober 1949 die »Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute« mit Sitz in Bonn gegründet. Sie sollte die wissenschaftliche Zusammenarbeit intensivieren und zugleich als Ansprechpartner für Ministerien, Behörden und Parteien dienen.44 Gegen eine Pauschalvergütung von zunächst 750.000 DM übernahm die Arbeitsgemeinschaft die Verpflichtung, alle obersten Bundesbehörden wissenschaftlich zu beraten. Seit 1950 legte die Arbeitsgemeinschaft halbjährlich ein Gutachten zur westdeutschen und internationalen Konjunkturentwicklung vor.45 Zugleich fertigte sie Sondergutachten für die Bundesregierung an, etwa 1950 zum wirtschaftlichen Wiederaufbau der Bundesrepublik oder 1956 über den Zusammenhang von Arbeitszeit und Produktivität. Schließlich veranstaltete die Arbeitsgemeinschaft, deren Vorsitz Ferdinand Friedensburg führte, jährliche Tagungen zu aktuellen Fragen der Wirtschaftspolitik.46 Der rasante Ausbau der empirischen Wirtschafts- und Konjunkturforschung nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich fast vollständig außerhalb der Universitäten. Das war nicht allein mit dem starken Praxisbezug zu erklären, dem viele akademische Volkswirte noch mit Zurückhaltung begegneten.47 Ein weiterer Grund war die spezifische Arbeitsorganisation, die eine Kooperation in größeren, interdisziplinär zusammengesetzten Forschergruppen erforderte. Die Tätigkeit der empirischen Wirtschaftsforschung war außerordentlich personalintensiv und bedurfte einer finanziellen und institutionellen Ausstattung, über welche die Universitäten in den fünfziger und frühen sechziger Jahren nicht verfügten. In der Tat konnten die außeruniversitären Forschungsinstitute ihren Personalbestand bereits in den fünfziger Jahren erheblich ausweiten. So zählte das DIW 1950 über 63 Mitarbeiter, zehn Jahre später waren es fast doppelt so viele.48 Das Ifo-Institut hatte seine Arbeit 1949 mit weniger als einem Dutzend Mitarbeitern aufgenommen. 1961 waren dort etwa 160 Personen (davon 70 44 BAK, B 146/345: Dr. Engel, Vermerk vom 22.10.1951. 45 Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Lage der Weltwirtschaft; die Gutachten wurden gemeinsam von DIW, Ifo-Institut, IfW Kiel, RWI Essen und vom Institut für landwirtschaftliche Marktforschung in Braunschweig-Völkenrode erstellt. Seit Dezember 1952 wurde auch das HWWA an der Erstellung des Gemeinschaftsgutachtens beteiligt. 46 Krengel, Institut, S. 105; die Zahl der Mitgliedsinstitute wuchs von sieben (1949) auf 22 (1961) an. 47 Vgl. Wissler, Aufgabenstellung, S. 455f. 48 Friedensburg, Institut für Wirtschaftsforschung, S. 16; Krengel, Institut, S. 163.

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Wissenschaftler) beschäftigt.49 Das Kieler »Institut für Weltwirtschaft« verfügte aufgrund seiner großen Bibliothek und seines Archivs über einen besonders hohen Personalbestand. Im Jahre 1963 waren dort 250 Mitarbeiter tätig, davon rund 50 in wissenschaftlicher Stellung. Das RWI Essen zählte 1960 41 Mitarbeiter (davon 17 Wissenschaftler).50 Eine beachtliche Stellenexpansion erfuhr auch das HWWA, dessen Mitarbeiterstab von 47 Ende 1948 auf 120 im Jahre 1960 anwuchs, wobei der wissenschaftliche Dienst besonders stark (von drei auf 37 Mitarbeiter) expandierte.51 Insgesamt waren in den Instituten der Arbeitsgemeinschaft Ende der fünfziger Jahre etwa 330 Wissenschaftler und 1000 andere Mitarbeiter beschäftigt.

2. Nachholende Modernisierung: Die Einführung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Im Bereich der angewandten Wirtschafts- und Konjunkturforschung war somit innerhalb weniger Jahre ein dichtes Netz von wissenschaftlichen Instituten und Forschungsverbünden entstanden, wie es bis dahin nur in der naturwissenschaftlichen Großforschung anzutreffen war. Das entsprach durchaus dem Selbstverständnis der Disziplin, die ihre Tätigkeit bewusst in die Nähe zur naturwissenschaftlichen oder medizinischen Forschung rückte und sich vom Einzelgängertum und Ganzheitsanspruch der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachkulturen distanzierte. Albert Wissler etwa betrachtete die empirische Wirtschaftsforschung als »modernes Laboratorium mit einer ganz bestimmten Mindestausstattung und ganz bestimmten, sehr hohen und nur unter bestimmten Kosten zu produzierenden Qualifikation«.52 Und Knut Borchardt sprach in seiner 1960 im Auftrag der DFG angefertigten »Denkschrift zur Lage der Wirtschaftswissenschaft« von einer »stillen Hochschulreform«, die sich an den außeruniversitären Forschungsinstituten vollziehe und die Entwicklungen antizipiere, die sich im Zuge der Neuorganisation von Forschung und Lehre auch an den Universitäten durchsetzen werde.53 Die Förderung der empirischen Wirtschaftsforschung war allerdings auch eine Antwort auf das Defizit der amtlichen Statistik, die nach dem Krieg erst mühsam wieder aufgebaut werden musste. Durch die Aufteilung in Besatzungszonen und die Neuordnung der Länder ergaben sich vielfältige Veränderungen und Probleme, die eine Fortführung der bisherigen Statistiken er49 50 51 52 53

Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, Aufbau, S. 5. Borchardt, Denkschrift, S. 87, Anm. 1; Zottmann, S. 66. Leveknecht, S. 38 u. 44. Wissler, Aufgabenstellung, S. 458. Borchardt, Denkschrift, S. 84.

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schwerten. Dies erklärt auch die große Bedeutung von Repräsentativuntersuchungen wie dem Ifo-Konjunkturtest, die allerdings eine umfassende volkswirtschaftliche Statistik nicht ersetzen konnten. Eine amtliche Schätzung des Sozialproduktes wurde erstmals wieder 1949 vom Statistischen Bundesamt durchgeführt.54 Angesichts fehlender Daten stützte man sich dabei auf die vom Statistischen Reichsamt in der Vorkriegszeit ermittelten Zahlen, welche auf das Bundesgebiet umgerechnet und mit Hilfe von Volumen- und Preisindizes fortgeführt wurden.55 Da in der Bundesrepublik in den ersten Jahren vor allem Produktions- und Absatzstatistiken erstellt wurden, die Auskunft über die Entstehung und Verwendung des Sozialproduktes, nicht aber über das Volkseinkommen gaben, musste auch für die Vorkriegszeit nachträglich das Sozialprodukt geschätzt werden. Erst seit 1957 war es möglich, mit Hilfe der Umsatzsteuerstatistiken von 1950 und 1954, der Kostenstrukturstatistik von 1950 und einer Reihe von anderen Erhebungen die Sozialproduktsberechnung von der Vorkriegsbasis zu lösen.56 Während die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes auf jährlicher Basis erfolgten, bemühte man sich an den Wirtschaftsforschungsinstituten um kürzere Zeitabstände, um aktuellere – wenn auch meist weniger genaue – Daten zur Verfügung zu stellen. Seit 1951 veröffentlichte das DIW viermal im Jahr eine nach Sektoren gegliederte Schätzung des Sozialproduktes, die 1955 durch eine Geldvermögensrechnung ergänzt wurde.57 Auch das Ifo-Institut verband seine Konjunkturdiagnose ab 1954 mit vierteljährlichen Schätzungen des Sozialproduktes und seiner Unterkonten. Schließlich veröffentlichte die Bank deutscher Länder 1953 in ihren Monatsberichten erstmals Daten zu einzelnen Größen des Sozialproduktes.58 1955 begann die Bundesbank mit der Aufstellung einer Finanzierungs- und Vermögensrechnung, welche die nationale Buchführung des Statistischen Bundesamtes ergänzte.59 54 Vgl. Schörry. 55 Bartels. Das Statistische Reichsamt hatte das Volkseinkommen seit 1928 nach der personellen Methode durch Ermittlung aller individuellen Einkommen mit Hilfe der Finanz- und Steuerstatistik errechnet; vgl. auch Tooze, Statistics, S. 122f. 56 Vgl. Raabe/Schörry; Bartels u.a., Neuberechnung. 57 Die Berichte erschienen in den vom DIW herausgegebenen Vierteljahrsheften zur Wirtschaftsforschung seit 1951, Heft 1. In den ersten beiden Jahren liefen sie unter dem Titel »Quantitative Betrachtungen zur Wirtschaftslage in Westdeutschland«, zwischen 1953 und 1955 unter dem Titel »Die Ergebnisse der vierteljährlichen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für die Bundesrepublik« (gemeinsam mit H. Schimmler), seit 1956 unter dem Titel »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einschließlich Geldvermögensrechnung für die Bundesrepublik«; vgl. zu den methodischen Grundlagen Grünig, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung in Deutschland, sowie eine Zusammenfassung der Schätzungen für die Jahre 1950–60 bei Arndt/Chevallerie; die Vermögensrechnung des DIW war zunächst auf einzelne Wirtschaftsbereiche beschränkt; erstmals wurde für das Jahr 1957 eine umfassende Darstellung des Volksvermögens vorgelegt; vgl. Grünig, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einschließlich Geldvermögensrechnung. 58 Bank deutscher Länder, Monatsberichte 1 (1949) ff. 59 Eine führende Rolle beim Ausbau des wissenschaftlichen Statistikwesens der Notenbank

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Durch die Verbesserung der statistischen Datengrundlage eröffneten sich völlig neue Möglichkeiten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Die Beziehungen der volkswirtschaftlichen Aggregate – Einkommen, Konsum, Investitionen, Staatsausgaben usw. – ließen sich nun nicht mehr nur modelltheoretisch analysieren, sondern auch quantitativ bestimmen. Die Idee der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bestand darin, das Kontensystem der Betriebswirtschaftslehre mit seiner doppelten Buchung von Einnahmen und Ausgaben auf die gesamte Volkswirtschaft zu übertragen, um eine Gegenüberstellung sachlich zusammenhängender Wirtschaftsvorgänge zu ermöglichen. Theoretische Überlegungen zu einer Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) waren bereits in den zwanziger Jahren angestellt worden. Aber erst im Verlauf des Zweiten Weltkrieges kam es – insbesondere in den USA, Kanada und Großbritannien – zur praktischen Anwendung dieser Technik.60 Nach dem Krieg bemühte sich vor allem die amerikanische Regierung um eine Verfeinerung und internationale Verbreitung der Gesamtrechnung, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen wurde 1946 der Employment Act verabschiedet, der makroökonomische Interventionen zur Sicherung von Vollbeschäftigung vorsah.61 Zum anderen erforderten die amerikanischen Wiederaufbaupläne in Europa verlässliche Informationen über die wirtschaftliche Lage und die Folgen eines amerikanischen Hilfsprogramms. Daher beauftragte Präsident Truman im Vorfeld des Marshallplans den »Council of Economic Advisors«, eine umfassende Analyse zu erstellen. Sie sollte klären, in welchem Umfang die amerikanische Regierung Finanzmittel in Europa einsetzen könne, ohne die eigene Wirtschaftsentwicklung zu gefährden.62 Auch internationale Organisationen wie die UNO oder die OEEC bemühten sich nach 1945 um einen internationalen Ausbau des volkswirtschaftlichen Rechnungswesens. Um genaue – und möglichst vergleichbare – Daten zu erlangen, war eine Standardisierung der Wirtschaftsstatistik und der daraus abgeleiteten Gesamtrechnung außerordentlich wichtig. So hatte das »Committee of Statistical Experts« der Vereinten Nationen nach dem Krieg eine Reihe von wissenschaftlichen Gutachten zu diesem Thema angefertigt.63 Richtungspielte Eduard Wolf, der 1948 vom DIW zur BdL gewechselt war und dort das Dezernat für Volkswirtschaft und Statistik leitete. Wolf war zwischen 1929 und 1933 im Statistischen Reichsamt tätig gewesen und hatte von 1934 bis 1948 am DIW die Abteilung »Auslandswirtschaft« geleitet. Im Direktorium der Zentralbank galt Wolf in den fünfziger und frühen sechziger Jahren als führender Kopf. Er prägte die Geldpolitik maßgeblich und repräsentierte die Bank auch in politischen Gremien wie dem 1956 gegründeten »Konjunkturrat«. Vgl. Krengel, Institut, S. 106; zum Ausbau der VGR bei der Bank deutscher Länder/Bundesbank Schlesinger. 60 Colm, Entwicklungen, S. 14; Carson. 61 Vgl. bereits die Studie der National Planning Association, National Budgets for Full Employment, Staff Report, Washington D.C. 1945. 62 Colm, Entwicklungen, S. 16. 63 United Nations, Measurement.

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weisend waren ferner die Arbeiten der OEEC, die 1952 ein »Standardsystem der nationalen Buchführung« vorlegte. Die meisten westeuropäischen Länder einschließlich der Bundesrepublik übernahmen es als Grundlage für die volkswirtschaftliche Kontenführung.64 Dieses System entstand unter dem maßgeblichen Einfluss des englischen Ökonometrikers und späteren Nobelpreisträgers Richard Stone, der während des Krieges eine wichtige Rolle in der Wirtschaftsplanung des britischen Kriegskabinetts gespielt hatte und seit 1949 die von der OEEC an der Cambridge University eingerichtete »National Accounts Research Unit« leitete.65 Das von Stone entwickelte Standardsystem, das auch von der UNO übernommen wurde und über Europa hinaus Verbreitung fand, basierte auf insgesamt sechs Konten (Sozialprodukt, Volkseinkommen, Staat, private Haushalte, Vermögensveränderungen, Ausland). Es war als eine Art Minimalprogramm gedacht, das gerade auch Ländern ohne Erfahrung auf diesem Gebiet als Richtschnur dienen sollte. Anders als in den USA, Großbritannien, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern, wo Anfang der fünfziger Jahre bereits umfassende Kontensysteme existierten, vollzog sich der Aufbau der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in der Bundesrepublik nur schleppend. Das war nicht nur auf die bereits erwähnten Probleme der Statistik infolge der politischen Umbrüche und territorialen Veränderungen zurückzuführen. Es hatte auch mit politischen Widerständen zu tun, galt doch die nationale Buchführung manchen Ökonomen als Vorstufe zur Planwirtschaft. So schien für Wilhelm Röpke in der »Gewohnheit des Denkens in Totalquanten« eine »technokratisch-herrische Denkweise« durch, »die vor Gleichungen und Gesamtquanten nicht mehr die wirklichen wirtschaftlichen Zusammenhänge in ihrer höchst unmathematischen Subtilität sieht«.66 Auch der Heidelberger Volkswirt Werner Hofmann äußerte Zweifel an der Aussagekraft der makroökonomischen Kontenführung, die er als »volkswirtschaftliche Miniaturenmalerei« abtat. Für ihn suggerierten die – definitionsgemäß – stets ausgeglichenen Salden ein Bild »vollkommener Harmonie«, das nichts mit der Realität zu tun habe.67 Doch Hofmanns Bedenken wurden nicht nur durch wissenschaftliche Zweifel genährt, sondern durch eine tiefgreifende Skepsis an dem »sozialökonomischen Ordnungsmodell«, das er mit der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in Verbindung brachte. In ihr zeige sich »eine Tendenz zur Mechanisierung der Theorie; eine Tendenz, die ihre natürliche Fortsetzung in einer bis ins Groteske gehenden Maschinisierung bestimmter ökonomischer Denkprozesse« bereits gefunden habe. »Die Volkswirtschaft als einheitliches Subjekt«, 64 65 66 67

Organisation for European Economic Cooperation, Standardized System. Kraus, Gesamtrechnung, S. 77. Röpke, Civitas Humana, S. 343. Hofmann, Sinn, S. 381 u. 383.

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so Hofmanns düsteres Resümee, »existiert nur in der absoluten Planwirtschaft.«68 Doch solche grundsätzlichen Einwände waren Mitte der fünfziger Jahre in wissenschaftlichen Kreisen nur noch selten anzutreffen oder wurden als »ideologische Voreingenommenheit« abgetan.69 Zwar warnten auch Befürworter der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung davor, diese Technik als einen »Glücksautomaten« zu betrachten, »in den oben die Münzen hineingesteckt werden und wo unten z.B. die ›richtige Wirtschaftspolitik‹ oder die ›gute Gesellschaft‹ herauskommen«.70 Doch in der Praxis hatte sich längst ein pragmatischer Umgang mit diesem Thema durchgesetzt. Sowohl innerhalb der Ministerialbürokratie als auch in den Forschungseinrichtungen verstärkten sich die Bemühungen, Wirtschaftsstatistik und Kontenrechnung der Bundesrepublik mit internationalen Standards in Einklang zu bringen. Ausländische Fachbeiträge wurden ins Deutsche übersetzt und Erfahrungen anderer Länder breit rezipiert.71 Institutionelle und persönliche Verbindungen ins Ausland spielten eine wichtige Rolle. So hatte etwa Gottfried Bombach während seiner Tätigkeit bei der OEEC 1952/54 Erfahrungen gesammelt, die seine späteren Forschungen zur Gesamtrechnung stark beeinflussten.72 Einrichtungen wie das Ifo-Institut und das DIW bemühten sich um eine Zusammenarbeit mit anderen europäischen Konjunkturinstituten.73 Auf der anderen Seite waren auch deutsche Experten an dem Aufbau einheitlicher internationaler Statistiken maßgeblich beteiligt. Beispielhaft ist die Karriere von Rolf Wagenführ, der nach langjähriger Tätigkeit beim IfK und im Planungsamt von Hans Kehrl nach dem Krieg Chefstatistiker des Deutschen Gewerkschaftsbundes wurde. Er leitete seit 1952 die Statistische Abteilung der Europäischen Gemeinschaft Kohle und Stahl und wurde 1958 zum ersten Generaldirektor des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften berufen.74 Im Grunde bestand von offizieller Seite schon Anfang der fünfziger Jahre kein Zweifel mehr an der Notwendigkeit, ein umfassendes volkswirtschaftliches Rechnungswesen nach internationalem Vorbild aufzubauen. Einen wichtigen Schritt zur Institutionalisierung der Gesamtrechnung stellte das »Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke« vom 3. September 1953 dar, das dem Statistischen Bundesamt die Aufgabe übertrug, eine umfassende Volkswirt68 Ders., Gesamtrechnung, S. 199f.; vgl. auch Diskussionsbeitrag von E. Liefermann-Keil, in: Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V., S. 69. 69 Wissler, Aufgabenstellung, S. 450. 70 Schiller, Ökonom, S. 26. 71 Ruggles; Organisation for European Economic Cooperation, Standardsystem; vgl. auch Bjerve; Oomens. 72 Bombach hatte u.a. an der Vereinheitlichung der Nationalen Buchführung und an internationalen Realeinkommensvergleichen mitgewirkt. 73 S.u. Kap.VIII.2. 74 Tooze, Statistics, S. 284. Wagenführ leitete das Amt bis 1976.

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schaftliche Gesamtrechnung zu erarbeiten.75 Ausdrücklich begrüßt wurde dieser Auftrag auch vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, der im März und Oktober 1954 zu diesem Thema tagte und in einem Gutachten einen institutionellen Ausbau des volkswirtschaftlichen Rechnungswesens empfahl.76 Zugleich verstärkten sich die Bemühungen, die universitäre Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Ökonometrie auszubauen bzw. das Fachgebiet zunächst überhaupt erst an den Universitäten zu etablieren.77 Da die ökonometrische Forschung mit ihrer engen Verbindung von Wirtschaftstheorie, Mathematik und Statistik auf interdisziplinäre Kooperation angewiesen war, erwies sich die – an deutschen Universitäten noch kaum praktizierte – Projektforschung als wichtige Voraussetzung.78 1955 richtete die DFG unter Beteiligung des »Vereins für Socialpolitik« ein Schwerpunktprogramm »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung« ein, mit dessen Hilfe mehrere Projekte in Tübingen und Bonn, Heidelberg und Freiburg, Münster, Mannheim und Kiel finanziert wurden.79 Ein wichtiger Schwerpunkt bildete die Verbesserung der Input-OutputAnalyse, die nicht Konten, sondern Güterströme zwischen den Wirtschaftszweigen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes untersuchte und diese in Form einer Matrix darstellte. Dabei wurden für jeden Wirtschaftszweig sowohl der Input an Vorleistungen als auch der Output an nachgelagerte Produktionsbereiche bestimmt. Diese auch als »Verflechtungsbilanz« bezeichnete Darstellungsweise hatte gegenüber der Kontenrechnung den Vorteil, dass die gesamte volkswirtschaftliche Produktion als dynamischer Prozess dargestellt und Veränderungen in ihrem zeitlichen Ablauf analysiert werden konnten. Überdies besaßen die Input-Output-Matrizen ein niedrigeres Aggregationsniveau als die volkswirtschaftliche Kontendarstellung. Dadurch ließen sich 75 BGBl. I, S. 1314; vgl. auch Strickrodt, Gesamtrechnung, S. 34–36. 76 Gutachten vom 23.10.1954: Probleme der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und ihrer Auswertung, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1952–54, S. 97–103; vgl. auch die Protokolle der Diskussionen im Beirat am 21.4. und 22.– 23.10.1954, in: IfZ, Ed 150/35. 77 Noch in seinem Gutachten für die Deutsche Forschungsgemeinschaft aus dem Jahre 1960 hielt Borchardt die Institutionalisierung von Statistik und Ökonometrie an den bundesdeutschen Universitäten für unzureichend; Borchardt, Denkschrift, S. 22. 78 In den USA hatten sich eigenständige Institutionen zur ökonometrischen Forschung gebildet, darunter die »Brookings Institution« in Washington, das »National Bureau of Economic Research« in New York oder die »Cowles Commission for Research in Economics« in Chicago. 79 Müller/Jochimsen, S. 291. Ein 1951 von Erich Preiser im Auftrag der DFG erstelltes Gutachten über die wirtschaftswissenschaftliche Forschung in der Bundesrepublik wies ausdrücklich auf die Defizite im Bereich der Ökonometrie, der Kreislaufanalyse und der angewandten Wirtschaftsforschung hin. Dieses Gutachten dürfte eine maßgebliche Rolle bei der Initiative für das Schwerpunktprogramm gehabt haben. Preiser führte in Heidelberg eine Reihe von Projekten durch; vgl. Blesgen, Preiser, S. 229–233.

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z.B. die Auswirkungen von Investitionen in bestimmten Sektoren auf andere Wirtschaftsbereiche präzise ermitteln. Darin lag freilich auch die besondere politische Brisanz dieses Verfahrens: Was den einen als geeignetes Instrument wirtschaftspolitischer Planung erschien, wurde von anderen gerade aus diesem Grund als besonders gefährlich angesehen. Die Input-Output-Analyse war maßgeblich von Wassily W. Leontief entwickelt worden, der 1932 nach langjähriger Tätigkeit am Kieler »Institut für Weltwirtschaft« in die USA emigriert war. Er hatte 1941 an der Universität Harvard eine in 41 Sektoren unterteilte Matrix für die amerikanische Wirtschaft vorgelegt.80 Doch auch in Deutschland hatte es bereits in den dreißiger Jahren Ansätze zur Erstellung wirtschaftlicher Verflechtungsbilanzen gegeben, die die Grundlage für die Forschungen der Nachkriegszeit bildeten. So hatte Ferdinand Grünig in seinem 1933 erschienenen Buch »Der Wirtschaftskreislauf« eine sektorale Matrixdarstellung entwickelt, welche die Input-Output-Tabelle in wesentlichen Punkten vorwegnahm.81 Grünig konnte seine Forschung während seiner Tätigkeit für die Reichswirtschaftskammer in die Praxis umsetzen, als 1936 begonnen wurde, so genannte »Volkswirtschaftliche Bilanzen« zu erarbeiten. Ähnliche Bemühungen verfolgte man seit 1935 auch im Statistischen Reichsamt unter der Leitung von Paul Bramstedt.82 Vielfältige Anknüpfungspunkte ergaben sich ferner aus den Forschungen von Carl Föhl, der 1937 in Berlin mit einer Arbeit über »Geldschöpfung und Wirtschaftskreislauf« promoviert hatte.83 Föhl verwendete zur Darstellung der Güter- und Geldströme die Analogie eines hydrodynamischen Röhrensystems, in dem die Bewegungen einer Flüssigkeitsmenge verfolgt werden können. Sein hydraulisches Modell entstammte der Mechanik – und das war kein Zufall. Föhl war studierter Ingenieur, der erst spät zur Ökonomie gefunden hatte. Er galt lange Zeit als wissenschaftlicher Außenseiter und fasste erst in den fünfziger Jahren in der akademischen Welt Fuß. 1955 wurde er zum Honorarprofessor an der Universität Tübingen ernannt, und im gleichen Jahr erschien seine Dissertation in zweiter Auflage. 1963 erhielt er – mit 62 Jahren – einen Ruf auf ein Ordinariat an der FU Berlin, wo er unter anderem im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums ein Gutachten über kreislaufanalytische Probleme der Vermögensbildung anfertigte.84 Neben Föhl muss auch der Tübinger Volkswirt Hans Peter genannt werden, der 1943 das Modell einer mehrpoligen Matrix zur Analyse volkswirtschaftlicher Kreislauf- und Strömungsbewegungen entwickelt hatte.85 Peter führte 80 81 82 83 84 85

Leontief. Grünig, Wirtschaftskreislauf; ders., Input-Output-Rechnung. Tooze, Statistics, S. 202; vgl. auch Ischboldin u. Fremdling/Stäglin, S. 425–427. Erschienen unter gleichem Titel München 1937 (2. Aufl. Berlin 1955). Föhl. Peter, Strukturlehre.

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diese Forschung in den fünfziger Jahren fort – unter anderem in Projekten des genannten DFG-Schwerpunktes – und baute die Universität Tübingen zu einem Zentrum der ökonometrischen Forschung aus. Seine Bemühungen zielten vor allem darauf, die Input-Output-Analyse mit der Volkseinkommensrechnung zu verbinden.86 Der Heidelberger Ordinarius Walter Waffenschmidt – wie Föhl von Hause aus Ingenieurwissenschaftler – versuchte, das volkswirtschaftliche Rechnungswesen mit Hilfe der mathematischen Regelungstechnik zu strukturieren.87 Er beschrieb den wirtschaftlichen Kreislauf auf der Grundlage von Blockschaltbildern, wobei die Nichtkreislaufgrößen (z.B. die Marktmechanismen) die Rolle von Reglern übernahmen.88 Waffenschmidt, der seit 1934 eine Professur für Nationalökonomie an der Universität Heidelberg innehatte und 1946 zugleich an der Wirtschaftshochschule Mannheim lehrte, richtete mit Hilfe von DFG-Mitteln eine Forschergruppe »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und ihre Lenkungsmodelle« ein, in der Ökonomen, Mathematiker und Elektrotechniker kooperierten.89 Die Erklärung volkswirtschaftlicher Bewegungen mit Modellen der hydraulischen Mechanik oder der elektronischen Regelungstechnik erfreute sich in den fünfziger Jahren zunehmender Beliebtheit. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass führende Forscher auf diesem Gebiet naturwissenschaftlich vorgebildet waren.90 Das galt nicht nur für Föhl und Waffenschmidt, sondern auch für Ferdinand Grünig, der ebenfalls ein ingenieurwissenschaftliches Studium absolviert hatte. Auch der Bonner Ökonometriker Wilhelm Krelle war ein Diplom-Physiker, der erst mit seiner 1947 bei Eucken angefertigten Freiburger Doktorarbeit zur Ökonomie gefunden hatte. Anschließend war Krelle als Assistent Erich Preisers nach Heidelberg gegangen, wo er über Probleme der linearen Programmierung und der Input-OutputRechnung forschte. Krelle entwickelte als erster eine gesamtwirtschaftliche Input-Output-Tabelle auf der Basis von zunächst nur acht Branchen. 1958 übernahm er nach Forschungsaufenthalten in den USA und kurzzeitiger Lehrtätigkeit in St. Gallen einen Lehrstuhl an der Universität Bonn, wo er Anfang der sechziger Jahre ein umfassendes ökonometrisches Prognoseverfahren erarbeitete.91 Der Boom der Input-Output-Analyse in den fünfziger Jahren war auch auf die Nachfrage aus der privaten Wirtschaft zurückzuführen, welche an dieser 86 Ders., Mathematische Strukturlehre. Peter gründete 1953 in Tübingen eine »Ökonometrische Arbeitsgemeinschaft« und 1957 das »Institut für angewandte Wirtschaftsforschung«. 87 Zu Waffenschmidt vgl. den Nachruf von H. König in: Ruperto Carola, Bd. 33, H. 65/66, 1981, S. 221. 88 Waffenschmidt. 89 Vgl. die abschließende Publikation der Forschungsgruppe: Waffenschmidt / Forschungsgruppe. 90 Lutz, Möglichkeiten; Günther. 91 S.u. in diesem Kapitel.

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Technik aufgrund ihres niedrigen Aggregationsniveaus großes Interesse hatte. Viele Forschungen wurden von privaten Unternehmen und Wirtschaftsverbänden finanziert.92 Dabei handelte es sich meist nicht um gesamtwirtschaftliche Tabellen, sondern um branchenspezifische Untersuchungen, etwa zur Mineralölindustrie, zur Elektrizitäts- oder zur Textilwirtschaft.93 Das DIW beschränkte sich in einer ersten Phase darauf, regionale Input-Output-Tabellen zur West-Berliner Wirtschaft aufzustellen.94 Eine kleine quadratische Vorleistungsmatrix, die Ferdinand Grünig 1953 für das gesamte Bundesgebiet vorlegte, stand noch auf empirisch schwachen Füßen.95 Erst nachdem das Statistische Bundesamt 1955 mit der Ermittlung der Netto- und Bruttoproduktionswerte sowie des Vorleistungsverbrauchs privater Industrieunternehmen begonnen hatte, ließen sich die für die Input-Output-Analyse erforderlichen Vorleistungsmatrizen auf breiter Datenbasis erstellen. Mit Hilfe von privaten Zuwendungen aus der Industrie begann das DIW seit 1958 mit der Ausarbeitung einer umfassenden Verflechtungsbilanz, 1961 wurde mit Hilfe von ERPMitteln schließlich ein Referat für Input-Output-Rechnung am DIW eingerichtet.96 1963 legte auch das RWI eine Input-Output-Matrix vor, und ein Jahr später folgte das Ifo-Institut.97 Die institutionelle Auffächerung, die das volkswirtschaftliche Statistik- und Rechnungswesen in den ersten zehn Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik kennzeichnete, hatte mehrere Ursachen. Sie beruhte zum einen auf der Trennung von amtlicher Statistik und empirischer Wirtschaftsforschung, die nach dem Krieg auch als Reaktion auf die problematischen Erfahrungen der Weimarer und NS-Zeit erfolgte, als das IfK als Ableger des Statistischen Reichsamtes eine Monopolstellung im Bereich der Wirtschaftsbeobachtung besaß. Der institutionelle Pluralismus sollte fortan jene Distanz zu Politik und staatlichen Institutionen ermöglichen, die eine wissenschaftliche Unabhängigkeit garantierte.98 Zum anderen waren Wachstum und Ausdifferenzierung dieses Forschungszweiges auch Ausdruck eines Nachholbedarfes, den die Bundesrepublik im Vergleich zu anderen westlichen Industriestaaten hatte. Schließlich vollzog 92 So unterstützten die Siemens-Schuckert-Werke in Bremen seit Mitte der fünfziger Jahre Forschungen des DIW auf diesem Gebiet; Krengel, Institut, S. 129f. 93 Asser; Nagel; Oberhauser. 94 Grünig/Krengel; Krengel, Input-Output-Rechnung. 95 Grünig, Input-Output-Rechnung. 96 Die Arbeiten begannen 1959 unter der Leitung von Klaus-Dieter Arndt, der Grünig 1959 als Abteilungsleiter für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung nachgefolgt war; Krengel, Institut, S. 130f. 97 Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung; Gehrig, Bericht; das RWI veröffentlichte freilich nur Tabellen über ausgewählte Wirtschaftsbereiche (v.a. über Kohlenbergbau, Schiffbau und Wohnungsvermietungen), während das Ifo-Institut eine vollständige Input-Output-Tabelle für die Bundesrepublik vorlegte. 98 Vgl. Baade, Methoden, S. 71f.; Fürst, Wandlungen, S. 80.

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sich der Aufbau der amtlichen nationalen Buchführung nur schleppend und schuf somit ein Vakuum, das die Instituts- und Hochschulforschung bereitwillig ausfüllte. Erst 1961 veröffentlichte das Statistische Bundesamt ein geschlossenes Kontensystem mit detaillierten Angaben über Sozialprodukt, Vermögensverteilung, Volkseinkommen usw., das nun allerdings sogar über das Standardsystem der OEEC hinausging.99 Ferner begann 1960 eine Sachverständigengruppe des Statistischen Bundesamtes eine sektoral aufgegliederte Input-Output-Matrix zu erstellen, deren Ergebnisse 1964 vorgelegt wurden.100 Erst in den frühen sechziger Jahren hatte die amtliche Statistik das Niveau der Wirtschaftsforschungsinstitute erreicht. Es stellte sich allerdings schon damals die Frage, welche Relevanz die erhobenen Statistiken und die darauf aufbauenden Konten- und Kreislaufsysteme besaßen und in welchem Maße sie von den Entscheidungsträgern in Wirtschaft, Politik und Verbänden benutzt werden konnten. Handelte es sich lediglich um ergänzende Informationen oder um umfassende, wissenschaftlich abgesicherte Planungsgrundlagen? Wie verlässlich waren die statistischen Tabellen, Kontensysteme und ökonometrischen Simulationsmodelle, welche die volkswirtschaftlichen Prozesse so umfassend und präzise abbildeten und analysierten? Inwiefern ließen sich damit künftige Entwicklungen vorhersagen, und welche Schlussfolgerungen ermöglichten diese Prognosen? Diese Fragen waren auch deshalb so brisant, weil sie nicht nur das Selbstverständnis der Volkswirtschaftslehre als praxisrelevante Wissenschaft im Kern berührten, sondern darüber hinaus weitreichende politische Implikationen besaßen.101

3. Der Blick in die Zukunft Sowohl die Input-Output-Tabellen als auch die Nationale Kontenführung beruhten auf statistischen Erhebungen und waren daher von Natur aus retrospektiv. Dennoch wurden sie – wie der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Gerhard Fürst, betonte – nicht angefertigt, um »historische Daten zu liefern, sondern um aus der Situation der Gegenwart Entscheidungshilfen für die Zukunft treffen zu können«.102 Ein wesentliches Ziel der amtlichen – und der nicht-amtlichen – Wirtschaftsstatistik bestand daher darin, möglichst aktuelle 99 Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 1961, S. 531–554; vgl. zur Systematik Bartels u.a., Kontensystem. 100 Bartels u.a., Bericht; das Statistische Bundesamt führte diese Arbeiten auch im Auftrag des »Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften« durch, das eine Input-OutputRechnung für alle EWG-Staaten plante; vgl. auch Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften. 101 Vgl. etwa die Diskussionsveranstaltung der »Gesellschaft für Sozialen Fortschritt« am 27. Januar 1958 in Bonn: Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V. 102 Diskussionsbeitrag von G. Fürst in: ebd., S. 32.

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Zahlenwerke zu erstellen, die zur Trendextrapolation und zur ökonometrischen Modellanalyse verwendet werden konnten. In den frühen fünfziger Jahren befanden sich solche Anwendungen noch in der Entwicklungsphase. Informationen über zukünftige Konstellationen wurden in erster Linie aus dem Konjunkturtestverfahren des Ifo-Institutes gewonnen. Allerdings verstärkten sich seit Mitte der fünfziger Jahre die Bemühungen, ökonomische Prognosen auf statistischer Basis zu erstellen. Schon 1950 war ein »Interministerieller Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Bilanzen« ins Leben gerufen worden, dem Vertreter der Ministerien für Wirtschaft, Finanzen, Arbeit und Verkehr sowie der Notenbank angehörten.103 Die Gründung dieses Arbeitskreises, der dreimal jährlich unter Vorsitz des Präsidenten des Statistischen Bundesamtes zusammentrat, war an sich schon bemerkenswert. Vor allem im BMWi gab es starke ordnungspolitische Vorbehalte gegenüber der prospektiven Gesamtrechnung. Anders sah dies schon im Finanzministerium aus, wo man für Steuerschätzungen auf möglichst genaue Sozialproduktsprojektionen angewiesen war.104 Auch im Arbeits- und Verkehrsministerium hatte man großes Interesse an solchen Vorausschätzungen, da sie eine wichtige Grundlage für die Rentenberechnung oder Straßenbauplanung bildeten. Ferner war die Bundesrepublik verpflichtet, der OEEC für ihren Jahresbericht volkswirtschaftliche Daten einschließlich einer Vorausschätzung des Sozialproduktes und seiner Teilaggregate zur Verfügung zu stellen.105 Schließlich musste das Wirtschaftsministerium dem Kanzleramt seit Anfang 1950 eine monatliche Lagebeurteilung vorlegen, in dem ebenfalls eine Einschätzung der zu erwartenden Konjunkturentwicklung enthalten war.106 Die Vorausschätzungen des Arbeitskreises waren aber zunächst nur auf Perioden von ein bis zwei Jahren angelegt. Sie wurden weder von der Bundesregierung noch vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht. Fürst sprach 1958 rückblickend von einer regelrechten Geheimniskrämerei, die er darauf zurückführte, »daß man lange Jahre hindurch, wenn man für die Gesamtrechnung eintrat, ein wenig scheel angesehen worden ist, so als ob man ein verkappter Planer oder Dirigist wäre«.107 Tatsächlich wurde die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung spätestens im Frühjahr 1956 zu einem Politikum, als die SPD-Bundestagsfraktion einen Entwurf für ein »Gesetz zur Förderung eines stetigen Wachstums der Gesamtwirtschaft« einbrachte, der die Bundesregierung nicht nur zur jährlichen Aufstellung einer Volkswirtschaftlichen Ge103 Protokolle in: BAK, B 146/824 u. 827. 104 Schiettinger, S. 354. 105 Vgl. Europäischer Wirtschaftsrat. Die Schätzungen wurden durch den Arbeitskreis erstellt und in den Bericht aufgenommen, den der OEEC-Arbeitsausschuss unter Vorsitz des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit erstellte; vgl. BAK, B 126/2076. 106 BAK, B 102/93207: Anordnung des Kanzleramtes vom 25.2.1950. 107 Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V., S. 36.

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samtrechnung verpflichten sollte, sondern auch die Einführung eines »Nationalbudgets« vorsah.108 In diesem Nationalbudget – und darin lag der politische Kern des Gesetzesentwurfes – musste die Regierung sämtliche wirtschaftspolitische Maßnahmen in ihren gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen darlegen und ausführlich begründen. Durch Alternativberechnungen, welche unterschiedliche Annahmen über konjunkturelle Entwicklungen oder weltwirtschaftliche Einflüsse berücksichtigten, sollte eine gewisse Flexibilität des Budgets ermöglicht werden. Dennoch war das Ziel des Gesetzes eindeutig: Die Regierung sollte zu einer vorausschauenden und durch quantitative Daten gestützten Wirtschaftspolitik verpflichtet werden. Die Idee eines Nationalbudgets war keineswegs neu, sondern basierte auf wirtschaftspolitischen Planungsansätzen, wie sie nach dem Krieg vor allem in den USA, Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich in unterschiedlichen Varianten realisiert worden waren.109 Der SPD-Antrag fand im Bundestag keine Mehrheit, und dennoch sah sich die Regierung nun zum Handeln gezwungen, zumal die Wissenschaftlichen Beiräte beim Wirtschafts- und Finanzministerium kurz darauf ein Gutachten veröffentlichten, das wesentliche Forderungen des SPD-Entwurfes unterstützte.110 Darin tauchte zwar der Begriff »Nationalbudget« nicht ausdrücklich auf, doch das von den Wissenschaftlern empfohlene »Wirtschaftsprogramm« lief im Grunde auf das Gleiche hinaus: eine Darstellung der geplanten Wirtschaftspolitik und der zu erwartenden gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen, die möglichst präzise und unter Berücksichtigung alternativer Szenarien errechnet werden sollten. Um die dafür erforderlichen ökonometrischen Arbeiten auszuführen, schlugen die Wissenschaftler die Gründung einer »Zentralbehörde für volkswirtschaftliche Gesamtrechnung« vor, die einen ähnlichen Status erhalten sollte wie der Bundesrechnungshof.111 Innerhalb der Regierung – und insbesondere im federführenden Wirtschaftsministerium – hielt sich die Begeisterung über die Empfehlungen der Beiräte in Grenzen. Von einer neuen, unabhängigen Behörde hielt man wenig, da man eine Art »Überregierung« befürchtete, welche Kompetenzen der Ministerien an sich ziehen würde.112 Auch mit der Idee eines »Wirtschaftspro-

108 Antrag der Fraktion der SPD über ein Gesetz zur Förderung eines stetigen Wachstums der Gesamtwirtschaft vom 6.5.1956, Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. 2428; Materialien zur Vorbereitung des Gesetzes in: AdSD, NL Deist, 19B. 109 Zusammenfassend Senf, Wesen; Colm, Haushaltsplanung; Strickrodt, Nationalbudget. 110 Gutachten »Instrumente der Konjunkturpolitik und ihre rechtliche Institutionalisierung«, 3.6.1956 und 8.7.1956, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1955–56, S. 34–71. 111 Ebd., S. 62–71. 112 Vgl. die Äußerungen von Min.rat Josef Bohlen in: Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V., S. 51f.: »Es würde eine zweite oder gar eine Art ›Überregierung‹ entstehen, wenn eine autorisier-

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gramms« mochte man sich nicht anfreunden.113 Abgesehen von grundsätzlichen Einwänden sprachen politische Gründe gegen ein solches Programm, das die Regierung zwingen würde, sich vorab auf bestimmte Ziele festzulegen. Man werde – so die Befürchtung – der Opposition ein Instrument der Kritik überlassen, da kaum zu erwarten sei, dass sich die vorab deklarierten Ziele in vollem Umfang realisieren ließen. Auf der anderen Seite konnte man die gemeinsamen Empfehlungen der wissenschaftlichen Beiräte, die in Wissenschaft und Politik gleichermaßen hohes Ansehen genossen, nicht einfach ignorieren. Die weitere Strategie des BMWi lief daher darauf hinaus, die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und Prognose im Rahmen der vorhandenen Einrichtungen auszubauen, im Übrigen aber dafür zu sorgen, dass die Federführung beim Ministerium blieb. So wurde ein entsprechendes Referat im BMWi eingesetzt und die Kompetenzen des interministeriellen Arbeitskreises (der nun die Bezeichnung »Volkswirtschaftliche Vorausschätzung« erhielt) erweitert. Insbesondere verstärkte das BMWi die Zusammenarbeit mit den Wirtschaftsforschungsinstituten.114 In der Tat stellte sich rasch heraus, dass weder die Kapazitäten des BMWiReferats, das von dem Volkswirt und Brinkmann-Schüler Josef Bohlen geleitet wurde, noch die des Interministeriellen Arbeitskreises ausreichten, um Projektionen des Sozialproduktes zu erstellen, die über einen Horizont von ein bis zwei Jahren hinaus gingen.115 Doch gerade auf diesem Sektor war der Bedarf des Wirtschaftsressorts besonders groß, und auch die private Wirtschaft bekundete großes Interesse. Vor allem in technologieintensiven Branchen gab es eine große Nachfrage nach Marktstudien mit längerem Zeithorizont, die sich auf solide gesamtwirtschaftliche Prognosen stützten.116 Das Gleiche galt für Behörden, die sich mit der Planung großer Infrastrukturprojekte befassten. So war es kein Zufall, dass sich im Bundeskabinett zwei Personen besonders für eine Verbesserung der volkswirtschaftlichen Prognosemethoden einsetzten: Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm und Siegfried Balke, der das 1956 gegründete Ministerium für Atomfragen leitete. Vor allem die privaten Wirtschaftsforschungsinstitute profitierten von der Nachfrage nach langfristigen Prognosen, bei denen naturgemäß nicht so sehr

te Stelle völlig unabhängig prospektive Gesamtrechnungen aufstellt, da sie hiermit unweigerlich Bindungen für die Öffentlichkeit und für die Regierung hervorruft.« 113 Vgl. den zusammenfassenden Bericht des Volkswirtschaftlichen Generalreferates im BMWi vom 15.8.1956, BAK, B 102/2076. 114 Ebd.; vgl. auch BAK, B102/150849: »Vorausschätzung der Preisentwicklung in der VGR«. 115 Immerhin erstellte das BMWi 1959 eine grobe Vorausschätzung des Sozialproduktes bis 1965 für die Montanbehörde; vgl. BAK, B 102/134772: Zur Vorausschätzung des Sozialproduktes 1965 für Zwecke der Montan-Union, 2.2.1959. 116 Vgl. die Beiträge in Bayer, Wirtschaftsprognose.

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die konjunkturelle Lage, sondern die Entwicklung des Wachstumspotenzials im Vordergrund stand. 1959 führte das Ifo-Institut im Auftrag des Verkehrsministeriums eine Prognose des Verkehrsaufkommens bis 1965 durch.117 Ein Jahr später gab das Bundeswirtschaftsministerium ein großes Energiegutachten in Auftrag, das die Entwicklung der Energienachfrage bis zum Jahre 1975 schätzen sollte.118 Zentraler Bestandteil dieses Gutachtens, das von sechs Wirtschaftsforschungsinstituten unter Beteiligung von insgesamt 35 Gutachtern und 65 Mitarbeitern erstellt wurde, war auch eine Projektion des Sozialproduktes und seiner Komponenten.119 Die Zuverlässigkeit solcher Prognosen war allerdings unter Experten umstritten. Ließen sich künftige Entwicklungen mit wissenschaftlicher Genauigkeit vorhersehen? Diese Frage zog Ökonomen und Statistiker in den fünfziger Jahren immer mehr in ihren Bann, ja, sie erschien vielen Fachvertretern als zentrale Methodenfrage der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung überhaupt.120 Als scharfer Kritiker jeglicher Form von Vorhersage galt der Nationalökonom Albert Hahn.121 Angesichts der Komplexität individueller Dispositionen von Unternehmen und Haushalten sowie der vielfältigen außerökonomischen Einflüsse hielt er es nicht für möglich, künftige Wirtschaftsentwicklungen vorherzusagen. Hinter der »Prophezeiungs-Manie«, so Hahn, stehe ein vollkommen falsches Wirtschaftsbild, das »die Kausalbeziehung zwischen objektiven Daten und den Entschlüssen der Glieder der Wirtschaft als eine mechanische auffaßt, obwohl die Menschen immer noch Menschen und nicht Automaten sind«.122 In der Praxis habe sich erwiesen, dass Geschäftsleute künftige Entwicklungen weitaus besser vorhersähen, weil sie Fehlentscheidungen am eigenen Leibe spürten, »während die Theoretiker ohne Risiko – anscheinend nicht einmal für ihr Ansehen – prophezeien«. Hahns Kritik war zugleich eine scharfe Abrechnung mit seinen Fachkollegen, die sich nur »selbst lesen, zitieren, loben und befördern«. Doch hatte er wenig Hoffnung, dass sich die Ökonomen aus dieser »freiwilligen Isolierung« je befreien würden: »Sie werden in ihrer Traumwelt verbleiben, in der die unrealistischen Annahmen, die ihren mathematischen Formeln, ihren Kurven 117 BAK, B 102/134772: Vermerk Bohlen, 2.6.1959. 118 Beteiligt waren RWI, DIW, Ifo-Institut, HWWA, IfW sowie das Energie-Institut in Köln. Die Gesamtleitung des Projektes lag bei Ferdinand Friedensburg und Fritz Baade, die Leitung des Organisationsstabes unterstand Manfred Liebruck vom DIW; Dokumentation in BAK, B 102/33203 und 33204. 119 Das Gutachten, das 1962 vorgelegt wurde, schätzte den Zuwachs des Sozialprodukts bis 1975 auf 100%. Diese Prognose erwies sich allerdings als zu optimistisch; tatsächlich wuchs das Sozialprodukt zwischen 1960 und 1975 nur um 73%; vgl. Horn, S. 206ff. 120 Vgl. Wagenführ, Morgen. 121 Vgl. etwa Hahn, Grundirrtümer; ders., Wirtschaftswissenschaft; ders., Merkantilismus; ders., Konjunkturpolitik. 122 Ders., Propheten, S. 342.

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und ihren sonstigen analytischen Werkzeugen zu Grunde liegen, den Rang der Wirklichkeit erlangt haben und in der der allgemeine Menschenverstand durch Abwesenheit glänzt. Sie werden fortfahren, das Unprophezeibare zu prophezeien.«123 Im Tenor ähnlich – wenngleich ohne bissige Seitenhiebe auf seine Fachkollegen – argumentierte Friedrich A. Lutz in einem Vortrag, den er 1955 an der Universität Zürich hielt.124 Lutz, ein Schüler Walter Euckens, hielt ebenso wie Hahn die Prognostizierbarkeit wirtschaftlicher Entwicklung für beschränkt, da diese nicht nur von theoretisch begründbaren Gesetzen, sondern auch von »politischen, soziologischen, psychologischen und anderen nicht-ökonomischen Bedingungen« abhinge.125 Lutz hatte gute Argumente, denn die jüngste Geschichte lieferte Beispiele fataler Fehlprognosen, angefangen bei dem nicht vorhergesehenen Börsencrash von 1929 bis hin zur Befürchtung führender amerikanischer Ökonomen, es werde nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa zu einer anhaltenden Massenarbeitslosigkeit kommen. Für Lutz stand hinter dem Streben nach Vorhersage ein deterministisches Geschichtsbild, das die nachklassische Nationalökonomie von Saint-Simon über Karl Marx bis Joseph Schumpeter geprägt habe. Dieses kulturkritischgeschichtsphilosophische Unbehagen von Lutz wurde durch methodische Einwände verstärkt: Zum einen hätten Prognosen – sofern sie in der Öffentlichkeit bekannt und geglaubt würden – die Tendenz, das Verhalten der Wirtschaftsubjekte zu beeinflussen. Das führe notwendigerweise dazu, dass richtige Vorhersagen nicht einträten, falsche Aussagen sich dagegen häufig bewahrheiteten. Auf einem stagnierenden Aktienmarkt werde die Prognose von Kursgewinnen das Kaufverhalten anregen und damit zu steigenden Aktienkursen führen. Umgekehrt sei zu erwarten, dass die Vorhersage einer wirtschaftlichen Depression die Regierung zur Änderung ihrer Wirtschaftspolitik veranlasse und dann genau das nicht mehr eintrete, was die Fachleute vorhergesagt hatten. Außer solchen Ankündigungs- und Rückkopplungseffekten sah Lutz ein weiteres grundlegendes Problem: Eine perfekte Vorhersage würde dem einzelnen Unternehmer jegliches Motiv zum wirtschaftlichen Handeln nehmen, hingen doch seine Gewinnchancen gerade davon ab, dass er die zukünftige Lage besser einschätze als seine Konkurrenten.126 Ohne Risiko und Unsicherheit sei ein marktwirtschaftliches System nicht überlebensfähig. Die methodische Kritik an den Prognoseverfahren mischte sich bei Hahn und Lutz mit einer tiefen Skepsis gegenüber dem quantifizierenden Ansatz, den sie als latente Bedrohung der freien Gesellschaft betrachteten. Gerade dies führte aber dazu, dass ihre durchaus berechtigten methodischen Einwände in 123 124 125 126

Ebd.; vgl. auch ders., Gedanken. Lutz, Problem. Ebd., S. 10. Ebd., S. 19f.

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Fachkreisen kaum noch ernst genommen wurden.127 Volkswirten wie Erich Schneider oder Gottfried Bombach fiel es nicht schwer zu zeigen, dass ökonomische Forschung immer auch zukunftsbezogen sein müsse.128 Bombach hielt das Argument der Selbsterfüllung bzw. Selbstaufhebung von Prognosen für wenig überzeugend. In der wirtschaftspolitischen Praxis sei die Nichtübereinstimmung der Prognose mit der tatsächlichen Entwicklung sogar häufig erwünscht und kein Kriterium für ihre Sinnhaftigkeit: »Es wird ja nicht eine Wirtschaftskrise hervorgesagt, damit sie dann wirklich auch kommt und der Prognostiker stolz den Eintritt des Prophezeiten melden kann.«129 Krelle wies darauf hin, dass eine wissenschaftliche Konjunkturdiagnose nur mit Hilfe der Prognose möglich sei, da man sonst nicht wissen könne, an welcher Stelle im Zyklus man sich gerade befinde. »Nur in dem Maße, in dem eine kurz- und mittelfristige Wirtschaftsprognose möglich ist, gibt es auch eine Konjunkturdiagnose.«130 Jede Form der empirischen Wirtschaftsforschung impliziere demzufolge einen Blick in die Zukunft, ebenso wie eine Berücksichtigung vergangener Strukturdaten notwendig sei, um Entwicklungen im Zeitverlauf zu erkennen. Den Vorwurf, Ökonometrie führe auf direktem Wege in die Planwirtschaft, hielt Krelle für »ungerechtfertigt und tatsächlich ein wenig lächerlich«.131 Ähnlich sah das auch Schmölders, der das Verhältnis von Prognose und Diagnose für die Wirtschaftswissenschaften analog zur Medizin beschrieb. So wie der Arzt aus einer richtig gestellten Diagnose stets auch den künftigen Verlauf einer Krankheit vorhersage, dürfe sich auch der Ökonom trotz aller Unwägbarkeiten und methodischen Probleme der Aufgabe einer Prognose nicht verschließen. »Mag es sich um Phänomene der Natur oder der Medizin, der menschlichen Seele oder des menschlichen Zusammenlebens handeln – immer ist die Prognose das höchste Ziel und der letzte, entscheidende Prüfstein aller natur- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnis.«132 Diese Auffassung war in wissenschaftlichen Kreisen längst Konsens, als der »Verein für Socialpolitik« im September 1961 in Garmisch-Patenkirchen eine viertägige Konferenz unter dem Rahmenthema »Diagnose und Prognose als wirtschaftswissenschaftliche Methodenprobleme« veranstaltete, an der prominente Fachvertreter aus dem In- und Ausland teilnahmen.133 Hier ging es nicht mehr um die Frage, ob Ökonomen zukünftige Entwicklungen sinnvoll erforschen und vorhersagen können. Vielmehr ging es darum, wie bestimmte 127 Vgl. etwa Schneider, Propheten. 128 Ebd. sowie Bombach, Möglichkeit; anders dagegen Dürr, Probleme. 129 Bombach, Möglichkeit, S. 31. 130 Krelle, Möglichkeiten, S. 32; ähnlich Führer, S. 149. 131 Krelle, Möglichkeiten, S. 426. 132 G. Schmölders, Zum Problem der Prognose in der Wirtschaft, Vortrag für die »Funkuniversität« des RIAS Berlin am 12.11.1962 (masch. Manuskript UB Köln). 133 Giersch/Borchardt.

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Störfaktoren ausgeschaltet werden könnten, mit welchem Prognosehorizont gearbeitet werden müsse und welche methodischen Verfahren den anderen überlegen seien. Neben der kurzfristig ausgerichteten Konjunkturtestmethode – die freilich nicht quantifizierend war und nur Aussagen über allgemeine Trends ermöglichte – wurden vor allem zwei Ansätze diskutiert: Zum einen Zeitreihenanalysen, bei denen bestimmte statistische Regelmäßigkeiten aus der Vergangenheit in die Zukunft extrapoliert wurden. Sie führten jedoch nur dann zu zuverlässigen Ergebnissen, wenn von geringen Veränderungen der Parameter auszugehen war (Stabilitätshypothese).134 Zum anderen diskutierte man die Möglichkeiten komplexer ökonometrischer Prognosemodelle, die auf einem theoretisch begründeten und mathematisch formulierten Beziehungssystem des Wirtschaftskreislaufs beruhten. Solche »Systemprognosen«, bei denen zahlreiche Variablen und Verhaltensannahmen in einem mathematischen Gleichungssystem zusammengefasst wurden, waren freilich nur mit großem analytischen Aufwand und unter Einsatz elektronischer Rechenmaschinen durchzuführen. Ihre besondere Attraktivität lag darin, dass sie nicht nur auf theoretisch begründbaren Annahmen beruhten, sondern auch unterschiedliche Einflüsse in einem volkswirtschaftlichen Gesamtmodell berücksichtigten. Unter anderem hoffte man, methodische Grundprobleme wie Ankündigungs- und Rückkopplungseffekte wirtschaftlicher Prognosen zu lösen. Erste empirische Forschungen, die vor allem in den USA und den Niederlanden seit den frühen fünfziger Jahren durchgeführt wurden, schienen viel versprechend und gaben Anlass zu großem Optimismus.135 So kam eine an der Universität Münster durchgeführte Vergleichsstudie 1958 zu dem Ergebnis, dass die Prognosequalität ökonometrischer Modelle vor allem bei mittel- und langfristigen Zeithorizonten sehr hoch war und weitaus bessere Resultate erbrachte als andere Verfahren.136 In der Tat konzentrierte sich das Forschungsinteresse in den sechziger Jahren verstärkt auf langfristige Wachstums- und Strukturprognosen, während Konjunkturvorhersagen immer weniger Beachtung fanden. Das war auch eine Reaktion auf die stabile Wirtschaftslage der fünfziger Jahre, in der große zyklische Schwankungen ausblieben, was viele zu der optimistischen Annahme veranlasste, der Konjunkturkreislauf gehöre der Vergangenheit an.137 Ange134 Ferner wurden die Interdependenzen der verschiedenen ökonomischen Variablen vernachlässigt. 135 Es handelte sich vor allem um das sog. Klein-Goldberger-Modell für die USA sowie das unter maßgeblichem Einfluss von Jan Tinbergen entwickelte Modell des holländischen »Central Planning Bureau«; vgl. Tinbergen, Prognose; Klein/Goldberger. 136 Ausgehend von einer optimalen (linearen) Produktionsfunktion wurden Projektionskoeffizienten ermittelt. Die Prognosequalität wurde am mittleren quadratischen Fehler gemessen. Nach der Studie wiesen v.a. einfache Trendextrapolationen schlechte Ergebnisse auf; Gülicher, Vergleich; ähnliche Resultate bei Theil. 137 Bombach, Möglichkeit, S. 40.

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sichts der hohen Auslastung der Produktionskapazitäten traten die langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten von Arbeitsangebot, Kapitalstock und technologischem Wandel in den Vordergrund. Dieser veränderte Blickwinkel zeichnete sich bereits Mitte der fünfziger Jahre ab. Erneut spielten die Wirtschaftsforschungsinstitute eine Vorreiterrolle. So führte das Ifo-Institut ergänzend zur Konjunkturbefragung 1955 einen »Investitionstest« ein, der auch die langfristigen Dispositionen in Industrie und Handel erfasste.138 Im Herbst 1956 wurde im Ifo-Institut ein Arbeitskreis »Langfristige Projektionen« eingerichtet. Dieser arbeitete mit Hilfe finanzieller Unterstützung der Rockefeller Foundation und mehrerer Industrieverbände – darunter der BDI und der Verband chemischer Industrie – an einem ökonometrischen Modell, das sowohl Aufschluss über das gesamtwirtschaftliche Wachstum als auch über die Entwicklung einzelner Branchen geben sollte.139 Wie alle Forschergruppen, die mit ökonometrischen Wachstumsmodellen arbeiteten, bediente sich der Arbeitskreis historischer Zeitreihen, um die Koeffizienten für die Verhaltenshypothesen und Funktionsgleichungen des Modells zu bestimmen. Dabei musste – und das erwies sich als besonders problematisch – auf die Daten der Reichsstatistik (1925–38) zurückgegriffen werden, da die Nachkriegsstatistiken keine ausreichenden Informationen über längere Zeiträume lieferten.140 Nicht nur die private Wirtschaft zeigte großes Interesse an den ökonometrischen Forschungen der Ifo-Arbeitsgruppe, die auch Prognosen für einzelne Wirtschaftszweige plante. Auch das Atom- und das Wirtschaftsministerium unterstützten das Projekt und übernahmen einen Teil der Finanzierung.141 Allerdings kam es immer wieder zu Konflikten, weil die Geldgeber möglichst rasch auch für den Laien verständliche Ergebnisse verlangten, während die Ifo-Mitarbeiter umfassende statistische und theoretische Vorarbeiten für erforderlich hielten.142 Nur für den internen Gebrauch überließen die Wissen138 Der Investitionstest wurde als Mischung aus numerischer statischer Erfassung und Tendenzbefragung konzipiert. Die Investitionsaufwendungen der Vergangenheit wurden in absoluten Zahlen erfasst, die geplanten Investitionen hingegen nur als Tendenz. 139 Vgl. H. Hahn, Das zur Erstellung langfristiger Projektionen für die nächsten beiden Jahre vorgesehene Arbeitsprogramm, Vortrag vor dem Arbeitskreis »Langfristige Projektionen«, 31.1.1957; BAK, B 102/134772. 140 Ebd., S. 5f.; Hahn hielt diese Statistiken aber für zuverlässig und ging von einer hohen Konstanz der Koeffizienten aus; zu einem späteren Zeitpunkt wurden dann allerdings auch Zeitreihen aus den fünfziger Jahren verwendet; vgl. BAK, B102/123772: Vortrag Werlé vor dem Verband der Chemischen Industrie am 20.5.1959. 141 BAK, B 102/134772: Protokoll der Besprechung über langfristige Projektionen im BMWi, 31.1.1957; Bohlen, Bericht über Sitzung des Ifo-Forschungsbeirates am 12.7.1958; Bericht Dr. Kuhlo, 12.7.1958; das Ifo-Modell wurde erst 1963 veröffentlicht: Gehrig, Makroökonomisches Modell. 142 BAK, B 102/134772: BDI an Ifo-Institut, 25.8.1958; Bericht Bohlens über Sitzung des Arbeitskreises, 31.10.1958. Allein vier Jahre nahm die Zusammenstellung des statistischen Ma-

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schaftler dem Ministerium 1958 eine erste »naive« Version des Prognosesystems, bevor sie fünf Jahre später die vollständige Fassung mit einer Projektion der wichtigsten Sozialproduktskomponenten bis zum Jahre 1970 veröffentlichten.143 Außer dem Ifo-Arbeitskreis begannen Anfang der sechziger Jahre auch weitere Forschergruppen mit der Erarbeitung ökonometrischer Prognoseverfahren. Sie beruhten allerdings auf hoch aggregierten Modellen und waren für praktische Anwendungen nur bedingt tauglich.144 Das ambitionierteste Projekt wurde Anfang der sechziger Jahre von Wilhelm Krelle initiiert. Unter Einsatz beträchtlicher Fördermittel des Landes Nordrhein-Westfalen und der DFG arbeitete Krelle seit 1962 mit mehreren Volkswirten und EDV-Experten an einem mathematischen Gesamtmodell mit insgesamt 70 nichtlinearen Differenzgleichungen 6. Ordnung und einem Prognosehorizont von fünf Jahren.145 Als Referenzperiode für die Berechnung der Parameter diente der Zeitraum 1957–65. Das »Bonner Modell« löste sich damit nicht nur von den problematischen Zeitreihen der Reichsstatistik, sondern war auch weitaus komplexer als die bis dahin existierenden Modelle, die in der Regel nicht mehr als 5–10 Strukturgleichungen verwendeten. Der enorme Rechenaufwand des Modells mit 70 Unbekannten war nur durch den Einsatz eines IBM-Großrechners zu bewältigen. Ein ähnlich komplexes Prognosemodell entstand in den sechziger Jahren an der Universität Tübingen (Tübinger Modell). Krelle hat diese Projekte rückblickend als Beginn der »Big Science« in der wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulforschung charakterisiert.146 War man in Bonn und Tübingen noch weit entfernt von den Dimensionen naturwissenschaftlicher Großforschung, manifestierte sich in den Projekten doch eine neue Qualität der ökonomischen Forschung. Nicht nur der hohe Aufwand an finanziellen, personellen und technischen Ressourcen sowie die lange Laufzeit gingen über das übliche

terials in Anspruch, das für die Bestimmung der Modellparameter benötigt wurde. Es handelte sich um historische Zeitreihen (v.a. Arbeitsangebot, Einfuhren, Sachkapitalbestand, Sozialprodukt, Konsum und Bruttoanlageinvestitionen) für den Zeitraum 1935–38 und 1950–57. Weitere zwei Jahre wurden für die ökonometrische Bestimmung der einzelnen Modellfunktionen benötigt. Das Modell bestand im Kern aus einer Produktions-, Investitions- und Konsumfunktion, ergänzt durch eine Reihe von definitorischen Gleichungen und Hilfsgleichungen. Der Leiter der Arbeitsgruppe Gerhard Gehrig ging mit Hilfe eines Rockefeller-Stipendiums für ein Jahr in die USA, um die Schätzmethoden zur simultanen Bestimmung der Parameter zu erlernen; vgl. Gehrig, Makroökonomisches Modell. 143 Ebd. sowie BAK, B 102/134772: Bohlen an Hahn, 4.7.1959; Hahn an Bohlen, 23.7.1959. 144 Gülicher, Dezisionsmodell; Menges; König/Timmermann;; Hansen, Ökonometrisches Modell; Lüdeke. 145 Insgesamt handelte es sich um 35 Definitions- und 28 Verhaltensgleichungen sowie um sieben exogene Variablen; Krelle u.a., Prognosesystem, S. 23. 146 Ebd. (Vorwort).

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Maß hinaus, neu war die interdisziplinäre Kooperation, der Einsatz computerbasierter Programmierung, insbesondere aber die enge Verflechtung von theoretischer und empirischer Arbeit. Die institutionelle Trennung von theoretisch orientierter Hochschulforschung und angewandter Wirtschaftsforschung löste sich in den sechziger Jahren immer mehr auf. Das stürmische Wachstum der ökonometrisch gestützten Prognosesysteme, gefördert u.a. durch ein 1964 von der DFG eingerichtetes Schwerpunktprogramm »Ökonometrie«,147 ging freilich auch mit einer gewissen Ernüchterung einher. Zu dem hohen technischen Aufwand der »schmutzigen statistischen und ökonometrischen Arbeit« (Krelle) kamen Fehler in der Parameterberechnung, die durch langwierige Testverfahren (ex-post-Prognosen) beseitigt werden mussten.148 Dabei wurden in der Vergangenheit liegende Entwicklungen durch das Modell prognostiziert und mit der tatsächlich eingetretenen Entwicklung verglichen. Um möglichst aktuell zu sein, mussten in die Modelle neue Konstellationen und Entscheidungsgrößen aufgenommen werden, was den Einbau zusätzlicher exogener und Instrumentenvariablen erforderte. Wurde die Präzision der Vorhersagen durch die Zahl exogener (d.h. nicht durch das Modell erklärbarer) Variablen erhöht, sank jedoch zugleich ihre Handhabbarkeit. Ein besonderes Problem stellten konjunkturelle Schwankungen dar. In der ersten Version des Tübinger Modells hatte man diese durch eine Vorratsinvestitionsfunktion berücksichtigt. Das hatte jedoch dazu geführt, dass sich bei längerfristigen Simulationen die Schwingungen verstärkten und deshalb eine destabilisierende Wirkung eintrat.149 Daraufhin setzte man die Vorratsinvestitionsfunktion konstant, womit das Modell allerdings zu einem reinen Trendmodell wurde, mit dem sich konjunkturelle Schwankungen nicht mehr vorhersagen ließen. Auch auf die Simulierung externer Schocks durch Zufallsvariablen wurde verzichtet. Das 1966 erstmals vorgestellte Bonner Modell musste aufgrund seiner Komplexität ständig überarbeitet werden und existierte in zahlreichen Versionen, die immer umfangreicher wurden.150 So hatte sich die Zahl der Gleichungen und Variablen bis zur fünften Version von 70 auf 127 erhöht.151 Damit stellte sich auch die Frage der Handhabbarkeit ökonometrischer Großmodelle, die ja keineswegs nur der wissenschaftlichen Erkenntnis dienen sollten, sondern als Grundlage für wirtschaftspolitische Entscheidungen konzipiert

147 Informationen zu dem Programm sowie Auflistung der Anträge auf Gewährung von Forschungsbeihilfen durch die DFG in: BAK, B 102/248428. 148 So wurden die Parameter mehrfach neu berechnet; seit 1968 arbeitete man ferner an einem stärker disaggregierten Modell. 149 Krelle u.a., Prognosesystem. 150 Ders., Erfahrungen. 151 Ebd., S. 6.

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waren.152 Bereits bei der ersten Version des Bonner Modells ging Krelle davon aus, dass eine Forschergruppe von zwei bis drei Mitarbeitern mehrere Monate benötigen werde, um die für jede einzelne Prognose erforderliche Neuberechnung der Parameter zu bewältigen.153 Die anfängliche Hoffung, das »Kolossalgemälde der Wirtschaft« (Krelle) in Zukunftsprojektionen möglichst detailgetreu und wirklichkeitsnah abbilden zu können, wurde daher selbst von erklärten Anhängern ökonometrischer Verfahren skeptisch beurteilt. Bereits auf der Garmischer Tagung hatte es Stimmen gegeben, die vor übertriebenem Optimismus warnten. Punktgenaue Vorhersagen, so der Tenor der Diskussion, könne es nicht geben. In der Praxis lasse sich allenfalls mit »Intervallprognosen« arbeiten, welche zukünftige Entwicklungen mit hoher Wahrscheinlichkeit abbilden könnten.154 »It is better to be vaguely right than to be precisely wrong«, brachte Herbert Giersch die verbreiteten Bedenken gegenüber Punktprognosen zum Ausdruck.155 Auch Gottfried Bombach warnte vor übertriebenen Erwartungen gegenüber wissenschaftlichen Prognoseverfahren, die nicht zuletzt aus einer »schier unersättlichen Nachfrage« aus Politik, Wirtschaft und Verbänden resultierten. Die »vermeintliche Geschlossenheit, Eleganz und Symmetrie« ökonometrischer Großmodelle suggeriere eine Präzision, die in Wirklichkeit kaum zu erzielen sei.156 Solche Aufrufe zur Selbstbescheidung dienten auch dem Schutz der eigenen Disziplin und ihrer Methoden, denn – so warnte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Gerhard Fürst, bereits 1958 – »der Glaube an die Unfehlbarkeit des Instruments könnte es leicht töten«.157 Nicht zuletzt aber stellte sich die Frage, welche Rolle die Prognosesysteme in der Praxis spielen sollten. Lieferten sie der Politik – um mit Albert Wissler zu sprechen – einen »Kompass«, welcher den Akteuren den richtigen Weg wies?158 Oder handelte es sich, wie Hans Peter betonte, lediglich um eine »Windrose«, welche die Ausschläge der Magnetnadel in die eine oder andere Richtung messen und in ihren Konsequenzen aufzeigen konnte?159 Boten Prognosen den politischen 152 Dies galt jedenfalls für das »Tübinger Modell«; Krelle u.a., Prognosesystem, S. 8. 153 Ebd. (Vorwort); das Prognosemodell wurde daher nur für große Strukturentscheidungen verwendet, so etwa für die Planung der Wehrstruktur oder die Bildungsplanung in den frühen siebziger Jahren. 1968 verwendete allerdings auch der Sachverständigenrat das Modell, um im Rahmen seines Jahresgutachtens eine Aufwertungsempfehlen zu geben; vgl. Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1968/69, S. XI. 154 Schon das Ifo-Modell wurde als Intervallprognose konzipiert; BAK, B102/123772: Vortrag Werlé vor dem Verband der Chemischen Industrie am 20.5.1959. 155 Diskussionsbeitrag Giersch, in: Giersch/Borchardt, S. 497; vgl. auch Giersch, Wirtschaftspolitik I, S. 37f. 156 Bombach, Möglichkeit, S. 29 und 63. 157 Diskussionsbeitrag von G. Fürst, in: Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V., S. 40. 158 Wissler, Hauptprobleme, S. 85. 159 H. Peter, Diskussionsbeitrag: Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V., S. 55.

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Entscheidungsträgern eine Richtschnur für ihr Handeln – konnten sie dieses gar ersetzen? Ließ sich Politik als ökonomische Modellvariable »endogenisieren«? Dass wirtschaftspolitische Maßnahmen die Ergebnisse der Prognosen beeinflussten, war unumstritten, doch stellte sich die Frage, ob sie sich durch das Modell selbst erklären – und damit auch vorhersagen – ließen. Dies setzte freilich voraus, dass man über ein ökonomisches Entscheidungsmodell politischen Handelns verfügte, aus dem sich eine klare Ziel- und Präferenzfunktion ableiten ließ. In der Regel gab es mehrere, zum Teil konfligierende wirtschaftspolitische Ziele (z.B. Vollbeschäftigung, Preisstabilität oder Zahlungsbilanzausgleich), deren Bewertung durch Parlamente und Regierung nicht von vorne herein geklärt war. Der norwegische Ökonom und spätere Nobelpreisträger Ragnar Frisch hatte 1961 die Auffassung vertreten, die Wirtschaftstheorie könne eine Zielfunktion erstellen, welche die Gesamtheit der Urteile und Entscheidungen der Politiker über die Wünschbarkeit wirtschaftlicher und sozialer Zustände widergebe.160 Frisch ging davon aus, dass sich diese Präferenzfunktion durch Befragung der Politiker, durch Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten und durch eine Meinungsanalyse der verantwortlichen Regierungsmitglieder bestimmen ließ. Die Möglichkeit, eine optimale Wirtschaftspolitik mit Hilfe der Wohlfahrtstheorie zu gestalten, wurde von den meisten bundesdeutschen Wissenschaftlern aber skeptisch bewertet.161 So verzichtete das »Bonner Modell« auf eine Präferenz- und Zielfunktion und beschränkte sich darauf, »die Konsequenzen verschiedener wirtschaftspolitischer Entscheidungen abzuschätzen und damit Gesichtspunkte für die Abwägung von Alternativen zu erhalten«.162 Eine Reihe von Ökonomen hielt eine Prognose überhaupt nur dann für sinnvoll, wenn sie mit einem politisch formulierten »Wirtschaftsprogramm« verknüpft war, das klare Zielvorstellungen über die gewünschte Entwicklung enthielt.163 Demgegenüber ließ sich einwenden, dass ein solches Programm notwendigerweise selbst auf Prognosen basierte, eine saubere Trennung von wissenschaftlicher Prognose und politischem Handeln kaum möglich sei.164 Diese Debatten verwiesen auf die grundsätzliche Frage, wie die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik zu definieren sei. Welche Rolle sollte der Ökonom im politischen Entscheidungsprozess spielen? In welchem Verhältnis standen »positive« und »normative« Ökonomik zueinander? Diese Fragen 160 Frisch. 161 Vgl. König, Gesamtrechnung; König nannte u.a. die bekannten methodischen Einwände gegen eine Wohlfahrtsfunktion, etwa die Unmöglichkeit einer kardinalen Nutzenmessung bzw. eines interpersonalen Nutzenvergleichs; vgl. auch Bombach, Möglichkeit, S. 38f.; Gerfin, S. 8. 162 Krelle, Erfahrungen, S. 27; vgl. auch ders., Präferenz- und Entscheidungstheorie. 163 Gerfin, S. 193f.; Schöpf, S. 210f. 164 Darauf verwiesen Jöhr/Kneschaurek, S. 418.

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waren nicht neu, doch sie gewannen durch die Etablierung neuer Prognoseverfahren und den Ausbau der wissenschaftlichen Politikberatung seit Mitte der fünfziger Jahre eine neue Dimension. Dabei ging es, wie im folgenden Abschnitt dargestellt wird, nicht nur um das Selbstverständnis der Wirtschaftswissenschaften, sondern auch um die Neubestimmung politischen Handelns in einem System, das zunehmend durch komplexe wissensbasierte Entscheidungsprozesse geprägt wurde.

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Zweiter Teil: Verwissenschaftlichung der Politik

»Die Männer der Wissenschaft sind durch ihren Beruf und ihre Position außerhalb der wirtschaftlichen Interessen die einzigen objektiven, unabhängigen Ratgeber, die der staatlichen Wirtschaftspolitik und der öffentlichen Meinung einen zutreffenden Einblick in die schwierigen Zusammenhänge des Wirtschaftslebens geben und damit die Grundlage für die wirtschaftspolitische Urteilsbildung liefern können.«1

IV. Nationalökonomen als Politikberater Der Ausbau von Ökometrie und empirischer Wirtschaftsforschung führte zu einer großen Nachfrage nach akademisch qualifizierten Volkswirten.2 An bundesdeutschen Universitäten und Forschungsinstituten nahm die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter erheblich zu, und zwar noch vor der Stellenexpansion, die Mitte der sechziger Jahre mit dem Ausbau der Universitäten einsetzte.3 Doch auch Unternehmen, Banken, Verbände und öffentliche Verwaltungen, vor allem aber Fachbehörden wie das Statistische Bundesamt oder der Bundesrechnungshof stellten in wachsendem Umfang ökonomisch qualifizierte Fachleute ein. Die höhere Laufbahn des öffentlichen Dienstes, einst ein Monopol der Juristen, öffnete sich in den fünfziger Jahren verstärkt wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Absolventen. So richteten einige Bundesministerien (BMWi, BMA, BMF) sowie das Bundeskanzleramt häufig gleich mehrere volkswirtschaftliche Referate und Fachgruppen ein.4 Im Bun1 F. Böhm, W. Eucken u. H. Großmann-Doerth, Unsere Aufgabe. Geleitwort der Herausgeber zur Schriftenreihe »Ordo«, in: Böhm, Ordnung, S. VII-XXI, hier S. VII. 2 Entsprechend nahm die Zahl der wirtschaftswissenschaftlichen Absolventen in den fünfziger und frühen sechziger Jahren überproportional zu; vgl. Daten zu Studentenzahlen, Absolventen und Promotionen in: Statistisches Jahrbuch, Jg. 1951, S. 106; Jg. 1961, S. 108f. u. Jg. 1965, S. 110f. 3 Vgl. Enders, Mitarbeiter, S. 73; Hagemann, Post–1945 Development, S. 122f. 4 So gab es etwa im Finanzministerium seit 1957 neben einem Volkswirtschaftlichen Generalreferat auch eine Finanzpolitische und Volkswirtschaftliche Gruppe; vgl. Löffler, S. 111.

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deswirtschaftsministerium gab es neben der einflussreichen Grundsatzabteilung volkswirtschaftliche Referate in den einzelnen Fachabteilungen. 1961 waren 140 der insgesamt 480 Angehörigen des höheren Dienstes im BMWi Volkswirte; die Zahl der Diplomkaufleute belief sich auf 51. Zwar gab es zu diesem Zeitpunkt immer noch 190 Juristen in dieser Laufbahngruppe, doch ging deren Zahl kontinuierlich zurück. Der Trend vom juristisch geschulten Verwaltungsfachmann oder Generalisten zum ökonomisch versierten Experten war nicht mehr aufzuhalten.5 Eine ähnliche Veränderung der Qualifikationsstruktur war im Finanzministerium zu beobachten.6 Die Deutsche Bundesbank besetzte ihre Führungspositionen fast ausschließlich mit akademisch geschulten Betriebs- und Volkswirten, bisweilen auch mit Bankfachleuten aus der Praxis.7 »Der Ökonom als Ministerialbürokrat sitzt damit gewissermaßen an den Schalthebeln des modernen Verwaltungsstaates«, schlussfolgerte Egon Tuchtfeldt 1962 auf einer Tagung des »Vereins für Socialpolitik«.8 Doch bedeutete die »Vertiefung der personellen Beziehungen zwischen Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik« auch eine »Objektivierung im Sinne einer ›Verwissenschaftlichung‹ der Entscheidung«?9 Diese Frage wurde innerhalb der Disziplin immer häufiger aufgegriffen. So konstatierte Karl Schiller 1956 in seiner Antrittsrede als Rektor der Universität Hamburg eine »unaufhaltsame Entzauberung unseres Daseins« sowie eine »immer weitergehende Rationalisierung und Intellektualisierung unseres gesellschaftlichen Lebens«. Das sei auch auf den wachsenden Einfluss der akademischen Funktionseliten zurückzuführen. »Scharen von ökonomisch ausgebildeten Experten sind heute«, so Schiller, »nicht nur als Berater, sondern als Unternehmer, als Manager und Funktionäre, kurzum als Leute mit Entscheidungsgewalt, über unsere gesellschaftliche Wirklichkeit verteilt. Sie alle richten sich mehr und mehr nach dem angeblich rein rationalen Kalkül und immer weniger nach dem natürlichen Gefühl.«10 Die Forderung nach einem »Scientific management«, einer »Objektivierung« und »wissenschaftlichen Fundamentierung« der Wirtschaftspolitik, gar einer allseitigen »Verwissenschaftlichung« war in den fünfziger Jahren ubiquitär.11 Dass die Ökonomie in diesem Prozess gegenüber anderen Disziplinen eine Vorreiterrolle einnehmen würde, schien unumstritten. Zwei Faktoren gaben hierbei den Ausschlag: Zum einen führten die mathematische Formali5 Rau, S. 326. 6 Vgl. Schiettinger. 7 Vgl. Wolf, Wirtschaftswissenschaftler. 8 Tuchtfeldt, Wirtschaftswissenschaftler, S. 386. 9 Ebd., S. 381. 10 Schiller, Ökonom, S. 9. 11 Vgl. z.B. Baade, Methoden, S. 80; Paulsen, Wirtschaftsforschung, S. 38; Schneider, Entwicklungen, S. 18.

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sierung der volkswirtschaftlichen Theorie und der Einsatz ökonometrischer Verfahren dazu, dass selbst versierte Politiker und Beamte fachliche Diskussionen und Empfehlungen nicht mehr ohne weiteres nachvollziehen konnten. Nicht zuletzt das »spröde Fachlatein« der Ökonomie sorgte dafür, dass die Kluft zwischen »Laien« und »Experten« immer größer wurde und der Bedarf an Vermittlungsinstanzen und Beratungsgremien wuchs.12 Zum anderen setzte sich mit dem Aufstieg der modernen Makroökonomik auch ein neues Verständnis von Wissenschaft durch, das sich nicht mehr auf das Erklären ökonomischer Zusammenhänge beschränkte, sondern beanspruchte, Wirtschaftspolitik auf der Basis theoretischer Erkenntnis aktiv zu gestalten. Die Grenze zwischen akademischer Forschung und politischer Praxis war somit durchlässiger als in anderen Disziplinen. Wie bereits dargestellt, bemühte sich die akademische Nationalökonomie nach 1945 um eine wissenschaftliche Profilierung und um die endgültige Anerkennung als eigenständige Fachdisziplin außerhalb der Staatswissenschaften. In diesem Kontext muss auch die Wiederbegründung des »Vereins für Socialpolitik« im Jahre 1948 als maßgebliche wirtschaftswissenschaftliche Vereinigung der Hochschullehrer im deutschsprachigen Raum gesehen werden.13 Durch zahlreiche Tagungen und Veröffentlichungen, die neben spezielleren Fachproblemen gerade auch den praktischen Fragen der Wirtschaftspolitik gewidmet waren, beeinflusste der Verein nicht zuletzt die öffentlichen Diskussionen.14 Auch andere wissenschaftliche Vereinigungen und staatsbürgerliche Initiativen wie die »Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft«, die »Volkswirtschaftliche Gesellschaft«, die »Wirtschaftspolitische Gesellschaft«, die »WAAGE« oder die »Mont Pélerin Society« trugen zu einer Öffnung der Disziplin und zu einer Popularisierung wirtschaftswissenschaftlicher Probleme bei.15 Zugleich kam es nach 1945 zu einer raschen Institutionalisierung der wissenschaftlichen Politikberatung. Immer neue Beratungsgremien und Expertenrunden entstanden, zum Teil inoffizieller oder temporärer Art, zum Teil aber auch mit dauerhafter institutioneller Verankerung.16 Eine herausragende Rolle spielten in der Frühphase der Bundesrepublik die Wissenschaftlichen 12 Schiller, Ökonom, S. 25. 13 Der Neugründung des Vereins, der sich 1936 selbst aufgelöst hatte, wurde im September 1947 auf einer Tagung von Hochschullehrern in Rothenburg o.d.T. beschlossen; vgl. Blesgen, S. 217f. 14 Vgl. z.B. Albrecht, Problematik; Hoffmann, Bedingungen; Schneider, Einkommensverteilung. Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik wurde auf den Tagungen des Vereins immer wieder diskutiert; vgl. Giersch/Borchardt; Beckerath/Giersch; Schneider, Rationale Wirtschaftspolitik; Schneider, Grundsatzprobleme. 15 Vgl. Schindelbeck/Ilgen; Roth; Löffler, S. 79–84. 16 Vgl. den Überblick bei Kloten, West Germany sowie die interne Aufstellung des BMWi (Hans Tietmeyer) vom 5.1.1958, BAK, B 102/193588.

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Beiräte beim Wirtschafts- und Finanzministerium, deren Gründung auf eine Initiative der amerikanischen Besatzungsbehörden zurückging. Bereits Anfang 1948 waren in der bizonalen Verwaltung für Finanzen und Wirtschaft wissenschaftliche Beiräte eingerichtet worden. Die Alliierten förderten den Aufbau von wissenschaftlichen Gremien, deren Mitglieder politisch weniger kompromittiert schienen als die Funktionseliten der zivilen und militärischen Verwaltung. Überdies war es in den USA und Großbritannien während des Krieges zu einem verstärkten Einsatz von wissenschaftlichen Experten in der wirtschaftlichen und militärischen Kriegsorganisation gekommen. Diese Erfahrung dürfte auch für die Besatzungspolitik eine Rolle gespielt haben, zumal grundlegende wirtschaftspolitische Entscheidungen noch vor dem Neuaufbau der politischen Ordnung getroffen werden mussten. Bei der Gründung der wissenschaftlichen Beiräte legte man großen Wert darauf, ein möglichst breites Spektrum von nationalökonomischen Schulen und Richtungen zu berücksichtigen.17 So waren im Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft außer führenden Ordoliberalen wie Walter Eucken, Leonhard Miksch, Franz Böhm, Adolf Lampe und Theodor Wessels auch eine Reihe von Keynesianern vertreten, darunter Erich Preiser, Hans Peter und Karl Schiller. Hinzu kamen Außenseiter wie der katholische Sozialtheoretiker Oswald von Nell-Breuning oder Wilhelm Kromphardt, der als Befürworter planwirtschaftlicher Ideen galt.18 Die anfängliche Dominanz der Ordoliberalen schwächte sich allerdings nach dem Tod von Eucken, Lampe und Miksch deutlich ab, wogegen ein moderater Keynesianismus zunehmend das wissenschaftliche Profil des Beirats prägte. Nicht viel anders sah es im Beirat beim Finanzministerium aus, in dem sich in den fünfziger Jahren eine Orientierung zur amerikanischen »fiscal theory« abzeichnete.19 Beide Beiräte wurden nach der Gründung der Bundesrepublik als unabhängige Beratungsorgane in die Fachministerien eingegliedert. Vor allem der Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hatte großen Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Diskussionen der Nachkriegszeit. So spielte das Gremium eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung der Währungsreform.20 Zwischen 1948 und 1961 entstanden insgesamt 60 Gutachten, die sowohl zu aktuellen

17 Nicholls, S. 185f. u. Blesgen, S. 222–225. 18 Zur Zusammensetzung vgl. ebd., S. 725–729. 19 Auf das Einsickern keynesianischer Ideen weist Schmölders, der dem Beirat beim BMF von 1947 bis 1972 angehörte, in seinen Memoiren hin: »Ich stand zusammen mit den wenigen anderen Gegnern dieser leichtfertigen Finanzpolitik des Wohlfahrtsstaates fast allein; hatten noch Gerloff und Terhalle, die beiden ersten Vorsitzenden des Beirates, mir weitgehend zugestimmt, so blieb ich mit Stucken und Ritschl letztlich allein gegenüber der Front derer, die sich zu Fürsprechern dieser kurzfristigen und kurzsichtigen Heilslehre der Finanz- und Wirtschaftspolitik machten.« Schmölders, Lebenserinnerungen, S. 128. 20 Vgl. Giersch u.a., Fading Miracle, S. 34–36.

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konjunkturpolitischen Fragen als auch zu grundsätzlichen Problemen der Wirtschaftsordnung Stellung nahmen.21 Mit den Beiräten beim Finanz- und Wirtschaftsministerium war ein Modell professioneller Politikberatung geschaffen worden, das für die Entwicklung der jungen Bundesrepublik wegweisend sein sollte. Beide Einrichtungen waren als unabhängige Beratungsgremien mit einem strikt wissenschaftlichen Anspruch konzipiert. Ihnen gehörten fast ausschließlich Hochschullehrer an, die per Kooptation gewählt wurden.22 Da die Mitgliedschaft zeitlich nicht begrenzt war, wiesen die Beiräte eine hohe personelle Kontinuität auf. Lediglich im Todesfall oder bei freiwilligem Ausscheiden wurden neue Mitglieder aufgenommen.23 Dies führte, wie der Beirat beim BMWi zeigt, auch zu einer Homogenisierung der wirtschaftspolitischen Positionen.24 Während in den ersten Sitzungen noch häufig kontrovers über ordnungspolitische Richtungsentscheidungen diskutiert wurde, kam es im Laufe der fünfziger Jahre nur noch selten zu grundlegenden Divergenzen. Minderheitsvoten, wie sie in den ersten Jahren durchaus üblich waren,25 blieben fortan eine seltene Ausnahme. Zu den Sitzungen wurden gelegentlich Vertreter der Bundesbank, der Ministerien sowie der Wirtschaftsforschungsinstitute eingeladen – letztere auch deshalb, weil die Beiräte über keine Sachmittel oder Mitarbeiter verfügten. Tatsächlich war die Mitarbeit außerordentlich zeitaufwändig. Der Beirat traf sich jährlich zu etwa acht bis zehn Plenartagungen, die meist zwei Tage dauerten.26 Hinzu kamen Sondersitzungen auf besonderen Wunsch des Ministeriums sowie Tagungen von Arbeitskommissionen, welche Entwürfe der Gutachten anfertigten. Die Wissenschaftler erstellten ihre Gutachten im Auftrag des zuständigen Ministeriums, konnten aber auch aus eigener Initiative tätig werden. Allerdings – und dies sollte immer wieder Anlass zu Konflikten geben – konnte das 21 Sämtliche Gutachten in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Sammelband; Wortprotokolle bis 1970 in: IfZ, Ed 150/32ff. 22 Ernannt wurden neue Mitglieder vom Minister auf Vorschlag des Beirates. Die Tätigkeit war ehrenamtlich. Der Beirat beim BMWi gab sich erst 1958 eine Satzung, der Beirat beim Finanzministerium erst 1971. Satzungen in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1957–61, S. 111–113 (Anhang); Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Finanzen, S. 578f. (Anlage). 23 Eine gewisse Fluktuation gab es lediglich in den Anfangsjahren durch den Tod von Lampe (1948), Eucken und Miksch (beide 1950). 1964 gehörten immerhin noch 15 Mitglieder des Beirates zur Originalbesetzung; vgl. die Liste der Mitglieder bei Blesgen, S. 725–729. 24 Darauf verweist F. Frieauff, 20 Jahre Wissenschaftlicher Beirat, in: Der Volkswirt, 26.1.1968, S. 23–26, hier S. 23. 25 Vgl. etwa das erste Gutachten »Maßnahmen der Verbrauchsregelung, der Bewirtschaftung und der Preispolitik nach der Währungsreform« vom 18.4.1948 und beigefügtes Minderheitsvotum sowie »Geldordnung und Wirtschaftsordnung« vom 18.9.1949, in: Wissenschaftlicher Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, S. 25–30 u. 65–68. 26 In der Regel handelte es sich um drei Tagungen im Sommersemester und vier Tagungen im Wintersemester.

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Ministerium die Veröffentlichung der Gutachten hinauszögern, ferner waren die Mitglieder zu Verschwiegenheit verpflichtet.27 Die fehlende Möglichkeit, eigenständig an die Öffentlichkeit zu treten, erwies sich im Vergleich zum 1963 gegründeten Sachverständigenrat allerdings als erhebliche Einschränkung. Die Zunahme der wissenschaftlichen Gutachter- und Beratertätigkeit und die Einbindung von Hochschullehrern in politische Entscheidungsprozesse waren durchaus umstritten. Abgesehen von der erheblichen Arbeitsbelastung wurden immer wieder Bedenken formuliert, die auf das wissenschaftliche Selbstverständnis des Faches und seiner Verortung zwischen akademischer Forschung, Expertise und praktischer Wirtschaftspolitik verwiesen. Wo lagen die Grenzen zwischen »normativer« und »wissenschaftlicher« Urteilsbildung, zwischen Werturteil, politischem Bekenntnis und wissenschaftlicher Analyse? Vor allem die Anhänger der Freiburger Schule hoben die besondere Verantwortung der Wissenschaft für die Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung hervor. Die Nationalökonomie war nach ihrer Auffassung stets auch eine »politische Wissenschaft«, ja, sogar eine »geistig-sittliche Macht«.28 Die von Walter Eucken geprägte »Ordnungslehre« verwies auf die Notwendigkeit, auch politische und gesellschaftliche Fragen in den Blick zu nehmen, da diese unauflöslich mit der wirtschaftlichen Verfassung verflochten seien.29 Politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung waren »interdependent« und ließen sich nicht als getrennte Sphären begreifen. Dieser Gedanke wurde von Friedrich Lutz und Paul Hensel – beide Schüler Euckens – aufgegriffen und fortentwickelt. In der Nationalökonomie werde, so Lutz 1957 in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Zürich, »die Forschung mehr als auf den meisten anderen Gebieten durch politische Überzeugungen beeinflußt«.30 Dennoch hielt er an einer Trennung von »normativer« und »erklärender« Wissenschaft grundsätzlich fest, die beide eine Existenzberechtigung hätten. Solch eine Unterscheidung erschien Hensel hingegen ebenso weltfremd wie eine innere Aufteilung des Nationalökonomen in einen Staatsbürger, Wissenschaftler und politischen Berater. »Der Nationalökonom ist gerade derjenige, der die Wertbedeutung der wirtschaftlichen Ziele und Ordnungsformen am besten kennen muss. Und nur dann, wenn er die Zusammenhänge zwischen Werten und wirtschaftlichen Entscheidungen kennt, ist er überhaupt in der Lage, die Politik in gültiger Weise zu beraten.«31 Schließlich sei, so Hensel, die Arbeit des Ökonomen nicht nur »analytischer, sondern auch konstruktiver Art«. Dem Ökonomen falle »die gleichsam archi27 So erschien z.B. das im April 1957 angefertigte, umstrittene Gutachten zur Aufwertung der D-Mark erst im Mai 1961; vgl. Koch, Wissenschaftliche Beirat, S. 407. 28 Hensel, Wissenschaft, S. 17. 29 Vgl. Eucken, Grundsätze, S. 342. 30 Lutz, Überzeugung, S. 18. 31 Hensel, Wissenschaft, S. 12.

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tektonische Aufgabe« zu, »wirtschaftliche Gesamtordnungen zu entwerfen«, und dies impliziere eine hohe moralische und politische Verantwortung, die sich nicht hinter vermeintlicher Wertneutralität verstecken dürfe.32 Ganz ähnlich sah dies auch Edgar Salin, nach dessen fester Überzeugung der Wissenschaftler in seiner Beratungstätigkeit niemals »pouvoir neutre« sein konnte. Salin verstand sich selbst ausdrücklich als »politischer Ökonom« und knüpfte damit explizit an das Selbstverständnis der Klassiker an.33 Auch der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning hielt ein ethisch-politisches Bekenntnis der Nationalökonomen für zwingend und forderte – so der Titel eines 1951 gehaltenen Vortrages – zu einer »Sinnbestimmung der Wirtschaft aus letzten Gründen« auf.34 Wissenschaftliche Beratung spiele sich eben nicht in einer »chemisch reinen Atmosphäre« theoretischer Erörterungen ab, und niemals sei der »Fachwissenschaftler allein mit seinem messerscharfen und disziplinierten Denken beteiligt, sondern unvermeidlich der ganze Mensch«.35 Dieser Auffassung konnte sich auch der sozialdemokratische Politiker und Kölner Professor für Sozialpolitik Gerhard Weisser anschließen, der – wenn auch aus einem ganz anderen Blickwinkel – in zahlreichen Schriften und Vorträgen gegen den »Ökonomismus in den Wirtschaftswissenschaften« ankämpfte.36 Weisser war ebenso wie Nell-Breuning Gründungsmitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Wirtschaftsministerium und sprach damit nicht nur als Theoretiker, sondern als Kenner politischer Beratungspraxis. Vor seiner Berufung nach Köln hatte er verschiedene Ämter in Politik und Verwaltung ausgeübt, darunter als Generalsekretär des britischen Zonenbeirates und als Staatssekretär im nordrhein-westfälischen Finanzministerium. Weissers Kritik richtete sich vor allem gegen die Auffassung, gängige wirtschaftspolitische Postulate wie Wachstumsmaximierung, Verteilungsgerechtigkeit oder Preisstabilität ließen sich rein wissenschaftlich ableiten. Was vielfach mit objektiven Gesetzen und mit universal gültigen Theorien begründet werde, beruhe in Wirklichkeit auf außerwissenschaftlichen Normen und ethischen Rangordnungen, ohne dass dies hinreichend reflektiert werde. Weisser forderte daher, die »metaökonomischen Prämissen« offenzulegen und als »normative Axiome« in die wissenschaftliche Urteilsfindung und Beratung einfließen zu lassen.37 32 Ebd., S. 13. 33 Diskussionsbeitrag Salins in: Beckerath/Giersch, S. 579. 34 Nell-Breuning, Sinnbestimmung. 35 Ders., Wirtschaftswissenschaft, S. 401. 36 Weisser, Politik; ders., Überwindung. 37 Vgl. ebd.; Weisser ging davon aus, dass eine »wissenschaftliche Begründung von Werturteilen« nicht möglich sei, da weder die Philosophie »die Formulierung metaökonomischer Prämissen« leiste, noch die Wirtschaftswissenschaften zur »Begründbarkeit eines wirtschaftspolitischen Normensystems Entscheidendes beitragen« könnten; vgl. Diskussionsbeitrag Weissers in Beckerath/Giersch, S. 518f. sowie Weisser, Problem.

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Weissers Kritik an der unreflektierten »Soziotechnik« und dem »Quadratzentimeterspezialismus« vieler seiner Fachkollegen besaß deshalb Gewicht, weil er selbst ein dezidierter Befürworter der wissenschaftlichen Politikberatung war und seiner Tätigkeit im Beirat des Wirtschaftsministeriums mit großem Einsatz nachging. Dabei setzte er sich für klare Empfehlungen ein, während er dem Empirismus der angewandten Wirtschaftsforschung skeptisch gegenüberstand.38 Schon 1951 beklagte Weisser, dass es in Deutschland »neben dem Zahlenfriedhof der weltfremden Statistiker auch einen recht imposanten Gutachtenfriedhof« gebe, der von den Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung nicht zur Kenntnis genommen werde. »Ein gutes Expertengutachten muss an die Gesamtlage anknüpfen und darf bei keiner Empfehlung die Interdependenz der sozialen Prozesse außer Acht lassen.«39 In systematischer – und radikalisierter – Form griff der Kölner Philosoph und Soziologe Hans Albert diese Kritik am wissenschaftlichen Selbstverständnis der Nationalökonomie auf. Albert – ein Schüler Leopold von Wieses und seit 1952 Assistent am Lehrstuhl Weissers – publizierte 1954 eine ideologiekritische Untersuchung der neoklassischen Gleichgewichtstheorie, die er nicht nur als »wissenschaftlich wertlos« abtat, sondern der er auch versteckte Wertannahmen unterstellte, die von ihren Vertretern einfach ignoriert würden.40 Alberts erkenntnistheoretischer Ansatz beruhte auf der Unterscheidung zwischen dem »technischen« Problem der Möglichkeitsanalyse und dem »ethischen« Problem der Entscheidung, welche scharf voneinander zu trennen seien. »Explikative Wissenschaften« wie die Nationalökonomie könnten nichts zur »Lösung der praktischen Entscheidungsproblematik« beitragen, da sie keine normative Urteilskraft besäßen. Alberts wissenssoziologischer Rigorismus fand innerhalb der etablierten Nationalökonomie allerdings ebensowenig Zustimmung wie die dichotomische Trennung von Erkenntnis und Entscheidung. Vor allem seine heftigen Attacken auf die Neoklassik, die er als »ideologisch interpretierbares Leerformelsystem« bezeichnete, dürfte dazu beigetragen haben, dass seine 1955 eingereichte Habilitationsschrift von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln zunächst abgelehnt wurde.41 Zu den schärfsten Kritikern von Hans Albert gehörte der Berliner Konjunkturforscher Albert Wissler, der die »Pseudo-Erklärungen« der Soziologen und Philosophen ebenso ablehnte wie die »wertmäßige Fundierung der ökonomischen Wissenschaft« durch Weisser, Hensel und Nell-Breuning.42 Die »Politi38 Ders., Problematik, S. 33. 39 Ebd., S. 35. 40 Albert, Ideologie. 41 Ebd.; zu Albert siehe Hilgendorf sowie autobiographisch Albert, Umweg. 42 Wissler, Werturteil, S. 145; vgl. auch ders., Empirische Konjunkturforschung, sowie die Replik von Albert, Werturteil.

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sierung« der Ökonomie »von rechts und links«, die Beliebigkeit der Feuilletons, die alles zur »Standpunkt-Sache« erklärten, die »Werte-Romantik« der Ordoliberalen – all dies empfand er als Verletzung fundamentaler Prinzipien der Wissenschaft. »Die Säure der logisch-empirischen Kritik hat hier unerbittlich und beharrlich zu wirken, bis schließlich Bein und Fleisch in der unheiligen Allianz von Werturteil und Sachwissen säuberlich getrennt sind.«43 Doch es ging dem Berliner Konjunkturforscher keineswegs um einen Rückzug der Wissenschaft in die Einsamkeit und Freiheit des Elfenbeinturms. Vielmehr hielt es Wissler für die Pflicht des Ökonomen, durch sachgerechte Information und Aufklärung der Öffentlichkeit sowie durch eine institutionell abgesicherte Beratungstätigkeit den politischen Entscheidungsprozess derart zu beeinflussen, dass dieser den theoretischen und empirischen Erkenntnissen der Wissenschaft folge. Der »moderne Ökonomist« war demnach kein »politischer Ökonom« wie zu Zeiten der Klassiker; er war auch kein »Projektemacher«, »Utopist« oder »Reformer« wie im Kaiserreich. Vielmehr schwebte Wissler das Bild eines »ökonomischen Ingenieurs« vor, dessen Aufgabe darin bestand, mit Hilfe exakter Messung und mathematischer Berechnung die Baupläne zu erstellen, die der Politik eine technisch einwandfreie Gestaltung wirtschaftlicher Abläufe ermöglichten.44 Wisslers radikaler Szientismus mochte manchem zehn Jahre nach dem Ende des NS-Staates als allzu technokratisch erscheinen. Der Nationalökonom und Rektor der FU Berlin, Andreas Paulsen, der grundsätzlich zu den Befürwortern makroökonomischer Ablaufplanung zählte, warnte 1956 vor einer »Verwissenschaftlichung unseres Menschenschicksals« und stellte nicht ohne Skepsis die Frage, ob »durch die Ausscheidung der spekulativen Elemente aus der Wirtschaftswissenschaft eine streng beweisbare, exakte Theorie zu gewinnen wäre, welche die Basis für eine exakte und damit zwingend richtige Wirtschaftspolitik sein kann«.45 Paulsens Unbehagen wurde auch von Karl Schiller geteilt, der vor den Allmachtsphantasien der »ökonomischen Sterndeuter« und den Gefahren umfassender Rationalisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik warnte, welche individuelle Freiheit und Verantwortung nicht einschränken dürfe.46 Doch letztlich waren für ihn die Chancen des neu anbrechenden wissenschaftlichen Zeitalters größer als die Gefahren. Die gefestigte Demokratie der Bundesrepublik erschien ihm immun gegen die Versuchung totalitären Missbrauchs durch wissenschaftlich-technokratische Planung. Entscheidend war für Schiller, dass sich die Nationalökonomie von den alten ideologischen Grabenkämpfen verabschiedet habe. »Vor einigen Jahrzehn43 44 45 46

Wissler, Werturteil, S. 130. Ebd., S. 134. Paulsen, Wirtschaftsforschung, S. 36f.; vgl. auch ders., Universität. Schiller, Ökonom, S. 12.

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ten mögen die zahlreichen Lehrmeinungen manchem Betrachter von außen vielleicht als ein Sammellager von Ideen für alle möglichen Zwecke erschienen sein, wo sich dann jeder das gewünschte Dogma abholen konnte. Heute hat das alles viel mehr den Charakter eines von Zweckwerten abgelösten Instrumentariums.« Durch die »Entdogmatisierung des ökonomischen Denkens und Handelns« und durch den »Rückzug von den subjektiven Werten auf den Werkzeugkasten« sei »die Diskussion entkrampfter und sachlicher geworden«. Dadurch ergäben sich ganz neue Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten für die Wissenschaft, die in Zukunft immer stärker in den politischen Prozess einbezogen werde. »Das Ganze wird der modernen Gesellschaft bald so selbstverständlich und so unentbehrlich sein, wie der rein technisch-industrielle Fortschritt.«47 In Schillers Szenario einer wissenschaftsgestützten Wirtschaftspolitik mischten sich aufklärerische Impulse mit einem betont utopiefernen Realismus. Es stand dem ethischen Konservativismus der katholischen Soziallehre ebenso fern wie dem Interdependenzgedanken der ordoliberalen Freiburger Schule. Doch es wäre falsch, die Diskussion über das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft als Konflikt unterschiedlicher politischer Orientierungen oder wissenschaftlicher Schulen zu begreifen. Vielmehr stand die Position Schillers für einen Richtungswandel, der für die Nationalökonomie der Bundesrepublik seit Mitte der fünfziger Jahre insgesamt charakteristisch war und der sich in zahlreichen Veröffentlichungen zu dieser Thematik niederschlug.48 So hielt Müller-Armack die »Verwissenschaftlichung der Wirtschaftspolitik« für »eine zentrale Aufgabe unserer Zeit«. Viel zu lange habe die ökonomische Theorie ein »Eigendasein« geführt und zum politischen Geschehen kaum etwas Substanzielles beigetragen. Müller-Armack erinnerte an die Versäumnisse der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, als Wissenschaft und Politik nicht ausreichend kooperiert hätten. Die Weltwirtschaftskrise sei damals infolge fehlender wissenschaftlicher Beratung »im Dämmerlichte falscher Erklärungen wie ein unabänderlicher Prozeß abgelaufen«.49 Unter dem Titel »Politik und Wirtschaft: ist eine rationale Wirtschaftspolitik möglich?« referierte Erwin von Beckerath 1956 auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik.50 Beckerath war weit davon entfernt, den Einfluss der 47 Ebd., S. 24–26; noch deutlicher formulierte Schiller dies 1962: »Immer mehr Größen des Gesellschaftsprozesses erscheinen der wissenschaftlichen Analyse und möglicherweise auch Berechnung zugänglich. … Überall dringen wissenschaftliche Beiräte, Forschungseinrichtungen, Planungsstäbe usw. als vorbereitende Laboratorien der Wirtschaftspolitik vor. Das Bedürfnis nach einer versachlichten Wirtschaftspolitik verbindet sich mit der allgemeinen Entideologisierung und Pragmatisierung der Sozialwissenschaften; die Ökonomik wird zu einem Teil anwendbare Funktionswissenschaft«, ders., Wirtschaftspolitik, S. 86. 48 Vgl. etwa Jöhr/Singer; Müller, Möglichkeiten; Strunz. 49 Müller-Armack, Wirtschaftsordnung, S. 9. 50 Beckerath, Politik.

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Wissenschaft zu hypostasieren, da wirtschaftspolitische Entscheidungen einem komplexen Wechselspiel politischer und wirtschaftlicher Kräfte unterlägen. Doch gerade dies verleihe der Wissenschaft eine Schlüsselfunktion. Während nämlich in einem »konservativ-bevormundenden Beamtenstaate die Transformation des rational Notwendigen in Regierungsentschlüsse relativ reibungslos« vor sich gehe, müssten in parlamentarischen Demokratien die Partikularinteressen der Verbände und Gruppen in Einklang gebracht werden.51 Hier könnten die »Unabhängigkeit und Objektivität des Gelehrten« ausgleichend wirken und versuchen, den politischen Entscheidungsprozess auf übergeordnete Ziele festzulegen. Eine wissenschaftlich fundierte Diskussion, so Beckerath, »erreicht global alle an der Willensbildung teilnehmenden Elemente, sie gibt die Möglichkeit, Ideologien zu entlarven, Scheingründe so fadenscheinig zu machen, daß sie sich nicht mehr sehen lassen können.« Doch dürfe sich die Wissenschaft nicht auf ihre Diskursmacht beschränken, sondern müsse ihren Einfluss durch eine weitreichende »Institutionalisierung« im Vorfeld politischer Entscheidungsfindung geltend machen. »Die organisierten Interessen, welche unausgesetzt mit vielgestaltigen Mitteln die Öffentlichkeit zu formen versuchen, bleiben so nicht ohne Gegengewichte.«52 Beckerath stellte seine Argumentation ganz auf die verfassungspolitische Aufgabe der Wissenschaft als Hüter einer über den Interessen stehenden »rationalen Politik« ab. Die Frage, in welchem Maße wissenschaftliche Erkenntnis durch normative Vorstellungen geprägt wurde, streifte er nur am Rande. Beckerath verwies auf ein »gemeinsames europäisches Kulturbewußtsein«, dem sich alle Beteiligten – Wissenschaftler wie Politiker – verpflichtet fühlten. Die Ziele der Wirtschaftspolitik waren demnach nichts anderes als »Projektionen aus einer europäisch verbindlichen Wertebene«.53 Eine Neuauflage des Werturteilstreits, der das Selbstverständnis der deutschen Nationalökonomie um die Jahrhundertwende tief erschüttert hatte, blieb in der Nachkriegszeit aus. Auch der in der Soziologie und Philosophie während der sechziger Jahre verbissen ausgetragene »Positivismusstreit« ging an den Wirtschaftswissenschaften fast spurlos vorüber. Die Frage, ob die Sozialwissenschaften ein besonderes Erkenntnisprivileg besäßen oder grundsätzlich an die gleichen Methoden des Erkenntnisgewinns gebunden seien wie die Naturwissenschaften, schien aus der Sicht der Ökonomen auch deshalb unin51 Ebd., S. 38. 52 Ebd., S. 39; ähnlich Giersch, Wirtschaftspolitik, S. 48, welcher die Wissenschaft als korrigierende Instanz gegenüber parteipolitischen und wirtschaftlichen Partikularinteressen betrachtete, die häufig hinter sachlichen Argumenten versteckt würden. Nur mit einer »systematischen Demaskierung jener schein-explikativen Argumente, die von Interessenten und parteiischen Gutachtern immer wieder hervorgebracht werden, [kann] die wirtschaftspolitische Diskussion versachlicht werden«. 53 Beckerath, Politik, S. 28; vgl. auch Seraphim, S. 74.

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teressant, weil man sich methodisch immer stärker von den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen entfernte.54 Es war bezeichnend, dass selbst Hans Albert seit Ende der fünfziger Jahre von seinen ideologiekritischen Postulaten abrückte und die Möglichkeiten wissenschaftlicher Objektivität – gerade auch mit Blick auf die Wirtschaftswissenschaften – sehr viel optimistischer bewertete.55 Als er 1962, auf dem Sprung von der Kölner Dozentenstelle auf eine Professur an der Wirtschaftshochschule Mannheim, vor dem »Verein für Socialpolitik« über das Thema »Wertfreiheit als methodisches Prinzip« referierte, griff er den »Neo-Normativismus« in den Sozialwissenschaften scharf an.56 Unter Berufung auf Poppers kritischen Rationalismus hielt er nun nicht nur eine »Werturteilsfreiheit wissenschaftlicher Aussagensysteme« für möglich, sondern auch eine wissenschaftliche Beurteilung normativer Fragen: »In der Anwendung der kritisch-rationalen Methode auf soziale Probleme, in der Durchsäuerung des ganzen sozialen Lebens mit dem Geist der kritischen Diskussion, in der voraussetzungslosen Erforschung der Zusammenhänge liegt der Beitrag, den eine wertfreie Wissenschaft zu den Wertproblemen leisten kann. Nicht in normativen Aussagen und Systemen, sondern in der sachlichen Erforschung moralisch-politisch bedeutsamer Probleme liegt ihre Bedeutung für das soziale Leben.«57 Damit war es nur noch ein kleiner Schritt von der wissenschaftlichen Theorie zur praktischen »Sozialtechnologie«. Für Albert ließen sich »theoretische Systeme« – auch die der Wirtschaftswissenschaften – in »technologische Systeme« transformieren, welche dann die Grundlage für die Gestaltung »menschlicher Handlungsmöglichkeiten« bildeten. Dass dies auch den politischen Entscheidungsprozess verändern würde, lag auf der Hand.58 Die Institutionalisierung der Politikberatung und die dadurch angestrebte »Rationalisierung« und »Verwissenschaftlichung« wirtschaftspolitischer Entscheidungsprozesse war jedoch mehr als nur ein theoretisches Problem. Vielmehr waren damit tiefgreifende Veränderungen der politischen und wirtschaftlichen Verfassung verbunden. In welcher Form Experten und Sachverständige in die politische Entscheidungsfindung und deren administrative Umsetzung eingebunden werden sollten, war aus den theoretischen Erörterungen der Wirtschaftswissenschaftler keineswegs abzuleiten. Nicht umsonst verwiesen politisch sensible Beobachter wie Erwin von Beckerath auf die grundlegenden Probleme von Macht und politischem Konflikt. Beckerath plädierte daher für eine umfassende »Soziologie der wirtschaftspolitischen

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Vgl. u.a. Beckerath, Einfluß, S. 288. Vgl. auch das Vorwort zur 2. Auflage von Albert, Ideologie (Göttingen 1972). Albert, Wertfreiheit. Ebd., S. 59f. Ebd., S. 49.

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Entscheidung«, in deren Kontext auch die politische Rolle der ökonomischen Experten zu definieren sei.59 Tatsächlich war die Einrichtung eines obersten wirtschaftlichen Beratungsgremiums seit Gründung der Bundesrepublik ein außerordentlich umstrittenes Thema. Wie im Folgenden dargelegt wird, konkurrierten dabei zwei Modelle miteinander. Zum einen gab es Bestrebungen, ein stärker korporatistisches Beratungsgremium unter Einbeziehung von wirtschaftlichen Verbänden, Gewerkschaften und Wissenschaftlern zu gründen. Als Vorbild dienten der Preußische Volkswirtschaftsrat und der Reichswirtschaftsrat der Weimarer Republik. Zum anderen wurde ein unabhängiges, ausschließlich mit Wissenschaftlern besetztes Sachverständigengremium erwogen, das sich stärker am amerikanischen Modell des scientific policy counseling orientieren sollten. Dieser Konflikt war dafür verantwortlich, dass sich das wissenschaftliche Beratungswesen in der Bundesrepublik sehr viel später institutionalisierte als in anderen westlichen Industriestaaten.

59 Beckerath, Einfluß, S. 303; vgl. auch die eingehenden Erörterungen von Sauermann, Möglichkeit.

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V. Das Erbe Weimars: Die Debatte über den Bundeswirtschaftsrat 1. Der Weimarer Reichswirtschaftsrat als Vorbild? Seit Gründung der Bundesrepublik wurde die Frage diskutiert, ob ein zentrales Gremium zur Beratung der Regierung in wirtschaftspolitischen Fragen eingerichtet werden sollte. Die Idee eines solchen Gremiums war keineswegs neu, sondern besaß eine lange, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Bereits 1880 hatte Bismarck den Preußischen Volkswirtschaftsrat eingesetzt, der allerdings nur viermal zusammentrat und schon 1887 wieder aufgelöst wurde. Weit ambitionierter waren die nach dem Ersten Weltkrieg verfolgten Pläne, einen »Reichswirtschaftsrat« als Verfassungsorgan mit weitreichenden wirtschafts- und sozialpolitischen Kompetenzen zu errichten.1 Das Gremium sollte an der Spitze eines Rätesystems auf betrieblicher und politischer Ebene stehen. Die durch die Weimarer Reichsverfassung vorgesehene Räteordnung wurde jedoch nur in Teilen verwirklicht. Zwar setzte die Reichsregierung im Mai 1920 einen »Vorläufigen« Reichswirtschaftsrat ein. Eine Gründung entsprechender Organe auf Bezirksebene erfolgte jedoch ebenso wenig wie eine Neuordnung der Industrie- und Handelskammern.2 Der Reichswirtschaftsrat zählte 326 Mitglieder, von denen je 122 von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften nominiert wurden, hinzu kamen Vertreter der freien Berufe, Verbraucher, Kommunen, Wissenschaft und der Reichsregierung. Das Gremium hatte nicht nur die Aufgabe, sämtliche wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetze zu begutachten, sondern besaß sogar das Initiativrecht. Rasch stellte sich allerdings heraus, dass der Reichswirtschaftsrat aufgrund seiner Größe nicht arbeitsfähig war. 1923 wurde das Plenum abgeschafft und die Arbeit durch insgesamt 110 Mitglieder umfassende Ausschüsse fortgeführt.3 Die geringe Bedeutung des Reichswirtschaftsrates war freilich die Voraussetzung dafür, dass es nach 1945 überhaupt möglich war, ernsthaft über seine Neueinsetzung zu diskutieren. Das Gremium war in der Endphase der Weimarer Republik bedeutungslos und konnte daher schwerlich mit der wirt1 Vgl. z.B. Dehmer; Geberth; vgl. auch Nützenadel, Interessenvertretung; Metzler, Versachlichung. 2 RGBl., Teil I, S. 858: Verordnung, 4.5.1920. 3 Vgl. Papperitz.

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schaftspolitischen Krise der frühen dreißiger Jahre in Verbindung gebracht werden. Auch die Nationalsozialisten hatten sich nie mit dem Organ anfreunden können und schließlich im März 1934 seine Auflösung verfügt. So blieb das historische Urteil über den Reichswirtschaftsrat unscharf und vieldeutig, und dies wurde durch Kommentare und Erinnerungen von Zeitzeugen noch verstärkt, die sich nach 1945 zahlreich zu Wort meldeten. So publizierte der ehemalige Reichsminister Hans von Raumer Anfang 1950 einen Artikel mit der Überschrift »Brauchen wir einen Bundeswirtschaftsrat?«, in dem er ganz auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen argumentierte.4 In seiner rückblickenden Einschätzung war Raumer weit davon entfernt, die Arbeit des Reichswirtschaftsrates zu idealisieren. Dennoch bestand seiner Auffassung nach kein Zweifel, dass das Gremium »von hohem Sachverständnis zeugende Arbeit geleistet hat«. Darüber hinaus hätten die Gespräche ein »ehrliches Vertrauensverhältnis« zwischen Gewerkschaften und Unternehmern begründet und dazu beigetragen, dass »in der Weimarer Zeit Deutschland von schweren Arbeitskonflikten verschont blieb«. Ausdrücklich befürwortete Raumer daher die Gründung eines Bundeswirtschaftsrates, der die »fachliche Autorität« der Wirtschaftsvertreter in das Gesetzgebungsverfahren einbringen, die Solidarität der einzelnen Branchen fördern und einen Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern herbeiführen werde.5 Diesem Urteil wollte sich der Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Walter Strauß, nicht anschließen.6 In der Debatte über den Bundeswirtschaftsrat fühlte er sich von »Gespenstern« der Weimarer Zeit heimgesucht. Strauß hatte zwischen 1928 und 1933 als Beamter im Reichswirtschaftsministerium an zahlreichen Ausschusssitzungen des Rates teilgenommen. Seine Erfahrungen stammten also aus jener Zeit, in der das Gremium rapide an Einfluss verloren hatte. Strauß würdigte zwar die »gute und umfangreiche Arbeit« vor allem der Fachausschüsse. Die »praktische Einflussnahme« auf die Politik sei jedoch nur gering gewesen.7 Strauß war nicht grundsätzlich gegen die Einbindung von wirtschaftlichen Gruppen und Sachverständigen in den politischen Entscheidungsprozess, vertrat jedoch die Ansicht, dass diese Aufgabe besser von den wissenschaftlichen Beiräten der Ministerien und den Fachausschüssen des Bundestages zu leisten sei. Gewerkschaften und Arbeitgeber würden durch ihre Lobby-Arbeit bereits jetzt starken Einfluss auf die politische Meinungsbildung ausüben. Eine darüber hinausgehende institutionelle »Repräsentation« der Wirtschaft hielt Strauß für gefährlich, da dies den politischen 4 Raumer. 5 Ebd., S. 15. 6 BAK, B 136/2453: W. Strauß, Die Erfahrungen mit dem vorläufigen Reichswirtschaftsrat und der Wirtschaftsenquete (o.D.). 7 Ebd., S. 11 und 15.

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Einfluss der »Interessenvertreter« ungebührlich ausdehne und schließlich das eintreten werde, »was man Ende der zwanziger Jahre mit einem treffenden Wort die pluralistische Zersetzung der Demokratie genannt hat«.8 Eine vermittelnde Position nahm Bundesarbeitsminister Anton Storch ein.9 Grundsätzlich müsse man die Sozialpartner zur Übernahme von politischer Verantwortung zwingen. Die von Strauß geäußerte Befürchtung, der Bundeswirtschaftsrat werde einer »pluralistischen« Interessenspolitik die Tür öffnen und somit zu einer Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie beitragen, konnte Storch nicht teilen. Nicht in der Existenz, sondern in der mangelnden Durchsetzungskraft des Reichswirtschaftsrates sah Storch die Ursache für die krisenhafte Entwicklung in der Endphase der Weimarer Republik. Wenn dieser »gute Arbeit geleistet« hätte, wäre Deutschland »nicht in die Schwierigkeiten gekommen«, die »uns 1933 die Demokratie gekostet [haben]«.10 Auch führende Gewerkschaftspolitiker äußerten sich Anfang der fünfziger Jahre zu ihren Erfahrungen mit dem Reichswirtschaftsrat. So würdigte Fritz Tarnow, der als Vorsitzender des Holzarbeiterverbandes und Vorstandsmitglied des ADGB lange Jahre in diesem Gremium mitgewirkt hatte, ausdrücklich die Leistungen des Reichswirtschaftsrates. Sie würden auch dadurch nicht geschmälert, dass man zu Anfang eine »Phase der Kinderkrankheiten« durchlaufen musste, schließlich habe es an »Vorbild, Erfahrung und Arbeitsroutine« gefehlt.11 Tarnow ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um ein für die Geschichte der Arbeiterbewegung wichtiges Experiment gehandelt habe, da die Arbeiter erstmals »als gleichberechtigter Faktor anerkannt« worden seien. Auch in der Zukunft führe an solchen Konstruktionen gar kein Weg vorbei: »Im Zuge der Entwicklung zur Wirtschaftsdemokratie, aber auch der Staatsaufgaben schlechthin, wird in jedem demokratischen Staatswesen eine Einrichtung wie ein Reichswirtschaftsrat früher oder später zur Notwendigkeit werden.«12 Die Debatte über den Reichswirtschaftsrat, das zeigen die Äußerungen, war auch eine Debatte über das Scheitern der ersten deutschen Demokratie. Dies verlieh den durch persönliche Erfahrungen geprägten Analysen ihre spezifische Authentizität, denn wer Anfang der fünfziger Jahre über die Funktionsfähigkeit der Bonner Demokratie nachdachte, tat dies unweigerlich auf dem Erfahrungshintergrund der Weimarer Republik. Historische Urteile und politische Zukunftsentwürfe waren eng miteinander verwoben und prägten die Debatte über die Wirtschaftsverfassung der jungen Bundesrepublik. Die Geschichte wurde nachträglich als Experimentierfeld betrachtet, aus der klare 8 Ebd., S. 21f. 9 BAK, B 102/40924: Kabinettsausschuß »Bundeswirtschaftsrat«, Sitzungsprotokoll, 10.10.1951, S. 6. 10 Ebd. 11 Tarnow, S. 565. 12 Ebd., S. 567. Vgl. auch Bukow.

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und eindeutige Handlungsanweisungen für die Gegenwart gewonnen werden mussten. Doch genau hier lag das eigentliche Problem. Der Reichswirtschaftsrat, jenes hybride und unvollendete Gebilde zwischen Rätedemokratie und Ständestaat, hatte nie scharfe Konturen gewinnen können, weil er von den einen als Organ wirtschaftlicher Mitbestimmung, von den anderen als zweites Parlament, von dritten wiederum als wirtschaftspolitisches Beratungsorgan betrachtet worden war.

2. Wirtschaftsdemokratie oder »Verbändeparlament«? Die Etablierung eines Beratungsgremiums nach dem Vorbild des Weimarer Reichswirtschaftsrates schien Anfang der fünfziger Jahre beschlossene Sache. Bereits kurz nach der Gründung der Bundesrepublik zeichnete sich in dieser Frage ein breiter Konsens zwischen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern ab. Allerdings zeigte sich rasch, wie sehr die Vorstellungen über Zusammensetzung und Funktion eines solchen Gremiums divergierten. Für die Gewerkschaften war die Einrichtung von Wirtschaftsräten Teil einer umfassenden Neugestaltung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung. Anknüpfend an die in den zwanziger Jahren von Fritz Naphtali formulierte Idee einer »Wirtschaftsdemokratie« sollte den Arbeitnehmern nicht nur innerhalb der Betriebe ein Mitspracherecht gewährt, sondern auch eine weitreichende »überbetriebliche Mitbestimmung« verwirklicht werden.13 Denn das parlamentarische System allein sei nicht in der Lage, die Arbeitnehmerinteressen in ausreichendem Umfang zur Geltung zu bringen. Betriebliche Mitbestimmung, eine Stärkung der Selbstverwaltung durch paritätisch besetzte Kammern sowie die Einsetzung von Wirtschaftsräten auf Bezirks-, Länderund Bundesebene wurden daher als wichtige Bausteine einer neuen Wirtschaftsordnung begriffen.14 Unterstützung fand die Idee eines Bundeswirtschaftsrates auch innerhalb der katholischen Kirche. Der Bochumer Katholikentag vom September 1949 hatte den Mitbestimmungsgedanken ausdrücklich anerkannt, ohne freilich die gewerkschaftlichen Neuordnungspläne insgesamt zu unterstützen.15 So propagierte Oswald von Nell-Breuning, der die katholische Sozialtheorie nach 1945 maßgeblich prägte, Subsidiarität und Berufsständetum als grundlegende Ordnungsprinzipien der modernen Gesellschaft.16 Die »kapitalistische 13 Naphtali. 14 Die Wirtschaftspolitischen Grundsätze des DGB, in: Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes, S. 318ff. 15 Gerechtigkeit, S. 213; vgl. auch Frings. 16 Vgl. Nell-Breuning, Gedanken; ders., Gesellschaftsordnung.

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Klassengesellschaft«, in der die »Klassenfronten von einem Ende zum anderen« liefen, wollte er durch eine »leistungsgemeinschaftliche Selbstverwaltung« der Wirtschaft ersetzen.17 Ein Wirtschaftsrat sollte als »oberste Beschlußkörperschaft« an der Spitze der berufsständischen Ordnung stehen und »die allgemeinen Richtlinien« der Wirtschaftspolitik bestimmen. Damit grenzte sich Nell-Breuning von den »wirtschaftsdemokratischen« Vorstellungen der Gewerkschaften und dem damit verbundenen paritätischen Prinzip scharf ab, dessen Umsetzung »fast unvermeidlich zu ähnlichen Mißgeburten wie den faschistischen Korporationen Mussolinis führen« werde.18 Schließlich plädierten konservative Staatsrechtler wie Erich Forsthoff, Herbert Krüger und Ernst Rudolf Huber für die Einrichtung eines Bundeswirtschaftsrates. Sie erhofften sich davon nicht nur eine Disziplinierung der Verbände und eine Harmonisierung sozialer Konflikte, sondern auch einen Ausgleich »zwischen der parlamentarischen Parteiendemokratie und den ständischen, sozialmächtigen Oligarchien«.19 Die Verfassung, so etwa Krüger, dürfe »extrakonstitutionelle soziale Mächte dann nicht mehr ignorieren, wenn die Bedeutung dieser Mächte ein bestimmtes Maß überschreitet und wenn vor allem ihr Dasein und ihre Wirksamkeit die Anlage und die Funktion der positiven Verfassung zu verrücken drohen«.20 Angesichts der öffentlichen Aufgaben, welche die Verbände de facto wahrnähmen, könne man sie nicht mehr als private Institutionen betrachten. Gerade wenn man glaube, dass »eine existentielle Kräftigung des Staates vonnöten« sei, müsse man geeignete Rechtsinstitutionen schaffen, die eine kontrollierte und geordnete Mitwirkung am politischen Prozess ermöglichten.21 Doch es war nicht nur dieser bemerkenswerten Koalition aus Gewerkschaftsführern, katholischen Sozialtheoretikern und konservativen Verfassungsjuristen zu verdanken, dass der Bundeswirtschaftsrat in den Gründungsjahren der Republik als Zukunftsmodell gehandelt wurde. Auch innerhalb der politischen Parteien hatte die Idee einer wirtschaftlichen Selbstverwaltung durch Kammern und Wirtschaftsräte Konjunktur. Dies galt nicht nur für die Sozialdemokratie.22 Auch in den bürgerlichen Parteien wuchs die Bereitschaft, Gewerkschaften und Verbänden eine führende Rolle in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu übertragen. So war im Ahlener Programm der nordrheinwestfälischen CDU von »Selbstverwaltungskörperschaften« sowie von »Wirtschaftskammern« die Rede, denen eine Mitgestaltung der Wirtschaftspolitik gewährt werden sollte.23 Noch stärker engagierten sich die Freien Demokraten 17 18 19 20 21 22

Ders., Berufsständische Ordnung, S. 261. Ebd., S. 216 u. 265. Forsthoff, S. 716. Krüger, Bundeswirtschaftsrat, S. 546; vgl. auch ders., Stellung. Ders., Bundeswirtschaftsrat, S. 556; vgl. auch Huber, S. 54. Vgl. Schneider, Wirtschaftsausschüsse.

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für solche Konzepte. Im Januar 1948 forderten sie in ihrem »Wangerooger Programm« neben einer umfassenden Kammerorganisation auf Bezirks- und Länderebene die Einrichtung einer »Reichswirtschaftskammer« als »Organ der wirtschaftlichen Selbstverwaltung«.24 Ähnliche Äußerungen finden sich im Parteiprogramm der Deutschen Partei von 1947, und auch die CSU plädierte 1946 für ein »Mitbestimmungsrecht der Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Lenkung der Wirtschaft«.25 Allerdings wollten sich weder der Verfassungskonvent in Herrenchiemsee noch der Parlamentarische Rat dieser Frage annehmen, obgleich die Gewerkschaften mit großem Nachdruck auf eine Verfassungsregelung drängten.26 Bewusst einigte man sich bei den Beratungen des Grundgesetzes darauf, Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung auszuklammern, um zukünftigen Regierungen einen möglichst großen Gestaltungsspielraum zu gewähren. Damit war der gesamte Komplex aus betrieblicher Mitbestimmung, wirtschaftlicher Selbstverwaltung und politischer Vertretung von Gewerkschaften und Verbänden ungelöst geblieben. Was die Beratungen zum Grundgesetz erleichtert hatte, stellte Regierung und Parlament der neu gegründeten Republik vor eine schwierige Aufgabe. Bereits in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949 kündigte Bundeskanzler Adenauer an, dass die »Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ... zeitgemäß neu geordnet werden müssen«.27 Allerdings blieben konkrete Schritte zunächst aus, obgleich nicht nur der Bundestag, sondern auch der amerikanische Hohe Kommissar John McCloy eine rasche Regelung dieser Aufgabe angemahnt hatte.28 Angesichts der komplizierten Rechtslage und der politischen Sprengkraft der Thematik verhielt sich die Bundesregierung zunächst abwartend, da sie auf eine Einigung der Verbände im Vorfeld einer gesetzlichen Regelung hoffte. Diese Hoffnung schien keineswegs unberechtigt, nachdem die Spitzen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) bereits im November 1949 eine Zusammenarbeit in dieser Frage angekündigt hatten.29 23 »Ahlener Programm«, 3.2.1947, in: Flechtheim, S. 57. 24 Abgedr. in: Liberalismus 1946–1948, S. 268; vgl. auch die am 29.10.1947 verabschiedete »Sozialordnung der freien Demokratie«, in: ebd., S. 245. 25 Vgl. Deutsche Partei, Acht Thesen der Rettung (1947), in: Flechtheim, S. 380; Grundsatzprogramm der CSU vom Dezember 1946, ebd., S. 216. 26 Die Frage eines Bundeswirtschaftsrates war nur kurz im Plenum sowie im Ausschuss für Zuständigkeitsabgrenzung diskutiert worden; vgl. Parlamentarischer Rat, Bd. 3, S. 638f. u. Bd. 9, S. 75f. Vgl. zu den Forderungen der Gewerkschaften Sörgel, S. 201–312. 27 Text in: Pulte, S. 7–29, Zitat S. 19. 28 Vgl. BAK, B136/2453: Vermerk, 1.10.1950; außerdem Thum, S. 38f. 29 Am 15.11.1949 hatte eine Besprechung zwischen BDA-Präsident Walter Raymond und dem DGB-Vorsitzenden Hans Böckler stattgefunden; vgl. Aktenvermerk Raymonds, 15.11.1949, in: Montanmitbestimmung, S. 6f.

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Als sich DGB und BDA im Januar und März des folgenden Jahres zu gemeinsamen Gesprächen zusammenfanden, wurde freilich rasch deutlich, dass eine einvernehmliche Lösung nicht zu erzielen war.30 Die Gewerkschaften forderten die Übernahme der umfassenden Mitbestimmungsregelungen, die 1947/48 durch die britische Militärregierung im Montanbereich eingeführt worden waren.31 Das dort vorgesehene paritätische Mitbestimmungsmodell sollte nicht nur auf betrieblicher Ebene verankert, sondern auch auf sämtliche wirtschaftspolitische Gremien und Selbstverwaltungsorgane – einschließlich der Industrie- und Handelskammern – übertragen werden. Auf Seiten der Arbeitgeberverbände stießen diese Forderungen auf erheblichen Widerstand.32 Zwar hatte man gegen eine »Mitwirkung« der Arbeitnehmer in bestimmten Fragen der Unternehmensleitung nichts einzuwenden. Eine umfassende, paritätische Mitbestimmung, die sich auf den gesamten Bereich der Unternehmensleitung auswirken würde, wollte man jedoch unter allen Umständen verhindern.33 Gleichfalls abgelehnt wurde ein Eindringen der Gewerkschaften in die Leitungsgremien der Industrie- und Handelskammern. Hingegen stand man der Gründung neuer Wirtschaftsräte aufgeschlossen gegenüber, sofern dadurch die bestehende Kammerorganisation unangetastet bliebe.34 In der Frage der Wirtschaftsräte war man daher bereit, den Forderungen der Gewerkschaften entgegenzukommen. Dahinter stand auch das strategische Kalkül, man könne durch diese Konzession eine zu weitgehende Mitbestimmung auf betrieblicher Ebene verhindern.35 Schließlich dürfte in Unternehmerkreisen die Hoffnung verbreitet gewesen sein, mit Hilfe des Bundeswirtschaftsrates ein dauerhaftes Gesprächsforum mit den Gewerkschaften zu schaffen, das harte Tarifkonflikte zu vermeiden half. Nur die Zusammenarbeit zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern in »überbetrieblich repräsentierenden Organisationen« könne das »Ziel einer richtig verstandenen, mit einer Marktwirtschaft zu vereinbarenden Wirtschaftsdemokratie« sein.36 30 Protokolle der Verhandlungen, 9./10.1. u. 30./31.3.1950, in: Montanmitbestimmung, S. 11–22 u. 32–47. 31 Zur Position der Gewerkschaften vgl. auch die Entschließung des Bundesausschusses des DGB zur wirtschaftlichen Mitbestimmung, 25.1.1950, in: DGB 1949–1956, S. 44. 32 Vgl. ausführlich Berghahn, Unternehmer, S. 202–228. 33 Vgl. Stellungnahme der Unternehmer zu den Vorschlägen des DGB, 30.3.1950, in: Montanmitbestimmung, S. 48f. 34 BAK, B 136/2453: Mitbestimmungsrecht und Bundeswirtschaftsrat. Vorschläge für ihre Regelung, 15.3.1950. 35 Dies vermutete man auch in Regierungskreisen; vgl. BAK, B136/2453: Vermerk vom 1.10.1950, S. 3. 36 BAK, B 136/2454: Gemeinschaftsausschuß der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft, Das Problem des Mitbestimmungsrechts. Stellungnahme und Vorschläge der Unternehmerschaft, Mai 1950, S. 7f.

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Die Gründung eines Wirtschaftsrates war somit der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Gewerkschaften und Unternehmerverbände im Frühjahr 1950 einigen konnten. Trotz stark divergierender Vorstellungen in der Mitbestimmungsfrage verständigte man sich in Hattenheim auf ein gemeinsames Abschlussprotokoll, das die Einsetzung eines paritätisch zu besetzenden Bundeswirtschaftsrates sowie ähnlich konstruierter Gremien auf Landes- und Bezirksebene forderte.37 Damit lag die Initiative zum Handeln wieder bei der Regierung, zumal die SPD-Bundestagsfraktion im Juli 1950 einen Gesetzesentwurf zur »Neuordnung der deutschen Wirtschaft« einbrachte, welcher die Forderungen der Gewerkschaften weitgehend übernahm und detaillierte Vorstellungen zur Frage der Wirtschaftsräte enthielt.38 Zwar hatte auch die CDU/CSU-Fraktion eine Gesetzesvorlage zur Mitbestimmung ausgearbeitet, doch hatte man sich darin zunächst ganz auf die Frage der Betriebsverfassung konzentriert.39 Auch ein Regierungsentwurf, der im August unter großem Zeitdruck im Arbeitsministerium angefertigt wurde, enthielt keine Bestimmung über die Neuorganisation des Kammerwesens und die Gründung wirtschaftspolitischer Vertretungsorgane der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände.40 In der Tat war man sich in Regierungskreisen völlig uneinig. Rückhalt fand die Idee eines Bundeswirtschaftsrates vor allem beim Gewerkschaftsflügel der CDU, namentlich bei Arbeitsminister Storch, bei dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold sowie beim Vorsitzenden der Sozialausschüsse, Jakob Kaiser, der als Minister für Gesamtdeutsche Aufgaben auch dem Bundeskabinett angehörte. Die Vertreter dieser Gruppe wollten nicht nur die Gewerkschaften stärker in die Regierungsarbeit einbinden, sondern zugleich ein Gegengewicht zu dem wirtschaftsliberalen Flügel um Ludwig Erhard schaffen. Ein wirtschaftspolitisches Gremium auf höchster politischer Ebene, in dem die Gewerkschaften eine starke Stimme hatten, schien dafür das geeignete Instrument. Zu den Befürwortern eines solchen Gremiums gehörten ferner der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, Heinrich von Brentano, der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im Bundestag, Franz Etzel, sowie Bundeskanzler Adenauer. 37 Gemeinsames Kommuniqué vom 31.3.1950, in: Montanmitbestimmung, S. 50. Zu den gleichen Ergebnissen führten die Sozialpartnergespräche, welche im Juni und Juli 1950 unter Vorsitz von Arbeitsminister Storch stattfanden; vgl. ebd., S. 78–130 u. 133. 38 Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. 1229, 25.7.1950; zu den Vorschlägen der Gewerkschaften vgl. BAK, B 136/2453: Gesetzesvorschlag des DGB zur Neuordnung der deutschen Wirtschaft, 22.5.1950. 39 Entwurf der Bundestagsfraktion der CDU/CSU für ein Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb, Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. 970, 17.5.1950. 40 Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz über die Neuordnung der Beziehungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern im Betrieb, Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. 1546, 31.10.1950.

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Adenauer verband strategische und grundsätzliche Überlegungen mit der Einrichtung eines Bundeswirtschaftsrates. Der Kanzler erkannte, dass hier eine Teillösung in der konfliktträchtigen Mitbestimmungsdebatte erreicht werden konnte, ohne dass Gewerkschaften oder Arbeitgeber von ihren grundlegenden Positionen abrücken mussten. Das war angesichts der angespannten Lage im Sommer 1950 kein zweitrangiges Problem, zumal der DGB nach dem Scheitern der Sozialpartnergespräche »gewerkschaftliche Kampfmittel« angedroht hatte und dafür auch »ernste Störungen im Wirtschaftsleben« in Kauf nahm.41 Geschickt benutzte Adenauer daher in der folgenden Zeit das Angebot eines Wirtschaftsrates, um den Gewerkschaften ein Entgegenkommen der Regierung zu signalisieren und einen Teilerfolg ihrer Bemühungen in Aussicht zu stellen. Doch der Kanzler ließ sich in dieser Frage nicht nur von taktischen Überlegungen leiten. Bis zum Ende seiner Amtszeit blieb der Bundeswirtschaftsrat ein zentrales Ziel, das er mit großem Nachdruck verfolgte. Es entsprach Adenauers Regierungsstil, Unternehmer und Gewerkschaftsvertreter in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden. So pflegte er nicht nur gute Beziehungen zu Wirtschaftsvertretern wie Robert Pferdmenges, Hermann Josef Abs und Fritz Berg, sondern auch zu Gewerkschaftsführern wie dem DGB-Vorsitzenden Hans Böckler.42 Aus Adenauers Sicht war daher ein institutionalisiertes Gesprächsforum, das Unternehmer, Gewerkschaften und Regierung an einen Tisch brachte, ausdrücklich zu begrüßen. Mit dem Bundeswirtschaftsrat sollte ein Gremium geschaffen werden, »das wirklich wirtschaftspolitisch denkt und nicht wie der Bundestag nur parteipolitisch«.43 Doch es gab auch starke Gegenkräfte im Bundeskabinett. So konnten sich weder Vizekanzler Franz Blücher noch Justizminister Thomas Dehler mit Adenauers Plänen anfreunden. Beide FDP-Minister hielten einen Bundeswirtschaftsrat schlichtweg für überflüssig.44 Von den früheren Vorschlägen einer »Reichswirtschaftskammer« wollte man in der Parteispitze der Freien Demokraten nach 1950 nichts mehr wissen. Einen ähnlichen Wandel hatte die Deutsche Partei vollzogen, die im Bundeskabinett wie die FDP mit zwei Ministern vertreten war.45 Auch Wirtschaftsminister Ludwig Erhard stand den Plänen eines Bundeswirtschaftsrates skeptisch gegenüber. Wenngleich Erhard nach außen hin Kooperationsbereitschaft signalisierte, belegen spätere Äußerungen, dass er von einer institutionellen Einbindung wirtschaftlicher Interes41 Beschluss des DGB-Bundesvorstandes, 18.7.1950, in: Montanmitbestimmung, S. 137f. 42 Vgl. Pohl. 43 So Adenauer gegenüber Gewerkschaftsvertretern am 8.8.1951, in: Im Zentrum der Macht, S. 120f. 44 BAK, B 102/40924: Sitzungsprotokoll, 10.10.1951, S. 3. Vgl. auch die Sitzung des FDPBundesvorstandes, 16.8.1951, in: FDP-Bundesvorstand 1949–52, S. 243. 45 BAK, B136/2453: Bericht, 1.10.1950, S. 10.

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sengruppen nicht viel hielt.46 Es entsprach seiner Grundüberzeugung, den »Einfluss nebenverfassungsmäßiger Kräfte auf die parlamentarischen Körperschaften« möglichst gering zu halten und eine strikte Trennung zwischen staatlichen Aufgaben und privatwirtschaftlichen Aktivitäten zu wahren.47 Dabei richteten sich Erhards Vorbehalte gleichermaßen gegen die wirtschaftsdemokratischen Konzeptionen der Gewerkschaften wie den Lobbyismus der Arbeitgebervereinigungen, die wichtige Vorhaben wie das Wettbewerbsgesetz zu verhindern suchten.48 Wenn Erhard den Plänen eines Bundeswirtschaftsrates zunächst keinen offenen Widerstand entgegensetzte, entsprang das vor allem taktischen Überlegungen. Eine Fundamentalopposition wäre nicht nur wenig aussichtsreich gewesen, sondern hätte überdies die Gefahr mit sich gebracht, die Zügel aus der Hand zu geben. Da das Bundeswirtschaftsministerium die Federführung in dieser Angelegenheit besaß, musste Erhard – der von Finanzminister Fritz Schäffer unterstützt wurde49 – versuchen, die Entwicklung möglichst in seinem Sinne zu beeinflussen. Überdies stand Erhard politisch unter Druck, nachdem Adenauer ihn im September 1950 aufgefordert hatte, endlich in dieser Angelegenheit aktiv zu werden. Unter allen Umständen wollte der Kanzler den Eindruck vermeiden, dass die Regierung dem SPD-Entwurf vom Juli »nichts entgegenzusetzen« habe.50 Bereits Anfang Oktober legte das Wirtschaftsministerium eine Gesetzesvorlage über die Gründung eines Bundeswirtschaftsrates vor, die in Grundlinien auf dem Kompromissvorschlag basierte, den Gewerkschaften und Arbeitgeber in ihren Gesprächen vom Frühjahr 1950 formuliert hatten.51 Nach diesem Entwurf sollte der Rat in erster Linie beratende Funktionen haben und nicht unmittelbar am Gesetzgebungsprozess beteiligt sein. Er sollte »die Sachkunde der in der Wirtschaft Tätigen« für die Regierung »nutzbar machen« und den »Ausgleich widerstreitender Interessen sowohl der Wirtschaftszweige als auch der Unternehmer und Arbeitnehmer fördern«. Bestand seine Hauptaufgabe laut Entwurf darin, Gutachten auf Anfrage der Regierung, des Bundestages und des Bundesrates zu erstellen, war er aber auch berechtigt, aus eigener Initiative »Denkschriften« zu verfassen und der Regierung Vorschläge in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen zu unterbreiten. Insgesamt sollten dem Wirtschaftsrat 100 Mitglieder angehören, die jeweils zur Hälfte von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden zu nominieren waren. Der Gesetzesentwurf sah freilich nur die Errichtung eines Bundesgremiums vor; die Frage, ob 46 Vgl. BAK, B 136/2454: Erhard an Adenauer, 25.5.1955 u. 4.9.1956; zusammenfassend: ebd., Bericht, 31.7.1962. 47 BAK, B 136/2454: Erhard an Adenauer, 25.5.1955. 48 Vgl. dazu Berghahn, Unternehmer, S. 152–179. 49 BAK, B 102/40924: Sitzungsprotokoll, 10.10.1951, S. 4; zu Schäffer vgl. Henzler. 50 BAK, B 136/2454: Adenauer an Erhard, 13.9.1950. 51 BAK, B 136/2453: Gesetzentwurf, 6.10.1950.

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entsprechende Räte auf Länder- und Bezirksebene eingerichtet werden sollten, blieb ungeklärt. Obwohl der Entwurf in der Frage eines Bundesgremiums eine tragbare Lösung für alle Seiten zu bieten schien, verblieb er in den Schubladen des Wirtschaftsministeriums und wurde nicht einmal im Kabinett diskutiert. Da sich die Fronten in der Frage des Betriebsverfassungsgesetzes seit Herbst 1950 verhärteten und sich die Diskussionen ganz auf die Montanmitbestimmung konzentrierten, schien eine Verabschiedung des Bundeswirtschaftsratsgesetzes kaum möglich.52 Weder die Gewerkschaften noch die Arbeitgeberseite schienen in dieser Phase bereit, sich auf einen Teilkompromiss in der Frage der außerbetrieblichen Mitbestimmung einzulassen.

3. Das Scheitern des korporatistischen Beratungsmodells Nachdem der Bundestag im Mai 1951 die gesetzliche Regelung der Montanmitbestimmung verabschiedet hatte, wurde die Gründung eines Bundeswirtschaftsrates erneut auf die Tagungsordnung gesetzt. Der Kabinettsausschuss für Wirtschaft beschloss am 28. September eine Kommission zu bilden, die sich noch einmal gründlich mit allen politischen und rechtlichen Aspekten dieser Thematik befassen sollte.53 Allerdings zeichnete sich schon bald ab, dass eine für alle Seiten akzeptable Lösung kaum zu finden war. Eines der Hauptprobleme bestand in der ungeklärten verfassungsrechtlichen Stellung des Gremiums. Sollte es sich um eine politische Vertretung der wirtschaftlichen Gruppen handeln oder lediglich um ein Beratungsgremium? Unklar war auch, welche Rolle der Bundeswirtschaftsrat im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens spielen würde. So war der Reichswirtschaftsrat, der über das Initiativrecht verfügte, formal in die Legislative eingebunden gewesen. Ein solches Initiativrecht wurde aber von der Bundesregierung abgelehnt. Justizminister Dehler befürchtete, »daß, wenn wir wirklich diesen großen Weg gehen, wir die parlamentarische Demokratie verhindern«.54 Auf keinen Fall sollte neben Bundestag und Bundesrat ein »drittes Parlament« entstehen. Der am 10. November zusammengetretene Ausschuss entschied daher, dass die Arbeit des Bundeswirtschaftsrats rein konsultativen Charakter besitzen sollte. Doch auch die beratenden Funktionen des Bundeswirtschaftsrates wurden im Vergleich zu seinem Weimarer Vorläufer eingeschränkt. Die für den Reichswirtschaftsrat geltende Regelung, in allen Fragen der wirtschafts- und sozial52 Vgl. Thum, S. 71ff. 53 Sitzungsprotokoll in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1951–53, S. 111–113; vgl. auch BAK, B 102/40924: Kattenstroh, Vermerk, 13.10.1951. 54 BAK, B 102/40924: Sitzungsprotokoll, 10.10.1951, S. 5.

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politischen Gesetzgebung gehört zu werden, wurde in eine Kann-Bestimmung umgewandelt.55 Umstritten war auch die Zusammensetzung eines zukünftigen Bundeswirtschaftsrates. Der erste Gesetzentwurf hatte – in bewusster Abgrenzung vom Drei-Säulen-Modell der Weimarer Republik – eine paritätische Besetzung durch Gewerkschaften und Arbeitgeber vorgesehen.56 Geplant war die Bildung von insgesamt sechs, nach Branchen gegliederten Gruppen, deren Mitglieder durch den Bundeswirtschaftsminister auf Vorschlag der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände für einen Zeitraum von vier Jahren ernannt werden sollten. Das Paritätsmodell stieß jedoch auf erheblichen Widerstand derjenigen Verbände, die sich nicht in das Schema einpassen ließen oder aus anderen Gründen erwarteten, keine Stimme in dem Gremium zu erhalten. So fühlten sich der Bundesverband der freien Berufe, der Bauernverband und der Beamtenbund übergangen und liefen Sturm gegen die geplante Regelung.57 Dasselbe galt für die Flüchtlings- und Vertriebenenorganisationen, den Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte sowie für den Börsenverein Deutscher Verleger und Buchhändlerverbände, der ebenfalls eine angemessene Vertretung beanspruchte.58 Seit Herbst 1951 setzte innerhalb der Regierung ein Prozess des Umdenkens ein. Während Adenauer den Gewerkschaften noch Anfang September 1951 ein Festhalten am Paritätsmodell in Aussicht stellte,59 wurde im Bundeswirtschaftsministerium verstärkt Kritik an dieser Lösung geäußert. So warnte der zuständige Abteilungsleiter Ludwig Kattenstroh vor der »Gefahr einer syndikalistischen Entwicklung«.60 Dieses Urteil machte sich schließlich auch der zuständige Kabinettsausschuss zu Eigen.61 Durch eine paritätische Gliederung, so Justizminister Dehler in einer Sitzung am 10. Oktober 1951, werde man »den Klassenkampf in die Dinge hineintragen«. Auch die Beschlussfähigkeit des Gremiums könne eingeschränkt werden, da jede Gruppe in der Lage wäre, Mehrheitsentscheidungen zu blockieren. In die gleiche Richtung zielten die Einwände Erhards, der die »Erfassung weiter Volkskreise« befürwortete – müsse sich der Rat doch mit Fragen auseinandersetzen, die das »gesamte Volk« 55 BAK, B 102/40925: BMWi-Gesetzentwurf über Errichtung eines Bundeswirtschaftsrates, 10.11.1951. 56 BAK, B 136/2453: Gesetzentwurf, 6.10.1950. 57 BAK, B 136/2453: Bundesverband der freien Berufe an Adenauer, 25.4.1950 u. 22.10.1951; Entschließung des Deutschen Bauernverbandes vom 11.7.1950; B 102/40924: Deutscher Beamtenbund an Adenauer, 5.12.1951. 58 BAK, B 136/2453: Landesflüchtlingsrat Niedersachsen an Adenauer, 12.9.1951; Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte an Staatssekr. Lenz, 17.11.1951; Börsenverein Deutscher Verleger und Buchhändlerverbände an Lenz, 7.8.1951. 59 Adenauer an Fette, 9.9.1951, in: Adenauer, Briefe 1951–1953, S. 120. 60 BAK, B 102/40924: Bericht, 27.9.1951, S. 6. 61 BAK, B 102/40924: Sitzungsprotokoll, 10.10.1951.

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beträfen. Für eine »dritte Säule« plädierte Finanzminister Schäffer, schließlich sei es »nicht einzusehen«, warum in einem Bundeswirtschaftsrat »der Handelsvertreter vertreten sein solle, nicht aber der Künstler«.62 Die Äußerung Schäffers machte allerdings deutlich, dass die Erweiterung um eine dritte Gruppe mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein würde. Die zahlreichen Eingaben der verschiedenen Verbände und Organisationen ließen erwarten, dass sich die Bestimmung der Sitzverhältnisse außerordentlich kompliziert gestalten würde. Letztlich, so ein Beamter des Wirtschaftsministeriums, käme nur eine »Daumenpeilung in Betracht, was ein uferloses Verhandeln« zur Folge haben würde.63 Schließlich war zu erwarten, dass das Gremium erheblich größer werde als ursprünglich geplant. Der erste Gesetzentwurf hatte noch 100 Personen vorgesehen, Adenauer dachte sogar an nur 60 Mitglieder »wie im früheren Preußischen Staatsrat«.64 Eine solche Beschränkung der Mitgliederzahl schien aber kaum noch möglich. Manch einer befürchtete, dass man mit der Neuregelung »wie beim Vorläufigen Reichswirtschaftsrat bei einer Zahl von 326 enden« werde.65 In der CDU/ CSU-Fraktion – wo viele diesen Plänen ohnehin skeptisch gegenüberstanden – wurden Zweifel gehegt, ob überhaupt genügend »Persönlichkeiten« vorhanden seien, um ein solches Gremium »in Gang zu halten«. Der Abgeordnete August Dresbach sah in dem geplanten Organ nichts anderes als eine »Form der Übernahme der Spesenabrechnung der Verbandsvertreter durch den Bund«.66 Trotz dieser Einwände wurde im Neuentwurf des Gesetzes vom 10. November 1951 das Drei-Säulen-Modell verankert. Von den insgesamt vorgesehenen 150 Mitgliedern sollten je 50 durch Gewerkschaften und Arbeitgeber ernannt werden, während die dritte Gruppe durch Vertreter der freien Berufe, des öffentlichen Dienstes, der Verbraucher und der Wissenschaft zu bilden war. Durch die Aufgabe des paritätischen Modells entfernte man sich freilich in einem entscheidenden Punkt von der Kompromisslösung des Jahres 1950. Insbesondere die Zustimmung der Gewerkschaften war nun ernsthaft gefährdet.67 62 Ebd., S. 6. 63 BAK, B 102/40925: Seibt an Kattenstroh, 3.6.1952. 64 So Adenauer am 8.8.1951, in: Im Zentrum der Macht, S. 121; vgl. auch BAK, B 102/ 40925: Adenauer an Fette, 31.10.1951. 65 So Kattenstroh in der Besprechung am 10.10.1951, S. 5 (BAK, B 102/40924). 66 Äußerungen Dresbachs in der Fraktionssitzung am 17.6.1952, in: CDU/CSU-Fraktion 1949–1953, S. 571. 67 Der DGB hatte das Paritätsmodell in einer Besprechung mit Erhard am 4.10.1951 noch einmal ausdrücklich als Bedingung genannt. (BAK, B 102/40925: Aktenvermerk Bömcke, 5.10.1951; Erhard an Adenauer, 13.10.1951). Auch die DAG lehnte eine »dritte Gruppe« im Bundeswirtschaftsrat ab (ebd., Vermerk Seibt vom 17.10.1951). Demgegenüber konnten sich die Arbeitgebervertreter eher mit einer solchen Lösung abfinden (vgl. BAK, B 136/2453: Pferdmenges an Rust, 2.11.1951).

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Der weitere Verlauf der Verhandlungen, der nicht zuletzt durch die anvisierte Neuordnung der Industrie- und Handelskammern erschwert wurde, soll hier nicht dargestellt werden.68 Spätestens seit Sommer 1952 zeichnete sich immer deutlicher ab, dass an eine Verabschiedung des Gesetzes in der laufenden Legislaturperiode nicht mehr zu denken war.69 Zwar wurde die Errichtung eines Bundeswirtschaftsrates bis in die frühen sechziger Jahre hinein in regelmäßigen Abständen auf die Tagesordnung gesetzt, doch ein tragfähiger Kompromiss schien noch weniger möglich als in den Anfangsjahren der Republik.70 Dies war nicht nur auf die sachlichen Divergenzen zwischen den beteiligten Parteien und Gruppen zurückzuführen, sondern auch auf die verfassungspolitischen Probleme, welche die Gründung eines solchen Gremiums unweigerlich mit sich gebracht hätte. Obgleich Adenauer und Teile des Arbeitnehmerflügels der CDU weiterhin auf der Einrichtung eines Wirtschaftsrates beharrten,71 rückte seine Verwirklichung immer weiter in die Ferne. Überlegungen, zunächst ein kleines Beratergremium als Provisorium zu schaffen, wurden zwar verfolgt, schließlich aber verworfen.72 Es war nicht zuletzt dem energischen Widerstand des Wirtschaftsministeriums zu verdanken, dass die Angelegenheit nur halbherzig weiterverfolgt und immer wieder vertagt wurde.73 So verwies Erhard bei Anfragen von Kabinettskollegen regelmäßig auf die komplizierte Rechtslage und bat um weitere Zeit zur Ausarbeitung eines entsprechenden Entwurfs. Bei anderer Gelegenheit unterstrich er die Notwendigkeit, dass dem Gesetz eine Einigung der Sozialpartner vorausgehen müsse. Versuche anderer Stellen, die Initiative zu ergreifen, wusste er mit Hinweis auf die Federführung des Wirtschaftsministeriums zu verhindern.74 Doch wäre es falsch, das Scheitern des Bundeswirtschaftsrates allein auf Erhards dilatorische Strategie zurückzuführen. Zu unterschiedlich waren 68 Vgl. Nützenadel, Interessenvertretung, S. 255f. 69 BAK, B 136/2453: Erhard an Lenz, 29.8.1952. 70 Vgl. z.B. BAK, B 136/2453: Diskussionsentwurf zu einem Bundesgesetz über die Errichtung eines Bundeswirtschaftsrates, Dezember 1953; B 136/2454: Vermerk Haenlein/Prühl, 10.2.1955; Vermerk Hornschu, 8.7.1955; B 136/7452: Gesetz über die Errichtung eines Bundeswirtschaftsrates, gez. Praß, 20.3.1962; Vermerk betr. Bundeswirtschaftsrat, 4.10.1962, gez. Walter; vgl. auch Wirtschafts- und Sozialbeirat noch nicht tot, in: Handelsblatt, 14.8.1962. 71 Im September 1956 hatte Adenauer offenbar vorübergehend Abstand von seinem Vorhaben genommen; dies geht aus einem Schreiben Erhards an Globke vom 26.9.1956 hervor (BAK, B 136/2454); zur Haltung des Arbeitnehmerflügels der CDU, vgl. ebd., Arnold an Erhard, 7.6.1955. 72 BAK, B 136/2453: Westrick an Lenz, 29.8.1952. 73 BAK, B 136/2454: Erhard an Adenauer, 25.5.1955 u. 4.9.1956; zusammenfassend: ebd., Vorlage betr. Haltung von Minister Erhard zur Frage eines Bundeswirtschaftsrates, gez. Praß, 31.7.1962. 74 Vgl. z.B. Kabinettssitzung, 16.2.1955, in: Kabinettsprotokolle 1955, S. 140; BAK, B 102/ 40925: Erhard an MDB Wellhausen, 13.12.1952; B 136/2453: Vermerk, 5.12.1953; Erhard an Globke, 30.11.1954.

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letztlich die Vorstellungen und Erwartungen, die Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbände, konservative Staatsrechtler und katholische Sozialpolitiker Anfang der fünfziger Jahre mit einem solchen Gremium verbanden.75 Als das Kanzleramt den Bundeswirtschaftsrat 1962 noch einmal in die öffentliche Diskussion brachte, war das Echo überwiegend negativ. Innerhalb der Gewerkschaften war längst eine neue Generation von pragmatischen Führungskräften herangewachsen, welche der Idee der »Wirtschaftsdemokratie« wenig abgewinnen konnten. Das Konzept tauchte schon im Aktionsprogramm des DGB von 1955 nicht mehr auf und wurde vier Jahre später in Bad Godesberg auch aus dem Parteiprogramm der SPD gestrichen.76 Im Arbeitgeberlager wollte man von einem Bundeswirtschaftsrat ebenfalls nichts mehr wissen. Als der Bundesverband der Deutschen Industrie im Frühjahr 1957 in Köln ein Symposium zum Thema »Der Staat und die Verbände« durchführte, konnte sich kaum noch jemand für die Idee eines »Verbändeparlaments« erwärmen.77 Der Bundesausschuss für Wirtschaftspolitik der CDU, der sich 1955 noch einmal mit der Frage eines Bundeswirtschaftsrates befasste und sogar einen entsprechenden Arbeitskreis einsetzte, nahm ebenfalls von dieser Idee Abstand.78 Doch auch in der Praxis ging man längst andere Wege. Seit Mitte der fünfziger Jahre kam es in regelmäßigen Abständen zu Gesprächen zwischen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, um »aktuelle wirtschaftspolitische Fragen in zwangloser Form« zu erörtern.79 Erhard hatte solche »Sozialpartnergespräche« Anfang 1955 erstmalig angeregt, um die Tarifparteien für seine wirtschaftspolitischen Ideen zu gewinnen und zu einer »allgemeinen Entspannung der sozialpolitischen Lage« beizutragen.80 Lange bevor unter der Großen Koalition die Idee einer »Konzertierten Aktion« umgesetzt wurde, hatte sich ein informelles Gesprächsforum etabliert, das Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände in die Regierungsarbeit einband.81 Doch handelte es sich hierbei nicht um eine institutionelle Ergänzung des parlamentarischen Systems, sondern in erster Linie um ein technokratisches Instrument der Regie75 Vgl. auch BAK, B 136/2454: Haenlein/Prühl, Vermerk, 10.2.1955. 76 Aktionsprogramm des DGB, 30.3.1955, in: DGB 1949–1956, S. 682–688. Das Godesberger Programm der SPD, in: Dowe/Klotzbach, S. 287–297. 77 Beutler u.a; vgl. auch Eschenburg sowie Scheuner. 78 BAK, N 1254/167: Bundesausschuß für Wirtschaftspolitik der CDU, Protokoll der Sitzung am 17.1.1955; vgl. außerdem BAK, B 136/2454: Hornschu, Errichtung eines Bundeswirtschaftsrates, 7.1.1956. 79 BAK, B 136/2454: Erhard an Vorsitzenden des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft Spennrath, 25.5.1955. 80 BAK, B 136/2454: Erhard an BDA-Präsident Paulssen, 5.7.1955; vgl. außerdem ebd., Bericht über Besprechung der Sozialpartner, 3.3.1955; zusammenfassend: B 102/59380: Vermerk betr. Verlauf der Sozialpartner-Gespräche seit Anfang 1955, gez. Walter, 17.8.1956. 81 Vgl. auch BAK, B 102/59380: Vermerk 31.12.1963, gez. Wolf.

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rungspolitik. Mit den ständischen Vorstellungen der Zwischenkriegszeit hatte dies ebenso wenig zu tun wie mit den »wirtschaftsdemokratischen« Leitbildern der Gewerkschaften. Darüber hinaus gewann das Modell einer wissenschaftlichen Politikberatung zunehmend an Bedeutung und verdrängte jenes in der Weimarer Republik entstandene korporatistische Politikverständnis, das auch den Plänen eines Wirtschaftsrates zugrunde gelegen hatte. Die Idee eines obersten wirtschaftlichen Sachverständigengremiums, dessen Expertise sich nicht aus Interessen, sondern aus wissenschaftlicher Analyse speiste, wurde in den fünfziger Jahren bewusst als Gegenmodell zu einem Bundeswirtschaftsrat ins Spiel gebracht. Wie im folgenden Abschnitt dargestellt wird, setzte sich das Expertenmodell jedoch erst nach langwierigen Diskussionen und heftigen Konflikten innerhalb der christdemokratischen Regierung durch.

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VI. Experten, Öffentlichkeit und Politik: der Sachverständigenrat 1. Ein deutscher »Council of Economic Advisors« Wenn in den fünfziger Jahren über neue Formen der wirtschaftspolitischen Beratung diskutiert wurde, fehlte selten der Hinweis auf das amerikanische Vorbild.1 Denn in keinem anderen westlichen Industriestaat waren ökonomische Experten stärker in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden als in den USA. Bereits in der Ära des »New Deal« war es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen ökonomisch geschulten Sachverständigen und staatlichen Behörden gekommen – eine Entwicklung, die über die Kriegswirtschaft und die Nachkriegsplanung hinaus fortgeführt wurde. Präsident Trumans Programm des »Fair Deal« knüpfte nicht nur an die wirtschaftspolitischen Ideen Roosevelts an, sondern forcierte auch den Ausbau der wissenschaftlichen Politikberatung.2 So wurde 1946 der »Council of Economic Advisors« ins Leben gerufen, der dem Präsidenten als oberstes wirtschaftliches Beratungsorgan zur Seite stand.3 Die Einrichtung dieses Gremiums stand in enger Verbindung mit dem »Employment Act« von 1946, mit dem ein moderates keynesianisches Wirtschaftsprogramm gesetzlich verankert wurde. Der »Council« hatte neben allgemeinen Beratungsfunktionen die Aufgabe, den Präsidenten bei der Abfassung eines jährlichen Wirtschaftsberichtes zu unterstützen.4 Der scheinbar unbegrenzte Einfluss, den Washingtons »economics industry«5 nicht nur durch offizielle Beratungstätigkeit in Verwaltungs- und Regierungsbehörden ausübte, sondern auch über privat finanzierte »think tanks« wie die »National Planning Association« oder die »Brookings Institution« entfaltete, wurde von bundesdeutschen Ökonomen mit unverhohlener Bewunderung wahrgenommen. In den USA, so betonte der Präsident des Ifo-Instituts Langelütke noch 1956, gebe es auf diesem Gebiet das »Hundertfache von dem, was wir hier haben«.6 Insbesondere die institutionelle Einbindung wis1 Vgl. z.B. Senf, Wesen, S. 297; Baade, Methoden, S. 77f. Schiller, Ökonom; Langelütke, Grenzen, S. 22; Beckerath, Einfluß, S. 294. 2 Jones; Sweezy; Brinkley. 3 Vgl. Wallich, Council; Borner; vgl. außerdem Collins. 4 Die Regierung wurde durch den Employment Act zur Anfertigung eines solchen Berichtes verpflichtet. 5 Stein, Economics Industry. 6 Diskussionsbeitrag Langelütkes in: Wissenschaftliche Fundierung, S. 113.

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senschaftlicher Expertise durch den »Council of Economic Advisors« galt als Vorbild, auch wenn dessen Nähe zur Regierung als problematisch empfunden wurde. In der Tat waren die drei Mitglieder des »Councils« zwar unabhängige Wissenschaftler; doch gehörten sie zum engeren Beraterkreis des Präsidenten und wurden auch von diesem ausgesucht. Führende deutsche Konjunkturforscher wie Albert Wissler hielten das »Kabinettsystem«, das sich auch in Großbritannien und anderen Ländern durchgesetzt hatte, für wenig vorteilhaft, da es unweigerlich zu einer »Politisierung« wissenschaftlicher Beratungsorgane führe und diesen das »Fluidum des ›reinen‹ Fachgremiums« nehme.7 Die Konflikte, die 1952/53 zwischen den beiden Council-Mitgliedern Edwin Nourse und Leon Keyserling entstanden waren und die beinahe zur Abschaffung des Gremiums geführt hatten, schienen Wissler auch unmittelbar mit dieser politiknahen Konstruktion verknüpft. Aus seiner Sicht war daher ein externes und unabhängiges Gremium, das sich in die öffentliche Diskussion einschalten sollte, eine weitaus bessere Lösung.8 Eine möglichst politikferne Instanz wünschte sich auch der Münchner Wirtschaftshistoriker Friedrich Lütge, der bereits 1951 die Idee einer »Sachverständigenkammer« vorgeschlagen hatte.9 Lütge hielt die Gründung eines solchen »zentralen Gehirntrustes« auch deshalb für notwendig, weil die wachsende Zahl von Beiräten und Beratungsgremien zu einer Zersplitterung der Kräfte geführt habe. Doch es waren grundsätzliche verfassungspolitische Überlegungen, die Lütge umtrieben: Angesichts des zunehmenden wirtschaftlichen Interventionismus müsse durch den »Einbau des Sachverstandes« dafür Sorge getragen werden, dass »die Geißel des Bürokratismus nicht noch mehr das Leben überwuchert«. Der »Ansturm der Funktionäre auf den Staat« – und hierzu zählte Lütge neben den Staatsangestellten auch die Führer der politischen Parteien und Verbände – ließ sich nur durch das Gegengewicht einer solchen Kammer vermeiden, die eine »neuartige Gewaltenteilung« begründen sollte.10 Lütges eindringliches Plädoyer für eine neue »Sachverständigenkammer« stand in einem ähnlichen Argumentationszusammenhang wie die Debatte über den Bundeswirtschaftsrat. Es ging um die Bewahrung staatlicher Autorität gegenüber den Ansprüchen der Parteien und Interessenverbände, um eine neue Balance zwischen Staat, Wirtschaft und gesellschaftlichen Gruppen. Aus dieser Perspektive konnte ein Sachverständigengremium nur als eine neutrale, über den Parteien und Interessen stehende Instanz konzipiert werden – ein Modell, das dem angloamerikanischen Entwurf der »internen«, politiknahen Beratung freilich diametral entgegenstand. 7 8 9 10

Wissler, Dilemma, S. 169. Ebd., S. 174. Lütge. Ebd., S. 87f.

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Forderungen nach der Errichtung eines obersten Sachverständigenrates kamen auch aus den Reihen des Wissenschaftlichen Beirates beim Wirtschaftsministerium.11 Dort fühlte man sich durch die häufigen Sitzungen und aufwändigen Gutachten stark in Anspruch genommen. Der Beirat verfügte weder über einen Mitarbeiterstab noch über eigene Mittel zur Finanzierung wissenschaftlicher Arbeiten im Vorfeld der Gutachten. Viel hing von der Initiative und Einsatzbereitschaft der einzelnen Mitglieder ab, die sich weitgehend auf eigene Forschungsressourcen stützen mussten. Der Beirat drängte daher auf die Gründung einer »Zentralbehörde für volkswirtschaftliche Gesamtrechnung«, welche statistische Aufgaben übernehmen, zugleich aber auch als Beratungsorgan der Regierung und anderer öffentlicher Stellen dienen sollte.12

2. Politische Widerstände und neue Koalitionen Ähnliche Überlegungen wurden auch in politischen Kreisen angestellt. So brachte die FDP-Bundestagsfraktion im Dezember 1955 einen Gesetzesantrag ein, der die Einrichtung eines »Konjunkturbeirates« vorsah.13 Dieser sollte die Regierung in allen wichtigen Fragen der Wirtschaftspolitik beraten, zugleich aber auch zur Schlichtung von Tarifkonflikten eingeschaltet werden. Der Antrag fand jedoch im Bundestag keine Mehrheit. Ein Jahr später folgte die SPD mit einem ähnlichen Vorschlag, der ebenfalls keine Zustimmung fand.14 Der von den Sozialdemokraten anvisierte »Volkswirtschaftliche Beirat« stand freilich im Zusammenhang mit weit ambitionierteren Zielen. Der Beirat sollte im Zentrum einer umfassenden staatlichen Konjunktur- und Wachstumspolitik stehen, sich allerdings im Gegensatz zu dem FDP-Modell nicht in Tarifauseinandersetzungen einmischen dürfen. Gedacht war in SPD-Kreisen an ein politisch unabhängiges Gremium »zur Erörterung laufender grundsätzlicher wirtschaftspolitischer Probleme«, nicht an eine Schlichtungsinstanz für die Verhandlungen der Sozialpartner.15 11 So etwa in dem Beiratsgutachten »Struktur- und konjunkturpolitische Fragen der Einkommensverteilung«, 24.9.1950, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1950–52, S. 31–36, sowie in den Beratungen am 19.–23.10.1954; vgl. dazu Blesgen, S. 584f. sowie Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1952–54, S. 97–103. 12 Gutachten »Instrumente der Konjunkturpolitik und ihre rechtliche Institutionalisierung«, 3.6.1956 und 8.7.1956, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1955–56, S. 63f. 13 Antrag der Fraktion der FDP betr. Bildung eines Konjunkturbeirates vom 11.10.1955, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. 8. 14 Vgl. SPD-Fraktion 1953–57, S. 331 und 326 (Sitzungen am 28./29.5.1956 u. 6.6.1956). 15 Antrag der Fraktion der SPD betr. Gesetz zur Förderung eines stetigen Wachstums der Gesamtwirtschaft vom 6.6.1956, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. 2428; als Überblick: AdSD, PV, WPA, Nr. 396: Zur Entwicklung des Ideenkomplexes Volkswirtschaftliche

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Da Adenauer und führende Politiker der CDU zu diesem Zeitpunkt noch einen Bundeswirtschaftsrat favorisierten, wurde dieses Projekt zunächst nicht aufgegriffen.16 Die Idee eines Sachverständigengremiums wurde erst Anfang 1958 wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Die Initiative ging von dem CDUAbgeordneten Curt Becker aus, einem mittelständischen Unternehmer, der auch dem Vorstand des CDU-Wirtschaftsrates angehörte.17 Becker hatte als Präsidiumsmitglied des BDI über lange Jahre in der betriebswirtschaftlichen Arbeitsgruppe des »Rationalisierungs-Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft« mit Gewerkschaftsvertretern über Lohn- und Arbeitszeitfragen verhandelt. Aufgrund dieser Erfahrung war ihm besonders an einer institutionalisierten Vermittlung in Tarifkonflikten gelegen. Anfang 1958 trat er an Wirtschaftsminister Erhard mit der Idee heran, ein Sachverständigengremium zu errichten, dem Vertreter des Ifo-Instituts, des DIW und des Statistischen Bundesamtes angehören sollten.18 Das Gremium sollte unter dem Vorsitz einer neutralen, von den Sozialpartnern anerkannten Persönlichkeit in regelmäßigen Abständen zusammentreten und sich gutachterlich über die »zu erwartende wirtschaftliche Entwicklung und die möglichen Auswirkungen von gewerkschaftlichen Lohn- und Arbeitszeitverkürzungen aussprechen«. Ferner sah Beckers Plan vor, dass die Tarifparteien das Gremium im Konfliktfall anrufen konnten. Damit knüpfte er an den FDPEntwurf von 1955 an, dessen Zielsetzungen inzwischen mit Nachdruck von den Arbeitgeberverbänden unterstützt wurden.19 Die Idee eines Sachverständigengremiums stieß bei Erhard aus zweierlei Gründen auf Interesse. Zum einen erkannte der Wirtschaftsminister darin eine Alternative zu einem korporatistischen Arrangement aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die er von dem politischen Entscheidungsprozess fern halten wollte.20 Zum anderen erhoffte er sich von einem wissenschaftlichen Gremium eine tatkräftige Unterstützung seines marktwirtschaftlichen Kurses sowie eine Stärkung seiner Position im Bundeskabinett und gegenüber den Verbänden.21 Langfristig, so Erhard, lasse sich so eine »Herauslösung der wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Entscheidungen aus dem InteresGesamtrechnung – Nationalbudget – Wirtschaftsbericht – Volkswirtschaftlicher Beirat; zahlreiche Dokumente zur Vorgeschichte in: AdSD, NL Deist, 19B. 16 BAK, B 136/2454: Prühl, Bericht für Globke, 3.3.1955; Ministerpräs. Arnold an Erhard, 7.6.1955; Praß, Vermerk, 19.7.1956. 17 Vgl. Eintrag in: Biographisches Handbuch Bundestag, S. 48f. 18 BAK, B 136/7401: Besprechung zwischen Erhard und Becker am 1.2.1958. 19 Ebd.; s. auch BAK, B 136/7401: Wolf, Bildung eines Sachverständigenrates zur Objektivierung der Lohnpolitik, 18.2.1958. 20 BAK, B 136/2454: Erhard an Adenauer, 4.9.1956; zusammenfassend: ebd., Vorlage für den Bundeskanzler, 31.7.1962. 21 Vgl. ACDP, I–83, A74: Bundesausschuß für Wirtschaftspolitik der CDU, Unterausschuß »Sachverständigengremium«, Sitzung 30.4.1963, S. 3.

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senstreit der wirtschaftlichen Parteien und Sozialpartner« bewerkstelligen.22 Wenig hielt Erhard hingegen von Beckers Plan, dem Sachverständigenrat eine »Schlichterfunktion« in Tarifverhandlungen zu übertragen. Er sah darin einen eklatanten Verstoß gegen den liberalen Grundsatz, dass Preis- und Lohnfindung eine Angelegenheit der Märkte sei, aus der sich der Staat herauszuhalten habe. Der Wirtschaftsminister war sich darüber im Klaren, dass er mit seinem Vorhaben nur dann bei Adenauer durchdringen würde, wenn er die Unterstützung der Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände bekam. Aus diesem Grund trat er mit seinen Plänen zunächst an Arbeitsminister Blank heran, der aus der christlichen Gewerkschaftsbewegung kam.23 Blank machte seine Zustimmung allerdings von mehreren Bedingungen abhängig.24 So durfte sich das Gremium seiner Auffassung nach nicht in Tarifkonflikte einmischen, ja, sich nicht einmal vordringlich mit Fragen der Lohn- und Einkommensentwicklung befassen, wie dies Becker, der FDP und den Arbeitgeberverbänden vorschwebte. Vielmehr sollten die makroökonomischen Ziele der Preisstabilität, der Vollbeschäftigung und eines stetigen Wirtschaftswachstums im Vordergrund stehen. Ein »solcher weiter Blickwinkel« sei erforderlich, um die Zustimmung der Gewerkschaften zu erhalten. Schließlich müsse auch bei der Wahl der Sachverständigen »gewerkschaftlichen Wünschen« Rechnung getragen werden. Obgleich Blank damit in wesentlichen Punkten dem SPD-Entwurf von 1956 folgte, war Erhard bereit, den Aufgabenbereich des Gremiums möglichst weit zu fassen. Wie sehr er sich der sozialdemokratischen Position annäherte, wurde in einem Gespräch deutlich, welches er am 3. März 1958 mit Blank, Becker sowie Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände und der Wirtschaftsforschungsinstitute führte.25 Erhard betonte bei dieser Gelegenheit die Notwendigkeit einer umfassenden Wachstums- und Stabilitätspolitik. Er brachte seine Überzeugung zum Ausdruck, dass man »nicht sklavisch einem zwangsläufigen Geschehen ausgeliefert« sei, sondern »eine bewusste Gestaltung des wirtschaftspolitischen Geschehens« angestrebt werden müsse. Darüber hinaus könnten die regelmäßigen Expertenberichte zu einem Abbau der allgemeinen »Hysterie« beitragen, schließlich besitze in »Deutschland die Wissenschaft einen höheren Geltungsrang als in allen anderen Ländern«. Erhard schlug den Anwesenden ein Modell vor, das weit über seine ursprünglichen Pläne hinausging. Ein kleines wissenschaftliches Gremium, bestehend aus den Vertretern des Ifo-Instituts, des DIW und des »Instituts für Weltwirtschaft«, der Bundesbank sowie einigen Professoren, sollte unter der Geschäfts22 23 24 25

BAK, N 1254/330: Rompe, Einrichtung eines Sachverständigengremiums, 3.7.1958, S. 2. BAK, B136/7401: Erhard an Blank, 12.2.1958. BAK, B136/7401: Blank an Erhard, 28.2.1958. BAK, B136/7401: Protokoll des Gesprächs, gez. Coester, 5.3.1958.

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führung des Statistischen Bundesamtes regelmäßig Berichte zur wirtschaftlichen Lage anfertigen. Ein zweites Gremium unter Einbeziehung der Sozialpartner sollte sich mit den politischen Konsequenzen der Gutachten befassen. Dazu gehörten nach Erhard auch »verteilungspolitische Fragen«. Der Vorschlag des Wirtschaftsministers fand bei den Anwesenden keine ungeteilte Zustimmung. Während man sich über die Nützlichkeit eines wissenschaftlichen Gremiums einig war, stieß die Errichtung einer zweiten Institution vor allem bei den Gewerkschaften auf Ablehnung. Der DAG-Vorsitzende Rettig warnte vor dem Glauben, man könne Lohn- und Preisniveau mit wissenschaftlicher Genauigkeit vorausbestimmen. Man dürfe nicht dem Fehler verfallen, »einen Automaten suchen zu wollen, der die gesamte Entwicklung vorausrechne«. Seine Skepsis brachte auch der DGB-Vorstand Willi Richter zum Ausdruck, der sich nicht nur über die Neutralität eines wissenschaftlichen Gremiums Gedanken machte, sondern auch eine Einschränkung der Tarifautonomie befürchtete. BDA-Präsident Paulssen hielt ebenfalls wenig von einem zweiten Organ und plädierte dafür, es bei einem wissenschaftlichen Gremium zu belassen. Dagegen befürchteten die Wirtschaftsforschungsinstitute Überschneidungen zwischen ihrer Tätigkeit und den Aufgaben eines Sachverständigenrates. Der Präsident des »Instituts für Weltwirtschaft« Baade wies darauf hin, dass die Forschungsinstitute mit ihrem Gemeinschaftsgutachten bereits einen gewichtigen Beitrag zur Konjunkturbeobachtung und -prognose leisteten.26 Obwohl die Besprechung im Bundeswirtschaftsministerium keinen eindeutigen Beschluss gebracht hatte, war klar geworden, dass ein Sachverständigengremium den Rückhalt der beteiligten Gesprächspartner finden würde, ein zweites Organ mit eher politischen Aufgaben dagegen nicht konsensfähig war. Bereits kurz nach der Sitzung begann man im BMWi mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs für die Einrichtung eines unabhängigen Expertengremiums, das von der Bundesregierung ernannt werden sollte.27 Aufgabe dieses Sachverständigenrates war es, zweimal jährlich einen Bericht über die gesamtwirtschaftliche Lage anzufertigen. Dabei sollte er »insbesondere den Ursachen von Spannungen zwischen Einkommensentwicklung und güterwirtschaftlichem Wachstum nachgehen, die zur Störung einer gesunden Entwicklung geführt haben oder führen können«. Als »Leitgedanke« diente das »magische Dreieck« aus Vollbeschäftigung, Preisstabilität und stetigem Wachstum.28 Der Sachverständigenrat sollte im Unterschied zu den herkömmlichen wissenschaftlichen Beiräten nicht als Beratungsorgan der Bundesregierung dienen, sondern in seiner Tätigkeit völlig unabhängig sein und die Öffentlich26 So auch Langelütke und Friedensburg (ebd.). 27 BAK, N 1254/330: Errichtung eines Sachverständigenrates, Entwurf vom 9.5.1958. 28 Ebd., § 2.

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keit informieren.29 Dabei ging es nicht nur um wissenschaftliche Analysen, sondern auch darum, Lösungsvorschläge für anstehende wirtschaftspolitische Probleme zu unterbreiten. Dem Sachverständigengremium war demnach eine außerordentlich starke Stellung zugedacht. Die Einflussmöglichkeit der Regierung beschränkte sich auf das Vorschlagsrecht bei der Wahl neuer Mitglieder. Deren Zahl war in dem Entwurf vom 9. Mai noch offen gehalten worden, hier bestand – vor allem mit Blick auf die Gewerkschaften – weiterer politischer Abstimmungsbedarf.30 Eine erste Namensliste, die Anfang Mai in Regierungskreisen zirkulierte, sah insgesamt acht Mitglieder vor.31 Neben den Leitern der vier großen Wirtschaftsforschungsinstitute in Essen, Berlin, München und Kiel wurden drei Hochschullehrer genannt – Erich Preiser aus München, Heinz Sauermann aus Frankfurt und Wilhelm Kromphardt aus Heidelberg. Ferner brachte das Wirtschaftsministerium Karl Schiller ins Spiel, der als Professor für Volkswirtschaftslehre in Hamburg zwar fachlich qualifiziert war, durch seine politische Tätigkeit in der SPD aber kaum als »neutral« eingestuft werden konnte. Obgleich Erhard offensichtlich um einen Kompromiss bemüht war und alles tat, um Bedenken aus dem Weg zu räumen, stieß sein Gesetzentwurf auf erhebliche Widerstände. So waren die vom BMWi als Mitglieder vorgesehenen Wirtschaftswissenschaftler keineswegs bereit, das Konzept des Ministeriums einfach zu akzeptieren, sondern machten ihre Mitarbeit von Korrekturen an dem Gesetzentwurf abhängig.32 Sie forderten die Zuweisung von entsprechenden Forschungsressourcen, insbesondere eines persönlichen Assistenten für jedes Beiratsmitglied durch das BMWi. Überdies waren die Professoren nicht bereit, den Vertretern der Wirtschaftsforschungsinstitute eine gleichberechtigte Stellung im Rat zu gewähren. Vielmehr sollte die Federführung allein in ihrer Hand liegen und den Instituten lediglich eine beratende Funktion zugebilligt werden. Da Preiser, Kromphardt und Sauermann mit ihren Forderungen beim Ministerium nicht durchdrangen, teilten sie Erhard kurzerhand mit, dass sie nicht mehr zur Verfügung stünden.33 29 Alle Gutachten des Sachverständigenrates mussten lt. Entwurf veröffentlicht werden. Hingegen bestimmten im Falle der Wissenschaftlichen Beiräte beim Wirtschafts- und Finanzministerium die jeweiligen Behörden, ob und wann die Gutachten publik gemacht wurden. Ferner unterstanden die Beiratsmitglieder der Verschwiegenheitspflicht, was für den Sachverständigenrat nicht vorgesehen war. 30 Der DGB hatte in einer Pressemitteilung vom 5.3.1958 noch einmal unterstrichen, dass er seine Zustimmung zu dem Gremium von dessen Zusammensetzung abhängig machen würde (AdSD, DGB-Archiv, 5/DGDO–6). 31 BAK, B 136/7401: Haenlein, Bericht vom 12.5.1958. 32 Preiser, Kromphardt und Sauermann hatten im Vorfeld eine gemeinsame Strategie abgesprochen; vgl. Sitzung am 16./18.5.1958 in München, abgedr. in: Ott, Sachverständigenrat, S. 4f.; ausführlich dazu Blesgen, S. 594–606. 33 Kromphardt, Preiser und Sauermann an Erhard, 29.6.1958, in: Ott, Sachverständigenrat, S. 8.

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Auch seitens der Wirtschaftsinstitute herrschte aufgrund der befürchteten Kompetenzüberschneidungen Skepsis vor. Friedensburg hatte schon im März abgesagt, und auch die übrigen Institute gaben sich äußerst reserviert, nachdem nach außen gedrungen war, dass sie nur eine Nebenrolle spielen sollten.34 Der Präsident des Statistischen Bundesamtes Fürst äußerte sich ebenfalls zurückhaltend über eine mögliche Mitarbeit, da sich dies mit seiner hauptamtlichen Funktion nicht vereinbaren ließe.35 Doch auch in den eigenen Reihen traf Erhard auf erbitterten Widerstand. Im Wirtschaftsministerium regte sich Unmut über die Pläne, den als arrogant wahrgenommenen Professoren derart weitreichende Kompetenzen zu übertragen, während es in der CDU/CSU-Fraktion Vorbehalte gegenüber einigen der ins Auge gefassten Kandidaten gab.36 Das eigentliche Problem bestand jedoch darin, dass Erhard sein Vorhaben nicht mit dem Kabinett abgestimmt hatte. So war das Finanzministerium erst relativ spät in die Vorarbeiten des Gesetzesentwurfs einbezogen worden. Von Seiten des Ministeriums erklärte man zwar, »Gewehr bei Fuß« zu stehen, doch eine leichte Verstimmung über den Alleingang Erhards war nicht zu überhören.37 Folgenreicher war jedoch, dass Erhard es versäumt hatte, Adenauer über seine Planung zu informieren. Als der Kanzler schließlich davon erfuhr, verbot er seinem Minister kurzerhand, das Vorhaben weiterzuverfolgen. In einem scharf formulierten Schreiben vom 22. Mai 1958 äußerte Adenauer »schwere Bedenken« gegenüber einem Sachverständigenrat.38 Ein solches unabhängiges Gremium, so der Kanzler, »nimmt der Bundesregierung und auch mir, der ich die letzte Verantwortung trage, unter Umständen die Zügel völlig aus der Hand«. Zudem warf er Erhard vor, seinerzeit die Einrichtung eines Bundeswirtschaftsrats verhindert zu haben, nun aber ohne vorige Abstimmung mit dem Kabinett selbst ein wirtschaftspolitisches Gremium ins Leben rufen zu wollen. Hinzu kam, dass sich BDI-Präsident Fritz Berg, mit dem Adenauer enge Beziehungen pflegte, ebenfalls gegen einen Sachverständigenrat aussprach.39 Angesichts dieser Widerstände gab es zu diesem Zeitpunkt kaum noch eine Chance, das Vorhaben zu realisieren.40 34 BAK, N 1254/330: Rompe, Bericht vom 3.7.1958. 35 Vgl. Rosenberg, Bericht an den Bundesvorstand des DGB vom 31.5.1958, in: AdSD, DGB-Archiv, 5/DGDO–6. 36 Ebd.; vgl. auch Stoltenberg, S. 153. 37 BAK, N 1254/330: Rompe, Bericht vom 27.3.1958; vgl. auch ebd., Rompe, Berichte vom 13.5. und 3.7.1958. 38 LES, NL Erhard, I.1.6: Adenauer an Erhard, 22.5.1958. 39 BAK, B 136/7401: Wolf, Bericht vom 12.6.1958; vgl. außerdem BAK, B 136/7452: Praß, Bericht für den Bundeskanzler über Volkswirtschaftlichen Sachverständigenrat, 2.4.1962. 40 Erhards wiederholten Versuchen, Adenauer doch noch umzustimmen, war kein Erfolg beschieden; vgl. Gespräch zwischen Kanzler und Minister am 22.5.1958 sowie das lange Schreiben Erhards vom 31.5.1958 (BAK, B 136/7452); wenig Erfolg hatte auch die Initiative von Alfred

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Es vergingen fast vier Jahre, bevor der Wirtschaftsminister das Projekt eines Sachverständigengremiums erneut auf die politische Agenda setzen konnte. Die grundsätzlichen Divergenzen, die sich in den Diskussionen des Jahres 1958 herauskristallisiert hatten, waren zwar auch jetzt noch nicht aus dem Weg geräumt. Doch hatten sich seitdem die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entscheidend gewandelt. Das stürmische Wachstum der Jahre 1959–61 stellte Regierung und Bundesbank vor erhebliche wirtschaftspolitische Probleme. Angesichts des chronischen Arbeitskräftemangels – seit 1960 gab es erstmals mehr offene Stellen als Arbeitslose – und des anhaltenden Exportbooms drohte eine Überhitzung der Konjunktur.41 Nicht nur die Bundesbank empfahl der Bundesregierung mit Nachdruck eine kontraktive Fiskalpolitik.42 Auch von Seiten des Wirtschaftsministeriums gab es Planungen, die Haushalts- und Steuerpolitik von Bund und Ländern stärker nach konjunkturellen Gesichtspunkten zu gestalten. Gemeinsam mit dem Finanzressort legte das Wirtschaftsministerium im Frühjahr 1961 ein Dossier zur »Erweiterung des konjunkturpolitischen Instrumentariums« vor, mit dem die Bedeutung eines wissenschaftlichen Beratungsgremiums für eine wirkungsvolle konjunkturpolitische Steuerung ausdrücklich betont wurde.43 Schließlich setzte die EWG-Kommission die deutsche Regierung unter Druck, den statistischen Apparat auszubauen und ein Sachverständigengremium einzuberufen.44 Überdies hatte sich das politische Kräfteverhältnis innerhalb der Bundesregierung seit 1961 verschoben. Nach der Bundestagswahl im September 1961 hatte Adenauer zusichern müssen, dass er nicht die volle Legislaturperiode amtieren, sondern durch einen rechtzeitigen Rücktritt den Weg für einen Nachfolger frei machen würde. Es war deshalb zu erwarten, dass Adenauers Müller-Armack, der am 10.10.1958 bei Adenauer in dieser Angelegenheit vorsprach (BAK, B 136/7443: Vermerk betr. Vortrag des Staatssekretärs beim Bundeskanzler am 10.10.1958). Auch BDA-Präsident Paulssen hatte sich bei Adenauer für einen Sachverständigenrat stark gemacht (BAK, B 136/7401: Becker an Globke, 24.11.1958). Weitere Details über die Diskussionen im Jahre 1958 in Blesgen, S. 606f. 41 Vgl. Giersch u.a., Fading Miracle, S. 126–141 (Arbeitsmarktdaten S. 127); für die zeitgenössische Wahrnehmung durch BMF, BMWi und Bundesbank vgl. BAK, B 136/2362: Protokoll über Sitzung zur konjunkturellen Lage am 21.3.1962 im BMWi. 42 HADB, B 330, Bd. 242: Direktorium der Bundesbank an Adenauer, 6.6.1959; Blessing an Adenauer, 4.3.1960; vgl. auch Berger, S. 124–126 u. 233–240; Holtfrerich, Geldpolitik, S. 408 u. 410. 43 Vgl. Materialien in BAK, B 126/22312. 44 Dies wurde von der Kommission der EWG mit Nachdruck gefordert: Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen, Vermerk betr. Koordinierung der Konjunkturpolitik, 11.12.1959, in: ACDP, I–236, 34/2. Vgl. außerdem zur deutschen Debatte: ACDP, I–83, K 2/1: Fritz Hellwig, Gemeinsamer Markt und nationale Wirtschaftspolitik, Vortrag vor der Mitgliederversammlung der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, 16.6.1961; BAK, B 102/2085: Protokoll des Gesprächs über Fragen der Konjunkturpolitik im BMWi am 4.5.1962.

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Widerstand gegen einen Sachverständigenrat weniger massiv sein würde als noch vier Jahre zuvor. Hinzu kam, dass die FDP, die sich von Anfang an für ein solches Gremium engagiert hatte, seit 1961 wieder in der Regierungskoalition vertreten war. Die politischen Vorzeichen für einen erfolgreichen zweiten Anlauf schienen somit günstig. Erhards im März 1962 vorgelegtes Exposé für einen Sachverständigenrat stieß daher nur auf vereinzelten Widerstand.45 Sowohl das Finanzministerium als auch die Bundesbank sicherten Erhard in einer eigens anberaumten interministeriellen Besprechung am 23. März ihre volle Unterstützung zu.46 Von besonderem Gewicht war die Tatsache, dass nunmehr auch die Arbeitgeberverbände geschlossen hinter der Initiative des Wirtschaftsministeriums standen. So befürworteten DIHT, BDA und BDI in einer gemeinsamen Erklärung vom April 1962 die Einrichtung eines Sachverständigengremiums.47 Die Divergenzen innerhalb des Arbeitgeberlagers, die vier Jahre zuvor bestanden hatten, schienen inzwischen ausgeräumt. Zwar wünschten die Verbände einige Änderungen gegenüber dem Entwurf des Wirtschaftsministeriums – etwa die Beteiligung von Persönlichkeiten mit »praktischer Erfahrung« und eine stärkere Einbeziehung des Gremiums in Tarifkonflikte –, doch von der früheren Fundamentalopposition des BDI war nichts mehr zu spüren. Nachdem auch der Kabinettsausschuss für Wirtschaft dem Plan prinzipiell zugestimmt hatte, erarbeitete das BMWi einen Gesetzentwurf, der am 11. April vom Bundeskabinett beraten und schließlich im Juni in den Bundestag eingebracht wurde.48 Die lange Zeit, die bis zur Verabschiedung des Gesetzes im August 1963 verstrich, war darauf zurückzuführen, dass die Befürworter des Sachverständigengremiums darum bemüht waren, einen breiten Konsens herzustellen, der Gewerkschaften und Oppositionsparteien einschloss. Dahinter standen zum einen politische Überlegungen, denn die Verabschiedung des Gesetzes 45 BAK, B 136/7452: Erhard an Adenauer, 13.3.1962, und Exposé »Aufgaben und Arbeitsweise eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« (o.D.); kritisch B 136/7452: Praß, Bericht vom 2.4.1962; vgl. außerdem ebd., Bericht vom 20.3.1962. 46 Vgl. die Sitzung des BMWi und BMF am 23.3.1962 in: BAK, B 136/7416 und BAK, B 126/2085; ZBR-Sitzung am 22.3.1962, HADB, B 330/Drs.1962. 47 BAK, B 136/7416: Paulssen an Adenauer, 30.4.1962 u. Gemeinsame Erklärung von DIHT, BDA und BDI (o.D., aber April 1962). 48 BAK, B 136/7452: Kabinettsvorlage des BMWi betr. Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 6.4.1962 und Anlage »Aufgaben und Arbeitsweise eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung«. Die Kabinettsvorlage entsprach dem Exposé, das Erhard Adenauer am 13. März vorgelegt hatte. Die Sitzung des Kabinettsausschusses für Wirtschaft hatte am 30. März stattgefunden; Antrag der CDU/CSU, FDP betr. den Entwurf eines Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 26.6.1962, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. IV/540.

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war ohne die Stimmen der SPD keineswegs gesichert. Zum anderen herrschte die Auffassung vor, dass die Gutachten des Sachverständigenrates nur dann ihre volle Wirkung entfalten könnten, wenn die wissenschaftliche Autorität des Gremiums von allen Seiten anerkannt würde. Erhards Bemühungen zielten nun vor allem darauf, die Gewerkschaften für das Gesetz zu gewinnen. Erleichtert wurde dies durch die Wahl von Ludwig Rosenberg zum DGB-Vorsitzenden im Oktober 1962. Rosenberg, zuvor Leiter der Wirtschaftsabteilung des DGB, gehörte mit Georg Leber zum pragmatischen Gewerkschaftsflügel, der seit Mitte der fünfziger Jahre zunehmend Einfluss gewonnen hatte. Im Dezember 1962 versprach Rosenberg dem Wirtschaftsminister, die Gewerkschaften »von dogmatischer Enge und einer negativen Einstellung zum Staate« wegzuführen und die Gründung eines Expertengremiums zu unterstützen.49 Erhard bekannte sich seinerseits zu »einer neuen Form der Zusammenarbeit« und erklärte sich bereit, ein gewerkschaftsfreundliches Mitglied in den Sachverständigenrat zu berufen.50 Auch die SPD signalisierte frühzeitig ihre Bereitschaft, den Initiativantrag der Regierungsfraktionen zu unterstützen. Die Schärfe, mit der im Bundestag über das Gesetz debattiert wurde, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen Regierung und Opposition kaum sachliche Differenzen gab.51 Bereits vor der ersten Lesung hatte sich die SPD-Führung in zwei Vorstandssitzungen, an denen auch die Spitzenvertreter des DGB teilnahmen, auf eine prinzipielle Unterstützung des Gesetzes geeinigt.52 Zwar konstatierte der Wirtschaftsexperte der SPD, Heinrich Deist, dass der Gesetzentwurf noch »gefährliche Dinge« enthalte. Doch letztlich handelte es sich nur um wenige wirklich substantielle Kritikpunkte. Insbesondere forderte Deist, dass die Regierung verpflichtet werde, neben einer Stellungnahme zu den Gutachten – dies war bereits in dem Entwurf der Regierungsfraktionen vorgesehen – einen Jahreswirtschaftsbericht anzufertigen, der »sie zwingt, ihre wirtschaftspolitische Konzeption vorzulegen und zu sagen, was sie tun wird«. Nur so könnten die Gutachten angemessenen Widerhall finden und zur »Grundlage der Wirtschaftspolitik« werden.53 Die parlamentarischen Verhandlungen, die sich über mehrere Monate hinzogen, können nicht in allen Einzelheiten rekonstruiert werden.54 Es sollen 49 BAK, B 102/59380: Gesprächsprotokoll, 12.12.1962. 50 Vgl. BAK, B 102/59380: Protokoll des Gespräches zwischen Erhard und Rosenberg am 20.3.1962. 51 Die Beratungen fanden am 26.10.1962 und am 26.6.1963 statt; Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 51, Bonn 1962, S. 1923–1928 und ebd., Bd. 53, Bonn 1963, S. 3946–3952. 52 AdSD, PV, Protokolle, Nr. 24: Vorstandssitzung, 5.9.1962 u. 1.10.1962. 53 AdSD, PV, Protokolle, Nr. 24: Vorstandssitzung, 5.9.1962, S. 16 f. 54 Vgl. Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 51, Bonn 1962, S. 1923–1928 und ebd., Bd. 53, Bonn 1963, S. 3946–3952 sowie die Beratungen des Gesetzes im Wirtschaftsausschuss des Bundesta-

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hier nur die wichtigsten Ergebnisse festgehalten werden. Das Gesetz, das am 26. Juni 1963 mit den Stimmen der SPD im Bundestag verabschiedet wurde, war das Resultat eines politischen Kompromisses, bei dem die Regierung der Opposition in wichtigen Fragen entgegenkam.55 So wurde das Kooptationsprinzip durch ein Vorschlagsrecht der Regierung ersetzt.56 Wichtige Änderungen wurden bei der Bestimmung der gutachterlichen Aufgaben vorgenommen. So trug man etwa der DGB-Forderung Rechnung, dass der Sachverständigenrat in seinen Gutachten auch vermögens- und verteilungspolitische Aspekte berücksichtigen sollte.57 Die Regelung, nach der das Gremium vor der Abfassung der Gutachten Regierung und Wirtschaftsverbände anhören sollte, wurde in eine Kann-Bestimmung umgewandelt. Auch stärkte das Gesetz gegenüber der früheren Fassung die Stellung des Sachverständigenrates. So durften die Experten zwar auch weiterhin »keine Empfehlungen für bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen aussprechen«. Sie sollten aber »Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Beseitigung aufzeigen«. Das formale Verbot, Kritik an bestimmten Maßnahmen zu äußern oder direkte wirtschaftspolitische Empfehlungen auszusprechen, war damit de facto außer Kraft gesetzt. Auch in diesem Punkt handelte es sich um eine Forderung der SPD-Fraktion.58 Schließlich fasste das Wirtschaftsministerium im September den Entschluss, noch für das laufende Jahr einen Jahreswirtschaftsbericht anzufertigen, der neben einer allgemeinen Einschätzung der wirtschaftlichen Lage auch eine Prognose für das kommende Jahr enthalten sollte. Abgesehen von diesen Korrekturen wich die endgültige Fassung des Gesetzes nur wenig von dem Entwurf ab, den das Wirtschaftsministerium im Frühjahr 1962 erarbeitet hatte.59 Die Annäherung, die sich in der Frage des Sachverständigenrates zwischen Regierung und Opposition ergeben hatte, war keineswegs unumstritten. So bemängelte der CDU-Politiker Rainer Barzel, dass man sich mit der Erstellung eines Jahreswirtschaftsberichtes die Forderung der SPD zu Eigen mache. ges: MdB Junghans (Berichterstatter), Schriftlicher Bericht des Wirtschaftsausschusses, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. IV/540 u. IV/1320, 12.6.1963. 55 Das Gesetz trat am 14.8.1963 in Kraft; BGBl. I, S. 685; Eine Chronik und Synopse der verschiedenen Vorschläge und Gesetzesentwürfe bei Blesgen, S. 736–762. 56 Die Regierung wurde allerdings verpflichtet, vor der Nominierung neuer Mitglieder die Meinung des Sachverständigenrates einzuholen; vgl. auch BMWi, Monatsbericht an den Bundeskanzler, Juni 1963, BAK, B 102/93207. 57 Diese Forderung war vom DGB in einer Erklärung vom März 1963 erhoben worden; abgedr. in: Bundespressestelle des DGB, Informationsdienst Nr. 5/63, 13.3.1963. 58 Vgl. die Rede des SPD-Abgeordneten Kurlbaum am 26.10.1962, in: Dt. Bundestag, Sten. Berichte, Bd. 51, Bonn 1962, Bd. 51, S. 1925; vgl. auch AdSD, PV, WPA/396: Erich Potthoff, Organisatorische Fragen (o.D.). 59 Es handelte sich v.a. um Verfahrensfragen; vgl. Synopse bei Blesgen, S. 740–762.

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Barzel sah die Gefahr, dass die Marktwirtschaft in der Bundesrepublik mehr und mehr in den Sog planerischer Tendenzen und einer aktivistischen Konjunkturpolitik gerate.60 Der einflussreiche Finanzwissenschaftler Günter Schmölders warnte, dass entscheidungsschwache Parlamente und Regierungen der Wissenschaft den »Schwarzen Peter« der Wirtschaftspolitik zuschöben: »der Streit wäre von der Ebene der immerhin noch erkennbaren Interessen auf die der undurchsichtigen esoterischen Axiome, Theoreme und Methoden verschoben, ohne dadurch seiner Schlichtung näher zu kommen.«61 Auch vom Wissenschaftlichen Beirat beim Wirtschaftsministerium wurde – trotz grundsätzlicher Zustimmung – befürchtet, ein höchstes Sachverständigengremium könne die Wissenschaft insgesamt diskreditieren, da »die Öffentlichkeit objektive Wahrheiten erwarte«, die ein solches Gremium nicht bieten könne.62 Diese Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Die Entwicklung der folgenden Jahre sollte zeigen, dass der Sachverständigenrat in der Praxis eine außerordentlich starke Stellung einnahm und wirtschaftspolitische Diskussionen maßgeblich beeinflussen konnte. Das war, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht nur auf seine starke institutionelle Stellung zurückzuführen, sondern auch auf die spezifische Diskursmacht, welche die Wissenschaft in den sechziger Jahren erlangte.

3. Die Diskursmacht der Wissenschaft Der Sachverständigenrat wurde erst im Februar 1964 eingesetzt, was unter anderem an der langwierigen Suche nach geeigneten Mitgliedern lag.63 Auf Drängen der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften einigte man sich darauf, dass zwei der fünf Ratsmitglieder nicht Hochschullehrer, sondern Persönlichkeiten mit praktischer Erfahrung sein sollten. Dies war durch den Gesetzestext durchaus gedeckt, nach dem die zu berufenden Mitglieder zwar über »besondere wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse und volkswirtschaftliche Erfahrung« verfügen, aber nicht ausdrücklich Hochschullehrer sein mussten.64 Mit Paul Binder und Harald Koch wurden zwei Personen berufen, die zwar keine partei- oder verbandspolitischen Ämter innehatten, aber doch jeweils als arbeitgeber- bzw. gewerkschaftsnah galten.65 Der Stuttgarter Wirt60 R. Barzel, Renaissance des Dirigismus, in: Deutsche Zeitung, 29.9.1962. 61 Schmölders, Verwissenschaftlichung, S. 397. 62 Vgl. v.a. die Äußerungen von Th. Wessels und H. Sauermann, in: IfZ, Ed 150/41: Protokoll der Sondersitzung des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi am 9./10.1962, S. 8. 63 Vgl. Sachverständigenrat: Fünf Weise gesucht, in: Der Volkswirt, 5.7.1963. 64 SVR-Gesetz, 14.8.1963, BGBl. I, S. 685, §1; vgl. zu den Abänderungen der ursprünglichen Fraktionsinitiative von FDP und CDU/CSU BAK, B 102/93207: Bericht vom 15.7.1963.

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schaftsprüfer und ehemalige Württembergische Finanzstaatssekretär Binder war CDU-Mitglied und verfügte über gute Beziehungen zu Kreisen der Industrie. Harald Koch, nach dem Krieg Verkehrsminister in Hessen und Mitglied der SPD-Fraktion im ersten Bundestag, galt als gewerkschaftsfreundlich und besaß durch seine langjährige Tätigkeit als Arbeitsdirektor der Hoesch AG Erfahrung in tarif- und arbeitsrechtlichen Fragen.66 Die weiteren Mitglieder des Rates waren Fritz W. Meyer, Professor in Bonn und Schüler Walter Euckens, Wilhelm Bauer, Präsident des »Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung« und ein angesehener Konjunkturexperte, der sein Handwerk bei Wagemann gelernt hatte, und schließlich der in Saarbrücken lehrende Herbert Giersch, der schon Anfang der sechziger Jahre zu den einflussreichsten Volkswirten in der Bundesrepublik zählte. Obgleich Bauer den Vorsitz führte, galt Giersch als »Motor und Spiritus rector« des Rates und prägte dessen Arbeit bis zu seinem Ausscheiden im Jahre 1970 maßgeblich.67 Giersch, ein Schüler Walther Hoffmanns, hatte sich 1955 in Münster habilitiert und kurz darauf einen Ruf auf eine Professur an der Universität des Saarlandes in Saabrücken erhalten. Er repräsentierte jene jüngere Generation von theoretisch versierten Volkswirten, die in den fünfziger Jahren zunehmend das wissenschaftliche Profil des Faches prägten und sich zugleich um einen Anschluss an die internationale Entwicklung bemühten. Anfang der fünfziger Jahre hatte Giersch als Referent der OEEC in Paris erste Auslandserfahrung gesammelt, vor seiner Berufung in den Sachverständigenrat war er Gastprofessor an der Yale University. Zugleich – und das unterschied Giersch von vielen seiner Fachkollegen – verstand er seine Arbeit nie als praxisferne Wissenschaft. Sein großer Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Debatten war vielmehr auf die Verbindung von theoretisch fundierter Analyse und wirtschaftspolitischem Urteil zurückzuführen, nicht zuletzt aber auch auf sein rhetorisch brillantes und bisweilen streitbares Auftreten in der Öffentlichkeit.68 Wie bereits erwähnt, besaß der Sachverständigenrat durch seine gesetzlich festgeschriebene Unabhängigkeit eine außerordentlich starke Position, die auch international einzigartig war.69 Doch nicht allein die institutionelle Aus65 Binder hatte 1925 über ein währungspolitisches Thema promoviert und in den dreißiger Jahren eine Reihe von konjunkturtheoretischen Arbeiten veröffentlicht; vgl. vor allem Binder. 66 Koch war auch nach seiner Nominierung für den Sachverständigenrat Mitglied des Wirtschaftspolitischen Ausschusses der SPD; Vgl. z.B. AdSD, PV, WPA, 402/B: Sitzung am 28./ 29.1.1966. 67 Das Votum der fünf Weisen, in: Der Volkswirt, 8.12.1967. 68 Vgl. dazu rückblickend Giersch, Anfangszeit. 69 Vgl. die Vorträge auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik im April 1967 über »Grundsatzprobleme wirtschaftlicher Beratung: das Beispiel der Stabilisierungspolitik« in: Schneider, Grundsatzprobleme; dazu auch BAK, B 102/93186: Bericht des BMWi, 18.4.1967; außerdem Müller-Armack, Wissenschaft, S. 81.

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gestaltung begründete die weit über die Fachwissenschaft hinausreichende Autorität des Gremiums. Seine Reputation resultierte vielmehr aus einer demonstrativen Regierungsferne und einem spezifischen Konfliktverhalten. Dies zeigte sich bereits im ersten Jahresgutachten des Sachverständigenrates, das die Regierung in Bonn wie ein »Paukenschlag« aufschreckte. Das Gutachten warnte eindringlich vor den Inflationsgefahren und verwies auf den latenten Zielkonflikt von Geldwertstabilität, Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum.70 Hauptverantwortlich für den inflationären Druck war nach Auffassung der Sachverständigen der hohe Außenhandelsüberschuss, der bei festen Wechselkursen zu einer importierten Inflation führte. Obwohl eindeutige Empfehlungen durch konditionale Formulierungen vermieden wurden, ließ das Gutachten keinen Zweifel an den Präferenzen des Gremiums. Nur durch ein flexibles Wechselkurssystem lasse sich langfristig das Problem außenwirtschaftlich bedingter Geldentwertung bekämpfen. Zugleich sei eine »Wirtschaftspolitik aus einem Guß« erforderlich, die fiskal-, geld- und währungspolitische Ziele eng aufeinander abstimme.71 Auf weitere Einzelheiten des gut 200 Seiten umfassenden Gutachtens braucht hier nicht eingegangen werden; aus Sicht der Bundesregierung grenzte das bereits Erwähnte an einen Affront. Die dramatische Lagebeurteilung schien die Probleme einer insgesamt stabilen Konjunkturlage zu überzeichnen, und was noch schlimmer war: Nicht die Gewerkschaften mit ihren Ansprüchen an das Sozialprodukt trugen nach Auffassung der Gutachter die Hauptschuld an der Inflation, sondern das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht und die inkonsistente Wirtschaftspolitik der Regierung.72 Damit war genau das Gegenteil von dem eingetreten, was sich Erhard und Teile des Unternehmerlagers erhofft hatten, nämlich eine Argumentationshilfe für maßvolle Tarifabschlüsse. Stattdessen war die Regierung selbst in die Schusslinie der Experten geraten. Tatsächlich fiel die Stellungnahme zu dem Gutachten, welche die Bundesregierung am 5. Januar 1965 veröffentlichte, geharnischt aus.73 Außer sachlichen Mängeln – etwa der geringe Prognosehorizont oder eine unzureichende Gesamtdiagnose der Konjunkturlage – kritisierte die Regierung vor allem die Empfehlung, das feste Wechselkurssystem aufzugeben. Diese Forderung hielt man nicht nur aus ökonomischen Gründen für kontraproduktiv, sondern angesichts der internationalen Verträge auch 70 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1964/65; vgl. darin v.a. das Kapitel »Voraussichtliche Fehlentwicklungen und mögliche Gegenmittel«, S. 131–141, hier 131. 71 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1964/65, S. 138. 72 Dies betonte der SVR wenige Monate noch einmal ausdrücklich: »Der Sachverständigenrat ist der Auffassung, daß die aktuelle Lohnpolitik der Sozialpartner die Preissteigerung eher konstatiert als provoziert«; BAK, B 136/7453: Sachverständigenrat an Erhard, 19.6.1965, S. 3. 73 Vgl. BAK, B 136/7453: Loosen, Stellungnahme zum Jahresgutachten, 14.12.1964.

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für politisch vollkommen unrealistisch.74 Wenige Wochen später reagierte der Sachverständigenrat mit einer schriftlichen Stellungnahme, in der er sich gegen die Vorwürfe zur Wehr setzte.75 Ohne große Umschweife warfen die Wissenschaftler der Regierung eine verzerrte Darstellung des Gutachtens vor und wehrten sich gegen die Zurechtweisung. Dem Sachverständigenrat sei es nicht um Empfehlungen für eine bestimmte Politik gegangen, sondern nur um »die Klarstellung von Sachzusammenhängen«. »Seine Urteile beziehen sich nur auf wirtschaftliche Tatbestände. Empfehlungen hat er nicht gegeben. Politische Wertungen sind ihm fremd«, hieß es lapidar.76 Das war nicht der »neue Stil«, den sich Erhard von der Gründung des Sachverständigenrates erhofft hatte.77 In der Tat kam es bis zum Ende seiner Kanzlerschaft zu einer Dauerfehde, in der Erhard immer mehr in die Defensive gedrängt wurde und die einen erheblichen Anteil daran hatte, dass seine bis dahin unbestrittene wirtschaftspolitische Autorität erodierte.78 Im Sommer 1965 befanden sich die Beziehungen nach einem weiteren äußerst kritischen Sondergutachten, dessen Veröffentlichung Wirtschaftsminister Schmücker nur mit Mühe verhindern konnte, auf dem Tiefpunkt.79 Nicht einmal ein persönliches Gespräch zwischen den Wissenschaftlern und Erhard schien zu diesem Zeitpunkt noch möglich.80 Und als der Sachverständigenrat im November 1965 das zweite Jahresgutachten vorlegte, schienen sich die Ereignisse vom Vorjahr zu wiederholen.81 Der Konflikt war darauf zurückzuführen, dass sich Gewerkschaften und SPD durch den Sachverständigenrat bestätigt fühlten und sich demonstrativ hinter die Wissenschaftler stellten.82 Insbesondere Karl Schiller stärkte dem Gremium den Rücken und nutzte die Gutachten geschickt für seine politischen Ziele.83 Im Sommer 1966 kam es erneut zu 74 Stellungnahme der Bundesregierung zum Jahresgutachten, 5.1.1965, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. IV/2890. 75 BAK, B 136/7453: Erklärung des Sachverständigenrates zur Stellungnahme der Bundesregierung zum ersten Jahresgutachten, 16.1.1965; Wilhelm Bauer an Erhard, 21.1.1965, S. II und III. 76 Ebd., S. 1. 77 Zit. nach. H. Tietmeyer, Ein Beitrag zum »neuen Stil«, in: Der Volkswirt, 4.10.1963. 78 Sämtliche Gutachten des SVR (einschließlich der nicht veröffentlichten Sondergutachten) in: BAK, B 126/20345. 79 Ebd., Sondergutachten vom 19.6.1965; darin warnte der SVR erneut vor den inflationären Gefahren; zum Konflikt über die Veröffentlichung vgl. BAK, B 136/7453: Praß, Vermerk, 13.8.1965. 80 Vgl. BAK, B 136/7453: Loosens an Erhard, 23.6.1965. 81 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1965/66. 82 Die Gewerkschaften forderten den Rat schon im Sommer 1965 dazu auf, ein zusätzliches Sondergutachten zur Preisentwicklung zu erstellen, was man von Regierungsseite mit allen Mitteln zu verhindern suchte; BAK, B 136/7453: DGB an Erhard, 2.7.1965, und Antwortschreiben vom 30.7.1965. 83 Vgl. bereits nach dem ersten Gutachten: K. Schiller, Die Weisen verdienen Ermunterung. Bemerkungen zum Gutachten des Sachverständigenrates, in: Vorwärts, 10.2.1965.

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heftigen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Rat, nachdem dieser ein weiteres Sondergutachten vorgelegt hatte, das vor einer »drohenden inflationären Rezession« warnte und die Regierung zu energischerem Handeln aufforderte.84 Hier sollen vorerst nicht die inhaltlichen Aspekte dieser Kontroversen interessieren, sondern die Frage, welche Rolle die Konflikte für das institutionelle Selbstverständnis des Expertengremiums spielten. Es spricht viel dafür, dass die Auseinandersetzungen nicht nur auf sachlichen Differenzen beruhten. Offenbar verfolgte der Sachverständigenrat vor allem in den Anfangsjahren eine Strategie der dosierten Konflikteskalation, weil er sich davon eine Stärkung seiner Verhandlungsmacht und seines Ansehens in der Öffentlichkeit erhoffte. Wie Giersch rückblickend eingestand, sah sich der Sachverständigenrat nicht einfach nur als ein Beratungsgremium unter vielen, sondern als eine übergeordnete wirtschaftspolitische Instanz in der »Nähe der Bundesbank, der höchsten Gerichte oder der Rechnungshöfe«.85 Da der gesetzliche Auftrag – die Erstellung von Gutachten – keine ausreichende Grundlage für eine solche Stellung schuf, musste sich das Gremium durch ein möglichst offensives, regierungskritisches Auftreten eine solche Autorität als unabhängige und politisch neutrale Instanz erst erkämpfen. Wilhelm Bauer sprach daher schon 1966 von einem »systembedingten Gegensatz zwischen Regierung und Sachverständigenrat«. Über die politischen Konsequenzen war er sich durchaus im Klaren. Das »natürliche Gegeneinander zwischen Fachgremium und Regierung«, so Bauer, »deckt sich in der Sachdiskussion zu einem großen Teil mit der Auseinandersetzung zwischen Opposition und Regierungspartei«.86 Und für Olaf Sievert, Generalsekretär des Rates in der Gründungsphase, waren die »dauernden Querelen mit den politischen Instanzen« nicht nur in der spezifischen Konstruktion des Gremiums angelegt, sondern auch Voraussetzung für seine Wirksamkeit innerhalb der politischen Arena. »Zumindest mit den Speerspitzen«, so Sievert, müsse man »in den Bereich der Politik hineinragen«, um Einfluss zu gewinnen. Die Rolle des Sachverständigenrates ähnele »der einer parlamentarischen Opposition in ihrer Aufgabe, dauernd der Regierung vorzuhalten, welche Chancen der Vergangenheit sie ausgelassen, gegen welche Chancen der Zukunft sie sich entschieden hat.« Anders als eine politische 84 Bauer an Erhard, 27.8.1966, und beiliegendes Memorandum des Sachverständigenrates (o.D.), BAK, B 136/7454. 85 Giersch, Anfangszeit, S. 24; vgl. auch den Diskussionsbeitrag Gierschs, in: Schneider, Grundsatzprobleme, S. 420; er wies dem SVR darin die Funktion eines »Interessenclearings« zu, »damit sich aus der Vielfalt Lösungen ergeben können, die man als einen Schritt zum ParetoOptimum auffassen kann«. 86 Bauer, S. 354 u. 356. 87 Sievert, S. 31 u. 38. 88 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1968/69.

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Oppositionspartei stehe das Wissenschaftlergremium aber niemals unter dem »Generalverdacht«, eine bestimmte Interessengruppe, Ideologie oder politische Richtung zu vertreten, was seinen tatsächlichen Einfluss sogar noch verstärke.87 Der Vorwurf der Parteilichkeit kam erst zum Ende der Großen Koalition auf, als sich der Sachverständigenrat noch einmal massiv für eine Aufwertung der D-Mark einsetzte und damit die Position von Wirtschaftsminister Schiller unterstützte.88 Die Aufwertungsfrage war seit Frühjahr 1969 das wirtschaftspolitische Konfliktthema in der Koalition.89 Angesichts der hohen Devisenüberschüsse und einer drohenden Verschlechterung der Geldwertstabilität hielt Schiller eine dosierte Aufwertung der D-Mark für unverzichtbar, während Kanzler Kiesinger und Finanzminister Strauß eine Änderung des Wechselkurses strikt ablehnten. Dass der Sachverständigenrat nun in die Schusslinie der Politik geriet, war angesichts der im September 1969 anstehenden Wahlen wenig verwunderlich, zumal er im Juli 1969 ein weiteres Sondergutachten zu dieser Frage veröffentlichte, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ.90 Während die konservative Presse von »Gesetzesbrechern« und – in Anspielung auf die studentische Protestbewegung – von einer »Mai-Revolte der Professoren« sprach, warf Strauß dem Gremium »Meinungsmanipulation« und »terroristische Beeinflussung« der Wähler vor.91 Diese erste wirkliche Krise des Sachverständigenrates, im Laufe derer zwei Mitglieder zurücktraten, zeigte deutlich, wie sehr das Gremium inzwischen in das Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten war und diese Position auch bewusst ausspielte. Die Politiker seien längst »Gefangene der Sachverständigen«, titelte die Zeitschrift »Der Volkswirt« im November 1968. Der Sachverständigenrat präjudiziere wirtschaftspolitische Entscheidungen, sein Votum setze »Mechanismen in Gang, deren Wirkungen die Bundesregierung ausgeliefert ist«.92 Diese unter dem Eindruck des beginnenden Wahlkampfes geäußerte Auffassung überzeichnete den tatsächlichen Einfluss des Sachverständigenrates erheblich. Doch es war unbestritten, dass das Gremium schon wenige Jahre nach seiner Gründung einen Sonderstatus in der wissenschaftlichen Politikbe-

89 Vgl. Hildebrand, S. 320f. u. 402f. Vgl. auch unten Kap. XI.5. 90 Sondergutachten des SVR vom 11.7.1969, Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. V/ 4574, Ziffer 23. 91 Die Mai-Revolte der Professoren, in: Der Volkswirt, 15.6.1969; die übrigen Äußerungen zit. n. Der Bonner Eklat, in: Der Volkswirt, 18.7.1969 sowie Engelhardt, S. 199. 92 Fr. L. Frieauff, Gefangene der Sachverständigen, in: Der Volkswirt, 15.11.1968; dies wurde auch innerhalb der Wissenschaft so gesehen. So wies Knut Borchardt 1967 vor dem »Verein für Socialpolitik« darauf hin, dass es in der Diskussion über den Sachverständigenrat längst nicht mehr um Beratung, sondern um Fragen der politischen Meinungsbildung und Entscheidung gehe; Diskussionsbeitrag Borchardts in: Schneider, Grundsatzprobleme, S. 411.

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ratung besaß.93 Dies hing auch damit zusammen, dass die heftigen Attacken aus der Politik einen Solidarisierungseffekt auslösten, der die akademische Nationalökonomie in der Bundesrepublik über sachliche Differenzen hinweg zusammenrücken ließ. So wies der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium in einem Gutachten vom November 1967 ausdrücklich auf die problematischen Auswirkungen fester Wechselkurse auf die Preisstabilität hin und stützte damit die Position des Sachverständigenrates.94 Und im Mai 1969 unterschrieben mehr als 100 Professoren ein von Herbert Giersch und seinem Saarbrücker Kollegen Egon Sohmen initiiertes Manifest zur Aufwertung der D-Mark, das ebenfalls als fachlicher Beistand des Rates aufgefasst werden musste.95 Doch die starke Stellung des Rates war auch darauf zurückzuführen, dass er sich auf eine einzigartige wissenschaftliche Infrastruktur stützen konnte. Dem Gremium war eine Geschäftstelle beim Statistischen Bundesamt zugeordnet, die von einem Generalsekretär geleitet wurde. Die Geschäftsstelle bereitete die Sitzungen vor, stellte wissenschaftliche Unterlagen und Statistiken zusammen, führte die Verwaltung und koordinierte die Veröffentlichung der Gutachten. Die Mitglieder des Rates erhielten eine Aufwandsentschädigung von je 40.000 DM pro Jahr sowie eine Erstattung anfallender Reisekosten aus Bundesmitteln; ferner wurde ihnen ein wissenschaftlicher Assistent zur Unterstützung ihrer Tätigkeit zugeordnet. Der Sachverständigenrat konnte nicht nur die fachlich zuständigen Minister sowie den Präsidenten der Bundesbank zur Anhörung einbestellen, sondern auch Experten oder Vertreter der Wirtschaftsverbände um ihre Stellungnahme bitten. Alle Bundes- und Landesbehörden waren ihm zur Amtshilfe verpflichtet. Die institutionelle Anbindung an das Statistische Bundesamt, wo auch die Sitzungen stattfanden, ermöglichte einen direkten Zugriff auf neueste statistische Erhebungen. Von besonderer Bedeutung war der weit gefasste Beratungs- und Informationsauftrag des Gremiums, der – anders als im Falle der Wissenschaftlichen Beiräte der Ministerien – nicht auf Regierung und Fachressorts begrenzt war, sondern auf alle »wirtschaftspolitisch relevanten Instanzen« ausgedehnt wurde.96 Auch die Information der Öffentlichkeit gehörte ausdrücklich zu den 93 Dies sahen z.B. auch die Mitglieder der wissenschaftlichen Beiräte beim BMWi und BMF; vgl. z.B. Kloten, Wissenschaftlicher Beirat, S. 61; vgl. außerdem Äußerungen von Bruno Gleitze, Vorstand des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften vor dem WPA der SPD am 28./29.1.1966, S. 5; AdSD, PV, WPA, 402/B. 94 Gutachten vom 25.11.1967 »Zusammenhang zwischen außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Preisstabilität«, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1966–71, S. 509–517. 95 Nach Aussage von Giersch trug das Manifest nicht nur zu einer Rehabilitation des Sachverständigenrates bei, sondern half ihm selbst, »eine persönliche Krise zu überstehen«; Giersch, Anfangszeit, S. 25. 96 SVR-Gesetz, 14.8.1963, § 1 Abs. 1.

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Aufgaben des Sachverständigenrates. Die Abkehr von der behördeninternen Beratung zugunsten von Information und Aufklärung bedeutete einen Paradigmenwechsel in der wissenschaftlichen Politikberatung und begründete ein neues Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit.97 Die Rolle der Wissenschaft bestand demnach darin, in einen kritischen Dialog mit den politischen Entscheidungsträgern zu treten, der in erster Linie in öffentlichen Kommunikationsprozessen ausgetragen wurde. Dies reflektierte zugleich ein verändertes Selbstverständnis der akademischen Volkswirtschaftslehre, die sich – wie Egon Tuchtfeldt bereits 1962 betonte – zunehmend als kritische »wirtschaftswissenschaftliche Intelligenz« betrachtete.98 Die Rolle des Sachverständigenrates kann nur dann in vollem Umfang gewürdigt werden, wenn man neben den Inhalten der Gutachten auch die Art und Weise betrachtet, wie diese in der Öffentlichkeit präsentiert und wahrgenommen wurden. Die Wahl von Form und Zeitpunkt der Veröffentlichung war hierfür von zentraler Bedeutung, das Gesetz vom 14. August 1963 sah eine präzise Regelung dieser Frage vor. Der Sachverständigenrat musste das Gutachten bis zum 15. November der Bundesregierung zuleiten. Acht Wochen später wurde es gemeinsam mit einer Stellungnahme der Bundesregierung veröffentlicht.99 Weniger eindeutig war die Veröffentlichung der Sondergutachten geregelt. Sie sollten »im Einklang« mit dem Wirtschaftsministerium publiziert werden, was allerdings Spielraum für Interpretationen ließ. Diese rechtliche Grauzone war, wie die Konflikte über die Veröffentlichung des Sondergutachtens vom Juli 1965 gezeigt hatten, durchaus problematisch. Bereits im November 1966 wurde daher ein Gesetz verabschiedet, das die Veröffentlichungspraxis neu regelte.100 Die Jahresgutachten wurden nun nicht mehr erst mit der Stellungnahme der Bundesregierung, sondern bereits bei der Übergabe an die Regierung im November veröffentlicht. Damit entsprach man einem Wunsch der Sachverständigen, die beklagt hatten, dass die Gutachten nur als Anhang zur Stellungnahme der Bundesregierung erschienen, was ihren eigenständigen Charakter schmälerte. Zum anderen hatte es sich in der Praxis als unmöglich erwiesen, den Inhalt der Jahresgutachten nach der Übergabe an die Regierung geheim zu halten.101 Unter Journalisten zirkulierten vorab Teilversionen und Kopien des Gutachtens. Geändert wurde auch der Publikationsmodus für die Sondergutachten, die nun in der Regel eine Woche 97 Sievert, S. 29. 98 Tuchtfeldt, Wirtschaftswissenschaftler, S. 398; Tuchtfeld betonte in diesem Zusammenhang auch die »Funktion der Gesellschafts- und Machtkritik« und knüpfte damit an die Überlegungen Theodor Geigers aus dem Jahre 1949 an (Geiger, S. 71). 99 SVR-Gesetz, 14.8.1963, § 6 Abs. 3. 100 BGBl. I, S. 633. 101 Diese Indiskretionen, die zu einer »Politisierung des Gutachtens« führten, beklagte etwa Wirtschaftsminister Schmücker, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 60, Bonn 1966, S. 847; vgl. auch Sievert, S. 54.

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nach Übergabe an die Regierung veröffentlicht werden mussten. Durch die Publikationspflicht wurde, wie Sievert betonte, die »Öffentlichkeit zum MitAuftraggeber der gesamten Tätigkeit des Rates«.102 Tatsächlich entwickelte sich vor allem die Publikation des Jahresgutachtens zu einem medialen Ereignis, das von der Öffentlichkeit »fast schon mit mehr Spannung erwartet [wurde] als eine Regierungserklärung«.103 In einer Pressekonferenz stellten die Sachverständigen die wichtigsten Ergebnisse des Gutachtens vor und standen den Journalisten Rede und Antwort. Die regelmäßige und termingebundene Überreichung der Gutachten führte zu einer Ritualisierung, die dem Sachverständigenrat mehr Aufmerksamkeit verschaffte als anderen Konsultativorganen. Obgleich die Gutachten »in einer spröden Sprache geschrieben und dickleibig wie ein Lehrbuch« waren, fanden sie großes Interesse und galten auch unter verlegerischen Aspekten als Erfolg. Der »Bestseller aus dem Elfenbeinturm« wurde bereits im ersten Jahr 5.000-mal verkauft, im zweiten Jahr stieg die Auflage bereits auf 7.000 Exemplare.104 Das Bemühen um eine Verstetigung ist auch beim inhaltlichen Aufbau und bei der sprachlichen Gestaltung der Gutachten zu erkennen. Sie begannen mit einer ausführlichen Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung des vergangenen Jahres, die durch entsprechende Statistiken ergänzt wurden. Es folgte eine Prognose für das kommende Jahr, während in einem dritten Kapitel mögliche Fehlentwicklungen benannt wurden. Schließlich folgte ein vierter Teil, der jeweils einem als besonders dringlich empfundenen Spezialproblem gewidmet war. Die Gutachten waren in einem sachlichen, streng wissenschaftlichen Stil verfasst und »für eine breitere Leserschaft entsprechend schwer verständlich«.105 Die immer wieder vorgebrachte Kritik am Umfang und an der schwierigen Fachsprache wurde von den Sachverständigen jedoch damit abgetan, »dass der Gegenstand eine allzu vereinfachende Darstellung verbietet«.106 Es war die Mischung aus umfassender wissenschaftlicher Analyse und einer klaren wirtschaftspolitischen Botschaft, welche die Gutachten zu einem Erfolg machten. Die im modernen blauen Plastikeinband gebundenen Bücher wurden mit einem Titel versehen, welcher die Quintessenz der Gutachten auf eine griffige Formel brachte: »Stabilisierung ohne Stagnation«, »Alternativen außenwirtschaftlicher Anpassung«, »Im Sog des Booms«, »Gleicher Rang für den Geldwert« und ähnliche schlagwortartige Überschriften sollten auch dem ökonomischen Laien Anhaltspunkte über die Ergebnisse der Analysen vermitteln. 102 Ebd., S. 55. 103 Wirtschaftspolitik: Das Votum der fünf Weisen, in: Der Volkswirt, 8.12.1967. 104 Bestseller aus dem Elfenbeinturm, in: Der Volkswirt, 8.12.1967. 105 BAK, B 136/7455: Geberath, Vermerk, 22.11.1966. 106 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1967/68, S. VII (Vorwort). Zur Kritik an der sprachlichen Gestaltung der Gutachten vgl. Neumark, Hauptadressaten.

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Abgesehen davon hielten sich die Mitglieder des Sachverständigenrates jedoch mit erklärenden Äußerungen und öffentlichen Stellungnahmen zurück. Nur selten – und meist nur vor Fachpublikum – traten die »fünf Weisen« bei öffentlichen Diskussionsveranstaltungen in Erscheinung.107 Als Begründung dieser Zurückhaltung wurde von Ratsseite angeführt, dass die Beteiligung an der öffentlichen Diskussion unweigerlich zu »einer Politisierung des Sachverständigenrates« führen werde. »Überdies würde der Eindruck einer laufenden Selbstinterpretation dem Ansehen des Rates vermutlich eher schaden als nützen, während der aufklärende Erfolg – wenn schon die sorgfältig formulierten Texte ihn nicht gebracht haben – fraglich bliebe«.108 Die Abschottung von der tagespolitischen Debatte und die damit verbundene Kritikimmunisierung entsprach dem Selbstverständnis des Sachverständigenrates als eine neutrale und über den Interessen stehende Instanz, die ähnliche Funktionen wahrnahm wie das Verfassungsgericht für die Rechtssprechung. Dass die Strategie der Kritikimmunisierung offensichtlich gut funktionierte, zeigen die zahlreichen – teils bewundernden, teils kritischen – Kommentare, die häufig auf religiöse Vergleiche zurückgriffen. Während die einen anerkennend den »fast priesterlichen Respekt« gegenüber den »fünf Weisen« in der Öffentlichkeit hervorhoben,109 verwiesen andere auf die Gefahr einer geradezu »päpstlichen Autorität« der Sachverständigen, deren Gutachten »mit der Aura eines Unfehlbarkeitsdogmas versehen werden«.110 In der Tat wurden immer wieder verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber der Konstruktion eines unabhängigen, keiner politischen Legitimationsinstanz unterworfenen Gutachtergremiums geäußert, das mit dem System einer parlamentarischen Demokratie nicht zu vereinbaren sei.111 Gerade weil die Gutachten – wenn auch nicht explizit, sondern in konditionaler Form – wirtschaftspolitische Urteile und Empfehlungen enthielten, müsse der Rat einer politischen Institution zugeordnet werden. Hierbei wurde immer wieder das amerikanische Modell des »Council of Economic Advisors« angeführt, bei dem die wissenschaftliche Expertise in den politischen Entscheidungsprozess der Exekutive eingebunden war.112 Derlei Forderungen wurden jedoch nie ernsthaft weiterverfolgt. Auch wenn die amerikanische Tradition der professionellen Politikberatung bei der Gründung des Sachverständigenrates Pate ge107 So etwa vor der »Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft« oder im Rahmen der »Professoren-Kolloquien« der Adolf-Weber-Stiftung; vgl. Deutsche Volkswirtschaftliche Gesellschaft; Adolf-Weber-Stiftung. 108 Sievert, S. 56. 109 So Karl Schiller, zit. n. Fr. L. Frieauff, Gefangene des Sachverständigenrates, in: Der Volkswirt, 15.11.1968, S.11. 110 So Erhard und Balke in der Bundestagsdebatte am 17.2.1966 über das zweite Jahresgutachten, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 60, Bonn 1966, S. 917–978, hier S. 949 u. 969. 111 Vgl. z. B. Heinze. 112 Vgl. Zinn; Wegner, S. 55f.

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standen hatte, ging man in der Bundesrepublik am Ende einen anderen Weg. Der Sachverständigenrat nahm somit nicht nur im Spektrum der westdeutschen Beratungsinstitutionen eine Sonderstellung ein, sondern war auch im internationalen Vergleich ein Unikum. Dies bedeutete jedoch nicht, dass sich die Bundesrepublik in ihren wirtschaftspolitischen Diskussionen von internationalen Trends abkoppelte. Das Gegenteil war der Fall. Nicht nur in der wissenschaftlichen Theoriebildung, sondern auch in der politischen Diskussion machten sich internationale Bezüge und Transfers immer stärker bemerkbar. Im folgenden Abschnitt sollen zwei Entwicklungen näher betrachtet werden: Zum einen geht es um die Frage, wie der europäische Integrationsprozess auf die wirtschaftspolitischen Leitbilder in den fünfziger und sechziger Jahren gewirkt hat. Zum anderen soll der Kalte Krieg und seine Rückwirkungen auf die innergesellschaftlichen Diskussionen der Bundesrepublik in den Blick genommen werden.

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Dritter Teil: Zwischen Kaltem Krieg und europäischer Integration

»Die Auseinandersetzung zwischen westlicher und östlicher Hemisphäre bildet das beherrschende politische Problem unserer Zeit. Dieser dynamische Kontrast, der immer neue Formen annimmt, immer neue politische Fragen aufwirft, stellt zwei in Geist und Durchdringung radikal verschiedene Sozial- und Wirtschaftssysteme einander gegenüber; er rückt zugleich alle Divergenzen, die innerhalb der westlichen Welt bestehen, tief in den Schatten.«1

Der Ost-West-Konflikt hat die Bundesrepublik in der Nachkriegsära stärker geprägt als andere westliche Industriestaaten. Von Anfang an stand die politische und wirtschaftliche Neuordnung Westdeutschlands unter dem Eindruck des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz mit dem östlichen Teilstaat. In der historischen Forschung wird daher seit geraumer Zeit der Frage nachgegangen, in welchem Maße nicht nur die außenpolitischen Verhältnisse, sondern auch die innere Entwicklung der Bundesrepublik durch die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung beeinflusst wurde. Denn die scharfe Abgrenzung von dem in der DDR etablierten »Sowjetsystem« hatte erhebliche Rückwirkungen auf die gesellschaftlichen Ordnungsentwürfe im westdeutschen Nachkrieg. Für die Bundesrepublik war die DDR, so Rainer Lepsius, geradezu eine »negative Vergleichsgesellschaft«.2 Erstaunlicherweise hat sich die wirtschaftshistorische Forschung mit dem Problem der wechselseitigen Wahrnehmung und Beeinflussung bisher kaum auseinander gesetzt. Die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft wird meist als Zusammenwirken amerikanischer Wirtschaftskonzepte und deutscher Traditionen des Ordoliberalismus interpretiert.3 Mag dieses Urteil auf die Gründungsphase der Bundesrepublik auch zutreffen, spricht doch vieles 1 Beckerath, Politik und Wirtschaft, S. 40. 2 Lepsius, S. 214f.; vgl. auch Erdmann, S. 682; Kleßmann, S. 13; Hockerts, Zeitgeschichte, S. 99. 3 Vgl. etwa Blumenberg-Lampe, Programm; Tribe; Nicholls.

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dafür, dass die Entwicklung der DDR-Wirtschaft im Laufe der fünfziger Jahre zunehmend ins Blickfeld westdeutscher Ökonomen und Politiker trat.4 Der massive Ausbau der bundesdeutschen DDR-Forschung spielte in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Auch die seit etwa 1955 einsetzende Debatte über eine »zweite Phase« der Sozialen Marktwirtschaft, so lautet die im Folgenden entwickelte These, erhielt durch die Systemkonkurrenz mit der DDR entscheidende Impulse. Zugleich gewannen die vor allem im angloamerikanischen Raum entwickelten Konvergenztheorien an Einfluss und prägten nicht nur die Wahrnehmung der sozialistischen Wirtschaftsordnung des Ostblocks, sondern auch die Debatte über die Zukunft der westlichen Marktwirtschaften. Der folgende Abschnitt befasst sich daher nicht mit der tatsächlichen Wirtschaftsentwicklung in der DDR, die inzwischen als gut erforscht gelten kann.5 Im Zentrum stehen vielmehr die bislang weitgehend unbekannte Perzeptionsgeschichte und deren Auswirkungen auf die wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Wahrnehmungsmuster in den fünfziger und sechziger Jahren.

4 Gerade auch in der Ordnungslehre Euckens nahm der Systemvergleich breiten Raum ein; v.a. K. Paul Hensel, ein Schüler Euckens, führte mit diesem Ansatz systemvergleichende Forschungen an der Universität Marburg durch; s.u. Kap. VII.2. 5 Roesler; Merkel/Wahl; Lippe, Leistungen; Paridon; Schwarzer; Steiner, DDR-Wirtschaftsreform; ders., Plan; Sleifer.

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VII. »Kompetitive Koexistenz«. Die Auseinandersetzung mit der sozialistischen Planwirtschaft Am 2. Mai 1956 hielt der Unternehmer Otto A. Friedrich vor dem »Überseeclub« in Hamburg eine viel beachtete Rede über die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik.6 Friedrich, der seit seiner Tätigkeit als Rohstoffberater der Bundesregierung 1950/51 zu den politisch profilierten Unternehmern gehörte, zeichnete in seinem Vortrag ein Bild aus Licht und Schatten. Auf der einen Seite habe die bundesdeutsche Wirtschaft in den vergangenen Jahren »eine unglaubliche Wegstrecke zurückgelegt«. Infolge der enormen Aufbauleistung könne das Land inzwischen hohe Wachstumsraten bei mäßiger Inflation vorweisen, es herrschte Vollbeschäftigung, und die Leistungsbilanz wies ansehnliche Überschüsse aus. Auf der anderen Seite sah Friedrich aber Gefahren aufziehen, »die gebieterisch eine Neuorientierung verlangen«. Die Aufbauphase sei abgeschlossen, und die Bundesrepublik stehe angesichts weltpolitischer Veränderungen vor neuen Herausforderungen. Man müsse sich auf eine verschärfte »Auseinandersetzung der freien Welt mit dem totalitären Kommunismus« gefasst machen. Eine unmittelbare militärische Konfrontation hielt Friedrich in Anbetracht des atomaren Patts zwar für unwahrscheinlich. Doch prognostizierte er einen »neuartigen koexistentiellen Wettbewerb« auf »ideellem und materiellem« Gebiet.7 Das Hauptdefizit des marktwirtschaftlichen Systems westlicher Prägung erkannte Friedrich in der fehlenden Zukunftsorientierung. Während es der zentralen Planwirtschaft gelinge, die Konsumquote niedrig zu halten, Investitionsgüter in strategisch wichtige Sektoren zu lenken und durch eine gezielte Forschungs- und Bildungspolitik langfristige Entwicklungsaufgaben in den Blick zu nehmen, besitze die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik einen zu engen Zeithorizont und vernachlässige wichtige Zukunftsprobleme. Ohne die Grundprinzipien einer freien Eigentums- und Verkehrswirtschaft in Frage zu stellen, hielt der Hamburger Unternehmer daher ein »größeres volkswirtschaftliches Plandenken« für unverzichtbar. Nach amerikanischem und britischem Vorbild solle der Staat das gesamtwirtschaftliche Prognosesystem verbessern, insbesondere aber Finanz-, Geld- und Steuerpolitik zu einer Einheit

6 BAK, B 126/2076: Otto A. Friedrich, Konjunkturvorsorge unter politischem Aspekt, Vortrag vor dem Überseeclub in Hamburg am 2.5.1956; zu Friedrich siehe Berghahn/Friedrich. 7 BAK, B 126/2076: Friedrich, Konjunkturvorsorge.

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zusammenführen. Ziel sei die Vermeidung konjunktureller Schwankungen und die Sicherung eines langfristigen Wirtschaftswachstums. Dem überzeugten Antikommunisten Friedrich ging es also nicht um eine Annäherung an das sozialistische Modell, sondern im Gegenteil um die Verteidigung freiheitlicher Werte und marktwirtschaftlicher Prinzipien. Um den »Wettbewerb mit dem Kommunismus erfolgreich bestehen« zu können, müsse man sich jedoch bewusst machen, worin »die möglichen Vorteile des totalitären Systems« lägen.8 Auch wenn das düstere Bild, das Friedrich von der westdeutschen Wirtschaft zeichnete, kaum der Wirklichkeit entsprach, so spiegelten sich darin doch verbreitete Ängste und Bedrohungsszenarien wider. Befürchtungen, dass sich das verhasste Regime in der »Sowjetzone« am Ende doch als überlegen herausstellen könnte, waren durchaus verbreitet, wurden allerdings nur selten so offen zum Ausdruck gebracht.9 Gerade in politisch konservativen Kreisen mehrten sich seit Mitte der fünfziger Jahre Stimmen, die davor warnten, sich zu sehr auf den Lorbeeren des Nachkriegsbooms auszuruhen und die wissenschaftliche und technologische Herausforderung des Ostens nicht ernst zu nehmen. So forderte der Wirtschaftsexperte der CDU/CSU Rudolf Vogel im April 1958 dazu auf, »die Wirtschaftsentwicklung in der Sowjetzone mit scharfen Augen zu beobachten«. Dort werde »mit einem Investitionsaufwand unerhörten Ausmaßes der Versuch gemacht, die freie Welt wirtschaftlich einzuholen«.10 Ähnlich äußerte sich Eduard Werlé, Vorstandsmitglied des Ifo-Instituts und des CDU-Bundeswirtschaftsausschusses. »Der Existenzkampf zwischen Osten und Westen« verlagere sich, so Werlé 1960, »immer sichtbarer auf den wirtschaftlichen Schauplatz.« Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeige, »mit welcher Entschiedenheit und Härte der Kommunismus den Kampf um die Ausbreitung seines Machtbereiches künftig zu führen gedenkt. Nach wie vor dürfte er aber dabei die Risiken militärischen Vorgehens soweit wie möglich vermeiden und den wirtschaftlichen Wettkampf vorziehen«.11 Der wirtschaftspolitische 8 Siehe auch BAK, B 136/7403: Rede Friedrichs vor der Hauptversammlung der Phoenix Gummiwerke AG am 3.7.1963. 9 Vgl. z.B. Äußerungen Carl Brinkmanns auf einer Tagung des »Vereins für Socialpolitik« 1950 in: Albrecht, Problematik, S. 81; Krengel, Ähnlichkeiten, S. 48. 10 Vogel in der Debatte am 16.4.1958, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 40, Bonn 1958, S. 1198; Vogel war stellvertretender Vorsitzender des Haushaltsausschusses; 1964 wurde er bundesdeutscher Botschafter bei der OECD. Vgl. auch die ähnlich gerichteten Äußerungen des SPD-Politikers Kurlbaum vom 3.7.1958, der darauf hinwies, dass eine Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik zu einer Schwächung der Demokratie und einer Stärkung des kommunistischen Einflusses führen könnte; Ebd., Bd. 41, Bonn 1958, S. 2253; vgl. auch die Bundestagsrede Deists vom 7.4.1960, ebd., Bd. 45, Bonn 1960, S. 6032: »Wenn wir den Wettlauf zwischen dem Osten und Westen ansehen, können wir nicht an der Tatsache vorübergehen, daß das Tempo der Entwicklung im Sowjetraum stärker ist als in der ganzen westlichen Welt.« 11 Werlé, Öffentliche Investitionen, S. 7.

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Sprecher der CDU, Fritz Hellwig, sah ebenfalls einen »Wirtschaftskrieg zwischen Ost und West« heraufziehen, bei dem sich eine »bedrohliche Überlegenheit totalitärer Systeme in der Frage der Produktivitätssteigerung und der Sicherung der Investitionsquote« abzeichne.12 Hellwig beklagte die »Richtungslosigkeit unserer Wirtschaftspolitik« sowie die »hilflose Behandlung unserer internen Konjunkturdebatten«. Seiner Auffassung nach bestand »ein Urbedürfnis nach Autorität, Führung und Lenkung nicht nur bezüglich der Gemeinschafts- und politischen Willensbildung, sondern bei den heutigen internationalen Gegebenheiten unabdingbar auch im Bereich der Wirtschaft.«13 Geschürt wurde die Angst nicht zuletzt durch die Annahme, dass sich die DDR ökonomisch auf einem Konsolidierungskurs befinde, nachdem die Wiederaufbau- und Umstrukturierungsphase abgeschlossen war. Tatsächlich kündigte Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 eine massive Erhöhung der industriellen Produktion an. Ulbricht betrachtete es nun als »ökonomische Hauptaufgabe« des Sozialismus, die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik einzuholen und zu übertreffen.14 Dieses Ziel wurde schließlich auch zur Grundlage des im Oktober 1959 beschlossenen Siebenjahresplans. So unrealistisch diese Vorstellungen angesichts der strukturellen Probleme des DDR-Planungssystems auch sein mochten, in westdeutschen Kreisen verfehlten sie nicht ihre Wirkung. Hatte nicht der Start des Erdsatelliten Sputnik 1 am 4. Oktober 1957 gezeigt, dass die Sowjetunion dem Westen in der Raketen- und Weltraumtechnik weit überlegen war? Wenn die im Vergleich zu westlichen Industriestaaten eher rückständige Volkswirtschaft der Sowjetunion zu solchen technologischen Spitzenleistungen fähig war, was konnte man dann von der sehr viel weiter entwickelten Industrieproduktion in der DDR erwarten?

1. Wie schnell wächst die DDR-Wirtschaft? Die Sorgen waren umso größer, als man in der Bundesrepublik nur vage Vorstellungen über die tatsächliche Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft besaß. Dies war auch darauf zurückzuführen, dass die volkswirtschaftliche Bilanzrechnung der sozialistischen Staaten auf anderen Maßstäben beruhte als die der westlichen Industrieländer.15 Die in der DDR üblichen Kategorien des »produzierten Nationaleinkommens« und des »gesellschaftlichen Gesamtprodukts« berücksichtigten nur die materielle Produktion, nicht jedoch Staatstä12 13 14 15

ACDP, I-083, A 62: Hellwig an Friedrich, 19.6.1956. Ebd. Friebe; vgl. auch Steiner, Hauptaufgabe. Ciesla; Schwarzer, S. 109–128; Sleifer, S. 123–143.

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tigkeit und Dienstleistungen. Sie waren mit der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung westlichen Typs daher nur schwer vergleichbar. Als außerordentlich problematisch erwies sich ferner die in der DDR übliche Form der Bruttorechnung, welche die gesamte Produktionsleistung auf jeder Herstellungsstufe berücksichtigte und nicht, wie das Rechnungswesen westlicher Länder, nur die zusätzliche Wertschöpfung. Häufig wechselnde Bezugsgrößen und unklare Definitionen von Produktionskennziffern machten die Angaben der DDR-Statistik für ausländische Beobachter undurchschaubar. Da Preise auf administrativem Wege festgelegt wurden, besaß die Preisstruktur einen völlig willkürlichen Charakter – Preise fungierten hier nicht als wirkliche Knappheitsindikatoren –, was Vergleiche mit marktwirtschaftlichen Systemen zusätzlich erschwerte. Auch die Erstellung von Zeitreihen, etwa zur Bestimmung von Wachstumsraten, war mit großen Problemen behaftet, da es nur schwer möglich war, reale Größenveränderungen zu bestimmen. Zum Problem der Vergleichbarkeit trat die Frage, inwiefern die amtlichen Daten der DDR überhaupt zuverlässig waren.16 Da die Statistiken dort stets ein Instrument staatlicher Propaganda darstellten, waren Auslassungen und Fälschungen an der Tagesordnung, ein Sachverhalt, der zeitgenössischen Beobachtern im Westen freilich nicht immer hinreichend bewusst war.17 Ein weiteres Problem bestand darin, dass die Daten auf Angaben der statistischen Berichte der Betriebe beruhten, die dazu tendierten, zu positive Ergebnisse vorzulegen, um die Planerfüllung unter Beweis zu stellen und damit zugleich eine höhere Zuteilung von Produktionsmitteln zu erreichen. Schon frühzeitig war man daher von westdeutscher Seite bemüht, gesicherte Daten über die ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung zu ermitteln. Eine Schlüsselrolle spielte dabei das DIW, das seine Tätigkeit nach dem Krieg zunächst auf den Großraum Berlin konzentriert hatte, dann jedoch auf die gesamte SBZ/DDR ausweitete.18 Dies war nicht zuletzt Bruno Gleitze zu verdanken, auf dessen Anregung im April 1949 eine Abteilung »Sozialwirtschaft und Sowjetische Besatzungszone« beim DIW gegründet wurde. Der Berliner Sozialdemokrat hatte schon während der NS-Zeit eng mit Ernst Wagemann und dem Institut für Konjunkturforschung in Berlin zusammen gearbeitet und war nach dem Krieg zunächst zum Leiter des in Liquidation tretenden Statistischen Reichsamtes berufen worden.19 Unmittelbar nach Abschluss des Potsdamer Abkommens beauftragte ihn die sowjetische Militäradministration mit der finanzpolitischen Neuordnung in der SBZ und Ostberlin, zugleich wurde er Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der HumboldtUniversität. Im Dezember 1948 gab Gleitze alle Ämter auf und setzte sich mit 16 17 18 19

Lippe, Leistungen; ders, Role. Vgl. z.B. Grünig, Gesamtrechnung für die SBZ, S. 17. Krengel, Institut, S. 86–87. Thalheim, Gleitze.

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seiner Familie nach West-Berlin ab, wo er im DIW – dessen Kuratorium er bereits vorher angehört hatte – die erwähnte Abteilung für die Erforschung der SBZ übernahm. Seitdem galt er als einer der führenden Experten für die ostdeutsche Wirtschaft.20 Von politischer Seite wurde der wirtschaftswissenschaftlichen DDR-Forschung große Bedeutung beigemessen, galt es doch nicht nur, gesicherte Daten über die Entwicklung des östlichen Nachbarn zu gewinnen, sondern zugleich die Frage zu klären, wie eine künftige Wiedervereinigung unter wirtschaftlichen und sozialen Aspekten zu bewältigen sei. Dieser Aufgabe widmeten sich mehrere Gremien, darunter der im Dezember 1949 konstituierte »Königsteiner Kreis«, dem ein Wirtschaftsausschuss unter Vorsitz von Bruno Gleitze zugeordnet war, ferner der im Herbst 1951 vom Wirtschaftsministerium bestellte »Interministerielle Ausschuß für Fragen der Wiedervereinigung auf wirtschaftspolitischem Gebiet«. Zu einem regelrechten brain trust der DDR-Forschung entwickelte sich der »Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands«, der im März 1952 auf Initiative des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen gegründet wurde.21 Der Beirat konzentrierte sich fast ausschließlich auf wirtschaftliche und soziale Aspekte, da er davon ausging, dass »in der Auseinandersetzung zwischen West- und Mitteldeutschland ... die Frage der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Systeme eine beherrschende Rolle spielt«.22 Laut offiziellem Auftrag sollte das Gremium ein Programm erarbeiten, um im Falle einer Wiedervereinigung die Planökonomie der DDR in ein marktwirtschaftliches System zu überführen.23 Dazu musste man sich jedoch zunächst einmal ein möglichst genaues Bild über die Lage der DDR-Wirtschaft verschaffen. Dem Forschungsbeirat gehörten daher außer Vertretern der Ministerien, Parteien, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände eine Reihe von ausgewiesenen Ökonomen und Statistikern an.24 Innerhalb des Beirates spielte der so genannte »Forscherkreis« eine wichtige Rolle. Ihm gehörten neben Bruno Gleitze die Professoren Hans-Jürgen Seraphim aus Münster, K. Paul Hensel aus Freiburg, Karl-C. Thalheim und Mathias Kramer aus Berlin an, ferner Gerhard Abeken vom DIW sowie der Herausgeber der FAZ, Erich Welter. Die Mitglieder des Forscherkreises leiteten auch die insgesamt fünf Fachausschüsse und 46 Arbeitsgruppen, welche die eigentliche Forschungsarbeit durchführten. Eine zentrale Funktion besaß der Bilanzierungsausschuss unter 20 Vgl. z.B. Gleitze, Wirtschaft, sowie sein Schriftenverzeichnis in: Thalheim, Gleitze, S. 34– 72. Gleitze übernahm 1956 die Leitung des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften und wurde 1967 Wirtschaftsminister in NRW. 21 Rüß, S. 76ff.; Idstein; umfassend: Wöller. 22 BAK, B 137-I/522: Forschungsbeirat an Erhard, 26.11.1959. 23 Forschungsbeirat, S. 20; vgl. auch Laak, Tag X. 24 Mitgliederverzeichnis in: Bundesarchiv, Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung, Bestandsverzeichnis von M. Brandes, Koblenz 1991, Einleitung, S. XIV–XXIII.

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Vorsitz Gleitzes, der die Ergebnisse der anderen Arbeitsgruppen zusammenfassen und in Zusammenarbeit mit dem DIW eine umfassende Statistik der DDR-Wirtschaft erstellen sollte. In den ersten Jahren gelang es allerdings nicht, eine zuverlässige Berechnung des DDR-Sozialproduktes vorzulegen, und der Bilanzierungsausschuss beschränkte sich auf die Erstellung von Produktionsstatistiken für die einzelnen Branchen. Dies lag auch daran, dass sich das Gremium nicht mehr auf die Umsatzsteuer- und Einkommensstatistik stützen konnte, die noch 1950 Ferdinand Grünig bei der Erstellung einer Sozialproduktsstatistik der SBZ zur Verfügung gestanden hatte.25 Grünig konnte mit diesen Daten die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der SBZ für die Jahre 1947–49 recht zuverlässig ermitteln.26 Als Gerhard Abeken, seit 1956 Leiter der Abteilung »Mitteldeutschland« am DIW, eine Neuberechnung des Sozialproduktes durchführte, musste er sich im Wesentlichen auf die aggregierten Daten der offiziellen DDR-Statistik stützen.27 Dieser Sachverhalt war auch deshalb unbefriedigend, weil im Ausland immer wieder Statistiken kursierten, die auf einer unsicheren Datenbasis fußten und das wirtschaftliche Potenzial der DDR vielfach eklatant überschätzten. So war im Mai 1956 in der italienischen Zeitschrift »Economia Internazionale« der Aufsatz eines britischen Wirtschaftswissenschaftlers erschienen, der für beträchtliche Aufregung sorgte. Der unter dem Pseudonym »Germanicus« verfasste Beitrag prognostizierte, dass »by 1960 Eastern Germany can be expected not only to be well ahead of its Eastern European neighbours, but also to be a serious competitor of the West«.28 Wenige Monate später veröffentlichte die UNO-Wirtschaftskommission für Europa einen Beitrag über die Umstrukturierungsprozesse in West- und Ostdeutschland, in dem der DDR ebenfalls ein erhebliches Entwicklungspotenzial bescheinigt wurde.29 Der Bericht konstatierte für die DDR zwar deutlich niedrigere Wachstumsraten, führte das aber vor allem auf die hohen Reparationsauflagen und die Übergangsprobleme bei der wirtschafts- und ordnungspolitischen Neustrukturierung zurück. Diese Interpretation durchzog die meisten ausländischen Veröffentlichungen seit Mitte der fünfziger Jahre wie ein roter Faden. Dies galt etwa für einen 25 Grünig, Gesamtrechnung für die SBZ. 26 Neben dem Nettosozialprodukt der SBZ hatte Grünig die Unterkonten der Entstehungsund Verwendungsseite für die Jahre 1947, 1948 und 1949 berechnet. Die zweite große Leistung bildete die Preisbereinigung der Daten, die einen Vergleich mit den Westzonen überhaupt erst möglich machte. Grünig konnte die desaströse Lage der SBZ erstmals quantitativ untermauern und zeigen, wie stark die Wirtschaft unter den Reparationszahlungen an die sowjetische Besatzungsmacht litt. 27 Forschungsbeirat, S. 20. 28 Germanicus, S. 18; hinter dem Pseudonym »Germanicus« verbarg sich offensichtlich ein Ökonom des britischen Foreign Office; vgl. dazu Stolper, Facts, S. 113. 29 Structural Adaption.

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Bericht, den der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Fred Sanderson vom State Department für das »Congressional Joint Committee on the Economic Report« anfertigte. Sanderson hatte erstmals eine preisbereinigte Schätzung des DDR-Volkseinkommens für 1948 und 1952 vorgenommen und aus diesen Daten eine beträchtliche Expansion abgeleitet.30 Generell waren amerikanische Stellen und Forschungseinrichtungen an der DDR-Wirtschaftsentwicklung besonders interessiert, was mit dem Status der USA als Besatzungsmacht und der Präsenz amerikanischer Militärbehörden in der Bundesrepublik zusammenhing. So führten zwei Mitarbeiter der amerikanischen »Economic Research Unit« in Frankfurt, Edward Toole und Edwin Snell, seit 1959 statistische Forschungen zur Wirtschaftsleistung der DDR durch.31 Snell legte 1960 eine unter Verschluss gehaltene Studie vor, in der er auf das Investitionswachstum in der DDR hinwies, das sich seiner Auffassung nach in den kommenden Jahren noch verstärken werde.32 Ein wichtiges Zentrum der ökonomischen DDR- und Osteuropa-Forschung entstand seit Anfang der fünfziger Jahre am »Center for International Studies« des MIT in Boston. Auf Anregung des Institutsdirektors Max Millikan begann dort der deutschstämmige Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Stolper 1955 umfangreiche Forschungen zur DDR. Stolper, Sohn des Volkswirtes Gustav Stolper und Schüler Josef Schumpeters, war 1933 über die Schweiz in die USA emigriert und hatte 1938 in Harvard promoviert. Seit 1949 lehrte er an der University of Michigan in Ann Arbor und zählte bald zu den führenden Entwicklungsökonomen in den USA.33 1960 erschien seine umfangreiche Monographie »The Structure of the East German Economy«, die international große Aufmerksamkeit erregte und auch in Deutschland breit rezipiert wurde.34 Im Unterschied zur westdeutschen Forschung ging es Stolper nicht allein darum, die Verhältnisse in der DDR besonders genau zu analysieren. Vielmehr erschien ihm das geteilte Deutschland als »unique example for a meaningful East-West comparison«.35 Aufgrund ähnlicher Ausgangsbedingungen (Sachkapitalbestand, Technologie, Ausbildung usw.) ließen sich die Folgen von zwei unterschiedlichen Wirtschaftssystemen – der freien Marktwirtschaft und der sozialistischen Planwirtschaft – am Beispiel der beiden deutschen Teilstaaten 30 Trends in Economic Growth: A Comparison of the Western Powers and the Soviet Bloc. A Study prepared for the Joint Committee on the Economic Report by the Legislative Reference Service of the Library of Congress, Joint Committee Print, 83rd Congress, 2nd session, Washington D.C. 1955. 31 BAK, B 137/4003: Aktenvermerk, 9.5.1961. 32 BAK, B 137-I/523: Edwin Snell, A Comparison of the National Products of East and Western Germany, 1960. 33 Vgl. die autobiographischen Bemerkungen in Stolper, Facts. 34 Ders., Structure. 35 Ebd., S. VII.

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auf einzigartige Weise empirisch überprüfen. Stolper, der im Vorfeld seiner Studie längere Forschungsreisen nach Westdeutschland unternommen hatte, untersuchte nicht nur die Entwicklung von Industrieproduktion, Transportwesen und Außenhandel der einzelnen Wirtschaftssektoren der DDR, sondern legte auch eine Schätzung des Bruttosozialproduktes zu Preisen von 1936 (Reichsmark) und von 1950 (D-Mark) vor, die eine direkte Gegenüberstellung mit westdeutschen Daten ermöglichte. Obgleich Stolper mit Kritik an dem planwirtschaftlichen System nicht sparte und seine Daten zeigten, dass die DDR in allen Bereichen der wirtschaftlichen Produktion sowie in der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern weit hinter der Bundesrepublik zurücklag, waren seine Ergebnisse aus westlicher Sicht besorgniserregend. Denn nach seinen Berechnungen konnten die Wachstumsraten der DDR – ausgehend von einem niedrigeren Niveau – durchaus mit denen der Bundesrepublik mithalten. Schon in einem 1959 in der Zeitschrift »Kyklos« veröffentlichten Aufsatz hatte Stolper betont, dass die »Steigerung des Bruttosozialproduktes pro Kopf ... in den beiden deutschen Wirtschaftsgebieten nahezu gleich« sei.36 Diese Feststellung wirkte nicht zuletzt deshalb so alarmierend, weil Stolper den strukturellen Problemen des Wiederaufbaus in der DDR – durch Reparationsverpflichtungen, Verlust von Humankapital und Handelsbeschränkungen – besonderes Gewicht beimaß. Dies bedeutete, dass die DDR-Wirtschaft erheblich schneller wachsen würde, sobald die Hemmnisse und Probleme der Aufbauphase überwunden waren. Die Schlussfolgerung Stolpers war für westliche Beobachter alles andere als beruhigend: »There has been, and there will continue to be, progress«.37 Stolpers Veröffentlichungen sorgten in Westdeutschland für Irritationen. Noch vor Erscheinen der Monographie berief der Forschungsbeirat eine Sondersitzung ein, um die Ergebnisse von Stolpers Veröffentlichungen zu diskutieren und mögliche »Gegenschritte« in die Wege zu leiten.38 Vor allem Gleitze wies auf die Gefahr hin, dass »die Untersuchungsergebnisse von Prof. Stolper von der internationalen Forschung diskussionslos akzeptiert werden«.39 Es reiche freilich nicht aus, so Gleitze, lediglich »gegen die Arbeit von Stolper zu

36 Ders., National Product; zit n. der deutschen Übersetzung: ders., Sozialprodukt, S. 358. 37 Ders., Labor Force, S. 545. 38 Die Zeitschriftenbeiträge Stolpers waren bereits erschienen, zudem kannte man ihn in wissenschaftlichen Kreisen der Bundesrepublik von seinen Forschungsreisen. Auslöser der Sondersitzung bildete Stolpers Beitrag in der Zeitschrift Kyklos; vgl. auch BAK, B 137-I/422: Bericht Wiltrud Gehlen, 5.11.1959. 39 BAK, B 137/4003: Forscherkreissitzung am 6./7.7.1959 u. 12.10.1959; außerdem B 137I/579: Konstituierung einer Studiengruppe »Sozialprodukt«, 17.9.1959; Gleitze hatte in der Sitzung am 12. Oktober darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse von Stolper »international sehr beachtet und diskutiert« würden. Es bestehe die Gefahr, »daß die Welt aufgrund dieser Arbeit sich ihr wissenschaftliches Urteil über das Wachstum der sowjetzonalen Wirtschaft bildet«.

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polemisieren«. Vielmehr müsse die eigene Forschung auf dem Gebiet der DDR-Statistik verstärkt werden.40 Der Forschungsbeirat beschloss daher, eine »Studiengruppe Sozialprodukt« unter Vorsitz von Gleitze einzurichten, der führende Ökonometriker (darunter Wilhelm Krelle und Gottfried Bombach) angehörten.41 Ferner wurden beim DIW zwei durch die Bundesregierung finanzierte wissenschaftliche Mitarbeiterstellen geschaffen, mit deren Hilfe die Neuberechnung des DDRSozialproduktes durchgeführt und geeignete Deflationsmethoden erarbeitet werden sollten.42 Letzteres war nicht nur zur Erstellung längerer Zeitreihen, sondern auch für einen sinnvollen Vergleich mit westdeutschen Zahlen erforderlich.43 Denn zu welchen verzerrten Ergebnissen unseriöse Datenvergleiche führen konnten, zeigte eine Veröffentlichung im New Yorker »World Currency Report« vom 6. Juli 1960, die das Pro-Kopf-Produkt der führenden Industriestaaten in US-Dollar berechnet hatte und dabei zu dem Ergebnis gekommen war, dass die DDR hinter den USA, Kanada und Island auf dem vierten Platz rangierte, die Bundesrepublik hingegen nur den 12. Rang belegte. Zwar erkannte der Verfasser des Beitrages durchaus die methodischen Schwierigkeiten eines solchen Vergleichs. Dennoch bestand seiner Auffassung nach kein Zweifel, dass »die Planwirtschaften starke Konkurrenten der freien Welt geworden sind«.44 Solchen und ähnlichen Veröffentlichungen, wie sie insbesondere in den USA zirkulierten, wollte man seitens des Forschungsbeirats unbedingt entgegenwirken, sei es durch eigene Publikationen, sei es dadurch, dass man den »Amerikanern bessere Daten zur Verfügung« stellte.45 Es verstand sich von selbst, dass es nicht nur um einen akademischen Disput ging, sondern um grundlegende Fragen der politischen Information und Meinungsführung. So 40 Auf der Sitzung am 6./7.7.1959 war u.a. beschlossen worden, eine Übersetzung des Kyklos-Artikels in der vom DIW herausgegebenen Zeitschrift »Konjunkturpolitik« mit zwei kommentierenden Beiträgen zu veröffentlichen; vgl. Gebauer; Gleitze, Niveauentwicklung; Stolper, Sozialprodukt. 41 Dem Gremium, das im Dezember 1960 eingerichtet wurde, gehörten 14 Personen an; vgl. BAK, B 137-I/522: Studiengruppe »Sozialprodukt«. 42 BAK, B 137-I/522: Forschungsbeirat an Erhard, 26.11.1959. 43 Vgl. BAK, B 137-I/522: Hohmann an Gleitze, 7.9.1961. Das DIW legte 1964 eine erste Berechnung des DDR-Sozialproduktes zwischen 1955 und 1962 vor, bei dem die Daten in DMark-Preise umgerechnet wurden. Aufgrund der methodischen Schwierigkeiten einer Umrechnung in Westwährung ging man danach dazu über, einen Preisindex für die DDR zu berechnen, um das reale Wachstum des Sozialproduktes zu bestimmen; vgl. BAK, B 137/4003: DIW, Das Bruttosozialprodukt Mitteldeutschlands in den Jahren 1955–1962, September 1964; Sitzung der Studiengruppe »Sozialprodukt« am 2.10.1964; Forschungsbeirat an DIW, 12.6.1964. 44 Siehe die Übersetzung des Artikels sowie weitere Veröffentlichungen mit ähnlichem Tenor in BAK, B 137-I/522. 45 BAK, B 137/I–569: Forscherkreissitzung am 16./17.12.1960.

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neigte man in den USA eher dazu, das wirtschaftliche, technologische und militärische Bedrohungspotenzial des Sowjetimperiums zu überzeichnen, um die eigenen Rüstungsanstrengungen zu legitimieren und die Kohäsionskraft des westlichen Bündnisses zu erhöhen. In der Bundesrepublik bestand dagegen eher die umgekehrte Tendenz. Die im geteilten Deutschland stärker spürbare Systemkonkurrenz hatte zur Folge, dass die Auseinandersetzung mit dem ideologischen Gegner nach anderen Regeln geführt wurde. Die offiziellen deutschlandpolitischen Organe der Bundesregierung – und dazu gehörten auch wissenschaftliche Einrichtungen wie der Forschungsbeirat – verfolgten stets das Ziel, ein Gegenbild zur DDR-Propaganda zu liefern und die Bevölkerung im anderen Deutschland über ihre desaströse Lage zu informieren.46 Zugleich führte man einen erbitterten Kampf gegen all diejenigen, die ein zu positives Bild von der DDR zeichneten. Nach dem Mauerbau führte die dreifache Aufgabenstellung des Forschungsbeirates – wissenschaftliche Analyse, öffentliche Information und die Erstellung eines Wiedervereinigungsprogramms – immer häufiger zu Spannungen und Friktionen. Überdies verlor das Gremium seine wissenschaftliche Monopolstellung, da in den sechziger Jahren zahlreiche neue Einrichtungen der DDR- und Osteuropaforschung entstanden. Viele Universitäten bauten die Forschungskapazität in diesem Bereich stark aus, zugleich wurden neue Einrichtungen wie das »Gesamtdeutsche Institut« in Bonn, die »Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen« in Berlin und das »Bundesinstitut für Ostwissenschaften« in Köln gegründet.47 In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre verlor die ursprüngliche Hauptfunktion des Forschungsbeirates – die Erarbeitung einer Wiedervereinigungsagenda – immer mehr an Bedeutung. Spätestens seit dem Regierungswechsel von 1966 ging man auch innerhalb des Gremiums »von einem zeitweiligen Nebeneinander der Bundesregierung und der ›DDR‹-Regierung« aus.48 Die Wiedervereinigung bzw. die Erstellung eines »Sofortprogramms für den Tag X« traten somit zunehmend gegenüber einer wissenschaftlichen Analyse der DDR in den Hintergrund.

46 Vgl. BAK, B 137-I/570: Min.rat Isenburg (BMF) an von Boeck (Mitglied des FB), 17.7.1961. 47 Buchholz, Osteuropaforschung. 48 BAK, B 137-I/4: Grundsätze für die Arbeit des Forschungsbeirates, 28.10.1967.

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2. Annäherung im Wandel? Die Konvergenzdebatte in den sechziger Jahren Die Neuorientierung der bundesdeutschen DDR-Forschung war auch eine Reaktion auf die veränderten internationalen Rahmenbedingungen und die langsam einsetzende Entspannung im Ost-West-Konflikt. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 bedeutete nicht nur eine tiefgreifende Zäsur in den innerdeutschen Beziehungen, sondern führte auch zu einer veränderten Wahrnehmung der DDR in der Bundesrepublik. Zum einen hatte sich das Bild der DDR als Unrechtsstaat, der seine Bevölkerung hinter Stacheldraht einsperrte, weiter verfestigt. Zum anderen schien die Möglichkeit einer baldigen Wiedervereinigung in weite Ferne gerückt. Obwohl weder die Bundesregierung noch die SPD offiziell von ihren Positionen abrückten, mehrten sich seit Anfang der sechziger Jahre Stimmen, die eine vorsichtige Revision in der Deutschland- und Ostpolitik anmahnten. Wenn Außenminister Gerhard Schröder von einer »Politik der Bewegung« sprach, so geschah das auch unter dem Eindruck der weltpolitischen Entspannung, die sich nach Beendigung der Kuba-Krise anbahnte.49 Präsident Kennedy hatte in seiner Washingtoner »Friedensrede« vom 10. Juni 1963 betont, dass die kommunistische Herrschaft nicht beseitigt, sondern verändert werden sollte. Dies könne nur durch eine Anerkennung des Status Quo und eine Überwindung der Ost-West-Spannungen geschehen.50 In eine ähnliche Richtung zielte Egon Bahrs berühmte Formel vom »Wandel durch Annäherung«, der die Vorstellung zugrunde lag, dass eine Verbesserung der Beziehungen zur DDR nur durch eine pragmatische Handhabung der deutschen Frage möglich sei. Symptomatisch für das sich verändernde Meinungsklima war das Buch des Journalisten Peter Bender, das 1964 unter dem Titel »Offensive Entspannung« erschien. Bender vertrat darin die Auffassung, in der DDR seien ähnliche politische und wirtschaftliche Reformen möglich, wie sie seit einiger Zeit in Polen und Ungarn zu beobachten waren. Dies setze aber voraus, dass sich die DDR nach innen stabilisiere, um die entsprechende Handlungsfreiheit gegenüber Moskau zu erhalten.51 Solche Hoffnungen wurden von der Ankündigung der DDR-Führung genährt, weitreichende Reformen im wirtschaftspolitischen Bereich durchzuführen. Im Sommer 1963 verkündete die DDR das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖSPL).52 Dahinter stand 49 50 51 52

Vgl. zu Schröders Außen- und Deutschlandpolitik Eibl; Oppelland, S. 419–684. Abgedr. in: Czempiel/Schweitzer, S. 277–283. Bender. Leptin.

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die Erkenntnis, dass das bestehende System einer straffen und detaillierten Wirtschaftslenkung nicht das erhoffte Produktivitätswachstum erbracht hatte. Immer wieder war die DDR-Führung in der Vergangenheit gezwungen gewesen, die unrealistischen Planziele nach unten zu korrigieren. Im Rahmen des NÖSPL sollte die staatswirtschaftliche Lenkung dezentralisiert und nur noch auf Eckdaten beschränkte Perspektivpläne aufgestellt werden.53 Ferner war vorgesehen, die direkte Produktionsplanung durch eine indirekte, finanzwirtschaftlich orientierte Lenkung zu ersetzen und Betrieben in bestimmten Wirtschaftsbereichen mehr Eigenverantwortung zu übertragen. Durch eine Industriepreisreform sollten privatwirtschaftliche Leistungsanreize simuliert und eine effizientere Allokation volkswirtschaftlicher Ressourcen gewährleistet werden. So war beabsichtigt, Löhne und Prämien stärker an den Leistungen der Beschäftigten auszurichten und den Gewinn als wichtigstes Kriterium für betrieblichen Erfolg heranzuziehen. Die wirtschaftspolitische Neuorientierung stand im Zusammenhang mit einer vorsichtigen innenpolitischen Reformdiskussion, mit der die Parteiführung die Intellektuellen an sich binden und deren gesellschaftliches und wissenschaftliches Innovationspotenzial mobilisieren wollte. Obwohl die wirtschaftlichen Reformen nur zögerlich umgesetzt wurden und sich schon 1965 ein Scheitern des NÖSPL abzeichnete, musste im westlichen Ausland der Eindruck entstehen, dass sich die DDR-Führung zumindest bemühte, das starre Korsett der Planwirtschaft aufzubrechen und einen langsamen Prozess der wirtschaftlichen Liberalisierung einzuleiten.54 An der Frage der Reformfähigkeit des sozialistischen Wirtschaftssystems hatte sich in den westlichen Ländern bereits in den fünfziger Jahren eine Debatte entzündet, die zunächst vor allem von amerikanischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern geführt wurde.55 Diese Debatte erhielt durch die Konvergenztheorie ihre spezifische Dynamik. Die meisten Spielarten dieser Theorie gingen von der Annahme aus, dass entwickelte Industriegesellschaften unabhängig von ihren politischen Systemen bestimmten wirtschaftlichen und technischen Problemen und Sachzwängen ausgesetzt waren, deren Bewältigung ähnliche Lösungen erforderte. Im Unterschied zur Totalitarismustheorie standen bei der Konvergenztheorie daher nicht die Analyse des politischen Systems, sondern von ökonomisch-technologischen Entwicklungen im Vordergrund. Allerdings handelte es sich weniger um eine explizit formulierte Theorie, sondern um ein eher diffuses Erklärungsmodell, das in verschiedenen Teildis53 Steiner, DDR-Wirtschaftsreform. 54 Vgl. für eine besonders optimistische Interpretation der DDR-Reformen die am »Center of International Studies« in Princeton angefertigte Studie von Smith; stärker abwägend Roskamp. 55 Vgl. Suranyi-Unger, S. 455.

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ziplinen der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Eingang fand. Dabei ging es nicht nur darum, ein besseres Instrument zur Analyse sozialistischer Gesellschaften bereitzustellen. Vielmehr sollte der marxistischen Theorie ein alternatives Makromodell zur Erklärung wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels gegenüber gestellt werden, das auch Prognosen über die Zukunft ermöglichte.56 Die Konvergenztheorie gewann seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den USA, Frankreich und England an Einfluss, während sie in der Bundesrepublik mit einer gewissen Verzögerung rezipiert wurde. Zu den frühesten Beiträgen gehörte das Buch »Russia and the United States«, welches der russisch-amerikanische Soziologe Pitrim A. Sorokin 1944 veröffentlichte.57 Sorokin wies auf strukturelle Annäherungsprozesse in beiden Gesellschaften hin, die sich auf insgesamt 12 Felder – u.a. Wirtschaftssystem, Wissenschaft und Technologie, aber auch Familienstruktur, Freizeitverhalten und Rechtssystem – erstreckten.58 Einer solchen umfassenden, alle gesellschaftlichen Bereiche einbeziehenden Konvergenzthese mochten sich freilich nur die wenigsten anschließen. Die meisten Untersuchungen konzentrierten sich auf wirtschaftliche und soziale Aspekte fortgeschrittener Industriegesellschaften und suchten konvergierende Elemente in der Entwicklung von Technologie, der Arbeitsorganisation oder der Managereliten. Außerordentlich einflussreich war die Interpretation des französischen Soziologen Raymond Aron, der fünf gemeinsame Merkmale kapitalistischer und sozialistischer Industriegesellschaften ausmachte (Trennung des Betriebes von der Familie, Arbeitsteilung, Kapitalakkumulation, Wirtschaftlichkeitsberechnung und Konzentration der Arbeitskräfte am Arbeitsort).59 In der ausgreifenden sozialwissenschaftlichen Literatur über die »industrielle Gesellschaft« war die vergleichende Perspektive von sozialistischer Planwirtschaft und kapitalistischer Marktwirtschaft zumindest implizit fast immer vorhanden. Dies galt etwa für Reinhard Bendix’ historisch-soziologische Untersuchung »Work and Authority in Industry«, James Burnhams Buch über das »Regime der Manager«, Fritz Sternbergs Reflektionen über »Die militärische und die industrielle Revolution«, Peter F. Druckers Analyse der »Gesellschaft am Fließband«, John Galbraith’ Werk »The Industrial State« oder Jean Fourastiés Prognosen über die »postindustrielle Gesellschaft«.60 Sie alle gingen – wenngleich mit sehr unterschiedlicher Akzentuierung – von der Eigengesetzlichkeit des technisch-industriellen Fortschritts aus, dem sich moderne Ge-

56 57 58 59 60

Vgl. Rudolph, Konvergenztheorien; Ludz, Konvergenz. Sorokin, Russia; ders., Convergence. Ders., Russia. Aron. Bendix; Burnham; Drucker; Sternberg; Fourastié; Galbraith.

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sellschaften unabhängig von ihren kulturellen Traditionen und herrschenden politischen Systemen nicht entziehen konnten. Auf ein starkes, wenn auch häufig kritisches Interesse stieß die Konvergenztheorie in den Wirtschaftswissenschaften, wo man am ehesten geneigt war, ökonomische Phänomene von politischen und ideologischen Rahmenbedingungen zu isolieren. Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften fühlten sich wiederum die Teildisziplinen besonders angesprochen, die vergleichende empirische Untersuchungen durchführten, wozu vor allem die Wirtschaftsgeschichte, die Entwicklungsökonomie und die Wachstumsforschung gehörten. Genannt werden muss hier vor allem Walt Rostows Buch »The Stages of Economic Growth«, das 1960 erschien und bald in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.61 Rostow entwickelte darin eine »dynamische« Theorie ökonomischer Entwicklung, wobei er fünf Phasen unterschied, die alle Gesellschaften früher oder später durchlaufen mussten: auf die Periode der traditionalen Gesellschaft folgten die Anlaufperiode, die Phase des wirtschaftlichen TakeOff, das Reifestadium und schließlich das Zeitalter des Massenkonsums. Rostow, der Wirtschaftsgeschichte am MIT unterrichtete, wollte mit seiner Stufeneinteilung nicht nur ein neues wachstumstheoretisches Modell entwickeln, sondern zugleich eine »Alternative zur Geschichtstheorie von Karl Marx« präsentieren.62 Besondere Aufmerksamkeit widmete Rostow dem Vergleich von wirtschaftlichen Prozessen in den USA und der UdSSR, wobei er sich auf den von G. Warren Nutter entwickelten Wachstumsindex der sowjetischen und amerikanischen Produktion sowie auf eigene Studien über die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion stützte.63 Rostow kam zu dem Ergebnis, dass sich der Wachstumsprozess der beiden Großmächte nicht prinzipiell unterscheide, sondern nur hinsichtlich des gerade durchlaufenen Stadiums. Ohne den abweichenden Eigentums- und Herrschaftsstrukturen größeres Gewicht beizumessen, prognostizierte er, dass die Sowjetunion in etwa drei Jahrzehnten das letzte Stadium erreichen und ihre Wirtschaft damit ähnliche Züge annehmen werde wie die der westlichen Industriestaaten. Für Rostow stand zu befürchten, dass die kommunistischen Länder den westlichen Entwicklungsvorsprung bald aufholen würden, schließlich waren die

61 Rostow, Stages. 62 Ebd., S. 2. 63 Ders., Dynamics; Nutter; Rostow hatte seine Untersuchung für das »Center for International Studies« am MIT verfasst. Zu ähnlichen Ergebnissen war auch der Ökonom und Agrarexperte Naum Jasny gekommen, Mitglied der Soviet Study Group an der Stanford University und Verfasser einer grundlegende Studie über die Landwirtschaft in der UdSSR (Jasny, Agriculture). Jasny war bis 1933 Mitarbeiter des Berliner »Instituts für Konjunkturforschung« gewesen. Seine Forschungen zum Wachstum der sowjetischen Wirtschaft stießen in der Bundesrepublik nach 1945 auf großes Interesse; vgl. ders., Zuwachsraten.

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Wachstumsraten in der Sowjetunion nach den Berechnungen Nutters fast doppelt so hoch wie in den USA.64 Die systemvergleichende Wachstums- und Modernisierungsforschung hatte in den fünfziger und sechziger Jahren Konjunktur, wie die einflussreichen Arbeiten von Cyril Zebot, Barrington Moore oder Alexander Gerschenkron zeigen.65 Vielfach wurde dabei auf analytische Konzepte rekurriert, die sich auf verschiedene Gesellschaftssysteme anwenden ließen. Dies galt etwa für den von Simon Kuznets geprägten Begriff des »modernen Wirtschaftswachstums«.66 Wie viele andere auch verzichtete Kuznets bewusst auf das Konzept des »industriellen Kapitalismus«, an dessen Stelle er den universalen Begriff des »industriellen Systems« setzte.67 Obwohl die Modernisierungs- und Wachstumstheorie häufig mit historischen Beispielen argumentierte, war ihr wissenschaftliches Interesse auf gegenwärtige Zustände ausgerichtet. Gerschenkron, der seit 1948 eine Professur für Wirtschaftsgeschichte in Harvard bekleidete, galt zugleich als einer der führenden Experten für die Sowjet-Ökonomie. Unter anderem legte er wichtige Berechnungen zum Wachstum der sowjetischen Industrieproduktion auf der Basis von US-Dollarpreisen vor.68 Rostow wiederum verband seine vergleichenden Wachstumsanalysen mit dem Appell an die amerikanische Regierung, das heimische Wachstum durch staatliche Investitionen in Wissenschaft und Technologie zu fördern. Seiner Auffassung nach war der Anteil der öffentlichen Ausgaben am Sozialprodukt in den westlichen Industriestaaten viel zu gering, um ein optimales Wachstum zu erzielen.69 Die »sowjetische Herausforderung«, so Rostow 1960, zwinge die Vereinigten Staaten und die übrigen Industrieländer des Westens zu raschem Handeln, da »zwischen heute und 1970 ... die Entscheidung fallen« werde.70 Wenn Moore, Rostow oder Gerschenkron auf Parallelen in der Entwicklung industrialisierter Gesellschaften hinwiesen, so waren sie doch skeptisch, ob sich der Systemgegensatz zwischen den Blöcken und ihren Gesellschaftsordnungen auflösen werde. Die Transformationsfähigkeit des kommunistischen Systems in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft hielten sie für gering, so dass sie eine Verschärfung des Systemwettbewerbs erwarteten. 64 Vgl. mit ähnlichen Ergebnissen: Joint Economic Committee, Congress of the United States, Comparison of the United States and Soviet Economies. Papers Submitted by Panelists Appearing before the Subcommittee on Economic Statistics, Part I-III, Washington 1959. 65 Zebot; Moore; Gerschenkron, Backwardness. 66 Kuznets, Modern Economic Growth, S. 488; vgl. auch ders., Postwar Economic Growth; ders., Economic Growth and Structure. 67 Auch in der Bundesrepublik gewann der Begriff des »industriellen Systems« bzw. der »industriellen Gesellschaft« stark an Bedeutung; vgl. z.B. Hoffmann, Dynamik. 68 Gerschenkron, Soviet Indices; ders., Dollar Index. 69 Vgl. auch seine rückblickende Analyse in Rostow, Concept (v.a. Kap. 3–5). 70 Ders., Herausforderung, S. 348.

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Sehr viel optimistischer sah dies hingegen der niederländische Wirtschaftswissenschaftler Jan Tinbergen, Professor für Entwicklungsplanung an der Universität Rotterdam und seit 1945 Direktor des Nationalen Planungsbüros in Den Haag. Seiner Auffassung nach waren planwirtschaftliche und marktwirtschaftliche Ökonomien gleichermaßen damit beschäftigt, »bei einer möglichst gleichmäßigen Einkommensverteilung ... den Volkswohlstand zu maximieren«.71 Tinbergen erkannte jedoch nicht nur eine Annäherung der Ziele, sondern auch der wirtschaftspolitischen Instrumente. Dies implizierte seiner Meinung nach tiefgreifende Veränderungen auch in den westlichen Industriestaaten, etwa durch die Ausweitung des öffentlichen Sektors und einer zunehmenden staatlichen Steuerung der Wirtschaft.72 Nach Tinbergen gab es ein wohlfahrtstheoretisch bestimmbares »Optimum der Wirtschaftsorganisation«, das »eine Mischform von zentralisierten und dezentralisierten Entscheidungen darstellt«.73 In der Bestimmung dieses Optimums könne der Westen von der mathematisch orientierten Nationalökonomie der sozialistischen Staaten durchaus lernen, etwa im Bereich der linearen Programmierung mit ihren aufwändigen mathematischen Modellen.74 Auf der anderen Seite zeichne sich im Osten die Tendenz ab, wirtschaftliche Entscheidungsprozesse zu dezentralisieren und Knappheitsindikatoren wie Preise und Zinsen einzuführen. Die Unterschiede zwischen den Wirtschaftssystemen erschienen aus dieser Perspektive nur noch graduell zu sein. Ebenso hielt Tinbergen die Unterscheidung zwischen einer sozialistischen und einer kapitalistischen Wirtschaftstheorie für hinfällig, schließlich gebe es »für West und Ost auch nur eine Physik«.75 In der Bundesrepublik wurde die Konvergenzthese zunächst sehr viel kritischer diskutiert als in den USA, Großbritannien oder Frankreich. Das hing zum einen mit dem Einfluss der Totalitarismustheorie in den fünfziger Jahren zusammen, die mit der These eines langsamen Zusammenwachsens von Kapitalismus und Sozialismus kaum zu vereinbaren war.76 Zum anderen standen die Theoretiker der Freiburger Schule mit ihrem eher statischen Begriff der Wirtschaftsordnung konvergenztheoretischen Ansätzen äußerst kritisch gegenüber. Bereits in den zwanziger Jahren hatte Ludwig Mises die These aufgestellt, dass zentral gesteuerte Planwirtschaft und freie Marktwirtschaft unvereinbar seien.77 Eine »gemischte Wirtschaft« hielt von Mises für nicht 71 Tinbergen, Rolle, S. 48. 72 Ders., Modelle. 73 Ders., Tendenzen. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 62. 76 Auch in den USA gehörten Anhänger der Totalitarismustheorie wie Zbigniew Brzezinski und Samuel Huntington zu den schärfsten Kritikern des Konvergenzansatzes; vgl. Brzezinski/ Huntington. 77 Mises, Liberalismus; ders., Kritik.

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überlebensfähig, da sich die dirigistischen Elemente langfristig durchsetzen würden. »Marktwirtschaft und Planwirtschaft, Kapitalismus und Sozialismus ... sind gedanklich leicht und scharf auseinander zu halten. Jedes dieser beiden Systeme arbeitsteiliger Wirtschaft ist klar umschrieben. Von dem einen führt kein Übergang zum anderen, es gibt zwischen ihnen keine Vermischung.«78 Diese Dichotomie prägte das Denken der ordoliberalen Theoretiker in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.79 Walter Eucken erweiterte das ursprünglich auf den wirtschaftlichen Bereich begrenzte Gedankenmodell, indem er von einer »Interdependenz der Ordnungen« sprach. Demnach waren Wirtschaft und Politik keineswegs autonome Sphären, sondern eng miteinander verzahnt.80 Es sei unmöglich, so Eucken, dass eine Gesellschaft im wirtschaftlichen Bereich andere Ordnungskonzepte verfolge als in der Politik. Pluralistische Demokratie und freie Verkehrswirtschaft bildeten für Eucken daher ebenso eine Einheit wie zentralistische Planwirtschaft und sozialistische Einparteienherrschaft.81 Mit dem Bedeutungsverlust ordoliberaler Ideen seit Mitte der fünfziger Jahre schwächte sich jedoch auch der Widerstand gegen konvergenztheoretische Argumentationen ab. Nicht nur die internationale Literatur wurde nun breit rezipiert.82 Auch westdeutsche Publizisten und Wissenschaftler begannen, sich mit der Konvergenzthese zu befassen, die selbst von ihren Gegnern als eine der »einflußreichsten Ideen unserer Zeit« betrachtet wurde.83 Sogar solche Autoren, die sich auf die Traditionen der Freiburger Schule beriefen, konnten sich diesem Trend nicht vollkommen entziehen. Prominentes Beispiel war der Eucken-Schüler K. Paul Hensel, Professor für Volkswirtschaftslehre und Leiter der Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme an der Universität Marburg.84 Noch 1960 hielt Hensel jegliche Ähnlichkeit zwischen kapitalistischen und sozialistischen Wirtschaftssystemen »aus morphologischen Gründen« für undenkbar85 – eine Vorstellung, die auch vom Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung geteilt wurde, dem Hensel seit seiner Gründung angehörte. Doch wenige Jahre später kam er 78 Ders., Nationalökonomie, S. 646. 79 Vgl. z.B. Röpke, Gesellschaftskrisis. 80 Eucken, Grundsätze, S. 180–185. 81 Anders dagegen Beckerath, Interpretation, der das Totalitäre vor allem im ideologischen Bereich suchte, während er in Bezug auf die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen durchaus Gemeinsamkeiten zwischen »Osten und Westen« sah (vgl. ebd. S. 248). 82 Die meisten englischen und französischen Bücher wurden ins Deutsche übersetzt; zur Rezeption der Konvergenztheorien in der Bundesrepublik vgl. Becker; Ludz, Konvergenz; Krockow, Ost-West-Konvergenz. 83 Knirsch, Beiträge; vgl. auch Hofmann, Sowjetwirtschaft; Kopp. 84 Bing, Hensel. 85 Hensel, Strukturgegensätze; vgl. auch die von Hensel betreute Dissertationen von Steinisch u. Bosch.

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zu einem deutlich differenzierteren Urteil.86 Zwar hielt er nach wie vor an einer ordnungspolitischen Unvereinbarkeit beider Systeme fest, verkannte jedoch nicht, dass es in den Staaten des Ostblocks Ansätze wirtschaftlicher Liberalisierung und Dezentralisierung gebe, während die prozesspolitische Planung in den westlichen Ländern ausgebaut werde. Auch Karl-C. Thalheim, wie Hensel Mitglied des Forschungsbeirates und ursprünglich ein scharfer Kritiker der Konvergenztheorie, konstatierte Ende der sechziger Jahre »in bestimmten Systemelementen« eine Annäherung, so dass »die Trennschärfe der Systeme heute nicht mehr so deutlich erkennbar ist, wie das 1953 der Fall war.«87 Zu größeren Zugeständnissen an die Konvergenzthese waren freilich weder Thalheim noch die übrigen Mitglieder des Forschungsbeirates bereit. Als man 1965 eine Tagung unter dem Rahmenthema »Der Osten auf dem Weg zur Marktwirtschaft?« durchführte, herrschte ein ausgesprochen skeptisches Bild vor – keiner der Vortragenden traute den sozialistischen Staaten eine durchgreifende Reform in Richtung Marktwirtschaft zu.88 Außerhalb des Forschungsbeirates fanden Konvergenzideen hingegen zunehmend Anklang. So prognostizierte der Münsteraner Finanzwissenschaftler Andreas Predöhl in seinem 1962 erschienenen Buch »Das Ende der Weltwirtschaftskrise« ein Konvergieren der Systeme als Ergebnis eines langsamen, mit der Depression der dreißiger Jahre einsetzenden Wandlungsprozesses.89 »Wir werden etwas sozialistischer, und die Sozialisten wandeln sich in unsere Richtung.«90 Predöhls Feststellung bezog sich freilich vor allem auf die westlichen Industrieländer, in denen er eine Aufhebung des Wettbewerbsprinzips durch wirtschaftliche Konzentration sowie eine allgemeine volkswirtschaftliche Gesamtplanung entstehen sah. Mit einem wachstums- und entwicklungstheoretischen Ansatz argumentierte Erik Boettcher, der sich 1959 in Hamburg mit einer Studie über die »Sowjetische Wirtschaftspolitik am Scheideweg« habilitiert hatte und seit 1964 wie Predöhl in Münster lehrte.91 Boettcher entwickelte eine Phasentheorie, die auf der Unterscheidung von intensivem und extensivem Wachstum beruhte. Während das (extensive) Wachstum in der Vor- und Frühindustrialisierung vor allem auf dem Zustrom von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft basiere, werde Wachstum in fortgeschrittenen Industriestaaten überwiegend durch eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität erreicht (intensives Wachstum). Boettcher hielt dieses Phasenmodell für universal gültig, woraus er 86 87 88 89 90 91

Hensel, Annäherung. Ders., Konvergenz, S. 90; vgl. auch ders., Merkmale. Vgl. den Tagungsband Gleitze u.a., Osten. Predöhl, Ende. Ders., Rolle, S. 44. Boettcher, Sowjetische Wirtschaftspolitik.

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schloss, dass »parallele strukturelle Entwicklungen in Wirtschaftsordnungen entgegengesetzten Typs möglich sind«.92 Während der industrialisierte Westen die erste Phase allerdings längst abgeschlossen habe, befänden sich die Sowjetunion und die meisten osteuropäischen Länder noch im Übergang zur zweiten Phase.93 Entscheidend war für Boettcher, dass sich die sozialistischen Staaten gezwungen sähen, ihre Wirtschaftspolitik grundlegend zu verändern, da die Arbeitskräfte in der Phase intensiven Wachstums besser ausgebildet seien, nach Mobilität strebten und einen höheren Lebensstandard beanspruchten. Betriebliche Rationalisierung, neue Konsumwünsche und eine höhere Verantwortlichkeit der Beschäftigten würden dazu führen, dass sich die dortigen Regierungen in Zukunft auf die Erstellung von Rahmenplänen beschränken würden, ohne Einfluss auf einzelwirtschaftliche Entscheidungen zu nehmen.94 Die in den Ostblock-Staaten geführten Reformdebatten der sechziger Jahre nahm Boettcher als Bestätigung seiner Thesen. Er hielt den Einfluss der »Planungstechniken des Westens« auf die Wirtschaftspolitik in den OstblockStaaten für »unübersehbar«.95 Boettcher bezog sich vor allem auf die InputOutput-Analyse und die lineare Programmierung, die nach seiner Auffassung die zukünftige Reformentwicklung maßgeblich bestimmen würden.96 Ganz ähnlich sah das auch Wilhelm Krelle, der fest davon überzeugt war, dass »eine Annäherung in der Logik der Dinge liegt und kommen wird.« Schon bald werde es nur noch graduelle Unterschiede zwischen den industrialisierten Volkswirtschaften in West und Ost geben. Wie Tinbergen erkannte er darin das Ergebnis eines theoretisch begründbaren Optimierungsprozesses, der gleichsam automatisch zu einer Konvergenz der Systeme führen werde. Darin, so Krelle, liege die »Hoffung für unsere gespaltene Welt«.97 Noch einen Schritt weiter ging Rolf Krengel, Leiter der Abteilung »Auslandswirtschaft Ost« am DIW. Er konstatierte vor der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute im Juni 1961 »überraschende Ähnlichkeiten« in der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion seit dem Zweiten Weltkrieg.98 Bei fast allen Indikatoren – Wachstumsrate, Investitionsquote, Kapital- und Arbeitsproduktivität, Beschäftigungsstruktur und Konsumquote – erkannte er große Übereinstimmungen. Krengel führte dies einerseits auf ähnliche Aus92 Ders., Phasentheorie, S. 30. 93 Diese Überlegungen deckten sich mit den Studien von Bruno Kiesewetter (DIW), der 1956 die These vertrat, dass die Sowjetunion vor einer »zweiten industriellen Revolution« stehe und den Übergang vom extensiven zum intensiven Wachstum bewältigen müsse. Kiesewetter, S. 222. 94 Boettcher, Sowjetische Wirtschaftspolitik, S. 255ff. 95 Ders., Planung, S. 479. 96 Vgl. ebd. sowie ders., Wirtschaftsplanung; ders., Beiträge. 97 Krelle, Wirtschaftsplanung, S. 65; Salin, Planung, S. 83. 98 Krengel, Ähnlichkeiten, S. 34.

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gangsbedingungen nach 1945 (z.B. den hohen Zerstörungsgrad) zurück, andererseits auf die ehrgeizigen Wachstumsziele, die die Regierungen beider Länder verfolgt hätten.99 Die Äußerungen Krengels besaßen Anfang der sechziger Jahre Gewicht, weil sie nicht auf bloßen Spekulationen beruhten, sondern sich auf mehrere, am DIW durchgeführte Studien zur Sowjetunion stützten, die sowohl das gesamtwirtschaftliche Wachstum als auch sektorale Entwicklungen in den Blick nahmen.100 Es waren nüchterne Zahlenwerke, welche ganz auf strukturelle Entwicklungen abgestellt waren und bewusst auf politische Bewertungen verzichteten. Auch wenn sie nicht explizit auf Konvergenztheorien Bezug nahmen, ließen sie sich als empirische Bestätigung dieser Ansätze verstehen. Zu den statistisch gestützten Wachstums- und Entwicklungsprognosen traten sozialwissenschaftliche Studien und Zukunftsentwürfe, die nicht selten von einem utopischen Grundtenor durchzogen waren. Wirtschaftssoziologische Prozesse nahm etwa Salin in den Blick, als er 1961 von einem unaufhaltsamen Prozess der wirtschaftlichen Konzentration in fortgeschrittenen Industriegesellschaften sprach. Salin knüpfte an Max Webers Theorie der rationalen Bürokratisierung an, indem er die Entstehung von Großkonzernen mit einer zunehmenden »Verbeamtung« und »Verapparatung« der Unternehmen in Verbindung brachte. Die »Unentrinnbarkeit der Konzentration« ließ sich seiner Auffassung nach nur dann richtig verstehen, »wenn man sie einerseits als Handlung und Leistung des bürgerlichen Kapitalismus erfaßt und andererseits als Begleiterscheinung und Folge des technischen Fortschritts, der sich im kommunistischen nicht anders als im kapitalistischen Raum vollzieht.«101 Der eigentümlichen Faszination, welche die Konvergenztheorie für viele prominente Wissenschaftler und Intellektuelle in den sechziger Jahren besaß, erlag auch der namhafte Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker: »Moderne Industriegesellschaften, wie einerseits die atlantischen Nationen, andererseits die Sowjetunion werden einander unmerklich ähnlicher; dies geschieht unter der Decke widerstreitender Ideologien und echter Gegensätze politischer Gewohnheit und politischen Gefühls.« Wenngleich Weizsäcker in der Konvergenz eine wichtige »Bedingung des Friedens« – so lautete der Titel seines Vortrages, den er 1963 in der Frankfurter Paulskirche hielt – sah, war sein Zukunftsbild ambivalent, da sich für die westlichen Gesellschaften dramatische Veränderungen ergäben, welche zwangsläufig zu einer Einschränkung individueller Freiheit und Verantwortung führen würden: »Die technischen Not99 Ebd., S. 47; Krengel hielt den Lebensstandard in der Sowjetunion sogar für höher als in manchen westeuropäischen Staaten wie z.B. Spanien oder Griechenland. Trotz aller »Schwächen und Einzelfehler« verfolge die Sowjetunion eine »durchaus dynamische Politik« (ebd., S. 48). 100 Vgl. z.B. Eisendrath; Rochlin. 101 Salin, Aspekte, S. 16f. u. 44.

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wendigkeiten erzwingen ein weitgehend geplantes Leben, und mit oft kaum erkennbarem Zwang, mit ökonomischem Druck und der Verlockung des Lebensstandards werden die Menschen dem Plan eingefügt.«102 Solche visionären Zukunftsentwürfe stießen freilich auch auf Skepsis,103 und es waren gerade Historiker bzw. historisch geschulte Ökonomen wie Knut Borchardt, die zu einer nüchternen Analyse mahnten. So warnte Borchardt, der 1968 auf dem Deutschen Soziologentag über diese Thematik sprach, vor voreiligen »Großprognosen von Systemen«.104 Trotz berechtigter methodischer Zweifel an der Tragfähigkeit des Konvergenzbegriffs erkannte aber auch Borchardt, dass angesichts des wachstumspolitischen Imperativs sozialistische und marktwirtschaftlich verfasste Staaten vor ähnliche Aufgaben und Probleme gestellt seien. Dieser Sachverhalt habe sich durch die Systemkonkurrenz noch zusätzlich verschärft. Daher war für Borchardt »Wachstum auch im kapitalistischen System zur politischen Steuerungsvariablen« geworden.«105 Ähnlich argumentierte auch Egon Tuchtfeldt, der davor warnte, äußerliche Ähnlichkeiten als Beweis für fundamentale Annäherungsprozesse zu bewerten.106 Die Liberalisierungstendenzen in den osteuropäischen Staaten bewertete er als ein systemimmanentes Instrument zur Verbesserung wirtschaftlicher Produktionsergebnisse, nicht jedoch als eine Annäherung an marktwirtschaftliche Prinzipien. Auch die Zunahme staatlicher Planungstätigkeit im Westen entsprach seiner Auffassung nach in erster Linie den Erfordernissen der eigenen Situation. »Was wir diesbezüglich in den westlichen Ländern als Annäherungstendenzen an den Osten feststellen, ist Ausdruck der pluralistischen Kräfte in Gesellschaft und Staat, die in der Wirtschaftspolitik ihren Niederschlag finden.«107

3. Politik ohne Ideologie. Kybernetik, Systemtheorie und Planungssteuerung in Ost und West Die These einer umfassenden, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassenden Ost-West-Konvergenz blieb unter westdeutschen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern umstritten.108 Allerdings bezweifelte kaum jemand, 102 C. Fr. v. Weizsäcker, Bedingungen des Friedens, in: Das Parlament, 16.10.1963, S. 9. 103 Wiles; Knirsch, Bemerkungen, S. 32f.; Seidl. 104 Borchardt, Theorie, S. 44; ähnlich wie Borchardt waren die meisten Historiker skeptisch gegenüber den Möglichkeiten einer umfassenden ökonomischen Konvergenz; vgl. z.B. Boelcke. 105 Borchardt, Theorie, S. 46f. 106 Tuchtfeldt, Konvergenz. 107 Ebd., S. 56; ähnlich Weber, Problematik, S. 161f. 108 Vgl. auch Schefold, Nachklang, S. 55.

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dass moderne Industriegesellschaften unabhängig von ihrer politischen und wirtschaftlichen Ordnung mit komplexen Steuerungsproblemen konfrontiert waren, die sachbezogene Lösungen durch Experten und »Funktionseliten« in Staat, Wissenschaft und Wirtschaft erforderten. Die Eigendynamik des technisch-wissenschaftlichen Wandels und das Vordringen eines technokratischen Politikmodells wurde bereits in den fünfziger Jahren von einer Reihe von Soziologen mit zum Teil kulturkritischem Unterton beschrieben, so etwa von Hans Freyer, Arnold Gehlen oder Helmut Schelsky.109 Von einer ganz anderen Warte hatte James Burnham bereits 1948 ein »Regime der Manager« prognostiziert, und in eine ähnliche Richtung zielte Galbraiths’ Schlagwort von den »technostructures«, das auf die wachsende Rolle von betriebswirtschaftlichem Management und technischer Intelligenz verwies. Dabei schien es erwiesen, dass die »Rebellion der Tatsachen«110 auch die sozialistischen Staaten des Ostblocks zu einschneidenden Veränderungen veranlassen würde, an deren Ende ein neues, technokratisches Politikmodell stünde. Georg Paloczi-Horvath hielt es für ausgemacht, dass in der »kommunistischen Welt der Marxismus-Leninismus einer neuen Wissenschaft weichen muss, nämlich der Kybernetik als der theoretischen Anweisung und allgemeinen Methode des Regierens, des wirtschaftlichen Planens und der industriellen Produktion. Das bedeutet, dass das Sowjetsystem sich in seinem Wesen ändert.«111 Ernst Richert sprach von einer »lautlosen Revolution«, welche die Gesellschaften in Ost und West gleichermaßen erfasst habe: »Die Ideologien beider Seiten sind verbraucht. Sie waren gut für die Initialphase der bürgerlichen wie der östlich-sozialistischen Gesellschaft. Verbraucht sind auch die Normen, Institutionen und tragenden Schichten oder Gruppen, die den Prozeß einleiteten. Dank ihrem Erfolg müssen beide die Federführung an die Sachzwänge, die die entfesselte Technik selbst stellt, abgeben.«112 Nicht selten wurde dabei die These vertreten, dass gerade die Systemkonkurrenz beide Seiten dazu zwinge, in einen »Wettkampf der Planungen«113 zu treten, in dessen Rahmen sich ähnliche funktionalistische Politik- und Leitungsstrukturen herausbildeten. Schon 1951 hatte Albert Wissler darauf hingewiesen, dass Staaten wie die Bundesrepublik, die unmittelbar vor dem »Eisernen Vorhang« lägen, einem besonders hohen Veränderungsdruck ausgesetzt seien. Werde einerseits »in den Grenzländern der Widerspruch der beiden Systeme doppelt und dreifach scharf empfunden«, müsse man sich andererseits viel intensiver mit den Veränderungen jenseits des »Eisernen Vorhangs« befas109 Freyer; Gehlen; Schelsky; vgl. auch Nolte, S. 273–318. 110 Paloczi-Horvath; vgl. dazu G. Kertzscher, Rebellion der Tatsachen – gegen wen?, in: Neues Deutschland, 28.3.1964, S. 3. 111 Paloczi-Horvath, S. 7; vgl. mit ähnlicher Argumentation Buchholz, Transformation. 112 Vgl. Richert, S. 382. 113 Vgl. Jungk/Mundt.

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sen: »Die Grenzlandproblematik schärft den Blick für die wirtschaftlichen Aufgaben, die drüben heute und in Zukunft gestellt sind, und die in erster Linie auch Investitionsaufgaben ungewöhnlichen Ausmaßes darstellen. Eine undogmatische Grenzlandwirtschaftspolitik ist somit nicht nur eine Wirtschaftspolitik der betonten wirtschaftlichen Stärke und des betonten Selbstvertrauens, sondern vielleicht sogar der Verständigung; auf jeden Fall aber ist sie ausgerichtet auf die erstrebte Einheit der Wirtschaft unserer ganzen Erde und ihre weitgesteckten Entwicklungsziele.«114 Dieser Gedanke findet sich auch in dem viel beachteten Buch »Der Wettlauf zum Jahre 2000« wieder, das Fritz Baade 1960 veröffentlichte.115 Es war die Verbindung von weltwirtschaftlicher Analyse und globaler Gesellschaftsutopie, welche das Werk des christlichen Sozialisten Baade weit über Fachkreise hinaus bekannt machte.116 Baades Prognose, dass »sich das Schwergewicht der Welt nicht nur in der Menschenzahl, sondern auch im Wirtschaftspotenzial auf die östliche Welt verlagern wird«,117 wurde durch umfassendes Zahlenwerk belegt und schien kaum anfechtbar. Doch der tiefe Pessimismus, der etwa Otto A. Friedrichs Weltanalyse aus dem Jahre 1956 prägte, war bei Baade einer geradezu chiliastischen Zukunftshoffnung gewichen. Baade betrachtete die Systemkonkurrenz nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance für die westlichen Demokratien, sich ihrer Verantwortung für die Zukunft der Erde bewusst zu werden und diese aktiv zu gestalten. Dies erfordere aber nicht nur die Vision einer friedlich koexistierenden Weltgemeinschaft, sondern auch den Einsatz umfassender und weit in die Zukunft reichender Planungstechniken, die freilich – anders als in den kommunistischen Regimes – demokratisch legitimiert sein müssten. Noch einen Schritt weiter ging Christian Graf Krockow in seiner 1962 veröffentlichten »Soziologie des Friedens«. Es sei, so Krockow, »ausgerechnet ihre Rivalität, die die Gegner noch mehr aufeinander zutreibt, als dies ohnehin in der Konsequenz der beiderseitigen Entwicklungen läge. Denn die Konkurrenz zwingt zum sachgerechten Verfahren, zur Annahme der ›technischen‹, jeweils wirksamsten Lösung ohne Rücksicht auf herrschende Ideologien.«118 Der französische Germanist Pierre Bertaux hielt dies sogar für eine bewusste Entscheidung. »Die psychologischen Berater der beiden Lager«, so Bertaux, hielten es für notwendig, »das Stimulans einer Konkurrenzsituation als sportliche Fiktion aufrechtzuerhalten.«119 114 Vortrag Wisslers auf dem Weltwirtschaftstag am 9.10.1951 in Berlin; abgedruckt in Wissler, Hauptprobleme (Zitate S. 44 u. 54). 115 Baade, Wettlauf. 116 Das Buch erschien noch im gleichen Jahr in zweiter Auflage und wurde 1962 ins Englische übersetzt: ders., Race. 117 Ders., Wettlauf, S. 17. 118 Krockow, Soziologie, S. 177. 119 Bertaux, Denkmaschinen, S. 81.

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Die These der Entideologisierung prägte auch die in den sechziger Jahren stark expandierende DDR-Forschung. So konstatierte Peter Christian Ludz in seiner 1968 erschienenen Untersuchung zur DDR-Parteielite einen Generationswechsel, der jüngeren, pragmatisch orientierten Funktionären mit wissenschaftlich-technischer Ausbildung größeren Einfluss verschafft habe.120 Ludz prognostizierte, dass sich die SED von einem »Deklamations- und Akklamationsorgan zu einem Koordinations-, Transformations- und Konsultationsgremium« gewandelt habe. Er sprach in diesem Zusammenhang von einem »konsultativen Autoritarismus«, der an die Stelle der diktatorischen Einparteiherrschaft treten werde. Der vielfach proklamierte Bedeutungsverlust politischer Ideologien entsprach dem Strukturfunktionalismus, der in den westlichen Sozialwissenschaften in den sechziger Jahren zur dominanten Strömung wurde und der auch den Blick auf die staatssozialistischen Systeme des Ostblocks prägte. Doch wäre es zu kurz gegriffen, den Wandel des bundesdeutschen DDR-Bildes allein auf die veränderten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Sozialwissenschaftler zurückzuführen. Vielmehr gab es aus der Perspektive jener Jahre durchaus Anhaltspunkte für tiefgreifende Umwälzungen und Veränderungen in den sozialistischen Ländern. Die unter Ulbricht eingeleiteten wirtschaftlichen Reformen zielten nicht nur auf eine Steigerung der Produktivität durch mehr Wirtschaftlichkeit und eine kontrollierte Dezentralisierung. Zugleich sollten sie der »wissenschaftlich-technischen Revolution« zum Durchbruch verhelfen, die von der DDR-Führung als zentrale Herausforderung begriffen wurde.121 Die Förderung innovativer Schlüsseltechnologien und wissenschaftlicher Großforschung trat in den Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Planung, nachdem sich bereits Mitte der sechziger Jahre ein Scheitern des NÖSPL abgezeichnet hatte.122 Mit der Verkündung des »Ökonomischen Systems des Sozialismus« wurde dem technologischen Strukturwandel höchste Priorität zugemessen. Staatliche Investitionen sollten nun ganz auf »strukturbestimmende Aufgabenkomplexe für Wissenschaft und Technik« konzentriert werden,123 zu denen man vor allem bestimmte Bereiche der Chemieindustrie, des Werkzeug- und Anlagenbaus sowie die Computertechnologie zählte. Hintergrund war der nach wie vor bestehende technologische Rückstand gegenüber den westlichen Industriestaaten, der angesichts der wenige Jahre zuvor großspurig verkündeten Absicht, die Bundesrepublik wirtschaftlich zu überholen, als besonders schwerer Schlag empfunden wurde.124 120 121 122 123 124

Ludz, Parteielite. Buchholz, Revolution. Vgl. Seidler. So der Beschluss vom 26.6.1968, zit. n. Steiner, Hauptaufgabe, S. 233. Laitko; vgl. auch Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft – ein neues Konzept.

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Unterstützt werden sollte die Wissenschafts- und Technologieoffensive durch neue Planungs- und Prognosemethoden, mit denen sich die komplexen Aufgaben der volkswirtschaftlichen Ressourcensteuerung bewältigen ließen und die zugleich flexibel genug waren, um kurzfristig auf Veränderungen von Planungsparametern oder Störungen von außen zu reagieren.125 Dabei wurde auch auf westliche Planungs- und Steuerungsmethoden zurückgegriffen, wobei insbesondere die Regelungs- und Informationstechnik, die Systemtheorie und die betriebswirtschaftliche »Operation Research« hervorstachen. Zunehmend rezipiert wurde ferner die Kybernetik als eine Art Metatheorie zur Regelung, Steuerung und Kontrolle von dynamischen Systemen.126 Begründet von den amerikanischen Mathematikern Norbert Wiener und Claude Shannon, war die Kybernetik in der Sowjetunion zunächst als »reaktionäre Pseudowissenschaft« abgelehnt worden, ehe sie seit Mitte der fünfziger Jahre von sowjetischen Wissenschaftlern in Teilen übernommen wurde. In der DDR setzte die Rezeption der Kybernetik nur zögerlich ein und beschränkte sich auf wenige Technologiesegmente wie die Nachrichtentechnik, bevor sie Anfang der sechziger Jahre unter dem Einfluss des Philosophen Georg Klaus für mit dem Marxismus vereinbar erklärt wurde.127 Verschiedene Wissenschaftsdisziplinen – insbesondere die Biologie, Ingenieurwissenschaften und Mathematik, aber auch Psychologie und Pädagogik – griffen diesen Ansatz nun bereitwillig auf.128 Darüber hinaus sollte die Kybernetik für die Steuerung komplexer Produktionsverfahren in der Industrie und für eine Rationalisierung der Verwaltung nutzbar gemacht werden. Man sprach von »einer schrittweisen Automatisierung der mit der Planung und Kontrolle des sozialistischen Reproduktionsprozesses verbundenen Tätigkeiten«.129 Optimierungsprobleme bei der Zuteilung von Ressourcen, bei der Organisation von Transport und Lagerverwaltung schienen dadurch ebenso lösbar wie die Erstellung komplexer Wirtschaftspläne mit Hilfe von mathematischen Zielfunktionen, linearer Programmierung und dynamischer Systeme, wenngleich man zugab, dass »die Konstruktion dynamischer Modelle der sozialistisch erweiterten Reproduktion und die dynamische Planung noch weiterer langjähriger theoretischer Studien bedürfen«.130 In der Tat beschränkte man sich zunächst darauf, die relativ primitiven volkswirtschaftlichen »Verflechtungsbilanzen«, die der Berliner Ökonom Johannes Rudolph 1959 erstmals erstellt hatte, zu verbessern und weiterzuentwickeln.131 125 126 127 128 129 130 131

Zur Planungsdiskussion in der DDR vgl. umfassend Caldwell. Flechtner, Segal; vgl. auch Schmidt-Gernig. Klaus. Haufe. Behr, S. 76. Ebd., S. 79. Rudolph, Verflechtungsbilanzen; ders., Kybernetik.

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Die »kybernetische Revolution« war in der DDR nur von kurzer Dauer: Bereits 1969 geriet diese Theorie zunehmend in die Kritik, und seit dem Machtantritt Honeckers 1971 wurde sie strikt auf anwendungsbezogene Bereiche wie Automation, EDV und Regelungstechnik beschränkt. Aus der Perspektive der sechziger Jahre war diese Entwicklung jedoch nicht abzusehen. Vielmehr musste für Beobachter aus dem Westen der Eindruck entstehen, dass mit der Kybernetik eine systemübergreifende Theorie zur Rationalisierung und Steuerung aller gesellschaftlichen Vorgänge gefunden worden war.132 Wenn etwa in den westlichen Finanzwissenschaften über die Einführung von kybernetischen Regelsystemen zur Konjunkturpolitik diskutiert wurde, so schien man auf die gleichen Modelle zurückzugreifen wie die sozialistischen Wirtschaftsführer in der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten.133 In der Bundesrepublik verfolgte man die Rezeption von Systemtheorie und Kybernetik durch die DDR mit großer Aufmerksamkeit.134 Dies galt vor allem für Systemwissenschaftler wie etwa Adolf Adam, der davon ausging, dass mit der Kybernetik und Systemtheorie eine »tunlichst symptomfreie wissenschaftliche ›Sprache‹ heranwächst«, die im Westen wie im Osten gleichermaßen verstanden würde.135 Nach Auffassung des an der TU Darmstadt lehrenden Ökonomen Gerhard Kade besaß jede »rationale Wirtschaftspolitik die Struktur eines Programms«, dessen Optimierung in erster Linie ein »Informations- und Kommunikationsproblem« darstelle. Kade, bis 1966 Abteilungsleiter am DIW in Berlin, hielt die »Frage nach effizienten Lenkungsmechanismen« in kapitalistischen wie sozialistischen Staaten für ein ausschließlich »technisches Problem«, das ähnliche Lösungsstrategien erfordere.136 Seine Untersuchungen über die Organisationsprobleme in der DDR und der Sowjetunion dienten daher keineswegs nur zur Information der westlichen DDR-Forschung, sondern verstanden sich ausdrücklich als ein Beitrag, die dortigen Schwierigkeiten mit Hilfe von kybernetischen und graphentheoretischen Analysetechniken zu bewältigen.137 132 Mit Blick auf kybernetische Planungstechniken ging Bertaux bereits 1964 davon aus, dass die »Debatte zwischen sogenanntem Kapitalismus und sogenanntem Kommunismus ... überholt« sei; Bertaux, Denkmaschinen, S. 74; zur vergleichenden Geschichte der Kybernetik in Ost und West Schäfer u.a. 133 Vgl. z.B. die Überlegungen von Körner, S. 601–603. 134 Vgl. z.B. Siebert, Hoffen; Meissner; Hödl; Schenk, Ansätze, sowie Haufe und dort zitierte Literatur. 135 Adam, S. 59f. 136 Kade, Problem, S. 93, 95 u. 103; außerdem ders. u.a., Kybernetik. Kade galt als Experte im Bereich der mathematischen Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften, insbesondere der Spiel- und mikroökonomischen Entscheidungstheorie; vgl. Kade, Grundlagen; kritisch Schenk, Konzept. 137 Kade u.a., Organisationsprobleme; dies wird auch dadurch deutlich, dass dem Buch eine Zusammenfassung in russischer Sprache beigefügt ist.

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Die Hoffnungen, die einige Wissenschaftler und Ökonomen in die Kybernetik als eine universale Metatheorie zur Lösung unterschiedlichster Aufgaben setzten, erwiesen sich als ebenso unrealistisch und überzogen wie die optimistischen Konvergenzvorstellungen, die seit Anfang der sechziger Jahre in den westlichen Ländern kursierten. Sie beruhten auf einer profunden Fehlperzeption der Entwicklungs- und Wandlungsfähigkeit der sozialistischen Ostblockstaaten und ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung.138 Die sowjetische Intervention in der Tschechoslowakei 1968 machte das ebenso deutlich wie der Kurswechsel, der sich in der DDR seit Beginn der Ära Honecker ankündigte. Als gleichermaßen falsch erwiesen sich freilich die pessimistischen Zukunftserwartungen und Bedrohungsszenarien, wie sie in den späten fünfziger Jahren gerade unter konservativen Politikern der Bundesrepublik verbreitet waren. Auch sie führten – aus einer anderen Perspektive – zu einer eklatanten Überschätzung der Leistungsfähigkeit und Wachstumspotenziale der DDR-Planwirtschaft, die manche von einem »roten Wirtschaftswunder« sprechen ließen.139 Die Ursachen und Hintergründe dieser Fehlwahrnehmung sollen hier nicht interessieren; entscheidend sind die Folgen, die sich daraus für den wissenschaftlichen und politischen Diskurs seit den späten fünfziger Jahren ergaben. Bereits 1959 erkannte Bombach, wie stark der Ost-West-Konflikt die Entwicklung seines Faches prägte. So habe der Ausbau der Entwicklungs- und Wachstumsforschung nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern auch einen »realen Hintergrund«, welcher in dem »Wachstumswettlauf zwischen den alten Industrieländern der westlichen Welt und den Ostländern« zu suchen sei. Auch wenn Bombach durchaus kritisch von einem »Fetisch des Wachstums« sprach, bestand für ihn kein Zweifel, dass der Westen die »Herausforderung des Ostens« annehmen müsse.140 Die Herausforderung annehmen – das bedeutete aber auch, bestehende Überzeugungen kritisch zu überdenken und nach neuen Wegen und Lösungen zu suchen. Die Anfang der sechziger Jahre einsetzende Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen von »Planung in der Marktwirtschaft« verdeutlicht, wie sehr sich die Grenzen des politischen Diskurses verflüssigten.141 War der Begriff der »Planung« in der Nachkriegszeit durch die totalitäre Erfahrung des Nationalsozialismus und die Entwicklung im sowjetischen Herrschaftsbereich vollkommen diskreditiert, hatte er seine eindeutig negative, »meist noch gefühlsmäßig gefärbte« Konnotation ein gutes Jahrzehnt später 138 Vgl. Hacke. 139 Vgl. Apel; Nawrocki. 140 Bombach, Wirtschaftswachstum, S. 7 u. 11; vgl. auch Rose, Wachstums- und Konjunkturtheorie, S. 197; Werlé, Wachstum, S. 528; Oppenländer, Wirtschaftswachstum, S. 35 und König, Ansätze, S. 15. 141 Planung in der Marktwirtschaft; Bergedorfer Gesprächskreis, Planung.

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verloren.142 »Planung« und »Steuerung« hatten sich um die Mitte der sechziger Jahre fest im wirtschaftspolitischen Vokabular der Bundesrepublik etabliert. Technokratisches Zukunftsdesign galt nicht nur als Charakteristikum aller modernen Industriegesellschaften, sondern auch als Chance, die ideologischen Gegensätze und systembedingten Konflikte zwischen Ost und West zu überwinden.

142 Klemmer, S. 7; vgl. auch Ruck.

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VIII. Europäische Integration und gaullistische Herausforderung Der Kalte Krieg war der Motor für die westeuropäische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg.1 Dieser Zusammenhang war auch den zeitgenössischen Akteuren deutlich präsent. Müller-Armack, der die bundesdeutsche Europapolitik seit den späten fünfziger Jahren maßgeblich prägte, formulierte das 1962 auf eindrückliche Weise: »Wenn wir unsere Lebensform gegenüber dem Osten bewußt zu sichern versuchen, genügt es nicht, pragmatisch dies oder jenes zu tun, es bedarf vielmehr einer bewußten Gestaltung unseres Lebens unter einer Leitbildidee. Soweit ich sehe, gibt es gegenwärtig nur zwei solche Leitbilder, die dem Osten gegenüber diese Kraft des Westens zu neuen Formen unter Beweis stellen: die Europäische Integration und die Soziale Marktwirtschaft. Der freie Westen bedarf integrierender Ideen als Antwort auf die Herausforderungen des Ostens, eine bessere Lösung der gesellschaftlichen Probleme zu bieten.«2 Doch wie bereits dargestellt, löste sich die scharfe Dichotomie zwischen westlichem und östlichem Gesellschaftsmodell in der zeitgenössischen Wahrnehmung langsam auf. Unter dem Einfluss der Konvergenztheorie erschienen vormals unüberbrückbare Unterschiede zwischen dem planwirtschaftlichen Staatssozialismus und dem marktwirtschaftlichen System weniger ausgeprägt. Die Konstruktion eindeutiger »Leitbilder« und »integrierender Ideen«, wie sie Müller-Armack 1962 emphatisch beschwor, stellte sich vor diesem Hintergrund immer schwieriger dar. Paradoxerweise war es gerade die europäische Integration, die das schmerzhaft vor Augen führte. Wie sehr sich die wirtschaftspolitischen Traditionen und Leitbilder der westeuropäischen Länder unterschieden und wie schwierig es war, einen politischen Konsens über eine gemeinsame Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu finden, wurde bundesdeutschen Politikern erst jetzt richtig bewusst. Das folgende Kapitel schildert die Bemühungen, nach der EWG-Gründung im Jahre 1958 eine europäische Wirtschafts- und Konjunkturpolitik zu etablieren. Dieser Versuch scheiterte nicht zuletzt an den ordnungspolitischen Divergenzen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik. Die Auseinandersetzungen verloren allerdings in den sechziger Jahren zuneh1 Diese These vertritt z.B. für die Agrarpolitik Thiemeyer. 2 BAK, B 102/93185: A. Müller-Armack, Das gesellschaftspolitische Leitbild der sozialen Marktwirtschaft, Referat auf der 10. Tagung des Ev. Arbeitskreises der CDU/CSU, 4.– 6.10.1962, S. 4.

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mend an Schärfe, wie im zweiten Abschnitt dargelegt wird. Trotz großer Bedenken akzeptierte die Bundesregierung daher das 1962 von EWG-Kommissar Robert Marjolin lancierte »Aktionsprogramm«, das eine umfassende sozial-, struktur- und wirtschaftspolitische Planung in Europa vorsah und sich stark am französischen Modell orientierte. Aus deutscher Sicht war die europäische Integration daher auch ein schwieriger und konfliktreicher Lernprozess, der dazu zwang, bestehende Gewissheiten zu überdenken.

1. Müller-Armack und das »Europäische Konjunkturboard« Für die Bundesrepublik hatte die westeuropäische Integration eine enorme wirtschaftliche Bedeutung. Der rasche Aufstieg zu einer der dynamischsten Volkswirtschaften der Welt war maßgeblich dem Exportboom zu verdanken. Zwischen 1948 und 1960 nahmen die Ausfuhren im Durchschnitt um 27,5% pro Jahr zu, und seit 1951 erzielte die westdeutsche Wirtschaft regelmäßig hohe Handelsbilanzüberschüsse.3 Das Wachstum des Außenhandels konzentrierte sich auf den westeuropäischen Raum. Bereits Mitte der fünfziger Jahre besaß die Bundesrepublik die höchste regionale Exportpräferenzquote in Westeuropa.4 Zugleich wurde sie in ein enges Netz von internationalen Organisationen und Verträgen eingebunden.5 Im Oktober 1949 wurde das Land Mitglied der »Organization for European Economic Cooperation« (OEEC). Ein Jahr später kam es zur Gründung der »Europäischen Zahlungsunion«, welche dem europäischen Handel wichtige Impulse gab.6 1951 und 1952 trat Westdeutschland dem »General Agreement on Tariffs and Trade«, der Weltbank und dem »Internationalen Währungsfonds« (IWF) bei. Von großer wirtschaftlicher Bedeutung war schließlich die Gründung der Montanunion im Jahre 1952, mit der ein gemeinsamer Markt für Stahl und Kohle errichtet wurde.7 Die enge außenwirtschaftliche Verflechtung brachte aber auch eine Reihe von Problemen mit sich, welche die Bundesrepublik vor neue Herausforderungen stellte. Infolge der hohen Exportüberschüsse kam es in den fünfziger Jahren zu erheblichen Devisenimporten. Insbesondere nach der Liberalisie3 Giersch u.a., Fading Miracle, S. 88f. 4 Die regionale Exportpräferenz gibt den Anteil des Regionalexports im Verhältnis zum bereinigten Weltimportanteil der Empfängerländer wieder; für den Zeitraum 1953–59 lag die regionale Exportpräferenz der Bundesrepublik bei 2,3 und damit höher als in allen anderen europäischen Ländern; Lindlar, S. 125; vgl. auch Bittner, S. 127. 5 Vgl. dazu v. a. Buchheim, Wiedereingliederung; außerdem Ambrosius, Europäische Integration; Herbst u.a., Marshallplan. 6 Vgl. Eichengreen; Bührer, Westdeutschland. 7 Ders., Ruhrstahl.

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rung des internationalen Kapitalverkehrs und dem Übergang zur faktischen Konvertibilität der D-Mark Mitte der fünfziger Jahre nahm dieses Phänomen bedrohliche Ausmaße an. Die hohen Überschüsse in der Leistungs- und Kapitalbilanz wurden nicht nur von den europäischen Handelspartnern mit Besorgnis beobachtet, sondern führten unter dem bestehenden System fester Wechselkurse in Deutschland zu erheblichen binnenwirtschaftlichen Problemen. Denn der Zustrom ausländischen Kapitals wirkte potenziell inflationstreibend. Das geldpolitische Instrumentarium der Bundesbank stieß hier schon bald an seine Grenzen, da jede Erhöhung der Leitzinsen den ausländischen Kapitalzufluss verstärkte.8 Diese Schwierigkeiten verwiesen auf ein grundsätzliches Problem: Inwiefern war eine autonome Geld- und Konjunkturpolitik in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft mit festen Wechselkursen und freiem Kapitalverkehr überhaupt möglich? Bedurfte es nicht einer supranationalen Instanz, welche – über die beschränkten Möglichkeiten des IWF hinaus – zu einer wirkungsvollen Abstimmung der nationalen Wirtschaftspolitiken beitrug? Bereits in der Nachkriegszeit hatten Organisationen wie die UNO oder die OEEC die Möglichkeiten einer internationalen Abstimmung in der Geld- und Konjunkturpolitik erörtert. So legte eine Expertenkommission der UNO 1949 und 1951 Pläne vor, einen internationalen Stabilisierungsfonds einzurichten. Ferner sollten die Regierungen der UN-Mitgliedsstaaten auf eine Vollbeschäftigungspolitik verpflichtet werden.9 Beide Gutachten blieben jedoch ohne Auswirkungen und verschwanden bald in den Schubladen der internationalen Behörden. Ein erneuerter Vorstoß in diese Richtung kam einige Jahre später von der OEEC. Im Juni 1956 wurde in Paris eine Expertengruppe eingesetzt, die über die Abstimmung der Konjunkturpolitik in den assoziierten Ländern beraten sollte.10 Das Problem war auch Gegenstand einer Tagung der Ministergruppe der OEEC, die im Oktober 1956 in Paris stattfand. Im Dezember 1957 legte die Organisation schließlich ein Programm vor, das eine umfassende Koordinierung der Wirtschafts- und Konjunkturpolitik empfahl.11 Obwohl die Vorschläge breite Resonanz fanden und auch von deutscher Seite unterstützt wurden,12 erwies sich die OEEC als zu schwach, um eine solche Koordinierung durchzuführen. 8 Vgl. Kap. IX.3; außerdem Holtfrerich, Geldpolitik, S. 380–413; Alecke, S. 62–76. 9 United Nations, National and International Measures; dies., Measures for International Stability. 10 Vgl. BAK, B 146/246: Vertretung der BR Deutschland beim Europ. Wirtschaftsrat, Sitzung der Volkswirtschaftlichen Expertengruppe, 25.–27.4.1956; außerdem BAK, B 136/653: Gocht, Bericht, 26.9.1956; die Arbeitsgruppe 19 wurde im Herbst 1959 in das »Economic Policy Committee« umgewandelt, dem hohe Beamte aus den Wirtschafts- und Finanzressorts sowie den Notenbanken der Mitgliedsstaaten angehörten. 11 BAK, B 102/12596/2: OEEC, Instruments of Stabilization Policy, 10.12.1957. 12 Vgl. BAK, B 102, 12596/2: Stellungnahme BMW zum Bericht der OEEC, o.D.

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Nach der Gründung der EWG im Januar 1958 wurde diese Frage erneut aufgegriffen.13 Der EWG-Vertrag enthielt dazu allerdings nur eine allgemeine Absichtserklärung. So hieß es in Artikel 6, dass die Mitgliedsstaaten ihre Wirtschafts- und Konjunkturpolitik in »enger Zusammenarbeit« auszuführen hatten.14 Ferner wurden die Unterzeichner des Vertrages verpflichtet, die Ziele des »magischen Vierecks« – stetiges Wachstum, hoher Beschäftigungsstand, Preisstabilität und außenwirtschaftliches Gleichgewicht – zu befolgen.15 Der EWG-Vertrag schuf somit zwar die rechtliche Grundlage für die Gemeinschaftskompetenz im Bereich der Wirtschafts- und Konjunkturpolitik. Die Frage, mit welchen Instrumenten und Institutionen diese Ziele erreicht werden sollten, musste jedoch erst noch geklärt werden.16 Es war die deutsche Regierung, welche die Rolle eines Schrittmachers in dieser Diskussion übernahm. Die Initiative ging dabei von Müller-Armack aus, der im Januar 1958 zum Staatssekretär für Europafragen ernannt wurde.17 Müller-Armack galt als enger Vertrauter Erhards, verfolgte allerdings in europapolitischen Fragen einen eigenständigen Kurs. Während Erhard die EWGGründung heftig bekämpft und statt dessen die Idee einer europäischen Freihandelszone unter Einschluss der Vereinigten Staaten lanciert hatte, sah Müller-Armack die »kleineuropäische« Lösung als wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen Wirtschaftsintegration.18 Insbesondere war Müller-Armack der Auffassung, dass ein europäischer Wirtschaftsraum einer politischen Ordnung bedurfte, die in der Lage war, die komplexen wirtschaftlichen Probleme zu bewältigen. Anders als Erhard hatte er keine Schwierigkeiten, wirtschaftspolitische Aufgaben an supranationale Institutionen zu übertragen. Dass er dabei der Konjunkturpolitik ein besonderes Gewicht zumaß, war kein Zufall. Schließlich galt der Kölner Ökonom aufgrund seiner Forschungen aus den zwanziger Jahren als Experte auf diesem Gebiet.19 Tatsächlich begründete Müller-Armack seinen im Mai 1958 vorgelegten Plan eines »Europäisches Konjunkturboards« mit den historischen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit.20 Die Weltwirtschaftskrise, so Müller-Armack, habe auf dramatische Weise vor Augen geführt, wie stark die Volkswirtschaften weltweit miteinander verflochten seien. Die »nationalistisch isolierte Kon13 Vgl. Küsters, Gründung. 14 EWG-Vertrag, 25.3.1957, Art. 6 Abs. 1, in: BGBl. Nr. 23, 19.8.1957. 15 Ebd., Art. 103 und 104; vgl. zu den juristischen Details Klisch; Gonschior; Nürk. 16 Bereits zeitgenössische Studien waren sich darin einig, dass die Konjunkturpolitik das »schwächste Glied« im EWG-Vertrag darstellte; vgl. Issing, S. 144; vgl. auch Baade, Methoden, S. 82; Keiser. 17 Kowitz, S. 306–325. 18 Vgl. ebd., S. 326–401; außerdem Brenke; Everling; Löffler, S. 566–574. 19 Vgl. Müller-Armack, Theorie; Müller-Armack, Konjunkturpolitik. 20 BAK, B 136/7443: A. Müller-Armack, Entwurf für einen Europäischen Konjunkturboard, 8.7.1958. Es handelte sich um die erste Fassung, die noch mehrfach überarbeitet wurde; der endgültige Entwurf stammt vom 11.5.1959; mehrere Vorentwürfe in ACDP, I–236, 35/2.

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junkturpolitik« der dreißiger Jahre habe sich nicht nur als »inadäquate Therapie« erwiesen, sondern zugleich zur inneren Legitimation der Diktaturen in Deutschland und Italien beigetragen.21 Aufgrund dieser historischen Erfahrung seien die westlichen Demokratien moralisch zu einer engen Kooperation verpflichtet. Auch aus ökonomischen Gründen hielt Müller-Armack eine »Multilateralisierung der Konjunkturpolitik« für dringend erforderlich.22 Diese könne nicht nur die Zahlungsbilanzungleichgewichte innerhalb Europas beseitigen, sondern zugleich zu einer stabilen binnenwirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Müller-Armacks Entwurf sah die Gründung einer eigenständigen Institution – eines »Konjunkturboards« – auf europäischer Ebene vor, wobei offen blieb, ob sie der OEEC oder der EWG unterstellt sein würde. Das »Board« sollte umfassende Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung in den Mitgliedsstaaten ermitteln, die konjunkturpolitischen Maßnahmen der Regierungen überprüfen und gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Ein »Kodex konjunkturpolitischen Verhaltens« würde die Regierungen zur Einhaltung bestimmter Regeln verpflichten. Lag die Hauptverantwortung für die Konjunkturpolitik damit nach wie vor in den Händen der nationalen Regierungen, sollte das »Board« in die Lage versetzt werden, durch eigene Maßnahmen in den Wirtschaftsprozess einzugreifen. Zu diesem Zweck schlug Müller-Armack die Einrichtung eines »Stabilisierungsfonds« vor, in den die Mitgliedstaaten einen jährlichen Betrag im Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft einzahlen würden. Offen blieb, ob die Mittel durch direkte Transferzahlungen aus dem Staatshaushalt, durch Anleihen auf den internationalen Kapitalmärkten oder – in Abstimmung mit den Notenbanken – durch Offenmarktpapiere aufzubringen waren. Ferner schloss Müller-Armack nicht aus, dass »in außergewöhnlichen Situationen, in denen nur durch einen massiven Einsatz von Liquidität einer generellen Nachfrageschrumpfung entgegenzuwirken ist«, die Notenbanken als Kreditgeber einspringen würden.23 Der Entwurf sah daher vor, dass der Fonds in Phasen des Booms Liquidität abschöpfen, thesaurieren und gegebenenfalls in kurzfristigen Rentenpapieren anlegen sollte. In Zeiten schwacher Konjunktur oder gar schwerer Rezession waren expansive Maßnahmen durchzuführen. Dazu sollten den Mitgliedsstaaten Kredite gewährt, zugleich aber auch auf europäischer Ebene Investitionsprogramme in die Wege geleitet werden. Müller-Armack dachte dabei in erster Linie an die Herstellung von Verkehrsinfrastrukturen sowie an den Bau von Kraftwerken und Atomreaktoren. Damit sollten neben einer Stabilisierung der Konjunktur auch regional- und struk21 Ebd., Müller-Armack, Entwurf für einen Europäischen Konjunkturboard, 11.5.1959, S. 6 u. 8. 22 Ebd., S. 9. 23 Ebd., S. 4.

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turpolitische Verbesserungen erreicht und das langfristige Wachstum gesichert werden.24 Müller-Armack, der seinen Plan im Oktober 1958 im Bundeskanzleramt vortrug, erhielt die volle Rückendeckung Adenauers. Der Kanzler hielt das Projekt nicht zuletzt aus politischen Gründen für »gut und günstig«, da es »eine Ergänzung der sonstigen Integrationsbemühungen« darstelle. Mit Nachdruck betonte Adenauer die Notwendigkeit, der Behörde eine »Exekutiv-Befugnis« zu sichern, da ihre Handlungsmöglichkeit andernfalls äußerst begrenzt bleibe. Falls dies gegenüber den europäischen Partnern nicht durchzusetzen sei, müssten »entsprechende nationale Maßnahmen« erfolgen.25 Auch die zuständigen Fachressorts befürworteten eine Koordinierung konjunkturpolitischer Maßnahmen. So hatte bereits im Sommer ein Treffen zwischen Wirtschaftsminister Erhard, Finanzminister Franz Etzel und Bundesbankpräsident Karl Blessing stattgefunden, bei dem man sich grundsätzlich für eine solche Koordination ausgesprochen hatte.26 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi, der im Oktober 1958 eine Tagung zu diesem Thema abhielt. Angesichts der Errichtung eines Gemeinsamen Marktes, so Hans Möller in seinem einleitenden Referat, »werde die konjunkturelle Abhängigkeit der Länder sich immer mehr verstärken und in eine enge konjunkturelle Schicksalsgemeinschaft hinauslaufen«.27 Der Beirat sprach sich daher für die Schaffung neuer wirtschaftspolitischer Institutionen aus. Selbst wenn das nicht gelinge, würde sich durch den Integrationsdruck zwangsläufig eine Angleichung der wirtschaftspolitischen Konzeptionen ergeben.28 Nachdrücklich wurde Müller-Armacks Idee eines »Konjunkturboards« unterstützt, allerdings die Notwendigkeit unterstrichen, über die Sechsergemeinschaft hinaus die gesamte OEEC sowie die USA einzubeziehen.29 Innerhalb der OEEC fand Müller-Armacks Initiative zwar allgemeine Zustimmung, erwies sich jedoch als kaum durchführbar. So bewertete das im Herbst 1959 gegründete »Economic Policy Committee« der OEEC die Pläne prinzipiell »sehr positiv«, und auch der »Codex des wirtschaftspolitischen Wohlverhaltens« wurde von den meisten OEEC-Ländern unterstützt.30 Konkrete Maßnahmen oder gar die Einrichtung neuer Institutionen auf OEEC24 Vgl. Müller-Armack, Institutionelle Fragen. 25 BAK, B 136/7443: Ehm, Vermerk, 10.10.1958. 26 BAK, B 136/7443: Erhard an Adenauer, 26.9.1958; allerdings gab es innerhalb der Bundesbank auch warnende Stimmen; vgl. die Äußerungen Otmar Emmingers in der Sitzung des ZBR am 14.5.1959, HADB, B 330/Drs. 1959, Protokoll, S. 4. 27 IfZ, ED 150/39: Protokoll der Tagung am 23./24.10.1958, S. 7. 28 Ebd., S. 8. 29 Vgl. IfZ, ED 150/40: E. von Beckerath an Müller-Armack, 3.3.1959. 30 ACDP, I–236/34/1: A. Müller-Armack, Anregungen zur Ausarbeitung eines Codex des »Guten Verhaltens« in der Wirtschaftspolitik; vgl. zur Aufnahme des Vorschlages in der OEEC Schöllhorn, S. 260–261; Kowitz, S. 450.

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Ebene scheiterten aber nicht zuletzt am Widerstand Großbritanniens. Auch die Selbstverpflichtung auf stabilitätspolitische Regeln durch die nationalen Regierungen wurde von Großbritannien abgelehnt. Angesichts dieses Widerstandes blieb nichts anderes übrig, als die Initiative zunächst auf EWG-Ebene weiterzuverfolgen und darauf zu hoffen, die OEEC zu einem späteren Zeitpunkt für ein gemeinsames Vorgehen zu gewinnen.31 Im Mai 1959 wurde Müller-Armacks Memorandum der EWG-Kommission vorgelegt, die kurz darauf einen Arbeitskreis unter Vorsitz von Vizepräsident Robert Marjolin und dem deutschen Kommissar Hans von der Groeben einsetzte.32 Allerdings stellte sich in den Beratungen des Arbeitskreises bald heraus, dass Müller-Armacks Projekt auch hier nur in Teilen konsensfähig war. Immerhin befürwortete der Arbeitskreis eine stärkere Koordinierung der Konjunkturpolitik in der Gemeinschaft.33 Dazu sollten Statistiken und Wirtschaftsprognosen auf europäischer Ebene erstellt, die konjunkturpolitischen Maßnahmen der Regierungen analysiert und Empfehlungen ausgesprochen werden. Auch an die Aufstellung von »Regeln eines sinnvollen konjunkturpolitischen Verhaltens« wurde gedacht, die freilich eher appellativen Charakter haben und keineswegs rechtlich bindend sein sollten.34 Ferner schlug der Arbeitskreis vor, einen »Ausschuss für Konjunkturpolitik« bei der Kommission zu gründen. Im Unterschied zu Müller-Armacks Plan sollte aber keine supranationale Organisation mit hoheitlichen Befugnissen entstehen, sondern ein Beratungs- und Koordinierungsorgan, das lediglich ein Vorschlagsrecht gegenüber den nationalen Regierungen besaß. Die Einrichtung eines europäischen »Konjunkturfonds« wurde zwar nicht grundsätzlich verworfen, jedoch angesichts der damit verbundenen finanziellen Belastungen zunächst zurückgestellt.35 Auch aus politischen Gründen war kaum damit zu rechnen, dass es in naher Zukunft zur Übertragung fiskalpolitischer Kompetenzen an das Gremium kommen würde. So nahm in Frankreich nach der Wahl de Gaulles zum Staatspräsidenten im Dezember 1958 der Widerstand gegen eine Abtretung von Hoheitsfunktionen an europäische Organisationen zu. Nach Auffassung de Gaulles sollte die Gemeinschaft als »Europa der Vaterländer« Gestalt annehmen. Dies lief auf die Etablierung kooperativer und weniger auf supranationale Strukturen hinaus. Auch die deutsche Regierung war in dieser Frage gespalten. Während sich Bundeskanzler Adenauer prinzipiell offen für die Er-

31 BAK, B 136/7443: Berichte Dr. Ehm, 1.7.1959 und Haenlein, 10.10.1959. 32 Ebd., Bericht Dr. Ehm, 1.7.1959. 33 ACDP, I–236, 34/2: EWG-Kommission, Sitzungen des Arbeitskreises am 15.6.1959 u. 4.9.1959. 34 Ebd., S. 4. 35 Ebd.

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richtung neuer EWG-Institutionen zeigte, galt Erhard als strikter Gegner weiterer Kompetenzübertragungen an Gremien der Gemeinschaft.36 Angesichts des politischen Gegenwindes entschied die Kommission, zunächst nur einen Ausschuss mit beratenden Funktionen einzurichten.37 Ihm sollten hohe Regierungsbeamte angehören, »die in ihrem Lande auf konjunkturpolitischem Gebiet eine Mitverantwortung tragen«,38 ferner der Präsident des EWG-Währungsausschusses, ein Vertreter der Hohen Behörde der »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl« sowie drei Repräsentanten der Kommission.39 Zum Vorsitzenden wurde Müller-Armack gewählt. Die Tätigkeit des Gremiums, das drei- bis viermal pro Jahr zusammentrat, erstreckte sich auf zwei Bereiche. Zum einen sollte eine grundsätzliche Einigung über Aufgaben, Ziele und Instrumente der Konjunkturpolitik innerhalb der EWG erzielt werden. Dazu wurden zahlreiche Gutachten angefertigt, so etwa über die konjunkturpolitischen Instrumente der europäischen Behörden, über Strategien einer Rezessionsbekämpfung, über die Gefahren einer Inflation und über das Verhältnis von Arbeitsmarkt- und Konjunkturpolitik.40 Zum anderen wurden in den Sitzungen aktuelle wirtschaftspolitische Probleme diskutiert. Während in den grundsätzlichen Fragen eine hohe Übereinstimmung bestand, zeigte sich bei der Diskussion aktueller Probleme, wie die Auffassungen in der Praxis voneinander abwichen. Insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland kristallisierte sich ein deutlicher Gegensatz heraus. So kam es 1960 und 1961 mehrfach zu Kontroversen über die Beseitigung der Zahlungsbilanzungleichgewichte im EWGRaum.41 Die französischen Vertreter forderten die Bundesregierung auf, durch eine expansive Fiskalpolitik die inländische Nachfrage zu stimulieren. Das sollte zu einer Erhöhung der deutschen Importe führen und dazu beitragen, die Leistungsbilanzüberschüsse abzubauen. Zugleich sollte durch eine Locke36 Zu Erhards europapolitischen Konzeptionen und den Konflikten mit Adenauer vgl. Hentschel, Erhard, S. 228–323; Marcowitz; vgl. außerdem Küsters, Adenauer; Neebe. 37 Entscheidung über die Koordinierung der Konjunkturpolitik in den Mitgliedsstaaten vom 9.3.1960, in: Amtsblatt der EG, 31/60. 38 Jedes Mitgliedsland entsandte drei Vertreter. In der Regel handelte es sich dabei um je einen Beamten des Finanz- und des Wirtschaftsministeriums sowie der Notenbank; Klisch, S. 94. 39 ACDP, I–236, 34/1: EWG, Ausschuß für Konjunkturpolitik, Entwurf einer Geschäftsordnung, 19.7.1960; vgl. auch ebd., Schöllhorn, Vermerk, 4.7.1960. 40 ACDP, I–236, 34/1: EWG, Ausschuß für Konjunkturpolitik, Sitzungen am 17.6.1960, 28.11.1960 u. 12.9.1961; der Bericht über die konjunkturpolitischen Instrumente der EWGOrgane wurde von der Kommission erstellt (Dok. 4696/60); die übrigen Berichte wurden auf der Basis von Fragebögen angefertigt, welche die jeweiligen Vertreter der Mitgliedsländer auszufüllen hatten: ACDP, I–236, 34/3: EWG, Fragebogen über die im Falle einer Rezession mögliche Konjunkturpolitik, 2.12.1960; BAK, B 136/2362: EWG, Fragebogen über die in den Mitgliedsländern vorhandenen Preissteigerungstendenzen und die Mittel ihrer Bekämpfung, 27.9.1961. 41 Buchheim, Wirtschaftsbeziehungen.

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rung der Geldpolitik eine moderate Inflation ermöglicht und auf diesem Wege die Überbewertung der D-Mark beseitigt werden. Eine entgegengesetzte Strategie hielt die deutsche Delegation für richtig. Aus ihrer Sicht stellten das hohe Leistungsbilanzsaldo und die damit verbundenen Devisenzuflüsse in erster Linie ein stabilitätspolitisches Problem dar. Angesichts der überschäumenden Konjunktur wurden expansive Maßnahmen als völlig verfehlt angesehen, da man eine inflationäre Entwicklung befürchtete. Wie bereits erwähnt, hatten frühere Versuche der Bundesbank, den Liquiditätsüberhang durch eine Erhöhung des Diskontsatzes abzuschöpfen, keinen Erfolg gehabt. Diese Maßnahmen hatten zu starken Kapitalimporten und damit zu einer weiteren Expansion des inländischen Geld- und Liquiditätsvolumens geführt. Aus deutscher Perspektive war daher eine kontraktive Fiskalpolitik das richtige konjunkturpolitische Rezept – eine Auffassung, die den französischen Forderungen diametral entgegenstand.42 Bereits kurz nach Gründung des Ausschusses wurde daher deutlich, wie weit man von einer gemeinsamen Linie in der Konjunkturpolitik entfernt war. Die unterschiedlichen konjunkturellen Probleme innerhalb der Mitgliedsländer, aber auch die Divergenzen in der wirtschaftspolitischen Philosophie ließen sich nur schwer überwinden. Da in vielen Sachfragen kein Konsens erzielt wurde, blieben die vom Ausschuss erstellten Gutachten vielfach vage und erschöpften sich in allgemeinen Absichtsbekundungen.43 Ein weiteres Problem bestand darin, dass das Gremium lediglich über ein Sekretariat, jedoch keinen Stab von wissenschaftlichen Mitarbeitern verfügte, der für die Erstellung von statistischen Untersuchungen und Konjunkturprognosen notwendig gewesen wäre. So stützte man sich in erster Linie auf Arbeitsunterlagen, die vom wissenschaftlichen Dienst der Kommission zur Verfügung gestellt wurden, oder auf Diskussionspapiere der Ausschussmitglieder.44 Bereits ein Jahr nach seiner Gründung bemühte sich Müller-Armack, die Erwartungen an den Konjunkturausschuss herunterzuschrauben. So betonte er, dass eine Zusammenarbeit in der Konjunkturpolitik keineswegs mit einer »Harmonisierung oder Vereinheitlichung der Institutionen oder anzuwendenden Instrumente« verwechselt werden dürfe. Vorerst sei »eine nach Ländern differenzierte Konjunkturpolitik möglich und nützlich«, solange man in Grundfragen »eine einheitliche Linie« verfolge. Die Hauptaufgabe des Ausschusses müsse zunächst darin bestehen, durch »die ständige Konfrontation

42 ACDP, I–236, 34/1: EWG, Ausschuß für Konjunkturpolitik, Sitzungen am 17.6.1960, 28.11.1960 u. 6.2.1961. 43 So auch rückblickend Müller-Armack, Weg nach Europa, S. 257. 44 ACDP, I–236, 34/1: EWG, Ausschuß für Konjunkturpolitik, Sitzungen am 17.6. u. 28.11.1960.

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der gegenseitigen Auffassungen« eine allmähliche »Angleichung der Zielvorstellung« herbeizuführen.45

2. Welches Wirtschaftsmodell in Europa? Die Auseinandersetzung mit der französischen »Planification« Trotz der ernüchternden Erfahrung mit dem Konjunkturausschuss gehörte die Bundesrepublik weiterhin zu den engagiertesten Befürwortern einer europäischen Konjunkturpolitik.46 Das hatte Gründe, die nur im Kontext der europäischen Integrationspolitik sowie der deutsch-französischen Beziehungen Anfang der sechziger Jahre zu verstehen sind. Zum einen wollte man durch das Bekenntnis zur internationalen konjunkturpolitischen Kooperation Vorwürfen aus dem Ausland entgegentreten, die Bundesrepublik trage die Alleinverantwortung an den Zahlungsbilanzungleichgewichten in Europa. Die Betonung der Multilateralität dieser Probleme sollte verhindern, dass internationale Organisationen wie die OEEC oder der Währungsausschuss der EWG »dem extremen Gläubigerland, der Bundesrepublik, die spezifisch konjunkturpolitische Verantwortung« zuspielten.47 Diese Intention lässt sich nicht nur in Müller-Armacks Entwurf eines »Konjunkturboards« nachweisen, sondern kennzeichnete auch die deutsche Verhandlungsstrategie in den Gremien der EWG. Zum anderen befürchtete die deutsche Seite, dass planwirtschaftliche Züge in Westeuropa zunehmend an Bedeutung gewinnen und auf lange Sicht auch die Entwicklung in der Bundesrepublik beeinflussen könnten. Das Bekenntnis zur konjunkturellen Steuerung durch Fiskal- und Geldpolitik zielte darauf, den internationalen Forderungen nach mehr Planung ein Stück weit entgegenzukommen, ohne sich auf umfassende Interventionen einzulassen. Die von deutscher Seite entwickelte Kompromissformel lief darauf hinaus, eine langfristige Planung von Staatsausgaben sowie eine »konjunkturgerechte« Gestaltung der Geld- und Fiskalpolitik zu befürworten, Eingriffe in die marktwirtschaftliche Ordnung jedoch energisch abzulehnen. In der Tat hatten wirtschaftspolitische Planungskonzepte seit Ende der fünfziger Jahre in den meisten westlichen Industriestaaten an Einfluss gewonnen. 45 ACDP, I–236, 31/1: Europäische Konjunkturpolitik, 1.10.1960. 46 Vgl. z.B. die Rundfunkansprache Ludwig Erhards vom 15.1.1960, in: Erhard, Gedanken, S. 603–606; ACDP, I-083, K 2/1: Fr. Hellwig, Gemeinsamer Markt und nationale Wirtschaftspolitik. Vortrag vor der Mitgliederversammlung der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, 16.6.1961. 47 BAK, B 136/7443: A. Müller-Armack, Entwurf für einen europäischen Konjunkturboard, 11.5.1959, S. 8; zu den Vorwürfen seitens des Währungsausschusses vgl. z.B. BAK, B 136/2358: EWG, Währungsausschuß, Stellungnahme für die Kommission, 9.7.1960; für die OECD vgl. BAK, B 136/7417: OECD, Ausschuß für Wirtschaftspolitik an BMWi, 15.5.1964.

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Diese waren in vielen Ländern, so in Großbritannien, den USA und den skandinavischen Staaten, durch den Keynesianismus geprägt und zielten vor allem auf die Beeinflussung makroökonomischer Prozesse.48 Darüber hinaus wurde jedoch vielerorts eine umfassende staatliche Investitionsplanung diskutiert, welche auch den privatwirtschaftlichen Sektor einbeziehen sollte. So rief die britische Regierung Anfang 1962 einen »National Economic Development Council« ins Leben, dem Vertreter der Gewerkschaften, Unternehmerverbände und der Staatsbürokratie angehörten und der vor allem die gravierenden Strukturprobleme der britischen Industrie lösen sollte.49 Nach der Wahl Harold Wilsons zum Premierminister im Jahre 1964 begann die britische Regierung mit der Umsetzung weitreichender Planungskonzepte. Ähnliche Tendenzen waren in anderen Ländern, etwa in Italien oder in den Niederlanden, zu beobachten. Fest etabliert hatte sich die staatliche Wirtschaftssteuerung in Frankreich. Dort war bereits 1946 ein »Commissariat Général du Plan« eingerichtet und unter der Leitung von Jean Monnet der erste Fünfjahresplan aufgestellt worden.50 Obwohl die französischen Pläne keineswegs detaillierte und vollzugsverbindliche Steuerungsmaßnahmen vorsahen, sondern sich – außerhalb der verstaatlichten Industrieunternehmen und Banken – auf eine »indikative« Rahmenplanung beschränkten, handelte es sich im Vergleich mit der Marktwirtschaft westdeutscher Prägung um ein stark interventionistisches System. Nach der Wahl Charles de Gaulles gab es Bestrebungen, das Planungssystem weiter auszubauen.51 De Gaulle bekannte sich offen zu den Prinzipien der »Planification économique« und ernannte den renommierten Mathematiker Pierre Massé zum Leiter des Planungskommissariats. Obgleich de Gaulle ein entschiedener Gegner supranationaler Behörden war, welche die Souveränität der nationalen Regierungen einschränkten, unterstützte er Bestrebungen innerhalb der französischen Wirtschaftsbürokratie, die »Planification économique« zur Grundlage der europäischen Integrationspolitik zu machen. Insbesondere hoffte er, dass andere Länder das französische Modell zum Vorbild nehmen und entsprechende Wirtschaftsreformen im eigenen Land durchführen würden.52 Dies sollte nicht nur zu einer Stärkung der französischen Position innerhalb der EWG beitragen, sondern auch den Anspruch eines eigenständigen kontinentaleuropäischen Wirtschaftsmodells gegenüber den Vereinigten Staaten und Großbritannien unterstreichen. Deutlich kam das in der Einleitung zum Vierten Plan (1962–65) zum Ausdruck, der im November 1961 vorgelegt wurde. Dort hieß es: »Andere Nationen begin48 Vgl. Hall, Political Power. 49 Vgl. Ringe/Rollings; allgemein: Leruez; Schott; Hall, Governing. 50 Vgl. Estrin/Holmes; Scott/Sproat; Hall, Governing. 51 Prate. 52 Vgl. die Überlegungen des ehemaligen Planungskommissars Etienne Hirsch: Hirsch; außerdem Denton u.a., S. 364–368.

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nen zu ahnen, daß die rasche Herstellung freier Austauschbeziehungen Probleme hervorrufen kann, sofern sie nicht von einer gemeinsamen Politik begleitet wird, die als wesentlichen Bestandteil die Grundzüge eines Planes – welchen Namen man auch immer dafür gebrauchen möchte – enthalten muß. Gewiß kann die geistige Grundeinstellung unserer Partner zu dieser Frage nur aus der Überzeugung oder aus Erfahrung verändert werden. Unsere Aufgabe muß es jedoch sein, sie zu überzeugen. Wir werden umso besser an dieses Ziel gelangen, wenn wir unsere Planungskonzepte noch klarer zum Ausdruck bringen.«53 In Bonn nahm man diese Bestrebungen mit Besorgnis zur Kenntnis. Vor allem Erhard machte deutlich, dass eine Wirtschaftsplanung nach französischer Art mit ihm nicht zu machen sei. In einer viel beachteten Rede, die er am 31. Oktober 1962 vor der deutsch-französischen Handelskammer in Paris hielt, trug er seine Vorbehalte gegenüber der französischen Staatsplanung ohne diplomatische Rücksichten vor.54 Zwar erkannte er die wirtschaftlichen Fortschritte an, die Frankreich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hatte. Doch führte er diese weniger auf die staatlichen Interventionen als auf die dynamische Entwicklung des privatwirtschaftlichen Sektors zurück, der durch die amtlichen Vorgaben nur wenig beeinflusst worden sei. Scharf kritisierte er die Bemühungen der französischen »Planificateure«, ihre Vorstellungen auf die EWG zu übertragen. Deutschland sei nicht bereit, »sich auf einen so bedenklichen Weg zu begeben«.55 Ähnlich wie Erhard befürchtete auch der CDU-Politiker Rainer Barzel, dass der Bundesrepublik durch internationale Einflüsse eine »Renaissance des Dirigismus« bevorstehe.56 »Es ist kein Zweifel daran möglich, daß aus Brüssel für den Bereich der EWG durch ihre prognosen-freundlichere Einstellung solche Tendenzen Auftrieb erhalten. Die französischen Praktiken und Erfahrungen mit dem ›Plan‹ und der ›économie concertée‹ werden von vielen sorgsam studiert und beeinflussen manches. So ist man kaum noch erstaunt, die verantwortlichen Planer sozialistischer Länder wieder selbstbewußter zu erleben, in Großbritannien unter Konservativen Diskussionen über mehr ›planning‹ festzustellen, institutionelle Versuche von Macmillan hierzu zu sehen und in den USA unter Kennedy verstärkte Akzente in dieser Richtung wahrzunehmen. In Deutschland sprechen Sozialisten, Gewerkschaftler und auch einige Unternehmer nun wieder deutlicher von der Notwendigkeit amtlicher und veröffentlichter Wirtschaftsprognosen, der Lenkung der Investitionen

53 54 55 56

Plan de Dévelopment Economique et Social, Projet de Loi, 29.11.1961, Drs. 1573, S. 14. Abgedr. in: Möller/Hildebrand, S. 555–560. Ebd., S. 557. R. Barzel, Renaissance des Dirigismus, in: Deutsche Zeitung, 29.9.1962.

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und von einer aktiven Konjunkturpolitik in Übereinstimmung mit solchen ›Plänen‹.«57 Tatsächlich wurde der internationale Trend zur Planung in Deutschland mit großem – und nicht immer ablehnendem – Interesse verfolgt. Seit Ende der fünfziger Jahre hatten die zuständigen Abteilungen des Auswärtigen Amtes, des Wirtschaftsministeriums und anderer Behörden zahlreiche Berichte angefertigt, die sich mit den wirtschaftspolitischen Veränderungen in den westlichen Industrieländern befassten.58 Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei der Entwicklung in Frankreich geschenkt.59 Mehrere wirtschaftswissenschaftliche Vereinigungen in Deutschland pflegten einen intensiven Austausch mit französischen Einrichtungen. So bestand seit 1952 ein enger Kontakt zwischen dem Ifo-Institut und dem Pariser »Institut National de la Statistique et des Études Economiques« unter der Leitung von André Piatier. Diese Kooperation führte schließlich 1961 zur Gründung einer internationalen Vereinigung (»Contact International de Recherches Economiques Tendancielles«).60 Bereits 1957 war auf Initiative des DIW die »Association d’Instituts Européens de Conjoncture Economique« ins Leben gerufen worden, in der mehrere deutsche und französische Konjunkturforschungsinstitute kooperierten.61 Durch regelmäßige Tagungen und die Herausgabe eines gemeinsamen Bulletins sollten wissenschaftliche Probleme der Konjunkturpolitik diskutiert und Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung in Europa ausgetauscht werden. Unter anderem erstellte die Organisation im November 1958 eine umfassende Studie über die Konjunkturpolitik in den westlichen Industrieländern, die das Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegeben hatte.62 Eine wichtige Rolle spielte in diesem Kontext schließlich das »Comité Euro57 Ebd.; vgl. auch Bing, Frankreichs Pläne-Wahn; K. Albrecht. 58 Vgl. z.B. BAK, B 102/17917: Bericht, 18.8.1959 (Belgien); B 126/2080: Bericht, 10.11. 1959 (USA); B 126/22311: Bericht, 30.6.1961 (Schweden); B 102/59355: Bericht, 6.9.1962 (Großbritannien); B 102/59354: Berichte, 6.3.1963 (Niederlande) u. 4.7.1963 (Italien). 59 Vgl. z.B. BAK, B 102/59354: Lang, Die französische Wirtschaftsplanung, 3.9.1962. 60 Langelütke, Konjunkturforschung, S. 9; Piatier hielt mehrfach Vorträge am Ifo-Institut, so 1951 über »Die wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs im Vergleich zur westdeutschen Entwicklung« und 1954 über »Neue Wege der Konjunkturforschung«; Piatier, Entwicklung; ders., Wege. 61 Friedensburg, Gründung; vgl. auch Krengel, Institut, S. 135f. Von deutscher Seite waren neben dem DIW das Kieler »Institut für Weltwirtschaft«, das HWWA und das RWI beteiligt, Frankreich war ebenfalls durch vier Institute vertreten (»Centre d’Observation Economique«, Paris; »Service d’Etude de l’Activité Economique de la Situation Sociale«, Paris; »Institut National de la Statistique et des Etudes Economiques«, Paris; »Société d’Etudes et de Documentation Economiques, Industrielles et Sociales«, Paris). Ferner waren Institute aus Belgien, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Österreich und Jugoslawien, Schweden, der Schweiz und Norwegen vertreten. 62 BAK, B 136/7415: Institutionelle Verankerung von Instrumenten der Konjunkturpolitik in neun europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten; vgl. auch Dokumente in BAK, N 1266/1816.

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péen pour le Progrès Economique et Social« (CEPES), eine 1952 gegründete Vereinigung von Wissenschaftlern, Politikern und Unternehmern aus mehreren europäischen Ländern, die regelmäßig Fachtagungen veranstaltete und Gutachten zu europäischen Wirtschaftsfragen verfasste.63 1955 rief das CEPES einen internationalen Konjunkturausschuss unter Vorsitz von Paul Binder ins Leben, dem von deutscher Seite Erich Schneider, Gottfried Bombach, Herbert Giersch, Hans Möller, Carl Föhl und Wolfgang Stützel angehörten. Die CEPES verstand sich nicht nur als wissenschaftliche Einrichtung, sondern setzte sich darüber hinaus aktiv für eine europäische Zusammenarbeit auf wirtschafts- und konjunkturpolitischem Gebiet ein.64 Hatten diese Initiativen noch einen gesamteuropäischen Horizont, konzentrierte sich das deutsche Interesse seit 1962 fast vollständig auf Frankreich. Zwei Gründe gaben dafür den Ausschlag: Zum einen begannen im Herbst dieses Jahres die Verhandlungen über einen deutsch-französischen Kooperationsvertrag, der schließlich am 22. Januar 1963 von Adenauer und de Gaulle im Pariser Elysée-Palast unterzeichnet wurde. Die darin vereinbarte Zusammenarbeit sollte sich auch auf wirtschaftliche Fragen erstrecken.65 Zum anderen verstärkte die EWG-Kommission seit 1962 ihre Bemühungen um eine europäische Wirtschaftsprogrammierung, die vom französischen Modell der »Planification économique« inspiriert war.66 Vor diesem Hintergrund ist die kaum zu überblickende Zahl von Publikationen zu sehen, die sich mit dem französischen Wirtschaftssystem und dessen Übertragbarkeit auf andere Länder befassten.67 Eine ganze Serie von Tagungen und Informationsveranstaltungen – häufig mit Beteiligung hoher Vertreter der französischen Planungsbürokratie – fand statt, um ein genaueres Bild über die wirtschaftliche Entwicklung des westlichen Nachbarlandes zu gewinnen.68 Nicht selten ging es dabei um den Abbau von Vorurteilen, denn schließlich – so Fritz Neumark bei der Einführung eines deutsch-französischen Kolloqui63 Comité Européen pour le Progrès Economique et Social, Nationale Konjunkturpolitik. Dem Vorstand der deutschen CEPES-Gruppe gehörten u.a. Ludwig Erhard, Paul Binder, Walter Bauer, Otto A. Friedrich und Theodor Steltzer an. 64 Im Dezember 1957 trat der Konjunkturausschuss mit einem Dossier an die Öffentlichkeit, das die europäischen Regierungen zu einer umfassenden konjunkturpolitischen Planung aufforderte; Comité Européen pour le Progrès Economique et Social, Europäische Konjunkturpolitik; vgl. dazu Kohlhase. 65 Vgl. Koopmann. 66 Vgl. Kap.VIII.3. 67 Rhein; Stock; Peikert; Löffelholz von Colbert; Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft; Forschungsstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung; Klein, Finanzpolitische Instrumente; Grote; zahlreiche Artikel in: ACDP, I–475/26/7. 68 Vgl. z.B. die Vortragsveranstaltung des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung in Bad Godesberg im November 1962 »Plan oder Programm für Europas Wirtschaft?«; Deutscher Rat der Europäischen Bewegung. Überdies erschienen zahlreiche Publikationen französischer Wirtschaftspolitiker in Deutschland; vgl. z.B. Hirsch; Marjolin, Programmierung; Massé.

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ums in Frankfurt – seien viele deutsche Ökonomen und Politiker »allzu rasch mit einer Ablehnung der französischen Planungsideen und -praktiken zur Hand, obwohl (oder weil) sie über diese oft nur höchst unvollkommen unterrichtet sind«.69 Auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium veranstaltete zwischen Juni und September mehrere Arbeitstagungen unter dem Rahmenthema »Probleme der Programmierung«, an der auch Vertreter des »Commissariat Général du Plan« sowie der EWG-Kommission teilnahmen.70 Ein Teil der Beiratsmitglieder wie Hans Möller, Helmut Meinhold oder Fritz Neumark sahen die Möglichkeit, vom französischen System zu lernen, etwa im Bereich der volkswirtschaftlichen Prognose oder der mittelfristigen Finanzplanung im öffentlichen Sektor.71 Selbst der Leiter der Grundsatzabteilung im Wirtschaftsministerium, Rolf Gocht, ein Schüler Euckens und überzeugter Ordoliberaler, konnte »eine gewisse Bewunderung« gegenüber den französischen Planungstechniken nicht verhehlen.72 Seitens der Bundesregierung wurde mit großer Sorge beobachtet, dass französische Regierungsvertreter die »Planification économique« nicht nur in den Gremien von EWG und OECD propagierten, sondern auch in bilateralen Gesprächen mit der deutschen Regierung.73 Selbst bei »abseitigen Gelegenheiten und in unzuständigen Gremien«, klagte der Staatssekretär im BMWi Wolfram Langer, stoße man auf das Bemühen der französischen Vertreter, »die Bundesregierung auf den Weg der Programmierung der wirtschaftlichen Entwicklung zu führen«. Es wurde daher den deutschen Stellen dringend nahe gelegt, keine französischen Delegationen mehr zu empfangen. »Eine zu lebhafte deutsche amtliche Beteiligung an solchen Veranstaltungen könnte auf französischer Seite den Eindruck hervorrufen, als ob wir allmählich und zunehmend mehr Interesse für diesen wirtschaftspolitischen Stil entwickeln.«74 Diese Befürchtungen waren auch deshalb nicht völlig aus der Luft gegriffen, weil die Idee einer stärkeren »Programmierung« der Wirtschaft nicht nur in Kreisen der SPD und der Gewerkschaften, sondern auch in Teilen des Unternehmerlagers und der Regierungsparteien Anklang fand.75 So sprach sich der Wirtschaftsausschuss der CDU Anfang 1963 für eine aktive Konjunkturpolitik 69 Vorwort, in: Neumark, Probleme, S. 8. Das Kolloquium fand im Frühjahr 1962 an der Universität Frankfurt statt. Von französischer Seite nahmen u.a. François Perroux u. Pierre Uri teil. Vgl. auch BAK, B 102/59454: Sylvain Wickham, »Probleme der französischen Wirtschaftsordnung – ›Planification‹ und ›Economie Concertée‹«, Vortrag an der Univ. zu Köln, 23.4.1963. 70 IfZ, Ed 150/41: Tagungen am 10.–11.5.1963, 21.–22.6.1963 u. 20.–21.9.1964. 71 Ebd., Tagung 10.–11.5.1963. 72 Ebd., S. 7; zu Gocht vgl. Löffler, S. 73. 73 BAK, B 102/59354: Gespräch im BMWi über französische Wirtschaftsplanung, 23./ 24.10.1962. 74 BAK, B 102/59354: Lang an die Abteilungsleiter des BMWi, 6.2.1963. 75 Vgl. BAK, B 102/59354: Tietmeyer, Grenzen und Möglichkeiten der Planung in der Marktwirtschaft, 8.2.1963.

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und eine langfristige Planung öffentlicher Investitionen aus, ohne freilich die »Planifikation französischen Stils« mit ihren weitreichenden Auswirkungen übernehmen zu wollen.76 Auch der DIHT lehnte die französischen Vorstellungen ab, hielt jedoch ein stärkeres konjunkturpolitisches Engagement und die Erstellung von jährlichen Wirtschaftsbudgets für notwendig.77 Wolfgang Baumann, Mitarbeiter der Volkswirtschaftlichen Abteilung des BDI, plädierte für die »Synthese eines aufgeklärten Laissez-faire mit einem vernünftigen mehrdimensionalen ›Concerte économique‹«.78 Noch einen Schritt weiter gingen einzelne Unternehmer wie Otto A. Friedrich, der sich für eine institutionalisierte Zusammenarbeit von Regierung, Gewerkschaften und Unternehmern nach französischem Vorbild aussprach. Friedrich hielt eine »dispositive Vorausschau« für sinnvoll, um »eine gewisse Richtschnur für Wirtschafts-, Finanz- und Unternehmenspolitik zu schaffen«. Eine solche Politik dürfe nicht an einer »törichten Angst vor Dirigismus und Planwirtschaft« scheitern.79 Wie Hans Tietmeyer, ein leitender Beamter des BMWi, feststellte, waren es häufig »gerade vermeintliche Anhänger der Marktwirtschaft, die unter Hinweis auf das Ende der Phase des stürmischen Wachstums und die sich aus dem europäischen Zusammenhang ergebenden Strukturveränderungen eine staatliche Rahmenplanung fordern«.80 Insbesondere in wissenschaftlichen Kreisen mehrten sich die Stimmen, die eine stärkere Anlehnung an das französische Modell zumindest in Teilbereichen für sinnvoll hielten.81 So würdigte Hans 76 ACDP, I–92, 2/2: Sitzung des Bundeswirtschaftsausschusses der CDU, 7.1.1963. 77 BAK, B 126/18418: Stellungnahme des DIHT zum Memorandum der EWG-Kommission über das Aktionsprogramm der Gemeinschaft für die zweite Stufe, Mai 1963; vgl. auch Rede des Präsidenten der IHK Düsseldorf am 10.7.1963 »Brauchen wir eine Programmierung in der EWG?« 78 W. Baumann, Wirtschaftsplanung. Technik oder Politik, in: Die Industrie, 11.12.1964, S. 5–8. 79 BAK, B 136/7403: Ausführungen von Otto A. Friedrich, Vorstandsvorsitzender der Phoenix Gummiwerke AG auf der Hauptversammlung der Gesellschaft am 3.7.1963; vgl. auch ebd., Friedrich an Adenauer, 3.7.1965, sowie ACDP, I-093, 13/3: Friedrich an Erhard, 20.2.1963; Friedrich wies darauf hin, dass die von ihm geleiteten Phoenix Gummiwerke AG in Frankreich erhebliche Unternehmensbeteiligungen besitze. Aus eigener Anschauung wisse er, dass »die Dinge in praxi sich doch sehr viel anders darstellen, als sie durch bloße Betrachtung des Systems gesehen werden. ... Sie könnten sich freuen, wenn in manchen Bereichen in Deutschland ein so harter Marktwettbewerb vorhanden wäre, wie er sich in Frankreich abspielt.« (ebd., S.2). 80 Vgl. BAK, B 102/59354: Tietmeyer, Grenzen und Möglichkeiten der Planung in der Marktwirtschaft, 8.2.1963. 81 Vgl. auch die Bemerkung des Abteilungsleiters im BMWi Wolfram Langer, in: Protokoll des Wiss. Beirates beim BMWi, 27.11.1962, S. 7 (IfZ, Ed 150/41) sowie Müller-Armack vor dem Bundesausschuß für Wirtschaftspolitik der CDU am 4.7.1963: »An den deutschen Universitäten – namentlich bei der jüngeren Generation – gewinnen die ökonometrischen Konzeptionen sowie die Planifikation zunehmend an Einfluß. Vielfach [wird] die Meinung vertreten, die Soziale Marktwirtschaft sei überholt und müsse durch etwas Neues ersetzt werden.«; ACDP, I–83, A74: Protokoll, S. 2.

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Möller das »heute in Deutschland so umstrittene französische Planungssystem« als einen Versuch, »die Planung der staatlichen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik den Erfordernissen der Gegenwart anzupassen«.82 Angesehene Ökonomen wie Wilhelm Krelle, Gottfried Bombach, Herbert Giersch, Fritz Neumark oder Carl Föhl befürworteten mit Nachdruck eine wirtschaftspolitische Rahmenplanung auf europäischer Ebene, die neben einer geld- und konjunkturpolitischen Makrosteuerung auch das langfristige Wachstum einbeziehen müsse.83 Dies schloss bestimmte Aspekte einer »Planification indicative« für den privaten Unternehmensbereich ausdrücklich ein. Auch die deutsche CEPES-Gruppe sprach sich nicht nur für eine stärkere Koordinierung der Konjunkturpolitik in Europa aus, sondern hielt auch die Übernahme bestimmter Elemente des französischen Systems (z.B. des Nationalbudgets) für wünschenswert.84 Eduard Werlé warnte vor einem »Religionskrieg« zwischen »den Ideologien der Anhänger eines modernen Merkantilismus in Frankreich und eines modernen laisser-faire in Deutschland«. Während Eingriffe in unternehmerische Entscheidungen aus Werlés Sicht abzulehnen waren, hielt er eine aktive Konjunkturpolitik und eine langfristige Planung öffentlicher Investitionen für unverzichtbar. Auf dieser Basis könne es zu einer »Synthese zwischen den in Frankreich und Deutschland praktizierten Wirtschaftsordnungen« kommen.85 Selbst Kritiker der französischen Staatswirtschaft wie Müller-Armack konnten sich der »Verzauberung, die von dem Begriff Planung ausgeht«, nicht ganz entziehen. So hielt Müller-Armack eine staatliche Rahmenplanung und ein gewisses Maß an »Interventionen« für durchaus vereinbar mit den Prinzipien der westdeutschen »Sozialen Marktwirtschaft«.86 Angesehene Fachvereinigungen wie die »List-Gesellschaft« oder die »Arbeitsgemeinschaft der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute« diskutierten in eigens anberaumten Tagungen über die Möglichkeiten einer »Langfristigen Programmierung in der Marktwirtschaft« oder das Für und Wider einer »Planung ohne 82 Möller befürwortete ausdrücklich eine »staatliche gesamtwirtschaftliche Planung auch über längere Perioden«, ohne freilich das französische System vollständig übernehmen zu wollen. Immerhin enthielt es seiner Auffassung nach aber »wertvolle und vermutlich sogar nachahmenswerte Ansätze«; H. Möller, Wirtschaftsplanung, S. 556 und 569. 83 W. Krelle, Marktwirtschaft und Rahmenplan. Wirtschaftspolitik muß nicht »freihändig« sein, in: Industriekurier, 28.2.1963; vgl. auch Bombach, Rahmenplan; Giersch, Infrastruktur; Krelle, Wirtschaftsplanung; Diskussionsbeitrag von C. Föhl in Plitzko, S. 246–248. 84 Vgl. den Bericht der deutschen CEPES-Gruppe über »System und Ziel der französischen Wirtschaftsplanung«, in: EA, Bd. 17, 1962, S. 491–497; vgl. auch den Bericht des deutschen CEPES-Mitarbeiters Löffelholz von Colbert. 85 BAK, B 102/136876: E. Werlé, Diskussionsbeitrag bei der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute in Bad Godesberg, 21./ 22.6.1963; vgl. auch ebd., Werlé an Schlecht, 6.7.1964. 86 Referat von A. Müller-Armack, in: Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Programmierung, S. 19–31, Zitat S. 19.

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Planwirtschaft«.87 Die Verfechter einer reinen Ordnungspolitik schienen hier längst auf dem Rückzug, und auch etablierte Ökonomen forderten nun eine Enttabuisierung des nach wie vor hoch ideologisierten Planungsbegriffes. In diesem Sinne plädierte etwa Salin für eine Abkehr vom »quasi religiösen Eifer«, mit dem sich Planungsbefürworter und -gegner bekämpften. Vielmehr müsse man »ganz nüchtern und in jedem Einzelfall das Pro und Kontra und das Anwendungsgebiet« wirtschaftlicher Planungskonzepte betrachten, um zu einem abgewogenen Urteil zu kommen.88 Derartige Äußerungen gewannen dadurch an Überzeugungskraft, dass sich die französische Wirtschaft in der Nachkriegsperiode sehr dynamisch entwickelt hatte. Das Pro-Kopf-Wachstum war im Trend zwar niedriger als in der Bundesrepublik, lag aber deutlich über dem Durchschnitt der westlichen Industrieländer.89 Selbst eingeschworene Gegner des französischen Staatskapitalismus mussten diese Leistungen anerkennen, auch wenn sie meist darauf hinwiesen, dass der Nachkriegsboom in Frankreich nicht auf die staatliche Rahmenplanung zurückzuführen war, sondern sich unabhängig davon entwickelt habe.90 Doch diese Argumentation verlor in dem Maße an Überzeugungskraft, wie das ordnungspolitische Credo der reinen Marktlehre auch in der Bundesrepublik erodierte. So bedurfte es von deutscher Seite einer erheblichen Kraftanstrengung, um die wirtschaftspolitische Allianz von EWGKommission und französischer Regierung von ihren weitreichenden Planungskonzepten abzuhalten.

3. Robert Marjolin und die Offensive der EWG-Kommission Seit Anfang 1962 arbeitete man in Brüssel mit Hochdruck an einer Kommissionsinitiative zur Neugestaltung der Wirtschaftspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die treibende Kraft hinter diesen Bemühungen war Robert Marjolin, Vizepräsident der Kommission und zuständig für den Bereich Wirtschafts-, Finanz- und Wettbewerbspolitik. Marjolin verfügte über

87 Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Programmierung; Plitzko; vgl. auch die 13. Tagung des Bergedorfer Gesprächskreis unter dem Rahmenthema »Planung in der freien Marktwirtschaft« im Januar 1964; Bergedorfer Gesprächskreis zu Fragen der freien industriellen Gesellschaft; ein Monat zuvor hatte zum gleichen Thema eine Tagung der FriedrichNaumann-Stiftung in Bad Kreuznach stattgefunden; Friedrich Naumann-Stiftung; vgl. außerdem Forschungsstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung; Christlich-Soziale Union. 88 Salin, Planung, S. 10; vgl. auch Langelütke, Aufgaben, S. 62f. 89 Vgl. die Gegenüberstellung von Pro-Kopf-Einkommen und Produktivitätswachstum bei Lindlar, S. 19, 31 und 89; vgl außerdem umfassend Bittner. 90 Vgl. z.B. Erhard an Adenauer, 20.9.1962, in: Möller/Hildebrand, S. 553–555; außerdem BAK, B 102/59354: Lang, Die französische Wirtschaftsplanung, 3.9.1962.

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großen Einfluss in den europäischen Wirtschaftsbehörden.91 Er war 1949 nach kurzzeitiger Tätigkeit in der französischen Planungsbürokratie zum ersten Generalsekretär der OEEC gewählt worden.92 1955 hatte er diesen Posten aufgegeben, weil er seine ehrgeizigen Ziele der wirtschaftlichen Kooperation und Planung dort nicht umsetzen konnte. Mit umso größerer Energie widmete er sich dieser Frage als EWG-Kommissar.93 Als Mitglied des Konjunkturausschusses drängte er auf eine Erweiterung der wirtschaftspolitischen Kompetenzen der EWG und geriet mehrfach in Konflikt mit der deutschen Delegation. Nach langen Debatten setzte er Anfang 1962 im Ausschuss durch, dass die Mitgliedsländer ein jährliches »Wirtschaftsbudget« mit detaillierter Prognose für das kommende Jahr erarbeiteten und der Kommission zur Verfügung stellten.94 Auf der Basis dieser Prognosen sollte eine engere Abstimmung der Finanz- und Steuerpolitik bewirkt werden. Langfristig war sogar die Erstellung eines einheitlichen Wirtschaftsbudgets der Gemeinschaft geplant. Diese Bestimmung, die vom Ministerrat bestätigt wurde, stellte die Bundesregierung vor erhebliche Schwierigkeiten. Über die Einrichtung einer modernen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und die Verfeinerung der Prognoseverfahren wurde in Deutschland ja seit langem diskutiert.95 Ein interministerieller Arbeitskreis erstellte jeden Herbst eine Prognose über die zu erwartenden Veränderungen des Sozialproduktes im folgenden Jahr. Die Daten beruhten jedoch nur auf groben Schätzungen und enthielten keine detaillierten Angaben zu einzelnen Sektoren der Volkswirtschaft. Bereits im Herbst 1961 hatte ein internes Gutachten des BMWi auf die desolate Lage der amtlichen Wirtschaftsprognosen hingewiesen, die internationalen Standards nicht entsprächen.96 Nach dem Beschluss der EWG vom Januar 1962 sah sich die Bundesregierung gezwungen, ihre Aktivitäten auf diesem Gebiet zu verstärken. Die Brüsseler Initiative war zwar nicht der Hauptgrund, aber doch ein wichtiges Argument für die Gründung des Sachverständigenrates im Sommer 1963. Doch zeigte sich rasch, dass die Kommission mehr anstrebte als nur eine unverbindliche statistische Wirtschaftsprognose, wie man sie von deutscher Seite zu akzeptieren bereit war. Am 24. Oktober 1962 legte sie das »Aktionsprogramm für die zweite Stufe des gemeinsamen Marktes« vor.97 Das von 91 Bing, Plandemagogie, S. 469. 92 Marjolin, Architect. 93 Bing charakterisierte Marjolin als »Champion einer Europaplanwirtschaft supranationaler Prägung«; Bing, Plandemagogie, S. 469. 94 ACDP, I–236, 34/1: EWG, Ausschuß für Konjunkturpolitik, Protokoll der Sitzungen am 9.1.1962. 95 Vgl. Kap. III.2. 96 BAK, B 102/59354: Raabe, Vermerk, 21.8.1961. 97 Kommission der EG, Aktionsprogramm der Gemeinschaft für die zweite Stufe, Brüssel 1962.

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Marjolin verfasste Programm sah nicht nur die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes durch Beseitigung aller Binnenzölle und die Harmonisierung handelswirksamer Steuern vor, sondern auch eine Fusion der nationalen Wirtschaftspolitik auf der Basis einer umfassenden wirtschaftlichen »Programmierung«. Das schloss die Aufstellung von mehrjährigen Rahmenprogrammen ein, die staatliche Investitionen lenken und zugleich den privaten Unternehmen als Richtschnur dienen sollten. Geplant war ferner eine engere Abstimmung der Fiskal-, Geld- und Währungspolitik, u.a. durch die Schaffung eines Rates der Gouverneure der Notenbanken. In einer dritten Stufe von 1966 ab sollte dann eine Übertragung von finanzpolitischen Entscheidungen an die EWG erfolgen und ein gemeinsames Währungs- und Notenbanksystem geschaffen werden. Hatte Marjolin noch Anfang 1962 im Konjunkturausschuss betont, dass die Erstellung von Prognosen in der EWG »in keiner Weise den Beginn einer Planung« darstelle,98 zeigten seine Vorschläge vom Oktober aber, dass er genau das im Sinn hatte. Darauf deutete insbesondere die Idee eines »Wirtschaftsprogramms« hin. Obgleich man auf das Wort »Plan« bewusst verzichtet hatte, ja, sogar betonte, keinen »autoritären Plan« erstellen zu wollen, war der Text von Prinzipien geprägt, die – so Rolf Gocht – »sich von dem französischen Vorbild allenfalls in der Tiefe der Aufgliederung, nicht aber in der Grundlage« unterschieden.99 In westdeutschen Kreisen betrachtete man den Kommissionsentwurf daher als vollkommen inakzeptabel. Entscheidend war dabei, dass sich nicht nur das gegenüber Frankreich und der EWG-Kommission kritisch eingestellte Wirtschaftsministerium, sondern auch das Auswärtige Amt und das Finanzministerium gegen den Entwurf aussprachen.100 Selbst Adenauer, der mit großer Energie auf einen politischen Ausgleich mit Frankreich und eine Vertiefung der EWG hinarbeitete, äußerte schwere Bedenken.101 Die deutsche Seite monierte in den Verhandlungen hauptsächlich die geplante Erstellung von »Rahmenprogrammen«. Auch wenn diese keine vollzugsverbindlichen Vorschriften für die privaten Unternehmen vorsahen, wurde befürchtet, dass »die Freiheit des Marktes gleichwohl geschmälert würde«.102 Die von Brüssel angestrebte »totale Programmierung« müsse dazu führen, dass Unternehmen ihre Entscheidungen nicht mehr auf eigene Informationen gründeten, sondern sich ganz an den staatlichen Vorgaben orientierten. Dadurch werde das für die Marktwirtschaft grundlegende individuelle Wett98 ACDP, I–236, 34/1: EWG, Ausschuß für Konjunkturpolitik, Sitzung am 9.1.1962. 99 R. Gocht, Programmierung in der EWG – zu Ende gedacht, in: FAZ, 5.6.1963. 100 BAK, B 126/18417: Willmann, Bericht, 18.10.1962, u. Meyer-Cording, Bericht, 16.11.1962; B 126/18418: Jansen (AA) an Bundeskanzleramt, 24.4.1963. 101 BAK, B 126/18417: Adenauer an Erhard, 3.1.1963. 102 BAK, N 1254/266: Stellungnahme BMWi zum Memorandum der EWG-Kommission, 28.5.1963.

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bewerbsprinzip ausgehebelt. Schließlich wurden Zweifel geäußert, ob die statistischen Instrumentarien ausreichend seien, um präzise Prognosen für längere Zeiträume zu erstellen. Fehlinvestitionen und eine ineffiziente Allokation volkswirtschaftlicher Ressourcen seien somit zu befürchten. Hinsichtlich der langfristigen finanzpolitischen Planungen wurde eingewendet, dass dies in einem zentralistischen Land wie Frankreich eher möglich sei als in der Bundesrepublik, wo Bund, Länder und Kommunen in ihrem Finanzgebaren weitgehend unabhängig waren.103 Der Konflikt zwischen Bonn und Brüssel gipfelte in einem Rededuell zwischen Erhard und Kommissionspräsident Walter Hallstein am 20. November 1962 im Europäischen Parlament in Straßburg.104 Gegen alle Versuche Hallsteins, das Projekt zu retten, machte Erhard unmissverständlich klar, dass die Bundesregierung einer derart weitreichenden Steuerung der Wirtschaftspolitik nicht zustimmen werde. Erhard kritisierte vor allem die zentralistischen Ansätze des Aktionsprogramms, die eine Einschränkung nationaler Souveränitätsprinzipien bedeuteten.105 Angesichts des deutschen Widerstands entschloss sich die Kommission schließlich zu einer Umarbeitung des Entwurfes. Hallstein delegierte die Angelegenheit an den Wirtschafts- und Sozialausschuss der Kommission, der einen Unterausschuss »Aktionsprogramm« unter Vorsitz des BDI-Syndikus und Europaexperten Wilhelm Beutler einberief. Die von dem Ausschuss am 29. Mai 1963 vorgelegte Stellungnahme diente als Grundlage für einen Neuentwurf, den die Kommission im Juli veröffentlichte.106 Dieser Entwurf wich in wesentlichen Punkten von dem ursprünglichen Text ab. Insbesondere wurden deutsche Einwände gegen die vermeintlich planwirtschaftlichen Elemente des »Aktionsprogramms« berücksichtigt, was sich bereits daran erkennen ließ, dass der Begriff »Programmierung« durch »mittelfristige Wirtschaftspolitik« ersetzt wurde. Eine grundsätzliche Änderung betraf die strikte sachliche und institutionelle Trennung von wissenschaftlichen »Vorausschätzungen« und zielbewusster Steuerung der Wirtschaftspolitik. So sollten die Vorausschätzungen von einem unabhängigen Sachverständigengremium erstellt werden und sich nicht auf eine einzige Projektion beschränken, sondern unter Zugrundelegung unterschiedlicher Hypothesen mehrere Alternativberechnungen enthalten. Damit wurde nicht nur die Unsicherheit derartiger Prognoseverfahren 103 Ebd. 104 Vgl. Freiheitliche Wirtschaftspolitik in Europa. Das Rededuell zwischen Erhard und Hallstein im Europäischen Parlament, in: FAZ, 28.11.1962; zahlreiche Zeitungsberichte in BAK, N 1266/2422; vgl. auch Schönwal. 105 L. Erhard, Ansprache vor dem Parlament, den Ministerräten und den Exekutiven der Gemeinschaften am 20.11.1962 in Straßburg, in: Ausführlicher Sitzungsbericht über die Verhandlungen vor dem Europäischen Parlament, Nr. 21, 20.11.1962. 106 Kommission der EG, Empfehlungen der Kommission an den Rat zur mittelfristigen Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft, Dok. II (KOM 63/271) vom 25.7.1963.

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unterstrichen, sondern auch verhindert, dass die Daten als feste Zielgrößen für die Wirtschaftspolitik verwendet wurden. Ferner legte der Entwurf fest, dass die Vorausschätzungen nicht in Branchen und Sektoren untergliedert würden, sondern lediglich die Aggregate des Sozialproduktes umfaßten. Für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik sollte ein »Ausschuß für mittelfristige Wirtschaftspolitik« zuständig sein. Die Empfehlungen des Ausschusses sollten den öffentlichen Haushalten als Planungsgrundlage dienen, keineswegs jedoch die private Wirtschaftstätigkeit beeinflussen. Die Neufassung des Kommissionsentwurfs wurde im Januar 1964 bis auf kleine Änderungsvorschläge vom Europäischen Parlament sowie vom Wirtschafts- und Sozialausschuss der EWG angenommen.107 Auch eine im November 1963 eingesetzte Ratsgruppe erklärte sich im Prinzip mit dem neuen Entwurf einverstanden. Allerdings kam es hier noch einmal zu einer grundsätzlichen Diskussion, die insbesondere Verfahrensfragen sowie die rechtliche Ausgestaltung der mittelfristigen Wirtschaftspolitik betrafen.108 Wiederum war es die deutsche Seite, die ihre Zustimmung von zahlreichen Änderungen abhängig machte. So setzte sie gegen den Willen Frankreichs und der Kommission durch, dass die Wirtschaftsprogramme nur qualitative, keineswegs jedoch quantitative Ziele enthalten durften.109 Ferner wurde noch einmal klargestellt, dass die Programme nicht rechtlich bindend waren, sondern lediglich als Orientierung für die Wirtschaftspolitik der EWG und der Mitgliedsstaaten dienen sollten. Die Annahme des Programms durch die EWG-Organe zog nach der deutschen Interpretation keineswegs eine Selbstverpflichtung durch die nationalen Regierungen nach sich. Es handele sich, so der deutsche Verhandlungsführer Otto Schlecht, lediglich um eine »Absichtserklärung«, die zwar »politisches und moralisches Gewicht« besitze, aber nicht »rechtlich bindend« sei.110 Eine weitere Forderung der deutschen Delegation betraf die institutionelle Zuordnung des Ausschusses. Während die Kommissionsvertreter sowie die Mehrheit der anderen Länderdelegationen den Ausschuss bei der Kommissi107 Das Europäische Parlament hatte im September 1963 den Wirtschafts- und Finanzausschuss unter Vorsitz des deutschen CDU-Abgeordneten Hans Dichgans mit einer Stellungnahme beauftragt; vgl. Europäisches Parlament, Sitzungsdokumente 1963/64, Dok. 115 vom 14.1.1964 – Bericht im Namen des Wirtschafts- und Finanzausschusses über eine Empfehlung der EWG-Kommission an den Rat (Dok. 73) zu einer mittelfristigen Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss der EWG legte seine Stellungnahme am 29.1.1964 vor; vgl. Dokumentation in BAK, N 281/65 sowie BAK, B 136/7443: CEPES, Bericht betr. Die mittelfristige Wirtschaftspolitik in der EGW, 24.3.1964. 108 BAK, B 136/7443: Sitzungen der Ratsgruppe Wirtschaftsfragen am 22.11.1963, 14.1. u. 18.2.1964. 109 Dies wurde nach langem Feilschen im Ratsprotokoll vermerkt. Die Kompromißformel lautete: »Das Programm legt keine quantitativen Ziele für die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten fest. Dies schließt jedoch nicht aus, daß es auch quantitative Angaben enthalten kann«; BAK, B 136/7443: Sitzung der Ratsgruppe Wirtschaftsfragen am 18.2.1964. 110 BAK, B 136/7443: Schlecht, Bericht, 10.4.1964.

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on einrichten wollten, verlangte Deutschland eine Zuordnung zum Rat. Das wurde damit begründet, dass die Wirtschaftspolitik weiterhin in erster Linie in der Kompetenz der Regierungen verblieb und die Mitglieder des Ausschusses Beamte der nationalen Regierungen waren. Ähnlich wie der Währungsausschuss sollte daher das neue Gremium dem Rat unterstellt werden, dessen Zuständigkeit durch Art. 145 des EWG-Vertrages festgeschrieben war.111 Hinter der formaljuristischen Argumentation der deutschen Seite verbarg sich das Bemühen, den Einfluss der als besonders planungsfreundlich geltenden Kommission möglichst gering zu halten. Nach langen Verhandlungen wurde schließlich der Kompromissvorschlag der italienischen Delegation angenommen, der vorsah, dem Gremium keine feste institutionelle Zuordnung zu geben.112 Betrachtet man das Ergebnis der fast eineinhalbjährigen Diskussionen, so hatte sich die deutsche Seite in entscheidenden Punkten durchsetzen können. Die vorgesehene Abstimmung der Wirtschafts- und Konjunkturpolitik und die Einführung einer längerfristigen Finanzplanung lagen durchaus im deutschen Interesse. Das gleiche galt für die Einführung unverbindlicher Prognosen. Demgegenüber hatte man jede Form der Planung für den privaten Sektor erfolgreich verhindert. Auch mit dem durch Ratsbeschluss vom 15. April 1964 eingesetzten Ausschuss für mittelfristige Wirtschaftspolitik konnte man in Bonn leben.113 Da die Empfehlungen und Programme des Gremiums durch einen Ratsbeschluss – d.h. einstimmig – angenommen werden mussten und auch danach keine rechtlich bindende Wirkung besaßen, bestand keine Gefahr, dass die wirtschaftspolitischen Entscheidungsspielräume der deutschen Regierung beschnitten würden. Das Bundeswirtschaftsministerium sah angesichts der gefundenen Regelung »zu keinen Bedenken mehr Anlaß« und drückte die Hoffnung aus, dass damit »die Diskussion um eine ›Planification‹ in der EWG zu einem befriedigenden Abschluß gebracht worden« sei.114 Überzeugte Wirtschaftsliberale wie Rolf Gocht begriffen die mittelfristige Wirtschaftspolitik der EWG gleichwohl als ordnungspolitischen Sündenfall und befürchteten, dass die Kommission versuchen werde, »ihre ursprünglichen Vorstellungen wenigstens teilweise in der praktischen Arbeit des Ausschusses zu verwirklichen«. Keineswegs, so Gocht, dürfe man sich daher auf eine passive Mitarbeit in dem Gremium beschränken. Vielmehr müsse die deutsche Delegation eigene Vorstellungen entwickeln und die Arbeit des Ausschusses aktiv gestalten. Nur so könne man die Bemühungen der Kommission verhindern, »über die mittelfristige Wirtschaftspolitik doch wieder Planificati111 Vgl. zu den juristischen Fragen Klisch, S. 82–104. 112 BAK, B 136/7443: Schlecht, Bericht, 14.1.1964. 113 EWG, Beschluß des Rates vom 15.4.1964 über die Einsetzung eines Ausschusses für mittelfristige Wirtschaftspolitik, in: Amtsblatt der EG, 7/64, S.103. 114 BAK, B 102/93207: Monatsbericht des BMWi für den Bundeskanzler, 15.5.1964.

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onstendenzen einzuschmuggeln«.115 Mit Erfolg setzte sich die Bundesregierung daher dafür ein, dass ein deutscher Vertreter zum Vorsitzenden des Ausschusses gewählt wurde. Diese Aufgabe übernahm der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium Wolfram Langer.116 Der Generalsekretär im französischen Planungskommissariat, Pierre Massé, wurde zum Stellvertreter bestimmt. Die praktische Tätigkeit des Ausschusses für mittelfristige Wirtschaftspolitik zeigte rasch, dass die von deutscher Seite eingebauten »Sicherungen« gegen eine planungsfreundliche Wirtschaftsbürokratie in der EWG ausreichend waren. Die erste Fünfjahresprojektion, die im April 1966 durch die Expertengruppe des Ausschusses veröffentlicht wurde, beschränkte sich auf sehr allgemeine und hoch aggregierte Daten. Im Wesentlichen wurden die amtlichen Statistiken der Mitgliedsländer übernommen. Da die Bundesrepublik für den projektierten Zeitraum 1965–70 nicht einmal nach Sektoren gegliederte Zahlen vorlegte, sondern nur die erwartete gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate berechnete, ließen sich nur wenige Anhaltspunkte über strukturelle Veränderungen ermitteln.117 Auch das darauf beruhende »Programm für die Mittelfristige Wirtschaftspolitik« blieb daher sehr allgemein und bildete ganz im Sinne der deutschen Bemühungen »nur eine Arbeitshypothese zur Erleichterung wirtschaftspolitischer Entscheidungen«.118

4. Konflikt und Integration Die Bundesrepublik hat in den Verhandlungen über eine EWG-Wirtschaftspolitik eine Doppelstrategie verfolgt, die Zeitgenossen vielfach widersprüchlich erscheinen musste. Einerseits gehörte die Bundesregierung zu den energischsten Befürwortern einer konjunkturpolitischen Kooperation der EWGStaaten. Das von Müller-Armack entwickelte Projekt eines »Europäischen Konjunkturboards« ging weiter als die meisten anderen Vorschläge, die in jener Zeit in den internationalen Gremien der OEEC und der EWG zirkulierten. Andererseits blockierte die deutsche Seite alle Bemühungen um eine wei115 BAK, B 136/7443: Gocht in einer Ressortbesprechung am 14.7.1964; vgl. auch ACDP, I–83, A74: Bundesausschuß für Wirtschaftspolitik der CDU, Sitzung am 4.7.1963, S. 3. 116 Über den Vorsitz war in den EWG-Gremien kontrovers diskutiert worden; vgl. Groeben, S. 321. 117 Dies wurde von deutscher Seite bewusst so gehalten. Das Programm des Ausschusses, so ein interner Bericht des Bundeskanzleramtes, »spiegelt somit das erfolgreiche Bemühen der Bundesregierung wider, nicht über die mittelfristige Wirtschaftspolitik zu einer europäischen Planification zu gelangen«; BAK, B 136/7443: Praß, Vermerk, 27.4.1966. 118 Ebd.; EWG, Der Rat, Programm für die Mittelfristige Wirtschaftspolitik (1966–1970), in: Amtsblatt der EG, 25.4.1967.

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tergehende »Wirtschaftsplanung«, wie sie von der EWG-Kommission und von Frankreich gefordert wurde. In der deutschen Verhandlungsführung mischten sich politische Ziele mit strategischen Überlegungen. Eine stärkere konjunkturpolitische Kooperation wurde angesichts der außenwirtschaftlichen Verflechtungen der Bundesrepublik für unverzichtbar gehalten, um die Zahlungsbilanzungleichgewichte zwischen den europäischen Volkswirtschaften abzubauen. Zugleich ließ sich damit eine schlüssige Alternative zu den Kommissionsplänen präsentieren, welche aus deutscher Sicht das Ende der Marktwirtschaft bedeutet hätten. Die konstruktive Rolle, die Westdeutschland in der Frage des EWG-Konjunkturausschusses spielte, korrespondierte daher mit der Blockadepolitik in Fragen der »Wirtschaftsprogrammierung«, wie sie Frankreich und der EWG-Kommission vorschwebte. Enttäuscht wurde die Hoffnung einiger Europapolitiker, dass die ökonomische Integration einen erhöhten Anpassungsdruck erzeugen und gleichsam automatisch zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik führen werde. Weder der Konjunkturausschuss noch der Ausschuss für mittelfristige Wirtschaftspolitik waren in der Lage, die Arbeit der Kommission und anderer EWG-Gremien entscheidend zu beeinflussen.119 Die zahlreichen Gutachten und Empfehlungen wurden allenfalls zur Kenntnis genommen, ohne jedoch eine sichtbare Wirkung zu entfalten. Es wäre jedoch falsch, die geringe Effizienz dieser Organe allein auf die deutsche »Abwehrarbeit« zurückzuführen.120 Zwar war es im Wesentlichen die harte Verhandlungsführung der deutschen Regierung, welche die von der Kommission anvisierten Planungskonzeptionen schon im Ansatz verhinderte. Doch wäre es vermutlich auch ohne die deutsche Blockadepolitik kaum zu einer umfassenden Planungsaktivität auf europäischer Ebene gekommen. Denn die französische Regierung unter de Gaulle war ihrerseits nicht bereit, Souveränitätsrechte an supranationale Organisationen abzutreten. Schließlich verhinderte die allgemeine Stagnation des Integrationsprozesses in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, dass die wirtschaftspolitische Kooperation weiter voranschritt.121 Trotz dieser ernüchternden Bilanz wäre es verfehlt, die wirtschaftspolitischen Initiativen der sechziger Jahre nur aus der Perspektive des Scheiterns zu betrachten. Blieben die in der EWG diskutierten Maßnahmen und Program119 Vgl. BAK, B 122/4921: Memorandum von A. Müller-Armack, Konzeption für die zukünftige europäische Integration, 7.11.1965. Müller-Armack, der 1963 aus dem Wirtschaftsministerium ausgeschieden war, brachte darin seine Enttäuschung über die europäische Wirtschaftspolitik zum Ausdruck; vgl. auch die Einschätzung von Nürk, S. 41–75. 120 So ein leitender Beamter des Bundesfinanzministeriums in einer Ressortbesprechung am 14.7.1964, BAK, B 136/7443: Protokoll vom 22.7.1964. 121 Vgl. Groeben.

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me zunächst ohne erkennbare Wirkung, zeigt die weitere Integrationsgeschichte, dass sie zwar verfrüht, keineswegs aber utopisch waren. Sowohl Müller-Armacks Projekt eines »Konjunkturboards« von 1958 als auch das von Marjolin vorgelegte Aktionsprogramm aus dem Jahre 1962 enthielten zahlreiche Vorschläge, die später in ähnlicher Form verwirklicht werden sollten. Dies gilt für den Bereich der Struktur- und Regionalförderung ebenso wie für die schrittweise währungspolitische Integration seit Ende der siebziger Jahre.122 Ferner zeigt gerade die Debatte über eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, wie sehr die europäische Diskussion auf die Entwicklung in den Mitgliedsstaaten zurückwirkte. Das galt in besonderem Maße für Deutschland. Die Diskussion innerhalb der EWG zwang die Bundesrepublik, sich mit den Entwicklungen anderer Länder auseinanderzusetzen und ihre eigenen Konzepte zu überdenken. Zudem musste die Bundesregierung in den Verhandlungen mit den EWG-Partnern Kompromisse eingehen und sich der Position der anderen Staaten zumindest ein Stück weit annähern.123 War die Debatte – vor allem in der Anfangsphase – durch grundsätzliche ordnungspolitische Divergenzen zwischen Deutschland und Frankreich geprägt, so schloss das eine enge Zusammenarbeit in den wirtschaftspolitischen Gremien keineswegs aus. Wie der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Johannes Schöllhorn, 1966 bemerkte, machten sich »die unterschiedlichen ›Ideologien‹ bezüglich der Grundorientierung einer längerfristig konzipierten Wirtschaftspolitik ... bei der praktischen Arbeit weit weniger hemmend bemerkbar« als erwartet.124 Beunruhigt konstatierten daher Verfechter der ordoliberalen Lehre Mitte der sechziger Jahre, dass »gewisse Ansichten, die mit der französischen Planification in Verbindung gebracht werden können, bei den für die Wirtschaftspolitik zuständigen Stellen Eingang gefunden haben«.125 Manche Beobachter sprachen sogar von einer zunehmenden »Konvergenz« oder zumindest von einem »Minimalkonsens« zwischen den deutschen und französischen Positionen.126 Mag dies im Rückblick übertrieben erscheinen, so war doch unverkennbar, dass sich die deutsche Regierung immer mehr von den liberalen Grundprinzipien entfernte, welche die Wirtschaftspolitik der Nachkriegsjahre geprägt hatten.127 Es war nicht zu übersehen, dass die westdeutsche Debatte 122 Vgl. Müller-Armack, Weg, S. 258f.; Nürk. 123 Vgl. etwa das rückblickende Urteil von U. Meyer-Cording, der von 1958 bis 1963 die Europaabteilung im Wirtschaftsministerium leitete. Die Aufstellung der Programme zur mittelfristigen Wirtschaftspolitik habe »zu einem gegenseitigen Lernprozeß geführt«; Meyer-Cording, S. 318; vgl. auch Strickrodt, Verfassungsrahmen. 124 BAK, B 102/59356: Sitzung des Wirtschaftspolitischen Ausschusses Bund/Länder, 28.6.1966. 125 Tholl, S. 199. 126 Neunreither, S. 61; Denton u.a., S. 368; skeptisch dagegen Kleps. 127 Vgl. auch die Schrift des Freiburger Volkswirts Paul Klemmer, die 1967 in der von Bernhard Vogel (CDU) herausgegebenen Reihe »Freiheit und Ordnung« erschien: »Betrachtet man

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über eine »Zweite Phase« der Sozialen Marktwirtschaft durch die EWGGründung und durch die ständige Konfrontation mit den Wirtschaftsordnungen anderer Länder starke Impulse erhielt. Nachweislich wurde die Einführung der »mittelfristigen Finanzplanung« ab 1967 durch den Druck der EWG-Kommission beschleunigt.128 Der europäische Integrationsprozess wirkte sich somit stärker auf die westdeutsche Wirtschaftspolitik aus, als es auf den ersten Blick erscheinen mochte.

heute rückblickend den Verlauf dieser mehrere Jahre andauernden Diskussion, so hat, gemessen an der ursprünglichen Schärfe der Auseinandersetzungen, doch eine erstaunliche Annäherung stattgefunden. Zwar gibt es noch immer eine kleine Gruppe extrem liberal orientierter Kreise, die jeglichen Versuch einer Planung in der Marktwirtschaft und damit einer mittelfristigen Wirtschaftspolitik kategorisch ablehnen. Sie befinden sich aber in der Minderheit oder auf dem Rückzug. Für eine Mehrheit sind eine Gesinnungsänderung sowie eine zunehmende Entideologisierung und Versachlichung des Gesprächs festzustellen, was auch bereits in einem gewissen wirtschaftspolitischen Stilwandel seinen äußeren Niederschlag gefunden hat.« Klemmer, S. 5. 128 Vgl. BAK, B 136/7454: BMWi, Mehrjährige Finanzplanung, 6.12.1965; vgl. auch Wille, S. 428.

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Vierter Teil: Die Globalsteuerung der Wirtschaft

»Wirtschaftspolitik kann heute nicht mehr nur eine Sache des Gefühls und der Intuition sein; sie ist auch ein intellektuelles und rationales Geschäft der Rechner und Experten.«1

Die bundesdeutsche Volkswirtschaftslehre hatte sich seit Mitte der fünfziger Jahre tiefgreifend verändert. Zum einen gelangte das mathematische Modelldenken, das die Historische Schule mit ihren zahlreichen Nebenlinien so energisch bekämpft hatte, nun endgültig zum Durchbruch. Ökonometrie, Statistik und Modellanalyse prägten das methodische Selbstverständnis vor allem in den anwendungsorientierten Disziplinen wie der Wachstums- und Konjunkturforschung, fanden jedoch auch Eingang in die anderen Subdisziplinen der bundesdeutschen Wirtschaftswissenschaften. Zum anderen wurde die Ökonomie zu einer Zukunftswissenschaft, die nicht nur vergangene und gegenwärtige Prozesse erklären, sondern auch zukünftige Entwicklungen prognostizieren sollte. Diese Veränderungen waren auch für den rasanten Aufstieg der ökonomischen Expertise verantwortlich. Die Ausweitung und Institutionalisierung der Politikberatung wurde bereits detailliert geschildert und dabei auch gelegentlich auf ihre Wirkung auf den Ablauf politischer Prozesse hingewiesen. In den folgenden Kapiteln soll nun ausführlich der Frage nachgegangen werden, wie sich die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik seit Mitte der fünfziger Jahre verändert hat. Dabei wird deutlich werden, dass die »Verwissenschaftlichung« politischen Handelns auch mit einem neuen Staatsverständnis einher ging. Denn die Durchsetzung der wirtschaftspolitischen »Globalsteuerung« führte nicht nur zu einer Zunahme der ökonomischen Expertise, sondern auch zu einer Erweiterung staatlicher Steuerungsfunktionen. Die Neubestimmung staatlichen Handelns war das Ergebnis eines langfristigen politischen Wandels, der bereits in der Mitte der fünfziger Jahre einsetzte.

1 K. Schiller, Vom Umgang mit einer Royal Commission – Bemerkungen zum gesamtwirtschaftlichen Gutachten des Sachverständigenrates und zur Stellungnahme der Bundesregierung (o.D., wahrscheinlich 1963), in: BAK, N 1229/184.

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IX. Unzähmbare Konjunktur 1955–1960 1. Von Marx zum Markt: Die SPD als wirtschaftspolitische Reformpartei Sozialdemokratie und Gewerkschaften befanden sich Anfang der fünfziger Jahre in einer tiefen Krise. Die Hoffnungen der Gewerkschaften auf eine umfassende Neuordnung der Wirtschaft hatten sich nicht erfüllt. Die Debatte über eine Verstaatlichung der Schlüsselindustrien war nach der Bundestagswahl vom Herbst 1949 im Sande verlaufen, und auch in der Mitbestimmungspolitik hatten die Gewerkschaften ihre weit gespannten Ziele nicht verwirklichen können. Das Betriebsverfassungsgesetz vom Juli 1952 wurde als herbe Niederlage empfunden.2 Da weitere Reformvorhaben keine Aussicht auf Erfolg hatten, waren die Gewerkschaften fortab auf ihre traditionelle Rolle als »tarifpolitisch ausgerichtete Arbeitsmarktpartei« zurückverwiesen.3 Schließlich hatte der Tod von Hans Böckler 1951 eine schwere Führungskrise an der Spitze des DGB ausgelöst, die erst nach einer langwierigen Nachfolgediskussion überwunden wurde. Für die Sozialdemokraten stellte sich die Lage nicht viel besser dar. In wirtschaftspolitischen Fragen war die SPD in den Nachkriegsjahren an der Seite des DGB marschiert. Das Scheitern der ambitionierten Neuordnungskonzepte war umso bitterer, als die Regierung Adenauer gerade auf wirtschaftlichem Gebiet ihre größten Erfolge verbuchen konnte. Die Währungsreform vom Juni 1948 und die von Erhard gegen die Stimmen der SPD durchgesetzte Aufhebung der Bewirtschaftung und Preiskontrolle hatten zu einer raschen Erholung der industriellen Produktion und einer erheblichen Verbesserung der Versorgungslage in den Westzonen geführt.4 Zwar kam es Ende 1949 noch einmal zu einer Krise auf dem Arbeitsmarkt, als die Arbeitslosenquote innerhalb von wenigen Monaten auf etwa 12% anstieg.5 Doch handelte es sich um ein vorübergehendes Phänomen, das spätestens mit dem im Sommer 1950 einsetzenden Korea-Boom wieder verschwand. Immerhin schienen sich aber für kurze Zeit die pessimistischen Prognosen der sozialdemokratischen Opposition zu bewahrheiten. Die SPD konnte sich mit der Forderung nach 2 3 4 5

Vgl. Thum. Schönhoven, Gewerkschaften, S. 219. Buchheim, Währungsreform. Giersch u.a., Fading Miracle, S. 46.

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einem umfassenden Beschäftigungsprogramm profilieren, zumal die amerikanische Marshallplan-Behörde die Bundesregierung ebenfalls zu raschem Handeln aufforderte.6 Erhard sah sich nun gezwungen, ein Konjunkturprogramm in die Wege zu leiten, das freilich nur ein geringes Finanzvolumen aufwies und das dem Arbeitsmarkt keine wirklichen Impulse gab.7 Ohnehin waren sich die meisten Wirtschaftsexperten darüber einig, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit in erster Linie strukturelle und nicht konjunkturelle Ursachen hatte.8 Die erste und – für über zwei Jahrzehnte letzte – Arbeitsmarktkrise der Bundesrepublik blieb eine Episode. Trotz der hohen Zuwanderung von Arbeitskräften aus der DDR und Osteuropa ging die Arbeitslosenquote in den folgenden Jahren kontinuierlich zurück. Mitte der fünfziger Jahre lag sie bei etwa 5% und fiel bis 1960 auf unter 2%.9 Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt war ein Spiegelbild des exzeptionellen wirtschaftlichen Wachstums der fünfziger Jahre. Zwischen 1950 und 1960 wuchs das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik real um durchschnittlich 8,2% pro Jahr. Zugleich gelang es, die im Zuge des Korea-Krieges kurzzeitig ansteigende Inflationsrate auf niedrigem Niveau zu stabilisieren. Sie fiel von 10,8% im Jahre 1951 auf 4,8% 1952. 1953 und 1954 blieb das Preisniveau konstant. Erst ab Mitte der fünfziger Jahre nahm die Inflation infolge der überschäumenden Konjunktur wieder zu.10 Angesichts dieser Entwicklung befand sich die SPD auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik in einem Dilemma: Auf der einen Seite gab es hier wenig Möglichkeiten, sich mit alternativen Vorschlägen zu profilieren – der rasante wirtschaftliche Aufstieg der Bundesrepublik seit 1948 wurde vor allem Erhard und den Regierungsparteien angerechnet. Auf der anderen Seite avancierte die Wirtschafts- und Sozialpolitik zum zentralen Handlungsfeld der frühen Adenauer-Ära, das nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die innenpolitische Diskussion und die Wahlkämpfe in starkem Maße prägte.11 Die SPD stand darum vor der schwierigen Aufgabe, ein wirtschaftspolitisches Programm zu formulieren, das den 1948 eingeschlagenen marktwirtschaftlichen Weg mit seinen nicht mehr zu bestreitenden Erfolgen als prinzipiell richtig anerkannte, 6 Vgl. Zur SPD-Initiative vgl. Dokumente in BAK, B 102/12593; zu den amerikanischen Forderungen vgl. BAK, B 146/223: Bericht vom 21.1.1950. 7 Vgl. BAK, B 102/12593: Regierungsprogramm, 18.2.1950; vgl. auch Wallich, Triebkräfte, S. 77–79; Adamsen, S. 56–83. Die kreditfinanzierte Ausgabenerhöhung belief sich auf 0,6 Mrd. DM. Das für den Sommer 1950 anvisierte zweite Konjunkturprogramm, das ein deutlich höheres Volumen vorsah, wurde nicht mehr umgesetzt; vgl. Berger, S. 107–111. 8 Vgl. das Gutachten »Kapitalmangel und Arbeitslosigkeit in der sozialen Marktwirtschaft« vom 26.2.1950, in: Wissenschaftlicher Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, Gutachten 1948–50, S. 55ff.; vgl. auch Paqué. 9 Giersch u.a., Fading Miracle, S. 11. 10 Ebd., S. 5 u. 11; Lindlar, S. 17. 11 Vgl. Spicka; Löffler, S. 331 u. passim.

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zugleich jedoch neue Perspektiven für eine Verstetigung der Nachkriegskonjunktur aufzeigte. Allerdings war ein programmatischer Neuanfang bis zum Tod Kurt Schumachers im August 1952 kaum möglich. Der Parteivorsitzende galt in wirtschaftlichen Fragen als »Traditionalist« und stand einer programmatischen Neuorientierung mehr als reserviert gegenüber.12 Überdies wurde der wirtschaftspolitische Kurs der Partei bis Anfang der fünfziger Jahre durch die marxistische Kapitalismuskritik von Erik Nölting und Viktor Agartz bestimmt.13 Beide bekleideten in den Nachkriegsjahren wichtige politische Ämter und gehörten zum engeren Beraterkreis Schumachers. Agartz, seit 1945 Sprecher der SPD in wirtschaftspolitischen Grundsatzfragen, war 1946 zum Generalsekretär des deutschen Wirtschaftsamtes der Britischen Zone in Minden berufen worden und hatte 1947/48 die SPD im Frankfurter Wirtschaftsrat vertreten.14 Gemeinsam mit Nölting hatte er 1946 im Auftrag seiner Partei ein Wirtschaftsprogramm entworfen, das auf der Idee einer »sozialistischen Planwirtschaft in einer demokratischen Gesellschaft« gründete. Die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, umfassende verteilungspolitische Eingriffe sowie eine gesamtwirtschaftliche Rahmenplanung bildeten die Kernelemente dieses Programms.15 Mit dem Tod Schumachers verloren beide Politiker jedoch rasch an Einfluss. Nölting hatte sein Amt als Wirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen nach dem Regierungswechsel 1950 aufgeben müssen und wirkte fortan als einfacher Abgeordneter der SPD im Bundestag. Er starb 1953.16 Agartz, der seit 1947 mit Erich Potthoff das »Wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften« leitete, geriet innerhalb der SPD zunehmend in die Isolation und wurde 1958 wegen parteischädigenden Verhaltens ausgeschlossen.17 Die herbe Niederlage in den Bundestagswahlen vom September 1953 löste innerhalb der SPD eine ebenso intensive wie zähe Richtungsdebatte aus, die schließlich nach mehrjährigen Vorarbeiten zur Verabschiedung eines neuen Parteiprogramms auf dem Godesberger Parteitag 1959 führte. Im Zentrum dieser Diskussion stand von Anfang an die Wirtschaftspolitik, da hier nach verbreiteter Auffassung die Defizite gegenüber den Regierungsparteien besonders groß waren. Selbstkritisch gestand man sich nach der Wahl 1953 in der Parteiführung ein, dass die »Anti-Erhard-Kampagne« sowie »die ewigen Parolen, … morgen oder übermorgen bricht in Deutschland die große Wirt12 Klotzbach, S. 255f. 13 Vgl. E. Ott. 14 Vgl. Koolen; Weinzen. 15 Vgl. Grundgedanken. 16 Vgl. Nölting. 17 Der Grund waren Agartz’ mutmaßliche Verbindungen zur SED. Bereits 1955 musste er aus dem Wirtschaftswissenschaftlichen Institut ausscheiden; vgl. Koolen.

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schaftskrise aus«, bei den Wählern nicht angekommen seien.18 Wortgewaltig forderte Carlo Schmid die Partei auf, ideologischen »Ballast« abzuwerfen, sich den bürgerlichen Wählerschichten zu öffnen, die positive Funktion des privaten Eigentums anzuerkennen und sich endlich den Zukunftsaufgaben von Wirtschaft und Gesellschaft zuzuwenden.19 Die gut erforschte Vorgeschichte des Godesberger Programms und die damit einhergehende »Emanzipation von gestern« (Bracher) muss hier nicht in ihren Einzelheiten dargestellt werden.20 An dieser Stelle soll vor allem die Frage interessieren, auf welcher konzeptionellen Grundlage die SPD ihr neues Verhältnis zur Wirtschaft begründete und welche praktischen Konsequenzen daraus gezogen wurden. Die Debatte über den neuen Kurs in der Wirtschaftspolitik war auch das Ergebnis eines personellen Führungs- und Generationswechsels, der eine Reihe jüngerer, pragmatisch orientierter Politiker – meist mit akademischem Hintergrund – innerhalb der Partei in strategische Positionen brachte. Allen voran waren dies Heinrich Deist, seit 1953 wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD und maßgeblich an der Ausarbeitung des Godesberger Programms beteiligt, der baden-württembergische Politiker und Finanzexperte Alex Möller, der seit 1958 zudem Mitglied des Parteivorstandes war und damit auch in der Bundespolitik an Bedeutung gewann, und schließlich Karl Schiller, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und seit 1948 Wirtschafts- und Verkehrssenator der Hansestadt. Alle drei verkörperten auf jeweils eigene Art einen nüchternen und sachbezogenen Politikstil, der sich inhaltlich wie habituell von den Traditionen der alten Arbeiterpartei abgrenzte. Überdies übten alle drei neben ihrer politischen Karriere bürgerliche Berufe aus und wahrten Distanz zum politischen Tagesgeschäft.21 Heinrich Deist war promovierter Betriebswirt und Steuerberater und hatte in den fünfziger Jahren führende Positionen in der Montanindustrie inne; unter anderem war er Aufsichtsratsvorsitzender des Bochumer Vereins für Gußstahlfabrikation und der WURAG Eisen- und Stahlwerke AG.22 Alex Möller hatte sich als Autodidakt zum Versicherungsexperten hochgearbeitet, war seit 1946 Vorstandsvorsitzender der Karlsruher Lebensversicherung und Mitglied mehrerer Aufsichtsräte in öffentlichen Einrichtungen und privaten Wirtschaftsunternehmen.23 18 So Ernst Reuter auf einer Referenten-Besprechung der SPD in Berlin am 18.8.1953, in: Reuter, S. 802; vgl. AdSD, SPD, PV, Sitzung am 8.9.1953 (vgl. v.a. die Analysen von E. Reuter, W. Eichler und W. v. Knoeringen; ebd., Bl.3). 19 C. Schmid, Zur Haltung der SPD nach den Wahlen. Rede im Bayerischen Rundfunk am 28.10.1953, in: AdSD, SPD, PV, K 5; vgl. auch Weber, Schmid, S. 498–500. 20 Vgl. v.a. Köser, Grundsatzdebatte; Miller; Klotzbach. 21 Vgl. Zencke, S. 48. 22 Vgl. Klotzbach, S. 375; zu Deists Rolle bei der Ausarbeitung des Godesberger Programms vgl. Köser, Kontrolle. 23 Vgl. Möller, Genosse Generaldirektor; Fr. K. Fromme, Alex Möller, in: Kempf/Merz, S. 494–497.

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Karl Schiller verfolgte zeitlebens eine politische und akademische Doppelkarriere. Nachdem er 1934 bei Carl Brinkmann in Heidelberg über »Arbeitsbeschaffung und Finanzordnung« promoviert hatte, war er als Leiter einer Arbeitsgruppe an das »Institut für Weltwirtschaft« gegangen.24 1939 hatte er sich in Kiel bei Gerhard Mackenroth mit einer Studie über »Marktregulierung und Marktordnung in der Weltagrarwirtschaft« habilitiert.25 Nach dem Krieg gelang ihm über Zwischenstationen in Rostock und Kiel der Sprung auf einen Lehrstuhl an der Universität Hamburg, wo er außerdem das »Institut für Außenhandel und Seewirtschaft« sowie das »Seminar für Sozialökonomik« leitete. Zwischen 1956 und 1958 wirkte er als Rektor der Hamburger Universität, anschließend war er zwei Jahre lang Mitglied des neu gegründeten Wissenschaftsrates.26 Noch dezidierter als Möller und Deist konzentrierte sich Schiller auf wirtschaftspolitische Sachprobleme, während er sich von der allgemeinen Parteiarbeit fern hielt. Seine Reden und Schriften waren durch einen analytischen Zugriff auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme gekennzeichnet, die er stets auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückbezog.27 Schiller war zweifellos der bekannteste, aber keineswegs der einzige Wirtschaftspolitiker der Nachkriegs-SPD, der politische und akademische Tätigkeit miteinander verband. In ähnlicher Weise taten dies etwa auch der Direktor des Kieler »Instituts für Weltwirtschaft« und SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Baade, der Göttinger Volkswirtschaftsprofessor und Mitherausgeber der »Neuen Gesellschaft« Gisbert Rittig, der Münsteraner Volkswirt Andreas Predöhl, der Direktor des HWWA Heinz-Dietrich Ortlieb, der Berliner Politologe und Ökonom Gert von Eynern oder der Kölner Professor für Sozialpolitik und ehemalige NRW-Landespolitiker Gerhard Weisser. Zu nennen ist in diesem Kontext auch Bruno Gleitze, der nach mehrjähriger Tätigkeit am DIW als Mitgeschäftsführer zum »Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften« wechselte, bevor er 1967 in Nordrhein-Westfalen Wirtschaftsminister wurde. Diese Gruppe von Wissenschaftlern und Intellektuellen war insbesondere im Wirtschaftspolitischen Ausschuss beim SPD-Parteivorstand stark vertreten und spielte eine wichtige Rolle bei der Formulierung des Godesberger Programms.28 Es war dieser neue Typus des wissenschaftlichen Experten, der nicht nur das öffentliche Bild der Partei, sondern auch ihr wirtschaftspolitisches Profil zunehmend prägte. Schiller, Deist und Möller hatten frühzeitig begriffen, dass 24 Schiller, Arbeitsbeschaffung; vgl. U. Andersen, Karl Schiller, in: Kempf/Merz, S. 583–588. 25 Schiller, Marktregulierung. 26 Außerdem war Schiller seit 1952 Ehrenvorsitzender des Bundesverbandes Deutscher Volks- und Betriebswirte und Mitglied des engeren Vorstandes des Vereins für Socialpolitik; BAK, N 1229/243. 27 Vgl. Schiller, Aufgaben. 28 Vgl. Mitgliederliste in AdSD, SPD, PV, WPA, 371.

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die chiliastische Zukunftsvision einer sozialistischen Gesellschaft nicht viel zur Lösung aktueller wirtschaftlicher Probleme beitragen konnte. Auch die auf ökonomischem Feld besonders heftig geführten weltanschaulichen Diskussionen über den »richtigen Weg« schienen ihnen wenig ergiebig und zu sehr an den »politischen Formeln des vergangen Jahrhunderts« orientiert.29 Vor allem Deist und Schiller griffen den dogmatischen Umgang mit wirtschaftlichen Theorien scharf an. »Heilslehren«, betonte Deist auf dem Stuttgarter Parteitag der SPD 1958, »sind hervorragend geeignet, den Gläubigen Trost zu spenden. Sie sind aber in der Regel ungeeignet, die Probleme des Diesseits zu lösen.« Deist warnte daher vor der »Monomanie« althergebrachter Rezepte und forderte eine »realistische Politik«, die sich auf das »ganze und umfangreiche Instrumentarium der modernen Wirtschaftspolitik« stütze.30 Mit gleicher Stoßrichtung plädierte Schiller für eine »multiple Wirtschaftspolitik«, die »mit theoretischen Werkzeugen aller Art arbeitet und nicht einer Monomanie der theoretischen oder politischen Mittel verfallen ist«. Längst habe sich die ökonomische Lehre »von unmittelbaren dogmatischen Zweckwerten abgelöst« und sei zu »einem zweckneutralen Werkzeugkasten« geworden.31 So ließen sich ohne weiteres Ansätze der neoklassische Preistheorie, der keynesianische Makroökonomik oder auch der Spieltheorie zu einer wissenschaftlichen »Synthese« zusammenführen. Ausdrücklich schloss Schiller hierbei auch die Ordnungstheorie der Freiburger Schule mit ein, deren »gewaltiges Verdienst« für den wirtschaftlichen Wiederaufbau er immer wieder betonte.32 Die von Schiller und Deist angestrebte »Entideologisierung« des Parteiprogramms vollzog sich in mehreren Schritten. Nach der Wahlniederlage von 1953 gewann eine reformorientierte Gruppe um Willi Eichler, Carlo Schmid, Fritz Erler und Willy Brandt in der Parteiführung an Einfluss. Sie strebte eine Öffnung der Partei zur bürgerlichen Mitte an und unterstützte die Programmerneuerung auf wirtschaftspolitischem Gebiet.33 Im Zentrum stand dabei zunächst die Frage der Eigentumsverfassung, hatte doch die Überführung der großen Industrieunternehmen in »Gemeineigentum« nach 1945 zu den Grundforderungen der Partei gehört. Dieses Ziel erschien Anfang der fünfziger Jahre nicht nur unrealistisch, sondern war aus der Sicht von Schiller und Deist auch aus grundsätzlichen Überlegungen falsch. In Anlehnung an Euckens Interdependenzthese – und mit Blick auf die Entwicklung in der DDR – betrachtete etwa Deist die auf privatem Eigentum beruhende Marktwirt29 Deist, S. 9. 30 Grundsatzreferat Deists »Wirtschaftspolitik«, in: Protokoll des SPD-Parteitags 1958, S. 178–207, hier S. 184. 31 Schiller, Entwicklungen, S. 25; vgl. auch ders., Scheinprobleme, S. 15. 32 Ders., Entwicklungen, S. 18. 33 Vgl. Held, S. 249ff.

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schaft als zentrales Element einer pluralistischen Demokratie: »Wo es keine wirtschaftliche Freiheit gibt, gibt es im Grunde genommen auch keine politische Freiheit. Hier liegt die grundsätzliche Abgrenzung gegenüber dem östlichen Wirtschaftssystem, die in aller Deutlichkeit erfolgen muß, wenn der Westen Bestand haben soll.«34 Dagegen verwies Schiller vor allem auf die ökonomische Bedeutung des Konkurrenzprinzips. Nur der funktionierende Wettbewerb des Marktes könne eine »Vermachtung der Wirtschaft« durch starke Unternehmenskonzentration und Monopolbildung verhindern.35 Ganz im Sinne des »Imperativs der Freiburger Schule« sah er es als die Aufgabe des Staates, den Wettbewerb durch strikte Regeln und notfalls auch durch staatliche Eingriffe zu garantieren.36 Diese Vorstellung stand auch hinter der von Schiller geprägten Formel »Soviel Wettbewerb wie möglich, soviel Planung wie nötig«, die erstmals im Dortmunder Aktionsprogramm der Partei von 1952 auftauchte und die Leitlinie für die weitere Programmdiskussion bis zum Godesberger Parteitag bilden sollte.37 Staatliche Eingriffe in die private Eigentumsordnung waren aus dieser Perspektive rein instrumentell und nur dann zu rechtfertigen, wenn offensichtliches Marktversagen vorherrschte.38 Willi Eichler, seit 1954 Vorsitzender der Programmkommission des Parteivorstandes, drückte das folgendermaßen aus: »Wer meint, die Freiheit des einzelnen oder von Gruppen im Interesse des Ganzen oder des öffentlichen oder des Gemeinwohls einschränken zu sollen, wird dies zu begründen haben, nicht umgekehrt derjenige, der seine Freiheit aufrecht erhalten will. Die Beweislast liegt beim Planer.«39 Solche Positionen waren aber innerhalb der SPD und der Gewerkschaften in den fünfziger Jahren weiterhin umstritten.40 Nicht nur Parteilinke wie Wolfgang Abendroth oder Viktor Agartz, sondern auch viele gemäßigte SPDPolitiker wie der baden-württembergische Wirtschaftsminister Herrmann Veit oder der Gewerkschaftsführer Heinz Kluncker wandten sich scharf gegen die von Schiller betriebene Festlegung auf eine marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung.41 Doch die weitere Entwicklung ließ deutlich werden, dass es sich hier um Rückzugsgefechte handelte. Dies zeigte sich bereits 1952/53, als 34 Deist, S. 14. 35 Schiller, Sozialismus, S. 26–31. 36 Ders., Entwicklungen, S. 16. 37 Vgl. Protokoll des SPD-Parteitags 1959, S. 525–541; SPD-Aktionsprogramm 1952, S. 5ff. 38 Vgl. Schiller, Sozialismus, S. 40. 39 Eichler, S. 22. 40 Vgl. etwa die Diskussionen auf der Wirtschaftspolitischen Tagung der SPD am 27./ 28.2.1953 in Bochum; SPD-Parteivorstand. 41 Vgl. z.B. Agartz; Abendroth; vgl. außerdem die Äußerungen Veits und Klunckers auf dem Berliner Parteitag vom 20. bis 24. Juli 1954, in: Protokoll des SPD-Parteitags 1954, S. 181 u. 330f.; ferner Veits Vortrag über »Die Grundsätze in sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik« auf der SPD-Tagung in Bochum 1953, in: SPD-Parteivorstand, Wirtschaftspolitik, S. 11–30.

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es in der Parteiführung zu einer langen Diskussion über die Haltung zu dem von der Regierung geplanten Wettbewerbs- und Kartellgesetz kam. Vor allem Schiller, Weisser und von Eynern drängten darauf, das von Erhard anvisierte strenge Kartellverbot zu unterstützen.42 Gegen Widerstand in den eigenen Reihen gelang es den Reformern, die Partei und den DGB auf ihre Linie zu bringen.43 Geschickt konnten sie dabei traditionelle sozialdemokratische Ressentiments gegenüber dem »Monopolkapitalismus« der Industrie mobilisieren, insbesondere nachdem sich der BDI scharf gegen das Gesetz ausgesprochen hatte.44 In den sich über mehrere Jahre hinziehenden Beratungen trat die SPD-Fraktion im Bundestag für ein striktes Kartellverbot ohne Ausnahmeregelungen ein und lag damit in dieser Frage sogar auf einer Linie mit dem Wirtschaftsministerium.45 Innerhalb der Partei konnten sich die Reformer um Schiller und Deist auf dem Stuttgarter Parteitag im Mai 1958 endgültig durchsetzen. Die von der Mehrheit der Delegierten angenommene Entschließung »Freiheitliche Ordnung der Wirtschaft« enthielt nicht nur ein klares Bekenntnis zum marktwirtschaftlichen Wettbewerb, sondern erkannte auch die volkswirtschaftliche Berechtigung privater Großunternehmen »mit ihrer gewaltigen Produktivkraft« an, ohne die »ein starker Wirtschaftsaufschwung und eine schnelle Steigerung des Lebensstandards« nicht möglich sei.46 Staatliche Eingriffe in einzelwirtschaftliche Entscheidungen sollten sich in erster Linie auf eine »wirksame Kartell- und Monopolkontrolle« beschränken. Nur falls diese Maßnahmen nicht ausreichten, sollten private Unternehmen in gemeinwirtschaftliches Eigentum überführt werden.47 Es ist zu Recht betont worden, dass das Godesberger Programm keine wirkliche Zäsur für die Sozialdemokratie markiert, sondern eher »den Schlußstein am Ende eines langen Weges« setzte, zu dem sich die Partei seit der Gründung 42 Vgl. AdSD, SPD, PV, WPA, L4/1602: K. Schiller, Stellungnahme zu den Fragen zum Gesetzentwurf gegen Wettbewerbsbeschränkungen, sowie die Diskussionen im Wirtschaftspolitischen Ausschuß des Parteivorstandes am 4.4.1952 (ebd.). 43 So stimmte die SPD im Juni 1954 im Bundesrat für ein strenges Kartellverbot und stützte damit die Erhard’sche Position, während einige CDU-Länder sich dagegen aussprachen; Berghahn, Unternehmer, S. 175. 44 Schiller verwies dabei v.a. auf sozialdemokratische Theoretiker der zwanziger Jahre wie Paul Heimann oder Ernst Tillich; zur Haltung des BDI in der Frage des Wettbewerbsgesetzes vgl. Hüttenberger; Berghahn, Unternehmer, S. 152–179. 45 Vgl. z.B. Ausführungen Deists bei der Haushaltsdebatte am 12.6.1959, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 43, Bonn 1959, S. 4100ff.– Zwei Jahre später brachte die SPD ein neues Gesetz ein: Antrag der Fraktion der SPD betr. Maßnahmen zur Verhinderung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht, 13.10.1959, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. 1279. 46 Abgedr. in: Protokoll des SPD-Parteitags 1958, S. 489–494, hier S. 489. 47 Auf den Begriff »Verstaatlichung« wurde ausdrücklich verzichtet, allerdings eine Überführung der Energiewirtschaft (v.a. des Kohlenbergbaus) in Gemeineigentum befürwortet; vgl. dazu auch Nonn, S. 148–159.

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der Bundesrepublik durchgerungen hatte.48 Im Zuge dieser Entwicklung schwächten sich die Gegensätze zwischen Regierung und Opposition auf wirtschafts- und sozialpolitischem Gebiet zunehmend ab. Wichtige Gesetzesvorhaben der Adenauerzeit, etwa im Bereich der Wohnungsbauförderung oder der Rentenpolitik, kamen durch eine koalitionsübergreifende Mehrheit zustande. Die ideologischen Grabenkämpfe zwischen der SPD und den Regierungsparteien beschränkten sich vor allem auf das Feld der Außen- und Deutschlandpolitik.49 Der seit Anfang der fünfziger Jahre beschrittene Weg der »konstruktiven Opposition«50 eröffnete der SPD neue Handlungsoptionen, war jedoch auch mit der Gefahr verbunden, ein eigenständiges Profil auf wirtschaftspolitischem Gebiet zu verlieren. Solange es nur um kleinere Korrekturen einer insgesamt erfolgreichen Wirtschaftspolitik ging, ließ sich die Notwendigkeit eines Regierungswechsels gegenüber den Wählern kaum begründen. Die SPD stand also vor dem schwierigen Problem, das klare Bekenntnis zur »Sozialen Marktwirtschaft« durch eigene Konzepte und Perspektiven zu erweitern. Vor allem Schiller und Deist drängten darauf, das Parteiprogramm stärker auf konstruktive Ziele der Wirtschaftspolitik auszurichten. Im Zentrum sollte dabei die Sicherung von Wachstum und wirtschaftlicher Stabilität stehen, ohne jedoch in übertriebener Weise Krisenängste in der Bevölkerung zu schüren. Die Sozialdemokratie, so Deist im Juni 1956 vor dem Parteiausschuss, sei bislang stets mit dem »Odium« belastet gewesen, dass sie »den Erfolg ihrer politischen Arbeit, nämlich die Umgestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, von einer krisenhaften Zuspitzung der wirtschaftlichen Entwicklung erwarte«. Dazu habe nicht zuletzt eine »unzweckmäßige Krisenprophezeiung in unseren Reihen« beigetragen. Man müsse dagegen in der Öffentlichkeit deutlich machen, dass die SPD ihre »wichtigste wirtschaftspolitische Aufgabe in der Sicherung eines stetigen Wirtschaftsaufschwungs bei hoher Beschäftigung und stabiler Währung« sehe. »Die Sozialdemokratie«, so Deist apodiktisch, »ist nicht die Partei der Krise, sondern die Partei des wirtschaftlichen Aufschwungs.«51 Diese Forderung wurde schließlich auch in die Entschließung des Stuttgarter Parteitages von 1958 sowie in das ein Jahr später verabschiedete »Godesberger Programm« aufgenommen. Stetiges Wachstum, die Sicherung von Vollbeschäftigung und die Erhöhung des Lebensstandards wurden hier als wichtigste

48 Grebing, S. 443; vgl. auch Nicholls, S. 300–321 u. 367–389. 49 Miller, S. 29; Stoltenberg, S. 127; zur Zusammenarbeit in der Renten- und Wohnungsbaupolitik vgl. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen; G. Schulz, Wiederaufbau. 50 Miller, S. 29. 51 H. Deist, Zur konjunkturpolitischen Aktivität der SPD, Referat vor dem Parteiausschuß, 2.6.1956, AdSD, SPD, PV, Protokolle, 15/1.

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Ziele genannt.52 Doch es blieb nicht bei vagen Programmformeln. Vielmehr bemühte man sich auch darum, die praktischen Konsequenzen einer solchen Wachstums- und Stabilitätspolitik über Gesetzesinitiativen auf Bundes- und Landesebene deutlich zu machen. Schon 1956 hatte die SPD-Bundestagsfraktion auf Initiative Schillers ein »Gesetz zur Förderung eines stetigen Wachstums der Gesamtwirtschaft« eingebracht, das Bundesregierung und Parlament auf die Ziele des »magischen Vierecks« (stetiges Wachstum, Vollbeschäftigung, Preisstabilität und außenwirtschaftliches Gleichgewicht) verpflichten sollte.53 Eine »vorausschauende, in allen ihren Maßnahmen koordinierte Wirtschaftspolitik« wurde darin ebenso gefordert wie die Aufstellung eines Nationalbudgets, das allerdings – wie vorsorglich angefügt wurde – »keinen für die Wirtschaft und ihre Unternehmungen verbindlichen Plan« enthalten dürfe.54 Hier zeichneten sich bereits die Umrisse jenes ganzheitlichen Politikbegriffs ab, der die Diskussionen in den kommenden Jahren beherrschen sollte. Die Politik müsse, so Schiller 1958, die Wirtschaft endlich »als ein rationales Ganzes« betrachten und die »zahllosen Partikularziele und Partikularmaßnahmen« zugunsten einer Gesamtstrategie aufgeben. »Alle irgendwie wesentlichen Zusammenhänge zwischen verschiedensten Teilen und Abschnitten des wirtschaftspolitischen Handelns sollen bewußt und zum Gegenstand eines sehr souveränen strategischen Kalküls gemacht werden, auch – durch Aggregierung – die zahllosen Einzelentscheidungen im Marktgeschehen selbst.«55 Dass es hierbei auch zu Konflikten zwischen konkurrierenden wirtschaftspolitischen Zielen kommen konnte, war Schiller zwar bewusst, doch sei von der Wissenschaft wichtige Hilfestellungen zu erwarten. Nach Schillers Auffassung ließen sich die unterschiedlichen Zielsetzungen als Eckpunkte eines Polygons darstellen, welches das »Operationsfeld« politischer Handlungsoptionen beschriebe. Eine Optimierung der verschiedenen »Aktionsparameter«, so Schiller, bedürfe freilich unterschiedlicher quantifizierender Verfahren wie der linearen Programmierung, der Input-Output-Analyse und der »Operation Researchs«, müsse aber auch auf wohlfahrtstheoretische Dezisionsmodelle zurückgreifen.56

52 »Freiheitliche Ordnung der Wirtschaft«, in: Protokoll des SPD-Parteitags 1958, S. 489; Entwurf zu einem Grundsatzprogramm, in: Protokoll des SPD-Parteitags 1959, S. 521–541. 53 Antrag der Fraktion der SPD über ein Gesetz zur Förderung eines stetigen Wachstums der Gesamtwirtschaft vom 6.5.1956, Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. 2428; Materialien zur Vorbereitung des Gesetzes in: AdSD, NL Deist, 19B sowie BAK, B 146/248 sowie SPDFraktion 1953–57, S. 305f. u. 331 (Sitzung am 9./10.4. u. 6.6.1956). Schiller hatte eine solche Gesetzesinitiative bereits auf dem Berliner Parteitag im Juli 1954 angeregt; Protokoll des SPDParteitags 1954, S. 327. 54 Gesetzantrag vom 6.5.1956, § 2 Abs. 2. 55 Schiller, Entwicklungen, S. 21; vgl. auch ders., Wirtschaftspolitik, S. 85–89. 56 Ders., Entwicklungen, S. 21f.

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Das von Schiller konzipierte Wachstumsgesetz scheiterte im Bundestag, und dennoch markierte es einen Wendepunkt in der Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. Zum einen stellte es, mehr noch als die Programmdebatten und Beschlüsse der Parteitage, die endgültige Abkehr der SPD vom mikroökonomischen Interventionsgedanken unter Beweis. In den Vordergrund trat nun die gesamtwirtschaftlich ausgerichtete Wachstums- und Stabilitätspolitik, die überhaupt erst die Grundlage für eine soziale Umverteilung des Wohlstands zu schaffen hatte.57 Zum anderen fiel der SPD-Antrag in eine Phase, in der die Bundesregierung auf wirtschaftspolitischem Gebiet tief zerstritten war. Die von der SPD propagierte »Wirtschaftspolitik aus einem Guß«58 schien sich hiervon abzuheben und ließ die angeprangerten Defizite der Regierungspolitik noch schärfer in Erscheinung treten. Die Regierungskrise von 1955/56 setzte dann auch tatsächlich einen Prozess des Umdenkens in Gang.

2. Konflikt als Lernprozess: Adenauer, Erhard und die »Gürzenich-Affäre« Innerhalb der Regierung beobachtete man die Reformdiskussion in der SPD mit gemischten Gefühlen.59 So sehr man einerseits auf die Kooperation mit den Sozialdemokraten bei wichtigen Gesetzesvorhaben in Bund und Ländern angewiesen war, so großen Wert legte man auf der anderen Seite darauf, die grundlegenden Unterschiede zwischen Opposition und Regierung auf wirtschaftspolitischem Gebiet herauszustellen. Wie bereits erwähnt, hatte die Frage der Wirtschaftsordnung in den Bundestagswahlkämpfen von 1949 und 1953 eine zentrale Rolle gespielt.60 Erhard hatte sich mit dem wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD im Bundestag Erik Nölting immer wieder heftige Wortgefechte geliefert.61 Nachdem Deist 1953 die Nachfolge Nöltings angetreten hatte, wurde es aber zunehmend schwieriger, die SPD als Partei der Planwirtschaft zu brandmarken. Erhard wies Adenauer im Sommer 1954 in einem vertraulichen Bericht auf diese Problematik hin. Die Sozialdemokratie habe sich, so Erhard, 57 K. Schiller, Freiheitliche Wirtschaft – heute und morgen, in: Deutsche Zeitung und Wirtschafts-Zeitung, 10.8.1957. 58 Vgl. z.B. Deist, S. 49. 59 Vgl. z.B. die Besprechung im CDU-Bundesvorstand am 29.1.1960, in: CDU-Bundesvorstand 1957–1961, S. 598f. 60 Vgl. Spicka, sowie zur Öffentlichkeitsarbeit des BMWi Löffler, S. 252–296. 61 Vgl. z.B. die Bundestagsdebatte vom 14.3.1951, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 6, Bonn 1951, S. 4800–4811; Das zweite Streitgespräch mit Erik Nölting. Gemeinsame Veranstaltung von CDU und SPD in Düsseldorf, 8.12.1951, in: Das Parlament, 19.12.1951.

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»mehr und mehr zu den Grundsätzen unserer Wirtschaftspolitik bekannt und stellt ihre Kritik nunmehr fast ausschließlich auf den Mangel einer Konjunktursicherung ab. Man will damit naturgemäß eine Atmosphäre der Angst, der Sorge, der Unsicherheit erzeugen und scheut sich nicht, vergleichsweise auf die Hochkonjunktur von 1928 mit dem darauf folgenden totalen Konjunkturzusammenbruch zu verweisen. Es würde deshalb meiner Überzeugung nach eine Stärkung des Vertrauens zur Bundesregierung bedeuten, wenn diese deutlich machte, daß sie etwaigen Rückschlägen mit gegenwirkenden Maßnahmen zu begegnen wüßte.«62 Obgleich Erhard in diesem Schreiben die Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass »mit dem Instrumentarium der modernen Konjunkturpolitik störende Einwirkungen auf Produktion und Beschäftigung erfolgreich abgewehrt werden« könnten,63 galt er im Allgemeinen nicht als Anhänger makroökonomischer Prozesspolitik. Die beste Voraussetzung für eine harmonische Entwicklung der Volkswirtschaft waren aus seiner Sicht eine funktionierende Wettbewerbsordnung sowie eine stabilitätskonforme Geld- und Währungspolitik. Eine präzise Steuerung der makroökonomischen Parameter durch eine antizyklische Fiskalpolitik hielt er ohnehin für unmöglich.64 Auf der anderen Seite war Erhard kein Anhänger der klassischen Lehre, nach der konjunkturelle Bewegungen natürliche Anpassungsreaktionen des Marktes auf exogene Schocks darstellten. Einen »konjunkturzyklischen Automatismus« gebe es nicht. Auch die Vorstellung, dass gelegentliche »Reinigungskrisen« eine heilsame Wirkung auf die Volkswirtschaft hätten, lehnte Erhard ab.65 Vielmehr hielt er es für möglich, »das alte und bisher für unumstößlich gehaltene Gesetz von dem konjunkturzyklischen Ablauf des wirtschaftlichen Geschehens zu überwinden«. Mit Unterstützung der modernen Wirtschaftstheorie sei die Politik in der Lage, »zur Bewältigung dieses Problems systematische Lösungen zu finden«.66 Doch von einer solchen »systematischen Lösung« schien die Bundesregierung in der Mitte der fünfziger Jahre weit entfernt. Wie im Folgenden dargestellt wird, löste die vergleichsweise milde konjunkturelle Überhitzung des Jahres 1955 eine scharfe Kontroverse über die Wirtschaftspolitik Erhards aus und führte zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen Kanzler und Minister. Diese erste Regierungskrise der Adenauer-Ära setzte zugleich einen Lernprozess in Gang, in dessen Verlauf neue Handlungsmuster in der Wirtschaftspolitik zum Durchbruch kamen. 62 BAK, B 136/654: Erhard an Adenauer, 7.7.1954, S. 8. 63 Ebd. 64 Vgl. Kloten, Stabilisierungspolitik. 65 Diese These stammte von den in Deutschland lange Zeit einflussreichen Vertretern der monetären Überinvestitionstheorie. 66 Erhard, Wohlstand, S. 8; vgl. auch BAK, B 136/654: Erhard an Adenauer, 7.7.1954, S. 11.

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Zum Jahreswechsel 1954/55 präsentierte sich die deutsche Wirtschaft in glänzender Verfassung. Das Sozialprodukt war im ablaufenden Jahr real um 7,5% gewachsen; damit lag die Bundesrepublik an der Spitze der OEEC-Staaten.67 Die Arbeitslosigkeit war auf 7,6% gesunken und näherte sich dem Vollbeschäftigungsniveau, das nach zeitgenössischer Definition bei einer Quote von 5% lag.68 Auch die Preisentwicklung gab keinen Anlass zur Sorge. Nach der leichten Deflation von 1952 und 1953 waren die Preise 1954 um durchschnittlich 0,2% gestiegen. Die öffentlichen Haushalte wiesen – wie schon in den Jahren zuvor – einen kräftigen Überschuss auf, und auch die außenwirtschaftliche Entwicklung durfte sich sehen lassen. Die deutsche Industrie konnte ihre Exporte 1954 wie in den Jahren zuvor kräftig steigern, so dass die Leistungsbilanz ein Saldo von über 4 Mrd. DM aufwies.69 Trotz dieser positiven Gesamtbilanz mehrten sich Anfang 1955 die Stimmen, die vor einer drohenden Überhitzung der Konjunktur warnten. Der Monatsbericht des BMWi erkannte für Januar und Februar leichte Preissteigerungen im Bereich Eisen und Stahl, Kohle, Baustoffe, Papier, Hausrat und Lebensmittel, woraufhin Adenauer besorgt anfragte, welche Maßnahmen »erwogen werden, um den Preiserhöhungstendenzen entgegenzuwirken«.70 Doch Erhard sah keine Notwendigkeit zum Eingreifen, und auch der Zentralbankrat ging davon aus, dass die Konjunktur bald von alleine »wieder in ein ruhigeres Fahrwasser« geraten werde.71 Letztlich hielt man die Überhitzungsgefahr für nicht sehr groß und sah darin eher ein psychologisches Problem, das in der öffentlichen Meinung übermäßig aufgebauscht werde.72 Letzteres wurde durch eine Umfrage des Bielefelder Emnid-Instituts vom Januar 1955 untermauert. Nach dieser Erhebung galt eine Senkung des Preisniveaus bei 13% der Bevölkerung als »dringendste Regierungsaufgabe« und stand damit an zweiter Stelle hinter der Wiedervereinigung Deutschlands.73 Tatsächlich gewann die Debatte in den folgenden Monaten eine Dynamik, die politisch immer weniger zu kontrollieren war. Im Laufe des Frühjahrs setzte sich in den zuständigen Ressorts die Auffassung durch, dass die Überhitzungserscheinungen doch ernster waren als zunächst angenommen. Dabei wirkten mehrere Faktoren zusammen. Zum einen nahmen die Devisenein67 Daten bei Holtfrerich, Geldpolitik, S. 350; zum OEEC-Vergleich Lindlar, S. 17. 68 Tatsächlich sprach die BdL 1955 von einem »Stadium der Vollbeschäftigung«; Bank deutscher Länder, Geschäftsbericht 1955, S. 1. 69 Daten bei Holtfrerich, Geldpolitik, S. 351. 70 Monatsberichte des BMWi für Januar und Februar 1955, in: BAK, BD 17/2–1955; BAK, B 136/378: Adenauer an Erhard, 21.1.1955. 71 So der Chefvolkswirt der BdL in der ZBR-Sitzung am 16./17.2.1955, in: HADB, B 330/ Drs. 1955; vgl. auch Sitzung vom 19./20.1.1955 (ebd.). Der Kabinettsausschuß für Wirtschaft trat am 14.2.1955 zusammen, um über die Anfrage des Kanzlers zu diskutieren; Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1954–55, S. 304–308. 72 So Wolf in der Sitzung am 19./20.1.1955, in: HADB, B 330/Drs. 1955. 73 Auswertung in: Schlenkuhn, S. 451f.

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fuhren aufgrund der Exportüberschüsse deutlich zu.74 Der Übergang zur faktischen Konvertibilität der D-Mark seit 1954 begünstigte diese Entwicklung zusätzlich, da viele ausländische Investoren Deutschland als sicheren Anlageplatz betrachteten und ihr Engagement auf dem deutschen Geld- und Kapitalmarkt nun erheblich ausweiteten. Neben dem hohen Liquiditätswachstum durch ausländische Devisen- und Kapitalzuflüsse verstärkten niedrige Diskontsätze die Geldnachfrage. Die BdL hatte den Diskontsatz seit 1952 mehrfach gesenkt, zuletzt im Mai 1954 auf 3%.75 Geld war daher so billig wie nie zuvor. Zum anderen hatte die »Große Steuerreform« vom Dezember 1954 Unternehmen steuerlich entlastet und somit die privaten Investitionen zusätzlich angefacht. Tatsächlich war die Investitionsgüternachfrage schon im zweiten Halbjahr 1954 überproportional gewachsen, und dieser Trend sollte 1955 noch an Dynamik gewinnen.76 Schließlich schien die Preisstabilität auch durch die hohen Tarifforderungen der Gewerkschaften bedroht. Mit dem im März beschlossenen »Aktionsprogramm« nahm der DGB endgültig Abschied von systemüberwindenden Neuordnungsplänen und konzentrierte sich ganz auf betriebs- und tarifpolitische Fragen. Neben einer Arbeitszeitverkürzung forderten die Gewerkschaften eine massive Lohnerhöhung, um den Arbeitern ein »gerechten Anteil am Sozialprodukt« zu sichern.77 Eine »expansive Lohnpolitik« würde, so die Auffassung der Gewerkschaften, auch der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage Impulse verleihen und somit zu einer Kräftigung des Wachstums beitragen.78 Ferner verwies man auf die Preissteigerungen, die durch entsprechende Lohnzuwächse ausgeglichen werden müssten. Doch es blieb nicht bei programmatischen Ankündigungen. Im Frühjahr 1955 forderten die Arbeitnehmer im Bergbau eine Lohnerhöhung von 12% und ließen keinen Zweifel an ihrer Bereitschaft zum Streik. Vor dem Hintergrund hoher Gewinnerwartungen kamen die Arbeitgeber den Tarifforderungen der Gewerkschaften schließlich weit entgegen und stimmten einer Erhöhung von 9,5% zu, auch weil sie hofften, die steigenden Lohnkosten auf die Preise überwälzen zu können.79 74 Vgl. Holtfrerich, Geldpolitik, S. 387ff. vgl. außerdem Dickhaus; Alecke. 75 HADB, B 330/Drs. 142: ZBR-Sitzung am 19.5.1954. 76 Zahlen in: Lindlar, S. 242; die Steuerreform von 1954 hatte u.a. Einkommens- und Körperschaftssteuern stark gesenkt; vgl. Ehrlicher, Finanzpolitik seit 1945, S. 7f. 77 Aktionsprogramm des DGB vom 30.3.1955, in: DGB 1949–1956, S. 682–688, hier S. 684. 78 Vgl. auch den Bericht von Staatssekr. Sauerborn am 5.8.1955 in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1954–55, S. 417f.; das Konzept der »expansiven Lohnpolitik« war maßgeblich von Viktor Agartz geprägt worden; vgl. ders., Expansive Lohnpolitik, in: Mitteilungen des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften Köln, Jg. 6, H. 12, Dezember 1953, S. 246ff. 79 Vgl. BAK, B 136/2441: Berg an Adenauer, 19.4.1955.

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Die hohen Lohnabschlüsse und die damit verbundene Gefahr einer LohnPreis-Spirale nahm man im Wirtschaftsministerium mit großer Besorgnis zur Kenntnis. Erhard hatte sich bereits im Februar 1955 mit Vertretern der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite getroffen, um die Verhandlungspartner zu maßvollen Abschlüssen zu bewegen.80 Auch in den folgenden Monaten appellierte der Minister immer wieder an das Verantwortungsgefühl der Tarifparteien und erklärte sich zu regelmäßigen Konsultationen bereit.81 Sogar eine Institutionalisierung der »Sozialpartnergespräche« in Form eines Bundeswirtschaftsrates wollte Erhard in dieser Situation nicht mehr ausschließen.82 Zugleich forderte er die Hausfrauen in einer Serie von Zeitungsanzeigen auf, »Widerstand« gegenüber den Preissteigerungen zu leisten und nur noch billige Produkte zu kaufen.83 Letztlich blieben diese Bemühungen aber ohne Erfolg, ja, Erhards Maßhalteappelle verstärkten in der Öffentlichkeit den Eindruck, der Wirtschaftsminister sei den aktuellen Problemen nicht mehr gewachsen und besitze über bloße »Seelenmassage« hinaus keine wirksamen Rezepte, um die heißlaufende Konjunktur wieder abzukühlen. Im Sommer trat schließlich der Zentralbankrat auf die Bremse und erhöhte den Diskontsatz auf 3,5%. Das war noch kein drastischer Schritt, sondern in erster Linie als »Warnzeichen« gedacht, von dem man sich »eine heilsame psychologische Auswirkung« erhoffte.84 Die Warnung richtete sich auch an die Politik, hatte der Zentralbankrat die Bundesregierung doch schon einige Monate zuvor auf die Einhaltung einer »restriktiven Linie« in der Haushaltspolitik festlegen wollen.85 Doch die Konjunkturdebatte gewann erst an Schärfe, als sich BDI-Präsident Fritz Berg Anfang September beim Kanzler über Erhards Angriffe auf die Industrie beschwerte.86 Erhards Kampagnen gegen die Preiserhöhungen, so Berg, seien reine Panikmache und angesichts der realen wirtschaftlichen Entwicklung nicht zu vertreten. Hinter diesen Äußerungen standen freilich auch die Ängste des BDI vor weiteren Zollsenkungen, nachdem Erhard bereits im März eine Reihe von Einfuhrtarifen zur Bekämpfung der Preissteigerungen herabgesetzt hatte.87 80 Ein erstes Treffen fand am 28.2.1955 statt; BAK, B 136/2454: Bericht Pühl, 3.3.1955. 81 Insgesamt fanden bis August 1956 13 Besprechungen in unterschiedlicher Besetzung statt; Vgl. BAK, B 102/59380: Walter, Verlauf der Sozialpartner-Gespräche seit Anfang 1956, 17.8.1956. 82 Vgl. BAK, B 136/2545: Erhard an Adenauer, 25.5.1955. 83 Vgl. Sitzung des Kabinettsausschusses für Wirtschaft am 24.6.1955, in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1954–55, S. 374; Unterlagen zum Konsumentenprogramm »Erhard hilft den Hausfrauen« in BAK, B 102/35936. 84 HADB, B 330/Drs. 1955: ZBR-Sitzung am 3.8.1955. 85 HADB, B 330/Drs. 1955: ZBR-Sitzung am 19./20.1.1955. 86 Vgl. BAK, B 136/652: Adenauer an Erhard, 6.5.1955; Adenauer berichtete darin über das Gespräch mit Berg am Vortag. 87 Die Tarifsenkungen waren bereits am 12. März erfolgt; Bundesministerium der Finanzen,

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Doch Adenauer nahm die Bedenken der Industrie ernst, zumal ihm Erhards öffentliche Kampagne höchst ungelegen kam. Sie schürte seiner Auffassung nach ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung, was angesichts der positiven Gesamtlage völlig unangebracht sei. Auf der anderen Seite war aber auch Adenauer davon überzeugt, dass weitere Preissteigerungen dem Ansehen der Regierung schaden könnten. Ende September verlangte der Kanzler vom Wirtschafts- und Finanzministerium ein Gutachten über die wirtschaftliche Lage, auf dessen Basis weitere Schritte diskutiert werden sollten. Zugleich bat er den BDI ebenfalls um eine Stellungnahme.88 Erhard fühlte sich brüskiert. Aus seiner Sicht stellte es eine schwere Missachtung seiner Ressortkompetenz dar, dass der Kanzler nicht nur ihn, sondern auf gleicher Stufe die Industrieverbände konsultierte. Bitter beklagte er sich bei Adenauer über das »Zuständigkeitswirrwarr« auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik. »Ohne Rücksicht auf Ressortzuständigkeiten spricht Jeder über Jedes und Alles, und ich, der ich in den Augen des deutschen Volkes unzweifelhaft für die Wirtschaftspolitik verantwortlich gemacht werde, habe den Schaden zu tragen.«89 Bereits hier zeichneten sich die Konturen jenes Kompetenzkonfliktes zwischen Kanzler und Minister ab, der wenige Monate später zu einer regelrechten Regierungskrise eskalieren sollte. Zunächst gelang es jedoch, die Diskussion wieder zu beruhigen. Erhard und sein Kabinettskollege Fritz Schäffer verständigten sich rasch auf eine gemeinsame Linie.90 Der CSUFinanzminister teilte Erhards Abneigung gegenüber dem Anspruchsdenken der organisierten Interessengruppen. Auch im Kabinett wehrte er sich immer wieder gegen die seiner Auffassung nach überzogenen finanziellen Wünsche seiner Kollegen. Schäffers finanzpolitischer Rigorismus schien angesichts der hohen Kassenüberschüsse, die der Bund seit 1953 erwirtschaftete, reichlich übertrieben. Die thesaurierten Finanzmittel – die in Anlehnung an den Lagerungsort der französischen Kriegsentschädigung nach 1870/71 als »Juliusturm« bezeichnet wurden – waren Ende 1955 bereits auf rund 7 Mrd. DM angelaufen.91 Das von Erhard und Schäffer am 3. Oktober gemeinsam vorgelegte Memorandum war mit heißer Nadel gestrickt, und dennoch zeugte es von einem bemerkenswerten Konzeptionswandel in der Wirtschaftspolitik.92 Zwar wurde Chronologie, S. 110f. In einer Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 13.9.1955 kündigte Staatssekretär Westrick weitere Zollsenkungen an; Protokoll in: ACDP, VIII-001/1007/2. 88 Vgl. Kabinettssitzung am 28.9.1955, in: Kabinettsprotokolle 1955, S. 538f. 89 BAK, B 136/7652: Adenauer an Erhard, 30.9.1955. 90 Vgl. BAK, B 136/652: Erhard an Schäffer, 27.9.1955. 91 Adami, Haushaltspolitik, S. 57. 92 BAK, B 136/652: Gemeinsames Exposé der Bundesminister der Finanzen und Wirtschaft über die konjunkturpolitische Situation und die Mittel zur Aufrechterhaltung der Stabilität unserer Wirtschaft und Währung, 3.10.1955.

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die tatsächliche Konjunkturentwicklung als relativ stabil betrachtet. Die Überhitzungssymptome beruhten demnach weniger auf »materiellen Gegebenheiten«, sondern waren in erster Linie auf »psychologische Probleme« zurückzuführen. Ganz im Sinne der bisherigen Strategie Erhards sollten daher auch weiterhin die »Mittel rationaler Aufklärung« im Vordergrund der Regierungstätigkeit stehen.93 Im Übrigen, hieß es in dem Memorandum, werde eine konsequente Fortführung der Wettbewerbspolitik durch strenge Monopolauflagen, den Abbau von Einfuhrhemmnissen und die Öffnung des Arbeitsmarktes für ausländische Beschäftigte gleichsam von selbst zu einer Senkung des Preisniveaus führen. Auf der anderen Seite betrachteten die Verfasser eine bessere Abstimmung der Geld-, Steuer- und Finanzpolitik zur Sicherung von Wachstum, Beschäftigung und Währungsstabilität als drängendes Problem. Eine an diesen Zielen orientierte »konstruktive Ausgestaltung der Steuergesetzgebung« wurde ebenso für notwendig erachtet wie eine konsequent verfolgte antizyklische Fiskalpolitik. Das erfordere freilich eine klare Zuordnung von Kompetenzen: »Die konjunkturelle Situation verlangt nach einer Einheit der Konjunkturpolitik unter Führung der für die Finanz- und Wirtschaftspolitik zuständigen Ressorts in engem Zusammenwirken mit der Bank deutscher Länder.«94 Erhard und Schäffer waren mit dem Memorandum politisch in die Offensive gegangen. Sie hatten die Gelegenheit genutzt, unmissverständlich ihren Führungsanspruch auf dem Gebiet der Konjunkturpolitik zu unterstreichen. Geschickt verknüpften sie ordnungspolitische Anliegen wie das nach wie vor umstrittene Wettbewerbsgesetz oder die Liberalisierung des Außenhandels mit konjunktur- und wachstumspolitischen Zielen. Im Grundsatz bekannten sie sich zu der Notwendigkeit einer konjunkturorientierten Wirtschaftspolitik. Demgegenüber fiel das zwei Wochen später von Erhard verkündete »Konjunkturprogramm« enttäuschend aus. Es handelte sich um eine »recht vielschichtige Sammlung von konkreten Vorschlägen, Absichtserklärungen, Prüfungsversprechen und Appellen«.95 Abgesehen von Zollsenkungen beschränkte es sich im Wesentlichen darauf, die öffentlichen Körperschaften zur Zurückhaltung bei Bauaufträgen zu bewegen, die staatlich festgesetzten Preise einzufrieren und die Tarifpartner auf eine moderate Lohnpolitik einzuschwören. Ferner wurden öffentliche Unternehmen aufgefordert, Investitionen aufzuschieben und Preise nicht zu erhöhen.96 Der kontraktive Effekt des Programms war dann auch bescheiden. So nahm 93 Ebd., S. 2. 94 Ebd., S. 16f. 95 Berger, S. 122; das Konjunkturprogramm wurde am 19./20.10.1955 von Erhard im Bundestag vorgestellt; vgl. Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 26, Bonn 1955, S. 5819–5883; weitere Materialien in: BAK, B 136/652. 96 BAK, B 136/652: Erhard an die Vorstände der öffentl. Unternehmen, 15.10.1955.

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das öffentliche Bauvolumen entgegen den Anordnungen des Wirtschaftsministeriums weiterhin zu.97 Im November kam es in der Eisenindustrie und im Bergbau trotz der Maßhalteappelle Erhards zu hohen Lohnabschlüssen.98 Auch die übrigen Maßnahmen zeigten offenbar nur geringe Wirkung. Im BMWi musste man sich schon Anfang 1956 eingestehen, dass mit »einem unverminderten konjunkturellen Auftrieb zu rechnen« sei, der »weiterhin die Gefahr von Übersteigerung in sich trägt«.99 Auch politisch wirkte das Programm keineswegs als Befreiungsschlag, wie sich Erhard und Schäffer das erhofft hatten. Bereits im Vorfeld hatte es im Kabinett scharfe Kritik der Minister für Wohnungsbau, Post und Verkehr an den restriktiven Regelungen für öffentliche Investitionen gegeben. »Eine Drosselung der Investitionspolitik«, so Postminister Siegfried Balke, sei »bei der gegenwärtigen volkswirtschaftlichen Lage nicht vertretbar«.100 Das Landwirtschaftsministerium kritisierte vor allem den vorgesehenen Preisstopp für Agrarprodukte, wogegen dem CDU-Bundessauschuss für Wirtschaftspolitik die Maßnahmen des Konjunkturprogramms nicht weit genug gingen.101 Die BdL ging ebenfalls auf Distanz, da sie befürchtete, dass die eingeleiteten Maßnahmen an die eigentlichen Probleme des Investitionsbooms gar nicht heranreichten. Zentralbankpräsident Wilhelm Vocke verwahrte sich vor allem gegen die in dem Memorandum zum Ausdruck gebrachte Geringschätzung der Geldpolitik, die dazu beitrage, das »Instrumentarium der Kreditpolitik in bedenklicher Weise zu diskreditieren«.102 Auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände schlugen einen offenen Konfrontationskurs gegenüber Erhard und Schäffer ein. So monierte der DGB-Vorsitzende Walter Freitag, dass die Preissenkungen der Regierung nicht ausreichten und forderte »weit energischere Maßnahmen«.103 Unternehmerrepräsentanten wie Fritz Berg oder Robert Pferdmenges hielten das gesamte Programm für fehlgeleitet. Anstatt die Konjunktur auf unnötige Weise zu zerreden, solle die Regierung lieber die seit längerem anvisierten Steuersenkungen durchführen, um Spielraum für Rationalisierungsinvestitionen zu 97 Berger, S. 115f. Die Haushaltssperren für den Wohnungsbau waren nach Interventionen des Verkehrs- und Wohnungsbauministeriums schon im November wieder entschärft worden; vgl. Kabinettssitzung am 9.11.1955, in: Kabinettsprotokolle 1955, S. 647–649; vgl. BAK, B 136/ 652: BMWi, Konjunkturpolitische Situation der Bauwirtschaft, 22.12.1955. 98 Vgl. Kabinettssitzung am 15.11.1955, in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1954–55, S. 480f. 99 Vgl. die Bemerkungen von J. Schöllhorn in einer Besprechung mit den Vertretern der Wirtschaftsforschungsinstitute im BMWi am 20.1.1956, in: BAK, B 102/12595/2. 100 Kabinettssitzung am 15.10.1955, in: Kabinettsprotokolle 1955, S. 580–585. 101 Protokoll der Ausschusssitzung am 10.12.1955, BAK, N 1254/167. 102 HADB, NL Vocke, 3381:Vermerk Eduard Wolf, 9.10.1955; BAK, B 136/652: Vocke an Erhard, 11.10.1955. 103 BAK, B 136/652: Freitag an Adenauer, 28.12.1955.

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schaffen.104 »Eine restriktive Politik«, so BDI-Chef Berg am 4. Oktober vor dem Überseeclub in Hamburg, »ist, wie uns die Wirtschaftsgeschichte zeigt, gefährlich für ein Land wie das unsrige, dessen wirtschaftliches Wohl eine ständige Expansion notwendig macht. Sie kann tödlich werden, wenn die konjunkturpolitischen Voraussetzungen, wie es bei uns jetzt der Fall ist, gerade nach dem Gegenteil verlangen.«105 Angesichts der anstehenden Staatsaufgaben wie dem Aufbau der Bundeswehr müsse daher alles getan werden, um die Hochkonjunktur zu verstetigen. Die Diskussion über die Konjunkturpolitik war deshalb so verworren, weil man sich noch nicht einmal in der Diagnose einig war, geschweige denn über die Rezepte verständigen konnte. Zusätzlich belastet wurde die Debatte durch den seit langem schwelenden Kompetenzstreit zwischen Kanzleramt und Wirtschaftsministerium, der Anfang 1956 offen ausbrach. Schon in den Jahren zuvor war es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Erhard und Adenauer gekommen, die zum Teil auf sachlichen Differenzen, zum Teil auf Meinungsunterschieden über die Zuständigkeit in der Wirtschaftspolitik beruhten.106 Der Kanzler ließ kaum eine Gelegenheit aus, um seinen Führungsanspruch und seine Richtlinienkompetenz auch auf wirtschaftlichem Felde zu beweisen. Zu diesem Zweck hatte er bereits im Frühjahr 1951 die Einrichtung eines Kabinettsausschusses für Wirtschaft veranlasst, der die Regierungspolitik besser koordinieren und Vorlagen für das Kabinett erarbeiten sollte.107 Den Vorsitz führte Adenauer und in dessen Abwesenheit Vizekanzler Blücher, die Geschäftsführung übernahm Friedrich Ernst, Vorsitzender des Verwaltungsrates der Berliner Zentralbank und enger Vertrauter des Kanzlers. Ein wichtiges Motiv für die Gründung dieses Gremiums war zweifellos Adenauers Bestreben, Erhard in die Kabinettsdisziplin zu zwingen. Darüber hinaus konsultierte Adenauer regelmäßig einen kleinen Kreis von Beratern aus Industrie und Banken, darunter Günter Henle, Robert Pferdmenges, Hermann Josef Abs, Friedrich Ernst, Hans-Günther Sohl und Fritz Berg, was wiederum von Erhard als Verletzung seiner Amtsautorität betrachtet wurde.108 Ende Januar 1956 verschärfte sich der Ton zwischen Kanzler und Wirtschaftsminister, nachdem offensichtlich geworden war, dass die im Herbst eingeleiteten konjunkturpolitischen Maßnahmen keine Wirkung gezeigt hatten. Angesichts der hohen Tarifabschlüsse in der Eisen- und Stahlindustrie 104 Vgl. schon das »Memorandum zur wirtschaftspolitischen Lage«, das Berg am 3.10.1955 Adenauer vorgelegt hatte, ferner Berg an Adenauer, 6. u. 29.12.1955; Pferdmenges an Adenauer, 28.12.1955; BAK B 136/652. 105 Redetext in: BAK, B 136/654; vgl. auch Bergs Rede vor der IHK Hagen am 19.12.1955; BAK, B 126/2076. 106 Vgl. umfassend Koerfer, Kampf; Löffler, S. 307–330. 107 Vgl. Einleitung in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1951–53, S. 13–39. 108 Löffler, S. 313.

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sowie im Bergbau war nicht zu erwarten, dass die Lohn-Preis-Spirale in absehbarer Zeit zum Stillstand kommen würde.109 Ende Januar kündigte der Zentralbankrat weitere Diskonterhöhungen an.110 Adenauer nahm diese Entwicklung mit Besorgnis zur Kenntnis. Ein Anstieg der Lebenshaltungskosten kam ihm im Jahr vor den Bundestagswahlen äußerst ungelegen.111 In einer Parteivorstandssitzung am 13. Januar warnte Adenauer vor den politischen Folgen einer falschen Wirtschaftspolitik und warf Erhard Führungsschwäche vor. Wenige Wochen später wandte sich der Wirtschaftsminister in einem langen Brief an seinen Kanzler.112 Weit ausholend beschrieb Erhard die derzeitigen Probleme als Ausdruck wachsender Begehrlichkeit der Interessengruppen und einer »materialistischen Denkweise«, die sich in der Gesellschaft ausbreite. Die Industrie habe »noch nichts Ernsthaftes unternommen«, um den Preisauftrieb einzudämmen, zugleich träten »Interessentenpolitiker« mit immer neuen Ansprüchen an die Politik heran. Wolle man die Wahl 1957 gewinnen, dürfe man nicht der Devise Raum geben: »Mitglieder aller Gruppen, bereichert Euch«. Vielmehr müsse der Kanzler versuchen, »die Geister zu bändigen und einer Entwicklung vorzubeugen, die zuletzt über uns Alle und auch über Sie hinweg gehen würde«.113 Adenauer hatte für Erhards zeitkritische Diagnose wenig Verständnis. Dem Kanzler schienen die kulturpessimistischen Wertungen seines Ministers (»Die Hybris ist dem deutschen Volk noch immer zum Unheil geworden; sie droht uns wieder zu befallen«) als völlig überzogen. Insbesondere hielt er nichts von Erhards Feldzug gegen den angeblichen Materialismus der Gesellschaft, beruhe doch die Idee der Sozialen Marktwirtschaft gerade darauf, den Wohlstand stetig zu steigern. »Jahrelang«, so Adenauer, »haben wir unsere Bevölkerung selbst veranlaßt, immer größere Anforderungen an das Leben zu stellen. … Jetzt plötzlich Zurückhaltung und Enthaltsamkeit zu predigen, halte ich für völlig aussichtslos. Ich beurteile an sich die Situation genauso gefährlich wie Sie es tun, und zwar insbesondere deswegen, weil der Nachholbedarf der Bevölkerung, wie ich von verschiedenen Seiten höre und wie es auch in der Natur der Sache liegt, nachläßt, und weil die Konkurrenz im Auslande viel schärfer geworden ist. Ich fürchte daher ein Abflauen der Konjunktur ausgerechnet im Jahre vor der Wahl, was verheerende Folgen haben könnte.«114 109 Vgl. die Diskussion im Kabinett am 11.1.1956, in: Kabinettsprotokolle 1956, S. 96f., sowie im Kabinettsausschuß für Wirtschaft am 30.1.1956, in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1956–57, S. 59–72. 110 HADB, B 330/Drs.1955: ZBR-Sitzung am 25./26.1.1956. 111 Vgl. die Rede Adenauers am 13.1.1956, in: CDU-Bundesvorstand 1953–1957, S. 716– 721. 112 BAK, B 136/652: Erhard an Adenauer, 30.1.1956. 113 Ebd. 114 LES, NL Erhard, I/1/4: Adenauer an Erhard, 6.2.1956.

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Die Beurteilung der Lage konnte also unterschiedlicher nicht sein. Während aus Adenauers Sicht alle Mittel der Wirtschaftspolitik weiterhin in den Dienst einer möglichst kräftigen Expansion gestellt werden mussten, hielt Erhard drastische Sparmaßnahmen nunmehr für den einzig gangbaren Weg, um ein Überschäumen der Konjunktur zu verhindern.115 Erhard wusste sich dabei nicht nur der Unterstützung Schäffers sicher, sondern auch der Bank deutscher Länder, die im Februar erneut eine Diskonterhöhung in Aussicht stellte und diese im März schließlich auch durchführte.116 Dies weckte freilich das Misstrauen Adenauers, der glaubte, die BdL mache gemeinsame Sache mit dem Wirtschaftsministerium, oder handle zumindest gegen die Interessen der Bundesregierung. Adenauer hatte schon im Herbst 1955 versucht, die Notenbank stärker an die Regierungspolitik anzubinden. Die ohne Konsultation der Regierung vorgenommene Diskontsatzerhöhung vom August 1955 war aus seiner Sicht ein schwerer Verstoß gegen die geltende Gesetzgebung, welche die Zentralbank verpflichtete, »die allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu beachten und im Rahmen ihrer Aufgaben zu unterstützen«.117 Überdies wies Adenauer den Wirtschafts- und den Finanzminister an, enger mit der Notenbank zu kooperieren und regelmäßig von ihrem Recht Gebrauch zu machen, an den Sitzungen des Zentralbankrates teilzunehmen. Im Gegenzug sollte die Notenbankleitung bei den Kabinettssitzungen anwesend sein.118 Obgleich sich Vocke gegen die Vorwürfe Adenauers zur Wehr setzte und die Unabhängigkeit der Zentralbank in kreditpolitischen Entscheidungen betonte, zeigte sie sich kooperationswillig.119 So informierte die BdL die Regierung bereits Anfang Februar über eine geplante Diskonterhöhung und bat Erhard und Schäffer zur Teilnahme an der Sitzung des Zentralbankrates. Das erschien aber auch deshalb wenig problematisch, weil die beiden Politiker – im Gegensatz zu Adenauer und den Spitzenverbänden der Industrie – eine restriktive Geldpolitik ausdrücklich unterstützten.120 Die Diskonterhöhung vom März 1956 führte denn auch zu heftigen Kontroversen im Kabinett,121 an die sich ein 115 Vgl. auch LES, NL Erhard, I/1/4: Erhard an Adenauer, 16.2. u. 16.3.1956. 116 HADB, B 330/Drs. 1955: ZBR-Sitzung am 15.2. u. 7./3.1956; der Diskontsatz wurde um 1% erhöht. 117 Übergangsgesetz zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung der BDL, 10.8.1951, BGBl. I. 509, Art. II 6 a. 118 Vgl. Kabinettssitzung am 18.1.1956, in: Kabinettsprotokolle 1956, S. 108f. Adenauer hatte den Präsidenten des Direktoriums der BDL Wilhelm Vocke in einem Schreiben vom 7.11.1955 mitgeteilt, er wäre dankbar, »wenn die Bank deutscher Länder auf dem Gebiet der Kreditpolitik keine einschneidenden Maßnahmen vorschlagen oder verfügen würde, ohne daß vorher eine Konsultation mit der Bundesregierung stattgefunden« habe (BAK, B 136/7343). 119 BAK, B 102/12595/2: Vocke an Adenauer, 20.4.1956. 120 Vgl. Hentschel, Erhard, S. 249f.; Berger, S. 219f. 121 Sitzung am 8.3.1956, in: Kabinettsprotokolle 1956, S. 242–253.

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weiterer, an polemischer Schärfe kaum zu übertreffender Briefwechsel zwischen Wirtschaftsminister und Kanzler anschloss. Während Erhard Adenauers ökonomische Kompetenz in Frage stellte und seinen Führungsstil kritisierte,122 erhob dieser schwere Vorwürfe gegen Erhards Wirtschaftspolitik, die »eine klar erkennbare Linie« vermissen lasse. Die Zusammenarbeit zwischen Wirtschafts- und Finanzressort funktioniere nicht, ebenso wenig sei die BdL ausreichend in die Regierungspolitik eingebunden. Ständig komme es zu neuen Maßnahmen und widersprüchlichen Meldungen. »Durch dieses Hin und Her in unserer Haltung verlieren wir und insbesondere das Wirtschaftsministerium stark an Kredit in der Öffentlichkeit.«123 Diese Kritik war nur zum Teil berechtigt. Zumindest die Zusammenarbeit zwischen BdL, Finanz- und Wirtschaftsministerium funktionierte zu diesem Zeitpunkt gut – so gut, dass bei Adenauer der Eindruck entstand, die Ressorts verständigten sich hinter seinem Rücken auf eine gemeinsame Linie. Tatsächlich beschlossen Erhard, Schäffer und Vocke Ende März, sich regelmäßig zur Besprechung der Konjunkturlage und zur Abstimmung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu treffen.124 Zur Unterstützung dieses »Konjunkturpolitischen Gremiums« wurde ein Abteilungsleiterausschuss eingerichtet, der monatlich zusammentreten und wichtige Koordinationsaufgaben wahrnehmen sollte. Mitglieder des Ausschusses waren u.a. der Abteilungsleiter für Finanzpolitik im BMF, Heinz Maria Oeftering, der Chefvolkswirt der BdL, Eduard Wolf, sowie der Abteilungsleiter für Wirtschaftspolitik im BMWi, Müller-Armack, der auch den Vorsitz führte.125 Aus der Sicht Adenauers – und einiger anderer Minister – kam das einem Affront gleich. Der Kanzler hatte lediglich aus der Presse von der Gründung des neuen Gremiums erfahren und fühlte sich von Erhard und Schäffer übergangen.126 Im Kabinett und schließlich auch öffentlich äußerte er sein Befremden über die gemeinsame Initiative seiner Minister. »Es gibt keinen Konjunkturrat und wird auch keinen Konjunkturrat geben«, erklärte er am 16. Mai vor der Presse.127 Die Zusammenarbeit zwischen Schäffer, Erhard und Vocke stelle keine dauerhafte Einrichtung dar, die Konjunktur würde ohnehin »nur zerredet«, lautlose Mittel der Konjunkturpolitik seien vorzuziehen. Doch hinter den Kulissen hatte der Abteilungsleiterausschuss längst ein neues, umfassendes Konjunkturprogramm ausgearbeitet, das weder mit dem 122 LES, NL Erhard, I/1/4: Erhard an Adenauer, 16.3., 22.3. u. 11.4.1956. 123 LES, NL Erhard, I/1/4: Adenauer an Erhard, 17.3.1956. 124 BAK, B 136/653: Westrick an Globke, 29.3.1956. 125 BAK, B 126/2076: Gründungssitzung am 19.4.1956. 126 Die FAZ hatte am 28.3.1956 über die Einrichtung dieses Gremiums berichtet; vgl. dazu die Diskussion in der Kabinettssitzung am gleichen Tag, Kabinettsprotokolle 1956, S. 279f. 127 Vgl. »Adenauer gegen Konjunkturgerede – Es gibt keinen Konjunkturrat«, in: Die Welt, 17.5.1956; vgl. außerdem Adenauers Äußerungen in der Kabinettssitzung am 15.5.1956, in: Kabinettsprotokolle 1956, S. 351.

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Kabinett noch mit den anderen Ressortministern abgestimmt worden war.128 Der Entwurf sah vor, die weiterhin bestehenden »Übersteigerungssymptome« durch drastische geld- und fiskalpolitische Eingriffe zu bekämpfen.129 Vorgesehen waren eine deutliche Senkung der steuerlichen Abschreibungssätze, eine Verminderung der öffentlichen Investitionen um 10%, eine steuerliche Begünstigung des Sparens zur Drosselung der Konsumausgaben, eine lineare Zollsenkung um 30% sowie ein weiterer Abbau von Einfuhrbeschränkungen. Die Lohnkosten sollten durch eine Erhöhung der Altersgrenze bei Pensionierungen, durch den verstärkten Einsatz ausländischer Arbeitskräfte und maßvolle Tarifabschlüsse eingedämmt werden. Ferner wurden weitere Kreditrestriktionen durch die BdL befürwortet. Nicht nur die Art und Weise, wie dieses Programm entstanden war, sondern auch seine inhaltlichen Ziele standen in diametralem Gegensatz zu Adenauers Vorstellungen.130 Weitere Zollsenkungen, etwa im Agrarbereich, hielt der Kanzler angesichts der gerade erst beschlossenen Hilfe für Landwirte für kontraproduktiv, und eine Beschränkung öffentlicher Investitionen im Jahr vor den Wahlen schien ihm politisch ebenso bedenklich wie eine Dämpfung der Konjunktur durch ein Anziehen der Kreditbremse.131 Auch im Kabinett formierten sich Widerstände gegen das Programm, wobei vor allem Agrarminister Lübke, Arbeitsminister Storch, Wohnungsbauminister Preusker und Verkehrsminister Seebohm zu den Gegenspielern Schäffers und Erhards avancierten.132 Schließlich machte sich in der CDU/CSU-Fraktion Unmut über den Alleingang der beiden Fachminister breit. Zu den einflussreichen Gegnern einer restriktiven Politik zählte etwa Hugo Scharnberg, der dem Bundestagsausschuss für Geld und Kredit vorsaß, sowie Franz Etzel, Vizepräsident der Hohen Behörde der Montanunion und Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses der CDU.133 Besonders kritisch stand man in Teilen der Partei Schäffers beharrlicher Weigerung gegenüber, die angesparten Haus128 Bereits Ende März hatte man im BMF und BMWi mit den Planungen begonnen. Am 7.5. war das Konjunkturpolitische Gremium im BMWi zusammengetreten und hatte Einzelheiten besprochen, nachdem der Abteilungsleiterausschuss eine Vorlage erstellt hatte; BAK, B 126/ 22309: Erhard an Schäffer, 27.3.1956; Schäffer an Erhard, 17.4.1956; B 126/2076: Protokoll der Sitzung des Abteilungsleiterausschusses am 30.4.1956; B 102/12596/2: Vorlage des Abteilungsleiterausschusses vom 3.5.1956; B 136/653: Sitzung des Konjunkturpolitischen Gremiums am 7.6.1956. 129 BAK, B 136/653: BMF/BMWi, Entwurf eines zweiten Konjunkturprogramms der Bundesregierung, 17.5.1956. 130 Vgl. das verärgerte Schreiben Adenauers an Erhard und Schäffer vom 18.5.1956, in: BAK, B 136/653. 131 LES, NL Erhard, I/1/4: Adenauer an Erhard, 22.5.1956. 132 Vgl. etwa BAK, B 136/653: Seebohm an Globke, 22.5.1956; Preusker an Globke, 1.6.1956. 133 Vgl. BAK, N1254/167: Hugo Scharnberg an Erhard, 4.6.1956 und an Etzel, 8.6.1956; Etzel an Erhard, 1.6.1956; außerdem Lutzke, Beitrag.

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haltsmittel für neue Ausgabenprogramme – oder auch nur für Steuersenkungen, wie es industrienahe Politiker forderten – zur Verfügung zu stellen.134 Noch bevor das von Erhard und Schäffer ausgearbeitete Papier im Kabinett beraten werden konnte, setzte der Zentralbankrat ein weiteres zinspolitisches Warnsignal. Am 18. Mai wurde der Diskontsatz um einen Prozentpunkt auf 5,5% angehoben.135 Erhard und Schäffer hatten beide an der Sitzung teilgenommen und waren offensichtlich schon vorab über den geplanten Zinsschritt informiert worden, während man im Kanzleramt nichts davon wusste. Erneut wies Adenauer Erhard mit harschen Worten zurecht. Es gehe nicht an, dass »hinter seinem Rücken« Maßnahmen beschlossen würden, die noch dazu gegen die Vorstellungen des Kanzleramtes gerichtet seien.136 Doch diesmal beließ es der erboste Kanzler nicht bei einer schriftlichen Rüge. Am Tag darauf nahm Adenauer an einem »Herrenessen« teil, zu dem der BDI anlässlich einer Mitgliederversammlung des Verbandes in den Kölner Gürzenich geladen hatte. Nachdem BDI-Präsident Berg in seiner Eröffnungsrede das geplante Konjunkturprogramm – namentlich die geplante Zollsenkung und die Kreditrestriktion der Zentralbank – bereits scharf verurteilt hatte, ergriff Adenauer das Wort: Er stellte sich vorbehaltlos hinter Berg und stimmte dessen Kritik in allen Punkten zu. Die Lage sei sehr ernst, der Konjunktur durch die Maßnahmen der BdL »ein schwerer Schlag versetzt worden«. Auf der Strecke würden »die Kleinen« bleiben, Handwerker, Kleinunternehmer, Landwirte – »das Fallbeil trifft die kleinen Leute«.137 Dieses Urteil entbehrte jeder sachlichen Grundlage – tatsächlich traf die Kreditrestriktion vor allem große Unternehmen mit niedriger Eigenkapitalquote – und dennoch hatte Adenauers fortan als »Fallbeil-Rede« zitierter Auftritt eine enorme Wirkung in der öffentlichen Berichterstattung.138 Die Kontroverse über die Konjunkturpolitik war zu einer handfesten Regierungskrise ausgeartet, politische Konsequenzen bis hin zum »Ministersturz« ließen sich nicht mehr ausschließen. Schon wurde Berg als neuer Wirtschaftsminister gehandelt.139 Noch am Tag nach der Rede wurde eine Sondersitzung des Kabinetts einberufen, in der die Standpunkte in unveränderter Härte aufeinander prallten. Der Bundeskanzler leitete die Sitzung mit der Äußerung ein, er neh134 Vgl. Sitzung des CDU-Bundesvorstandes am 26.4.1956, CDU-Bundesvorstand 1953– 1957, S. 900f. 135 HADB, B 330/Drs.1956: ZBR-Sitzungen am 18.5.1956. 136 LES, NL Erhard, I/1/4: Adenauer an Erhard, 22.5.1956; vgl. auch ebd., Erhard an Adenauer, 22.5.1956. 137 Text der Gürzenich-Rede in: »Adenauer: Das Fallbeil trifft die kleinen Leute«, FAZ, 30.5.1956; vgl. auch Koerfer, Kampf, S. 116–121. 138 Vgl. z.B. »Adenauerrede verursacht Krise im Bundeskabinett«, in: Die Welt, 15.5.1956; umfassende Pressedokumentation in ACDP, VII-005, 63/3. Die Gürzenich-Rede wurde auch im Radio übertragen. 139 Koerfer, Kampf, S. 121.

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me die Aussprache »ungewöhnlich ernst. So ernst wie bisher noch keine Zusammenkunft als Chef der Regierung«. Die Vorkommnisse der vergangenen Tage hätten, so Adenauer, »die Autorität des Bundeskanzlers und des Kabinetts beeinträchtigt« und auch dem Ansehen der Bundesrepublik im Ausland erheblich geschadet. »So kann man nicht Wirtschaft treiben, so nicht Finanzpolitik, so nicht Politik treiben.« Schäffers und Erhards Einwände, sie hätten »völlig korrekt« gehandelt und seien vom Kanzler öffentlich »verächtlich« gemacht worden, bügelte Adenauer mit dem Hinweis ab, nicht er, sondern die Minister hätten sich zu rechtfertigen. Daraufhin boten beide ihren Rücktritt an – wohlwissend, dass Adenauer dieses Angebot ein Jahr vor der Wahl nicht annehmen konnte.140 Tatsächlich zeigte die Entwicklung der folgenden Wochen, dass der Kanzler geschwächt aus der Krise hervorging. Auf Vermittlung der Staatssekretäre Globke und Westrick kam es wenige Tage später zu einem Gespräch unter vier Augen, woraufhin Adenauer Erhard »persönlich und als Minister sein volles Vertrauen« aussprach. Viele Kommentare zu seiner Rede vor dem BDI seien »völlig unzutreffend«.141 Später behauptete Adenauer sogar, er habe die Rede Bergs im Gürzenich aufgrund der schlechten Akustik nicht verstehen können, die ganze Angelegenheit beruhe somit auf einem Missverständnis.142 Dass der Kanzler einlenken musste, hatte auch damit zu tun, dass er sich sowohl im Parteivorstand als auch in der Fraktion »kritische Worte sagen lassen« musste.143 Die öffentliche Abstrafung des Wirtschafts- und des Finanzministers wurde in den Parteigremien keineswegs gut geheißen. Überdies bestand großes Interesse, die öffentlichen Querelen in der Konjunkturfrage möglichst schnell zu beenden, zumal die Opposition und auch die eigenen Koalitionspartner daraus politisch Kapital schlugen. Ende Mai 1956 brachten die Fraktionen der SPD und der (im Herbst 1955 aus der Koalition ausgeschiedenen) FDP eine große Anfrage über die Konjunkturpolitik in den Bundestag ein.144 Wenige Tage später legte die SPD das bereits erwähnte Wachstumsgesetz 140 Sondersitzung am 24.5.1956, in: Kabinettsprotokolle 1956, S. 377–382. Schäffer und Erhard hatten sich offenbar schon vor der Sitzung auf ein gemeinsames Rücktrittsangebot geeinigt; Hentschel, Erhard, S. 258; über die Unmöglichkeit, Schäffer und Erhard zu entlassen vgl. Krone, Tagebücher 1: 1945–61, S. 219 (Eintrag vom 22.6.1956) sowie Adenauers Äußerungen vor dem Bundesvorstand der CDU am 26.4.1956, in: CDU-Bundesvorstand 1953–1957, S. 900–905. 141 Pressekommuniqué des Kanzleramtes vom 25.5.1956, zit. n. Koerfer, Kampf, S. 121; vgl. auch »Adenauer: Erhard genießt mein volles Vertrauen«, in: Die Welt, 26.5.1956. 142 Vgl. die Äußerungen Adenauers am 22.6.1956, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 30, Bonn 1956, S. 8159f. 143 Krone, Tagebücher 1: 1945–61, S. 215, Eintrag vom 29.5.1956 über die CDU/CSUParteivorstandssitzung am Vortag. Von der Vorstandssitzung wurde kein Protokoll angefertigt. Zur Fraktionssitzung am 29.5.1956: ACDP VIII/001, 1007/2, S. 233f. 144 Große Anfragen der SPD- und der FDP-Bundestagsfraktion zur Konjunkturpolitik am 29.5.1956, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. 2403 u. 2409; vgl. auch SPD-Fraktion

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vor. Auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände traten Anfang Juni mit eigenen Vorschlägen zur Konjunkturpolitik an die Öffentlichkeit.145 Gegenwind bekam die Regierung ferner von den Wissenschaftlichen Beiräten beim Wirtschafts- und Finanzministerium. Schon im Herbst 1955 hatten diese auf Anfrage des BMWi ein gemeinsames Gutachten zur Konjunkturlage verfasst, das durchaus kritische Töne gegenüber der aktuellen Wirtschaftspolitik anschlug.146 Weitaus empfindlicher traf die Regierung aber das Anfang Juni 1956 vorgelegte Gutachten über »Instrumente der Konjunkturpolitik und ihre rechtliche Institutionalisierung«.147 Das Gutachten griff zwar keine tagespolitische Diskussion auf, doch die darin formulierten Empfehlungen kamen dem SPD-Entwurf in vieler Hinsicht ausgesprochen nahe. So wurde eine Verstetigung des Wachstums durch eine zielgerichtete Kombination aus geld-, fiskal-, wettbewerbs- und außenhandelspolitischen Interventionen gefordert, ein antizyklisches Verhalten der öffentlichen Haushalte und der Notenbank angemahnt sowie eine konjunkturorientierte Sozial- und Tarifpolitik für notwendig erachtet. Die Begründung des Gutachtens trug eine nicht zu übersehende keynesianische Färbung. Eine marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung, hieß es einleitend, sein nicht alleine in der Lage, Wachstum und Stabilität dauerhaft zu sichern, »da der Preismechanismus weder Vollbeschäftigung garantiert noch beim Fehlen von Vollbeschäftigung seine Lenkungsfunktionen befriedigend erfüllen kann«.148 Das Gutachten bekräftigte ferner die in dem SPD-Antrag geforderte Einführung einer Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung mit prospektiven Schätzungen sowie eines »Wirtschaftsprogramms«, das die Regierung jährlich erstellen und das allen konjunkturpolitischen Entscheidungsträgern als Richtschnur dienen sollte. Nicht nur der Inhalt des Gutachtens, sondern auch der Zeitpunkt seiner Veröffentlichung war aus der Sicht der Regierung außerordentlich ungünstig. Dabei hatte das BMWi, wahrscheinlich auf Initiative von Müller-Armack, die

1953–57, S. 326 (Sitzung am 28./29.5.1956); BAK, B 136/653: Vermerk vom 18.6.1956, sowie Materialien in BAK, B 126/2076. 145 BAK, B 102/12595/2: Stellungnahme des DGB zur Konjunkturpolitik, 5.6.1956; AdSD, DGB-Archiv, 5/DGDO/9: Rosenberg an Erhard, 17.6.1956; BAK, B 126/2076: Erklärung des DIHT zur Wirtschafts-, Finanz- und Kreditpolitik, 4.6.1956; B 126/22309: Das Konjunkturprogramm des BDI, 8.6.1956; vgl. ferner B 102/12595/2: Bundesverband des Privaten Bankgewerbes an Erhard, 22.6.1956; IHK Düsseldorf an Erhard, 4.5.1956. 146 Gutachten vom 11.10.1955 »Welche Maßnahmen entsprechen der gegenwärtigen konjunkturellen Situation?«, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1955–56, S. 28–33. U.a. kritisierte das Gutachten die Fondsbildung des Bundes durch den »Juliusturm« (ebd., S. 33). 147 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1955–56, S. 34– 64; die Beratungen hatten bereits im Februar 1955 begonnen. Sitzungsprotokolle in ACDP, I– 475, 009/9, sowie weitere Materialien in BAK, B 136/653. 148 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1955–56, S. 35.

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Expertise selbst in Auftrag gegeben.149 Die Regierung sah sich daher nicht nur mit der Kritik der Opposition, sondern auch der wissenschaftlichen Beratungsgremien aus den eigenen Ministerien konfrontiert. Alles dies trug dazu bei, dass der Konflikt um die Konjunkturpolitik rasch beigelegt und mit Hochdruck an einem neuen Programm gearbeitet wurde.150 Dabei stützte man sich weitgehend auf den von Wirtschafts- und Finanzministerium gemeinsam erarbeiteten Entwurf vom 17. Mai, der allerdings in einigen Punkten abgeändert wurde. So verzichtete man vorerst auf eine Verminderung der steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten von Investitionen und ließ Ausnahmen bei den Zollsenkungen zu. Ferner blieb der Wohnungsbau von der Sperrklausel für öffentliche Investitionen unberührt.151 Intern musste Erhard zugeben, dass es sich nunmehr um ein »etwas lädiertes Konjunkturprogramm« handelte.152 Nur aufgrund dieses rasch ausgehandelten Kompromisses war es möglich, das Programm rechtzeitig zur Diskussion der Großen Anfragen von SPD und FDP am 26. Juni gemeinsam mit einer Regierungserklärung im Bundestag zu verkünden.153 Die sich daran anschließende Generaldebatte zeigte, wie weit sich Opposition und Regierung auf diesem Gebiet trotz aller rhetorischen Differenzen angenähert hatten. Die sachliche Kontroverse bezog sich vor allem auf die Rolle Adenauers in der Gürzenich-Affäre und die schlechte Koordination der Konjunkturpolitik in den vergangenen Monaten.154 Grundsätzlich waren sich die Sprecher aus SPD, FDP und CDU einig, dass die Konjunktur- und Wirtschaftspolitik in Zukunft besser durch eine zentrale Instanz koordiniert und durch einen Ausbau der Konjunkturanalyse auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt werden müsse. Diese Position vertraten

149 Vgl. die Bemerkungen von Müller-Armack, der an den ersten Sitzungen am 26.– 28.2.1956 teilgenommen hatte; ACDP, I–475, 009/9: Sitzungsprotokoll, S. 3. 150 In einer Kabinettssitzung am 30.5.1956 wies Adenauer das Konjunkturprogramm dem Wirtschaftskabinett »zur beschleunigten Beratung« zu; Kabinettsprotokolle 1956, S. 358. Vgl. zum weiteren Fortgang die Sitzungen des Wirtschaftskabinetts am 5., 8., 12. u. 15.6.1956, in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1956–57, S. 358, sowie im Kabinett am 6., 13. u. 19.6.1956, in: Kabinettsprotokolle 1956, S. 398f., 416f. u. S. 434–440. 151 Für einen Verzicht der steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten plädierte nicht nur die Industrie, sondern auch der Bundesausschuss der CDU; vgl. BAK, N 1254/167: Etzel an Erhard, 1.6.1956, sowie B 126/22309: Das Konjunkturprogramm des BDI, 8.6.1956; die Sonderregelungen beim Wohnungsbau und den Zollssenkungen hatten v.a. Wohnungsbauminister Preusker und Agrarminister Lübke erwirkt; vgl. Sitzungen des Wirtschaftskabinetts am 5. u. 8.6.1956, in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1956–57, S. 183–187 u. 193, sowie BAK, B 102/12594: Änderungsliste des zweiten Konjunkturprogramms auf Grund der Kabinettsbeschlüsse vom 19.6.1956. 152 ACDP, I-028, 57/1: Erhard an Krone, 23.6.1956. 153 Text der Regierungserklärung in BAK, B 136/655, weitere Dokumente in B 102/12594/ 1. 154 Vgl. v.a. die Reden von Erhard, Adenauer und Deist, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 30, Bonn 1956, S. 8143–8162.

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vor allem der FDP-Abgeordnete Walter Scheel und der CDU-Wirtschaftsexperte und Europapolitiker Fritz Hellwig.155 Wie stark das »Zweite Konjunkturprogramm« die Wirtschaftsentwicklung tatsächlich beeinflusst hat, ist nur schwer abzuschätzen. Obwohl die im Juni verkündeten Maßnahmen ernsthafter verfolgt wurden als die des »Ersten Konjunkturprogramms« vom Herbst 1955, dürfte der kontraktive Effekt zumindest kurzfristig relativ gering gewesen sein.156 Wie schon erwähnt, waren von der 10%-igen Investitionssperre des Bundes bestimmte Bereiche (Wohnungsbau, Verteidigung) ausgeschlossen; überdies konnte auf das Ausgabenverhalten von Ländern und Gemeinden kein Einfluss ausgeübt werden.157 Der nachfragesenkende Impuls dürfte ferner durch die Anfang Oktober beschlossene Einkommenssteuersenkung wieder kompensiert worden sein.158 Überdies hatte sich der Finanzminister bereit erklären müssen, einen Teil seiner Überschüsse für Ausgabenprogramme zur Verfügung zu stellen, was letztlich ebenfalls eher expansiv gewirkt haben wird. Auch die außenwirtschaftlichen Programmpunkte besaßen allenfalls eine langfristige Wirkung. Die Reduzierung der Einfuhrzölle enthielt zahlreiche Ausnahmen, andere Einfuhrerleichterungen traten erst Monate später in Kraft. Schließlich wurde eine Reihe von Maßnahmen (z.B. die Erschwerung von Teilzahlungskrediten oder die Sparförderung) überhaupt nicht umgesetzt.159 Tatsächlich kommen die anhand der VGR-Daten des Statistischen Bundesamtes durchgeführten ökonometrischen Tests zu dem Ergebnis, dass der kontraktive Impuls der Fiskalpolitik 1955 und 1956 gering war.160 So betrug der (negative) Konjunkturimpuls 1955 zwar insgesamt 1,44% des nominalen Bruttosozialproduktes vom Vorjahr. Dieser Effekt war jedoch vor allem auf die »automatischen Stabilisatoren« des Budgets zurückzuführen. Der diskretionäre Impuls belief sich lediglich auf -0,85%. Für 1956 betrug der Gesamteffekt sogar nur -0,38%, wobei die automatische Stabilisierungswirkung des Budgets infolge der Einkommenssteuerreform verschwindend gering war. Vermutlich war daher der Ankündigungseffekt des Programms viel bedeutender als die Maßnahmen selbst. Ohnehin zeichnete sich bereits im Sommer eine Entspannung der wirtschaftlichen Lage ab. Anfang Juli erkannte man im BMWi erste Zeichen einer Konjunkturberuhigung, so dass von einigen Seiten 155 Ebd., S. 8162–8168 und 8270–8283. 156 Vgl. Berger, S. 117–124. 157 Vgl. Bestandsaufnahme am 9.7.1956 in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1956–57, S. 223–226. 158 Vgl. Franzen, S. 177–185. 159 Zum steuerbegünstigten Sparen und den damit verbundenen Schwierigkeiten vgl. BAK, B 136/653; Vermerk Praß, 29.8.1956, und Kabinettsitzung am 31.8.1956, in: Kabinettsprotokolle 1956, S. 572–574. 160 Berger, S. 137.

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sogar schon wieder expansive Maßnahmen in Erwägung gezogen wurden.161 Anfang September beschloss der Zentralbankrat eine Senkung der Leitzinsen.162 Die Konjunkturfrage trat in der politischen Diskussion rasch in den Hintergrund und wurde durch neue Konflikte, etwa in der Rentengesetzgebung, verdrängt. Dennoch war die langfristige politische Wirkung der Konjunkturdebatte von 1955/56 erheblich. Die Gürzenich-Affäre hatte nicht nur die Konfliktlinien innerhalb der Regierung freigelegt, sondern auch gezeigt, wie wenig man in der Lage war, selbst eine relativ milde Störung der Konjunktur mit den vorhandenen Instrumenten zu kontrollieren. Dabei handelte es sich auch um ein Informationsproblem. Es fehlten nicht zuletzt statistische Daten über die aktuelle Konjunkturlage und die zu erwartende Entwicklung der Zukunft. Die zahlreichen, häufig widersprüchlichen Kommentare und Lagebeurteilungen der verschiedenen politischen Instanzen hatten einen verheerenden Eindruck in der Öffentlichkeit hinterlassen. Es bedurfte daher nur wenig Phantasie, um sich die wirtschaftlichen und politischen Folgen einer handfesten Konjunkturkrise vorzustellen. Die Verstetigung von Wachstum und Konjunktur rückte seither ins Zentrum der Wirtschaftspolitik. Dabei unterschieden sich Regierung und Opposition in vielen Sachfragen nur noch in Nuancen. Schon auf dem Parteitag im April 1956 hatte die CDU ein klares Bekenntnis zu einer aktiven Konjunkturpolitik abgegeben, und auch Skeptiker wie Erhard schwenkten nun auf diese Linie ein.163 Für viele Wirtschaftsexperten der Partei wie Etzel, Hellwig oder Friedrich, aber auch für zahlreiche Industrievertreter schien nun sogar ein »Nationalbudget« nicht mehr ausgeschlossen.164 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung geriet Finanzminister Schäffer, der weiterhin auf einer strikt am Budgetausgleich orientierten Finanzpolitik beharrte, immer mehr in die Defensive.165 Wie Etzel Adenauer schon Anfang 161 Vgl. BAK, B 136/653: Sitzung des Abteilungsleiterausschusses für Konjunkturpolitik am 9.7.1956; vgl. auch die Äußerungen Erhards im Wirtschaftskabinett am 27.7.1956, in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1956–57, S. 223f. 162 HADB, B 330/Drs. 1956: ZBR-Sitzung am 5./6.9.1956. Der Diskontsatz wurde um 0,5 Punkte auf 5% gesenkt. Eine weitere Senkung in gleichem Umfang erfolgte im Januar 1957; vgl. auch Holtfrerich, Geldpolitik, S. 397f. 163 Vgl. Christlich-Demokratische Union Deutschlands; zu Erhard vgl. die bereits erwähnte Bundestagsrede vom 22.6.1956 sowie sein Schreiben an Hugo Scharnberg, 20.7.1956, in: BAK, B 102/12595/2. 164 Vgl. BAK, N 1254/167: Etzel an Adenauer, 4.6.1956; Rede Hellwigs vor dem Bundestag am 22.6.1956; ACDP, I-083, A062: Hellwig an Friedrich, 19.6.1956; B 126/2076: Rede Friedrichs vor dem Überseeclub in Hamburg am 2.5.1956; B 102/12595/2: Hauptgeschäftsführer der IHK Düsseldorf Albrecht an Erhard, 4.5.1956. 165 So musste Schäffer einen Teil seiner Haushaltsüberschüsse zur Verfügung stellen. Nachgeben musste er auch bei den Einkommenssteuersenkung, die am 5.10.1956 in Kraft trat; vgl. Sitzung des Wirtschaftskabinetts am 27.7.1956, in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1956– 57, S. 232f. sowie Unterlagen in BAK, B 126/6202; vgl. auch Henzler, Schäffer, S. 550–557.

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Juni 1956 in einem langen Brief darlegte, hatte Schäffer in der Partei »und auch im Volke die Glaubwürdigkeit verloren«, um die Finanzpolitik in einer so schwierigen Phase erfolgreich zu gestalten. Seine »statische und zu wenig dynamische Finanzpolitik und seine ständigen Falschschätzungen des Steueraufkommens sowie die ständige Verzögerungstaktik gegenüber notwendigen Entscheidungen« hätten erst die Probleme geschaffen, »denen er und auch Sie als Regierungschef sich heute gegenübersehen«.166 Dies war auch die Meinung des Kanzlers, der nur deshalb von einer Entlassung seines Finanzministers absah, weil der Wahlkampf bevorstand und er die bayerische Schwesterpartei nicht brüskieren wollte.167 Nach der Wahl 1957, in der die CDU/CSU die absolute Mehrheit gewann, wurde Schäffer zum Justizminister ernannt, während Etzel selbst das Finanzressort übernahm. Etzel bemühte sich fortan mit großer Energie um eine Erneuerung der Finanzpolitik und setzte gegenüber Erhard durchaus eigene Akzente – vor allem in der Europa-Politik, aber auch in innen- und wirtschaftspolitischen Fragen.168 Zeitweise wurde Etzel sogar als Nachfolger Adenauers gehandelt.169 Doch die Gürzenich-Affäre hatte nicht nur personelle Konsequenzen, sondern zog auch institutionelle Veränderungen nach sich. So wurde das von Erhard, Etzel und Vocke im Frühjahr einberufene »Konjunkturpolitische Gremium« beibehalten, obgleich Adenauers Misstrauen gegenüber »solchen Konsilien« keineswegs ausgeräumt worden war.170 Vor allem der Abteilungsleiterausschuss unter Vorsitz Müller-Armacks entwickelte sich zu einer festen Einrichtung und nahm fortan wichtige ressortübergreifende Koordinationsaufgaben wahr.171 Das Gremium tagte etwa einmal pro Monat und diskutierte nicht nur die konjunkturelle Lage, sondern war auch an der Vorbereitung von konjunkturpolitischen Maßnahmen beteiligt.172 Schließlich hat die Gürzenich-Affäre zu einer institutionellen Stärkung und gleichzeitig auch zu einer konjunkturpolitischen Profilierung der Notenbank

166 BAK, N 1254/167: Etzel an Adenauer, 4.6.1956; eine Kopie wurde Erhard zugesendet (LES, NL Erhard, I/4/41). 167 Seit 1954 war es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Adenauer und Schäffer gekommen. Mehrfach bot Schäffer seinen Rücktritt an; vgl. die Korrespondenz zwischen Schäffer und Adenauer, in: BAK, N 1168/39–41. 168 Vgl. etwa die kritischen Schreiben Etzels an Erhard vom 1. u. 5.6.1956, in denen er dem Wirtschaftsminister Führungsschwäche, mangelnde Kooperation mit anderen wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern sowie eine insgesamt wenig überzeugende Konjunkturpolitik vorwarf; BAK, N 1254/167 u. 87. 169 Vgl. Koerfer, Kampf, S. 162f.; Dietrich, Etzel. 170 Zitat in: Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1956–57, S. 379 (Sitzung am 24.5.1956). 171 Sitzungsprotokolle in: BAK, B 136/653, B 126/2076 und B 102/12598/1–2. 172 Allerdings bestand Adenauer darauf, dass zu den Sitzungen ein Vertreter des Kanzleramtes sowie nach Sachlage auch Vertreter der übrigen Ressorts eingeladen wurden. Vgl. BAK, B 136/653: Vermerk Haenleins, 29.5.1956; Adenauer an Erhard, 29.5.1956.

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beigetragen.173 Zentralbankrat und Direktorium der BdL hatten ihre Geldpolitik seit 1955 deutlicher auf konjunkturelle Ziele ausgerichtet und waren damit zu einem wichtigen wirtschaftspolitischen Akteur aufgestiegen. Zugleich war es der BdL gelungen, sich gegenüber den fortgesetzten Angriffen des Bundeskanzlers und der Unternehmerverbände zu behaupten. Trotz der im Abteilungsleiterausschuss praktizierten Zusammenarbeit mit Vertretern der Bundesregierung legte man großen Wert auf Unabhängigkeit gegenüber den politischen Entscheidungsträgern. Das wurde bereits im September 1956 (und erneut im Januar 1957) deutlich, als man gegen den erklärten Willen des BMWi eine Diskontsatzsenkung in die Wege leitete.174 Ausdrücklich bestätigt wurde die Unabhängigkeit der Notenbank durch das im Juli 1957 verabschiedete Bundesbankgesetz.175 Die Träger der Geldpolitik wurden darin zwar verpflichtet, die »allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu unterstützen«.176 Dennoch hatte sich Adenauer mit seinen Forderungen nach einer stärkeren Anbindung der Notenbank an die Regierung nicht durchsetzen können. Ebenso scheiterte sein Vorhaben, den Sitz der Bundesbank von Frankfurt nach Köln zu verlegen. Dass der Kanzler hier letztlich einlenken musste, hing auch mit dem für ihn wenig glücklichen Verlauf der Gürzenich-Affäre zusammen.177

3. Die Konjunktur im Visier der Politik Nachdem sich die konjunkturelle Lage im Sommer 1956 entspannt hatte, rückte das Thema schnell in den Hintergrund der politischen Berichterstattung. Aktuelle Probleme wie die Verabschiedung des Kartellgesetzes, die anstehende Reform der Rentenversicherungen oder die Gründung der EWG beherrschten die Wirtschaftsseiten der Zeitungen. Der Abschwung wurde allgemein begrüßt, denn er brachte der westdeutschen Konjunktur eine Ruhepause, ohne allzu sehr nach unten auszuschlagen.178 Nachdem die Wirtschaft im Boomjahr 1955 real um 12,6% gewachsen war, verzeichnete sie 1956 nur noch 6,9% Wachstum. 1957 waren es 5,7%, im Jahr darauf 3,5%. Zugleich verminderte sich die Auslastung des Kapitalstocks von 99,1% 1955 auf 94,9% im Jahre 1958. Dies hatte jedoch keine negativen Folgen für die Beschäftigung. So betrug die Arbeitslosenquote 1957 und 1958 nur noch 3,7%, gegenüber 173 Dies betont auch Neumann, S. 330–332. 174 Vgl. BAK, B 102/12598/2: Sitzung des Abteilungsleiterausschusses am 16.10.1956. 175 Vgl. Hentschel, Entstehung. 176 Gesetz über die Deutsche Bundesbank vom 26.7.1957, BGBl. I, S.745, § 12. 177 Vgl. auch Berger, S. 55f. 178 Vgl. etwa BAK, B 102/12598/1: Sitzung des Abteilungsleiterausschusses für Konjunkturpolitik am 12.7.1957.

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5,6% 1955. Auch die Preisentwicklung deutet auf eine allenfalls moderate Entspannung hin. So sank die Inflationsrate von ihrem Höchststand von 2,6% im Jahre 1956 auf 2,0 und 2,2% in den Jahren 1957 und 1958.179 Die bundesdeutsche Wirtschaft war daher trotz der konjunkturellen Abwärtsbewegung weiterhin im Wachstum begriffen und von einer Rezession weit entfernt. Expansive Maßnahmen schienen unter diesen Bedingungen kaum angemessen.180 Zwar senkte der Zentralbankrat seit 1957 mehrfach den Diskontsatz, der im September 1959 schließlich seinen historischen Tiefstand von 2,75% erreichte. Allerdings dienten die Diskontsenkungen in erster Linie dazu, die Zinsdifferenz gegenüber dem Ausland zu reduzieren, um die unvermindert hohen Kapitalimporte im Zaum zu halten. Die – im internationalen Vergleich – hohen Zinsen waren neben den Leistungsbilanzüberschüssen dafür verantwortlich, dass ausländisches Kapital in großer Menge nach Deutschland strömte. Dass die Zinssenkung zugleich expansiv auf die inländische Geldschöpfung wirkte, war eher ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Tatsächlich versuchte die Notenbank, die hohen Liquiditätsüberschüsse durch Offenmarktgeschäfte am Geldmarkt abzuschöpfen, wenn auch nur mit begrenztem Erfolg.181 Der Zielkonflikt von außen- und binnenwirtschaftlichen Stabilisierungszielen sollte sich von 1959 ab noch weiter verschärfen, als die Bundesrepublik in eine erneute Aufschwungphase eintrat. Waren die späten fünfziger Jahre eher durch eine Abstinenz konjunkturpolitischer Intervention gekennzeichnet, so lassen sich doch vielfältige Bemühungen erkennen, die staatlichen Handlungsmöglichkeiten auf diesem Feld zu verbessern, um im Falle künftiger Krisen besser gewappnet zu sein. Die Bemühungen konzentrierten sich zunächst auf eine Verbesserung der Informationsschnittstellen zwischen Wissenschaft, Statistik und ministerieller Planung. Wie bereits dargestellt, wurde der Ausbau der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung seit 1956 energisch vorangetrieben, wobei auch prognostische Verfahren nicht mehr tabuisiert wurden. Vor allem die Zusammenarbeit mit den empirischen Wirtschaftsforschungsinstituten wurde intensiviert. Im BMWi entfalteten die der Grundsatzabteilung zugeordneten Referate für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (Dr. Josef Bohlen) und Statistik (Dr. Ernst v. Roeder) eine rege Aktivität auf diesem Gebiet. Im Finanzministerium kam es vor allem nach der Ernennung Etzels zu einer stärker volkswirtschaftlichen Ausrichtung der Finanzpolitik und einer 179 Daten in Berger, S. 20; Holtfrerich, Geldpolitik, S. 350. 180 Vgl. etwa BAK, B 102/12596/2: Erhard an den Baden-Württembergischen Wirtschaftsminister Hermann Veit, 25.7.1958; Rede Erhards vor dem Bundestag am 3.7.1958, Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 41, Bonn 1958, S. 2262f. Allerdings kam es durch die Rentengesetzgebung und den Aufbau der Bundeswehr ohnehin zu einer Erhöhung der Ausgaben. Noch im Frühjahr 1959, als sich schon ein deutlicher Aufschwung abzeichnete, erwog man im BMWi expansive Maßnahmen; vgl. BAK, B 102/12596/2: Sitzung im BMWi am 3.3.1959. 181 Holtfrerich, Geldpolitik, S. 401.

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langsamen Implementierung einer modernen Budgetplanung. Neben Etzel wirkte hier vor allem sein persönlicher Referent und »Chefvolkswirt« Fritz Schiettinger als Impulsgeber für neue Ideen und Methoden.182 Unter anderem veranlasste Schiettinger die Einrichtung einer referatsübergreifenden »Finanzpolitischen und Volkswirtschaftlichen Gruppe«, die von Franz Rompe geleitet wurde.183 Rompe galt als erfahrener Volkswirt, vertrat das Finanzministerium regelmäßig in den Sitzungen des Konjunkturausschusses und besaß unmittelbares Vortragsrecht beim Minister. Nach der Amtsübernahme Etzels gestaltete sich auch das in der Ära Schäffer problematische Verhältnis zwischen Ministerialbürokratie und Wissenschaftlichem Beirat harmonischer.184 Etzel zeigte sich aufgeschlossen gegenüber neuen Strömungen der Finanzwissenschaft, die sich nach 1945 der makroökonomischen Analyse der Haushaltsund Steuerpolitik zugewendet hatten. Aus diesem Grund unterstützte Etzel auch lebhaft die Idee eines Sachverständigenrates.185 Nach der Nominierung Etzels gewann daher die Finanzpolitik deutlich an Kontur, ja, der neue Minister avancierte zu einem gleichberechtigten Mit- und zeitweise einem Gegenspieler Erhards in der Wirtschaftspolitik insgesamt.186 Trotz einer engen Kooperation zwischen beiden Ministern in wichtigen Vorhaben wie dem Wettbewerbs- und Kartellgesetz setzte Etzel eigene Akzente. Der kleingewachsene, bisweilen farblos wirkende Politiker war nicht nur habituell aus anderem Holz geschnitzt als Erhard. Auch sein Verständnis von Wirtschafts- und Finanzpolitik wich stark vom prinzipienfesten Ordnungsdenken Erhards ab. Etzel stand der Schwerindustrie des Ruhrgebiets nahe und galt in wirtschaftspolitischen Fragen als Pragmatiker. Während seiner langjährigen Tätigkeit bei der Montanunion hatte er eng mit der europäischen Planungsbürokratie kooperiert, eine Erfahrung, die ihn offensichtlich tief geprägt hatte. In der Europapolitik unterstützte er ausdrücklich Adenauers Integrationskurs und stellte sich damit gegen Erhard, der eine »kleineuropäische Lösung« ablehnte. Während der 1958 einsetzenden Krise des Ruhrkohlenbergbaus hielt er im Gegensatz zu Erhard staatliche Hilfsmaßnahmen für unverzichtbar. Und in der Frage der Kanzlernachfolge galt er zeitweise als Favorit Adenauers, was seine Beziehung zu Erhard nicht eben einfacher machte.187 Bereits in seiner ersten Etatrede am 3. März 1957 formulierte Etzel sein 182 Vgl. Schiettinger; Löffler, S. 111. 183 Rompe war 1937–45 beim Reichkommissar für Preisbildung tätig gewesen, hatte 1946 als Berater des Planungsstabs für Statistik der Britischen Militärverwaltung gewirkt und war seit 1949 im BMF tätig; bis 1957 hatte er dort das Generalreferat für Volkswirtschaft und Statistik geleitet; biograph. Informationen in Kabinettsausschuß für Wirtschaft 1956–57, S. 550. 184 Schmölders, Lebenserinnerungen, S. 124–126. 185 Vgl. BAK, N 1254/330: Vermerk Rompe, 13.5.1958. 186 Dietrich, Etzel. 187 Koerfer, Kampf; Schwarz, Adenauer, S. 359f.; U. Enders; Nonn, S. 103.

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Konzept der Finanzpolitik. Diese müsse in engem Einklang mit der allgemeinen Wirtschaftspolitik stehen und »über fiskalische Nahziele hinaus die volkswirtschaftliche Gesamtentwicklung ständig im Auge« behalten.188 Die hohen Haushaltsüberschüsse hielt er für überflüssig, die Bundesfinanzen sollten sich fortan »hart am Rande des Defizits bewegen«. Darüber hinaus bekannte sich Etzel zu einer stärker konjunkturpolitischen Ausgestaltung der Steuer- und Haushaltspolitik, wobei er ein »deficit spending« in wirtschaftlichen Rezessionen nicht ausschloss.189 Die Forderung nach einer »konjunkturgerechten« Finanzpolitik wurde vor allem seit Sommer 1959 aktuell, als die bundesdeutsche Wirtschaft erneut von einem kräftigen Aufschwung erfasst wurde. Wie schon 1955/56 drohte eine Überhitzung der Konjunktur. Bereits im Juni konstatierte der Zentralbankrat erste Warnsignale. Die Arbeitslosenzahl war im Vormonat auf 320.000 zurückgegangen, auf jeden Arbeitslosen kamen drei offene Stellen. Es war zu erwarten, dass die Gewerkschaften ihre bisherige Lohnzurückhaltung in den anstehenden Tarifrunden aufgeben würden.190 Auch die übrigen Indikatoren deuteten auf ein Heißlaufen der Konjunktur hin. Der Exportboom führte weiterhin zu hohen Handelsbilanzüberschüssen, die sich 1959 auf über 9 Mrd. DM summierten, ein bis dahin noch nie erreichter Wert. Zugleich erreichte die Kapazitätsauslastung 1959 97,2%, im Jahr darauf betrug sie sogar annähernd 100%. Anfang August teilte Bundesbankpräsident Karl Blessing Adenauer und Erhard mit, dass eine »spürbare« Erhöhung der Leitzinsen unmittelbar bevorstehe.191 Tatsächlich hob die Bundesbank die Leitzinsen Anfang September um 0,25% an, einen Monat später wurde der Diskontsatz um einen weiteren Prozentpunkt erhöht, und im Juni 1960 erfolgte ein weiterer Zinsschritt. Der Diskontsatz belief sich nunmehr auf 5%. Diese Maßnahmen erwiesen sich jedoch angesichts der veränderten außenund währungswirtschaftlichen Lage als wenig erfolgreich, weil sie zwar dem inländischen Kreditmarkt Liquidität entzogen, zugleich aber ausländischen Anlegern einen zusätzlichen Anreiz gaben, in Deutschland zu investieren.192 188 Bundesministerium der Finanzen, Haushaltsreden 1957–61, S. 51–78, hier 58f. 189 »Die Bundesregierung hat erfreulicherweise viele Möglichkeiten, solchen unvorhergesehenen Entwicklungen in einer neuen Lage mit neuen Maßnahmen zu begegnen, um das Gleichgewicht der Gesamtwirtschaft, der öffentlichen Haushalte sowie der Preise und Löhne in gewissen Grenzen zu sichern. Selbst wenn eine Wirtschaftskrise die sieben fetten Jahre ablösen würde, so würde die Bundesregierung – anders als es die Reichsregierung in den Jahren 1930 bis 1932 getan hat – geeignete Mittel ergreifen, um das Ausmaß der Krise und ihre Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Ordnung zu begrenzen.« (ebd.); vgl. außerdem Etzel. Zu den internen Überlegungen zur Konjunkturpolitik vgl. auch Vermerk von Rompe, o.D. (1958), in: BAK, B 126/2079 sowie B 126/2080: Rompe an Wolf, 12.10.1959. 190 HADB, B 330/Drs. 1959: Sitzung am 11.6.1959. 191 HADB, B 330/242 u. 245: Blessing an Erhard und an Adenauer, 6.8.1959. 192 Vgl. Emminger in der ZBR-Sitzung am 11.6.1959; BADB, B 330/Drs. 1959, S. 4f.

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Schon in den vergangenen Jahren waren die Auslandsaktiva der Bundesbank infolge der Leistungsbilanzüberschüsse stark angestiegen. Die Währungs- und Goldreserven, die 1950 lediglich eine Milliarde DM umfasst hatten, waren bis 1960 auf über 33 Milliarden angewachsen.193 Kein anderes Land, mit Ausnahme der USA, verfügte zu diesem Zeitpunkt über ähnlich hohe Devisen- und Währungsreserven. Der Übergang zur vollen Konvertibilität und die Freigabe des internationalen Kapitalverkehrs im Jahre 1958 hatten diesen Trend noch einmal zusätzlich verstärkt, da nun Arbitragegeschäfte möglich waren, welche die Zinsdifferenzen zwischen der Bundesrepublik und anderen Ländern ausschöpften.194 Diese Problematik wurde von der Bundesbank schon frühzeitig erkannt. Zudem übten internationale Organisationen wie die OEEC scharfe Kritik an der deutschen Hochzinspolitik, da anderen Industrieländern notwendige Devisen entzogen wurden und die gerade erst erreichte Liberalisierung der Kapital- und Devisenmärkte ernsthaft gefährdet schien.195 Die Bundesbank versuchte daher, die zinsinduzierten Kapitalimporte durch eine Erhöhung der Mindestreservesätze und offenmarktpolitische Operationen zu neutralisieren. Durch die Ausgabe von Mobilisierungspapieren sollte ein Teil der Liquidität abgeschöpft werden, zugleich verpflichteten sich die Geschäftsbanken im Juni 1960, für zwei Jahre Mobilisierungspapiere in Höhe von einer Milliarde DM zu halten und nicht gegen Zentralbankgeld einzutauschen. Ferner leitete die Bundesbank eine vorübergehende Rückkehr zur Devisenbewirtschaftung ein, indem sie u.a. ein vorübergehendes Zinsverbot für ausländische Guthaben verfügte. Auch diese Schritte zeigten nicht die erhoffte Wirkung. Ausländische Anleger investierten nun zwar weniger am deutschen Geldmarkt, kauften dafür aber vermehrt Aktientitel, so dass die Frankfurter Börse 1960 einen regelrechten Boom erlebte.196 Die Bundesrepublik blieb für ausländische Anleger weiterhin attraktiv, zumal die amerikanische Notenbank im Juni die Zinsen senkte und damit die Spekulationen über eine Aufwertung der D-Mark zusätzlich anfachte. Damit war auch die Gefahr einer »importierten Inflation« deutlich gewachsen. Diese Erfahrungen machten deutlich, dass eine wirkungsvolle Steuerung

193 Holtfrerich, Geldpolitik, S. 351. 194 Die volle Konvertibilität war am 29.12.1958 hergestellt worden, als die Europäische Zahlungsunion durch das Europäische Währungsabkommen abgelöst worden war. Sei 1.5.1959 war die Verzinsung von Ausländerguthaben in der Bundesrepublik gestattet. Der Verkauf deutscher Geldmarktpapiere an Ausländer war nicht mehr genehmigungspflichtig; Bundesministerium der Finanzen, Chronologie, S. 136f. 195 Vgl. zur Diskussion dieser Problematik die ZBR-Sitzung am 5.11.1959, HADB, B 330/ Drs.1959. 196 Vgl. die Analyse Gochts in einer Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi am 3./4.3.1961, IfZ, Ed 150/40, S. 5; vgl. auch Berger, S. 64–73.

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der Binnenkonjunktur durch das geldpolitische Instrumentarium der Bundesbank allein nicht zu erreichen war. Damit bestätigte die Praxis, was zeitgenössische Ökonomen wie der Amerikaner Robert Mundell auch theoretisch nachgewiesen hatten: Unter den Bedingungen weitgehend liberalisierter Kapital- und Devisenmärkte hatte die Geldpolitik im Fixkurssystem von Bretton Woods in erster Linie für das außenwirtschaftliche Gleichgewicht zu sorgen, während binnenwirtschaftliche Stabilisierungsbemühungen auf das Instrumentarium der Fiskalpolitik rekurrieren mussten.197 Dieser Zusammenhang war den politischen Akteuren durchaus bewusst. Mehrfach wiesen Zentralbank und Bundesbankdirektorium auf die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten hin und ermahnten die Regierung, endlich die Steuer- und Budgetpolitik konjunkturgerecht auszugestalten. »Es ist eine Erkenntnis der modernen Konjunkturlehre«, schrieb Blessing im Oktober 1960 an Erhard, »dass sich die öffentliche Hand antizyklisch verhalten soll, um die Höhen und Tiefen der Konjunktur auszugleichen.«198 Ferner, so Blessing, seien die seit 1959 deutlich ansteigenden Kassendefizite des Bundeshaushalts nicht über Notenbankkredite, sondern über Anleihen auf dem privaten Kapitalmarkt zu finanzieren. Ein modernes »debt managment«, wie es etwa in den USA praktiziert werde, müsse als »dritte Säule« neben die Geld- und Fiskalpolitik treten.199 Ähnlich sah dies auch der Wissenschaftliche Beirat beim BMF, der im Oktober 1959 »in ernster Sorge um die Entwicklung der Konjunktur« zusammentrat. Eine Revision der Finanzpolitik hielt der Beirat in einer vier Monate später veröffentlichten Stellungnahme für »dringend geboten«.200 Die bis dahin eingeleiteten Maßnahmen seien völlig unzureichend, kontraktive Impulse der Fiskalpolitik kaum spürbar. Dies war aus Sicht der Wissenschaftler auch auf rechtliche und institutionelle Hindernisse zurückzuführen. »Nach heute vorherrschender Auffassung bedarf eine konjunkturgerechte Einnahmen- und Ausgabenpolitik einer größeren Elastizität, als sie für die Bundesrepublik z.Z. auf Grund der bestehenden Rechtsvorschriften gegeben ist. Diese Feststellung 197 Mundell, Dynamics; ders., Appropriate Use, vgl. auch Holtfrerich, Geldpolitik, S. 346f. 198 BAK, N 1254/78: Blessing an Erhard, 8.10.1959; vgl. auch HADB, B 330/242 u. 245: Blessing an Erhard und an Adenauer, 6.8.1959; B 330/243: Rede Blessings vor Länder- und Gemeindevertretern, 8.10.1959; Bundesbankdirektorium an Etzel, 4.12.1959; B 330/Drs.1960: ZBR-Sitzung am 8.1.1960; B 330/242: Blessing an Adenauer, 4.3.1960. 199 Vgl. dazu auch BAK, B 126/2080: Dreißig (Bundesbank) an Rompe, 10.11.1959. Diese Problematik sah man auch im BMWi und BMF; vgl. ebd., Antwort Rompes an Dreißig, 13.11.1959; ferner B 102/12597/1: Sitzung des Konjunkturausschusses am 21.9.1959; B 126/ 2080: Rompe an Wolf, 12.10.1959; vgl. Kabinettsprotokolle 1959, S. 411f. (Sitzung am 9.12.1959). 200 Stellungnahme zu den Aufgaben und Möglichkeiten der Finanzpolitik angesichts der Gefahren einer konjunkturellen Überhitzung, 30.1.1960, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Finanzen, Entschließungen, S. 222–232, hier S. 222f. (Die Sitzung fand am 26.10.1959 statt).

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gilt übrigens nicht nur für den Fall einer Konjunkturüberhitzung, sondern prinzipiell genauso für den einer wirtschaftlichen Depression.« Der Beirat hielt daher eine »grundlegende Reform des Haushaltsrechtes«, ja, sogar eine Änderung des Grundgesetzes für unverzichtbar. Ferner wurde mit Blick auf die Erfahrung in anderen europäischen Ländern die Einrichtung eines »konjunkturellen Rücklagenfonds« empfohlen.201 Mit diesen Forderungen lief man im Wirtschafts- und im Finanzministerium offene Türen ein. Vor allem im Beraterstab Etzels, aber auch im interministeriellen Konjunkturausschuss unter Leitung Müller-Armacks wurden diese Fragen seit Herbst 1959 intensiv diskutiert. Das Grundproblem war – wie sich 1955/56 schon gezeigt hatte – die fehlende Möglichkeit des Bundes, die öffentlichen Ausgaben und Einnahmen kurzfristig zu variieren, um konjunkturelle Bewegungen zu kompensieren. Schon aus rechtlichen Gründen konnte die Bundesregierung auf kurze Sicht nur geringe Summen bewegen. Was die Ausgabenseite betraf, so waren große Teile der Haushaltsansätze festgelegt, weil sie sie zur Deckung von Personalkosten, rechtlich gebundenen Transferleistungen oder auch für auswärtige Verpflichtungen dienten. Nach Berechnungen des Finanzministeriums waren über 80% des Bundesetats nicht sperrbar.202 Lediglich bei bestimmten Investitionen, etwa im öffentlichen Wohnungsbau, konnte der Bund größere Ausgaben vorziehen oder strecken. Allerdings betraf dies nur den Bundeshaushalt, nicht die für öffentliche Bauinvestitionen ebenfalls wichtigen Etats der Länder und Kommunen. Hier musste sich der Bund auf das Entgegenkommen der Gebietskörperschaften verlassen. Ohnehin bezweifelte man im Finanzministerium, dass eine zeitliche Streckung der öffentlichen Aufträge viel bewirken könne, da »die Kaufkraft nicht stillgelegt, sondern nur verdrängt« werde, mithin die Gefahr einer »aufgestauten Inflation« bestünde.203 Auch auf das seinerzeit mit Erfolg eingesetzte Instrumentarium der Zollpolitik konnte nun nicht mehr zurückgegriffen werden, da die meisten Zölle schon deutlich gesenkt worden waren und die Gründung der EWG einen nationalen Alleingang auf diesem Feld praktisch unmöglich machte.204 Nicht weniger problematisch waren steuerpolitische Maßnahmen, etwa durch eine Reduzierung der Abschreibungssätze auf Investitionen, die per Gesetz beschlossen werden mussten und daher einen langen parlamentarischen Vorlauf erforderten. Die Erfahrungen des Jahres

201 Ebd., S. 230 u. 232; das Haushaltsgesetz 1959 sah erstmals Anleihen in größerem Umfang (4,16 Mrd. DM) vor, die v.a. auf dem Kapitalmarkt aufgenommen wurden. 202 BAK, B 126/2080: Finanzpolitische und Volkswirtschaftliche Gruppe, Stellungnahme zur Erzwingung von Ausgabensperrungen, 3.8.1960. 203 BAK, B 126/2080: Rompe, Vermerk, 12.7.1960. 204 Vgl. BAK, B 126/2080: BMWi, Kabinettsvorlage über Maßnahmen zur Sicherung eines stetigen Wirtschaftswachstums, 5.2.1960.

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1956 hatten gezeigt, dass eine konjunkturpolitisch motivierte Änderung der Steuersätze auf erhebliche Widerstände stieß. Tatsächlich erwiesen sich die seit Anfang 1960 diskutierten Maßnahmen zur Dämpfung der Konjunktur als völlig unzureichend. Zunächst konzentrierten sich die Bemühungen ganz auf die Tarifparteien, die man zu maßvollen Abschlüssen bewegen wollte. Mehrere Gutachten der Bundesbank und des BMWi warnten vor den wirtschaftlichen Folgen zu hoher Lohnsteigerungen.205 Die Tarifpolitik müsse sich im Interesse der konjunkturellen Stabilität am Produktivitätswachstum orientieren. Auf Initiative des Kanzleramtes kam es schließlich zu mehreren Gesprächen zwischen den Spitzen von DGB und BDA.206 Doch die Gewerkschaften lehnten eine tarifpolitische Zurückhaltung nach den moderaten Abschlüssen der vergangen Jahre ab. Insgesamt stiegen die Bruttolöhne 1960 um 9,3%.207 »In der derzeitigen Situation verspricht eine Seelenmassage keinen Erfolg«, konstatierte Schiettinger Anfang Mai in einem Bericht für Etzel. Es komme nun darauf an, »die Übernachfrage abzubauen, d.h. die Marktlage so durch geld- und güterwirtschaftliche Maßnahmen zu verändern, daß Kostenerhöhungen nicht mehr auf die Preise abgewälzt werden können«.208 Eben das gelang jedoch nicht. Zwar hatte das Kabinett schon im Februar 1960 eine 10%-ige Sperre für die Ausgaben des laufenden Haushaltsjahres und eine Senkung der steuerlichen Abschreibungen von Investitionen beschlossen. Bauvorhaben des Bundes wurden einer Zustimmungspflicht des Finanzministeriums unterworfen und die Gebietskörperschaften aufgefordert, Bauaufträge in den Winter zu verlagern.209 Die dämpfende Wirkung dieser Maßnahmen blieb jedoch wie schon 1955/56 außerordentlich gering. Während die Ausgaben für den öffentlichen Wohnungs- und Straßenbau 1960 sogar zunahmen, belief sich die Steuerabschöpfung nach Schätzungen des 205 BAK, B 136/2357: Deutsche Bundesbank, Memorandum über die Lohn- und Preisentwicklung, 12.1.1960; Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates beim BMWi über »Gegenwärtige Möglichkeiten und Grenzen einer konjunkturbewußten Lohnpolitik in der Bundesrepublik«, 21.2.1960, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1957–61, S. 82–97. 206 Vgl. BAK, B 126/2080: Bericht über Besprechung im Kanzleramt am 15.12.1959; B 136/ 2357: Presseerklärung über Gespräch der Sozialpartner mit Adenauer am 26.1.1960; Adenauer an DGB-Vorsitzenden Richter und BDA-Präsident Paulssen, 24.2.1960. 207 Das Produktivitätswachstum lag 1960 hingegen bei 8,2%, 1961 stiegen die Löhne sogar um 10,3% bei einem Produktivitätszuwachs von 4,9%; Holtfrerich, Geldpolitik, S. 350. 208 BAK, B 126/2080: Bericht für Minister Etzel vom 10.5.1960. 209 Zur Entstehung und Umsetzung vgl. BAK, B 126/2080: BMWi, Kabinettsvorlage über Maßnahmen zur Sicherung einer stabilen Wirtschaftsentwicklung, 5.2.1960; Kabinettssitzung am 9.2.1960; B 136/2358: Kabinettsitzung am 10.3.1960; Langer an Kanzleramt, 2.5.1960; B 102/12597/2: Westrick an Etzel, 4.5.1960; B 126/2081: Erhard an Bundesressorts und Wirtschaftsminister der Länder, 9.5.1960; Kabinettsprotokolle 1960, S. 107f. (Sitzung am 9.2.1960). Vgl. auch Debatte am 19.5.1960 in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 46, Bonn 1960, S. 6519–6539.

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Ministeriums auf etwa 0,4 Mrd. DM, was gerade einmal 0,1% des nominalen Bruttosozialprodukts entsprach.210 Insgesamt war der kontraktive Impuls der Fiskalpolitik 1960 sogar noch niedriger als 1955/56.211 Im Sommer musste man sich intern eingestehen, dass Regierung und Notenbank mit ihren Bemühungen schon im Ansatz gescheitert waren. Die Konjunktur zog weiter an, die Preise stiegen, und die Bundesbank zeigte sich »resigniert« über die »Unzulänglichkeiten einer antizyklischen Budgetpolitik der Regierung«.212 Im Finanz- und Wirtschaftsministerium arbeitete man fieberhaft an einem neuen Programm, das u.a. die Einrichtung eines »Konjunkturstabilisierungsfonds«, eine flexible Ausgestaltung des Haushalts- und Steuerrechts mit größeren Befugnissen der Legislative sowie mehrjährige Investitionspläne der öffentlichen Haushalte vorsah.213 Erneut stellte sich jedoch heraus, dass rechtliche und politische »Ansatzpunkte zur sofortigen Verwirklichung einer antizyklischen Finanzpolitik nicht vorhanden« waren.214 Das war umso bedenklicher, als die Bundesregierung nun auch außenpolitisch unter Druck geriet. Die hohen Überschüsse in Leistungs-, Devisen- und Kapitalbilanz wurden von den europäischen Handelspartnern, aber auch von den USA mit zunehmender Missbilligung beobachtet. Die Bundesrepublik musste sich in internationalen Gremien wie dem IWF oder dem Währungsund Konjunkturausschuss der EWG heftige Kritik gefallen lassen.215 Aus der Sicht der Handelspartner war die D-Mark unterbewertet und damit auch für die Exportüberschüsse verantwortlich. Die Hochzinspolitik wiederum hatte, wie man im Ausland verärgert feststellte, den Devisenzufluss nach Westdeutschland zusätzlich angefacht. Die EWG-Kommission empfahl daher der 210 BAK, B 136/2358: Kabinettsbeschlüsse am 10.3.1960. Die steuerlichen Maßnahmen traten erst mit dem Steueränderungsgesetz am 30.7.1960 (BGBl. I, S. 616) in Kraft, galten allerdings rückwirkend zum 9.3.1960. Zur Entwicklung der öffentlichen Bauausgaben vgl. Berger, S. 129; wie unzureichend die Dämpfung der öffentlichen Bautätigkeit war, zeigt auch das Schreiben Erhards an die Ministerpräsidenten der Länder vom 29.9.1960 mit der dringenden Bitte um eine weitere Streckung der Ausgaben (BAK, B 102/12597/1). 211 Vgl. Berger, S. 137, der den Gesamteffekt 1960 auf -0,57% des nominalen BSP des Vorjahres beziffert (diskretionär: -0,24%; automatisch: -0,33%). 1961 wirkte die Fiskalpolitik sogar expansiv. 212 BAK, B 136/2358: Sitzung des Konjunkturausschusses am 3.6.1960. Vgl. auch ACDP, I– 236, 031/1: BMWi, Die konjunkturelle Lage in der Bundesrepublik um die Jahresmitte 1960, 8.7.1960; BAK, B 136/2358: Sitzung des Konjunkturausschusses am 18.7.1960. 213 BAK, B 126/2080: BMF, Der Bundeshaushalt in konjunkturpolitischer Sicht (o.D., aber Juli 1960); vgl. auch ebd., BMWi, Möglichkeiten der wirkungsvolleren Gestaltung einer konjunkturgerechten Finanzpolitik, 18.7.1960; B 126/2081: BMF, Möglichkeiten antizyklischer Finanzpolitik, 26.8.1960; B 102/17917: Möglichkeiten der wirkungsvollen Gestaltung einer konjunkturgerechten Finanzpolitik, 29.8.1960. 214 BAK, B 126/2081: Besprechung im BMF am 8.8.1960. 215 BAK, B 136/2358: EWG, Währungsausschuß, Stellungnahme für die Kommission über die Folgen der von der Bundesrepublik Deutschland ergriffenen währungspolitischen Maßnahmen, 9.7.1960; zur Kritik der USA und des IWF vgl. James, Monetary Cooperation, S. 110ff.

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Bundesrepublik, die Kreditbremse zu lockern, die fiskalpolitischen Restriktionen aufzugeben und Preissteigerungen in einem gewissen Rahmen zuzulassen oder gar auf administrativem Wege zu fördern. Nur eine Anpassung der deutschen Preisentwicklung an die höheren Inflationsraten der anderen europäischen Länder werde die Zahlungsbilanzprobleme lösen.216 Von solchen Vorschlägen wollte man auf deutscher Seite aber nichts wissen. Eine »gesteuerte Anhebung des deutschen Preisniveaus«, warnte der Abteilungsleiter für Wirtschaft im Kanzleramt, Karl Friedrich Vialon, wäre »politisch und psychologisch geradezu lebensgefährlich«.217 Ohne eine entschiedene Bekämpfung des konjunkturbedingten Preisauftriebs treibe man »die Hausfrauen bei der nächsten Bundestagswahl in die Arme des Herrn Brandt«.218 Ähnlich sah das auch Müller-Armack, der mittelfristig sogar die Gefahr einer Rezession heraufziehen sah. »Würden wir weiter der Konjunktur ihren Gang lassen, ist die … Möglichkeit eines Rückschlags, der politisch gleich verhängnisvoll wäre, nicht von der Hand zu weisen. Je stärker eine Konjunktur zu Übersteigerung führt, umso größer ist die Gefahr eines Rückschlages.« Ein »ruhiges Wahlklima« werde es nur dann geben, »wenn schnelle und entschiedene Maßnahmen erfolgen«.219 Tatsächlich gaben die im Folgejahr anstehenden Bundestagswahlen den Ausschlag dafür, dass man nun auch drastischere Mittel in Erwägung zog. Mochten Vialons und Müller-Armacks Befürchtungen angesichts der insgesamt guten Wirtschaftslage übertrieben erscheinen, wurden sie innerhalb der Regierungsparteien doch sehr ernst genommen. Vor diesem Hintergrund rückte auch eine Aufwertung der D-Mark, die bislang als Tabu gegolten hatte, in den Bereich des Möglichen. Allerdings entzündete sich an dieser Frage erneut ein heftiger Streit innerhalb der Regierung, der in seiner Schärfe und Konfliktkonstellation an die Debatten der Jahre 1955/56 erinnerte. Von Seiten des Wirtschaftsministeriums war eine Währungsaufwertung schon mehrfach ins Spiel gebracht worden.220 Sie würde, so die Hoffnung Erhards und seiner Beamten, den Exportboom bremsen, die Einfuhr verbilligen und damit nicht nur das inländische Warenangebot erhöhen, sondern auch die heimischen Produzenten einem stärkeren Kostendruck aussetzen. Auch die hohen Handelsbilanzüberschüsse gedachte man auf diesem Weg ab216 Vgl. Marjolin in der Sitzung des EWG-Konjunkturausschusses am 17.6.1960, ACDP, I– 236, 034/1. 217 BAK, B 126/2358: Bericht Vialons für den Bundeskanzler, 19.7.1960; vgl. auch ebd., Sitzung des Konjunkturausschusses am 18.7.1960. 218 BAK, B 136/2357: Paul Binder an Vialon, 20.9.1960. 219 ACDP, I–236, 029/4: Müller-Armack an Adenauer, 6.10.1960; Adenauer hatte bereits Anfang 1960 die Befürchtung geäußert, dass ein weiterer Preisanstieg verheerende Folgen für den Wahlkampf haben würde; CDU-Bundesvorstand 1957–1961, S. 587 (Sitzung am 29.1.1960). 220 So etwa im Sommer 1956, allerdings ohne Erfolg; vgl. Holtfrerich, Geldpolitik, S. 403.

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zubauen, womit gleichzeitig dem Zustrom ausländischer Devisen Einhalt geboten werden sollte. 221 Allerdings stellte eine Währungsaufwertung im Fixkurssystem von Bretton Woods kein beliebig einsetzbares Instrument dar. Nach den Statuten des Internationalen Währungsfonds war eine Änderung des Wechselkurses nur bei Vorliegen eines »fundamentalen Ungleichgewichts« erlaubt.222 Aus diesem Grund zeigte man sich bei der Bundesbank eher zurückhaltend gegenüber einer solchen Operation. Präsident Blessing galt als strikter Gegner einer Wechselkursanpassung, und auch im Finanzministerium stand man einem solchen Schritt skeptisch gegenüber.223 Massiver Widerstand formierte sich auch in Industriekreisen. Sowohl Berg als auch Abs verurteilten aufs Schärfste die vom BMWi anvisierte Aufwertung der D-Mark, die den deutschen Ausfuhrinteressen diametral entgegenstehe. Auch nicht-exportorientierte Unternehmen fürchteten die negativen Folgen einer Wechselkursänderung, welche die Einfuhr von Investitions- und Vorleistungsgütern verbilligen, aber auch den Konkurrenzdruck auf dem heimischen Markt verstärken werde.224 Angesichts dieser Konstellation war auch Adenauer nicht für einen Währungseingriff zu gewinnen. Ende Juni 1960 erklärte er öffentlich, dass »nicht mit einer Aufwertung der D-Mark in irgendeiner Form zu rechnen« sei, und nach einer Besprechung im Kanzleramt am 4. August, an der Blessing, Erhard, Etzel, Abs, Berg und Pferdmenges teilnahmen, schien die Angelegenheit endgültig vom Tisch zu sein.225 Bereits zum Jahresende 1960 wurde das Thema aber erneut auf die Tagungsordnung gesetzt, als die Bundesbank ihre Stabilisierungsbemühungen für gescheitert erklärte und angesichts der hohen Kapitalzuflüsse aus dem Ausland einen radikalen Kurswechsel vollzog. Der Zentralbankrat beschloss 221 Vgl. Langer und Gocht in der Sitzung des Konjunkturausschusses am 13.7.1960, ACDP, I–236, 031/1; B 136/2358, Vermerk Vialon, 29.7.1960. 222 Holtfrerich, Geldpolitik, S. 402. 223 Hingegen hatte Emminger schon frühzeitig für eine DM-Aufwertung plädiert, ohne sich jedoch im ZBR durchzusetzen; Berger, S. 232; Holtfrerich, Geldpolitik, S. 405; Neumann, S. 336. 224 H. J. Abs, Der Wechselkurs – kein Feld für Experimente, in: FAZ, 11.6.1960; BAK, B 136/2359: Berg an Adenauer, 23.8.1960; B 102/12597/2: Präsident des DIHT Münchmeyer an Erhard, 25.8.1960; vgl. auch Koerfer, Kampf, S. 466. 225 Rede Adenauers in Köln am 23.6.1960, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr.115, 26.6.1960, S. 1139–144, hier S. 1141; zur Sitzung im Kanzleramt vgl. BAK, B 136/2358: Vorlage Praß, 3.8.1960; BMWi, Zur Frage der DM-Bewertung, 3.8.1960; BMF, Bemerkungen zu Preisentwicklung und Währung; das offizielle Pressekommuniqué vom 4.8.1960 (ebd.) ließ verlauten, dass »die Wirtschaft der Bundesrepublik trotz der starken Auftriebskräfte und der Überschüsse der Zahlungsbilanz zu Sorgen keinen Anlaß gibt«. Diese Feststellung traf auf scharfe Kritik des Konjunkturausschusses und Erhards; vgl. LES, NL Erhard, I/ 1/8: Erhard an Adenauer, 10.8. u. 7.9.1960; BAK, B 126: Vermerk über Besprechung des Konjunkturausschusses am 5.8.1960.

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am 10. November eine Senkung der Leitzinsen um je einen Punkt, um das Zinsgefälle gegenüber dem Ausland abzubauen.226 Eine weitere Reduzierung um einen halben Punkt erfolgte im Januar 1961.227 De facto kam das dem Eingeständnis gleich, dass die Zinspolitik nicht mehr autonom war, sondern der internationalen Entwicklung zu folgen hatte. Durch die Zahlungsbilanzrestriktionen war der konjunkturpolitische Handlungsspielraum der Bundesbank so sehr eingeschränkt, dass diese sich damit begnügen musste, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht zu stabilisieren. Doch selbst dies schien kaum noch möglich. Chefvolkswirt Wolf war von Anfang an skeptisch, dass eine Zinssenkung tatsächlich den Zufluss ausländischen Kapitals eindämmen könne. Die »Unsicherheit über die gegenwärtigen Währungsrelationen«, so Wolf in der Novembersitzung des Zentralbankrates, werde »der Bundesrepublik wahrscheinlich auch weiterhin Geld zuführen«. Das Ausland spekuliere auf eine Aufwertung, und solange diese nicht erfolge, werde man durch Zinssenkungen nicht viel erreichen können.228 Schon im Herbst zeichnete sich daher ab, dass die Bundesbank einer Aufwertung letztlich zustimmen werde. Dass es erst im März 1961 dazu kam, war auf den nach wie vor bestehenden Widerstand des Kanzleramtes und des BDI zurückzuführen.229 Um eine Wechselkursänderung zu verhindern, brachte der BDI sogar die Möglichkeit ins Spiel, eine Anleihe für Belange der Entwicklungshilfe zu zeichnen, um einen Teil des inländischen Liquiditätsüberhangs abzuschöpfen. Anvisiert war ein Betrag von einer Milliarde DM.230 Die Bundesregierung, so der Vorschlag der Industrievertreter, solle aus Haushaltsmitteln weitere 2–3 Milliarden DM beisteuern. Zwar wurde das Anleiheangebot von der Regierung nicht grundsätzlich abgelehnt, doch allzu viel erwartete

226 HADB, B 330/Drs. 1960: ZBR-Sitzung am 10.11.1960. 227 HADB, B 330/Drs. 1961: ZBR-Sitzung am 19.1.1961. Der Diskontsatz sank damit von 5 auf 3,5%, der Lombardsatz von 6 auf 4,5% und der Zinssatz der Bundesbank für Kassenkredite von 5 auf 3,5%. Die Mindestreservesätze wurden im November 1960 zunächst nicht verändert, erst im darauffolgenden Januar erfolgte eine Senkung um 5%. 228 HADB, B 330/Drs. 1960: ZBR-Sitzung am 10.11.1960. Wolf sprach in seinem Vortrag ausdrücklich von einem Scheitern der geldpolitischen Bemühungen angesichts der hohen Devisenimporte. Auch die fiskalpolitischen Restriktionen der Bundesregierung seien nicht ausreichend gewesen (ebd., S.6); vgl. auch mit ähnlicher Einschätzung BAK, B 126/2081: Schiettinger an Erhard, 15.10.1960. 229 Auch eine vom BMWi als Alternative zu einer Aufwertung ins Spiel gebrachte Aufhebung der Umsatzsteuervergütung lehnte man in der Industrie strikt ab; vgl. BAK, B 126/2081: Vermerk BMF, 26.9.1960; B 136/2360: Münchmeyer (DIHT) an Adenauer, 6.10.1960. 230 BAK, B 136/2359: Abs an Adenauer, 13.9.1960; B 136/2360: Berg an Adenauer, 1.10.1960. 231 BAK, B 126/2082: BMF, Konjunkturpolitische Maßnahmen/Entwicklungshilfe, 18.10.1960; B 136/2357: Sitzung der CDU/CSU-Fraktion am 25.10.1960; skeptisch dagegen B 136/2360: Wohnungsbauminister Lücke an Globke, 18.10.1960; Haenlein an Globke,

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man sich nicht davon. Tatsächlich stellte sich die Aktion am Ende als wenig erfolgreich heraus.231 Erst nach zähen Auseinandersetzungen gelang es Erhard, den Kanzler davon überzeugen, dass eine Paritätsänderung nicht mehr vermieden werden konnte. Zuvor war es ihm gelungen, Etzel, Blessing und Pferdmenges auf seine Seite zu bringen, die lange Zeit zu den Gegnern einer Aufwertung gezählt hatten.232 Für Adenauers Meinungswandel gaben letztlich politische Gründe den Ausschlag. Die konservative Presse drängte seit Ende 1960 immer lauter auf eine Aufwertung, und auch von Adenauer geschätzte Persönlichkeiten wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow mahnten den Kanzler zur Einsicht.233 Warnende Stimmen beschworen gar die Gefahr einer drohenden Staatskrise herauf, falls die Regierung die konjunkturellen Probleme nicht bald in den Griff bekäme.234 Für Adenauer spielte vermutlich ein weiteres Argument eine Rolle. 1961 standen Bundestagswahlen an, so dass sich eine allzu strenge Finanzpolitik verbot. Schon in der Vergangenheit hatte die Regierung in Wahljahren großzügige Geschenke an wichtige Wählergruppen verteilt, was regelmäßig zu höheren Budgetausgaben geführt hatte. Adenauer vertrat ganz offen die Auffassung, dass man »in einem Wahljahr auch einmal einen Groschen mehr ausgeben kann als in einem Nichtwahljahr«.235 Wie sich herausstellen sollte, stiegen die Bundesausgaben auch 1961 deutlich an, was angesichts der konjunkturellen Anspannung eigentlich nicht zu verantworten war.236 Da auch die Strategie der »moral suasion« wenig Erfolg zeitigte – im Februar hatte Adenauer Arbeitgeber und Gewerkschaften noch einmal vergeblich ermahnt, strenge Lohn- und Preisdisziplin zu wahren237 –, schien eine Aufwertung nun der einzig gangbare Weg. Hinzu kam, dass der im Januar 1961 neu gewählte US-

20.10.1960; zum realisierten Umfang der Anleihe vgl. B 126/2081: BMF, Bericht vom 2.1.1961; Kabinettsprotokolle 1960, S. 386f. (Sitzung am 15.11.1960); vgl. auch Berger, S. 133. 232 Noch im November 1960 hatten sich Blessing und Etzel gegen eine Aufwertung ausgesprochen; in einer Sitzung am 27.2.1961 gaben sie schließlich nach und schwenkten auf die Linie des BMWi ein; vgl. Koerfer, Kampf, S. 513–515. 233 Vgl. J. Eick, Erhard oder Berg?, in: FAZ, 4.10.1960; BAK, N 1254/78: Rüstow an Adenauer, 28.11.1960; W. Röpke, D-Mark und Dollar, in: FAZ, 25.2.1961; ders., Deutschland will die Inflation nicht importieren, in: Weltwoche, 10.3.1961; zu Röpkes regelrechter Kampagne in dieser Angelegenheit vgl. Peukert, S. 937. 234 W. Frickhöffer, Die Krise unserer Wirtschaftspolitik – eine Staatskrise, in: Industriekurier, 12.11.1960. 235 Vgl. Adenauer vor dem CDU-Bundesvorstand am 13.1.1956, in: CDU-Bundesvorstand 1953–1957, S. 720. 236 Berger, S. 101 u. 169f. 237 Vgl. BAK, B 136/2360: Vorlage Vialons für Gespräch Adenauers mit den Arbeitgebern am 3.2.1961; Presseerklärung vom 3.2.1961. Die Bruttostundenlöhne stiegen 1961 um 10,3% und 1962 um 11,5% an; Holtfrerich, Geldpolitik, S. 350.

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Präsident Kennedy die Bundesregierung nachdrücklich aufforderte, die Zahlungsbilanzüberschüsse abzubauen. Der außenpolitische Druck und die Hoffnung, durch eine einmalige Aktion die leidige Konjunkturdebatte endlich zum Abschluss zu bringen, dürften Adenauer umgestimmt haben. Anfang März beschloss das Kabinett eine Aufwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar um 5%. Das lag zwar leicht unter der vom BMWi empfohlenen Parität, war aber doch ein deutliches Signal an die internationalen Finanzund Devisenmärkte. Auch der Zentralbankrat befürwortete diesen Schritt einstimmig.238 Die Wechselkursanpassung fand im Ausland Zustimmung und wurde ebenfalls vom IWF akzeptiert, obwohl IWF-Direktor Per Jacobsen eigentlich als strikter Gegner von Paritätsänderungen galt. Erwartungsgemäß traf die Maßnahme auf scharfen Widerspruch der Arbeitgeberverbände, und der BDI suspendierte sogar seine monatliche Zahlung von 100.000 DM an die CDU. Auch die SPD verurteilte die »einseitige Manipulation der Währung« als »nicht ungefährliches Experiment«.239 In welchem Umfang diese Maßnahme zur konjunkturellen Beruhigung beitrug, ist in der Forschung umstritten.240 Insgesamt schwächte sich der Exportboom zwar im zweiten Halbjahr 1961 ab, doch war dies wahrscheinlich auf die sinkende Nachfrage aus dem Ausland zurückzuführen. Zugleich stiegen die Importe nach der Aufwertung deutlich an, so dass sich das Leistungsbilanzsaldo 1961 verminderte. 1962 wies die Bundesrepublik sogar erstmals seit 1950 wieder ein Defizit in der Leistungsbilanz auf. Ein deutlicher Rückgang war auch bei den Devisenimporten festzustellen, der einen Abbau der Devisenbestände der Notenbank herbeiführte.241 Das war vermutlich weniger auf den realen Effekt der im Grunde moderaten Aufwertung zurückzuführen als auf die Tatsache, dass die Paritätsänderung die Währungsspekulationen und damit den »Zustand der anhaltenden Unruhe und der ewigen Gerüchte« beendet hatte.242 Auf der anderen Seite war die Inflation keineswegs eingedämmt worden. Die Lebenshaltungskosten stiegen 1961 um insgesamt 2,3%, also um rund 1% mehr als im Vorjahr. 1962 und 1963 belief sich die Inflationsrate sogar 238 Zur Kabinettssitzung Hentschel, Erhard, S. 373; HADB, B 330/Drs. 1961: ZBR-Situng am 3.3.1961. 239 AdSD, PV, Protokolle, Bd. 20/2: Pressemitteilung des SPD-Präsidiums, 6.3.1961; Rede Deist am 8.3.1961, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 48, Bonn 1961, S. 8328–8335; vgl. zu den Reaktionen im In- und Ausland BAK, B 136/2357: Bericht Vialon, 6.3.1961. 240 Koerfer geht von einer rundum positiven Wirkung aus, Hentschel bestreitet einen messbaren konjunkturellen Effekt, Koerfer, Kampf, S. 517f.; Hentschel, Erhard, S. 373f. 241 Zahlen bei Holtfrerich, Geldpolitik, S. 351. 242 So Blessing in der ZBR-Sitzung am 3.3.1961, HADB, B 330/Drs. 1961. 243 Zahlen bei Holtfrerich, Geldpolitik, S. 351; Blessing hatte allerdings von Anfang an betont, dass die Paritätsänderung kaum ausreichen dürfte, um die Inflation einzudämmen (ZBRSitzung am 3.3.1961); optimistischer hatte sich hingegen Rompe geäußert; Vermerk für Etzel, 15.3.1961, BAK, B 126/2081.

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auf je 3% und erreichte damit ein aus Sicht der Zeitgenossen geradezu alarmierendes Niveau.243 Die Aufwertung hatte somit in erster Linie das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht abgebaut, während das Problem der inneren Stabilisierung virulent blieb. Dieser Sachverhalt war den zeitgenössischen Akteueren durchaus bewusst. Zu Beginn der sechziger Jahre hatte sich allgemein die Auffassung durchgesetzt, dass der Staat in Zukunft völlig neue Augaben bei der Steuerung wirtschaftlicher Prozesse zu bewältigen habe. Zugleich war deutlich geworden, dass die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen für eine moderne Prozesspolitik in der Bundesrepublik nicht vorhanden waren. Schließlich hatte die Aufwertungsdebatte schmerzhaft vor Augen geführt, dass die Politik in einem grundlegenden Dilemma steckte. Waren die Handlungsspielräume infolge wachsender internationaler Verflechtungen immer geringer geworden, so sah sich die Bundesrepublik – nicht zuletzt durch den europäischen Integrationsprozess – zunehmend vor die Aufgabe gestellt, die staatliche Wirtschaftspolitik mit internationalen Entwicklungen in Einklang zu bringen.

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X. Die »Zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft« 1960–1966 1. Ende der Nachkriegszeit? Die konjunkturellen Probleme der Jahre 1960/61 und die quälende Diskussion über die Aufwertung der D-Mark hatten auch politisch Spuren hinterlassen. Ausgerechnet auf dem Feld der Wirtschaftspolitik, auf dem die Regierung Adenauer seit 1949 so überaus erfolgreich agiert hatte, schien der Kompetenzvorsprung gegenüber der sozialdemokratischen Opposition dahin zu schmelzen. Meinungsumfragen zeigten, dass CDU und CSU in der Wählergunst längst nicht mehr so gut dastanden wie noch 1957, als die christdemokratischen Parteien bei der Bundestagswahl die absolute Mehrheit errungen hatten.1 Erhard, bis dahin das Zugpferd in allen Bundestagswahlkämpfen, galt auch aufgrund seiner Differenzen mit Adenauer als politisch angeschlagen. Nicht zuletzt die seit Jahren schwelende Debatte über die Nachfolge Adenauers trübte die Aussichten für die im Herbst 1961 anstehenden Bundestagswahlen deutlich ein.2 Als designierter Nachfolger war lange Zeit Erhard im Gespräch, der seit 1957 auch das Amt des Vizekanzlers innehatte. Doch das Verhältnis zwischen Wirtschaftsminister und Kanzler hatte sich so sehr verschlechtert, dass an ein konfliktfreies Nachrücken Erhards nicht mehr zu denken war. Adenauer ließ keine Gelegenheit aus, um Erhards Eignung als Regierungschef in Zweifel zu ziehen. Nicht zuletzt aber schienen den Regierungsparteien die zugkräftigen Themen auszugehen, um die Wähler zu mobilisieren. Die großen wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen der Nachkriegszeit waren abgeschlossen, und der sozialdemokratischen Opposition gelang es seit Bad Godesberg weitaus besser, die Zukunftsthemen zu besetzen. Dies war zumindest die Einschätzung des Wirtschaftsministeriums, das seit Anfang 1960 fieberhaft an neuen Programmideen arbeitete. Wie dramatisch man die Lage dort beurteilte, zeigt ein Schreiben, mit dem sich Müller-Armack im Oktober 1960 an Adenauer wandte. Der Staatssekretär wollte seinen Brief als »Notruf« verstanden wissen. Abgesehen von dem schwachen Krisenmanagement in der Wirtschafts- und 1 Noelle/Neumann, S. 294. 2 Vgl. Th. Sommer, Ludwig Erhard – oder nicht? Der Kanzler muß endlich Farbe bekennen, in: Die Zeit, 20.1.1961.

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Konjunkturpolitik hielt er »die geistige Vorbereitung des Wahlkampfes durch die CDU« für »völlig ungenügend«. Sie bleibe »weit hinter den geistigen Anstrengungen zurück, die die SPD in ihrem Godesberger Programm« gemacht habe.3 Schon in den Monaten zuvor hatte Müller-Armack in mehreren Vorträgen und Veröffentlichungen über einen Neuanfang bzw. eine »zweite Phase« der Sozialen Marktwirtschaft räsoniert.4 Dahinter stand die Einschätzung, dass die Wiederaufbauphase mit ihren spezifischen Ordnungs- und Strukturproblemen abgeschlossen sei. Hinzu traten tiefgreifende, mit dem sozialen und wirtschaftlichen Wandel verbundene Veränderungen, welche die Politik vor neue Herausforderungen stellten: Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, die Veränderungen der Arbeitswelt, die zunehmende Verstädterung, die endgültige Auflösung der überkommenen Klassen und Schichtungen sowie die allgemeine Tendenz zur Nivellierung von Bildungsniveaus, Einkommensstandards und Konsumgewohnheiten.5 Zwar wusste Müller-Armack, dass es sich hierbei nicht um spezifisch bundesdeutsche Phänomene handelte, sondern um Strukturveränderungen, die sich in anderen westlichen Industriestaaten in ähnlicher Weise vollzogen. Doch der gerade erst souverän gewordene westdeutsche Teilstaat mit seiner fehlenden nationalstaatlichen Tradition schien Müller-Armack noch nicht ausreichend konsolidiert, um einen derart tiefgreifenden Wandel unvorbereitet verkraften zu können. Das zeige die »Atmosphäre der Übererregtheit«, die sich in den vergangenen Monaten bei jeder noch so geringen wirtschaftlichen Schwierigkeit eingestellt habe. Kleinste konjunkturelle Schwankungen und Preisbewegungen hätten zu »überstürzten Reaktionen« geführt und deutlich gemacht, dass die Menschen durch eine fundamentale »Unsicherheit und eine unbestimmte Lebens- und Zukunftsangst« bestimmt würden. Es bedürfe daher der bewussten Schaffung »neuer Stabilitäten« und Leitbilder, um der bundesdeutschen Gesellschaft eine Zukunftsvision zu geben.6 Das »Leitbild für eine neue Gesellschaftspolitik«, das Müller-Armack eindringlich beschwor, blieb jedoch merkwürdig blass. Es stützte sich im Wesentlichen auf die bekannten zeitkritischen Diagnosen der konservativen Gesell3 ACDP, I–236, 029/4: Müller-Armack an Adenauer, 6.10.1960. 4 So in einem am 16.4.1959 vor der Kölner Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie gehaltenen Vortrag »Die Soziale Marktwirtschaft nach einem Jahrzehnt ihrer Erprobung«, in der Anfang 1960 veröffentlichten Schrift »Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft. Ihre Ergänzung durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik« sowie in dem auf der 10. Tagung des Ev. Arbeitskreises der CDU/CSU am 4.–6.10.1962 in Wiesbaden gehaltenen Referat »Das gesellschaftspolitische Leitbild der sozialen Marktwirtschaft«; BAK, B 102/93185; Müller-Armack, Zweite Phase; ders., Soziale Marktwirtschaft.– Der Begriff einer »Zweiten Phase« war freilich nicht ganz neu, sondern von Erhard bereits 1953 verwendet worden: L. Erhard, Die zweite Periode der Sozialen Marktwirtschaft, in: Industriekurier, 20.6.1953. 5 Müller-Armack, Zweite Phase, S. 270f. 6 Ebd., S. 270–273.

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schaftstheorie aus den fünfziger Jahren – von Wilhelm Röpke über Alexander Rüstow und Helmut Schelsky bis zu Arnold Gehlen –, doch wie eine zukünftige Gesellschaftsordnung auszusehen hatte und wie sie sich von der gegenwärtigen unterscheiden sollte, ließ sich nur vage erahnen. Sehr viel präziser als das »geistige Leitbild« war der von Müller-Armack aufgestellte Katalog der politischen Zukunftsaufgaben, der so unterschiedliche Bereiche wie die Mittelstandsförderung, die Unterstützung der Entwicklungsländer, die Verbesserung von Infrastruktur- und Umweltplanung sowie die Bildungs- und Forschungspolitik umfasste. Generell müsse sich der Staat auf neue Aufgaben einstellen, die freilich eine »Umorientierung der Haushaltspolitik« und eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen erfordere.7 Dies implizierte, dass die Sicherung eines hohen und möglichst stetigen Wachstums auch in Zukunft oberste Priorität genießen musste, denn ohne dieses ließen sich die von Müller-Armack projektierten öffentlichen Aufgaben gar nicht bewältigen. Eine weit über das Bestehende hinausgehende Institutionalisierung der Wachstums- und Konjunkturpolitik auf nationaler und internationaler Ebene erschien Müller-Armack daher zwingend erforderlich. Neben einer »antizyklischen Politik« sollten auch »längerfristige Investitionshaushalte« für Bund, Länder und Gemeinden eingeführt werden.8 Müller-Armacks programmatische Äußerungen hatten zweifellos Gewicht, galt er doch als Begründer des Konzepts der »Sozialen Marktwirtschaft« und als intellektueller Vordenker im Wirtschaftsministerium.9 Seine Überlegungen zur »Zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft« tauchten zum Teil wörtlich in Erhards Grundsatzrede auf dem Karlsruher Parteitag der CDU im April 1960 auf.10 Und auch die von Erhard im Bundestagswahlkampf 1965 lancierte Idee einer »Formierten Gesellschaft« knüpfte indirekt an die Ideen und Konzepte Müller-Armacks an, auch wenn dieser zu diesem Zeitpunkt längst aus der Politik ausgeschieden war.11 Der Begriff der »Formierten Gesellschaft« war bekanntlich von Erhards Wahlkampfberatern – vor allem von Rüdiger Altmann, Goetz Briefs und Josef Unland – kreiert worden, um die CDU von den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Zielen der SPD abzugrenzen.12 Das Konzept sollte – und damit lag es ganz auf der Linie von MüllerArmacks Idee einer »Zweiten Phase« – die als notwendig angesehenen Moder7 Ebd., S. 272. 8 Ders., Das gesellschaftspolitische Leitbild der sozialen Marktwirtschaft, in: BAK, B 102/ 93185. 9 Vgl. z.B. den Kommentar zu Müller-Armacks Konzept von Napp-Zinn. 10 Rede Erhards über »Wirtschaftspolitik als Gesellschaftspolitik« vor dem 9. Bundesparteitag der CDU in Karlsruhe, 28.4.1960, abgedr. in: Erhard, Gedanken, S. 604–623. 11 Müller-Armack selbst hielt recht wenig von dem Konzept der »Formierten Gesellschaft«, mit dem Erhard seine Ideen »zu spät und in einer nicht glücklichen Form« aufgegriffen habe; Müller-Armack, Wirtschaftsordnung, S. 11. 12 R. Altmann, Die Formierte Gesellschaft, in: Gesellschaftspolitische Kommentare,

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nisierungsaufgaben im Bereich der Bildungs-, Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik in ein übergreifendes gesellschaftspolitisches Konzept einbinden.13 Doch die Bemühungen der konservativen Volkspartei, ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Reformprogramm zu erarbeiten, waren nicht nur innenpolitisch motiviert.14 Vielmehr handelte es sich dabei auch um eine Reaktion auf internationale Strömungen und Entwicklungen. Wie bereits erwähnt, gewannen technokratische Planungskonzepte seit Ende der fünfziger Jahre in fast allen westlichen Industriestaaten an Bedeutung.15 Nicht nur in Frankreich, wo die »Planification« im wirtschaftlichen Bereich schon in den fünfziger Jahren fest etabliert war, wurden unter dem gaullistischen Regime weitreichende Reformkonzepte in die Wege geleitet.16 Auch Harold Wilsons Labour-Programm von 1964 oder die technokratischen Modernisierungsideen der Mitte-Links-Koalition in Italien müssen in diesem Kontext erwähnt werden.17 Großen Einfluss auf das politische Klima in der Bundesrepublik hatte der reformerisch-idealistische Aufbruch, der in den USA nach der Wahl Kennedys einsetzte. In der Wirtschaftspolitik kam es unter dem neuen Präsidenten zu einem verstärkten Einsatz keynesianischer Globalsteuerung. Auch das wohlfahrtsstaatliche »Great-Society«-Programm von Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson stieß in der Bundesrepublik auf großes Interesse und diente nachweislich als Impulsgeber für Erhards Idee der »Formierten Gesellschaft«.18 Allerdings erreichte diese »sprachlich so blasse und ideologisch so undurchsichtige Formel« (Hildebrand) nicht einmal annähernd die gleiche Popularität und Mobilisierungskraft wie Johnsons »Great Society«. Die »Formierte Gesellschaft« blieb »eine Vision und trug zur Gestaltung der Wirklichkeit in der Bundesrepublik kaum etwas bei«.19 Nicht nur in linksliberalen Kreisen wurde das Konzept mit ironischen Bemerkungen als unmodern, reaktionär oder gar als »faschistisch« abgetan.20 Auch im konservativen Umfeld weckte es nur wenig Begeisterung. 15.8.1966, S. 177; Formierte Gesellschaft und Deutsches Gemeinschaftswerk. Erhards Programm für Deutschland, in: Politische Informationen, hg. v. der AG Demokratische Kreise, Jg. 14, Juli 1965; Materialien in BAK, B 102/93185; vgl. auch Hildebrand, S. 160–170. 13 Tatsächlich konsultierte Erhard seinen früheren Staatssekretär in dieser Frage; Vgl. ACDP, I–236, 24/2: Erhard an Müller-Armack, 16.1.1966. 14 Thränhardt, S. 161. 15 Als zeitgenössischer Überblick: Denton u.a.; Shonfield. 16 Prate; Estrin/Holmes. 17 Dicke; Leruez; Budd; Ringe/Rollings. 18 Vgl. ACDP, I–236, 24/2: Erhard an Müller-Armack, 16.1.1966. Darin spricht Erhard sogar von einer Absprache mit Präsident Johnson, dass »Regierungsvertreter und Wissenschaftler beider Länder … die Problematik zwischen der ›great society‹ und der ›Formierten Gesellschaft‹ deutlich herausarbeiten« sollten. 19 Hildebrand, S. 164; vgl. auch Stoltenberg, S. 156. 20 Vgl. Podiumsdiskussion zur Formierten Gesellschaft. Goetz Briefs, Rüdiger Altmann,

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Das eklatante Scheitern dieses Konzeptes hat freilich verdeckt, wie intensiv seit den frühen sechziger Jahren auch innerhalb der christdemokratisch geführten Regierung über grundlegende Reformen im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich nachgedacht wurde. Die häufig als farblos und wenig erfolgreich eingestufte Kanzlerschaft Erhards bildete in vieler Hinsicht eine Periode des Übergangs »zu veränderten Konstellationen und Formen der Regierung« (Bracher).21 Dies zeigt die lange Genese des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes, das zwar erst 1967 verabschiedet wurde, dessen Konzeption sich jedoch bis in die frühen sechziger Jahre zurückverfolgen lässt.

2. »Ewige Hochkonjunktur und kommandiertes Wachstum«: Die Debatte über das Stabilitätsgesetz Die im Frühjahr 1961 vorgenommene Aufwertung der D-Mark hatte zwar zu einem raschen Abbau der Devisenüberschüsse beigetragen, das Problem der Konjunkturpolitik aber nicht wirklich gelöst. Im Gegenteil: Der Rekurs auf die nur im Notfall gestattete Paritätsänderung kam dem Eingeständnis gleich, dass man nicht über die wirtschaftspolitischen Instrumente verfügte, um selbst mit relativ moderaten Konjunkturstörungen fertig zu werden. Schon Monate vor der Aufwertung begann man daher in BMF und BMWi über eine grundlegende Reform der Haushalts-, Finanz- und Steuerpolitik nachzudenken.22 Dazu wurden im Februar 1961 im BMWi insgesamt neun interministerielle Arbeitsgruppen eingerichtet, die zunächst die wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Möglichkeiten einer solchen Reform eruieren sollten.23 Da die Geld- und Handelspolitik sich als wenig wirksam herausgestellt hatte, stand die Finanzpolitik dabei im Mittelpunkt.24 Die Arbeitsgruppen, an denen fast alle Ressorts, die Bundesbank, der Bundesrechnungshof, das Bundesausgleichsamt sowie die Sozialversicherungsträger beteiligt waren, stellten praktisch alle Einnahmen- und Ausgabenbereiche auf den Prüfstand: Dies betraf Reinhard Opitz und Johannes Agnoli sprachen im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin, in: Gesellschaftspolitische Kommentare, 15.8.1966, S. 171; vgl. auch Koerfer, Kampf, S. 757; Nolte, S. 386–389. 21 K. D. Bracher, Die Bewährung der Zweiten Republik (Einleitung), in: Hildebrand, S. 7– 16, hier S. 16. 22 Vgl. v.a. BAK, B 136/2360: Gemeinsame Kabinettsvorlage von BMWi und BMF, 7.11.1960. 23 BAK, B 126/22312: Interministerielle Besprechung im BMWi, 3.2.1961 (mit Auflistung der Arbeitsgruppen). 24 In einer Sitzung des Konjunkturrates vom 12.1.1961 war von einem regelrechten »Schwund bei den herkömmlichen Mitteln der Kreditpolitik und der Handelspolitik« die Rede; Protokoll in: BAK, B 102/12597/1.

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nicht nur die großen Investitionsblöcke des Bundes (Wohnungs- und Straßenbau, Verteidigungsausgaben), sondern auch Sozialleistungen wie Arbeitslosenunterstützung oder Lastenausgleich, die je nach konjunktureller Lage zeitlich gestreckt oder vorgezogen werden konnten.25 Ausführlich diskutiert wurde in diesem Zusammenhang der »Werlé-Plan«, der eine Aufstellung mehrjähriger Investitionshaushalte vorsah.26 Der Münchner Volkswirt und CDU-Politiker plädierte dafür, die öffentlichen Ausgaben »durch eine auf weite Sicht angelegte politische Strategie zu steuern«.27 Sämtliche Investitionen sollten in einen außerordentlichen Investitionshaushalt zusammengefasst werden, der vom Parlament über einen Zeitraum von fünf Jahren bewilligt werden müsse. Dadurch erhielte die Regierung die Möglichkeit, Investitionen je nach »Konjunkturwetter« zu tätigen. Obwohl man die Umsetzung des Werlé-Planes im BMF als ausgesprochen schwierig ansah,28 befasste sich eine der im Februar eingesetzten Arbeitsgruppen ein halbes Jahr lang fast ausschließlich mit der Frage eines langfristigen Investitionshaushalts.29 Prinzipiell bestand Einigkeit darüber, dass eine Festlegung öffentlicher Investitionen über längere Zeiträume hinweg sinnvoll war, zumal im Bereich der Verkehrs- und Straßenbauplanung bereits mit einem Zeithorizont von bis zu zwölf Jahren gearbeitet wurde. Allerdings gab es eine ganze Reihe von grundsätzlichen Problemen, die von Werlé gar nicht angesprochen worden waren. Zum einen existierten, wenn man Bund, Länder und Kommunen zusammenrechnete, schätzungsweise 25.000 öffentliche Investoren und »ebensoviele Parlamente«, die kaum zu einem »gleichgesinnten Verhalten veranlaßt werden« konnten.30 Ferner wurde von Seiten des Wirtschaftsministeriums angemerkt, dass eine konjunkturelle Steuerung über öffentliche Investitionen in einem anhaltenden Boom dazu führen müsse, dass wichtige Strukturmaßnahmen »auf die Dauer zu kurz kommen«. Das Hauptproblem waren jedoch die fehlenden haushaltsrechtlichen Voraussetzungen für eine derart umfassende Steuerung der öffentlichen Investitionen sowie die mangelnde Flexibilität in der Einnahmen- und Ausgabengestaltung.31 25 Informationen über Gründung u. Zusammensetzung der Arbeitsgruppen in: BAK, B 126/ 22311; dort auch Sitzungsprotokolle. 26 Vgl. BAK, B 126/22312: Vermerk Schiettingers betr. Besuch Dr. Werlés am 14.12.1960. Schiettinger war ebenfalls im CDU-Wirtschaftsausschuss aktiv. 27 Werlé, Investitionen, S. 8ff. 28 Vgl. BAK, B 126/22311: Vermerk vom 17.2.1961. 29 Es handelte sich um den Arbeitskreis I »Mehrjährige Investitionspläne der öffentlichen Haushalte«; Werlé nahm an der ersten Sitzung am 17.2.1961 teil; Protokoll in BAK, B 126/ 22311. 30 Ebd., S. 3. 31 Vgl. BAK, B 126/22311: Sitzungen der AG I am 28.2., 24.3., 6.4. u. 25.4.1961; BMF, Zur Frage eines Konjunkturausgleichskontos, 5.5.1961; B 126/2082: Bonus, Konjunkturausgleichsrücklage der Länder/Besprechung am 7.6.1961.

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Auch die Ergebnisse der übrigen Arbeitskreise waren ernüchternd. Die Einführung eines Konjunkturausgleichsfonds nach belgischem Vorbild wurde skeptisch bewertet. Kein Parlament und keine Regierung würden freiwillig darauf verzichten, bereits eingenommene Mittel auszugeben. Die Bildung einer Rücklage könne allenfalls durch eine Zwangsstilllegung von Überschüssen in konjunkturellen Boomphasen erreicht werden.32 Auch die Möglichkeit, Aus- und Einnahmen der Sozialversicherungen als Instrumente der Konjunkturpolitik einzusetzen, hielt man für wenig aussichtsreich, zumal sich das Arbeitsministerium strikt gegen eine solche Verwendung der Versicherungsbeiträge aussprach.33 Die vom Wirtschaftsministerium im Dezember erstellte Denkschrift, die im Wesentlichen die Ergebnisse der Arbeitsgruppen zusammenfasste, fiel daher enttäuschend aus.34 Außer einer langen Einleitung über die Ursachen und Hintergründe der konjunkturellen Schwierigkeiten bestand die Denkschrift aus wenig mehr als allgemeinen Forderungen, die kaum über das hinaus gingen, was bereits seit einigen Jahren diskutiert wurde. Im Finanzministerium hielt man das Dokument für viel zu »weitschweifig«.35 Hinter dieser kritischen Bewertung stand freilich auch ein seit längerer Zeit schwelender Kompetenzkonflikt zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium, der fortan an Schärfe gewinnen sollte. Seitens des BMF wollte man nicht einsehen, warum das Wirtschaftsministerium die Federführung in dieser Angelegenheit hatte. Zwar lagen Grundfragen der Konjunktur- und Wachstumspolitik nach der Ressortverteilung im Aufgabenbereich des BMWi, genauer: bei der Grundsatzabteilung unter Leitung von Rolf Gocht. Unter Gochts Aufsicht hatten daher auch die im Frühjahr 1961 eingerichteten Arbeitsgruppen getagt. Auf der anderen Seite standen inzwischen die Instrumente der Steuer- und Haushaltspolitik im Zentrum der Konjunkturdebatte, so dass die Forderung des BMF nach mehr Mitsprache nicht ohne Berechtigung war.36 Der Kompetenzkonflikt zwischen den beiden Ressorts hatte freilich auch politische Gründe. Die CDU hatte in der Bundestagswahl vom September 1961 nicht mehr die absolute Mehrheit errungen und musste wie schon vor 1957 eine Koalitionsregierung mit der FDP bilden. Die Liberalen hatten mit 32 BAK, B 126/22311: Sitzung der AG I am 19.4. u. 10.5.1961. 33 BAK, B 126/22311: BMA, Ergebnis der Beratungen der AG II »Konjunkturpolitik und Arbeitslosenversicherung« am 4. u. 12.7.1961, sowie Rosenmöller über Ressortbesprechung am 10.5.1961. 34 BAK, B 126/22312: BMWi, Entwurf einer Denkschrift über Möglichkeiten zur Erweiterung des konjunkturpolitischen Instrumentariums, 11.12.1961. 35 So wurde moniert, dass die gebundenen Anteile der öffentlichen Haushalte in der Denkschrift viel zu niedrig angesetzt waren. Dadurch habe man die Möglichkeiten der Budgetsteuerung zu optimistisch eingeschätzt; BAK, B 126/22312: Vermerk Bonus, 8.1.1962; ähnlich Hoppe, Vermerk, 19.2.1962. 36 BAK, B 126/22312: Vermerk Bonus, 2.2.1962.

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12,7% der Stimmen ein glänzendes Wahlergebnis erzielt und drängten nun selbstbewusst auf mehr Einfluss. Da die Wirtschaftspolitik für die politische Profilierung zunehmend an Bedeutung gewann, beanspruchte die FDP nun auch eines der großen Fachressorts aus diesem Bereich. Dies konnte nur das Finanzministerium sein, denn das Wirtschaftsressort blieb Erhard vorbehalten. Der 1957 mit großem Reformelan angetretene, zuletzt aber glücklos agierende Etzel stand aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr für das Ministeramt zur Verfügung. Nach der Wahl blieb Etzel allerdings als Abgeordneter ein wichtiger und reformorientierter Finanzpolitiker und leitete u.a. den CDUFraktionsarbeitskreis Haushalt, Steuern und Finanzen.37 So fiel das Finanzministerium im Herbst 1961 an die FDP, die mit Heinz Starke zwar einen fachlich versierten, aber politisch wenig einflussreichen Finanzexperten ins Rennen schickte. Ein Jahr später fiel Starke der Kabinettsumbildung zum Opfer, die im Zuge der Spiegel-Affäre erfolgte.38 Sein Nachfolger Rolf Dahlgrün blieb bis zum Ende der »kleinen Koalition« im Herbst 1966 im Amt, konnte der Finanzpolitik aber ebenso wenig wie Starke neue Impulse geben.39 Allerdings verlor auch das Wirtschaftsministerium 1963 mit dem Ausscheiden Müller-Armacks und dem Wechsel Erhards ins Kanzleramt politisch an Gewicht. Zwar trat mit Kurt Schmücker ein enger Gefolgsmann Erhards an die Spitze des Ministeriums.40 Doch Schmücker war, wie sich rasch herausstellte, nicht der politische Visionär und Gestalter, der die Wirtschaftspolitik in eine neue Richtung bewegen konnte.41 Angesichts dieser Konstellation erstaunt es nicht, dass die Bedeutung der Bundesministerien für die Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik seit 1961 kontinuierlich abnahm, während andere Akteure die politische Bühne zunehmend beherrschten. Dies waren im Regierungslager vor allem die Bundestags37 Vgl. zahlreiche Reden Etzels zur Finanz- und Konjunkturpolitik seit 1961, in: ACDP, I092, 002/1; zu seiner Tätigkeit in der Fraktion vgl. Barzel, S. 86. 38 Starke war 1946–49 bei der Wirtschaftsverwaltung der britischen Zone und der Verwaltung für Wirtschaft in Frankfurt, Minden und Bonn tätig, wurde anschließend Grundsatzreferent für wirtschaftspolitische Fragen im BMWi; seit 1953 vertrat er die FDP im Bundestag; M. Wichmann, Heinz Starke, in: Kempf/Merz, S. 674ff. 39 Dahlgrün war lange Jahre als leitender Angestellter der Phönix-Gummiwerke AG in Hamburg-Harburg tätig gewesen. Seit 1957 war er für die FDP im Bundestag, wo er zeitweilig dem Wirtschaftsausschuss vorsaß; J. Detjen, Rolf Dahlgrün, in: ebd., S. 194ff. 40 Schmücker saß seit 1949 für die CDU im Bundestag, war Mitbegründer und Vorsitzender der CDU-Mittelstandsvereinigung (seit 1956), 1959–61 Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Bundestag und seit 1961 stellvertr. Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion; U. Andersen, Kurt Schmücker, in: Kempf/Merz, S. 612ff. 41 Tatsächlich hatte Erhard seinen langjährigen Staatssekretär Ludger Westrick als Nachfolger auserkoren, während Schmücker das Arbeitsministerium anstelle von Theodor Blank erhalten sollte. Dies wurde jedoch von der Fraktion abgelehnt. Westrick ging schließlich mit Erhard als Staatssekretär ins Kanzleramt, während Schmücker als Kompromisskandidat das Wirtschaftsministerium übernahm; vgl. Hentschel, Erhard, S. 434.

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fraktionen von FDP und CDU/CSU. Eine immer wichtigere Rolle spielten ferner die Länder und Kommunen, auf deren Mitwirkung die Regierung in vielen finanz- und steuerpolitischen Belangen angewiesen war. Überdies gingen wichtige Initiativen direkt von den Ländern aus, wie etwa der 1963 verkündete »große Hessenplan« deutlich machte.42 Nicht zuletzt prägten Expertenkommissionen wie der Sachverständigenrat oder die 1964 zur Vorbereitung der Finanzreform gebildete »Troeger-Kommission« in wachsendem Maße den politischen Diskurs über die anstehenden großen Reformvorhaben. Die Aufwertung von Parlament, Ländern und Fachkommissionen gegenüber der Bundesregierung führte nicht nur zu einer Pluralisierung der politischen Diskussion, sondern eröffnete auch für die Opposition neue Chancen der politischen Mitwirkung. Zwar war die SPD auch schon an den großen sozial- und wirtschaftspolitischen Reformwerken der fünfziger Jahre – etwa der Rentenreform, den Wohnungsbaugesetzen und der rechtlichen Ausgestaltung der Wettbewerbsordnung – beteiligt gewesen. Doch die Initiative des Handelns war stets bei der Regierung verblieben, während sich die Sozialdemokraten mit kleineren Korrekturen zufrieden geben mussten. Das sollte sich in den sechziger Jahren ändern, und zwar lange bevor die SPD in die »Große Koalition« eintrat und damit auch formal Regierungspartei wurde.43 Auf dem Feld der Wirtschafts- und Finanzpolitik zeichneten sich bereits nach der Wahl von 1961 die Konturen einer »Großen Koalition« ab, welche die Reformen überhaupt erst politisch durchsetzbar machten.44 Denn wie sich rasch herausstellen sollte, waren die verschiedenen Reformfelder – Stabilitäts- und Wachstumspolitik, Haushaltsrecht, Steuer- und Finanzverfassung – eng miteinander verflochten und verlangten parteiübergreifende Mehrheiten. Überdies machten sich bereits jetzt jene »Mehrebenenprobleme« des bundesdeutschen Föderalismus bemerkbar, die von Politikwissenschaftlern ein Jahrzehnt später unter dem Begriff der »Politikverflechtung« analysiert werden sollten.45 Da die Sozialdemokraten nicht nur in wichtigen Bundesländern die stärkste Partei bildeten, sondern auch in den Kommunen auf dem Vormarsch waren – 1963 stellte die SPD z.B. in 40 von 56 bundesdeutschen Großstädten den Bürgermeister – waren große Reformvorhaben kaum gegen ihren Widerstand durchzusetzen. Die strukturellen Probleme des »kooperativen« Föderalismus auf der einen Seite und die schwierige 42 Vgl. BAK, B 126/2084: Regierungserklärung des hessischen Ministerpräsidenten GeorgAugust Zinn (SPD) am 30.1.1963; BMF, Vermerk betr. Ausgabenplanung öffentlicher Haushalte, hier: »Großer-Hessen-Plan«, 25.3.1963. 43 Vgl. zur gewandelten Rolle der SPD aus zeitgenössischer Sicht: H.-U. Spree, Von Godesberg über Essen nach Bonn. Die SPD sucht ein wirtschaftspolitisches Programm, in: Der Volkswirt, 11.10.1965; vgl. auch Hildebrand, S. 70–83; Schönhoven, Aufbruch. 44 Vgl. Ruck; außerdem Rudzio. 45 Zitiert seien hier nur Scharpf; J. J. Hesse.

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Koalition mit einer selbstbewusst gewordenen FDP auf der anderen engten den politischen Handlungsspielraum der christdemokratischen Reformpolitiker erheblich ein. Diese Konstellation gilt es im Blick zu behalten, wenn man die insgesamt wenig erfolgreichen Reformbemühungen der frühen sechziger Jahre verstehen will. Tatsächlich scheiterte die Verabschiedung des lange geplanten Stabilitätsgesetzes 1964 vor allem am Widerstand der FDP. Nach der Regierungsbildung im November 1961 waren die Vorschläge der interministeriellen Arbeitsgruppen aufgegriffen und fortentwickelt worden. Nach langen Diskussionen hatten Finanz- und Wirtschaftsministerium schließlich im Frühjahr 1964 eine gemeinsame Kabinettsvorlage für ein umfassendes Konjunktur- bzw. Stabilitätsgesetz vorgelegt. Der Text, der in zahlreichen Versionen in den Fachreferaten der Ministerien zirkulierte, war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.46 Schon die weit ausholende, historisch-politische Begründung des Gesetzesvorhabens ließ erkennen, dass es aus der Sicht der Verfasser nicht nur um ein zweitrangiges finanztechnisches Problem ging. Vielmehr sollte das in die Jahre gekommene System der »Sozialen Marktwirtschaft« rundum erneuert und modernisiert werden. Als grundierende Erfahrung wurde die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre angeführt, welche »die überragende Bedeutung konjunkturgerechter Wirtschafts- und Finanzpolitik« in das allgemeine Bewusstsein gerückt habe. »Das deutsche Schicksal seit 1933 ist ursächlich mit dem Unvermögen der Weimarer Republik verknüpft, der großen Arbeitslosigkeit Herr zu werden.«47 Neben diese altbekannte »Meistererzählung« der deutschen Wirtschaftsgeschichte zwischen Weimarer Republik und »Drittem Reich« trat ein zweiter, gleichsam von außen vorgegebener Begründungszusammenhang: der »Kalte Krieg«. Seit es die »weltweite Ost-West-Spannung« gebe, hieß es einleitend, »ist ein angemessenes und ausgewogenes wirtschaftliches Wachstum eine unverzichtbare Ergänzung der Außenpolitik«.48 Auch diese Auffassung gehörte Anfang der sechziger Jahre längst zum Konsens, und dennoch war ihre Erwähnung in einem offiziellen Regierungsdokument keineswegs selbstverständlich. Schließlich wurde auf die Einbindung in internationale Verträge hingewiesen, welche die Bundesrepublik zu konjunkturpolitischem Handeln verpflichte. Materiell stützte sich die Kabinettsvorlage, wie erwähnt, auf die Analysen und Vorschläge der 1961 eingesetzten Arbeitsgruppen. Fast das gesamte Arsenal der Konjunkturpolitik sollte in Zukunft zur Anwendung kommen: von der Einführung langfristiger Investitionshaushalte im öffentlichen Sektor über 46 Verschiedene Entwürfe in BAK, B 126/22312. 47 Ebd., BMF, BMWi, Kabinettsvorlage betr. Erweiterung des konjunkturpolitischen Instrumentariums (Entwurf), o.D., S. 1. 48 Ebd.

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eine Variation von Steuersätzen und Sonderabschreibungen für private Investitionen bis hin zur Einführung einer Konjunkturrücklage. Überdies sollten in Phasen des Booms vermehrt Haushaltsmittel für die Schuldentilgung verwendet werden, bei starken konjunkturellen Rückschlägen ein »deficit spending« zum Einsatz kommen. Denn anders als in vielen früheren Entwürfen wurden nun ausdrücklich die Gefahren einer Rezession ins Auge gefasst. Neben den erforderlichen Änderungen des Haushaltsrechtes hielt die Vorlage ein Rahmengesetz für erforderlich, das alle konjunkturpolitischen Instrumente bündeln und die Handlungsmöglichkeiten der Exekutive stärken sollte.49 Es war vor allem dieses Rahmengesetz, das zu einer scharfen Kontroverse zwischen Dahlgrün und Schmücker führte. Das Finanzministerium unterstützte zwar ausdrücklich die angestrebten konjunkturpolitischen Ziele, lehnte jedoch ein Rahmengesetz mit der Begründung ab, dass »die Anhäufung von teilweise recht einschneidenden Ermächtigungsvorschriften Erinnerungen an die Zeit vor 1945 wecken dürfte«.50 Diese Begründung war freilich vorgeschoben, denn in Wirklichkeit befürchtete man, dass das BMWi versuchen werde, »über eine notwendige Koordinierung der Konjunkturpolitik Einfluß auf die gesamte Haushalts- und Steuerpolitik zu gewinnen«. Derartige Bestrebungen mussten aus Sicht des Finanzministeriums »im Keime erstickt werden«.51 In mehreren Schreiben und in einer »Chefbesprechung« am 28. Januar 1964 ließ Dahlgrün durchblicken, dass er dem Vorhaben eines zusammenfassenden Gesetzes unter Federführung des BMWi nicht zustimmen werde.52 Die Grundsätze einer »gesunden« Konjunkturpolitik sollten vielmehr in den verschiedenen Bereichen durch gesonderte gesetzliche Regelungen fixiert werden. Ohnehin arbeitete man im BMF mit Hochdruck an einer Haushalts- und Finanzreform. Schmücker musste schließlich einlenken und einer entsprechenden Umformulierung der Kabinettsvorlage zustimmen, die am 11. März 1964 einstimmig angenommen wurde.53 Damit war das Projekt einer umfassenden Implementierung der Konjunkturpolitik zumindest für die laufende Legislaturperiode tot, wie man im Finanzministerium – nicht ohne Genug49 Ebd., S. 3–14. 50 BAK, B 126/22312: BMF, Erweiterung des konjunkturpol. Instrumentariums, o.D. (Dez. 1963); vgl. auch ebd., Bonus, Betr. Entwurf über gemeinsame Kabinettsvorlage, Erweiterung des konjunkturpolitischen Instrumentariums, 3.12.1963. 51 Vgl. ebd. 52 BAK, B 126/22312: Dahlgrün an Schmücker, 6.1.1964; Antwort Schmückers, 21.1.1964; Protokoll der Chefbesprechung am 28.1.1964. 53 BAK, B 126/22312: BMF, Vermerk betr. Kabinettsvorlage zur Erweiterung des konjunkturpolitischen Instrumentariums, 6.4.1964; die Kabinettsvorlage wurde als Nachtrag zum Wirtschaftsbericht 1964 veröffentlicht (Dt. Bundestag, Sten. Ber., Anlagen, Drs. IV/1752 vom 8.6.1964, Anlage 1). Der Plan eines Rahmengesetzes wurde gestrichen, statt dessen war von »notwendigen gesetzlichen Grundlagen« die Rede (ebd., S. 18.); s. auch Materialien in: BAK, B 102/59384.

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tuung – feststellte.54 Eine Regelung in mehreren Einzelgesetzen werde sich noch über Jahre hinziehen und kaum jene durchgreifende Reform bewirken können, die man sich von Seiten des Wirtschaftsministeriums erhofft hatte. Zwar machte Schmücker weiter Druck, um zumindest in Teilbereichen Fortschritte zu erzielen, doch seine Bemühungen blieben ohne Erfolg.55 Die Tatsache, dass die Finanz- und Haushaltsreform 1964 vorübergehend ins Zentrum der politischen Diskussion rückte, schmälerte ebenfalls die Hoffnungen des BMWi auf das Zustandekommen eines Stabilitätsgesetzes. Allerdings war es nicht das BMF, das nun die (haushalts)politische Reformagenda bestimmte,56 sondern die im April 1964 einberufene Bund-LänderKommission zur Finanzreform, die von dem ehemaligen hessischen Finanzminister und Vize-Präsidenten der Bundesbank Heinrich Troeger (SPD) geleitet wurde. Die Einrichtung einer solchen überparteilichen Kommission war von der SPD seit langem gefordert worden, jedoch vor allem am Einspruch des Finanzministeriums gescheitert, das eine Beteiligung der Länder (und damit zwangsläufig der SPD) nicht akzeptieren wollte.57 Erst im Dezember hatte man sich auf Druck der Bundesländer auf ein solches Verfahren geeinigt, zumal auch in Regierungskreisen bekannt war, dass eine umfassende Lösung der Materie nur über eine Verfassungsänderung möglich sein würde.58 Die Kommission, der außer Troeger der Finanzexperte Herbert FischerMenhausen, der ehemalige Staatssekretär für Inneres in Nordrhein-Westfalen, Wilhelm Loschelder, der ehemalige CDU-Abgeordnete August Neuberger sowie der Finanzwissenschaftler Fritz Neumark angehörten, sollte in erster Linie über die komplexe Materie des vertikalen Finanzausgleiches beraten.59 Doch das hatte weitreichende Konsequenzen für die angestrebte Neuordnung der Konjunkturpolitik, denn das fehlende Zusammenwirken von Bund, Ländern und Gemeinden galt ja gerade als Haupthindernis für eine erfolgreiche Umsetzung staatlicher Eingriffe in den Wirtschaftsprozess. Tatsächlich enthielt das im März 1966 veröffentlichte Gutachten nicht nur grundlegende Vorschläge zur Neugestaltung der Finanzordnung hin zu einer stärkeren Ver54 BAK, B 126/2086: v. Eisenhart Rothe, Beurteilung der konjunkturpolitischen Maßnahmen, 11.5.1964. 55 Vgl. BAK, B 126/22312: BMF, Ergebnisse einer Besprechung mit BMWi über Konjunkturgesetz, 28.4.1964; B 126/2086: Sitzung im BMWi am 21.5.1964; B 102/93207: Monatsbericht des BMWi, April 1964, 13.4.1964; B 126/2086: BMWi, Kabinettsvorlage (Entwurf), 24.7.1964. 56 Allerdings hatte das BMF im Frühjahr 1964 ein Referat für Haushaltsreform und verschiedene Arbeitsgruppen eingerichtet; vgl. BAK, B 126/22312: Bonus, Vorlage für Minister, 28.4.1964. 57 Vgl. Renzsch, S. 210–213. 58 Vgl. Bund und Länder legen Steuerstreit bei, in: FAZ, 16.11.1963; vgl. auch FriedrichEbert-Stiftung. 59 Ferner wurden als Sachverständige der ehemalige Staatssekretär Karl M. Hettlage sowie Finanzexperten aus der Wirtschaft hinzu gezogen; Kommission für die Finanzreform, S. 4.

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zahnung von Bund und Ländern (etwa durch die Einführung so genannter »Gemeinschaftsaufgaben« oder die Bildung eines »großen Steuerverbundes«), sondern auch zu einer Reform der Fiskal- und Kreditpolitik.60 So war es kein Zufall, dass die Idee eines Stabilitätsgesetzes im Frühjahr 1966 wieder auf die politische Agenda gelangte, nachdem das Gutachten der Troeger-Kommission große Resonanz in der Presse gefunden hatte.61 Auch das im Februar 1966 unter dem bedeutsamen Titel »Stabilisierung ohne Stagnation« publizierte Jahresgutachten des Sachverständigenrates löste in Regierungskreisen Unruhe aus, denn die »Fünf Weisen« hatten angesichts steigender Preise verstärkte Stabilisierungsbemühungen bis hin zu einer »konzertierten Aktion« von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Regierung gefordert.62 Der Vorwurf der Opposition, die Regierung sei erst angesichts dieser Veröffentlichungen wieder aktiv geworden, war zwar in der Sache nicht ganz richtig, prägte aber das Bild in der Öffentlichkeit.63 In Wirklichkeit hatten schon im Frühjahr 1965 neue Beratungen über eine Reform der Konjunkturpolitik stattgefunden, und im Januar 1966 legte das BMWi einen neuen Gesetzentwurf vor, nachdem sich verschiedene Parteigremien der CDU – darunter der wirtschaftspolitische Ausschuss – für ein rasches Handeln ausgesprochen hatten.64 Eine gesetzliche Regelung lag daher im Frühjahr 1966 gleichsam »in der Luft«. Kaum jemand, gleich welcher politischen Partei oder wissenschaftlichen Schule zugehörig, zweifelte zu diesem Zeitpunkt noch an der Notwendigkeit eines Stabilitätsgesetzes, das die wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit des Staates wieder herstellen sollte.65 Selbst die FDP gab schließlich nach längerer Diskussion ihre Bedenken auf und signalisierte ihre Bereitschaft, eine entsprechende Reform mitzutragen.66 Der am 4. Juli vom Kabinett verabschiedete Gesetzesentwurf sah die Schaffung grundlegender konjunkturpolitischer Instrumente vor:67 § 1 des Entwur60 Ebd. passim. 61 Vgl. zu den Reaktionen Renzsch, S. 214–219. 62 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1965/66, S. 105–124. 63 Vgl. BAK, B 102/59385: Verlautbarung der SPD-Fraktion vom 2.2.1966. Tatsächlich hatte man im BMWi schon ein Jahr zuvor einen erneuten Vorstoß in Sachen Stabilitätsgesetz unternommen; vgl. B 102/59385: Arbeitsprogramm für einen Gesetzentwurf zur Förderung der wirtschaftlichen Stabilität (Ref. I A 4), 12.3.1965. 64 BAK, B 102/136786: Bundesausschuß für Wirtschaftspolitik der CDU, Empfehlungen zur Wirtschafts- und Finanzpolitik (o.D., aber Januar 1966). 65 Vgl. BAK, B 102/93258: Positive Äußerungen zum Stabilitätsgesetz (o.D.). 66 Allerdings mussten erst noch erhebliche Widerstände seitens des BMF überwunden werden. Vgl. BAK, B 126/22312: Stellungnahme betr. Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der wirtschaftl. Stabilität des BMWi vom 18.2.1966; B 102/59385: Bericht Gochts über gemeinsame Besprechung im BMF am 15.3.1966. 67 Ein erster Entwurf war im Februar vorgelegt worden, die Kabinettsvorlage folgte erst im Juni; BAK, B 102/22312: Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der wirtschaftlichen Stabilität,

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fes verpflichtete Bund und Länder in ihren finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen »zur Wahrung des Geldwertes bei hohem Beschäftigungsstand, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und angemessenem Wirtschaftswachstum«. Das »magische Viereck« wurde somit zur normativen Grundlage wirtschaftspolitischen Handelns deklariert, ohne freilich zu benennen, was etwa als »angemessenes Wirtschaftswachstum« oder »hoher Beschäftigungsstand« zu gelten hatte. Das Fehlen einer präzisen Definition war aus verfassungsjuristischer Sicht freilich geradezu geboten, denn andernfalls, so die Befürchtung, wären Bund und Länder bei Nichteinhaltung justitiabel. Tatsächlich handelte es sich weniger um ein »wirtschaftspolitisches Ermächtigungsgesetz«, wie die »Süddeutsche Zeitung« titelte,68 sondern eher um ein Gesetz mit starker Selbstbindungswirkung für Bund und Länder. Der Sozialwissenschaftler und Planungstheoretiker Joseph Kaiser sprach gar von einem »normativen Aktionsmodell«, das eine neue Form politischen Handelns begründe.69 Es waren gleich mehrere Hebel, an denen das geplante Stabilitätsgesetz ansetzte: Zum einen wurden Bund und Länder verpflichtet, die Ausgaben antizyklisch zu gestalten. In Zeiten eines volkswirtschaftlichen Nachfrageüberhangs sollten Haushaltsmittel zur Schuldentilgung bei der Bundesbank verwendet oder als »Konjunkturausgleichsrücklage« stillgelegt werden. In Rezessionszeiten mussten zunächst die Rücklagemittel aufgebraucht, falls diese nicht ausreichten, auch Kredite auf dem Kapitalmarkt aufgenommen werden. Dem Bundesfinanzminister sollte es gestattet sein, bis zu 5 Mrd. DM an zusätzlichen Mitteln auf dem Kreditwege zu beschaffen. Schließlich verpflichtete das Gesetz die Bundesregierung zur Aufstellung einer auf fünf Jahre angelegten »mittelfristigen Finanzplanung«, welche von Fachleuten – und auch vom Sachverständigenrat – seit langem gefordert wurde.70 Sie war zwar nicht bindend und musste jährlich neu angepasst werden, verschaffte aber der öffentlichen Ausgabenentwicklung einen längeren Planungshorizont. Für die Geschäftsbereiche der einzelnen Ministerien sah das Gesetz mehrjährige Investitionspläne vor, mit deren Hilfe sich einzelne Ausgabenposten vorziehen bzw. strecken ließen. Im Übrigen hatten auch Sondervermögen und Staatsunternehmen (z.B. ERP-Vermögen, Deutsche Bundesbahn) ihre Ausgaben nach den Richtlinien des Stabilitätsgesetzes zu gestalten. Darüber hinaus wurden der Bundesregierung zahlreiche weitere Instrumente der Konjunktursteuerung in die Hand gegeben. So durfte per Rechtsverordnung für einen bestimmten Zeitraum (maximal ein Jahr) ein Kreditlimit für Bund, Län-

18.2.1966; B 102/59385: Gesetzesentwurf, 15.6.1966; zur Kabinettssitzung am 4.7.1966 vgl. B 102/59385: BMWi, Tagesnachrichten, 6.7.1966. 68 W. Slotosch, Ein wirtschaftspolitisches Ermächtigungsgesetz, in: SZ, 7.6.1966. 69 Kaiser, S. 17. 70 Vgl. Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1965/66, S. 96; Neumark, Planung, S. 195.

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der und Gemeinden verfügt werden. Das Kreditvolumen der Geschäftsbanken konnte ebenfalls durch eine Obergrenze (Plafonds) begrenzt werden. Das offenmarktpolitische Instrumentarium der Bundesbank wurde erheblich ausgeweitet, indem der Bund der Notenbank Schatzwechsel bis zu einer Höhe von 8 Mrd. DM zur Verfügung stellen musste. Schließlich konnten die Renten- und Arbeitslosenversicherungsträger verpflichtet werden, einen Teil ihrer liquiden Mittel in Mobilisierungs- und Liquiditätspapieren stillzulegen. Auch auf der Einnahmeseite sah das Gesetz vielfältige Möglichkeiten der wirtschaftlichen Prozesssteuerung vor: Neben einer Anpassung der Einkommenssteuervorauszahlung sollte vor allem über die Variation von Sonderabschreibungen das private Investitionsverhalten beeinflusst werden.71 Das Stabilitätsgesetz stellte folglich einen Mix aus ausgaben-, steuer- und geldpolitischen Interventionsmöglichkeiten bereit, berührte damit aber auch verschiedene Rechtstatbestände, die jeweils neu geregelt werden mussten. Tatsächlich bedurfte es nach Auffassung der meisten Staatsrechtler nicht nur einer Verfassungsänderung, da das geplante Gesetz in die durch Artikel 109 GG garantierte Autonomie von Länder- und Gemeindefinanzen eingriff, sondern auch einer Änderung des Bundesbank- sowie diverser Steuergesetze. Es war daher von Anfang an klar, dass die geplante Reform ohne eine Zustimmung der Opposition und der Länder zum Scheitern verurteilt war.72 Allerdings signalisierte die SPD, dass sie eine Unterstützung des Gesetzes von substanziellen Änderungen abhängig machen würde. Das Stabilitätsgesetz eröffnete der SPD die Möglichkeit, sich in der Bundespolitik als zukünftige Staats- und Regierungspartei zu profilieren, ging es doch um eine grundlegende Reform der Sozialen Marktwirtschaft. Wie Herbert Wehner im Herbst 1966 vor der Fraktion ausführte, kam es für die SPD »darauf an, ihr Verantwortungsbewußtsein durch die Art unter Beweis zu stellen, in der sie die politische Probleme« angehe.73 Auf der anderen Seite drängte die SPD-Führung darauf, dem Gesetz einen spezifischen sozialdemokratischen Stempel aufzudrücken. Das Gesetz, so führte Schiller auf einer Fraktionssitzung aus, sei in der vorliegenden Form »lediglich ein Notverband für die angeknackste Regierung. Die SPD wird den Gesetzesentwurf überbieten zugunsten [von] Wachstum und Stabilität.«74 In der Diskussion über das Stabilitätsgesetz konnte die SPD drei ausgewiesene Fachleute ins Rennen schicken: Dies war zum einen Schiller selbst, der 71 Vgl. B 102/59385: BMF/BMWi, Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der wirtschaftlichen Stabilität, 15.6.1966. 72 Das Gesetz war bereits am 25.4.1966 im Wirtschaftspolitischen Ausschuss Bund/Länder diskutiert worden; Protokoll in: BAK, B 102/59356; für die Haltung der Länder vgl. den Artikel des NRW-Finanzreferenten L. Kühne, Die Länder würden zu Provinzen, in: Industriekurier, 16.6.1966. 73 SPD-Fraktion 1964–66, S. 959, Anm. 3 (Sitzung am 11.10.1966). 74 Ebd., S. 932 (Sitzung am 14.9.1966).

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nach dem Tod von Deist wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD geworden war, 1965 seinen Posten als Wirtschaftssenator in Berlin aufgegeben hatte und fortan als Stellvertretender Fraktionsvorsitzender zum engeren Führungskreis der Partei gehörte.75 Schiller leitete auch einen Sonderarbeitskreis, den die SPD-Fraktion im Herbst 1966 zur Beratung des Stabilitätsgesetzes eingerichtet hatte.76 Zweitens gewann Alex Möller, seit 1961 Bundestagsabgeordneter und seit 1962 zugleich Landesvorsitzender der SPD in Baden-Württemberg, in der Bundespolitik an Einfluss. Als finanzpolitischer Sprecher der Partei profilierte er sich vor allem in der Debatte über die Finanzreform und das Stabilitätsgesetz, zu dem er 1968 einen wissenschaftlichen Kommentar publizierte.77 Schließlich gab Klaus-Dieter Arndt, ein ausgewiesener Konjunkturexperte, der Diskussion des Gesetzes wichtige Impulse. Arndt leitete seit 1959 die Abteilung für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung am DIW und galt als potenzieller Nachfolger von Friedensburg an der Spitze des Instituts. 1965 war er für die SPD in den Bundestag gewählt worden, wo er sich vor allem als Fachmann für Wachstums- und Konjunkturfragen einen Namen machte.78 In den langwierigen parlamentarischen Verhandlungen,79 die in der Bundestagsdebatte am 14. und 15. September 1966 ihren Höhepunkt fanden, schälten sich vor allem drei Konfliktkerne zwischen Opposition und Regierung heraus.80 Erstens kritisierte die SPD, dass das Gesetz keine geeigneten Instrumente zur Sicherung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichtes vorsah. Sowohl Schiller als auch Arndt machten sich hierbei die früheren Argumente Erhards zu Eigen und forderten die Möglichkeit einer flexiblen Außenwirtschaftspolitik, etwa durch Variation des Umsatzsteuerausgleiches oder gar durch eine Anpassung der Wechselkurse.81 Zweitens verlangte die SPD eine stärkere Einbeziehung wissenschaftlicher Prognosemethoden und eine Beteiligung des Sachverständigenrates. Ferner sollten neue Institutionen zur Abstimmung zwischen Bund, Ländern und wirtschaftlichen Verbänden geschaffen werden. 75 Laut Bild-Zeitung galt Schiller nach seiner Jungfernrede im Bundestag als profiliertester Wirtschaftspolitiker in Bonn; Presseberichte in: BAK, N 1229/208. 76 Vgl. SPD-Fraktion 1964–66, S. 945f. (Sitzung am 20.9.1966). 77 Möller/Böckenförde. 78 Zu Arndt vgl. Krengel, Institut, S. 156ff. 79 Verabschiedung im Kabinett am 4.7.1966, erste Beratung im Bundesrat am 5.8.1966, erste Lesung im Bundestag am 14./15.9.1966, Oktober/November 1966 Beratungen in verschiedenen Bundestagsauschüssen, zweite und dritte Lesung am 10.5.1967, Beratung im Bundesrat am 2.6.1967, Verkündigung des Gesetzes 13.6.1967; sämtliche Ausschussprotokolle und Debatten in BAK, B 102/93259 sowie N 1229/209. 80 Vgl. Diskussion in der SPD-Fraktion am 14.9.1966, in: SPD-Fraktion 1964–66, S. 930– 935. 81 Vgl. Bundestagsreden Schillers und Arndts am 14.9.1966, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 62, Bonn 1966, S. 2665–2674 u. 2699–2703; außerdem Arndt, Gesetz.

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Das dritte Problem, das Regierung und Opposition entzweite, war grundsätzlicher Natur: Sollte das Gesetz in erster Linie auf die Stabilität von Konjunktur und Währung hinwirken, oder war eine Verstetigung des Wachstums das wichtigste Ziel? Der Regierungsentwurf legte die Priorität eindeutig auf die konjunkturelle Dämpfung und Inflationsvermeidung. Die Möglichkeit einer Rezession wurde zwar in Betracht gezogen und defizitfinanzierte Konjunkturprogramme nicht ausgeschlossen, doch die gesamte Ausrichtung des Gesetzes sowie das darin vorgesehene geld- und fiskalpolitische Instrumentarium zeigte eine klare Präferenz für eine restriktive Konjunkturpolitik. Aus der Sicht der sozialdemokratischen Opposition war dagegen der Wachstumsaspekt stärker zu betonen. Dies bedeutete freilich, neben der kurzfristigen konjunkturellen Stabilisierung auch die langfristige Wachstumsförderung als politisches Ziel zu formulieren. Es war nicht zuletzt die im Sommer 1966 einsetzende Rezession, welche den Regierungsentwurf schon kurz nach seiner Vorlage als überholt erscheinen ließ und zugleich den SPD-Forderungen enorm an Gewicht verlieh. Auch das Auseinanderbrechen der Koalitionsregierung unter Erhard im Herbst 1966 war in erster Linie auf die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Schwierigkeiten zurückzuführen. Die »Mini-Rezession« hatte weitreichende politische Folgen, welche die wirtschaftlichen Konsequenzen um ein vielfaches übertrafen.

3. Die Rezession von 1966/67 und das Ende der Ära Erhard Um die Mitte der sechziger Jahre mehrten sich die Anzeichen dafür, dass die Sonderkonjunktur der Wiederaufbauphase zu Ende ging. Auch wenn es bis zum Sommer 1966 keine Hinweise auf eine bevorstehende Stagnation oder gar Rezession gab, war eine Verlangsamung des Wachstumstempos nicht zu übersehen. Die Bundesrepublik hatte zwischen 1950 und 1965 vier volle Konjunkturzyklen durchlaufen.82 Von Zyklus zu Zyklus hatte sich das Wachstum vermindert. So war das Sozialprodukt in den konjunkturellen Boomjahren 1951 und 1955 real um 10,9% bzw. 12,1% gewachsen, auf dem Höhepunkt der darauf folgenden Zyklen immerhin noch um 9,0% (1960) bzw. 6,8% (1964). Selbst in den unteren Wendepunkten hatte das Sozialprodukt zumindest in den ersten drei Zyklen noch beträchtliche Zuwächse aufzuweisen. 1954 belief sich die Wachstumsrate auf 7,5%, 1958 immerhin noch auf 3,5% und 1963 auf 3,4%.83 Im langfristigen Trend handelte es sich bis zur Mitte der sechziger 82 Vgl. Glastetter, S. 13–19; vgl. auch Borchardt, Zäsuren. 83 Zahlen aus Holtfrerich, Geldpolitik, S. 350.

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Jahre um eine Abflachung der Wachstumskurve auf hohem Niveau. Zugleich näherte sich das westdeutsche Wirtschaftswachstum der westeuropäischen Entwicklung an.84 All dies deutete darauf hin, dass sich die Bundesrepublik nach dem stürmischen Boom der Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit auf dem Weg zur »Normalisierung« befand.85 Diese Entwicklung wurde von Ökonomen wie Politikern zunehmend thematisiert. Müller-Armacks Idee einer »zweiten Phase« der Sozialen Marktwirtschaft muss ebenso in diesem Kontext gesehen werden wie das von Erhard emphatisch beschworene »Ende der Nachkriegszeit«.86 Eine solche »Normalisierung« bedeutete freilich auch, dass die Bundesrepublik in Zukunft mit ähnlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten rechnen musste wie andere westliche Industriestaaten.87 Eine 1965 von Otto Schlecht im Wirtschaftsministerium ausgearbeitete Fünfjahresprognose kam zu dem Ergebnis, dass der Wachstumsspielraum der Bundesrepublik für die zweite Hälfte der sechziger Jahre zwischen 2,5 und 4% pro Jahr liegen werde. Dies bedeute, so Schlecht, dass »Fehlentwicklungen in der Wirtschaft sich sehr viel gravierender auswirken als früher und daß sich angemessenes Wachstum nicht mehr von selbst einstellt, sondern durch bewußte Pflege der Wachstumsfaktoren gefördert werden muß. Mit anderen Worten: Viele wirtschaftspolitische Entscheidungen müssen unter diesen Umständen zukunftsorientiert sein.«88 Tatsächlich sollte sich rasch zeigen, dass Schlechts verhaltene Prognose sogar noch zu optimistisch war. Zwar wuchs das Bruttosozialprodukt 1966 noch um 2,8%. Doch der Zuwachs erfolgte ausschließlich in der ersten Jahreshälfte. Im Sommer 1966 kam es zu einem unerwarteten Einbruch der Konjunktur. Im Juli mehrten sich die Anzeichen über einen Rückgang der Investitionen.89 In der Industrie gingen die Aufträge innerhalb eines Monats um 3% zurück.90 Während die Investitionsgüternachfrage im ersten Halbjahr 1966 saisonbereinigt noch um 4,7% zugenommen hatte, schrumpfte sie im zweiten 84 Lindlar, S. 17. 85 Vgl. z.B. Rede Kurlbaums vom 26.10.1962, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 51, Bonn 1961, S. 1924: »Wir stehen in der Bundesrepublik nach einer beinahe stürmischen Wiederaufbauperiode nach einem vorherigen unerhörten Zusammenbruch vor so etwas wie einer Normalisierung«. 86 Vgl. BAK, B 102/93186: Regierungserklärung Erhards am 10.11.1965 vor dem Bundestag, S. 2; Erhards Rede vor dem CDU-Bundesparteitag in Bonn am 22.3.1966, in: Hohmann, S. 978– 999. 87 Vgl. z.B. die pessimistische Analyse von Schiettinger vom 21.8.1962, in: BAK, B 126/ 2083. 88 BAK, B 102/193588: Schlecht, Wirtschaftliche Perspektiven der Bundesrepublik bis 1970 (o.D.). 89 Vgl. Städte bangen um ihre Investitionen, in: Handelsblatt, 7.7.1966. 90 ZBR-Sitzung am 8.9.1966, HADB, B 330/Drs. 1966.

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Halbjahr um 1,8%.91 Im Herbstgutachten der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute fiel erstmals das Wort »Rezession«.92 Dass dieser Abschwung so rasch kommen würde, war keineswegs vorherzusehen. Der Sachverständigenrat hatte in seinem Jahresgutachten für 1966 ein Wachstum von nominal 7,5% vorhergesagt.93 Eine Abschwächung des Booms schien demnach alles andere als wahrscheinlich. Zwar war schon im April die inländische Nachfrage um 2% gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen. Diese Entwicklung hatte sich allerdings kaum negativ bemerkbar gemacht, weil die ausländische Nachfrage nach deutschen Produkten in der gleichen Zeit stark anstieg.94 Auch in den kommenden Monaten boomte der westdeutsche Export ohne Unterbrechung, doch gerade dies führte dazu, dass die Anzeichen für eine Eintrübung der inländischen Konjunktur nicht rechtzeitig erkannt wurden. So erhöhte die Bundesbank noch im Mai 1966 den Diskontsatz um einen Punkt auf 5%.95 Dies war aus stabilitätspolitischen Erwägungen heraus durchaus vertretbar, denn die im Frühjahr ausgehandelten Lohnabschlüsse fielen doppelt so hoch aus wie das Produktivitätswachstum. Im April stiegen die Lebenshaltungskosten um 4,5% gegenüber dem Vorjahresmonat – das war der höchste Anstieg seit dem Korea-Krieg!96 War die Anhebung der Leitzinsen angesichts der Tarifentwicklung zu vertreten, hatte sie doch ernste Folgen für den inländischen Kapitalmarkt, der durch das Leistungsbilanzdefizit und die steigende Verschuldung der öffentlichen Haushalte ohnehin äußerst angespannt war. Im Wahljahr 1965 waren die Staatsausgaben kräftig gestiegen, während die Einnahmen infolge der Steuersenkungen stagnierten. Die Bundesrepublik wies erstmals in ihrer Geschichte ein massives Haushaltsdefizit auf, das sich auf immerhin 1,25% des Bruttosozialproduktes belief. 97 Da die Schulden durch Anleihen auf dem privaten Kapitalmarkt finanziert werden mussten, kam es zu einer Verdrängung privater Investitionen. Die im Sommer 1966 um sich greifende Krisenstimmung wurde durch das »Zechensterben« an der Ruhr zusätzlich angefacht. Die Krise des Ruhrbergbaus und die sich ebenfalls ankündigenden Probleme in der Stahlindustrie hatten strukturelle Ursachen und standen in keinerlei Zusammenhang mit der 91 Im ersten Halbjahr 1967 belief sich der Rückgang sogar auf 10,0%, im zweiten Halbjahr auf 4,0%; vgl. Fels, S. 6f. 92 Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Die Lage der Weltwirtschaft und der westdeutschen Wirtschaft im Herbst 1966, in: BAK, N 1229/ 194; hier auch weitere Dokumente über die Konjunkturlage im Herbst 1966. 93 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1965/66, S. 103. 94 Vgl. die Analysen in der ZBR-Sitzung am 15.6.1966, HADB, B 330/Drs. 1966; außerdem Giersch u.a., Fading Miracle, S. 145. 95 ZBR-Sitzung am 27.5.1966, HADB, B 330/Drs. 1966. 96 Holtfrerich, Geldpolitik, S. 417. 97 Vgl. Hentschel, Erhard, S. 614; Alecke, S. 84f.

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aktuellen Konjunktureintrübung – und dennoch verstärkten sie die Befürchtung in der Bevölkerung, dass bald die gesamte Volkswirtschaft von einer lang anhaltenden wirtschaftlichen Depression erfasst würde.98 Laut Meinungsumfragen erwarteten im Herbst 1966 20% der Bundesbürger eine schwere Krise, vergleichbar mit der von 1929. 42% sahen eine solche Entwicklung zumindest als wahrscheinlich an, während lediglich 13% sie als unwahrscheinlich betrachteten und 3% sie gänzlich ausschlossen.99 Vergleiche mit der Endphase der Weimarer Republik ließen sich auch auf innenpolitischem Gebiet ziehen, schien doch die Regierung Erhard kaum noch handlungsfähig. Die seit dem Frühjahr laufenden Bemühungen, das Defizit der öffentlichen Haushalte in den Griff zu bekommen, scheiterten an politischen Differenzen der Koalitionspartner, und die wirtschafts- und finanzpolitischen Reformen schienen nicht voranzukommen. Auch das vorübergehende Erstarken rechtsradikaler Kräfte erinnerte auf fatale Weise an die Krisenjahre der Weimarer Republik. So erzielte die bis dahin bedeutungslose NPD bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern im November 1966 7,9 bzw. 7,4% der Stimmen. Im April 1968 erreichte die Partei bei den badenwürttembergischen Landtagswahlen sogar 9,8%. Für erhebliches Aufsehen sorgte in diesem Zusammenhang die 1966 erschienene Studie von Werner Kaltefleiter. Der Kölner Politikwissenschaftler hatte die Auswirkungen von wirtschaftlichen Konjunkturen auf das Parteiensystem der Weimarer Republik und der Bundesrepublik untersucht. Auch wenn er die aktuelle Entwicklung nicht mehr berücksichtigen konnte, warnte er vor den dramatischen Folgen, die eine wirtschaftliche Krise auf die politische Entwicklung des Landes haben werde. Das Regierungssystem der Bundesrepublik sei »weitgehend ein Schönwetter-System« und ebenso wenig wie die Weimarer Republik in der Lage, ökonomische Rückschläge zu verkraften. Dabei komme es nicht allein auf die tatsächliche Entwicklung an; genauso wichtig seien psychologische Faktoren. Eine »krisenhafte Situation und in ihrem Gefolge eine neue Zersplitterung des Parteiensystems« könne bereits dann entstehen, »wenn nur die Einschätzung der Wirtschaftslage negativ wird«.100 Zunächst profitierte allerdings vor allem die SPD von der Erosion der christdemokratischen Mehrheiten. Bei den nordrhein-westfälischen Land98 Zur Krise des Ruhrbergbaus Nonn, S. 280–295; vgl. auch die Lagebeurteilung des CDUAbgeordneten W. Pohle für Barzel vom 24.8.1966, in: ACDP, VIII, 003, 015/2. 99 Hildebrand, S. 207; nach Schönhoven, Aufbruch, S. 133, löste die Krise ein »psychologisches Stimmungstief in der Bevölkerung« aus; vgl. auch Borchardt, Societies, S. 19. 100 Kaltefleiter, S. 156f.; Kaltefleiter veröffentlichte 1968 das Buch in zweiter Auflage mit einem Kapitel über die Wahlen zwischen 1965 und 1967. Er analysierte darin die Erosion des christdemokratischen Wählerblocks und die Stimmenerfolge der NPD. Beide Entwicklungen führte er auf die als krisenhaft wahrgenommene Wirtschaftslage zurück; ebd., 2. Aufl. (1968), S. 158–175.

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tagswahlen im Juli 1966 gewann die Partei 49,5% der Wählerstimmen und verfehlte damit nur knapp die absolute Mehrheit. Für die Niederlage der CDU, die 43% der Stimmen erhielt, wurde vor allem Erhard verantwortlich gemacht, der im Wahlkampf häufig aufgetreten war und dessen Politik auch das »Zechensterben« an der Ruhr angelastet wurde.101 In Meinungsumfragen lag die CDU inzwischen weit abgeschlagen hinter der SPD, die im August von mehr als der Hälfte der bundesdeutschen Wähler favorisiert wurde.102 Dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten vor allem Kanzler Erhard schadeten, war wenig verwunderlich, hatte doch sein Ansehen gerade auf seinen herausragenden Erfolgen als Wirtschaftspolitiker und als »Vater« des Wirtschaftswunders beruht. Seine immer wieder vorgetragenen Maßhalteappelle wurden inzwischen nicht nur von der Opposition, sondern auch von der Wirtschaftspresse abfällig kommentiert.103 Schlechte Noten erhielt Erhards Wirtschaftspolitik auch vom Sachverständigenrat, der sich bereits im Mai mit einem äußerst kritischen Brief an den Kanzler gewendet hatte.104 Auch in der eigenen Partei geriet Erhards Wirtschaftspolitik zunehmend unter Beschuss. Franz J. Strauß, der neben Adenauer und Fraktionschef Rainer Barzel zu den Hauptkontrahenten Erhards innerhalb der CDU/CSU gehörte, wandte sich im Juli 1966 in einem langen Schreiben an den Kanzler. Strauß hielt die wirtschaftliche Lage für außerordentlich gefährlich und wies auf die Unzulänglichkeiten des geplanten Stabilitätsgesetzes hin, das viel zu wenig auf die Förderung des Wachstums ausgerichtet sei. Auf sich alleine gestellt, werde die deutsche Wirtschaft in den kommenden Jahren nicht mehr als 3–4% Wachstum pro Jahr erreichen, was angesichts der wirtschafts- und sozialpolitischen Zukunftsaufgaben nicht ausreiche. Auch in einem zweiten Punkt machte sich Strauß die Forderung der SPD zu Eigen: eine Kreditplafondierung zur Dämpfung der privaten Investitionen erschien ihm »sowohl überflüssig als auch gefährlich«, da sie nicht gezielt eingesetzt werden könne und vor allem den Mittelstand treffe, während sich große Unternehmen Kapital 101 Nonn, S. 285ff.; die CDU verlor gegenüber der Landtagswahl von 1962 3,6% der Stimmen, während die SPD einen Zuwachs von 6,2% verbuchen konnte. 102 Hildebrand, S. 217. 103 Vgl. Rede Schillers auf dem SPD-Parteitag in Dortmund am 3.6.1966, in der er Erhards »hilflose Predigergebärde« und die »von niemandem mehr ernst genommene Seelenmassage« scharf angriff; Text in BAK, N 1229/79. Vgl. auch »Maßhalteappelle kein Ersatz für Wirtschaftspolitik«, in: Handelsblatt, 4.7.1966. 104 BAK, B 136/7454: Der Vorsitzende des SVR Bauer an Erhard, 10.5.1966. Bauer kritisierte vor allem die wenig konstruktive Rolle Erhards in den Sozialpartnergesprächen. Die Differenzen konnten auch in einem Gespräch zwischen den Mitgliedern des SVR und Erhard am 13.5.1966 nicht ausgeräumt werden (vgl. B 136/7454: Vermerk vom 8.6.1966). Auch das Stabilitätsgesetz beurteilte der SVR kritisch, da es die außen- und währungswirtschaftlichen Probleme nicht ausreichend berücksichtige (B 136/7454, SVR, Memorandum für die Diskussion einiger Probleme der Stabilisierungspolitik, August 1966). Dazu B 136/7455: Stellungnahme von Staatssekr. Langer, 12.9.1966.

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aus dem Ausland beschaffen könnten.105 Sicherlich spielten bei Strauß’ Kritik auch persönliche Karriereambitionen eine Rolle. Er galt als einer der potenziellen Nachfolger Erhards und als eine der Schlüsselfiguren für die seit langem hinter verschlossenen Türen diskutierte Große Koalition mit den Sozialdemokraten. Schon im Frühjahr hatte Strauß vor der Presse geäußert, dass er sich mit Schiller in Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik rasch einigen könne.106 Auch Barzel drängte Erhard nun, wirtschaftspolitisch in die Offensive zu gehen und ein »Gesamtprogramm zur Stärkung unserer Wirtschaft« in die Wege zu leiten.107 Schließlich trat auch Müller-Armack Anfang September mit einer langen Denkschrift an Erhard heran.108 Er diagnostizierte ein »fundamentales Ungleichgewicht« der deutschen Wirtschaft, das keineswegs auf die leichte Schulter genommen werden dürfe: »Wir müssen uns darüber klar sein, daß Rezessionen in der modernen dynamischen Gesellschaft, wie die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise gezeigt haben, eine schwere Gefahr für die demokratische Ordnung bilden. Der Ausgang der Wahlen in Nordrhein-Westfalen ist ein erstes Zeichen dafür. Es geht hierbei nicht darum, daß ein Wechsel zwischen den demokratischen Parteien herbeigeführt wird, der nach dem Spiel der Demokratie hingenommen werden könnte und müßte, sondern vielmehr darum, daß auf der Basis einer wirtschaftlichen Verschlechterung radikale neue Parteien ihren Nährboden finden.«109 Müller-Armack stimmte somit in den Chor der Pessimisten ein, die eine Wiederholung der Geschichte nicht mehr ausschlossen. Nur ein radikales Umsteuern in der Wirtschaftspolitik könne die drohende Staatskrise noch verhindern. Als wichtigsten Ansatzpunkt erblickte Müller-Armack das geplante Stabilitätsgesetz, das jedoch viel zu einseitig auf die Dämpfung der Konjunktur fokussiert sei, während es keine ausreichenden Waffen für die Bekämpfung einer Rezession bereitstelle: »Unsere komplizierte dynamische Wirtschaft gleicht nicht einem Auto, bei dem man bremsen oder Gas geben kann, das sich aber auf seinen vier Rädern ohnehin im Gleichgewicht hält. Es drängt sich vielmehr das Bild eines in der Luft befindlichen Flugzeuges auf, das durch ein differenziertes System von Steuerung, Bremsung und Antrieb im Gleichgewicht gehalten werden muß, um sicher seine Funktion erfüllen zu können. Das Gesetz in seiner augenblicklichen Form ist primär auf die Bremsung der 105 HADB, B 330/242: Strauß an Erhard, 5.7.1966 (Kopie). 106 Streitgespräch in der Sendung Monitor zw. Strauß und Schiller am 27.5.1966, in: BAK, N 1229/208. Zu den wachsenden Differenzen zwischen Strauß und Erhard vgl. auch Strauß, S. 475f. 107 LES, NL Erhard, II/1/38: Barzel an Erhard, 21.7.1966. 108 BAK, B 102/93186: A. Müller-Armack, Die konjunkturelle Lage, das Stabilisierungsgesetz und die nächsten wirtschaftspolitischen Aufgaben, 7.9.1966. 109 Ebd., S. 4.

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Konjunktur durch Begrenzung der öffentlichen Haushalte, Stillegung von öffentlichen Kosten und Kreditplafondierung eingestellt. Seine Einführung würde die bisher von der Bundesrepublik geübte Restriktion von einer bundesgesetzlichen Basis aus fortsetzen. Es nimmt daher an der Problematik der Bremsung in der heutigen Konjunkturlage überhaupt teil.«110 Doch die Hoffnungen von Barzel, Strauß und Müller-Armack, den Kanzler zu einer radikalen Kehrtwende in der Wirtschafts- und Konjunkturpolitik bewegen zu können, erwiesen sich als vergeblich. Noch im September, als auf dem Arbeitsmarkt erste Symptome einer Rezession zu erkennen waren, ließ sich Erhard zu keiner Abänderung des Gesetzesentwurfes überreden. Zwar wurde das Gesetz bereits zwei Wochen vor dem Ende der Sommerpause des Bundestages beraten, um eine rasche Verabschiedung zu gewährleisten. Doch Erhard war nicht bereit, den sowohl aus den eigenen Reihen als auch aus der SPD kommenden Forderungen nach stärker expansiven Regelungen zuzustimmen. Den – zu diesem Zeitpunkt noch leichten – Rückgang der Beschäftigung und das Abflauen der privaten Investitionen hielt Erhard für eine im Prinzip wünschenswerte Entwicklung, welche die konjunkturellen Überspannungen der vergangenen Jahre korrigieren werde. Das Gerede über eine bevorstehende Rezession, schrieb er im August an Barzel und Strauß, sei »Ausdruck von Hysterie«. Gefährdet sei allenfalls die Stabilität der Währung. Würde die Bundesbank »die Kreditbremse lockern und damit die Wirtschaft vermeintlich entlasten«, wäre nicht zu verhindern, dass die Inflation weiter angetrieben und die Wirtschaft »in ein fast unübersehbares Chaos stürzen« werde.111 Bestätigt fühlte sich Erhard durch den Zentralbankrat, der noch Anfang September die Lage als wenig beunruhigend betrachtete und keinen Anlass sah, die Zinsen zu senken.112 In der Debatte über das Stabilitätsgesetz verliefen die Konfliktlinien längst nicht mehr entlang der parteipolitischen Zugehörigkeit. Auch innerhalb des Regierungslagers war man in dieser Frage tief zerstritten. Im September zeichnete sich daher immer deutlicher ab, dass das Gesetz in seiner ursprünglichen Fassung keine Mehrheit finden würde.113 Die vorgesehene Regelung, dass der Bund Kreditbeschränkung für sämtliche öffentlichen Haushalte (einschließlich der Gemeinden und kommunalen Zweckverbände) verordnen konnte, wurde entschärft.114 Vom Tisch war ferner die Plafondierung für den privaten 110 Ebd., S. 5f. 111 LES, NL Erhard, I/2/12 u. 24: Erhard an Barzel, 12.8.1966, u. an Strauß, 15.8.1966. 112 Sitzung am 8.9.1966, in: HADB, B 330/Drs. 1966 (v.a. Bemerkungen von Emminger, S. 5). 113 Vgl. Die SPD geht auf härteren Oppositionskurs, in: SZ, 9.8.1966; Boykott oder Mitarbeit, in: Rheinische Post, 9.8.1996. 114 Vgl. zu den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern: BAK, B 102/59384: Protokoll der gemeinsamen Konferenz der Wirtschafts- und Finanzminister der Länder 13.7.1966 in Bonn; B 102/59385: Bundesrat, Empfehlung des Rechts-, Wirtschafts- und Finanzausschuß für

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Kreditmarkt, die von den Industrie- und Bankverbänden – trotz einer insgesamt wohlwollenden Haltung gegenüber dem Gesetz – als »Ausdruck staatlichen Dirigismus« heftig kritisiert wurde.115 Auch führende Vertreter der CDU/CSU sowie der FDP lehnten die Kreditplafondierung als »bedenkliche Investitionsbremsen« und »scharfe Eingriffe in die Privatwirtschaft« ab.116 Der Vorwurf, dass das Gesetz dirigistische Züge trage, kam auch aus den Reihen der SPD. Geschickt argumentierte etwa Schiller vor dem Bundestag, dass das »Gesetz schon vielzuviel verwaltungswirtschaftliche Kleinkrämerei« enthalte und »freiheitlich durchlüftet werden« müsse.117 Schiller bezog sich hierbei nicht nur auf die geplante Kreditplafondierung, sondern auch auf die fehlende Einbindung in ein Gesamtkonzept politisch-wissenschaftlicher Planung: »Wer aus dogmatischer Enge die Kombination von Rahmenplanung und Marktwirtschaft ablehnt, wer die Chancen zu globalen Einflußnahmen verspielt, der landet dann in einem Gestrüpp von mehr oder weniger überstürzten, nicht aufeinander abgestimmten Einzeldirigismen. Die Dogmatiker wollen es nicht gerne hören: Der Dirigismus entsteht gerade aus der politischen Planlosigkeit.«118 Die Abgrenzung einer makroökonomischen »Globalsteuerung« vom »Einzeldirigismus« der Regierungsvorschläge diente vor allem dazu, den üblicherweise gegen die SPD gerichteten Vorwurf einer übertriebenen Planungsfreude von vorneherein zu entkräften.119 Das erwies sich jedoch letztlich als überflüssig. Der Planungsbegriff hatte seine negative Konnotation längst verloren und war einer regelrechten Euphorie gewichen. Spätestens seit der Rezession von 1966/67 galt Planung als Kernelement modernen Politikmanagements.120

Beratungen zum Stabilitätsgesetz in der Sitzung am 5.8.1966; Gocht, Stellungnahmen der Bundesratsausschüsse zum Stabilitätsgesetz, 1.8.1966. 115 Vgl. BAK, N 1254/68: Besprechung zwischen BDI und Bundesverband des privaten Bankgewerbes am 7.7.1966; Konjunkturgesetz überflüssig und dirigistisch, in: Handelsblatt 24.6.1966; Stabilisierungsgesetz rasch verabschieden! Interview mit DIHT-Präsident Dr. Ernst Schneider, in: Handelsblatt 19./20.8.1966; vgl. auch BAK, B 102/59385: Bericht Schlecht, 19.8.1966; zahlreiche weitere Dokumente, v.a. zur Kritik des Bankgewerbes in BAK, B 126/ 51733. 116 Zitate aus H. W. Staratzke (MdB), Vor der parlamentarischen Behandlung des Stabilisierungsgesetzes, in: Fachdienst für Wirtschaftspolitik der Freien Demokratischen Partei, 6.9.1966; zur Haltung der CDU/CSU: HADB, B 330/242: Strauß an Erhard, 5.7.1966; LES, NL Erhard, II/1/38: Barzel an Erhard, 21.7.1966; BAK, B 102/59385: Wirtschaftsbeirat der Union, Kommentar zum Stabilitätsgesetz, 14.9.1966. 117 Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 62, Bonn 1966, S. 2665 (14.9.1966). 118 Rede Schillers über »Schwerpunkte der Gesellschaftspolitik in Deutschland« auf dem SPD-Parteitag in Dortmund, 3.6.1966, in: BAK, N 1229/79. 119 Vgl. z.B. BAK, B 102/59385: BMWi, Analyse der bisherigen Stellungnahmen der SPD zum Stabilitätsgesetz, 15.8.1966. 120 Vgl. Ruck, sowie umfassend Metzler, Konzeptionen.

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4. Von Erhard zu Schiller – eine wirtschaftspolitische Zäsur? Wie schon der politische Aufstieg, war auch der Sturz Erhards »ein Stück Wirtschaftsgeschichte« (Ellwein).121 Ohne der Versuchung kontrafaktischer Spekulation erliegen zu wollen, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass Erhard ohne den konjunkturellen Einbruch im Sommer 1966 zumindest bis zum Ende der Legislaturperiode weiterregiert hätte. Denn mehr noch als sein fehlendes außenpolitisches Geschick und seine viel beklagte Führungsschwäche122 trugen die wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten dazu bei, seine Autorität als Kanzler zu untergraben. So sehr Erhard den wirtschaftlichen Aufstieg und Erfolg der Bundesrepublik nach dem zweiten Weltkrieg verkörpert hatte, so wenig verzieh man ihm, dass er keinen Ausweg aus der Rezession von 1966/67 wusste. Die festgefahrene Debatte über das Stabilitätsgesetz zeigte, dass die nun allseits geforderte »Modernisierung« des wirtschaftspolitischen Instrumentariums in der bestehenden politischen Konstellation nicht zu erreichen war. Den letzten Ausschlag für Erhards Sturz gab allerdings die kritische Entwicklung des Bundeshaushaltes im Herbst 1966. Wie bereits erwähnt, hatten sich die Ausgaben des Bundes schon im Wahljahr 1965 deutlich erhöht. Erhard hatte, ganz in der Tradition seines Amtsvorgängers, aus vollen Händen Wahlgeschenke verteilt. Allein 1965 stiegen die Ausgaben des Bundes von 58,1 auf 64,2 Mrd. DM, d.h. um über 10%.123 Zugleich waren durch die Steueränderungsgesetze vom 16. November 1964 und vom 14. Mai 1965 die Einkommenssteuertarife deutlich gesenkt und die Freibeträge erhöht worden, was zu beträchtlichen Mindereinnahmen des Bundes führte.124 Schon kurz nach der Wahl im September 1965 war daher ein Ministerausschuss eingesetzt worden, der ein »Haushaltssicherungsgesetz« erarbeitete, das am 29. Oktober 1965 vom Kabinett beschlossen wurde. Die darin vorgesehenen Einsparungen führten zwar zu einem ausgeglichenen Haushalt, doch im Grunde hatte man wichtige Ausgabenblöcke auf die kommenden Jahre verlagert, so dass die Probleme 1966 noch größer wurden, zumal nun infolge des rückläufigen Wachstums auch die Steuereinnahmen einbrachen. Trotz Einsparungen und der Streichung von Steuervergünstigungen ergab sich im September eine Deckungslücke von 3,3 Mrd. DM, wobei die anstehenden Zahlungen an die USA zur Finanzierung der Stationierungskosten in Höhe von

121 Ellwein, S. 43. 122 Vgl. dazu Koerfer, Kampf, S. 753–759; Hentschel, Erhard, S. 579–649. 123 Vgl. Statistiken in: Bundesministerium der Finanzen, Haushaltsreden 1962–1966, S. 309; vgl. auch Adami, S. 13 u. passim. 124 BGBl. 1964 I, S. 885; BGBl. 1965 I, S. 319; vgl. auch Muscheid, S. 93.

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3,6 Mrd. DM noch gar nicht berücksichtigt waren.125 Während die CDU eine Steuererhöhung als einzigen Ausweg aus der Haushaltskrise vorschlug, plädierten die Freien Demokraten für eine radikale Kürzung der Ausgaben. Die Divergenzen zwischen den Koalitionspartnern waren inzwischen so groß geworden, dass sich keine Einigung mehr erzielen ließ. Am 27. Oktober traten die FDP-Minister schließlich aus der Regierung aus; die Suche nach neuen parlamentarischen Mehrheiten mit einem neuen Kanzlerkandidaten war zu diesem Zeitpunkt längst im Gange. Es sollen hier nicht die Details und Hintergründe jener Ereignisse rekonstruiert werden, die schließlich im November 1966 den seit längerem absehbaren Sturz Erhards besiegelten.126 Von größerer Bedeutung ist die Frage, inwiefern Erhards Abgang von der politischen Bühne auch einen grundlegenden Wandel in der Wirtschaftspolitik bildete. Stellt das Jahr 1966/67, wie Knut Borchardt und andere konstatiert haben, für die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik wirklich eine Zäsur dar?127 Aus der Sicht der Zeitgenossen markierte die Zeit zwischen der Bundestagswahl im Herbst 1965 und dem Sturz Erhards gut ein Jahr später ohne Zweifel einen tiefen Einschnitt. Da wäre zum einen die rasch um sich greifende Krisenstimmung zu nennen, welche die erfolgsverwöhnten Westdeutschen tief verunsicherte. Der nach Lage der Dinge kaum zu rechtfertigende Vergleich mit der Endphase der Weimarer Republik zeigte, wie ernst man die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht nur innerhalb der politischen Klasse, sondern auch in weiten Teilen der Bevölkerung nahm. Diese Entwicklung hatte sich bereits nach der Bundestagswahl vom September 1965 abgezeichnet. Die Schwierigkeiten in der Haushaltspolitik, das hohe Defizit in der Leistungsbilanz, eine für westdeutsche Verhältnisse besorgniserregende Inflationsrate und schließlich der Schock der im Sommer 1966 einsetzenden Rezession – all dies verstärkte das Gefühl, dass die Bundesrepublik an einem Wendepunkt der wirtschaftlichen Entwicklung stand. Der Sturz Erhards, der noch im Herbst 1965 aufgrund seiner großen Popularität ein grandioses Wahlergebnis erzielt hatte, zeigte, wie tief das Vertrauen in die Selbststeuerungsfähigkeit der Märkte erschüttert war. Das von der sozialdemokratischen Opposition propagierte Konzept einer wissenschaftlich fundierten »Globalsteuerung« bot sich in dieser Situation als zukunftsträchtiges Modell der Wirtschaftspolitik an. Wie im folgenden Kapitel dargestellt wird, stellte die »MiniRezession« von 1966/67 ein geradezu ideales Experimentierfeld für das wirtschaftspolitische Krisenmanagement neuen Stils dar. 125 Görtemaker, S. 433f. 126 Vgl. dazu Hildebrand, S. 202–240; Hentschel, Erhard, S. 627–649. 127 Vgl. Hildebrand, S. 286, sowie Borchardt, Zäsuren, der den Zäsurcharakter von 1966/67 am Ende allerdings relativiert; Abelshauser lässt die »langen fünfziger Jahre« 1966 enden: Abelshauser, Fünfziger Jahre.

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Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, dass viele der Reformkonzepte, die unter der Großen Koalition rasch und energisch umgesetzt werden sollten, schon seit Jahren diskutiert und vorbereitet wurden. Das gilt für die 1969 verabschiedete Finanzreform ebenso wie für das Wachstums- und Stabilitätsgesetz, das im Sommer 1967 in Kraft trat. Wie der Volkswirt Norbert Kloten formulierte, markierte das Gesetz keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit, sondern eher »das Endstadium eines jahrzehntelangen Suchprozesses«.128 Auch die Konzertierte Aktion, jenes korporatistische Bündnis, das eine rasche Umsetzung der makroökonomischen Vorgaben gewährleisten sollte, knüpfte an die Tradition der Sozialpartnergespräche an, die seit den fünfziger Jahren immer wieder stattgefunden hatten. Auch in personeller Hinsicht muss die Zäsur im Übergang von der »Kleinen« zur »Großen« Koalition relativiert werden. Zwar war es von höchst symbolischer Wirkung, dass im Dezember 1966 mit Schiller der langjährige Gegenspieler Erhards ins Wirtschaftsministerium einrückte; doch Schiller stand keineswegs für einen revolutionären Neubeginn in der Wirtschaftspolitik, sondern eher für eine behutsame Modernisierung unter Bewahrung grundlegender Prinzipien, wie sie die bundesdeutsche Wirtschaftsordnung seit 1949 prägten. Die von Schiller propagierte Verbindung von marktwirtschaftlicher Wettbewerbsordnung und makroökonomischer Globalsteuerung gehörte in wissenschaftlichen und politischen Kreisen um die Mitte der sechziger Jahre längst zum common sense. Sinnfällig brachte dies die Schiller’sche Formel von der Verknüpfung des »Freiburger Imperativs« mit der »keynesianischen Botschaft« zum Ausdruck.129 Auch bei der Besetzung der Leitungspositionen sorgte Schiller für ein hohes Maß an Kontinuität. So bestätigte er Staatssekretär Fritz Neef im Amt. Neef, Volkswirt und seit 1949 im Wirtschaftsministerium in verschiedenen Leitungspositionen tätig, war 1963 als Nachfolger von Müller-Armack Staatsekretär mit dem Schwerpunkt Europafragen geworden.130 Das zweite Staatssekretariat, das zuvor Wolfram Langer innegehabt hatte, besetzte Schiller mit Johannes Schöllhorn, ebenfalls ein langjähriger Beamter des Ministeriums. Lediglich auf den neu geschaffenen Posten eines Parlamentarischen Staatssekretärs berief Schiller einen Parteifreund, den Berliner Konjunkturforscher Klaus-Dieter Arndt. Auch auf der Abteilungsleiterebene kam es nicht zu dem von vielen altgedienten Beamten befürchteten Revirement. Von den acht Ab128 Zit. n. Stoltenberg, S. 172. 129 Schiller, Konjunkturpolitik, S. 7; vgl. auch ders., Stetiges Wachstum; ders., Preisstabilität, sowie ders., Der Prophet der Expansion. John Maynard Keynes und sein Erbe, in: Die Zeit, 22.4.1966. 130 Neef hatte bereits 1946–49 im Zentralamt für Wirtschaft (Minden) bzw. im Verwaltungsamt für Wirtschaft (Frankfurt a.M.) gearbeitet; vor seiner Ernennung zum Staatssekretär war er Leiter der Unterabteilung IV B (Gewerbliche Wirtschaft).

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teilungsleitern wurden zwar drei in den vorzeitigen Ruhestand geschickt, darunter der als harter Ordoliberaler geltende Rolf Gocht, der die Grundsatzabteilung geleitet hatte. Doch sämtliche freiwerdenden Positionen wurden aus dem eigenen Haus besetzt. So rückte der Referatsleiter für Grundsatzfragen Otto Schlecht auf die Position von Gocht nach. Schlecht gehörte gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Hans Tietmeyer zu den wirtschaftspolitischen Vordenkern im BMWi, welche die Implementierung von Schillers »Globalsteuerung« maßgeblich mitgestalteten. Zu diesem Kreis muss auch Fritz Schiettinger gezählt werden, ein langjähriger Vertrauter Franz Etzels und Mitglied im CDU-Wirtschaftsausschuss, der 1961 vom Finanz- ins Wirtschaftsministerium gewechselt war. Ungeachtet seiner parteipolitischen Bindung wurde Schiettinger als Leiter der wichtigen Abteilung Geld und Kredit von Schiller übernommen.131 Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass die Rezession von 1966/67 und der sich daran anschließende Regierungswechsel keine tiefgreifende Zäsur darstellte, sondern allenfalls die politische Konstellation schuf, um bereits lange vorher sich anbahnenden Entwicklungen zum Durchbruch zu verhelfen. Zumindest was die hier diskutierten Neuansätze in der Wirtschafts- und Finanzpolitik angeht, bildeten die Jahre von Erhards Kanzlerschaft eine Inkubationszeit für jene Reformideen, die gemeinhin mit der Großen Koalition in Verbindung gebracht werden.

131 Vgl. Organisationsplan des Bundesministeriums für Wirtschaft, Stand Mai 1966, September 1967 und November 1968.

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XI. Im »magischen Viereck« 1967–1969 Die Große Koalition war von Anfang an ein Bündnis auf Zeit. Obgleich eine Kooperation der beiden Volksparteien auf Bundesebene seit längerem im Gespräch war, galt es keinesfalls als ein dauerhaft zu etablierendes Regierungsmodell für die Zukunft. Gerade die verfassungspolitischen Bedenken – der Machtzuwachs der Exekutive und das Fehlen einer starken Opposition – verliehen der Großen Koalition die Aura einer Notstandsregierung, die einer besonderen Rechtfertigung bedurfte. Neben der vielfach beschworenen »Krise der Parteiendemokratie«, die durch eine umfassende Wahlrechtsreform beendet werden sollte, galten die konjunkturelle Rezession und die Haushaltskrise als »die eigentliche politische Rechtfertigung dieses Bündnisses«.1 Während die politischen Reformen, mit Ausnahme der im Mai 1968 verabschiedeten Notstandsverfassung, jedoch nicht bewältigt wurden, agierte das Regierungsbündnis auf wirtschafts- und finanzpolitischem Gebiet außerordentlich erfolgreich. Bereits die Regierungserklärung, die der neue Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger am 13. Dezember 1966 vor dem Bundestag verlas, machte deutlich, wo die Koalition ihre Schwerpunkte setzten wollte. Kiesinger begann, abweichend von der Praxis seiner Vorgänger, mit einer ausführlichen Darstellung der finanz- und wirtschaftspolitischen Aufgaben.2 Schonungslos wies er auf die Fehler und Unzulänglichkeiten der Regierung Erhard hin, die durch eine »lange schwelende Krise« gelähmt worden sei und die anstehenden Reformaufgaben nicht mit dem notwendigen Elan in Angriff genommen habe. Die Konjunktur, so Kiesinger, liege am Boden, und die von seinem Vorgänger übernommenen Staatsfinanzen böten ein »düsteres Bild«. Höchste Priorität genieße daher die Konsolidierung der Staatsfinanzen und die Bekämpfung der Rezession durch eine »expansive und stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik«. Dazu seien die unverzügliche Einführung der mittelfristigen Finanzplanung sowie eine durchgreifende Reform der Haushalts- und Steuerverfassung erforderlich.3 Die Ausführungen Kiesingers trugen eindeutig die Handschrift Schillers, der auch den wirtschaftspolitischen Teil des Acht-Punkte-Programms der 1 Zundel, S. 31. 2 Kiesinger, S. 6–27; in der einstündigen Rede widmete Kiesinger ca. 40 Minuten der Wirtschaftspolitik. 3 Ebd., S. 6, 8 u. 15; die negativen Bemerkungen über Erhards Wirtschafts- und Finanzpolitik brachten Kiesinger in der eigenen Partei Kritik ein; vgl. Hildebrand, S. 276.

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SPD für die Koalitionsverhandlungen formuliert hatte.4 Dass die SPD die Wirtschaftspolitik der Großen Koalition stark beeinflussen würde, war schon während der Regierungsbildung deutlich geworden. Bei der Aufteilung der Ressorts sicherten sich die Sozialdemokraten nicht nur das Wirtschaftsministerium, sondern auch die Ressorts für Verkehr, Wohnungsbau und Entwicklung.5 »Diese Konstellation«, prophezeite die FAZ, »wird der Wirtschaftspolitik künftig ein sozialdemokratisches Gepräge geben. Man wird davon vorerst keine umwälzenden Neuerungen zu erwarten haben, aber auf lange Sicht wird sich dieses Schwergewicht ohne Zweifel auswirken.«6 Im folgenden Abschnitt wird zunächst auf die Genese des wohl wichtigsten Reformwerkes der Großen Koalition, das im Mai 1967 verabschiedete Wachstums- und Stabilitätsgesetz, eingegangen. Inwiefern knüpfte es an die Entwürfe der Vorgängerregierung an, und wo lagen die spezifischen Neuerungen und konzeptionellen Veränderungen? Handelte es sich tatsächlich um ein neues »Grundgesetz« der Wirtschaft, das, wie Schiller und Strauß beschworen, eine »aufgeklärte Marktwirtschaft« in Westdeutschland begründete?7 Oder stellte es ein »wirtschaftliches Ermächtigungsgesetz« dar, welches die Spielregeln des Marktes außer Kraft zu setzen drohte?8

1. Die »Magna Charta« des Keynesianismus Bereits kurz nach der Regierungsbildung wurden die Beratungen über das Stabilitätsgesetz wieder aufgenommen. Während die Union an dem Regierungsentwurf vom Sommer 1966 festhalten wollte, drängte die SPD auf umfassende Änderungen.9 Da die Federführung beim Wirtschaftsministerium lag, konnten sich die Sozialdemokraten mit ihren Vorstellungen in vielen 4 Vgl. ebd., S. 276f. Das Acht-Punkte-Programm vom 2.11.1966 enthielt vier Forderungen zur Außen- und Sicherheitspolitik und vier zur Wirtschafts- und Finanzpolitik; abgedr. in: A. Möller, Genosse Generaldirektor, S. 304f.; vgl. auch SPD-Fraktion 1964–66, S. 1037; zu den Koalitionsverhandlungen im November ausführlich Knorr, S. 77ff. 5 Die Besetzung des Wirtschaftsministeriums war für die SPD von Beginn an eine zentrale Forderung; vgl. SPD-Fraktion 1964–66, S. 1076 (Sitzung am 30.11./1.12.1967); vgl. umfassend zur Rolle der SPD in der Großen Koalition Schönhoven, Wendejahre. 6 »Wer macht Wirtschaftspolitik«, in: FAZ, 2.11.1966. 7 Schiller, Konjunkturpolitik, S. 9; Zencke, S. 55. 8 A. Schneider, S. 83; vgl. auch K. O. Pöhl, Schillers Ermächtigungsgesetz, in: Der Volkswirt, 17.2.1967. Der spätere Bundesbankpräsident Pöhl bewertete das Gesetz allerdings insgesamt positiv. 9 Die SPD hatte am 5.10.1966 im Wirtschaftsausschuss des Bundestages zwei Entschließungsanträge und 17 Ergänzungs- und Änderungsanträge zum Regierungsentwurf bzw. zu der am 5.8.1966 vom Bundesrat vorgelegten Fassung des Gesetzes gestellt; vgl. SPD-Fraktion 1964– 66, S. 960–964.

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Punkten durchsetzen.10 Ende Januar legte Schiller eine Neufassung des Gesetzes vor, die von dem Entwurf der Vorgängerregierung in vielen Punkten abwich.11 Schon der Name – »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« – brachte zum Ausdruck, dass es nicht mehr in erster Linie um die Bekämpfung der Inflation im Konjunkturhoch ging, sondern dass »angemessenes« Wachstum, Geldwertstabilität, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftliches Gleichgewicht gleichrangige Ziele darstellten. Bund und Länder, so hieß es in § 1, »haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes zu beachten«. Wie der »Rheinische Merkur« später kommentieren sollte, war aus dem »Bremsgesetz« ein »Wachstumsgesetz« geworden.12 Allerdings löste die Frage, inwiefern eine Verletzung des – im Übrigen recht vage definierten – »gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes« die Begründung für staatliches Handeln darstellen sollte, kontroverse Diskussionen aus. Nach den Vorstellungen Schillers sollte das Gesetz erst dann greifen, wenn die Regierung – nach vorheriger Konsultation des Sachverständigenrates – ein gesamtwirtschaftliches »Ungleichgewicht« feststellte. Von Seiten des Finanzministeriums wandte man dagegen ein, dass ein solches formales Verfahren langwierige Konsultationen erfordere und damit ein schnelles Regierungshandeln geradezu verhindert werde.13 Zudem verweise der Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes auf eine abstrakte, modelltheoretische Konstruktion, die für die wirtschaftspolitische Praxis nur bedingt tauge. Schließlich könne, so ein weiterer Einwand, die formale Feststellung eines wirtschaftlichen Ungleichgewichtes »negative psychologische Wirkungen« haben und eine bestehende konjunkturelle Krise zusätzlich verschärfen.14 Da das BMF in dieser Frage von der Bundesbank und den Wissenschaftlichen Beiräten beim Wirtschafts- und Finanzministerium unterstützt wurde,15 beließ man es bei der allgemeinen Feststellung, dass Bund und Länder die Bedingungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes lediglich zu beachten hätten.16 Die Definition des Gleichgewichtes (des »magischen Vierecks«) wur10 Vgl. BAK, B 102/59385: Stabilitätsgesetz – Konsequenzen und Forderungen bei der Neubildung einer Koalition. 11 BAK, B 102/93258: Änderungen und Ergänzungen zum Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, 31.1.1967. 12 Wachstumsgesetz, in: Rheinischer Merkur, 19.5.1967. 13 BAK, B 102/93258: Schlecht an Schiller über Besprechung mit Finanzministerium am 16.1.1967. 14 Vgl. ebd. sowie BAK, B 102/93259: BMWi, Vermerk betr. Kritik an den Änderungen zum Stabilitätsgesetz, 1.3.1967, S. 4. 15 BAK, B 102/93258: Blessing an Schiller, 17.2.1967. Die Wissenschaftlichen Beiträte beim BMWi und BMF berieten am 20.2.1967 über das Gesetz; vgl. BAK, B 102/93259: Beiratsvorsitzende Sauermann und Haller an Schiller, 12.2.1967; Stellungnahme Tietmeyers, 13.2.1967. 16 Es handelte sich nach juristischer Auffassung lediglich um einen »unbestimmten Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum«; Münch/Stern, S. 66.

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de im Gesetzestext absichtlich vage gehalten, um »neuen wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen Raum« zu geben.17 Abgesehen davon konnte das Finanzministerium allerdings nur kleinere, überwiegend kosmetische Korrekturen durchsetzen.18 Das Wachstums- und Stabilitätsgesetz wurde am 10. Mai vom Bundestag verabschiedet und trat am 8. Juni 1967 in Kraft.19 Es stellte ein reichhaltiges Arsenal an makroökonomischen Steuerungsinstrumenten zur Verfügung, mit welchen der Keynesianismus zur offiziellen wirtschaftspolitischen Philosophie erhoben wurde. In praktisch keinem anderen westlichen Industrieland war die keynesianische Lehre zu diesem Zeitpunkt in vergleichbarer Weise gesetzlich verankert wie in der Bundesrepublik. Ausländische Beobachter sprachen gar von der »most Keynesian legislation of the post-war era«.20 Im Unterschied zum Entwurf der Regierung Erhard legte das Gesetz seinen Schwerpunkt auf die Fiskalpolitik. Doch auch das geldpolitische Instrumentarium wurde erweitert. So erhielt die Bundesbank die Möglichkeit, zusätzliche Geldmarktpapiere in Höhe von 8 Mrd. DM auszugeben, um dem Wirtschaftskreislauf in Boomphasen Liquidität zu entziehen. Überdies konnten die Rentenversicherungsträger und die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung verpflichtet werden, einen Teil ihrer liquiden Mittel in Schatzwechseln der Bundesbank anzulegen.21 Abgesehen davon schuf das Gesetz vor allem die Voraussetzung für eine wirksame Steuerung von Einnahmen und Ausgaben des Staates und seiner Körperschaften. Dies zielte in erster Linie auf die Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und entsprach damit den klassischen Vorstellungen des keynesianischen »demand management«. Die Haushaltsplanung von Bund, Ländern und Kommunen wurde auf eine antizyklische Politik verpflichtet. In Zeiten des Booms sollte der Wirtschaft Kaufkraft entzogen und bei der Bundesbank in einer Konjunkturausgleichsrücklage oder durch die 17 Möller/Böckenförde, S. 78. 18 So sah der Entwurf des BMWi vor, dass die Regierung am Anfang des Kalenderjahres einen Jahreswirtschaftsbericht mit quantitativen Projektionen für das laufende Jahr mit ausführlicher Darlegung der angestrebten wirtschaftspolitischen Ziele anfertigte. Auf Drängen des BMF wurde das Adjektiv »quantitativ« gestrichen. Allerdings blieb die Bestimmung, dass die Jahresprojektion mit Hilfe der VGR erstellt werden sollte, was im Grunde doch auf eine quantitative Vorausschau hinauslief; vgl. Möller/Böckenförde, S. 87. 19 Vorher hatte es noch mehrere Verhandlungsrunden gegeben. Die entscheidende Sitzung auf Minister- und Staatssekretärsebene fand am 14.3.1967 statt; vgl. A. Schneider, S. 171; der Bundestagsausschuss für Mittelstandsfragen, der stellvertretend für die anderen Ausschüsse über das Gesetz beriet, schloss seine Beratungen am 21.4.1967 ab; BAK, B 102/59385: Bericht vom 1.5.1967; verschiedene Entwürfe des Gesetzes vom 7. u. 15.2.1967. Die zweite u. dritte Lesung des Gesetzes am 10.5.1967, in: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 64, Bonn 1967, S. 5110ff. sowie Drs. V/890; Gesetzestext in BGBl. I. 1967, S. 582. 20 Dillard, S. 124f. 21 StWG §§ 29 u. 30.

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Tilgung von Krediten stillgelegt werden. Ferner mussten öffentliche Aufträge zeitlich so vergeben werden, dass sie dem konjunkturellen Trend entgegen wirkten. Bei starker konjunktureller Überhitzung konnte die Kreditaufnahme aller öffentlichen Haushaltsträger per Verordnung auf eine Höchstgrenze beschränkt werden. Im Falle einer Rezession sah das Gesetz vor, zusätzliche Ausgaben mit Hilfe der Konjunkturrücklage oder auf Kreditbasis zu tätigen, um die Nachfrage rasch zu beleben.22 Zielten die haushaltspolitischen Bestimmungen nur auf den öffentlichen Sektor, so konnte mit Hilfe der steuerpolitischen Instrumente die private Nachfrage beeinflusst werden. Das Gesetz sah sowohl Maßnahmen für die Steuerung der Investitions- als auch der Konsumgüternachfrage vor. Zur Konjunkturdämpfung konnten Sonderabschreibungen für Investitionen ausgesetzt sowie die Einkommens- und Körperschaftssteuer um bis zu 10% angehoben werden. Bei einem konjunkturellen Einbruch waren entsprechende Senkungen der Einkommens- und Körperschaftssteuern zur Stützung der Nachfrage möglich. Wie von juristischer Seite betont wurde, brachte das Wachstums- und Stabilitätsgesetz »neben den ökonomischen eine Vielzahl von staats- und verwaltungsrechtlichen Problemen mit sich«.23 Zunächst einmal handelte es sich um ein Novum, dass Bund und Länder auf ein bestimmtes wirtschaftspolitisches Ziel festgelegt wurden, nämlich auf die Bewahrung des »gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes« im Rahmen der »marktwirtschaftlichen Ordnung«. Da die Ziele des Stabilitätsgesetzes auch in Artikel 109 des Grundgesetzes verankert wurden, fanden somit erstmals wirtschaftspolitische Normen Eingang in das Verfassungsrecht.24 Doch die eigentliche Brisanz dieser wirtschaftspolitischen »superlex«25 lag darin, dass sie weitreichende Eingriffe in die Finanzautonomie der Haushaltsträger sowie eine Einschränkung des parlamentarischen Steuererhebungsrechtes vorsah. Die meisten Maßnahmen sollten nämlich durch Rechtsverordnungen verfügt werden, da ein normales Gesetzgebungsverfahren zu viel Zeit in Anspruch nahm. Das Parlament erhielt lediglich ein passives Zustimmungsrecht, was seinen Einfluss erheblich einschränkte. Bei den meisten Maßnahmen war überdies keine ausdrückliche Zustimmung erforderlich. Sie galt vielmehr als erteilt, wenn Bundesrat bzw. Bundestag innerhalb einer bestimmten Frist keinen Widerspruch einlegten.26 22 Das Finanzministerium wurde ermächtigt, zusätzliche Kredite in Höhe von 5 Mrd. DM aufzunehmen (StWG § 6 Abs. 3); vgl. auch Koch, Mittel. 23 Stern, S. 8; vgl. auch Münch/Stern; umfassend zur verfassungspolitischen Tragweite Zuck. 24 Fünfzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 109), BGBl. I, S. 581. 25 Stern, S. 14. 26 Lediglich bei einer Veränderung der Einkommens- und Körperschaftssteuer bedurfte es einer ausdrücklichen Zustimmung des Bundestages; das gleiche Recht stand dem Bundesrat bei

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Schließlich etablierte das Gesetz eine Reihe von politischen Planungsinstrumenten, mit denen ebenfalls eine erhebliche Stärkung des »gouvernementalen Steuerungspotentials« einherging.27 So führte das Gesetz die »Mittelfristige Finanzplanung« (MFP) für Bund und Länder ein. Sie wurde auch in die Neufassung von Art. 109 des Grundgesetzes aufgenommen und erhielt somit Verfassungsrang. Damit entsprach man zugleich den Beschlüssen der EWG, die schon seit 1964 eine mehrjährige Budgetplanung für ihre Mitgliedsstaaten vorsah.28 Die auf fünf Jahre ausgelegte Aufstellung der Haushalte von Bund und Ländern sollte vor allem drei Funktionen erfüllen: die staatlichen Ausgaben mit den zu erwartenden Einnahmen in Einklang bringen, öffentliche Investitionen entsprechend ihrer Prioritäten planen und die staatlichen Finanzen »in ihren Wechselbeziehungen zu der mutmaßlichen Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögens darstellen«.29 Konzipiert wurde die MFP als gleitende Planung, d.h. sie war jährlich anzupassen und hatte sich auf die mehrjährigen Investitionspläne der Ministerien zu stützen. Die MFP sollte den jährlichen Haushaltsplan keineswegs ersetzen. Sie war auch nicht vollzugsverbindlich und bedurfte keiner parlamentarischen Zustimmung, sondern war als »ein in Zahlen gekleidetes Regierungsprogramm«30 gedacht. Das am 9. Mai mit 336 Ja-Stimmen (bei 28 Enthaltungen) verabschiedete Stabilitäts- und Wachstumsgesetz fand breite, bisweilen enthusiastische Zustimmung. Nicht nur Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände priesen das Gesetz als »New Deal der Wirtschafts- und Finanzpolitik«.31 Auch in der Presse wurde es überwiegend positiv aufgenommen. Das galt gerade für wirtschaftsnahe und politisch eher konservative Organe, die von einem »Markstein« und einer »neuen Ära der Konjunkturpolitik« sprachen.32 Auch die im Vergleich zum Entwurf der Regierung Erhard stärker betonte Wachstumskomponente fand allgemeine Zustimmung. Schon im Dezember 1966 hatte »Die Welt«

einer Kreditlimitierung für die öffentlichen Haushalte sowie bei der Anordnung einer Einlagepflicht in die Konjunkturausgleichsrücklage für Bund und Länder zu (StWG §§ 15 u. 18). 27 Stern, S. 10. 28 Siehe oben, Kap. VIII.3. 29 StWG § 9. 30 Finanzbericht der Bundesregierung 1968, Bonn 1968, S. 106. Die MFP musste den Parlamenten allerdings zur Information vorgelegt werden. 31 Vgl. Die Wirtschaft zum Stabilitätsgesetz, in: Industriekurier, 21.2.1967; Konjunkturpolitik mit Zuckerbrot und Peitsche, in: Unternehmerbrief des Deutschen Industrieinstituts, 27.4.1967, S. 3–5; BAK, B 102/93258: Bundesvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände, Kommentar zum StWG, 18.10.1967. 32 A. Kammholz, Das Stabilitätsgesetz – ein Markstein, in: Spandauer Volksblatt, 14.5.1967; W. Schäfer, Neue Ära der Konjunkturpolitik, in: Industriekurier, 13.5.1967; vgl. auch weitere Äußerungen in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressestimmen zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, Nr.13/1967.

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erleichtert kommentiert, dass der Streit zwischen »Stabilitätsfanatikern« und »Wachstumsaposteln« ein glückliches Ende gefunden habe.33 Die anfänglichen Befürchtungen, das Gesetz könne die westdeutsche Marktwirtschaft in ein dirigistisches Fahrwasser hineinsteuern, schienen nun verflogen. Klaus Bernhardt lobte im »Handelsblatt« das »ordnungsgerechte Stabilitätsgesetz«, das »unter der Zuchtrute der Großen Koalition« recht zufrieden stellend ausgefallen sei.34 Auch Fritz Ullrich Fack, Wirtschaftsredakteur der FAZ und prinzipienfester Ordoliberaler, begrüßte das Gesetz als »Lenkrad für die Konjunktur«: Endlich könne »jenes unkoordinierte Hin und Her verhindert werden, das bisher in wirtschaftlichen Ungleichgewichtslagen – vornehmlich in der Hochkonjunktur – das Verhalten der verschiedenen öffentlichen Hände bestimmt hat«. Besonders wichtig sei, dass »das Stabilisierungsgesetz das Funktionieren des marktwirtschaftlichen Systems nicht beeinträchtigt, sondern verbessert«.35 Ähnlich sah dies auch Walter Slotosch in der »Süddeutschen Zeitung«: »Wenn Befürchtungen aufgetaucht sind, dieses Gesetz sei der Anfang eines staatlichen Dirigismus in der Wirtschaft, dann sollte man im Gegenteil eher um den Bestand der Marktwirtschaft fürchten, wenn diese neuen Möglichkeiten einer Lenkung und Gleichgewichtsteuerung in der Wirtschaft nicht geschaffen worden wären.«36 Und selbst die wirtschaftsliberale »Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft« unterstützte das Gesetz ausdrücklich: »Eine so verstandene Globalsteuerung«, hieß es in einer Stellungnahme vom Februar 1967, »ist Bestandteil des neoliberalen Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft.«37 Immerhin gab es auch Stimmen, welche den erheblichen Machtzuwachs des Staates als bedenklich einstuften,38 doch die Mehrheit der Kommentatoren bevorzugte, diese »Kröte« zu schlucken, »als später selbst vom Moloch einer Wirtschaftskatastrophe verschluckt zu werden«.39 Angesichts der im Frühjahr 1967 um sich greifenden Krisenstimmung traten Zweifel an der ordnungspolitischen Zulässigkeit des Gesetzes in den Hintergrund. Dabei wurde immer wieder die Erinnerung an die Große Krise von 1929 geweckt, deren verheeren33 Die Zeit ist reif für einen neuen Beginn in der Wirtschaftspolitik, in: Die Welt, 13.12.1966. 34 K. Bernhardt, Ordnungsgerechtes Stabilitätsgesetz, in: Handelsblatt, 12./13.5.1967. 35 F. U. Fack, Lenkrad für die Konjunktur, in: FAZ, 16.5.1967. 36 W. Slolotsch, Neue Möglichkeiten der Finanzpolitik, in: SZ, 12.5.1967. 37 BAK, B 102/93259: Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Die kritische Stunde des Stabilitätsgesetzes, 20.2.1967; auch der Eucken-Schüler Friedrich A. Lutz betonte 1967, dass »Globalsteuerung durch Geld- und Budgetpolitik mit liberalen Prinzipien vereinbar ist, ja geradezu von ihnen gefordert wird«. Ders., Die Stunde der Wahrheit – für Konsequenz in der Wirtschaftsordnung, in: Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Tagungsprotokoll Nr. 29, Ludwigsburg 1967, S. 20. 38 Vgl. etwa: Die Marktwirtschaft in einer neuen Phase, in: Stuttgarter Nachrichten, 12.5.1967; K. Ackermann, Die Wundermedizin, in: Mannheimer Morgen, 11.5.1967. 39 R. Müller, Die Kröte geschluckt, in: Frankfurter Rundschau, 12.5.1967.

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de Folgen durch ein energisches Handeln hätten verhindert werden können. Was Brüning seinerzeit versäumt habe, warnten Zeitzeugen wie Wilhelm Grotkopp oder Ferdinand Fried, müsse nun mit aller Kraft durchgesetzt werden.40 Das Wachstums- und Stabilitätsgesetz gebe der Regierung das dazu notwendige Instrumentarium. Auch liberale Beobachter hielten ein konsequentes Durchgreifen für erforderlich. Es bleibe zu hoffen, kommentierte Wolfgang Krüger in der »Zeit«, dass die »Bundesregierung dieses harte Gesetz, sich selbst nicht schonend, auch mit Härte praktizieren wird«.41 Ähnlich sah dies auch der »Rheinische Merkur«, der gegen eine Einschränkung der parlamentarischen Befugnisse in gewissem Umfang nichts auszusetzen hatte: »Jeder gute Arzneischrank enthält Medizinen und Gifte, oft kommt es nur auf die Dosierung an.«42 Die Debatte über die Ausweitung staatlicher Handlungsmacht war keineswegs auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt, sondern fand eine Fortsetzung in den kontrovers geführten Diskussionen über die Wahlrechtsreform und vor allem über die Einführung des Notstandsparagraphen.43 Doch während sich gegenüber diesen Eingriffen in die politische Verfassung erheblicher Widerstand – nicht zuletzt aus den Reihen der Studentenbewegung und Gewerkschaften – formierte, wurden die wirtschaftspolitischen Reformen nicht nur von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragen, sondern stießen auch in der öffentlichen Meinung auf allgemeine Zustimmung. Allerdings wurde bald deutlich, dass das Stabilitätsgesetz allein kaum ausreichende Instrumente bereitstellte, um den Wirtschaftsprozess wirkungsvoll zu steuern. Rasch sollte sich nämlich zeigen, dass das Gesetz in drei Bereichen erhebliche Schwachstellen aufwies. Dies betraf zum einen die äußerst vage formulierten Bestimmungen zur Wahrung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichtes. Im ursprünglichen Entwurf vom Sommer 1966 war dieses Problem unberücksichtigt geblieben. Die SPD hatte in ihrem Ergänzungsantrag vom 5. Oktober 1966 vorgeschlagen, einen zusätzlichen Paragraphen in das Gesetz aufzunehmen: Im Falle einer außenwirtschaftlichen Störung sollte die Bundesregierung die »Möglichkeiten der Außenhandelspolitik, der Steuerpolitik und der Wechselkurspolitik« nutzen, »soweit die Mittel der internationalen Koordination nicht ausreichen«.44 Konkret hieß das, dass im Extremfall sogar eine Anpassung der Wechselkurse nicht ausgeschlossen war, um konjunkturelle Schwierigkeiten zu beheben. Das war auch schon vom Sachver40 F. Fried, In der Wirtschaftspolitik beginnt jetzt eine neue Ära, Die Welt, 13.5.1967; W. Grotkopp, Stabilitätsgesetz, in: Welt am Sonntag, 14.5.1967; Grotkopp war sich allerdings nicht sicher, ob »wir heute klüger [sind] als vor knapp vier Jahrzehnten Hoover oder Brüning«. 41 W. Krüger, Das harte Gesetz, in: Die Zeit, 19.5.1967. 42 Wachstumsgesetz, in: Rheinischer Merkur, 19.5.1967. 43 Schmöckel/Kaiser, S. 267ff.; A. Schneider, S. 104–116 u. 132–165. 44 Zit. n. Möller/Böckenförde, S. 96.

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ständigenrat mehrfach gefordert worden.45 Doch vor allem die Unionsparteien und Unternehmerverbände wollten von einer konjunkturorientierten Währungspolitik nichts wissen.46 So einigte man sich schließlich auf eine recht allgemeine Formel, die zwar die außenwirtschaftliche Absicherung als Ziel definierte, jedoch völlig im Dunkeln ließ, auf welchem Wege dies erreicht werden sollte.47 Damit waren politische Konflikte geradezu vorprogrammiert. Der zweite Schwachpunkt des Gesetzes betraf die Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums. Führende Ökonomen wandten ein, dass ein stetiges Wachstums als Ziel definiert wurde, ohne dafür jedoch geeignete Instrumente zu schaffen. Denn die meisten Bestimmungen des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes richteten sich auf eine kurzfristige Korrektur der Nachfrage, womit konjunkturelle Schwankungen, nicht jedoch das langfristige Wachstum beeinflusst werden konnte.48 Die dritte Schwachstelle betraf die Einkommenspolitik. Nach verbreiteter Auffassung war die inflationäre Entwicklung der vorhergangenen Jahre maßgeblich auf die hohen Lohnabschlüsse bzw. auf die spezifische Lohn-PreisDynamik zurückzuführen, die sich in einer boomenden, durch hohe Auslastung der Kapazitäten geprägten Wirtschaftslage fast zwangsläufig einstellte. Gerade Erhard hatte dieses Problem immer wieder angesprochen, doch erstaunlicherweise bot der erste Entwurf des Gesetzes keinerlei Handhabe, um hier von staatlicher Seite einzugreifen. Demgegenüber setzte sich die SPDFraktion für eine stärkere Rolle des Staates in der Tarifpolitik ein. Im Falle einer Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichtes sollten den Tarifparteien »Orientierungshilfen« zur Verfügung gestellt werden, welche die Regierung mit Unterstützung des Sachverständigenrates vorzulegen hatte. Dies lief auf »Lohnleitlinien« hinaus, auch wenn man diesen Begriff mit Blick auf die verfassungsmäßig garantierte Tarifautonomie vermied. Ferner sah der Änderungsentwurf der SPD-Fraktion die Bildung einer »konzertierten Stabilisierungsaktion« vor, in der Regierungsvertreter, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften über ein gemeinsames Vorgehen beraten sollten. Beide Vorschläge wurden schließlich in der Neufassung des Gesetzes berücksichtigt.49 Doch schon bald sollte sich herausstellen, dass die »weiche« Institutionalisierung der Tarifpolitik mehr Sprengstoff barg als Schiller und seine Mitstreiter 45 Siehe oben, Kap. VI.3. 46 BAK, B 102/93259: BMWi, Kritik an den Änderungen zum Stabilitätsgesetz, 1.3.1967. 47 StWG § 4. Bei außenwirtschaftlichen Störungen sollte die Bundesregierung zunächst »alle Möglichkeiten der internationalen Koordination« ausschöpfen. »Soweit dies nicht ausreicht, setzt sie zur Wahrung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts die zur Verfügung stehenden wirtschaftspolitischen Mittel ein.« 48 Vgl. BAK, B 102/93259: Sauermann u. Haller an Schiller, 12.2.1967; Stellungnahme Tietmeyers vom 13.2.1967. 49 StWG § 3. Allerdings wurde auf die ursprünglich vorgesehene Einbindung des SVR verzichtet; die Unionsparteien hatten sich gegen eine solche Regelung ausgesprochen.

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in der SPD erwartet hatten. Die im Frühjahr 1967 ins Leben gerufene »Konzertierte Aktion« erwies sich trotz ihrer Anfangserfolge als außerordentlich komplizierte Konstruktion, die eine gefährliche politische Sprengkraft entfalten sollte.

2. Konzertierte Aktion – ein neuer »contrat social«? Noch vor der Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes wurde die Konzertierte Aktion als offizielles Gesprächsforum zwischen Regierung, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften ins Leben gerufen. Die treibende Kraft hinter dieser Initiative war Wirtschaftsminister Schiller, der im Dezember 1966 und Januar 1967 Vorgespräche mit den Spitzen der großen Tarifverbände führte, um für seine Pläne zu werben.50 Denn insbesondere innerhalb der Gewerkschaften gab es zunächst erhebliche Bedenken gegenüber einer staatlichen Institutionalisierung von Tarifgesprächen. Die Arbeitnehmervertreter befürchteten, dass in Krisenzeiten Druck auf die Gewerkschaften ausgeübt werden könnte, niedrige Lohnabschlüsse zu akzeptieren. Nur mit Mühe gelang es Schiller, die Gewerkschaften zu einer Mitarbeit zu bewegen.51 Auch wenn die Konzertierte Aktion gemeinhin mit dem Namen Schillers verknüpft wird, handelte es sich doch keineswegs um eine Erfindung des Wirtschaftsministers. Schon unter Schillers Vorgänger Kurt Schmücker hatten 1965 mehrere Gesprächsrunden (»Sozialer Dialog«) zwischen Regierung und Verbänden stattgefunden.52 Sie hatten jedoch keine substantiellen Ergebnisse gebracht und waren Anfang 1966 gegen die Empfehlung des Sachverständigenrates abgebrochen worden.53 Die »fünf Weisen« forderten in ihrem Jahresgutachten 1965/66 eine »konzertierte Stabilisierungsaktion«, um die schleichende Inflation wirksam zu bekämpfen.54 Nur durch eine »kollektive 50 Es handelte sich um Gespräche, die Schiller zunächst getrennt mit den Vertretern von BDA, BDI, DGB und DAG sowie dem Sachverständigenrat führte; vgl. Kern, S. 12. 51 Vgl. BAK, B 102/59374: Ministergespräch mit den Vorsitzenden des DGB und den Industrie-Gewerkschaften am 22.12.1966 u. am 24.1.1967; allerdings sprach sich der Vorsitzende der IG Metall, Otto Brenner, gegen die Konzertierte Aktion aus; vgl. auch BAK, B 102/93252: Stellungnahmen der Gewerkschaften zur Konzertierten Aktion 1967–71. 52 Die Gespräche fanden am 13./14.12.1965 u. am 21.1.1966 auf Initiative Schmückers statt; vgl. BAK, B 136/ 7453: Schlecht, Vermerk für Minister betr. Gesprächskreis mit den wirtschaftlichen Gruppen, 3.11.1965; Schmücker an Erhard, 8.11.1963; zum Verlauf der Gespräche B 136/ 7454: Verlautbarung über das Gespräch mit Vertretern der Wirtschaft am 14.12.1965; Pressekommunique über Gespräche mit der Wirtschaft am 21.1.1966. 53 Allerdings fanden weiterhin bilaterale »Expertengespräche«, v.a. zwischen BMWi und DGB statt, so etwa am 14.3.1966; umfassende Informationen in BAK, B 102/59380: Expertengespräche des BMWi mit dem DGB 1963–67. 54 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1965/66, S. 105–124.

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Verhaltensänderung der Tarifpartner« könne eine »Stabilisierung ohne Stabilisierungskrise und ohne Wachstumspause« erreicht werden«.55 Tatsächlich setzte sich seit der Mitte der sechziger Jahre unter Fachleuten und Politikern die Auffassung durch, dass eine wirkungsvolle Steuerung des Wirtschaftsprozesses ohne Einbindung der »autonomen Gruppen« nicht zu bewerkstelligen sei. Die »klassische Vorstellung«, so etwa Otto Schlecht 1965, dass der Staat »allein durch das Setzen von Daten die wirtschaftspolitischen Ziele sichern« könne, sei überholt. Die Tarifparteien würden durch ihre Abschlüsse die gesamtwirtschaftliche Entwicklung inzwischen so stark beeinflussen, dass der Spielraum der Politik immer kleiner werde.56 Dieser Auffassung schloss sich auch Herbert Giersch an. Um Wachstum und Stabilität der Wirtschaft zu sichern, müsse man früher oder später »Normen sozialadäquaten Verhaltens« finden, um die Tarifpartner zu einem wachstums- und stabilitätskonformen Verhalten zu bewegen. Giersch schloss in diesem Zusammenhang auch Lohnleitlinien nicht aus, die von der Regierung mit Hilfe des Sachverständigenrates vorgegeben werden müssten.57 Eine Verhaltensänderung der »großen Gruppen« könne man, so Giersch mit deutlicher Spitze gegen Erhard, nicht durch »Moralpredigten« erwirken, sondern nur durch eine umfassende, wissenschaftlich gestützte »Aufklärung«.58 Auch in Bundesbankkreisen gab es seit Mitte der sechziger Jahre Stimmen, die eine staatliche Steuerung der Tarifentwicklung befürworteten. Für Otmar Emminger, einflussreiches Mitglied des Bundesbankdirektoriums, mussten zumindest die »großen Linien der Lohn- und Gehaltspolitik« festgelegt werden. Dies erfordere jedoch weitreichende institutionelle Reformen. Es müsse, so Emminger, ein neuer »contrat social« zwischen Staat und Verbänden begründet werden.59 Derartige Überlegungen prägten Mitte der sechziger Jahre die wirtschaftspolitische Reformdebatte und bahnten der im Frühjahr einberufenen Konzertierten Aktion diskursiv den Weg. Nur auf den ersten Blick schien dabei die in den fünfziger Jahren geführte Diskussion über einen »Bundeswirtschaftsrat« wieder aufzuflammen. So forderte eine kleine Gruppe von CDU-Politikern um den Bundestagsabgeordneten Hans Dichgans die Einsetzung eines sol-

55 Ebd., S. 110; vgl. auch ders., Jahresgutachten 1966/67, S. 140f. 56 Vorlage vom 18.10.1965, zit. n. Schlecht, S. 12. 57 Giersch, Rationale Wirtschaftspolitik, S. 33f. Nach Giersch waren es die Gewerkschaften, »die den Wert des Geldes bestimmen. In logischer Konsequenz müßte man dann eigentlich erwägen, ob nicht der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes gleichzeitig Zentralbankpräsident sein sollte.« (Ebd., S. 20). 58 Ebd., S. 34. 59 O. Emminger, Ist die schleichende Inflation unser Schicksal?, Vortrag am 11.2.1965 in Saarbrücken; Text in: BAK, B136/7415.

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chen Gremiums anstelle der ihrer Meinung nach verfassungsrechtlich bedenklichen Konzertierten Aktion.60 Doch diese Stimmen blieben letztlich ohne Einfluss oder wirkten sogar kontraproduktiv. Gerade Kritiker der Konzertierten Aktion, allen voran Kurt Biedenkopf, führten die Ähnlichkeit mit dem Bundeswirtschaftsrat als Argument gegen diese Institution ins Feld. Biedenkopf, Professor für Wirtschaftsund Arbeitsrecht an der Universität Bochum, war 1966 zum Vorsitzenden der von Kiesinger eingesetzten »Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit der Mitbestimmung« ernannt worden. In zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen warnte er davor, dass die Konzertierte Aktion zu einer »Vergesellschaftlichung staatlichen Handelns« führen werde.61 Die Auswahl der Mitglieder des Gremiums sei willkürlich, und es werde zu einer verfassungsmäßig nicht gedeckten Verlagerung wirtschaftspolitischer Entscheidungen »aus der Öffentlichkeit des Parlamentes in außerparlamentarische Gremien« kommen. Die Konzertierte Aktion, so Biedenkopfs Resümee, sei daher nichts anderes als ein »verkapptes Wirtschaftsparlament«.62 Doch Biedenkopfs ordnungspolitisch motivierte Kritik an der Konzertierten Aktion fand nur wenig Resonanz. Bei aller Skepsis in Einzelfragen überwog Anfang 1967 eine ausgesprochen positive Erwartung gegenüber diesem Gremium, das sich auf eine breite Unterstützung in Wissenschaft, Politik und Verbänden berufen konnte.63 Wenn die vom liberalen Verfassungsdenken inspirierte Kritik nicht mehr griff, so hing das auch mit dem gewandelten Selbstverständnis des Gremiums zusammen. Es ging Schiller und seinen politischen Mitstreitern nicht mehr, wie noch den Befürwortern eines Bundeswirtschaftsrates in den fünfziger Jahren, um eine korporatistische oder gar ständestaatliche Fundierung des politischen Entscheidungsprozesses. Vielmehr orientierte man sich dezidiert am Verbändekonzept der angelsächsischen Interessengruppentheorie.64 Das hieß, die Existenz wirtschaftlicher Interessenorganisationen als tragendes Element einer pluralistischen Gesellschaft anzuerkennen. Die Entscheidungsgewalt über die Wirtschaftspolitik lag nach dieser Auffassung nicht allein bei Regierung und Parlament, sondern schloss die »autonomen Gruppen« wie Gewerkschaften und Unternehmerverbände ausdrücklich mit ein.65 Damit wurde zugleich das dichotomische, von einer strikten Trennung von Staat und Gesellschaft ausgehende Modell der konservativen Staatsrechtslehre überwunden, welches die Verbändediskussion der fünfziger Jahre noch geprägt hatte. 60 Zahlreiche Dokumente in BAK, N 281/36. 61 Biedenkopf, Rechtsfragen, S. 1009; vgl. auch ders., Rede vor der Mitgliederversammlung des Verbandes metallindustrieller Arbeitgeberverbände am 19.7.1968 (BAK, B 102/93253). 62 Ders., Ordnungspolitische Probleme, S. 321. 63 Vgl. BAK, B 102/93253: Konzertierte Aktion – Stellungnahmen Dritter. 64 Vgl. Krüger, Interessenpolitik, S. 91ff. 65 Vgl. BAK, B 102/93240: H. Tietmeyer, Konzertierte Aktion und Lohnpolitik, 8.2.1967.

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Im Verständnis Schillers sollte die Konzertierte Aktion gerade nicht zu einer Unterdrückung widerstreitender Interessen dienen, sondern eher eine intermediäre Plattform darstellen, damit bestehende Konflikte »eingegrenzt, rational erkennbar und damit lösbar werden«.66 Durch den Austausch von Informationen zwischen den wirtschaftspolitischen Akteuren sollte eine »stärkere Transparenz der Interessen und die stärkere Einsehbarkeit der ökonomischen und politischen Zusammenhänge« bewirkt werden.67 Letztlich ging Schiller davon aus, dass durch die Einbindung der Interessengruppen ein höheres Maß an »kollektiver Vernunft« sowie ein Konsens über die notwendigen politischen Maßnahmen zu erzielen sei. Gerade unpopuläre Schritte würden von den Interessengruppen eher akzeptiert, wenn man ihnen »die Gesetzestafel der rationalen Ökonomie« vorhielt. Die Konzertierte Aktion werde, so seine optimistische Erwartung, durch »rationale Kommunikation und Information« auch zu einem »gesellschaftliche[n] Integrationsprozeß« beitragen.68 Die Konzertierte Aktion verkörperte daher auch ein gewandeltes Politikverständnis, das sich nahtlos in das Schiller’sche Konzept der »aufgeklärten Marktwirtschaft« einfügte. Der politische Prozess ließ sich demnach durch wissenschaftliche Aufklärung, eine systematische Kooperation zwischen Staat und gesellschaftlichen Akteuren sowie eine Rationalisierung sozialer und wirtschaftlicher Konflikte optimieren.69 Die korporative Interessenvermittlung sollte dabei der makroökonomischen Globalsteuerung untergeordnet werden. In der wirtschaftshistorischen und sozialwissenschaftlichen Literatur ist die Konzertierte Aktion häufig als Spielart jenes korporatistischen Modells interpretiert worden, das die wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklung Deutschlands vom späten Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik hinein geprägt habe. Gerhard Lehmbruch spricht in diesem Zusammenhang von einer regelrechten »Pfadabhängigkeit der institutionellen Entwicklung«. Die Konzertierte Aktion nahm demnach »sozialpartnerschaftliche Ansätze wieder auf, die auf die Steuerungskrisen im und nach dem Ersten Weltkrieg zurückgingen und nach 1945 vor allem bei der Einführung der Mitbestimmung eine Rolle spielten«. Diese Ansätze, so Lehmbruch, »traten in der Regierungszeit Konrad Adenauers nach 66 K. Schiller, Marktwirtschaft mit Globalsteuerung. Rede vor dem Schweizerischen Institut für Auslandsforschung am 6.2.1967, in: Schiller, Reden, S. 41–56, hier S. 56. 67 Ders., Stabilität und Wachstum als wirtschaftspolitische Aufgabe (14.2.1967), in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1967, S. 120; ders., Zukunftsorientierte deutsche Wirtschaftspolitik (26.6.1968), in: ebd. 1968, S. 703. 68 Ders., Konjunkturpolitik, S. 14; vgl. auch ders., Rationelle Zusammenarbeit mündiger Menschen. Rede vor der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie in Essen, 11.5.1967, in: ders., Reden, S. 125–140. 69 Vgl. ders., Konjunkturpolitik, S. 15.

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einiger Zeit aus koalitionspolitischen Gründen in den Hintergrund, waren aber mit dem Eklektizismus der ›Sozialen Marktwirtschaft‹ … keineswegs unvereinbar.«70 Auch Werner Abelshauser geht von einer Kontinuität tripartistischer Verhandlungssysteme zwischen Staat, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden seit dem späten Kaiserreich aus. Die Konzertierte Aktion sei daher »kein völlig neues Element westdeutscher Interessenpolitik« gewesen, sondern habe lediglich »das bestehende, informelle Muster des Interessensausgleichs in die Öffentlichkeit« gerückt und institutionell verankert.71 Bei aller Kontinuität korporatistischer Arrangements dürfen jedoch die grundlegenden Neuerungen der Konzertierten Aktion nicht übersehen werden. Das betraf zum einen die Aufgaben des Gremiums. Es ging nicht in erster Linie darum, tarif- und sozialpolitische Entwicklungen unter staatlicher Vermittlung möglichst konfliktfrei zu gestalten. Im Vordergrund standen vielmehr genuin wirtschaftspolitische – genauer: prozesspolitische – Ziele: die Sicherung eines stabilen und gleichgewichtigen Wachstums im Rahmen des »magischen Vierecks«. Diese im Stabilitätsgesetz definierten Aufgaben der Konzertierten Aktion wurden im Laufe der Jahre immer stärker ausgeweitet. Zwar handelte es sich nach den ursprünglichen Intentionen um die Einbindung der »organisierten Gruppen« in ein genau definiertes politisches Handlungsfeld. Im Unterschied zu den »korporatistischen« Gremien der Weimarer Zeit ging es aber bei der Konzertierten Aktion nicht darum, hinter verschlossener Tür Entscheidungen über sozialpolitisch brisante Fragen herbeizuführen. Vielmehr sollte die Einrichtung vor allem der »laufenden gegenseitigen Information« dienen und die Folgen sozialer und politischer Entscheidungen transparent machen. Experten wie Otto Schlecht gingen sogar davon aus, dass ihr »pädagogischer, aufklärender Wert höher liegt als der unmittelbar operative Wert«.72 Zum anderen war die Konzertierte Aktion schon durch ihre Zusammensetzung mehr als ein rein korporatistisches Organ. Denn neben Vertretern der Regierung, Zentralbank, Gewerkschaften und Verbände nahm auch der Sachverständigenrat an den Sitzungen teil. Die Konzertierte Aktion stand daher in enger Beziehung zu jener »Verwissenschaftlichung« der Politik, welche die Entwicklung der Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren in wachsendem Maße prägte.73

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Lehmbruch, S. 59. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 412. Schlecht, S. 25. Vgl. auch Schanetzky.

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3. Die Konjunkturprogramme von 1967/68 und Schillers »Aufschwung nach Maß« Als die Konzertierte Aktion im Februar 1967 zu ihrer ersten Sitzung zusammentrat, stand die Wirtschaftspolitik ganz im Zeichen der Krisenüberwindung. Die Lage hatte sich seit dem Regierungswechsel weiter verschärft. Mitte Dezember 1966 hatte die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Nürnberg zum ersten Mal eine Sonderzählung durchgeführt, deren Ergebnis nicht sehr zuversichtlich stimmte: Innerhalb von zwei Wochen war die Arbeitslosenzahl von 111.000 auf 327.000 hochgeschnellt. Das war zwar immer noch eine sehr moderate Zahl. Doch der Trend deutete auf eine Verschärfung der Rezession hin, die nun erstmals auch den Arbeitsmarkt erfasste.74 Die optimistischen Erwartungen des Sachverständigenrates, der in seinem Jahresgutachten für 1967 ein reales Wachstum von 2,5% prognostiziert hatte, schienen immer unrealistischer.75 Nach einer EMNID-Umfrage vom Dezember 1966 gingen 40% der Bevölkerung davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage in den kommenden sechs Monaten verschlechtern würde, während lediglich 14% eine Besserung erwarteten.76 Die Bekämpfung der Rezession war daher das dringlichste Problem, das die Große Koalition in ihren ersten Wochen zu lösen hatte. Schon im Januar 1967 beschloss die Bundesregierung ein Konjunkturprogramm, das zusätzliche, durch Staatsanleihen finanzierte Investitionen in Höhe von 2,5 Mrd. DM sowie Sonderabschreibungen für private Investitionen in der Wirtschaft vorsah.77 Zugleich senkte die Bundesbank im Januar 1967 ihre Leitzinsen um 0,5%. Zu einem deutlicheren Zinssignal konnte sich der Zentralbankrat trotz des Drängens von Schiller, der im Dezember sogar an der Sitzung des Gremiums teilgenommen hatte, zunächst nicht durchringen.78 Wie ein im März 1967 angefertigtes Sondergutachten des Sachverständigenrates betonte, war die expansive Wirkung der geld- und fiskalpolitischen Maß74 BAK, B 102/59374: Steinjan an Schiller, 21.12.1966. 75 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1966/67, S. 130f. Allerdings hatte der SVR die Unsicherheit dieser Prognose hervorgehoben; ebd., S. 123. 76 EMNID-Information, Nr. 7, 1967, S. 1. 77 Kabinettsbeschluss vom 19.1.1967; vgl. BAK, B 102/59374: Bericht Tietmeyers, 23.1.1967. Die zusätzlichen Bundesmittel kamen vor allem den Etats des Verkehrs-, Post- und Forschungsministeriums zugute; die Sonderabschreibungen (10% für bewegliche und 5% für unbewegliche Wirtschaftsgüter) bezogen sich auf Investitionen im Zeitraum zwischen 20.1. und 31.10.1967. 78 HADB, B 330/Drs. 1966: Sitzung am 15.12.1966; der ZBR hielt eine Aufgabe der restriktiven Zins- und Kreditpolitik angesichts des Haushaltsdefizits für nicht angebracht. Erst in der Sitzung am 5.1.1967 wurde eine Senkung des Diskontsatzes um 0,5% vorgenommen (B 330/ Drs. 1967).

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nahmen viel zu schwach, um eine wirkliche Besserung herbeizuführen.79 Nach den Schätzungen der Wissenschaftler waren im Januar und Februar 1967 etwa 700.000 Vollarbeitskräfte weniger beschäftigt als ein Jahr zuvor; voraussichtlich würden im Jahresdurchschnitt etwa 6% des Produktionspotenzials nicht ausgelastet.80 Trotz des Konjunkturprogramms und steigender Auslandsnachfrage gingen die Sachverständigen von einem Nachfragedefizit von 30–40 Mrd. DM für 1967 aus. Das Gremium forderte daher weitere Ausgabenprogramme der öffentlichen Haushalte sowie eine kräftige Senkung der Leitzinsen durch die Bundesbank, um Investoren zu größeren Kreditaufnahmen zu bewegen. Allerdings sei ein derart expansiver Kurs nur dann ohne stabilitätspolitische Risiken, wenn die Tarifparteien lohnpolitische Zurückhaltung übten. Tatsächlich standen die im Februar begonnenen Gespräche der Konzertierten Aktion ganz im Zeichen der Tarifpolitik und deren Auswirkung auf die Konjunkturentwicklung. In den ersten beiden Sitzungen am 16. Februar und am 1. März präsentierte Schiller mit Unterstützung des Sachverständigenrates die neueste Jahresprojektion, die von einem Nullwachstum in der ersten Jahreshälfte 1967 ausging.81 Schiller verwies angesichts der düsteren Prognosen auf die Notwendigkeit maßvoller Abschlüsse in den anstehenden Lohnverhandlungen. Zwar sei die Regierung weit davon entfernt, sich in die Tarifpolitik einzumischen. Die Konzertierte Aktion biete ein Forum der freiwilligen Zusammenarbeit, »damit dirigistische Verwaltungsmaßnahmen vermieden werden könnten«. Dennoch seien Einschnitte im sozialen Bereich sowie Steuererhöhungen nur dann zu verhindern, wenn die Konjunktur rasch wieder Tritt fasse. Ferner stellte Schiller ein zweites Konjunkturprogramm in Aussicht, sofern die Lohn- und Preisentwicklung moderat blieb.82 Obgleich sich die Gewerkschaften von den Vorschlägen überrumpelt fühlten, zeigten sie sich am Ende kompromissbereit und akzeptierten die von Schiller vorgelegten Prognosen als »Orientierungshilfen« für die kommenden Lohnverhandlungen.83 De facto legten sich die Gewerkschaften auf niedrige 79 Sondergutachten »Zur Konjunkturlage im Frühjahr 1967«, abgedr. in: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1967/68, S. 260–268. 80 Ebd., S. 263f. Die Sachverständigen rechneten zu den 395.000 registrierten Arbeitslosen 150.000 Gastarbeiter, die die Bundesrepublik verlassen hatten, ferner 280.000 Kurzarbeiter (entsprechend 70.000 Vollarbeitskräften) sowie 100.000 Hausfrauen, Rentner usw., die konjunkturbedingt aus Arbeitsverhältnissen entlassen worden waren. 81 Vgl. zur Prognose BAK, B 102/93240: Raabe, Wirtschaftsentwicklung im Jahre 1967, 13.2.1967. 82 Vgl. BAK, B 102/59374: Sitzung am 14.2.1967. Vgl. auch zusammenfassend zu den Sitzungen des Jahres 1967: Konzertierte Aktion – Erfolgsbericht über das erste Jahr ihres Bestehens, Köln 1968 (Berichte des Deutschen Industrieinstituts zur Wirtschaftspolitik Nr. 3/1968). 83 Vor allem in der zweiten Sitzung am 1.3.1967 war es nach einem Bericht eines Arbeitgebervertreters zu einer regelrechten »Schlacht« gekommen; vgl. Notiz für Friedrich, 2.3.1967, in: ACDP, I-093, 15/1.

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Lohnzuwächse fest, sofern diese durch entsprechende Steigerungen in konjunkturell besseren Jahren kompensiert werden würden. Die Konzertierte Aktion sollte gewährleisten, dass dieser Ausgleich über mehrere Tarifperioden auch tatsächlich erfolge.84 Mit welchen Problemen diese Vereinbarung verbunden sein würde, war im Frühjahr 1967 noch nicht abzusehen. Zunächst erwies sich die Einbindung der Tarifparteien in die Wirtschaftspolitik als strategisch wichtiger Schritt. Schiller gelang es, die Unterstützung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände für ein zweites Konjunkturprogramm zu gewinnen, das im Juli nach langwierigen Verhandlungen auch vom Kabinett verabschiedet wurde.85 Nun entschloss sich auch die Bundesbank, den expansiven Kurs der Regierung durch eine Lockerung der Kreditpolitik zu flankieren. Bis zum Mai senkte der Zentralbankrat den Diskontsatz in mehreren Schritten auf 3%. Der Lombardsatz wurde bis August auf 3,5% und die Mindestreservesätze auf 6% reduziert.86 Zugleich erklärte sich Bundesbankpräsident Blessing trotz anfänglicher Bedenken bereit, das zweite Konjunkturprogramm zu unterstützen und die Finanzierung durch eine entsprechende Kreditpolitik zu erleichtern.87 Die nun etwas beherzteren Interventionen der Bundesbank resultierten auch aus der Einsicht, dass das erste Konjunkturprogramm praktisch keine Wirkung gezeigt hatte. Wie erwähnt, war sein Investitionsvolumen nach allgemeiner Auffassung viel zu niedrig angesetzt, um einen expansiven Konjunkturimpuls auszulösen. Hinzu kam, dass die vorgesehenen Mittel nur zögerlich abgerufen wurden. So waren bis Anfang Juli nur knapp 300 Mio. der vorgesehenen 2,5 Mrd. DM ausgegeben worden.88 Tatsächlich machten die Länder und Kommunen keine Anstalten, das Programm zu unterstützen. Zwar drängte Finanzminister Strauß die Länder- und Gemeinderegierungen, durch eine Erhöhung der Ausgaben zur Konjunkturbelebung beizutragen. Dies könne etwa durch den Abbau von Haushaltsresten, das Vorziehen geplanter Ausgaben sowie durch zusätzliche, kreditfinanzierte Investitionen geschehen.89 Doch angesichts der rückläufigen 84 Abgedr. in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1967, S. 196; vgl. auch die Gespräche zwischen DGB und BDA am 3.3.1967, in: ACDP, I-093, 120/4; vgl. auch die Vorüberlegungen Schlechts zu dem Gespräch (BAK, B 102/59374: Vermerk vom 27.2.1967). 85 Allerdings hatte es seitens der Arbeitgeberverbände zunächst Widerstand gegen ein zweites Konjunkturprogramm gegeben; vgl. Sitzung des BDA-Vorstandes am 13.4.1967 sowie Gespräch zwischen Schiller und dem BDI-Präsidium am 12.6.1967, in: ACDP, I-093, 120/3 u. 15/1. 86 Vgl. ZBR-Sitzungen am 16.2, 13.4., 11.5. und 27.7.1967, in: HADB, B 330/Drs. 1967. 87 Ebd., Protokoll der Sitzung am 12./13.7.1967 sowie BAK, B 1236/7425: Blessing an Kiesinger, 22.6.1967. 88 BAK, B 136/7447: Bericht vom 12.7.1967. 89 Vgl. BAK, B 136/7467: Rede Strauß’ vor den Länderfinanz- und Länderwirtschaftsminis-

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Einnahmen und einer ungewissen wirtschaftlichen Zukunft verhielten sich die Gemeinden und Länder abwartend. Da das Stabilitätsgesetz erst im Sommer in Kraft trat, besaß die Bundesregierung kaum eine Möglichkeit, auf das Haushaltsgebaren der Gebietskörperschaften Einfluss zu nehmen. Um die Jahresmitte häuften sich die Anzeichen, dass die westdeutsche Wirtschaft immer tiefer in den Strudel einer Depression hineingeriet. Im ersten Halbjahr lag das Sozialprodukt nach den Berechnungen der Wirtschaftsforschungsinstitute um etwa 2% unter dem Stand des Vorjahreszeitraums.90 Konjunktur- und Finanzexperten wie Clemens-August Andreae machten hierfür auch psychologische Faktoren verantwortlich. In der Wirtschaft herrsche eine »depressive Stimmung« vor, welche den konjunkturellen Abwärtstrend zusätzlich verstärke.91 Müller-Armack warnte in einer Denkschrift, die er Anfang Juli an den Bundespräsidenten und einige Regierungsmitglieder schickte, vor einer lang anhaltenden Krise der westdeutschen Wirtschaft.92 Von einer »Erreichung der Talsohle« könne überhaupt nicht die Rede sein, das Schlimmste stehe noch bevor. Müller-Armack machte hierfür das viel zu zaghafte Vorgehen der Regierung verantwortlich. Die bisherigen Konjunkturmaßnahmen hätten nicht gefruchtet, das Jahr 1967 sei »konjunkturpolitisch gelaufen«. »Wir stehen damit klar vor der Gefahr, in eine offene Krise hineinzukommen, in der, wie 1929–1933, die wirtschaftliche Stagnation die Finanzkrise verstärkt, die Behebung der finanzpolitischen Krise jedoch der wirtschaftspolischen Krise den Auftrieb gibt«. Es bestehe die Gefahr einer »Eskalation«, die nur noch durch ein »Deficit Spending in ganz anderer Größenordnung« verhindert werden könne.93 Müller-Armacks tiefen Pessimismus teilte man im Wirtschafts- und Finanzressort zwar nicht.94 Von der Notwendigkeit eines zweiten, weitaus umfassenderen Konjunkturprogramms war man aber auch dort überzeugt. Schon Anfang Juni hatte das Wirtschaftsministerium in einer Sitzung der Konzertierten Aktion die Umrisse eines zweiten Programms dargelegt. Dabei gelang es tern am 18.5.1967; vgl. auch B 102/59374: Konjunkturpolitische Beschlüsse des Kabinetts vom 12.4.1967. 90 Das Ifo-Institut errechnete eine negative Wachstumsrate in Höhe von 2%, das DIW 1,4%; vgl. B 102/59375: Diskussion der Daten in der Sitzung der KA am 19.7.1967. 91 C.-A. Andreae, Finanzpolitik und Konjunktur in der Bundesrepublik Deutschland, Vortrag gehalten am 2.5.1967 im Institut für Finanzwissenschaft und Steuerrecht Wien (Manuskript in: BAK, B 126/20343). 92 BAK, B 122/4921: A. Müller-Armack, Konjunkturelle Aussichten und konjunkturpolitische Aufgaben für das Jahr 1968, 1.7.1967. 93 Ebd. 94 BAK, B 122/4921: Bundespräsidialamt, Vermerk betr. Denkschrift Müller-Armacks, 11.7.1967; B 126/20343: Stellungnahme des BMF zum Gutachten von Müller-Armack, 17.7.1967; B 102/93241: Schlecht, Stellungnahmen zu dem Aufsatz von Prof. Müller-Armack, 1.8.1967; Schlecht an Schiller bezüglich Gespräch mit Müller-Armack, 1.8.1967.

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Schiller, die Bedenken der Arbeitgeberverbände gegen weitere, defizitfinanzierte Konjunkturspritzen zu zerstreuen.95 Schiller konnte sich hierbei auf die Schützenhilfe von Wolfgang Stützel und Herbert Giersch verlassen, die als Mitglieder des Sachverständigenrates an der Sitzung teilnahmen. Stützel betonte, dass die weit verbreitete Angst vor einer öffentlichen Kreditaufnahme »mit den Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaften unvereinbar« sei. Einen jährlichen »Verschuldenszuwachs von 10 oder 20 Mrd. DM« hielt er für »grundsätzlich unbedenklich«.96 Das vom Wirtschaftsministerium anvisierte zweite Konjunkturprogramm sah zusätzliche Investitionsausgaben in Höhe von 5,2 Mrd. DM vor.97 Davon entfielen je 2 Mrd. auf Länder und Kommunen, während der Bund zusätzliche Investitionen in Höhe von 1,2 Mrd. DM vornehmen sollte. Der zweite Eventualhaushalt, der Anfang Juli in einer dreitägigen Kabinettssitzung gemeinsam mit einer Neuordnung der Bundesfinanzen beschlossen und am 6. September vom Bundestag verabschiedet wurde, sah ferner eine steuerliche Entlastung von Altvorräten privater Unternehmen sowie eine vorübergehende Aussetzung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung vor. Anders als im ersten Konjunkturprogramm wurden nun auch die Länder und Gemeinden mit einbezogen. Geschickt nutzte Schiller hierbei das Instrument der Mischfinanzierung, das den Gebietskörperschaften einen Anreiz gab, die Investitionen auch tatsächlich durchzuführen.98 Der zweite Eventualhaushalt war somit zugleich der Auftakt für den »kooperativen Föderalismus«, der die bundesdeutsche Finanzpolitik fortan in wachsendem Maße prägen sollte und der durch die Finanzreform von 1969 als politisches Strukturprinzip verankert wurde. Zur Koordinierung wurde ein »Konjunkturrat für die Öffentliche Hand« eingesetzt, der am 13. Juli 1967 zu seiner ersten Sitzung zusammentrat.99 Das Gremium, das etwa viermal jährlich unter Vorsitz des Wirtschaftsministers tagte, entwickelte sich neben der »Konzertierten Aktion« zur wichtigsten Koordinationsinstanz für die Konjunktur- und Finanzpolitik. Ihm gehörten neben dem Vorsitzenden der Bundesfinanzminister, je ein Vertreter der einzelnen Länderregierungen sowie vier Vertreter der Gemeinden an.100 Neben grundlegenden Finanzierungsfragen 95 BAK, B 136/7406: Bericht über die Sitzung am 1.6.1967. 96 Ebd., S. 3. 97 BAK, B 136/7425: BMWi, Konjunkturpolitisches Programm/II, 23.6.1967; B 126/ 20343: Kabinettsvorlage vom 29.6.1967. 98 Vgl. ebd. sowie BAK, B 126/20343: BMWi/BMF, Vorbereitung weiterer konjunkturpolitischer Maßnahmen, 3.7.1967; B 136/7447: BMF, Konjunkturpolitische Maßnahmen durch Bund, Länder und Gemeinden, 12.7.1967; B 136/7425: BMF/BMWi, Zweites Programm der Bundesregierung zur Konjunkturpolitik, 4.8.1967; Diskussion und Verabschiedung durch den Bundestag: Dt. Bundestag, Sten. Ber., Bd. 64, Bonn 1967, S. 5957ff. 99 BAK, B 136/7467: Sitzung am 13.7.1967. 100 BAK, B 102/136789: Geschäftsordnung des Konjunkturrates (o.D.); B 136/7418: Bericht über Aufgaben und Tätigkeit des Konjunkturrates, 20.5.1969.

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hatte der Konjunkturrat auch über die Auswahl der zu fördernden Investitionsprojekte zu entscheiden. Allerdings wurde die Vorschlagsliste durch das BMWi erstellt, so dass die Federführung weiterhin in der Hand des Bundes blieb.101 Auch das zweite Konjunkturprogramm war, nüchtern betrachtet, alles andere als ein Erfolg. Zwar konnten bis Mitte Oktober 1967 die meisten Investitionsaufträge vergeben werden. Die Konjunkturinstitute verzeichneten im Herbst erste Anzeichen einer langsamen Erholung.102 Doch dies war offensichtlich nur zum Teil auf die staatlichen Programme zurückzuführen. So bescheinigte der Sachverständigenrat der Bundesregierung, mit den beiden Programmen einen »Schritt in die richtige Richtung« gemacht zu haben.103 Das Ausgabenvolumen sei aber viel zu gering, um die privaten Nachfrageausfälle zu kompensieren, zumal andere Ausgabenposten insbesondere in den Länderund Gemeindehaushalten gekürzt worden seien und die Erhöhung der Verbrauchssteuern kontraktiv gewirkt habe. Insgesamt sei man noch zu sehr am »fiskalischen Denken« der klassischen Budgetpolitik orientiert. Der Sachverständigenrat ging davon aus, dass die zusätzlichen Haushaltsausgaben erst dann expansiv auf die Konjunktur wirkten, wenn sie das Produktivitätswachstum deutlich überstiegen. Das sei jedoch nicht der Fall gewesen. Betrachte man die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden in ihrer Gesamtheit, könne man allenfalls von einer »konjunkturneutralen« Budgetpolitik sprechen. Dieser Tatsache war man sich im Wirtschaftsministerium durchaus bewusst, so dass dort seit Herbst 1967 über ein drittes Konjunkturprogramm nachgedacht wurde. Auch der Sachverständigenrat befürwortete in seinem Jahresgutachten 1967/68 eine deutliche Ausweitung der öffentlichen Investitionen. Die Prognose der »fünf Weisen« kam zu dem Schluss, dass das Produktionspotenzial 1968 und 1969 bei weitem nicht ausgelastet sein werde. Um den »erstrebenswerten Expansionspfad« zu erreichen, müsse der Staat seine Investitionen 1968 um 30% und 1969 um 25% steigern.104 Das erfordere allerdings eine weitere Kreditaufnahme von Bund und Ländern in Höhe von 10–12 Mrd. DM. Um die Preisstabilität nicht zu gefährden, sei ein »Rahmenpakt für Expansion und Stabilität« erforderlich, mit dem sich die Arbeitsmarktparteien über den Zeitraum von zwei Jahren auf die Einhaltung von Lohnleitlinien zu verpflichten hatten. Der Rat empfahl eine gestaffelte Erhöhung der Reallöhne um 9,5% in den kommenden 24 Monaten.105 101 Vgl. BAK, B 136/7467: Geberth, Bericht vom 28.7.1967; B 102/136789: Sitzung des Konjunkturrates am 9.8.1967. 102 Vgl. BAK, B 136/7426: Sitzung des Konjunkturrates am 12.10.1967. 103 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1967/68, S. 74–97. 104 Ebd., S. 158. 105 Ebd., S. 161.

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Dieser vom Wirtschaftsministerium mit Nachdruck unterstützte »Rahmenpakt« kam allerdings ebenso wenig zustande wie das von Schiller anvisierte dritte Konjunkturprogramm, das außer staatlichen Investitionen in Strukturprogramme auch eine Senkung der Vorsteuer auf Investitionen privater Unternehmen vorsah. Letzteres stieß auf den entschiedenen Widerstand der Länder und Gemeinden, die auf sinkende Steuereinnahmen hinwiesen. Zusätzliche Investitionen seien nur unter Inkaufnahme weiterer Verschuldung möglich, was man jedoch geschlossen ablehnte.106 Auch das Finanzministerium sperrte sich gegen das Vorhaben.107 Schließlich weigerten sich die Gewerkschaften in der Sitzung am 14. Dezember 1967, Lohnleitlinien zu akzeptieren. Da half es nun auch nicht mehr, dass der SVR-Vorsitzende Giersch in einer »mitreißenden Rede« an die wirtschaftspolitische Vernunft der Tarifparteien appellierte und den Gewerkschaften eine Politik der Wachstumsverhinderung vorwarf.108 Im Nachhinein war das Scheitern von Schillers drittem Konjunkturprogramm, das im Januar auch vom Kabinett abgelehnt wurde, ein Glücksfall. Die pessimistischen Erwartungen für 1968, die noch im Januar dieses Jahres in großen Teilen der Wirtschaft verbreitet waren,109 erwiesen sich nämlich als völlig unbegründet. Im Frühjahr 1968 zeichneten sich die Umrisse eines kräftigen wirtschaftlichen Aufschwungs ab, der sich im Laufe des Jahres konsolidierte. Auch ohne weitere Konjunkturmaßnahmen wuchs die westdeutsche Wirtschaft 1968 real um 6,3%, während die Arbeitslosenquote auf 1,5% zurückging. 1969 wurde sogar ein Wachstum von 7,8% erreicht.110 Obgleich man sich unter Experten darüber einig war, dass der Aufschwung in erster Linie von der Exportnachfrage getragen wurde, entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass die wohldosierten Konjunkturspritzen des Staates die Wirtschaft wieder auf den Wachstumspfad zurückgeführt hätten. Das Wachstums- und Stabilitätsgesetz schien seine erste Bewährungsprobe bestanden zu haben, und kaum jemand zweifelte noch an den Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Globalsteuerung. Die Zeit, in der die Gesellschaft den Fährnissen wirtschaftlicher Unsicherheit und konjunktureller Krisen ausgeliefert war, schien endgültig vorbei. Das wieder gewonnene Vertrauen in die Wirtschaftspolitik war aber auch auf eine neue Darstellung ökonomischer Zusammenhänge in der Öffentlich106 Vgl. BAK, B 102/136789: Sitzung des Konjunkturrates am 8.12.1967; B 136/7467: Sitzung des konjunkturpolitischen Unterausschusses des Konjunkturrates am 8.1.1968. 107 Vgl. BAK, B 102/59377: Strauß an Schiller, 15.12.1967. 108 BAK, B 136/7406: Sitzung der Konzertierten Aktion am 14.12.1967; vgl. auch B 102/ 59377: Vermerk über Vorbesprechung am 11.12.1967 sowie verschiedene Stellungnahmen (DGB, BDI, BDA usw.) in B 102/59377. 109 Vgl. z.B. BAK, B 102/59377: Fritz Berg an Schiller, 16.1.1968. 110 Holtfrerich, Geldpolitik, S. 350.

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keit zurückzuführen. Komplizierte wirtschaftspolitische Fragen wurden ausgiebig in der Tagespresse diskutiert und damit auch einem breiteren Publikum nahe gebracht. Schiller und Strauß, die trotz interner Konflikte nach außen Einigkeit demonstrierten, verkörperten auch habituell jenen neuen Politikstil, der ideologiefreies Planungsdenken und rationales Entscheidungshandeln miteinander verband. Vor allem Schiller vertrat die Ansicht, dass der »ökonomische Aufklärungsprozeß« einer massenmedialen Vermittlung wirtschaftlicher Sachverhalte bedürfe.111 Er popularisierte zahlreiche Begriffe der Nationalökonomie und fügte neue, einprägsame Wortschöpfungen hinzu. So gingen Formeln wie »antizyklische Finanzpolitik«‚ »Aufschwung nach Maß«, »soziale Symmetrie«, »Globalsteuerung«, und »Konzertierte Aktion« rasch in den allgemeinen politischen und journalistischen Sprachgebrauch ein.

4. Die Planung der Zukunft Das Konzept der Globalsteuerung war zukunftsorientiert. Das Stabilitätsgesetz sah vor, wirtschaftliche Fehlentwicklungen im Voraus zu erkennen und mit entsprechenden Maßnahmen zu bekämpfen. »Die repressive Krisenbeseitigung soll einer präventiven Krisenverhütung weichen.«112 Eine solche vorausschauende Politik bedurfte freilich verlässlicher Prognosen über zukünftige Entwicklungen. Nun war, wie bereits dargestellt, die wirtschaftswissenschaftliche Prognostik seit den fünfziger Jahren erheblich verfeinert worden. Vor allem das BMWi arbeitete eng mit den Konjunkturforschungsinstituten zusammen und forderte zusätzlich zu den SVR-Gutachten und den Monatsberichten der Bundesbank regelmäßig externe Gutachten ein.113 Ferner erarbeitete der Arbeitskreis »Gesamtswirtschaftliche Vorausschau« weiterhin dreimal jährlich eine Prognose für das laufende und das kommende Jahr, das die Grundlage für die wirtschafts- und finanzpolitische Planung des Bundes darstellte.114 Jedes Frühjahr legte der Arbeitskreis eine erste Prognose mit den wichtigsten Größen vor, die im Herbst noch einmal überprüft und

111 Schiller, Konjunkturpolitik, S. 13. 112 STWG, § 1. 113 So etwa Anfang 1968, als sich abzeichnete, dass die SVR-Prognose falsch war: BAK, B 102/134661: Übersicht über die Prognosen der Forschungsinstitute (DIW, Ifo, RWI, IfW) und des Intermin. AK »Gesamtwirtschaftliche Vorausschau« für 1968 und 1969; vgl. auch BAK, B 102/193588: Tietmeyer, Bericht über Kontakte des BMWi zur Wissenschaft, 5.1.1968. 114 Dokumentation in BAK, B 102/134656: Interministerieller AK »Gesamtwirtschaftliche Vorausschau«. Der Arbeitskreis trat üblicherweise im April/Mai, im Oktober und im Dezember zusammen. Die Schätzungen der Dezembersitzung dienten als Grundlage für die Projektion des Jahreswirtschaftsberichtes.

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revidiert wurde. Eine dritte umfassende Vorausschätzung der gesamten makroökonomischen Entwicklung erschien zum Jahresende.115 Diese Prognosen unterschiedlicher Herkunft hatte man in den Planungsabteilungen der Ministerien, den Bundestagsausschüssen und anderen wirtschafts- und finanzpolitischen Gremien schon seit längerer Zeit genutzt. Neu war, dass die prospektiven Daten zur Grundlage politischer Entscheidungen gemacht wurden. So stützte die Konzertierte Aktion ihre Arbeit vielfach auf die statistischen »Tableaus«, die vom Wirtschaftsministerium und vom Sachverständigenrat vorgelegt wurden.116 Nach dem Stabilitätsgesetz war die Bundesregierung ferner verpflichtet, jährlich im Januar einen Jahreswirtschaftsbericht zu veröffentlichen. Neben einer Stellungnahme zum Jahresgutachten des Sachverständigenrates mussten darin die für das laufende Jahr angestrebten wirtschafts- und finanzpolitischen Ziele dargelegt werden. Eine weitere Veränderung betraf den Zeithorizont. Anders als bisher sollte wichtigen politischen Entscheidungen ein Planungshorizont von vier bis fünf Jahren zugrunde gelegt werden. Man ging daher dazu über, neben den Jahresprognosen mehrjährige »Zielprojektionen« zu erstellen, um Ministerien, Parlamenten und privaten Verbänden geeignete »Navigationsunterlagen«117 zur Verfügung zu stellen. Sie dienten insbesondere Gremien wie der Konzertierten Aktion, dem im Juli 1967 eingesetzten »Konjunkturrat«, dem Arbeitskreis »Steuerschätzungen« sowie anderen Planungsstäben der Bundesressorts als Arbeitsgrundlage, die – wie ein Ministerialbeamter aus dem Finanzministerium anmerkte – ungemein »datenhungrig« waren.118 Das BMWi erstellte im Frühjahr 1967 erstmals eine Fünfjahresprojektion der wichtigsten volkswirtschaftlichen Größen bis 1971.119 Hatte man bisher meist mit einfachen Trendextrapolationen gearbeitet, kamen nun aufwändigere VGR- und Prognoseverfahren zum Einsatz. Sie wurden durch die unter Schiller personell erweiterte Unterabteilung »Gesamtwirtschaftliche Analysen und Projektionen« in Kooperation mit den Planungsabteilungen des BMF und anderer Ministerien erstellt. Allerdings verzichtete man zunächst auf den Einsatz ökonometrischer Großmodelle, wie sie etwa Wilhelm Krelle mit seiner Forschergruppe erarbeitet hatte.120 Sie galten aufgrund der Vielzahl endogener Variablen und starren Gleichungsschemata als inflexibel. Da die Parameter des Modells meist aus langen statistischen Zeitreihen abgeleitet wurden, ließen sich kurzfristig eintretende Entwicklungen und Sonderfaktoren 115 Raabe, Prognosen. 116 So schon in der ersten Sitzung am 14.2.1967, Protokoll in BAK, B 102/59374. 117 Finanzbericht der Bundesregierung 1969, Bonn 1969, S. 127. 118 Wolkersdorf, S. 43. 119 BAK, B 136/7425: BMWi, Projektion der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung bis 1971, 4.4.1967; B 102/59374: BMWi, Die zeitliche Entwicklung des Bruttosozialproduktes 1966– 1971, 18.5.1967. 120 Siehe oben Kap. III.3.

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nicht ausreichend berücksichtigen. Die zuständige Abteilung im BMWi und der Arbeitskreis »Gesamtwirtschaftliche Vorausschau« verwendeten daher ein alternatives, mehrstufiges Verfahren, bei dem das Kreislaufschema zerlegt und in mehreren Arbeitsgängen sämtliche Variablen gesondert berechnet bzw. geschätzt wurden. Dabei griff man auf die Definitionen und Abgrenzungen der VGR-Tabellen des Statistischen Bundesamtes und der Bundesbank zurück. In einem ersten Schritt wurde eine langfristige »Perspektivprojektion« auf der Basis eines einfachen angebotstheoretischen Wachstumsmodells erstellt, welche den Wachstumsspielraum über einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren (mit Zwischenwerten im Fünfjahresabstand) schätzten. Dabei wurde eine obere und eine untere (seit 1968 auch eine mittlere) Wachstumsvariante berechnet.121 Die Wachstumsprognose stützte sich vor allem auf die Schätzung des Arbeitsangebotes, da die statistischen Basisdaten für diesen Bereich als besonders zuverlässig galten. Den Kapitalbestand benutzte man nur als Hilfsgröße zur besseren Abschätzung der Arbeitsproduktivität. Auf der Basis der langfristigen »Perspektivprojektion« wurde dann in einem zweiten Schritt eine »Zielprojektion« für die kommenden fünf Jahre erstellt.122 Da die zukünftige Entwicklung maßgeblich von politischen Entscheidungen abhing, musste dabei auch eine gewisse Vorentscheidung über das angestrebte Wachstum sowie den Grad der Vollbeschäftigung, den Außenbeitrag und die Inflationsrate getroffen werden. Dazu bestimmte man »Eckwerte«, die sich im Wesentlichen an den Vorstellungen des »magischen Vierecks« orientierten. Auf dieser Basis wurde dann die Entwicklung der verschiedenen VGR-Konten für die kommenden fünf Jahre geschätzt. Dieses hier nur vereinfacht dargestellte Verfahren der »sukzessiven Approximation« erwies sich als äußerst aufwändig, da nicht nur verschiedene Quellen herangezogen, sondern auch immer wieder Plausibilitäts- und Konsistenzüberprüfungen durchgeführt werden mussten.123 Die Berechnung der verschiedenen Variablen war zwar mathematisch weniger anspruchsvoll als in rein ökonometrischen Modellen; doch die Parameter wurden vielfach nach »subjektivem Gutdünken« der Experten in den Fachabteilungen der Ministerien und den verschiedenen Arbeitskreisen (Gesamtwirtschaftliche Vorausschau, Sozialbudget, Steuerschätzung usw.) angefertigt. Nicht mehr das rein mathematische und durch Außenstehende nachprüfbare Prognoseverfahren der Ökonometrie bestimmte die Ergebnisse, sondern das »Fingerspitzengefühl der Planer«.124 121 BAK, B 102/248412: BMWi, Perspektiven der langfristigen Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, 2.5.1968; dass., Perspektiven der langfristigen Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahre 1980, 25.10.1968. 122 BAK, B 102/7406: BMWi, Mittelfristige Wirtschaftsentwicklung bis 1971, 5.5.1967. 123 Ausführlich zur Schätzmethode: Raabe, Projektionen. 124 Nachtkamp, S. 45.

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Hier zeigte sich bereits, wie durchlässig die Grenze zwischen statistischen Prognosen und volkswirtschaftlicher Rahmenplanung geworden war. Frühere Vorbehalte, wie sie gegenüber der Programmierung auf EWG-Ebene formuliert worden waren, schienen nun keine Rolle mehr zu spielen.125 Ganz im Gegenteil: Mit der »sukzessiven Approximation« fand ein Projektions- und Planungsverfahren Eingang in die deutsche Wirtschaftspolitik, das seit vielen Jahren von der französischen Planbürokratie praktiziert wurde. Die lange Zeit penibel durchgehaltene Trennung von wissenschaftlichen Schätzmethoden und politischen Zielvorgaben war damit aufgehoben worden. Auch wenn die Fünfjahresprojektion als Planungsgrundlage für verschiedene Politikfelder konzipiert war, bildete die durch das Stabilitätsgesetz vorgesehene »Mittelfristige Finanzplanung« für Bund und Länder ihr eigentliches Exerzierfeld.126 Mit diesem Instrument sollte eine mehrjährige Planung der gesamten Staatsausgaben ermöglicht und deren volkswirtschaftliche Auswirkung vorausberechnet werden. Es handelte sich folglich um ein »quantifizierendes Regierungsprogramm«127, das – im Unterschied zum Jahreshaushalt – keine rechtlich bindende Wirkung hatte, aber »politisch ebenso verbindlich wie jede andere Regierungserklärung« war.128 Die MFP erblickte ebenso wie das Stabilitätsgesetz als »Kind der Not« das Licht.129 Die Haushaltskrise des Bundes hatte sich seit Mitte der sechziger Jahre kontinuierlich verschärft. Im Herbst 1966 fehlten etwa sechs Mrd. DM für 1967, und für die folgenden Jahre bis 1970 wurde sogar eine Deckungslücke von 9–11 Mrd. DM veranschlagt.130 Zwar gelang es der Regierung Kiesinger unter großen Anstrengungen, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.131 Doch allen Verantwortlichen war klar, dass eine Konsolidierung des Budgets ohne eine moderne Finanzplanung mit mehrjährigem Zeithorizont nicht zu bewältigen war. Tatsächlich stand die Bundesregierung im Sommer 1967 erneut vor dem Dilemma, ein weiteres Haushaltsdefizit in Milliardenhöhe zu vermeiden, ohne jedoch durch drastische Ausgabenkürzungen den konjunkturellen Abwärtstrend noch weiter zu beschleunigen. Zur gesetzlichen Vorbereitung der MFP wurde im April 1967 ein »Kabinettsausschuß für mittelfristige Finanzplanung« eingesetzt, dem außer Kiesin125 Da diese Jahresprojektion in Form einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erstellt wurde, kam es immer wieder zu Missverständnissen, weil normative Projektionen und statistische Prognosen verwechselt wurden; vgl. BAK, B 102/59374: BMWi, Erläuterungen zur Projektion der allg. Wirtschaftsentwicklung, 18.5.1967. 126 BAK, B 102/93186: BMWi, Projektionen der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung sowie Haushalts- und Finanzplanungen in der Bundesrepublik Deutschland, 18.8.1969. 127 Neumark, Mittelfristige Finanzplanung, S. 12. 128 Wolkersdorf, S. 34. 129 Ebd., S. 31. 130 H.-U. Spree, S. 76. 131 A. Schneider, S. 76f.

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ger, Strauß und Schiller Schatzminister Schmücker und Bundesratsminister Schmid angehörten.132 Unter großem Zeitdruck arbeitete der Ausschuss bis Ende Juni einen Finanzplan für 1967–71 aus, der Anfang Juli nach einer dreitägigen »Marathonsitzung« vom Bundeskabinett verabschiedet wurde.133 Es würde zu weit führen, die Einzelheiten der steuer- und haushaltspolitischen Reformen des Jahres 1967 darzustellen. Die Konsolidierung der Bundesfinanzen wurde durch einen Mix aus Steuererhöhungen (Mehrwertsteuer, Ergänzungsabgabe auf höhere Einkommen), Ausgabenkürzungen (v.a. in den Sozialetats sowie bei den Ausgaben für Verkehr, Verteidigung und Landwirtschaft) und durch eine Erhöhung der Schuldenaufnahme erreicht.134 Das Revolutionäre der MFP war, dass sie mehrere Aufgabenbereiche mit Hilfe eines einzigen Planungsinstrumentes bündelte. Erstens koordinierte sie die Steuer- und Haushaltspolitik von Bund, Ländern und Kommunen in einem rationalen Planverfahren. Zweitens handelte es sich um ein zentrales Instrument zur Steuerung von Konjunktur und Wachstum. Drittens ließen sich damit öffentliche Investitionen über längere Perioden im Voraus planen. Allerdings stellte sich schon bald heraus, dass die Kombination so unterschiedlicher und komplexer gouvernementaler Steuerungsfunktionen zu einer Überforderung der MFP führte. Die anfängliche Euphorie schlug daher rasch in eine allgemeine Ernüchterung um. Das Hauptproblem betraf die große Unsicherheit der statistischen Vorhersagen, die der MFP zugrunde lagen. Schon die Jahresprognosen, die der Sachverständigenrat und der Arbeitskreis »Gesamtwirtschaftliche Vorausschau« anfertigten, erwiesen sich als viel zu ungenau. So hatte der Sachverständigenrat für 1967 ein reales Wachstum von 2,5% prognostiziert, tatsächlich schrumpfte die westdeutsche Wirtschaft in diesem Jahr um 0,2%.135 Nicht viel zuverlässiger waren die Schätzungen des interministeriellen Arbeitskreises. Selbst im Februar 1967, als die Rezession schon klare Konturen gewonnen hatte, ging das Gremium von einem Wachstum von 2,0% für das gesamte Jahr aus. Zerknirscht musste das Gremium im Herbst 1967 zugegeben, dass man sich vollkommen verrechnet hatte. Dagegen beruhten die im November vorgelegten revidierten Daten mit einem erwarteten negativen Wachstum von -1% auf zu pessimistischen Annahmen.136 Die Symptome der im Herbst 1967 einsetzenden konjunkturellen Erholung hatte man zwar erkannt, die Dyna132 Der Ausschuss trat erstmalig am 4.4.1967 zusammen; Wolkersdorf, S. 32. 133 Vgl. BAK, B 136/7447: BMF an Mitglieder des »Finanzkabinetts«, 1.6.1967; vgl. außerdem A. Schneider, S. 78. 134 Die Maßnahmen wurden wirksam durch das Gesetz zur Verwirklichung der mehrjährigen Finanzplanung, Teil I: Zweites Steueränderungsgesetz (21.12.1967) und Teil II: Finanzänderungsgesetz (21.12.1967). 135 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1966/67, S. 130f. 136 BAK, B 102/93240: BMWi, Abweichungen der derzeitigen Schätzungen von den Ergebnissen der Zielprojektionen für 1967, 9.11.1967.

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mik des Aufschwungs aber vollkommen unterschätzt. Für 1968 erwartete das BMWi im Dezember 1967 ein Wachstum von maximal 4% – tatsächlich lag es bei 6,5%!137 Auf noch dünnerem Eis bewegte man sich bei längeren Prognosezeiträumen. So fußte eine im Frühjahr 1968 vorgelegte langfristige »Perspektivprojektion« von auf viel zu optimistischen Annahmen. Angesichts einer günstigen Entwicklung von Arbeitsangebot und Produktivität war man davon überzeugt, dass »die Aussichten für das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik im Jahrzehnt 1970 bis 1980 günstiger werden als im vorangegangenen Jahrzehnt«. Vier bis fünf Prozent reales Wirtschaftswachstum seien daher ohne weiteres zu erreichen.138 Eine zwei Jahre später angefertigte, bis 1985 reichende Perspektivprojektion ging sogar von noch besseren Wachstumsmöglichkeiten aus. Die Arbeitslosenquote werde 1985 unter günstigen Bedingungen 0,7%, unter pessimistischen Annahmen 1,1% betragen.139 Entsprechend unrealistisch waren auch die Daten der auf diesen Perspektiven aufbauenden Zielprojektionen. Angesichts solch eklatanter Fehleinschätzungen geriet die MFP »fast zu einem Glücksspiel«.140 Da die Ausgabensteigerungen der öffentlichen Haushalte in etwa der Wachstumsrate des Sozialproduktes entsprechen sollten, war die Finanzplanung von der Qualität der Prognosen abhängig. So sah die MFP für den Zeitraum 1968–72 eine jährliche Zuwachsrate der Staatsausgaben von 6 bis 6,5% vor, da man eine Steigerung des Sozialproduktes von etwa 6% erwartete.141 Zwar ermöglichte das Prinzip der »gleitenden« Planung jährliche Anpassungen in gewissem Umfang. Doch bei ständigen Korrekturen drohte das gesamte Planungssystem aus den Fugen zu geraten oder zumindest an Verbindlichkeit zu verlieren. Schon frühzeitig warnten daher auch Fachpolitiker der Koalition vor überzogenen Erwartungen. Die MFP sei alles andere als eine »Wunderwaffe«, betonte etwa der Staatssekretär im BMF Karl Maria Hettlage, sondern allenfalls ein »nationales Erziehungsinstrument«.142 Gerade das wissenschaftliche Planungspotenzial werde bei weitem überschätzt. Dieser Auffassung schloss sich auch der CDU-Wirtschaftsexperte Manfred Luda an, der den Verheißungen einer »Wirtschaftspolitik des Scientismus« skeptisch gegenüberstand. Insbe-

137 BAK, B 102/59377: BMWi, Bericht vom 12.12.1967. 138 BAK, B 102/248412: BMWi, Perspektiven der langfristigen Wirtschaftsentwicklung in der BR Deutschland, 2.5.1968; vgl. auch die leicht revidierten Daten ebd., BMWi, Perspektiven der langfristigen Wirtschaftsentwicklung in der BR Deutschland bis zum Jahre 1980, 25.10.1968. 139 BAK, B 102/248412: BMWi, Perspektiven der langfristigen Wirtschaftsentwicklung in der BR Deutschland bis zum Jahre 1985, 20.10.1970. 140 Nachtkamp, S. 85. 141 A. Möller, Mittelfristige Finanzplanung, S. 12. 142 Hettlage, S. 234.

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sondere habe sie Erwartungen in die Prognostizierbarkeit und Gestaltbarkeit wirtschaftlicher Prozesse geweckt, die nicht zu erfüllen seien.143 Doch es war nicht nur die Unsicherheit der Prognosen, welche die Skepsis gegenüber der MFP nährten. Der erste Plan von 1967 galt Finanzfachleuten als viel zu unspezifisch und wies »so große Mängel auf, daß er seinen Namen kaum verdient«.144 Trotz erheblicher Verbesserungen waren auch die weiteren Pläne alles andere als befriedigend. Nicht zuletzt fehlte eine klare und verbindliche Formulierung ausgabenpolitischer Ziel- und Prioritätensetzung.145 Ein weiteres Problem der MFP ergab sich aus der föderalen Struktur der bundesdeutschen Finanzordnung. Eine umfassende, auf mehrere Jahre angelegte Planung aller öffentlichen Ausgaben und Einnahmen setzte eine vertikale Kooperation von Bund, Ländern und Gemeinden voraus. Ferner mussten auch die Sozialversicherungsträger in dieses System eingebunden werden. Im Oktober 1968 wurde daher von der Bundesregierung ein Ausschuss für Sozialbudget und soziale Strukturfragen gebildet, der sich aus Vertretern der zuständigen Ressorts (einschließlich des Kanzleramtes) zusammensetzte. Unter anderem war das Gremium dafür verantwortlich, auf der Basis der mittelfristigen Zielprojektion des BMWi ein fünfjähriges »Sozialbudget« zur Ergänzung der MFP zu erstellen. Für die finanzpolitische Koordination von Bund, Ländern und Gemeinden wurde im März 1968 der Finanzplanungsrat gegründet, dem der Bundesfinanz- und der Bundeswirtschaftsminister, die Finanzminister der Länder sowie vier Vertreter der Gemeinden angehörten. Da dieses Gremium jedoch nur »Empfehlungen« aussprechen konnte, darüber hinaus jedoch keinerlei materiellen Einfluss auf das Finanzgebaren der Gebietskörperschaften hatte, war seine Stellung außerordentlich schwach. Von Anfang an hatten daher Experten – darunter die Troeger-Kommission – die Aufstellung eines »Gesamtplanes« durch Bund, Länder und Kommunen gefordert, der sämtliche Einnahmeund Ausgabeposten verbinden sollte.146 Eine solche Forderung erwies sich aber angesichts der divergierenden Interessen und nicht zuletzt der über mehrere politische Legislaturperioden hinwegreichenden MFP als vollkommen illusorisch. Eine umfassende und zielgerichtete Planung der Finanz- und Wirtschaftspolitik scheiterte daher auch an den strukturellen Problemen, die man in den folgenden Jahren durch immer neue Reformanstrengungen zu beheben versuchte. So schuf die Finanzreform von 1969 die Grundlage für eine vertikale Integration der Finanzpolitik.147 Im Rahmen des »großen Steuerverbundes« 143 144 145 146 147

Luda, S. 119. Neumark, Mittelfristige Finanzplanung, S. 20. Kamp. Kommission für die Finanzreform, S. 131ff.; G. Hagemann, S. 50. Vgl. umfassend Renzsch, S. 209–260.

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wurden Einkommens-, Körperschafts- und Umsatzsteuern zu gemeinsamen Steuern von Bund und Ländern. Zugleich führte das Gesetz »Gemeinschaftsaufgaben« ein, zu denen der Ausbau der Hochschulen, die regionale Wirtschaftsförderung und die Verbesserung von Agrarstruktur und Küstenschutz gehörten. Für diese Bereiche gab es fortan ein übergreifendes Planungsverfahren mit festem Finanzierungsschlüssel. Schließlich wurde dem Bund die Möglichkeit eingeräumt, Kommunen und Ländern »zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung wirtschaftlichen Wachstums« Finanzhilfen zu bewilligen. Ein weiterer Schritt zur Bündelung finanzpolitischer Aufgabenplanung bildete die Ende der sechziger Jahre begonnene kommunale Gebietsreform, welche die Zahl der politischen Gemeinden zwischen 1968 und 1975 von 24.282 auf 10.898 reduzierte.148 Schließlich sollten die offenkundigen Defizite der MFP durch neue Planungstechniken beseitigt werden, die seit den fünfziger Jahren in den USA entwickelt worden waren. Dabei handelte es sich zum einen um die NutzenKosten-Analyse (NKA), die seit der Verabschiedung der Bundeshaushaltsordnung im August 1969 für alle größeren Investitionsprojekte des Staates verpflichtend war.149 Mit der NKA fand erstmals ein wohlfahrtstheoretisch abgeleitetes Verfahren Eingang in die Finanzpolitik. Bei diesem außerordentlich aufwändigen Prüfverfahren wurden die gesellschaftlichen Nutzen und Kosten von größeren öffentlichen Investitionsprojekten (v.a. im Infrastrukturbereich) in monetäre Größen umgerechnet und auf einen Gegenwartswert abdiskontiert. Dadurch sollte eine wissenschaftliche Entscheidungsgrundlage für die Auswahl und Durchführung von Investitionsvorhaben geschaffen werden. Trotz methodischer Schwierigkeiten, etwa was die Erstellung kollektiver Nutzenfunktionen oder die Bestimmung der Diskontierungsrate betraf, konnte sich dieses Verfahren durchsetzen und wurde in der reformierten Bundeshaushaltsordnung vom August 1969 als Standardprüfverfahren verankert.150 Das zweite, sich mit der NKA zum Teil überschneidende Verfahren war das »Planning-Programming-Budgeting-System« (PPBS), das Präsident Johnson 1965 für den amerikanischen Bundeshaushalt eingeführt hatte.151 Das PPBS griff grundlegende Überlegungen der Systemanalyse auf und zielte darauf, 148 Vgl. Unruh u.a. 149 Entsprechende Regelungen wurden in den Haushaltsordnungen aller Bundesländer eingeführt. 150 BHO 1969, § 7 Abs. 2. Zur Vorbereitung und Implementierung vgl. BAK, B 102/93259: Sitzung zw. Vertretern des BMWi und BMF – Aufstellung mehrjähriger Investitionsprogramme, 2.2.1968; vgl. auch Stolber. 151 Vgl. Rürup, Programmfunktion.

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sämtliche öffentliche Investitionen in einem überbudgetären Planungsprozess zu koordinieren. Das dafür vorgesehene dreistufige Verfahren (1. operationale Definition und Quantifizierung der Ziele, 2. Analyse der Zielrealisierung und Auswahl unter verschiedenen Alternativen, 3. Ausgabenberechnung und Budgetierung) erwies sich jedoch als viel zu aufwändig. Als man in der Bundesrepublik am Ende der sechziger Jahre über die Einführung der PPBS im Rahmen der ressort- und länderübergreifenden Aufgabenplanung nachdachte, war das Verfahren in den USA schon wieder auf dem Rückzug und wurde 1971 von der amerikanischen Regierung sogar ganz aufgegeben. Dennoch empfahl eine 1968 von der Bundesregierung eingerichtete »Projektgruppe für Regierungs- und Verwaltungsreform« die Implementierung dieses hochkomplexen Planungssystems, was dann allerdings erst unter der sozialliberalen Koalition 1970 geschah. 152 Als oberste Planungsbehörde diente die unter Horst Ehmke im Kanzleramt eingerichtete Planungsabteilung.153 Doch die Hoffnung, man werde die offensichtlichen Defizite der MFP durch das neue integrierte Planungsverfahren beseitigen können, erfüllte sich nicht. Weiterhin blieb der Jahreshaushaltsplan das wichtigste Instrument der öffentlichen Finanzpolitik, während die übergreifenden Planungsverfahren lediglich als schmückendes Beiwerk dienten.

5. Brüchiger Konsens: Das Scheitern der Konzertierten Aktion und die Aufwertungskrise 1969 Die eklatanten Schwächen der Prognose- und Planungssysteme erwiesen sich auch für die Konzertierte Aktion zunehmend als Belastung. Wie erwähnt, hatten die Gewerkschaften im Rezessionsjahr 1967 auf substanzielle Lohnerhöhungen verzichtet.154 Angesichts der pessimistischen Prognosen hielten sie sich auch im darauf folgenden Jahr zurück. Trotz grundsätzlicher Bedenken gegen jegliche Festlegung von Lohnleitlinien orientierten sich die Tarifparteien an dem prognostizierten Produktivitätswachstum. Da dieses jedoch deut152 Vgl. Bericht zur Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung, vorgelegt von der durch die Bundesregierung am 25.6.1968 beschlossenen Projektgruppe für Regierungs- und Verwaltungsreform beim Bundesminister des Inneren, 1. Bericht (1969), Bonn 1969; vgl. auch Süß. 153 Flohr. 154 Die Konzertierte Aktion hatte sich im Frühjahr 1967 auf tarifliche Lohnerhöhung von 3,5% geeinigt, erreicht wurden allerdings nur 3%. In einigen Branchen – etwa in der Bauindustrie – kam es sogar zu einem Rückgang der Stundenlöhne; BAK, B 102/93240: BMWi, Abweichungen der derzeitigen Schätzungen von den Ergebnissen der Zielprojektionen für 1967, 9.11.1967; ACDP, I-093, 120/3: Vorstandssitzung der BDA, 6.12.1967; Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1967/68, S. 5f.

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lich höher als erwartet ausfiel, gingen die Lohnstückkosten in den Jahren 1967–69 inflationsbereinigt sogar zurück.155 Der Sachverständigenrat konstatierte für 1967/68 einen Lohn-lag von 2–2,5%.156 Diese Situation sorgte vor allem deshalb für Unmut bei den Gewerkschaften, weil gleichzeitig die Gewinne privater Unternehmen in die Höhe schossen. Die Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit stiegen 1968 um 17,5%, obwohl der Interministerielle Arbeitskreis lediglich 11,8% erwartet hatte.157 Das BMWi hielt an dieser Prognose auch dann noch fest, als sich längst ein neuer Boom abzeichnete und obwohl der SVR-Vorsitzende Giersch forderte, die Expansion »mit möglichst kräftigen Lohnerhöhungen« zu unterstützen.158 Die Arbeitnehmervertreter fühlten sich durch die Prognosen getäuscht und gerieten auch unter Druck der eigenen Basis. Tatsächlich lagen die Tariflöhne sogar unter den Effektivlöhnen, weil viele Unternehmen übertariflich bezahlten.159 Damit wurde aber nicht nur die Autorität der Gewerkschaften, sondern auch die Konzertierte Aktion beschädigt. Wie Otto Schlecht 1968 konstatierte, war die »Konstellation des Rezessionsjahres für den Beginn der Konzertierten Aktion günstig«, weil die »außergewöhnliche Konjunktursituation einen großen Teil der Interessenkonflikte« unterdrückt habe. Insofern stehe, so Schlechts Prophezeiung, »der Konzertierten Aktion im weiteren Aufschwung eine härtere Bewährungsprobe noch bevor«.160 Das galt umso mehr, als die Gewerkschaften einer tarifpolitischen Zurückhaltung nur um den Preis zukünftiger Einkommensverbesserungen zugestimmt hatten. Diesen »Wechsel auf die Zukunft«, erkannte BDA-Präsident Balke schon 1967, werde man früher oder später einlösen müssen.161 Die Furcht vor einer Verschärfung der Tarifauseinandersetzungen wurde auch durch den Studentenprotest geschürt. Ein Übergreifen auf die Arbeitnehmerschaft wollte man im Frühjahr 1968 nicht mehr ausschließen. Gerade Schiller hob die pazifizierende Wirkung der Konzertierten Aktion hervor, die bislang dazu beigetragen habe, dass »die tragenden Kräfte in der Wirtschaft von der zunehmenden Unruhe in der Jugend nicht berührt« worden seien.162 Um einen breiten Konsens dieser Kräfte auch in Zukunft sicherzustellen, müssten

155 Vgl. Giersch u.a., Fading Miracle, S. 132. 156 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1968/69, S. 79; der SVR errechnete den Lohn-lag aus der Differenz von realem Lohnzuwachs und dem nach den Regeln einer kostenniveauneutralen Lohnpolitik möglichen Zuwachs. 157 Vgl. Daten in: Braun, S. 11. 158 BAK, B 126/7406: Sitzung der Konzertierten Aktion am 7.3.1968. 159 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1968/69, S. 6. 160 Schlecht, S. 32. 161 Balke auf einer Vorstandssitzung der BDA am 13.4.1967, Protokoll in: ACDP, I-093, 120/3. 162 BAK, B 136/7406: Sitzung der Konzertierten Aktion am 30.4.1968.

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»in der Konzertierten Aktion auch grundlegende ordnungs- und gesellschaftspolitische Fragen überlegt werden«.163 Tatsächlich erschloss sich das Gremium innerhalb von kurzer Zeit zahlreiche neue Themenfelder, die über die ursprünglich vorgesehene Aufgabenstellung weit hinausgingen. Dazu wurden eine Reihe von Fachgremien ins Leben gerufen, so im Juni 1967 der »Arbeitsausschuß zur Beratung der mittelfristigen Zielprojektion«, im November 1967 der »Arbeitskreis Automation« sowie einen Monat später die »Arbeitsgruppe mittelfristige Einkommensentwicklung und Vermögensbildung«. Im Oktober 1968 nahm der »Arbeitsausschuß zur Prüfung der Lohnfortzahlung« seine Tätigkeit auf. Angesichts der kaum noch zu überblickenden Aufgaben konstituierte sich im November 1969 ein »Lenkungsausschuß«.164 Die Ausweitung der Kompetenzen erleichterte gerade in der Anfangsphase die Konsensfindung, führte jedoch auch dazu, dass das Gremium mit immer neuen und komplexeren Aufgaben konfrontiert wurde. Fast alle großen sozialpolitischen Konfliktthemen der späten sechziger Jahre – von der Lohnfortzahlung über die Neuordnung der Krankenversicherung bis hin zur Steuerund Vermögenspolitik – wurden in diesem Gremium behandelt.165 Durch die Einrichtung von Sonderausschüssen konnten zwar bestimmte Konfliktfelder ausgelagert werden, doch die Entscheidungsprozesse wurden dadurch keineswegs erleichtert und die Sitzungen der Konzertierten Aktion immer länger und unergiebiger; sie dauerten selten kürzer als sechs Stunden. Damit einher ging auch eine Erweiterung des Teilnehmerkreises. Waren zu Anfang außer den Fachministerien, der Bundesbank und den Sachverständigen nur die Spitzenverbände der Gewerkschaften und der Arbeitgeber in dem Gremium vertreten, wurden nach und nach auch Repräsentanten der Banken, des Handels, der Verbraucherorganisationen, Beamten, Bauern usw. beteiligt. Die Zahl der Teilnehmer stieg von anfangs 34 auf etwa 50–70 Personen an.166 Die Konzertierte Aktion wandelte sich somit zu einem »multipartistischen Gremium«,167 das die unterschiedlichsten Interessen in Einklang bringen musste und dadurch zunehmend überfordert wurde. Wenn die Konzertierte Aktion ihre Aufgaben immer weniger bewältigen konnte, so lag das allerdings auch an den politischen Divergenzen innerhalb der Großen Koalition. Strauß und Schiller hatten in den ersten zwölf Monaten 163 BAK, B 102/59376: BMWi, Pressemitteilung, 10.11.1967; diese Forderung wurde von den Gewerkschaften ausdrücklich unterstützt; vgl. z.B. O. Brenner, Sicherheit und Fortschritt durch eine starke IG Metall. Rede auf dem 9. Gewerkschaftstag der IG Metall in München am 5.9.1968, abgedr. in: Schriftenreihe der IG Metall für die Bundesrepublik Deutschland, Nr. 53, S. 10–16. 164 Siekmann, S. 107f. 165 Vgl. Sitzungsprotokolle in BAK, B 102/59374–59377. 166 Beyfuß, S. 20, 38 u. 53; Seitenzahl, S. 86–92. 167 Krüger, Interessenpolitik, S. 46.

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nach dem Regierungswechsel außerordentlich gut zusammengearbeitet.168 Der bayerische Politiker, der sich mit großem Elan in die trockene finanzpolitische Materie eingearbeitet hatte,169 unterstützte mit Nachdruck den keynesianischen Ansatz Schillers und trieb die finanzpolitischen Reformen mit großem Einsatz voran. Doch bereits im Winter 1967 zeichnete sich ein Ende der harmonischen Beziehungen zwischen den beiden Politikern ab. Hierbei ging es auch um das Instrument der Konzertierten Aktion, das von Schiller dominiert und als Plattform der politischen Selbstdarstellung benutzt wurde. Im Dezember 1967 kam es zu einem ersten Konflikt, als der Wirtschaftsminister ohne Rücksprache mit Strauß neue steuerliche Investitionsanreize vorschlug. Strauß, der persönlich nie an den Sitzungen der Konzertierten Aktion teilnahm, drohte sogar damit, von einer Beteiligung des BMF »in Zukunft Abstand zu nehmen«.170 Auch Arbeitsminister Hans Katzer (CDU) fühlte sich durch Schillers eigenmächtiges Handeln übergangen und zog sich im Herbst 1967 vorübergehend aus dem Gremium zurück.171 Nachdem es im Sommer 1968 erneut zu Konflikten zwischen Schiller und Strauß gekommen war – der Wirtschaftsminister hatte entgegen einem Kabinettssbeschluss die Einführung der Lohnfortzahlung ab 1. Januar 1969 angekündigt –,172 ordnete Kanzler Kiesinger an, die Themen vorab vom Kabinettsausschuss für Wirtschaft beraten zu lassen, damit die Konzertierte Aktion »als Veranstaltung der Bundesregierung und nicht etwa nur eines einzelnen Ministers erscheint«.173 Doch Schiller zeigte wenig Bereitschaft, sich der Kabinettsdisziplin zu beugen.174 Überdies kam es schon wenige Monate später erneut zu heftigen Kontroversen in der Wirtschaftspolitik. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, ob angesichts der inzwischen boomenden Konjunktur und der hohen Leistungsbilanzüberschüsse eine Aufwertung der D-Mark erforderlich sei. Schon im Krisenjahr 1967 hatte sich die Leistungsbilanz aktiviert, denn die Exporte stiegen trotz der Rezession an, während die Einfuhren infolge der rückläufigen 168 Vgl. auch C. Ammon, Das Konzert des Karl Maynard Schiller, in: DAG-Hefte für Wirtschafts-, Sozial und Konjunkturpolitik, Jg. 6, H. 2, April 1967, S. 60–63. 169 So berichtet Stoltenberg, S. 152, dass Strauß während wichtiger Besprechungen Lehrbücher zur Nationalökonomie studierte. 170 BAK, B 102/59377: Strauß an Schiller, 15.12.1967; allerdings lenkte Schiller in seinem Antwortschreiben vom 20.12.1967 (ebd.) ein. 171 Vgl. BAK, B 102/59376: Katzer an Schiller, 3.11.1967. 172 Vgl. BAK, B 136/7407: Geberth, Politische Aktivität von Minister Schiller, 17.9.1968; Schiller hatte in der Frage der Lohnfortzahlung allerdings im Einvernehmen mit Arbeitsminister Katzer gehandelt. 173 Vgl. BAK, B 136/7407: Kabinettsbeschluss vom 2.10.1968; Zitat aus Geberth, Bericht über die Konzertierte Aktion am 18.10.1968 (ebd.). 174 Kiesinger erinnerte Schiller in einem Schreiben vom 9.12.1968 noch einmal an den Kabinettsbeschluss vom 2.10.1968, nachdem dieser eine Sitzung der Konzertierten Aktion für den 16.12.1968 einberufen hatte, ohne davon das Kabinett zu informieren; Schreiben in BAK, B 136/7407; vgl. auch ebd., Vermerk Geberths vom 9.12.1968.

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Binnennachfrage einbrachen. Das Leistungsbilanzsaldo nahm infolgedessen deutlich zu, und zwar von 1,7 Mrd. DM im Jahre 1966 auf 11,4 Mrd. 1967. Im Jahre 1968 wurde sogar ein Überschuss von 13,2 Mrd. DM erzielt.175 Diese Entwicklung erschien zunächst deshalb unproblematisch, weil gleichzeitig die Kapitalbilanz – vor allem durch langfristige Auslandsinvestitionen deutscher Unternehmen – ein hohes Defizit aufwies und folglich den Saldo der Leistungsbilanz einigermaßen ausglich. Die Situation begann sich jedoch im Laufe des Jahres 1968 zu ändern, als im Zuge internationaler Währungsturbulenzen große Mengen ausländischen Kapitals nach Deutschland flossen. Die Ursache war das wachsende Preisgefälle zwischen der Bundesrepublik und dem Ausland, namentlich gegenüber Frankreich, Großbritannien und den USA, die anders als die Bundesrepublik 1966/67 keine Rezession erlebt hatten und hohe Inflationsraten aufwiesen. Hinzu kamen spekulative Kapitalbewegungen, denn auf den internationalen Devisenmärkten wurde eine substanzielle Änderung der Währungsparitäten zugunsten der Bundesrepublik erwartet. Dollar, Pfund und Franc gerieten heftig unter Druck, und es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Währungen gegenüber der D-Mark abgewertet würden.176 Die Bundesrepublik befand sich daher in einem ähnlichen Dilemma wie Anfang der sechziger Jahre. Angesichts des hohen Kapitalzuflusses drohte eine importierte Inflation, die mit den geldpolitischen Instrumenten der Bundesbank nicht zu verhindern war, da eine Zinserhöhung den Geldzufluss aus dem Ausland nur noch verstärkt hätte. Um die offene außenwirtschaftliche Flanke zu schließen, blieben nur zwei Möglichkeiten: eine deutlich höhere Inflation zu akzeptieren, um das Preisgefälle gegenüber dem Ausland auszugleichen (Anpassungsinflation), oder die D-Mark aufzuwerten. Eine Aufwertung wurde vor allem von der Bundesbank und dem Sachverständigenrat favorisiert. Die »Fünf Weisen« hatten sich bereits im Dezember 1964 für die Einführung flexibler Wechselkurse eingesetzt. Dieser Auffassung schloss sich 1967 auch der Wissenschaftliche Beirat beim Wirtschaftsministerium an.177 In einem dem Bundeskanzler im Juli 1968 mündlich vorgetragenen Sondergutachten plädierte der Sachverständigenrat mit Nachdruck für eine Aufwertung der D-Mark.178 Auch der Zentralbankrat sah angesichts der im September 1968 auf die Bundesrepublik zurollenden Devisenwelle keine Alternative mehr zu einer Paritätskorrektur.179 175 Holtfrerich, Geldpolitik, S. 351. 176 Sachverständigenrat, Jahresgutachten1968/69, S. 22–34; Holtfrerich, Geldpolitik, S. 421–423. 177 Gutachten vom 25.11.1967 »Zusammenhang zwischen außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Preisstabilität«, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1966–71, S. 509–517. 178 Zencke, S. 63, für diese Auffassung vgl. auch Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1968/69, S. 68ff. 179 Vgl. Holtfrerich, Geldpolitik, S. 421–423.

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Doch die Bundesregierung stand einer Aufwertung zu diesem Zeitpunkt ablehnend gegenüber, da man befürchtete, dass dies die deutsche Ausfuhr belasten und den gerade erst erreichten wirtschaftlichen Aufschwung gefährden könne. Obwohl die USA, Frankreich und Großbritannien die Bundesrepublik im November auf einer Währungskonferenz der »Zehnergruppe« in Bonn erheblich unter Druck setzten, hielt man von westdeutscher Seite an der bestehenden Parität fest und beschloss statt dessen eine steuerliche Entlastung der Einfuhren um 4% und eine entsprechende Belastung der Ausfuhren.180 Diese »Ersatzaufwertung« erwies sich jedoch als völlig unzureichend, um das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht zu beseitigen, das im Übrigen weit außerhalb der nach dem Stabilitätsgesetz zulässigen Margen lag.181 Hatten Strauß und Schiller auf der Bonner Konferenz vom Herbst 1968 noch an einem Strang gezogen, scherte Schiller im Frühjahr 1969 unvermittelt aus der Reihe der Aufwertungsgegner aus. Ursache waren die wachsenden Befürchtungen vor einer konjunkturellen Überhitzung, die sich im Laufe des Frühjahrs abzeichnete und die nach Auffassung von Experten und nicht zuletzt der Bundesbank zu bedenklichen Preissteigerungen führen konnten. Noch im Dezember 1968 hatte Schiller in Abstimmung mit dem Sachverständigenrat zusätzliche Investitionsausgaben im Bereich der regionalen Strukturförderung bereitgestellt, um die Nachfrageausfälle durch die »Ersatzaufwertung« zu kompensieren.182 Die Bundesbank warnte allerdings schon Anfang Januar, dass die Produktivitätsreserven ausgeschöpft seien und nicht eine Stimulierung, sondern ganz im Gegenteil eine Dämpfung der Konjunktur angebracht sei.183 Dass Schiller sich dieser Auffassung anschloss und nun plötzlich selber ein Konjunkturdämpfungsprogramm befürwortete, hatte sicher auch politische Gründe. Der Wirtschaftsminister wollte angesichts des beginnenden Wahlkampfes um jeden Preis den Eindruck vermeiden, »die CDU/CSU mit dem BMF setze sich für mehr Stabilität ein als die SPD mit dem BMWi«.184 Schon im Februar schlug er Strauß ein umfassendes Stabilisierungsprogramm vor, das die Stilllegung öffentlicher Haushaltsmittel, die Erleichterung der Einfuhr und eine vorübergehenden Aussetzung der degressiven Abschreibung privater 180 Hildebrand, S. 320f. 181 Der Saldo der Leistungsbilanz belief sich 1968 auf etwa 3% des Bruttosozialproduktes. Zur Aufrechterhaltung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichtes im Sinne des Stabilitätsgesetzes wurde ein Außenbeitrag von 1,5% des BSP als ausreichend angesehen, um das Defizit in der Übertragungsbilanz (durch Gastarbeitertransfers, Zahlungen an die EWG, Wiedergutmachungen und Entwicklungshilfe) auszugleichen; vgl. Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1968/ 69, S. 22. 182 Vgl. BAK, B 136/7467: Sitzung des Konjunkturrates am 18.11.1968. 183 BAK, B 102/93253: Blessing an Schiller, 6.1.1969. 184 So jedenfalls die Einschätzung des Kanzleramtes: BAK, B 136/7418: Vermerk Gerberth vom 24.2.1969.

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Investitionen vorsah.185 Das daraufhin am 18. März vom Kabinett eilig verabschiedete »Programm zur Sicherung der Preisstabilität« war die letzte Maßnahme, welche Schiller und Strauß gemeinsam in die Wege leiteten.186 Dieses Programm, das außer Einfuhrerleichterungen vor allem die zeitliche Streckung von Bundesausgaben in Höhe von gerade einmal 1,57 Mrd. DM vorsah, war alles andere als ein »Kontraktionsprogramm«. Es sollte, wie Schiller betonte, lediglich die »Konjunktur sanft bremsen«. Auch Strauß beteuerte, man wolle nur »etwas Dampf aus dem Kessel nehmen«, nicht aber »durch kahlhiebartige Maßnahmen eine Art Vollbremsung« herbeiführen.187 Tatsächlich fiel das Programm nicht nur in seiner fiskalpolitischen Wirkung viel zu dürftig aus, sondern ging auch am eigentlichen Problem vorbei, die hohen Leistungsbilanzüberschüsse auszugleichen und die spekulativen Devisenimporte einzudämmen. Das galt auch für die von der Bundesbank seit April schrittweise vorgenommene Erhöhung der Leitzinsen, die wie ein Magnet auf ausländisches Kapital wirken musste. Allein zwischen 28. April und 9. Mai flossen der Bundesbank Devisen in Höhe von 17 Mrd. DM zu. Es war die »bis dahin größte Spekulationswelle gegen den D-Mark-Wechselkurs«.188 Schiller, der schon Anfang März hatte durchblicken lassen, dass er nicht mehr gegen eine Paritätsänderung war, trat nun in aller Öffentlichkeit für eine Aufwertung der D-Mark ein. Da sich Kiesinger und Strauß auf eine Beibehaltung der Paritäten festgelegt hatten, war der politische Konflikt vorprogrammiert, ja, die Aufwertungsfrage geriet nun zum »Wahlkampfthema Nr. 1«.189 Dabei standen Kanzler Kiesinger, Strauß und die Spitzenverbände der Industrie auf der einen Seite als strikte Verfechter fester Wechselkurse, während Schiller (und mit ihm weite Teile der SPD), Gewerkschaften sowie FDP und Bundesbank geschlossen für eine Aufwertung eintraten.190 In dieser Pattsituation war eine politische Entscheidung nicht mehr möglich, und die im Grunde von den meisten Fachleuten als unvermeidlich angesehene Paritätskorrektur musste bis nach der Bundestagswahl vom 28. September verschoben werden. Dennoch gelang es Schiller und der SPD letztlich, als Sieger aus diesem Konflikt hervorzugehen. Nicht zuletzt die Tatsache, dass der Sachverständigenrat eindeutig auf der Seite der Aufwertungsbefürworter stand, verlieh der Position der Sozialdemokraten an Überzeu185 BAK, B 136/7418: Schiller an Strauß, 23.2.1969. Strauß war über diese Initiative, die nicht mit ihm abgestimmt war, »stark verärgert«. Offensichtlich wollte Schiller dem Finanzminister zuvorkommen. Vgl. ebd., Geberth, Vorschläge von Minister Schiller zur preispolitischen Absicherung, 24.2.1969. 186 BAK, B 136/7418: BMWi, BMF, Programm der Bundesregierung zur Sicherung der Preisstabilität, 13.2.1969. 187 Zit. n. Zencke, S. 66. 188 Holtfrerich, Geldpolitik, S. 425. 189 Zencke, S. 69. 190 Baring, S. 139–147.

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gungskraft, schienen sie doch alle sachlichen Argumente auf ihrer Seite zu haben. Demgegenüber verstrickte sich Strauß in scharfe Polemik mit dem Sachverständigenrat, dem er »Meinungsmanipulation« und einen Missbrauch seiner politischen Neutralität vorwarf.191 Diese Angriffe gingen letztlich ins Leere, zumal der Sachverständigenrat nun seinerseits an die Öffentlichkeit trat. Im Mai 1969 unterschrieben mehr als 100 Professoren ein von Herbert Giersch und seinem Saarbrücker Kollegen Egon Sohmen initiiertes Manifest zur Aufwertung der D-Mark.192 Es ist in der Forschung unumstritten, dass die Aufwertungsdebatte Schiller und der SPD die Möglichkeit gab, sich wirtschaftspolitisch auf Kosten des Koalitionspartners zu profilieren. »Für die SPD erwies sich die unerledigte Aufwertung als Gnadengeschenk des Himmels.«193 Bei aller Widersprüchlichkeit, die Schillers Position in dieser Frage seit Herbst 1968 kennzeichnete, konnte er doch erheblich Kapital aus der im Sommer an Schärfe gewinnenden Diskussion ziehen. Meinungsumfragen bewiesen seine wachsende Popularität, welche die von Strauß und Brandt weit übertraf und sogar an das Ansehen des Kanzlers heranreichte. Umfragen zeigten, dass die Bevölkerung in der Überwindung der Rezession von 1966/67 die bedeutsamste Leistung der Großen Koalition sah, und dieses Verdienst wurde vor allem dem Wirtschaftsminister gut geschrieben.194 Schiller konnte auf dieses Kapital in der währungspolitischen Kontroverse zurückgreifen, zumal die große Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler seine Position unterstützte. Wenn die SPD bei der Bundestagswahl 1969 mit 42,7% der Stimmen ihr bislang bestes Wahlergebnis erzielte und gemeinsam mit der FDP die – wenn auch äußerst knappe – Mehrheit der Sitze im Bundestag erhielt, war das zweifellos darauf zurückzuführen, dass die Wirtschaftspolitik erneut im Vordergrund des Wahlkampfes gestanden hatte. Wie schon drei Jahre zuvor, wurde der »Machtwechsel« durch eine wirtschaftspolitische Krise – in diesem Fall die Krise der internationalen Währungsordnung von Bretton Woods und ihre Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft – maßgeblich beeinflusst. Doch anders als 1966/67 war der wirtschaftspolitische Reformelan inzwischen längst verbraucht. Es ging nun nicht mehr um eine grundlegende Neugestaltung der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik. Vielmehr musste sich nun erweisen, ob die Globalsteuerung in ihrer bestehenden Form geeignet war, die bundesdeutsche Wirtschaft durch die schwierigen Krisenzeiten der siebziger Jahre hindurch zu steuern.

191 Die Mai-Revolte der Professoren, in: Der Volkswirt, 15.6.1969; die übrigen Äußerungen zit. n. Der Bonner Eklat, in: Der Volkswirt, 18.7.1969 sowie Engelhardt, S. 199. 192 Giersch, Anfangszeit, S. 25. 193 Baring, S. 146. 194 Ebd, S. 137 u. 146.

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XII. Ausblick: Globalsteuerung in der Krise 1970–1974 Für die Entwicklung der »Globalsteuerung« markiert das Jahr 1969 in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur. Zum einen war ihre politische und gesetzliche Implementierung mit der Verabschiedung der Finanz- und der Haushaltsreform abgeschlossen. Der im Herbst 1969 gebildeten sozial-liberalen Koalition stand nun ein »Arsenal umfassend gestaltender Interventionstätigkeit« zur Verfügung.1 Mehr noch, die SPD – welche unter der neuen Regierung mit Ausnahme des Landwirtschaftsministeriums sämtliche wirtschafts- und sozialpolitisch relevanten Ministerposten besetzte – drängte darauf, neue ressortübergreifende Planungsverfahren einzurichten und organisatorisch durch eine eigene Abteilung im Kanzleramt zu bündeln.2 Auf der anderen Seite stieß die wirtschaftspolitische Globalsteuerung 1969 bereits sichtbar an ihre Grenzen. Gerade die zahlreichen Fehlprognosen und falschen Empfehlungen der Experten, welche von den Politikern stets eilfertig aufgegriffen worden waren, diskreditierten den »Neuen Kurs« in der Wirtschafts- und Finanzpolitik innerhalb kürzester Zeit. »Der Glaube an die Rechenhaftigkeit der Konjunkturpolitik hat Schiffbruch erlitten«, konstatierte der Journalist Hans-Henning Zencke 1970 und traf damit zweifellos die allgemeine Stimmungslage.3 Auch aus Kreisen der empirischen Konjunktur- und Wirtschaftsforschung verlautete zunehmend Selbstkritik. So gestand der ehemalige Staatssekretär im BMF und Präsident des Ifo-Instituts Karl Maria Hettlage ein, dass das »Übermaß an Fehlprognose und widersprüchlichen Vorhersagen« die »ganze Zunft in Verruf gebracht« habe. Hettlage empfahl daher einen vorsichtigeren Umgang mit den Konjunktur- und Wachstumsprognosen.4 Auch die Konzertierte Aktion verlor durch die Unzuverlässigkeit der Vorhersagen ihre Legitimationsgrundlage, denn die Verhaltensabstimmung der Tarifparteien ließ sich ohne zuverlässige Schätzungen nicht sinnvoll durchführen. So wurde die amtliche Zielprojektion für 1969 »von der Entwicklung total über den Haufen geworfen«.5 Die Schätzungen waren erneut viel zu pes-

1 Baring, S. 136. 2 Vgl. Flohr; Metzler, Konzeptionen, S. 362–372. 3 Zencke, S. 72; vgl. auch Marx, der in Bezug auf die Wirtschaftspolitik Schillers von einer »Zahlendemagogie« sprach (S. 274). 4 Mit Prognosen den Ruf ruiniert, in: Kölner Stadtanzeiger, 23.3.1971. 5 Braun, S. 12.

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simistisch ausgefallen: Anstatt der prognostizierten 4,5% realen Wachstums wurden in diesem Jahr 8% erreicht. Die Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen stiegen nicht wie erwartet um 1%, sondern um 7,2%.6 Diese Fehlprognosen führten dazu, dass die Gewerkschaften die bis dahin gewahrte »Zielprojektionsdisziplin«7 aufgaben. Im September 1969 kam es zu »wilden« Streiks, die dokumentierten, wie stark die Gewerkschaftsführer unter dem Druck der eigenen Basis standen. Damit war die Konzertierte Aktion in ihrem wichtigsten Ziel, eine »ex-ante-Abstimmung der staatlichen Konjunkturpolitik mit den globalen Entscheidungen der Tarifvertragsparteien« herbeizuführen, gescheitert.8 Tatsächlich sprach aus Sicht der Gewerkschaften viel dafür, die tarifpolitische Zurückhaltung aufzugeben. Die westdeutsche Wirtschaft verzeichnete 1970 ein reales Wachstum von 6,0%. Die Kapazitätsauslastung stieg kontinuierlich an und erreichte 1970 den höchsten Stand seit 1956: Nur 150.000 Personen waren im Jahresdurchschnitt arbeitslos gemeldet, während 800.000 Stellen nicht besetzt werden konnten.9 Auch in den folgenden Jahren wuchs die Wirtschaft noch einmal beträchtlich. Der Zeitraum zwischen 1968/69 und 1973 bildete die bis dahin längste konjunkturelle Aufschwungphase in der Geschichte der Bundesrepublik. Allerdings zeigten sich noch stärker als in früheren Boomphasen die stabilitätspolitischen Probleme des rasanten Wachstums. Die Inflationsrate kletterte von knapp 2% 1969 auf fast 7% 1973 an. Diese Entwicklung war auf das Zusammenwirken mehrerer Faktoren zurückzuführen. Erstens verschärften sich die Probleme in dem Maße, in dem das internationale Währungssystem zerfiel. Mehr denn je war die Bundesrepublik dem Zustrom ausländischer Kapitalzuflüsse ausgesetzt, und noch weniger als früher griffen die geld- und währungspolitischen Instrumente der Notenbank. Lange bevor die westeuropäischen Staaten im Herbst 1973 ihre Währungen von der Dollar-Bindung befreiten, hatte das internationale Wechselkurssystem seine Funktionsfähigkeit verloren. So wurde die D-Mark im September 1969 erstmals für einen Zeitraum von einem Monat von der Dollarparität gelöst. Anschließend fixierte die Bundesbank die deutsche Währung am 24. Oktober 1969 auf einem Kurs von 3,66 DM/Dollar, was einer Aufwertung von 9,3% entsprach. Kurzfristig brachte dies eine Entlastung für die heißgelaufene westdeutsche Konjunktur. Im letzten Quartal von 1969 flossen ausländische Devisen in Höhe 6 Ebd., S. 11; die Vorausschätzungen mussten im Laufe von 1969 mehrfach korrigiert werden; vgl. Diskussion in der Konzertierten Aktion am 20.6.1969, Protokoll in: BAK, B 136/7407. 7 Siekmann, S. 62. 8 Zitat aus BAK, B 102/59374: Gespräch zwischen Schiller und den Gewerkschaftsspitzen am 22.12.1966. 9 Giersch u.a., Fading Miracle, S. 150; umfassend James, International Monetary Cooperation.

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von 22,2 Mrd. DM ab, so dass die Leistungsbilanzüberschüsse 1969 und 1970 deutlich zurückgingen.10 Doch schon Anfang 1971 war die Bundesrepublik das Ziel neuer spekulativer Kapitalzuflüsse, nachdem die USA ihre Leitzinsen im Vorjahr gesenkt, die Bundesbank hingegen erhöht hatte. Erneut gab die Bundesrepublik ihre Wechselkurse frei, während der amerikanische Präsident Nixon im August 1971 offiziell das Ende der Dollar-Goldkonvertibilität verkündete. Weder durch weitere Paritätskorrekturen noch durch die Einführung von administrativen Kontrollen des Kapitalverkehrs konnte das internationale Währungssystem gerettet werden. Nachdem sich im März 1973 die Dollarkrise zugespitzt hatte und für einige Wochen sogar die europäischen Devisenbörsen geschlossen worden waren, gab die Bundesrepublik die Wechselkursbindung and den Dollar endgültig auf. Damit wurden die außenwirtschaftlichen Probleme der bundesdeutschen Geldpolitik auf einen Schlag beseitigt. Zugleich war das Bretton-Woods-System, das der internationalen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg eine stabile Ordnung gegeben hatte, endgültig zerbrochen.11 Das zweite Problem ergab sich daraus, dass die Gewerkschaften nach den Jahren der Selbstbeschränkung nun auf eine stärkere Teilhabe am gesamtwirtschaftlichen Wachstum drängten. Angesichts fast kontinuierlich steigender Unternehmensgewinne schien nun eine Lohnsteigerung auch über den Produktivitätszuwachs hinaus gerechtfertigt, um die »soziale Symmetrie« wieder herzustellen. In einer 1970 vorgelegten Fünfjahresprojektion proklamierte der DGB einen Reallohnzuwachs von 5,4% pro Jahr als Zielgröße – und dieses Ziel wurde in einigen Jahren sogar übertroffen. So stiegen die Einkommen aus unselbstständiger Arbeit 1973 um 13,5% an.12 Die Arbeitgeber setzten den gewerkschaftlichen Forderungen kaum Widerstand entgegen, weil sie mit guten Gründen hofften, die höheren Lohnkosten auf die Preise überwälzen zu können. Dadurch wurde der inflationäre Trend allerdings noch zusätzlich angefacht. Das dritte Problem, mit dem die Wirtschaftspolitik Anfang der siebziger Jahre konfrontiert war, bildete die Expansion der Staatsausgaben. Die großen Reformvorhaben der sozialliberalen Koalition waren mit erheblichen öffentlichen Investitionen verbunden, welche die mittelfristige Finanzplanung ständig aus den Angeln zu heben drohte. Der Anteil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt hatte sich von etwa 32% Anfang der sechziger Jahre auf 37% während der Krise von 1967/68 erhöht, war danach jedoch trotz der konjunkturellen Erholung nicht wieder gesunken. Dieser Trend verstärkte sich in den frühen siebziger Jahren, so dass sich die Staatsquote bis 1973 auf 42% erhöh10 Holtfrerich, Geldpolitik, S. 426. 11 Vgl. Hagen, S. 447–454. 12 Ebd., S. 157 u. Bracher u.a, S. 109.

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te.13 Ebenso wie die Tarifpolitik wirkte die Entwicklung der öffentlichen Ausgaben prozyklisch und konterkarierte damit alle Prinzipien des Wachstumsund Stabilitätsgesetzes. Dabei waren es zunächst nicht einmal die Ausgaben des Bundes, welche die Staatsquote in die Höhe trieben. Vor allem die Länder und Kommunen, welche von der Neuverteilung der Einkommens- und Körperschaftssteuern profitierten, investierten große Summen in öffentliche Infrastrukturmaßnahmen. Sie folgten der in Politik und Wissenschaft gleichermaßen verbreiteten Ansicht, nach der eine strukturelle Ausweitung der öffentlichen Investitionen erforderlich sei. So kam eine vom Bundeskanzleramt in Auftrag gegebene Studie der Prognos AG zu dem Ergebnis, dass ein Anstieg der Staatsquote auf 50% und eine Zunahme der laufenden Defizitquote von 8% notwendig sei, um Wachstum und Wohlstand langfristig zu sichern.14 Diese Auffassung fand auch Niederschlag in der mittelfristigen Finanzplanung. Während der erste Plan für die Jahre 1969, 1970 und 1971 eine Nettokreditaufnahme des Bundes von 3,8 Mrd. DM vorgesehen hatte, erhöhte sich das Kreditvolumen in der zweiten Finanzplanung für 1968–1972 auf 10,8 Mrd. DM.15 Während die finanzpolitische Abstimmung von Bund, Ländern und Gemeinden unter der Großen Koalition relativ reibungslos funktioniert hatte, ergab sich seit 1969 das Problem, dass die christdemokratisch geführten Länder und Gemeinden kein Interesse mehr hatten, mit dem Bund in der Finanzpolitik zu kooperieren. Die Empfehlungen des Finanzplanungsrates und des Konjunkturrates, mit denen die Haushaltspolitik im föderalen System koordiniert werden sollte, verhallten ohne große Wirkung.16 Doch auch innerhalb der Bundesregierung traten nun wachsende Divergenzen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik auf. Alex Möller, der im Herbst 1969 das Finanzministerium übernommen hatte, sah seine Aufgabe vor allem darin, die öffentlichen Haushalte durch eine solide Finanzpolitik vor einer weiteren Verschuldung zu bewahren. Für Schiller hingegen war der Budgetausgleich kein vordringliches Ziel, vielmehr hatte sich die Fiskalpolitik – also die Gestaltung der Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand – ganz den übergeordneten wirtschaftspolitischen Zielen anzupassen. Nach heftigen Auseinandersetzungen im Kabinett trat Möller schließlich im Mai 1971 zurück, und Schiller übernahm als neuer »Superminister« neben dem Wirtschafts- auch das Finanzressort.17 Doch die Erwartung, dass damit eine stärkere Bündelung der wirtschafts- und finanzpolischen Ziele erreicht würde, erwies sich als falsch. Im Gegenteil: Schiller sah sich nun selbst immer mehr in 13 14 15 16 17

Kitterer, S. 218ff. Schröder. Kitterer, S. 219; vgl. auch Nachtkamp. Bracher u.a, S. 47. Görtemaker, S. 567–571.

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der Rolle des auf Budgetsicherung bedachten Politikers, der die Ansprüche der Fachressorts in Grenzen halten musste. Für die ökonomischen Steuerungsaufgaben der Finanzpolitik blieb kaum noch Handlungsspielraum.18 Innerhalb des Kabinetts geriet Schiller immer mehr in die Defensive. Zwar gelang es ihm im Herbst 1971, einen Haushaltsentwurf mit starken Einschnitten in fast allen Ausgabenposten zu verabschieden. Doch schon Anfang 1972 zeichnete sich für das laufende Haushaltsjahr eine Deckungslücke ab, die auch die mittelfristige Finanzplanung zur sprengen drohte. Noch einmal konnte sich Schiller im Kabinett durchsetzen und eine Senkung wichtiger Haushaltstitel erreichen. Allerdings kam es im Sommer 1972 zu neuen Differenzen in der Wirtschaftspolitik, als Schiller in der sich verschärfenden Währungskrise für ein freies floating der D-Mark gegenüber dem Dollar plädierte, während Brandt, unterstützt von Bundesbankpräsident Karl Klasen, diese Maßnahme ablehnte.19 Hier sollen nun nicht die politischen und persönlichen Hintergründe von Schillers Rücktritt und sein Zerwürfnis mit der damaligen SPD-Führung thematisiert werden. Wichtiger ist die Frage, ob mit dem Ende der Ära Schiller auch ein Wandel in den wirtschaftspolitischen Konzeptionen einherging. Nachfolger Schillers wurde Helmut Schmidt, der zwar nach der Wahl vom Herbst 1972 das Wirtschaftsressorts an Hans Friederichs (FDP) abgeben musste, als Finanzminister den wirtschaftspolitischen Kurs jedoch weiterhin maßgeblich bestimmte. Schmidt war selbst Ökonom und hatte nach dem Krieg bei Schiller an der Universität Hamburg studiert. Allerdings besaß er trotz seiner unbestrittenen Kompetenz auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht die visionäre Gestaltungskraft seines Vorgängers und Lehrers.20 Politik spielte sich für ihn in der harten Auseinandersetzung des Alltags ab, hier galt es, enge Handlungsspielräume zu nutzen und pragmatische Sachlösungen zu finden. Schmidts Abneigung gegenüber ausgedehnten Theoriedebatten war teilweise ein Reflex auf die politischen Angriffe der Außerparlamentarischen Opposition und des linken Parteiflügels der SPD.21 Doch auch die wissenschaftlichen Modelle der Ökonomen und Sozialwissenschaftler waren ihm suspekt. Sie schienen ihm viel zu abstrakt, um im politischen Tagesgeschäft bestehen zu können. So ist es auch zu erklären, dass Schmidt, anders als Schiller, nicht allzu viel von wissenschaftlichen Beratern hielt. Sein Verhältnis zum Sachverständigenrat war äußerst gespannt und durch zunehmende wechselseitige Nichtbeachtung gekennzeichnet. Betrachtet man die Wirtschaftspolitik der Ära Schmidt, so ist allerdings ein Festhalten an der antizyklischen Fiskalpolitik keynesianischer Prägung zu er18 19 20 21

Baring, S. 663f. Bracher u.a., S. 51f. Vgl. Krause-Burger, S. 210ff. Vgl. Bracher u.a., S. 96–100.

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kennen. Während der schweren Rezession von 1974/75, ausgelöst durch den Ölpreisschock und die darauf einsetzende internationale Wirtschaftskrise, wurden mehrere Konjunkturprogramme in die Wege geleitet, die allein 1974 ein Volumen von rund 10 Mrd. DM erreichten.22 Doch Schmidt agierte als Krisenmanager, nicht als Neuerer der Wirtschaftspolitik. Er nutzte die Instrumente des Stabilitätsgesetzes pragmatisch und selektiv. Insbesondere glaubte er nicht an die Vorhersehbarkeit wirtschaftlicher Krisen. Seine wirtschaftspolitische Philosophie unterschied sich somit fundamental von Schillers Globalsteuerung, welche wissenschaftliche Aufklärung, Wirtschaftsprognose und politische Planung miteinander verband. Doch es wäre falsch, die sich in den frühen siebziger Jahren abzeichnende Krise der Globalsteuerung auf den Wechsel von Schiller zu Schmidt zu reduzieren. Vielmehr handelte es sich um einen grundsätzlichen Wandel, der sich auf mehreren Ebenen vollzog und der nicht zuletzt auf internationale Einflüsse zurückzuführen war. In der angloamerikanischen Welt hatte der Keynesianismus seit den späten sechziger Jahren seine Führungsrolle innerhalb der ökonomischen Theorie verloren.23 Die von Milton Friedman und seinen Anhängern propagierte »monetaristische« Lehre stellte grundlegende Prämissen des keynesianischen Modells in Frage: Dies betraf vor allem das Problem der Erwartungsbildung wirtschaftlicher Akteure, die Beeinflussbarkeit makroökonomischer Parameter durch diskretionäre Fiskalsteuerung sowie die Liquiditätstheorie des Geldes. Nach Friedman, der an grundlegende Annahmen der klassischen Quantitätstheorie anknüpfte, hatte die Notenbank vor allem die Aufgabe, die Geldmenge zu steuern und an der zu erwartenden Wachstumsrate auszurichten. Eine Steuerung der Inflationsrate über die Bankenliquidität lehnte Friedman dagegen ab.24 In der Bundesrepublik wurde die monetaristische »Gegenrevolution« in erster Linie durch den amerikanisch-schweizerischen Wirtschaftswissenschaftler Karl Brunner verbreitet, dessen 1970 ins Leben gerufene »Konstanzer Seminar für Geldtheorie und Geldpolitik« große Wirkung entfaltete.25 Vor allem im Umfeld der Bundesbank und der politikberatenden Institutionen fand der Monetarismus starken Anklang. Bereits in dem Jahresgutachten von 1972/73 empfahl der Sachverständigenrat der Bundesbank, von der Steuerung der Bankenliquidität auf die Steuerung der Zentralbankgeldmenge überzugehen. Die Geldmenge sollte entsprechend der zu erwartenden Ausweitung des Produktionspotenzials wachsen.26 Ein offenes Bekenntnis zur 22 23 24 25 26

Giersch u.a., Fading Miracle, S. 187; vgl. auch Hohensee. Vgl. Skidelsky, End. Vgl. Friedman u. ders./Heller. Vgl. Brunner, »Monetarist Revolution«; ders., Inflation. Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1972/73, S. 131.

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monetaristischen Lehre folgte im Jahresgutachten 1974/75. Es sei nicht Aufgabe der Geldpolitik, hieß es dort, die Probleme der Arbeitslosigkeit zu lösen, vielmehr müsse ein stabiles Wachstum der Geldmenge angestrebt werden – auch um die inflationäre Wirkung von Lohnerhöhungen und Staatsverschuldung zu vermeiden.27 Die Bundesbank ging 1974 offiziell zu einer mengenorientierten Geldpolitik über. Intern hatte man diesen Schritt schon seit längerem diskutiert. Doch erst mit der Freigabe des Wechselkurses gegenüber dem Dollar waren die Voraussetzungen für eine autonome Geldpolitik geschaffen worden. Als erste Notenbank der Welt kündigte die Bundesbank im Dezember 1974 ein Geldmengenziel für das kommende Jahr an. Auch wenn die monetaristische Lehre in den folgenden Jahren eher pragmatisch umgesetzt wurde, vollzog die Bundesbank damit eine Abkehr von der geldpolitischen Konjunktursteuerung.28 Doch auch in politischen Kreisen wuchs die Skepsis an den Möglichkeiten der antizyklischen Wirtschaftslenkung. Zum einen hatte die Krise von 1974/75 gezeigt, dass moderne Volkwirtschaften mit Schocks der Angebotsseite zu rechnen hatten, die nicht vorherzusehen waren. Der Glaube an die ohnehin schon reichlich diskreditierte Prognostik wurde dadurch noch tiefer erschüttert. Zum anderen ließen sich konjunkturelle Einbrüche offensichtlich nicht mehr durch eine Nachfragestimulierung beseitigen. Das bis dahin unbekannte Phänomen der »Stagflation« – hohe Inflationsraten bei anhaltender Wachstumsschwäche – machte deutlich, dass die Probleme der Volkswirtschaften zunehmend auf der Angebotsseite zu suchen waren. Dass es sich hier nicht um eine vorübergehende Erscheinung handelte, wurde in den Jahren seit 1976 sichtbar, als die Arbeitslosigkeit trotz der wirtschaftlichen Erholung nicht signifikant zurückging. Selbst im Boomjahr 1979 waren 876.000 Menschen arbeitslos gemeldet.29 Schließlich verweisen die schon in den frühen siebziger Jahren virulent werdenden Schwierigkeiten der Budgetkonsolidierung auf die politische Asymmetrie fiskalischer Konjunktursteuerung. Der Regierung fiel es leichter, in Zeiten geringer Nachfrage die Staatsausgaben auszuweiten, als in Zeiten der Übernachfrage die Ausgaben zu kürzen. Kontraktive Maßnahmen ließen sich nur mit erheblichen politischen Kosten und meist nur mit zeitlicher Verzögerung durchsetzen. Dies verminderte nicht nur die Reaktionsfähigkeit staatlicher Interventionen, sondern brachte auch die Gefahr struktureller Defizite der öffentlichen Budgets mit sich.30 27 Ders., Jahresgutachten 1974/75. 28 Vgl. Hagen, S. 450ff. 29 Giersch u.a., Fading Miracle, S. 192ff.; Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 421. 30 Vgl. Gutachten vom 3.6.1972 »Finanzierung eines höheren Staatsanteils am Sozialprodukt«, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Finanzen, S. 535–571. Vgl. außerdem Rürup, Handlungsverzögerungen.

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Diese Entwicklungen diskreditierten nicht nur das Konzept der keynesianischen Stabilitätspolitik, sondern zerstörten auch das Vertrauen in die Planbarkeit politischer Prozesse überhaupt. Allenthalben machte sich Skepsis gegenüber den Möglichkeiten eines »rationalen« politischen Entscheidungshandelns breit. Wenn nun gar der Begriff des »Politikversagens« in den politischen Feuilletons der Bundesrepublik die Runde machte, war das sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass die Reformen und die erfolgreiche Krisenüberwindung der Ära Schiller so hohe Erwartungen geweckt hatten. Der Wachstums- und Planungsoptimismus der späten sechziger Jahre schlug nun rasch in eine außerordentlich skeptische Haltung gegenüber der Steuerungsfähigkeit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse um. Zunehmend wurde nun über die Möglichkeiten »regelgebundener« Wirtschaftspolitik diskutiert, welche die »diskretionäre«, also durch politische Entscheidungen herbeigeführte Steuerung makroökonomischer Parameter ersetzen sollte.31 Diese Diskussion griff internationale Entwicklungen, insbesondere aus dem Umfeld des amerikanischen Monetarismus (»rules versus authorities«) auf, die nun allerdings auch auf Politikbereiche jenseits der Geldpolitik übertragen wurden. Dabei ging es keineswegs um eine Rückkehr zum klassischen staatsfernen Liberalismus. Vielmehr sollte der Staat zum einen Rahmenbedingungen für die Märkte setzen, zum anderen durch langfristige und vorhersehbare Maßnahmen die Wirtschaftsentwicklung optimieren. Für die Wachstumspolitik bedeutete dies etwa, dass die langfristige Förderung des Wachstumspotenzials in den Vordergrund trat. Dies bedeutete nicht, dass man die Stabilisierungsfunktion staatlicher Finanzpolitik grundsätzlich ablehnte. Sie sollte jedoch fortan nicht mehr durch Ermessensentscheidungen der Regierungen und Parlamente, sondern durch Regelmechanismen und »automatische Stabilisatoren« erreicht werden. Als Vorbild dienten die ingenieurs- und systemwissenschaftlichen Regelkreismodelle, bei denen gemessene Abweichungen von einem bestimmten Sollwert bestimmte Maßnahmen auslösen, die auf eine Wiederherstellung des angestrebten Zustandes hinwirken. Vor allem im Umfeld des Sachverständigenrates, des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi und der Deutschen Bundesbank fanden diese Überlegung Anklang.32 Aber auch die christdemokratische Opposition und Teile des Unternehmerlagers propagierten Anfang der siebziger Jahre die Idee einer re-

31 BAK, B 102/136786: Probleme einer effizienten Stabilisierungspolitik (1972). 32 Vgl. Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1969/70; der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi befasste sich 1971 in mehreren Sitzungen mit dieser Thematik; IfZ, Ed 150/44: Sitzungsprotokolle 8./9.1., 5./6.2., 14./15.5, 23./24.5., 21.6. u. 10./11.1971; Gutachten vom 11.12.1971 »Regelmechanismen und regelgebundenes Verhalten in der Wirtschaftspolitik«, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Gutachten 1966–71, S. 597–618.

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gelgebundenen Wirtschaftspolitik.33 Letztlich blieben diese Diskussionen jedoch ohne praktische Auswirkungen. Die Implementierung umfassender Regelsysteme war mit zahlreichen politischen und technischen Problemen behaftet, so dass man schon bald wieder von dieser Idee abrückte.34 Die Skepsis gegenüber technokratischen Lösungen, wie sie Kybernetik, Systemtheorie und Regelungstechnik bereitstellten, hatte allgemein zugenommen, zumal spezifische Probleme, etwa die Ungenauigkeit von Prognosen, dadurch keineswegs aus der Welt geschafft wurden. Die Befürworter wirtschaftspolitischer Regelsysteme sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, mit ambitionierten Planungsmodellen zu liebäugeln, deren Funktionsfähigkeit bislang noch nicht erwiesen war.35 Die ebenso hitzige wie kurze Debatte über automatische Regelsysteme war somit eher ein Symptom für die tiefe Krise der staatlichen Wirtschaftspolitik, als dass sie einen wirklichen Ausweg aus ihr wies. Das keynesianische Politikmodell der sechziger Jahre hatte ausgedient, ohne dass sich ein umfassender Paradigmenwechsel erkennen ließ. Das Fehlen eines neuen, durch einen breiten Konsens getragenen Leitbildes prägte die bundesdeutsche Wirtschaftspolitik der Ära Schmidt. Während die Geldpolitik einen monetaristischen Kurs einschlug, blieb die Finanzpolitik weiterhin dem keynesianischen Denken verpflichtet, ohne freilich die Instrumente des Stabilitätsgesetzes konsequent einzusetzen. Nicht zuletzt zeigten die Debatten über die »Grenzen des Wachstums«, dass das Stabilitäts- und Wachstumsdenken der Nachkriegsepoche an Überzeugungskraft verloren hatte. Die in den fünfziger und sechziger Jahren erreichte Gewissheit, dass ein krisenfreies Wachstum durch eine rationale Abstimmung makroökonomischer Parameter gewährleistet werden könne, war einer tiefen Unsicherheit über die Zukunft der modernen Industriegesellschaft gewichen. Zugleich traten Mitte der siebziger Jahre die globalen Dimensionen wirtschaftlicher Krisen in das öffentliche Bewusstsein und verstärkten die Skepsis gegenüber den Gestaltungsmöglichkeiten staatlicher Wirtschaftspolitik. Das »Goldene Zeitalter«, das den westlichen Industriestaaten Wohlstand und Sicherheit gebracht hatte, hatte seinen Glanz verloren.

33 Vgl. BAK, B 102/136785: Grimm, Regelgebundene Wirtschaftspolitik – Regelmechanismen in der Konjunkturpolitik, 8.6.1960; Einbau von Regelmechanismen in das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, 10.11.1971; Konjunkturpolitik ohne Konjunkturpolitiker, in: Unternehmerbrief des Deutschen Industrieinstituts, 18.6.1970. 34 Vgl. BAK, B 102/136671: O. Schlecht, Soziale Marktwirtschaft als permanente Herausforderung, 8.10.1972. 35 Vgl. D. Piel, Automaten statt Politiker, in: Die Zeit, 5.2.1971; W. Schaefer, Konjunkturpolitik mit Automaten, in: Handelsblatt, 26.2.1971.

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Resümee

Ausgangspunkt dieser Arbeit waren die tiefgreifenden Veränderungen der Nationalökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg und die besondere Rolle, welche diese Wissenschaftsdisziplin in der Bundesrepublik spielte. In vier thematischen Blöcken wurden verschiedene Aspekte dieser Entwicklung untersucht. Der erste Teil zeichnete die Neuorientierung des Faches nach 1945 im Spannungsfeld verschiedener wissenschaftlicher Schulen und Fachkulturen nach, fragte nach Schwerpunkten und Kontroversen der Disziplin und betrachtete Institutionalisierungsprozesse in der Frühphase der Bundesrepublik. Der zweite Teil leuchtete die Schnittstellen von Wissenschaft und Politik aus und diskutierte ausführlich die langwierige Entstehung der ökonomischen Politikberatung. Der dritte Abschnitt befasste sich mit den Rückwirkungen internationaler Veränderungen auf Wissenschaft und Politik in den Nachkriegsjahrzehnten. Der vierte Teil untersuchte im Rahmen einer Politikfeldanalyse die Implementierung der Wachstums- und Stabilitätspolitik in den »langen« sechziger Jahren, in deren Verlauf sich das Verhältnis von Wissenschaft und Politik nachhaltig veränderte. Die Ergebnisse der Arbeit sollen nun noch einmal zusammengefasst und thesenartig zugespitzt werden. Kaum eine gesellschaftswissenschaftliche Disziplin hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg so sehr verändert wie die Nationalökonomie. Das Fach löste sich endgültig von seinen älteren, vom Methodenverständnis der Historischen Schule geprägten Traditionen. In der Vor- und Gründungsphase der Bundesrepublik gewann zunächst das ordnungspolitische Denken der Freiburger Schule um Walter Eucken und Franz Böhm großen Einfluss und prägte nicht nur das theoretische Selbstverständnis des Faches, sondern auch die wirtschaftspolitischen Konzepte und Institutionenbildung der Aufbauzeit. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass der Einfluss des Ordoliberalismus seit Mitte der fünfziger Jahre verblasste und die bundesdeutsche Volkswirtschaftslehre zunehmend in den Bann der angloamerikanischen »New Economics« geriet. Auch wenn es in der Bundesrepublik keine solche »Massenkonversion der Ökonomen« (Leijonhufvud) zum Keynesianismus gegeben hat wie jenseits des Atlantiks, fand die seit den dreißiger Jahren entwickelte Makroökonomik rasch Eingang in das wissenschaftliche Establishment der Bundesrepublik. Dieser Prozess setzte im Vergleich zu den USA oder Großbritannien später ein 353 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

und verlief weniger konfliktreich, ja sogar insgesamt überraschend harmonisch. Es war jedoch auch nicht die Keynes’sche Ursprungslehre, sondern vor allem die von Samuelson, Hicks und anderen angelsächsischen Ökonomen entwickelte »neoklassische Synthese«, welche in den fünfziger Jahren fast lautlos in die bundesdeutsche Volkswirtschaftlehre einsickerte. Der Theorie- und Wissenstransfer wurde maßgeblich durch eine Reihe von Ökonomen ermöglicht, die in der NS-Zeit emigieren mussten und von denen nach 1945 einige in führende Positionen an bundesdeutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen zurückkehrten. Zugleich nahmen viele jüngere Wissenschaftler nach dem Krieg an Austauschprogrammen mit den USA teil, wo sie mit neuen wissenschaftlichen Trends und Methoden in Berührung kamen. Nicht zuletzt aber wurden in der Bundesrepublik ältere Forschungen zur Kreislaufanalyse und Input-Output-Rechnung aus den dreißiger und vierziger Jahren reaktiviert. Hier lassen sich vielfältige institutionelle und personelle Kontinuitäten erkennen, welche die These eines umfassenden Neubeginns des Faches zumindest partiell in Frage stellen. Zwei parallele und nur auf den ersten Blick widersprüchliche Entwicklungen kennzeichneten das methodische Selbstverständnis der Volkswirtschaftslehre in den fünfziger und sechziger Jahren. Zum einen die Hinwendung zum abstrakten und mathematisch formalisierten Modelldenken, mit der sich die Disziplin endgültig von ihren vormals engen Verbindungen zu den Sozialund Geisteswissenschaften löste. Viele Ökonomen fühlten sich fortan der Physik und Mathematik methodisch stärker verbunden als der Soziologie oder Geschichtswissenschaft. Zum anderen erhoben die Wirtschaftswissenschaften zunehmend den Anspruch, »anwendbare Funktionswissenschaft« zu sein. Dabei ging es zunächst um die präzise statistische Messung volkswirtschaftlicher Vorgänge und ihrer kreislaufmäßigen Zusammenhänge. Ökonometrie, Konjunkturbeobachtung und Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erlebten in der Bundesrepublik seit den frühen fünfziger Jahren einen unvergleichlichen Boom und wurden institutionell und personell ausgebaut. Vor allem die außeruniversitäre Konjunktur- und Wirtschaftsforschung gewann in diesem Zusammenhang an Bedeutung. Früher als an den Universitäten setzten sich hier neue Formen der Projektund Großforschung durch, wie sie bislang nur in den Naturwissenschaften üblich waren. Anfängliche Bedenken liberaler Ökonomen, welche in der quantifizierenden Wirtschaftsforschung eine Vorstufe totalitärer Planwirtschaft erblickten, traten schon bald in den Hintergrund. Nicht nur die private Wirtschaft war an verlässlichen Daten zur konjunkturellen Entwicklung sowie an Input-Output-Matrizen für bestimmte Branchen interessiert. Auch Behörden, Sozialversicherungsträger und kommunale Planungsverbünde entwickelten einen regelrechten »Datenhunger«. Überdies war die Bundesrepublik verpflichtet, für die statistischen Belange internationaler Organisationen 354 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

(OEEC, UNO, EWG usw.) umfassende Kreislauf- und Kontensysteme zu erstellen. Einen qualitativen Sprung bedeutete die Erstellung ökonomischer Prognoseverfahren, die sich in zwei Phasen vollzog. In den fünfziger Jahren dominierte die kurzfristige Konjunkturprognose, welche vom Münchner Ifo-Institut entwickelt und mit großem Erfolg praktiziert wurde. An die Stelle der in den zwanziger Jahren begründeten »Barometermethode« trat nun das Konjunkturtestverfahren, das auf modernen, aus den USA übernommenen Methoden der Meinungsumfrage basierte. Seit Ende der fünfziger Jahre wurden mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft komplexe ökonometrische Prognosesysteme modelliert, die einen Zeithorizont von bis zu zehn Jahren besaßen. Die Etablierung der ökonomischen »Zukunftsforschung« eröffnete völlig neue Möglichkeiten der wissenschaftlichen Planung, und zwar nicht nur im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern auch für »sekundäre« Politikfelder wie die Verkehrs- und Bildungsplanung, die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie die Verteidigungs- und Forschungspolitik. In dem Maße, in dem ökonomisches Wissen zu einer Schlüsselvariablen für unterschiedliche gesellschaftliche Anwendungsbereiche und politische Handlungsfelder avancierte, änderte sich auch das professionelle Selbstverständnis der Wirtschaftswissenschaften. Obgleich Ökonomen früher als Vertreter anderer Disziplinen in die Politikberatung eingebunden waren, kam es immer wieder zu Debatten über die Gefahren einer »Politisierung« des Faches und einer als problematisch angesehenen Vermengung von »reiner« und »normativer« Ökonomik. Aus diesem Grund äußerten prominente Fachvertreter Vorbehalte gegenüber dem Plan eines wirtschaftspolitischen »Sachverständigenrates«, über dessen Einrichtung seit Mitte der fünfziger Jahre kontrovers diskutiert wurde. Doch auch von politischer Seite gab es erhebliche Widerstände gegen ein solches Vorhaben. In der Frühzeit der Bundesrepublik bevorzugten nicht nur die wirtschaftlichen Verbände, sondern auch starke Kräfte innerhalb der Parteien ein ständisch-korporatives Beratungsgremium, das sich am Vorbild des Weimarer Reichswirtschaftsrates anlehnen sollte. Erst nach langwierigen Diskussionen setzte sich das »wissenschaftliche« Modell der Politikberatung durch, wobei nicht in erster Linie technokratische Planungsideen den Ausschlag gaben, sondern vor allem die von konservativen Politikern und Verfassungsrechtlern propagierte Idee, eine über dem Meinungsstreit der Parteien stehende Instanz zu schaffen. In erster Linie sollte das Gremium durch seine Politikempfehlungen den vermeintlich überbordenden Ansprüchen der wirtschaftlichen Gruppen und Interessenverbände einen Riegel vorschieben. Deutlich sind hier die Argumentationsfiguren der konservativen Weimarer Staatsrechtslehre erkennen, die im politischen Diskurs der fünfziger Jahre noch präsent waren. 355 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Der 1963 gegründete Sachverständigenrat war nicht zuletzt aus solchen Erwägungen heraus mit einer außerordentlich starken Position sowie mit erheblichen Forschungsressourcen ausgestattet, was ihm fortan eine Sonderstellung in der auch in anderen Bereichen expandierenden Politikberatung verschaffte. Allerdings zeigte sich bald, dass die in Regierungskreisen und nicht zuletzt von Erhard gehegte Hoffnung, der Sachverständigenrat werde durch seine Expertise und Autorität die wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume der Regierung gegenüber den Interessenverbänden erweitern, nicht erfüllen sollte. Der Sachverständigenrat trat vor allem in den ersten Jahren unter Vorsitz von Herbert Giersch betont regierungskritisch auf und unterstrich damit nicht nur seinen Anspruch als unabhängiges Beratungsgremium, sondern konnte auch mit Hilfe der Medien die Öffentlichkeit für seine Ziele mobilisieren. Im Unterschied zum amerikanischen »Council of Economic Advisors« wurde mit dem Sachverständigenrat in der Bundesrepublik das Prinzip der externen, außerhalb staatlicher Institutionen stehenden Politikberatung etabliert. Damit näherte man sich jenem Modell an, das Mitte der sechziger Jahre von kritischen Soziologen und Wissenschaftstheoretikern wie Jürgen Habermas als zukunftsweisend angesehen wurde.1 Nach diesem Modell sollten Wissenschaft und Politik in einer Beziehung wechselseitiger Kritik stehen, welche über öffentliche Kommunikationsprozesse und institutionalisierte Formen der Konfliktaustragung vermittelt wurden. Dass dieses Modell in der Praxis so erfolgreich war, hing nicht zuletzt mit einem gewandelten Verständnis von Politik und der neuen Rolle einer kritischen Öffentlichkeit zusammen. Der wachsende Einfluss ökonomischer Experten war ursächlich mit den wirtschaftspolitischen Veränderungen verknüpft, die sich seit Mitte der fünfziger Jahre abzuzeichnen begannen. Standen die Aufbaujahre noch ganz unter dem Eindruck einer liberalen Ordnungspolitik, welche dem Staat in erster Linie die Aufgabe übertrug, stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, ohne in den wirtschaftlichen Ablauf einzugreifen, so gewann seit Mitte der fünfziger Jahre die Prozesspolitik an Gewicht. Auch hier gingen starke Impulse von der akademischen Volkswirtschaftslehre und den neuen Institutionen der Politikberatung aus, die im Einklang mit internationalen Trends für eine umfassende Modernisierung der Finanzpolitik und die Etablierung einer vorausschauenden Wachstums- und Konjunkturpolitik eintraten. Diese Vorstellungen stießen zunächst auf energischen Widerstand liberaler Wirtschaftspolitiker und wurden insbesondere von Ludwig Erhard abgelehnt. Deren kritische Haltung schwächte sich allerdings bereits während der »Gürzenich-Krise« von 1956 ab, als es zwischen Erhard und Adenauer nicht nur zu Kompetenzkonflikten, sondern auch zu gravierenden Differenzen über den zukünftigen Kurs in der Wirtschaftspolitik kam. 1 Habermas.

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Vor allem die oppositionelle SPD, die sich unter dem Einfluss von Karl Schiller und Heinrich Deist endgültig von ihren marxistischen Traditionen gelöste hatte, konnte sich in diesem Konflikt profilieren. Sie trat 1956 mit dem Plan eines umfassenden Konjunktur- und Wachstumsgesetzes an die Öffentlichkeit, das als ein Vorläufer des 1967 verabschiedeten Stabilitätsgesetzes betrachtet werden kann. Doch auch innerhalb der Regierungsparteien setzte sich zunehmend die Auffassung durch, dass eine staatliche Steuerung makroökonomischer Zielgrößen unter Einsatz monetärer und fiskalpolitischer Instrumente erforderlich sei. In der CDU plädierten vor allem Staatssekretär Alfred Müller-Armack und Finanzminister Franz Etzel für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel. Ein moderater Keynesianismus gehörte nun auch in den konservativen Volksparteien zum wirtschaftspolitischen common sense.2 Ambivalent blieb die Haltung Erhards, dessen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik allerdings schon in den letzten Jahren vor seinem Wechsel ins Kanzleramt deutlich abnahm. Spätestens seit Ende der fünfziger Jahre zeichneten sich die Konturen jenes modernisierungspolitischen Konsenses ab, der die Wirtschafts- und Finanzpolitik der »langen« sechziger Jahre über Parteigrenzen hinweg prägte, allerdings erst unter der Großen Koalition 1966–69 seine volle Wirkung entfalten sollte. Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren, ist kaum nachzuvollziehen, warum die Frage einer aktiven Konjunktur- und Wachstumspolitik so virulent wurde. Exzeptionelle Wachstumsraten, Vollbeschäftigung und ein hoher Exportüberschuss wurden in den Jahren des »Wirtschaftswunders« zum Normalzustand. Selbst in Phasen des konjunkturellen Abschwungs verzeichnete die westdeutsche Wirtschaft noch ein hohes Wachstum. Tatsächlich konzentrierten sich die stabilitätspolitischen Bemühungen bis zur Mitte der sechziger Jahre darauf, die überschäumende Konjunktur durch restriktive geld- und fiskalpolitische Maßnahmen unter Kontrolle zu halten. Erst seit der Rezession von 1966/67 gewannen expansive Maßnahmen stärker an Bedeutung, doch bis zur Ölpreiskrise von 1973/74 blieb die Bundesrepublik eines der wachstumsstärksten Länder der Welt. Fragt man nach den Gründen, weshalb die Idee einer umfassenden Steuerung von Wachstum und Konjunktur schon in den fünfziger Jahre auf die wirtschaftspolitische Agenda gelangte, müssen auch die erfahrungsgeschichtlichen Dimensionen berücksichtigt werden. Trotz der zeitlichen Distanz wa2 Vgl. etwa die Äußerungen des CDU-Wirtschaftsexperten Manfred Luda aus dem Jahre 1967: »Keynes weilte also schon längst unter uns, allerdings … von manchem unbemerkt, obgleich eine Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Kreislaufgrößen und eine Steuerung der effektiven Gesamtnachfrage in den vergangenen neunzehn Jahren von den Unionsparteien geprägter Wirtschaftspolitik oftmals erfolgreich praktiziert worden sind. Die keynesianische Botschaft hörten wir sehr wohl, wir folgten ihr sogar«; Luda, Wirtschaftspolitik, S. 113.

357 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

ren die dramatischen Folgen der Großen Depression von 1929 nicht nur vielen Zeitgenossen noch aus eigenem Erleben präsent, sondern prägten auch die erinnerungspolitischen Diskurse der Nachkriegszeit. Dies galt für die Bundesrepublik noch mehr als für andere Länder wie die USA oder Großbritannien, in denen die Weltwirtschaftskrise zwar ebenfalls verheerende Auswirkungen gehabt hatte, aber nicht für eine totalitäre Entwicklung der Gesellschaft verantwortlich gemacht werden konnte. Die ursächliche Verknüpfung von wirtschaftlicher Depression und nationalsozialistischer Machtergreifung war im historisch-politischen Diskurs des westdeutschen Nachkriegs unstrittig. Dieser interpretatorische Nexus war von »geradezu traumatischer Qualität« und prägte das wissenschaftlich-historische Urteil bis in die frühen siebziger Jahre hinein.3 Über die Ursachen für diese geschichtspolitische Kanonisierung kann nur spekuliert werden. Zweifellos hatte die Tatsache, dass man »ökonomische« Ursachen für den Aufstieg des Nationalsozialismus verantwortlich machte, nach 1945 auch eine Entlastungsfunktion, weil sie von der spezifischen Verantwortung der Deutschen ablenkte. Zudem bemühten sich zahlreiche Ökonomen und Politiker, die in den frühen dreißiger Jahren für kreditfinanzierte Krisenprogramme eingetreten waren, um eine nachträgliche Rechtfertigung ihrer Positionen. Aus ihrer Sicht hatten die Regierung Brüning sowie große Teile des wirtschaftswissenschaftlichen Establishments während der Krise versagt. Auf diese Argumentationsfigur wurde in den fünfziger und sechziger Jahren regelmäßig rekurriert, um die Notwendigkeit einer staatlichen Steuerung von Wachstum und Konjunktur zu begründen – bis hin zum Wachstumsund Stabilitätsgesetz von 1967, dem ein langer historischer Prolog vorangestellt wurde. Erst in den siebziger Jahren, als nicht nur der Keynesianismus an Einfluss verlor, sondern auch die historische Forschung zu einem differenzierteren Urteil über Brünings Rolle während der Depression gelangte, verlor diese »Meistererzählung« der deutschen Wirtschaftsgeschichte an Einfluss. Allerdings können die Veränderungen der wirtschaftspolitischen Leitbilder nicht allein aus den spezifischen Konstellationen der bundesdeutschen Erinnerungskultur erklärt werden. Vielmehr müssen auch internationale Entwicklungen und Austauschprozesse in den Blick genommen werden, und war in zweierlei Hinsicht: Auf der einen Seite prägten Westbindung und europäische Integration Normen, Leitvorstellungen und Handlungsmöglichkeiten der Wirtschaftspolitik in zunehmendem Maße. Die Einbindung der Bundesrepublik in ein enges Netz internationaler Organisationen und Verträge hatte nicht nur vielfältige materielle, politische und rechtliche Konsequenzen, sondern setzte auch Lern- und Transferprozesse in Gang. Westdeutschland war hierbei allerdings nicht nur ein passiver Empfänger, sondern auch ein Impulsgeber. 3 Petzina, Krisen, S. 186.

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Dies zeigte sich in den Jahren nach Verabschiedung der Römischen Verträge, als intensiv über eine gemeinsame Wirtschaftspolitik der EWG-Staaten nachgedacht wurde. Nur mit Mühe konnte die Bundesregierung verhindern, dass Frankreich unter seinem sendungsbewussten Präsidenten Charles de Gaulles die »planification économique« als wirtschaftspolitisches Modell des EWGVerbundes durchsetzen konnte. Um Frankreich und der nicht weniger planungsfreudigen EWG-Kommission eine Alternative gegenüberzustellen, lancierte die Bundesregierung 1958 die Idee eines europäischen »Konjunkturboards«, stellte also der mikroökonomischen Investitions- und Unternehmenslenkung die makroökonomische Prozesspolitik gegenüber. Diese vor allem von Müller-Armack konzipierte Idee wurde auf europäischer Ebene nie durchgesetzt, wirkte jedoch stark auf die bundesdeutschen Diskussionen zurück. Hier und in anderen Bereichen (etwa bei der mittelfristigen Finanzplanung) fungierte der europäische Integrationsprozess als Katalysator für die Durchsetzung neuer Konzepte und Handlungsmuster, die sich trotz einer zunächst defensiven Haltung der westdeutschen Regierung auch in der Bundesrepublik etablieren konnten. Auf der anderen Seite wurde die Politik des growthmanship durch die außerordentlich schwierige Konkurrenzbeziehung zum ostdeutschen Teilstaat geprägt. Obwohl die Schwächen der sozialistischen Planwirtschaft schon in den fünfziger Jahren evident waren, gab es in der Bundesrepublik zahlreiche Stimmen, die einen wirtschaftlichen Aufholprozess der DDR erwarteten. Das Wachstumspotenzial der ostdeutschen Wirtschaft wurde vielfach eklatant überschätzt. Die bundesdeutsche Wachstumsforschung, die in den fünfziger Jahren stark expandierte, erhielt durch diese Fehlwahrnehmung wichtige Impulse. Die Bestimmung und Quantifizierung von Wachstumsprozessen in Ost und West, aber auch die Suche nach einer Alternative zum marxistischen Entwicklungsmodell waren hierbei ausschlaggebend. Vor allem in den sechziger Jahren, als die Konvergenztheorie in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an Einfluss gewann, wurde die systemvergleichende Forschung in der Bundesrepublik ausgebaut. Damit einher ging eine semantische Neubestimmung und Entideologisierung des Planungsbegriffes, der seine negativen Konnotationen fast vollständig verlor und zügig in das politische Vokabular der Bundesrepublik eingebürgert wurde. Die Veränderung des politisch-kulturellen Umfeldes gilt es zu berücksichtigen, wenn nach den Motiven für die Durchsetzung wirtschafts- und finanzpolitischer Planungskonzepte in der Bundesrepublik gefragt wird. Der heute kaum noch nachvollziehbare Planungsoptimismus speiste sich nicht allein aus den zunehmend komplexer werdenden Aufgaben der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, sondern war auch das Resultat eines sich in verschiedenen Handlungskontexten diskursiv anbahnenden Politikwandels. Genau dies war allerdings auch der Grund dafür, weshalb die im öffentlichen Sektor sukzessi359 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

ve eingeführten Planungstechnologien – von der antizyklischen Fiskalpolitik über die mittelfristige Finanzplanung und die Nutzen-Kosten-Analyse bis hin zum Programmbudget – mit außerordentlich großen Erwartungen beladen waren, die sich in der Praxis nur schwer erfüllen ließen. Zwar stellte das als Jahrhundertwerk gefeierte Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967 ein ungewöhnlich breites Instrumentarium an wirtschafts- und finanzpolitischen Interventionsmöglichkeiten bereit, das auch international zu diesem Zeitpunkt ohne Vorbild war. Die lange Zeit als planungsresistent geltende Bundesrepublik hatte sich damit gleichsam an die Spitze derjenigen Länder gestellt, welche die keynesianische Globalsteuerung institutionell und rechtlich zur Grundlage ihrer Wirtschaftspolitik machten. Dies geschah jedoch zu einem Zeitpunkt, als der Keynesianismus in vielen westlichen Industriestaaten und namentlich in den USA seinen Zenit bereits überschritten hatte. In wissenschaftlichen Kreisen diskutierte man dort längst über neue, vom Monetarismus und den supply-side economics beeinflusste Konzepte, die an den Möglichkeiten diskretionärer Nachfragesteuerung zweifelten und statt dessen eine regelgebundene Wirtschaftspolitik favorisierten. In der Bundesrepublik bewertete man die Chancen staatlicher Konjunkturund Wachstumsbeeinflussung zunächst noch weitaus optimistischer, schien doch die rasche Überwindung der Rezession von 1966/67 zu beweisen, dass eine Verstetigung des krisenfreien Nachkriegswachstums möglich war, sofern man die Stellschrauben der Makroökonomik an den richtigen Punkten anzog und von Zeit zu Zeit neu justierte. Diese in den Jahren der Großen Koalition von einer breiten Mehrheit der Wirtschaftspolitiker und Ökonomen getragene Zuversicht wich jedoch spätestens Ende der sechziger Jahre einer wachsenden Skepsis. Mehrere Faktoren spielten hierbei zusammen. Erstens erwiesen sich die wissenschaftlichen Prognosesysteme als notorisch unzuverlässig. Dies galt nicht nur für die Jahresprognosen, die Sachverständigenrat, Wirtschaftsforschungsinstitute und ein eigens eingerichteter Interministerieller Arbeitskreis unabhängig voneinander erstellten, sondern auch für die mittelfristigen Projektionen mit einem Zeithorizont von fünf Jahren, die der Finanzplanung zugrunde gelegt wurden. Nichts diskreditierte die projektive Wirtschafts- und Finanzpolitik mehr als die eklatanten Prognosefehler, die trotz ständiger Verfeinerung der Instrumente mit großer Regelmäßigkeit auftraten. Zweitens stieß die 1967 von Strauß und Schiller initiierte Konzertierte Aktion, mit der die wirtschaftlichen Verbände in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden werden sollte, schon nach kurzer Zeit an ihre Grenzen. Ihre Hauptfunktion, die Einkommensentwicklung an die wachstums- und konjunkturpolitischen Ziele anzupassen, ließ sich aufgrund zunehmender Spannungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern immer weniger realisieren. Die ständige Erweiterung des Teilnehmerkreises und die Erschlie360 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

ßung neuer Kompetenzfelder durch das Gremium konnten diesen Grundkonflikt jeweils nur für kurze Zeit überdecken. Vor allem die Gewerkschaften gerieten Ende der sechziger Jahre gegenüber der eigenen Basis in eine Legitimationskrise, da ihre Spitzen auf der Grundlage viel zu pessimistischer Projektionen des Sachverständigenrats und der Konjunkturinstitute niedrigen Tarifabschlüssen zugestimmt hatten. Von der anfänglichen Harmonie, die 1967 unter dem Eindruck der Rezession in dem Gremium vorgeherrscht hatte, war drei Jahre später nicht mehr viel zu spüren. Drittens endete 1969 mit der Großen Koalition auch die Möglichkeit, das Ausgabenverhalten von Bund, Ländern und Gemeinden in Einklang zu bringen. Die Probleme der föderalen Finanzverfassung waren während der Großen Koalition nur vorübergehend überdeckt, nicht jedoch wirklich beseitigt worden. Nun endete auch der parteiübergreifende Modernisierungskonsens der sechziger Jahre, zumal die sozialliberale Koalition gesellschaftspolitische Reformvorhaben in das Zentrum ihrer Regierungsarbeit stellte, während die Wirtschafts- und Finanzpolitik ins zweite Glied trat und den Fachpolitikern überlassen wurde. Vor allem im bürgerlichen Lager rückte man nun rasch wieder von den keynesianischen Ideen ab, denen man sich in den sechziger Jahren, dem Zeittrend folgend und einer latenten Krisenstimmung erliegend, angeschlossen hatte, ohne jedoch den Fortschrittsoptimismus der Sozialdemokraten jemals zu teilen. Umso leichter fiel es den christlichen Volksparteien, nun aus der Opposition heraus die Schwächen der keynesianischen Makropolitik anzuprangern und gegen den vermeintlich zum »Leviathan« wuchernden Staat anzukämpfen. Auch führende Volkswirte sowie die wichtigsten politikberatenden Institutionen wandten sich am Anfang der siebziger Jahre vom keynesianischen Steuerungsmodell ab, das spätestens mit der fehlgeschlagenen Krisenbekämpfung 1974/75 und der nachfolgenden Stagflation diskreditiert war. Auf den ersten Blick schien es, als würde damit auch die wirtschaftswissenschaftliche Expertise ihre einst unangefochtene Autorität verlieren. Die Möglichkeiten einer »Verwissenschaftlichung« der Politik wurden nun allenthalben skeptisch bewertet. Insbesondere wurde schmerzlich bewusst, dass der wissenschaftliche Fortschritt nicht automatisch zu besseren Erkenntnismöglichkeiten führt. Die Geschichte der ökonometrischen Prognose bestätigt die Einsicht der Wissenschaftstheorie, dass mit dem Zuwachs an wissenschaftlichem Wissen auch das Nicht-Wissen zunimmt, d. h. das Wissen darüber, was noch unbekannt ist oder nicht gewusst werden kann.4 Je mehr die Methoden verfeinert wurden, desto deutlicher trat hervor, wie unsicher die ökonomischen Prognosen in Wirklichkeit waren und wie schwierig es war, komplexe wirtschaftliche Prozesse in mathematischen Modellen abzubilden. 4 Vgl. Böschen u.a.

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Nicht zuletzt verloren zentrale ökonomische Kategorien wie »Wachstum« und »Fortschritt« im Kontext einer zunehmend ambivalent bewerteten Moderne ihre eindeutig positive Konnotation. Die Debatten über die »Grenzen des Wachstums«, die ökologischen Risiken der Industriegesellschaft, die weltweite Bevölkerungsexplosion und die Endlichkeit der Ressourcen beeinflussten das politische Klima der siebziger Jahre in hohem Maße und wirkten auch auf das Selbstverständnis des Faches zurück. Die pessimistischen Zukunftsszenarien einflussreicher internationaler think tanks wie dem »Club of Rome« wurden zwar nicht von allen geteilt, doch das wissenschaftliche Forschrittsideal blieb davon nicht unberührt. Es sollte sich aber zeigen, dass die in der Nachkriegszeit gewachsene wirtschaftswissenschaftliche Expertenkultur dadurch nicht ernsthaft gefährdet wurde. Die Zahl der Sachverständigengremien und Beratungsorgane nahm weiterhin zu. Sie prägten nicht nur die wirtschaftspolitischen Diskussionen in der Öffentlichkeit, sondern auch die politischen Handlungsparameter und Entscheidungsprozesse.5 Die ökonomische Expertise hatte sich in der politischen Kultur der Bundesrepublik fest eingebürgert und bewies weiterhin eine erstaunliche Vitalität.

5 Vgl. Murswieck.

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Abkürzungen

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Auswärtiges Amt Archiv für Christlich-Demokratische Politik Archiv der Sozialen Demokratie American Economic Review Aus Politik und Zeitgeschichte Bundesarchiv Koblenz Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bundesverband der Deutschen Industrie Bank deutscher Länder Bundesgesetzblatt Bundesministerium für Arbeit Bundesministerium für Finanzen Bundesministerium für Wirtschaft Christlich-Demokratische Union Deutschlands Comité Européen pour le Progrès Economique et Social Christlich-Soziale Union Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutscher Gewerkschaftsbund Deutscher Industrie- und Handelstag Drucksache Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Europa Archiv Economic History Review Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Finanzarchiv Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Deutschlands Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historisches Archiv der Deutschen Bundesbank, Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv Institut für Konjunkturforschung Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik Konzertierte Aktion Konjunkturpolitik Archiv der Ludwig-Erhard-Stiftung Mittelfristige Finanzplanung Nutzen-Kosten-Analyse

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NÖSPL Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft OEEC Organization of European Economic Cooperation PPBS Planning-Programming-Budgeting-System RWI Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung SchmJb Schmollers Jahrbuch SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands StWG Stabilitäts- und Wachstumsgesetz SVR Sachverständigenrat SZ Süddeutsche Zeitung VGR Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte WWA Weltwirtschaftliches Archiv ZBR Zentralbankrat ZgS Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

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Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Ungedruckte Quellen Bundesarchiv Koblenz (BAK) B 102 Bundesministerium für Wirtschaft B 122 Bundespräsidialamt B 126 Bundesministerium für Finanzen B 136 Bundeskanzleramt B 137 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen B 137/I Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands B 146 Bundesministerium für den Marshallplan BD 17 Bundesministerium für Wirtschaft/Sammlung amtlicher Druckschriften N 216 Nachlass Heinrich Lübke N 234 Nachlass Fritz Baade N 281 Nachlass Hans Dichgans N 1168 Nachlass Fritz Schäffer N 1256 Nachlass Ludwig Kattenstroh N 1266 Nachlass Walter Hallstein N 1229 Nachlass Karl Schiller N 1254 Nachlass Franz Etzel N 1294 Nachlass Hjalmar Schacht N 1299 Nachlass Wilhelm Claussen N 1369 Nachlass Alex Möller

Historisches Archiv der Deutschen Bundesbank, Frankfurt a.M. (HADB) Nachlass Wilhelm Vocke B 330 Schriftwechsel Karl Blessing B 330/Drs. Sitzungsprotokolle des Zentralbankrates

Archiv der Sozialen Demokratie, Bonn (AdSD) Parteivorstand: Protokolle Parteivorstand: Akten Parteivorstand: Wirtschaftspolitischer Ausschuss Nachlass Heinrich Deist DGB-Archiv, Bundesvorstand

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Archiv für Christlich-Demokratische Politik, St. Augustin (ACDP) VII-005 Bundespartei VIII-003 CDU/CSU-Bundestagsfraktion I-028 Nachlass Heinrich Krone I-083 Nachlass Fritz Hellwig I-092 Nachlass Franz Etzel I-093 Nachlass Otto A. Friedrich I-236 Nachlass Alfred Müller-Armack I-475 Nachlass Friedrich Karl Vialon

Archiv der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn (LES) Nachlass Ludwig Erhard

Institut für Zeitgeschichte, München (IfZ) ED 150 Nachlass Hans Möller

2. Zeitgenössische Periodika Allgemeines Statistisches Archiv American Economic Review Bankarchiv Der Betriebsberater Deutsche Studien Econometrica The Economic Journal Europa Archiv Finanzarchiv Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Jahrbuch für Sozialwissenschaft Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik The Journal of Economic Literature Journal of Political Economy Kyklos Mitteilungen des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften Der Monat Monatsblätter für freiheitliche Wirtschaftspolitik Die neue Gesellschaft Die öffentliche Verwaltung Ordo The Quarterly Journal of Economics

366 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

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Register

Personenregister Abeken, Gerhard 181f. Abelshauser, Werner 320 Abendroth, Wolfgang 240 Abs, Hermann Josef 144, 252, 274 Adam, Adolf 202 Adenauer, Konrad 141, 143–145, 147–149, 155f., 159f., 210f., 218, 224, 234, 244, 246, 249, 252–258, 260, 262–264, 266f., 274, 276f., 279, 299, 319, 356 Agartz, Viktor 236, 240, 247 Agnoli, Johannes 282 Albert, Hans 130, 134 Albrecht, Gerhard 30 Allen, Edward 82 Altmann, Rüdiger 281 Ammon, Alfred 55 Anderson, Oskar 95 Andreae, Clemens-August 324 Arndt, Klaus-Dieter 107, 294, 305 Arnold, Karl 143 Aron, Raymond 189 Baade, Fritz 48, 62, 68, 72, 96f., 112, 157, 199, 238 Back, Joseph 30 Bahr, Egon 187 Balke, Siegfried 111, 173, 251, 337 Barone, Enrico 45 Barzel, Rainer 153, 164, 216, 299–301 Bauer, Walter 218 Bauer, Wilhelm 165, 168, 299 Baumann, Wolfgang 220 Bechtel, Heinrich 30 Becker, Curt 155f. Beckerath, Erwin v. 31, 41, 46, 49, 132–134, 175, 193 Bender, Peter 187 Bendix, Reinhard 189 Berg, Fritz 144, 159, 248, 251f., 257f., 274

Berger, Helge 17–19 Bernhardt, Klaus 313 Bernstein, Michael 14 Bertaux, Pierre 199, 202 Beutler, Wilhelm 225 Biedenkopf, Kurt 318 Binder, Paul 70, 164f., 218 Blank, Theodor 156, 286 Blessing, Karl 210, 267, 269, 274, 276f., 323 Blücher, Franz 144, 252 Blyth, Mark 14 Böckler, Hans 141, 144, 234 Boettcher, Erik 194f. Bohlen, Josef 111, 265 Böhm, Franz 13, 17, 33, 37–39, 41–44, 123, 126, 353 Bombach, Gottfried 75–80, 103, 114, 119, 185, 203, 218, 221 Borchardt, Knut 42, 52, 60, 67, 69, 99, 104, 169, 197, 304 Bortkiewicz, Ladislaus 46 Böventer, Edwin v. 61 Bracher, Karl Dietrich 237, 283 Bramstedt, Paul 105 Brandt, Karl 48, 76 Brandt, Willy 239, 273, 343, 348 Brenner, Otto 316 Brentano, Heinrich v. 143 Briefs, Götz 281f. Brinkmann, Carl 28f., 32, 238 Brüning, Heinrich 67–71, 314, 358 Brunner, Karl 349 Brzezinski, Zbigniew 192 Burchardt, Fritz 47 Burnham, James 189, 198 Cassel, Gustav 45 Chamberlin, Edward 56 Clausing, Gustav 30

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Colm, Gerhard 47, 54, 82f., 85f., 88 Cournot, Antoine 45 Dahlgrün, Rolf 286, 289 Dalberg, Rudolph 65 Dehler, Thomas 144, 146f. Deist, Heinrich 162, 168, 237–242, 244, 294, 357 Dichgans, Hans 226, 317 Dietze, Constantin v. 37, 43, 49 Dilthey, Wilhelm 35 Dodge, Joseph M. 83 Domar, Evsey David 75–78 Donner, Otto 50 Dräger, Heinrich 65, 69 Dresbach, August 148 Drucker, Peter F. 189 Duesenberry, James 75 Eckert, Christian 30 Egner, Erich 30 Ehmke, Horst 336 Ehrlicher, Werner 67f. Eichler, Willi 237, 239f. Ellwein, Thomas 303 Emminger, Otmar 210, 274, 317 Erhard, Ludwig 13, 17, 43, 63, 71, 87, 94f., 98, 143–145, 147–150, 155–159, 161f., 166– 168, 173, 208, 210, 212, 214, 216, 218, 225, 234–236, 241, 244–246, 248–260, 262f., 265–267, 269, 272–274, 276f., 279–283, 286, 293–301, 303–307, 310, 312, 315, 317, 356f. Erler, Fritz 239 Ernst, Friedrich 252 Etzel, Franz 143, 210, 256, 262, 263, 265–267, 270f., 274, 276, 286, 306, 357 Eucken, Walter 17, 33–37, 39–44, 49, 55, 59, 106, 113, 123, 126–128, 156, 176, 193, 219, 239, 353 Eynern, Gert v. 238, 241 Fack, Fritz Ullrich 313 Feder, Gottfried 49 Fick, Hans 50 Fischer-Menhausen, Herbert 290 Föhl, Carl 50f., 54, 105f., 218, 221 Forsthoff, Erich 140 Fourastié, Jean 189 Frauendorfer, Max 49 Freitag, Walter 251 Freyer, Hans 198 Fried, Ferdinand 314

Friedensburg, Ferdinand 64–66, 72, 93f., 98, 112, 159, 294 Friederichs, Hans 348 Friedman, Milton 349 Friedrich, Otto A. 71, 177f., 199, 220, 262 Frisch, Ragnar 56, 120 Fürst, Gerhard 108f., 119, 159 Galbraith, John Kenneth 68, 198 Gallup, George 95 Garvy, George 51 Gaulle, Charles de 211, 215, 218, 229, 359 Gehlen, Arnold 198, 281 Gehrig, Gerhard 117 Geiger, Theodor 171 Gerloff, Wilhelm 30, 82f., 86, 126 Germanicus (Pseud.) 182 Gerschenkron, Alexander 48, 191 Giersch, Herbert 218, 221, 317, 325, 327, 337, 343, 356 Gleitze, Bruno 180–182, 184f., 238 Globke, Hans 258 Gocht, Rolf 219, 224, 227f., 285, 306 Goldsmith, Raymond 83 Gothein, Eberhard 29 Gottl-Ottlilienfeld, Friedrich v. 28f., 31 Grävell, Walter 50, 65 Groeben, Hans von der 211 Grosser, Alfred 11 Großmann-Doerth, Hans 33, 37, 43, 123 Grotkopp, Wilhelm 66, 68f., 102, 314 Grünig, Ferdinand 50, 94, 105–107, 182 Haberler, Gottfried 48, 73 Habermas, Jürgen 356 Hahn, Albert 51, 57–59, 112f., 116 Hallstein, Walter 225 Hansen, Alvin 60, 82, 84, 237 Harms, Bernhard 47, 69, 83, 92 Harrod, Roy 74–78, 80 Hartmann, Alfred 81 Hassel, Ullrich v. 93 Hayek, Friedrich A. v. 34, 38, 48 Heckscher, Eli 57 Heimann, Paul 241 Heller, Walter 12 Hellwig, Fritz 179, 261f. Henle, Günter 252 Hensel, Karl Paul 44, 128, 130, 176, 181, 193f. Heß, Rudolf 94 Hettlage, Karl Maria 333, 344 Heuß, Ernst 18 Hicks, John R. 59f., 75f., 354

417 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Hildebrand, Klaus 282 Hirsch, Etienne 215 Hirschman, Albert O. 48 Hoffmann, Walther G. 61, 77f. 165 Hofmann, Werner 102f. Honecker, Erich 202f. Huber, Ernst Rudolf 140 Huntington, Samuel 192 Jacobsen, Per 277 Jahn, Georg 32 Jansen, Hauke 49 Jasny, Naum 190 Jecht, Horst 30 Jessen, Jens 49 Jevons, W. Stanley 45 Johnson, Lyndon B. 282, 335 Jöhr, Walter 67 Kade, Gerhard 202 Kaiser, Jakob 143 Kaiser, Joseph 292 Kaltefleiter, Werner 298 Kattenstroh, Ludwig 147 Katzer, Hans 339 Kehrl, Hans 50, 103 Kennedy, John F. 187, 216, 276, 282 Keynes, John Maynard 51–65, 68, 73, 75, 77, 357 Keyserling, Leon 153 Kiesewetter, Bruno 195 Kiesinger, Kurt Georg 169, 307, 318, 331, 339f., 342 Klasen, Karl 348 Klaus, Georg 201 Klemmer, Paul 230 Kloten, Norbert 61, 305 Kluncker, Heinz 240 Koch, Harald 164f. Koch, Woldemar 30 Kramer, Matthias 181 Kraus, Willy 76, 78 Krelle, Wilhelm 61, 73, 79, 106, 114, 117–119, 185, 195, 221, 329 Krengel, Rolf 195f. Krockow, Christian Graf v. 199 Kroll, Gerhard 66f., 69 Kromphardt, Wilhelm 61f., 126, 158 Krüger, Herbert 140 Krüger, Wolfgang 314 Kruse, Alfred 55 Kurlbaum, Georg 178 Kuznets, Simon 84, 191

Lampe, Adolf 37, 43, 49, 126f. Landauer, Carl 61 Langelütke, Hans 68, 90f., 95 Langer, Wolfram 219f., 228, 305 Lautenbach, Wilhelm 51, 54, 69 Leber, Georg 162 Lederer, Emil 47f. Lehmbruch, Gerhard 319 Leijonhufvud, Axel 353 Lenel, Hans Otto 44 Leontief, Wassily W. 46f., 76, 84, 105 Lepsius, M. Rainer 175 Liebruck, Manfred 112 Lindahl, Erik 57, 84 Lösch, August 46 Loschelder, Wilhelm 290 Löwe, Adolf 47f. Lübke, Heinrich 256, 260 Luda, Manfred 333, 357 Ludz, Peter Christian 200 Lukas, Eduard 50 Lundberg, Erik 75 Lütge, Friedrich 153 Lutz, Friedrich A. 43f., 47, 61, 113, 128, 313 Machlup, Fritz 48 Mackenroth, Gerhard 30, 238 Macmillan, Harold 216 Malthus, Thomas Robert 47 Mann, Fritz Karl 48, 61, 82, 85, 88 Mannheim, Karl 35 Marjolin, Robert 21, 206, 211, 222, 224, 230 Marschak, Jakob 46, 48, 143 Marshall, Alfred 45, 53f., 59 Marx, Karl 47, 113, 190 Massé, Pierre 215, 228 McCloskey, Deirdre 14 McCloy, John 141 Meinhold, Helmut 62, 219 Menger, Carl 45 Metzler, Lloyd 84 Meyer, Fritz W. 44, 59, 165 Meyer-Cording, Ulrich 230 Miksch, Leonhard 37, 43, 49, 126f. Mill, John Stuart 59 Millikan, Max 183 Mises, Ludwig v. 34, 38, 48, 192f. Modigliani, Franco 60 Möller, Axel 237f., 294, 347 Möller, Hans 70, 210, 218f., 220f. Monnet, Jean 215 Moore, Barrington 191 Morgenstern, Oskar 48

418 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Müller-Armack, Alfred 13, 17, 37, 40–43, 47, 68, 132, 159, 205f., 208–214, 220f., 228– 230, 255, 259, 263, 270, 273, 279–281, 286, 296, 300f., 305, 324, 357, 359 Mundell, Robert 269 Musgrave, Richard A. 48, 83–86, 88 Mussolini, Benito 41, 140 Myrdal, Gunnar 57 Naphtali, Fritz 139 Neef, Fritz 305 Neisser, Hans 47, 54 Nell-Breuning, Oswald v. 59, 126, 129f., 139f. Nelson, Robert 14 Neuberger, August 290 Neumann, John v. 48 Neumark, Fritz 48, 83, 85–87, 218f., 221, 290 Nietzsche, Friedrich 35 Nöll van der Nahmer, Robert 50 Nölting, Erik 236, 244 Nourse, Edwin 153 Nutter, G. Warren 190f. Oeftering, Heinz Maria 255 Ohl, Jörg 50f., 69 Ohlin, Bertil 57 Opitz, Reinhard 282 Oppenheimer, Franz 40 Oppenländer, Karl-Heinrich 78 Ortlieb, Heinz-Dietrich 238 Ott, Alfred E. 78 Paloczi-Horvarth, Georg 198 Papi, Ugo 86 Patinkin, David 60 Paulsen, Andreas 56f., 62, 131 Paulssen, Hans-Constantin 157, 159 Peacock, Alan 86 Pedersen, Jørgen 26 Perroux, François 219 Peter, Hans 46, 49f., 62, 105f., 119, 126 Pferdmenges, Robert 144, 251f., 274, 276 Pfister, Bernhard 44, 61 Piatier, André 217 Pigou, Arthur Cecil 53, 84 Pöhl, Karl Otto 308 Potthoff, Erich 236 Predöhl, Andreas 32, 46, 64, 194, 238 Preiser, Erich 50, 62, 78f., 104, 106, 126, 158 Preusker, Viktor Emanuel 256, 260 Pütz, Theodor 72, 80

Raumer, Hans v. 137 Raymond, Walter 83, 141 Rettig, Fritz 157 Reuter, Ernst 237 Ricardo, David 59 Richert, Ernst 198 Richter, Willi 157 Riese, Hajo 78 Ritschl, Albrecht 55 Ritschl, Hans 30f., 126 Rittig, Gisbert 268 Robinson, Joan 75 Roeder, Ernst v. 265 Rompe, Franz 266, 277 Röpke, Wilhelm 13, 17, 37–43, 47, 54, 57–59, 85, 102, 276, 281 Rose, Klaus 76 Rosenberg, Ludwig 162 Rostow, Walt 190f. Rudolph, Johannes 201 Rüstow, Alexander 17, 37, 39–43, 85, 276, 281 Saint-Simon, Claude Henri 113 Salin, Edgar 29f., 32f., 51, 129, 196, 222 Samuelson, Paul A. 60, 75, 84, 354 Sanderson, Fred 183 Sauermann, Heinz 31, 61, 158 Schaeder, Reinhard 32 Schäffer, Fritz 145, 148, 249–258, 262f., 266 Scharnberg, Hugo 256 Scheel, Walter 261 Schelsky, Helmut 198, 281 Schiettinger, Fritz 266, 271, 284, 306 Schiller, Karl 13, 47, 50, 62, 124, 126, 131f., 158f., 167, 169, 237–244, 293f., 299f., 302f., 305–309, 315f., 318f., 321–323, 325, 327– 329, 332, 337–339, 341–344, 347–349, 351, 357, 360 Schimmler, Harry 100 Schlecht, Otto 226, 296, 299, 306, 317, 320, 337 Schmid, Carlo 237, 239, 332 Schmidt, Helmut 13 Schmidt, P. Wilhelm 40, 348f., 352 Schmitt, Carl 40 Schmölders, Günter 81f., 86, 114, 126, 164 Schmoller, Gustav v. 27–32 Schmücker, Kurt 167, 171, 286, 289f., 316, 332 Schneider, Erich 13, 25f., 56f., 59f., 62, 75, 78, 97, 114, 218 Schöllhorn, Johannes 230, 305 Schröder, Gerhard 187

419 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Schumacher, Hermann 33 Schumacher, Kurt 236 Schumpeter, Joseph 26, 32, 45–47, 51, 84, 113, 183 Seebohm, Hans-Christoph 111, 256 Seidenfus, Hellmuth 30 Seraphim, Hans-Jürgen 181 Shannon, Claude 201 Shoup, Carl 82 Sievert, Olaf 168f., 172 Singer, Hans 48 Slotosch, Walter 313 Smith, Adam 59 Snell, Edwin 183 Sohl, Hans-Günther 252 Sohmen, Egon 170, 343 Solow, Robert 76f. Sombart, Werner 27–29, 31, 41 Sorokin, Pitrim A. 189 Spann, Othmar 28, 40 Spengler, Oswald 35, 40 Spiethoff, Arthur 27–31, 47, 51f. Stackelberg, Heinrich v. 46f., 49, 56 Starke, Heinz 286 Stauffenberg, Werner v. 93 Steltzer, Theodor 218 Sternberg, Fritz 189 Stolper, Gustav 61, 183 Stolper, Wolfgang 61, 183–185 Stone, Richard 102 Storch, Anton 138, 143, 256 Strauß, Franz Josef 169, 299–301, 308, 323, 328, 332, 338f., 341–343, 360 Strauß, Walter 137f. Streeten, Paul 48 Streller, Rudolf 46 Stucken, Rudolf 50, 69, 126 Stützel, Wolfgang 69, 218, 325 Tarnow, Fritz 97, 138 Terhalle, Fritz 126 Thalheim, Karl-C. 181, 194 Thünen, Johann Heinrich v. 46 Tietmeyer, Hans 220, 306 Tillich, Ernst 241 Tinbergen, Jan 76, 86, 115, 192, 195 Toole, Edward 183 Tooze, Adam 14, 50, 93

Toynbee, Arnold Joseph 40 Tribe, Keith 18 Troeger, Heinrich 290 Troeltsch, Walter 38 Truman, Harry S. 101, 152 Tuchtfeldt, Egon 124, 171, 197 Ulbricht, Walter 179, 200 Unland, Josef 281 Uri, Pierre 219 Veit, Hermann 240 Vershofen, Wilhelm 92 Vialon, Karl Friedrich 273 Vocke, Wilhelm 251, 254f., 263 Vogel, Bernhard 230 Vogel, Rudolf 178 Vogt, Winfried 75 Vosgerau, Hans-Jürgen 80f. Waffenschmidt, Walter 50, 106 Wagemann, Ernst 47, 50, 90, 92f., 165, 180 Wagener, Otto 49 Wagenführ, Rolf 50, 103 Wagner, Karl 95 Walras, Leon 45, 59 Weber, Alfred 29, 44–46, 55 Weber, Max 27, 31, 35, 41, 196 Wehner, Herbert 293 Weippert, Georg 29f. Weisser, Gerhard 62, 129f., 238, 241 Weizsäcker, Carl Christian v. 76 Weizsäcker, Carl Friedrich v. 196f. Welter, Erich 181 Werlé, Eduard 70, 178, 221, 284 Wessels, Theodor 126 Westrick, Ludger 248, 258, 286 Wicksell, Knut 45, 57, 84 Wiener, Norbert 201 Wiese, Leopold v. 40, 130 Wilson, Harold 215, 282 Wissler, Albert 91, 94, 99, 119, 130f., 153, 198 Wolf, Eduard 94, 100f., 255, 275 Woytinsky, Wladimir 97 Zebot, Cyril 191 Zencke, Hans-Henning 11, 344 Zwiedineck-Südenhorst, Otto v. 29

420 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Sachregister Adolf-Weber-Stiftung 173 Akademie für Deutsches Recht 49 – Zentralausschuss Volkswirtschaftslehre 49 Aktionsgemeinschaft für Soziale Marktwirtschaft 13, 125, 313 Alfred-Weber-Institut 61 Alliierte Besatzungspolitik 43, 51, 83, 126, 183 Angebotstheorie 53, 330, 350 Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute 80, 94, 98f., 195, 221 Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath 49 Arbeitsmarkt 53–55, 62, 212, 250, 301, 321f., 326f., 337 – Arbeitslosigkeit 53f., 62f., 67, 73, 113, 234f., 246, 264, 288, 322, 327, 333, 350 Association d’Instituts Européens de Conjoncture Économique 217 Aufwertung der D-Mark 119, 128, 169f., 268, 273–279, 283, 336–345 Außenhandel 38, 77, 160, 166, 184, 206, 246f., 250, 267, 272–274, 277, 297, 314, 327, 339, 341, 357 – Exportpräferenz 206 Außerparlamentarische Opposition/Studentenproteste 169, 314, 337, 348 Auswärtiges Amt 38, 217, 224 Bank deutscher Länder 94, 100f., 109, 246f., 250f., 254–257, 259, 263f. Bayerisches Statistisches Landesamt 90, 95 – Informations- und Forschungsstelle 95 Belgien 217, 285 Betriebsverfassungsgesetz 143, 146, 234 Bi-Zone 95, 129, 142, 236 Board of Directors, US-Notenbank 84 Börse (Frankfurt) 268, 346 Börsenverein Deutscher Verleger und Buchhändlerverbände 147 Bretton Woods, Abkommen von 22, 269, 274, 343, 346 Brookings Institution (Washington D.C.) 104, 152 Budgetamt (USA) 83, 87 Budgetplanung 83–88, 110, 220f., 223, 243, 266, 312f., 326, 330f., 360

Bundesausgleichsamt 273 Bundesinstitut für Ostwissenschaften (Köln) 186 Bundeskanzleramt 20, 109, 123, 150, 210, 228, 257, 263, 271, 273–275, 286, 334, 336, 344, 347, 357 – Planungsabteilung 336, 344 Bundesministerium der Justiz 137, 144, 146f., 263 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 109, 123, 138, 285f., 339 Bundesministerium für Atomfragen 111, 116 Bundesministerium für Finanzen 20, 31, 68, 88, 109f., 123–127, 158–161, 170, 212, 224, 229, 249, 254–263, 265f., 269–271, 274, 283–286, 289–292, 309–311, 324, 327, 329, 333f., 341f., 344, 347f., 357 – Volkswirtschaftliches Generalreferat 123, 266 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen 143, 181 – Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung 181–186, 193 Bundesministerium für Landwirtschaft 251, 256, 260, 332, 344 Bundesministerium für Verkehr 109, 111f., 251, 256, 308, 321, 332 Bundesministerium für Wirtschaft 17, 31, 41, 43, 105, 109–112, 116, 123f., 127, 145–149, 154, 157–163, 170f., 181, 210, 212, 217, 219f., 223f., 227–230, 241, 244, 246, 248, 251f., 254–256, 259, 261, 264f., 269, 271– 274, 277, 279, 281, 283–286, 288–291, 296, 305f., 308, 310, 316, 324–330, 333f., 337, 340f., 348, 351 – Interministerieller Ausschuss für Fragen der Wiedervereinigung auf wirtschaftspolitischem Gebiet 181 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit 109 Bundesministerium für Post- und Fernemeldewesen 251, 321 Bundesrechnungshof 88, 110, 123, 283 Bundestagswahlen – 1949: 234, 244 – 1953: 236, 239, 244

421 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

– 1957: 253, 256, 263, 273, 279 – 1961: 160, 276, 279, 285f. – 1965: 281, 303f. – 1969: 169, 341–343 Bundesverband der Deutschen Industrie 116, 155, 159, 161, 220, 225, 241, 248f., 252, 257f., 275, 277, 316 Bundesverband der freien Berufe 136, 147f. Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte 147, 238 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 141–143, 146f., 150, 155–157, 161, 251, 259, 271, 316, 323, 337 Bundeswehr 252, 265, 332 Bundeswirtschaftsrat 136–151, 153, 155, 159, 248, 317f., 355 Central Planning Bureau (Niederlande) 115, 192 Centre d’Observation Économique (Frankreich) 217 Christlich Demokratische Union Deutschlands 43, 70, 93, 140, 143, 148f., 150, 155, 159, 163–165, 178f., 216, 219f., 226, 230, 241, 251, 256f., 260–263, 277, 279–281, 284–287, 290f. 299, 302, 304, 306, 317, 333, 341, 357 – Ahlener Programm 140 – Mittelstandsvereinigung 286 – Wirtschaftsausschuss 70, 150, 178, 219f., 256, 260, 284 Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. 66, 141, 249, 279 Club of Rome 362 Colm-Dodge-Goldsmith-Plan 83 Comité Européen pour le Progrès Économique et Social 70, 218, 221 Commissariat Général du Plan (Frankreich) 215, 219 Computerisierung 115, 117f., 200, 202 Congressional Joint Committee on the Economic Report (USA) 183 Contact International de Recherches Économiques Tendancielles 217 Council of Economic Advisors (USA) 12, 83, 101, 152f., 173, 356 Cowles Commission for Research in Economics (Chicago) 104 DDR-/Ostforschung 176, 180–200, 202, 359 Deutsche Angestellten-Gewerkschaft 148, 316 Deutsche Bundesbahn 292 Deutsche Bundesbank 17, 20, 100f., 109, 124,

127, 156, 160f., 168, 170, 207, 219f., 213, 254, 257, 259, 263f., 265, 267–269, 271f., 274f., 277, 283, 290, 292f., 297, 301, 309f., 317, 321–323, 328, 330, 338, 340–342, 345f., 348f., 350f. – Bundesbankgesetz 264 – Zentralbankrat 246, 248, 251, 253f., 257, 262, 264f., 267, 274f., 301, 317, 321, 323, 340 Deutsche Demokratische Republik 16, 21, 175f., 179–188, 200–204, 235, 239, 359 – Kybernetische Revolution 201f. – Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft 187f., 200 – Siebenjahresplan 179 – Wissenschaftlich-technische Revolution 200–203 Deutsche Forschungsgemeinschaft 60, 96, 99, 104, 106, 117f., 355 Deutsche Partei 144 Deutsche Statistische Gesellschaft 90 Deutsche Volkswirtschaftliche Gesellschaft 125, 173 Deutscher Bauernverband 147, 338 Deutscher Beamtenbund 147 Deutscher Bundestag 20, 110, 137, 139–141, 143–146, 150, 154, 161–163, 165, 168, 173, 241, 243f., 250, 256, 258, 260, 262, 284, 287, 294, 301f., 307f., 310–312, 314, 318, 325, 329, 343 Deutscher Gewerkschaftsbund 103, 141f., 144, 148, 150, 157f., 162f., 234, 241, 247, 251, 271, 316f., 323, 327, 346 Deutscher Soziologentag 197 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Berlin) 65, 93f., 97f., 100, 103, 107, 112, 155f., 180–182, 185, 195f., 202, 217, 238, 294, 324, 328 – Abt. Auslandswirtschaft 100 – Abt. Auslandswirtschaft Ost 195 – Abt. Mitteldeutschland 182 – Abt. Sozialwirtschaft und Sowjetische Besatzungszone 180 – Abt. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 294 Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag (Élysée-Vertrag) 218 Deutschlandpolitik 186f., 242 Devisenaufnahme/Währungsreserve 206, 231, 246f., 268f., 272f., 277, 283, 340, 342 Dirigismus, Vorwurf des 58f., 67, 114, 164, 214, 216, 220, 244, 302, 313, 354

422 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Einkommenspolitik 315 EMNID-Institut 246, 321 Employment Act (USA) 73, 87, 101, 152 Energie-Institut (Köln) 112 Energiepolitik 112, 241 Entspannungspolitik 187 Entwicklungshilfe 275, 281, 341 Entwicklungsökonomie 190 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl 103, 111, 206, 212, 256, 266 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 21, 108, 160, 205, 208–216, 218–220, 222–231, 264, 270, 272, 312, 331, 341, 355, 359 – Ausschüsse 212, 214, 226f., 272f. – Kommission 21, 160, 211–213, 218, 222– 229, 231, 272, 359 Europäische Zahlungsunion 206, 268 Europäischer Wirtschaftsrat 76 Europäisches Konjunkturboard 21, 206–214, 228, 230, 359 – Stabilisierungsfonds 209 Europäisches Parlament 93, 225f. Fair Deal (USA) 152 Faschismus (Italien) 41, 140 Fehlprognosen 113, 119, 203, 296, 332f., 336f., 344f., 360 Finanzplanungsrat 334, 347 Finanzreform (Große Koalition) 88, 287, 289–291, 293f., 298, 305–308, 325, 334f., 339 Finanzwissenschaft 31, 64, 81–88, 126, 202, 266 Fiskalpolitik 12, 37, 55, 58, 65, 67f., 81, 87, 160, 166, 211–214, 224, 245, 250, 256, 259, 261, 266f., 269, 272, 275, 281, 291f., 295, 310, 321f., 326–328, 342, 347–350, 359– 361 Föderalismus 287, 334, 347, 361 – Gemeinschaftsaufgaben 291, 335 – kooperativer Finanzf. 325 – Politikverflechtung 287 Foreign Office (UK) 182 Formierte Gesellschaft 281f. Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen 186 Frankfurter Allgemeine Zeitung 181, 308, 313 Frankreich 48, 110, 189, 192, 205f., 211–226, 228–230, 282, 331, 340f., 359 Freie Demokratische Partei Deutschlands 144, 154–156, 161, 164, 258–260, 285–288, 291, 302, 304, 342f., 348 – Wangerooger Programm 141

Friedrich-Naumann-Stiftung 222 Fritz Thyssen Stiftung 96 Geldpolitik 34, 52, 101, 207, 213f., 251, 251, 264, 268f., 269, 275, 293, 310, 340, 346, 349–352 – Diskontsatz 213, 247f., 253f., 257, 262, 264f., 267, 275, 297, 321, 323, 335 – Geldmengenpolitik 349f. – Mindestreserve 268, 275, 323 – Offenmarktpolitik 209, 265, 268, 293, 310 General Agreement on Tariffs and Trade 206 Gesamtdeutsches Institut (Bonn) 186 Gesellschaft für Konsumforschung (Nürnberg) 92, 97 – Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware 92 Gewerkschaften 60, 135–151, 155–157, 162, 164–167, 181, 212, 215, 219f., 234, 236, 238, 240, 247, 251, 259, 267, 271, 276, 312, 314–318, 320–323, 327, 336–338, 342, 345f., 360f. Gleichgewichtstheorie 42, 45f., 49f., 53, 57, 60, 74f., 130, 267, 300, 309, 313 – Harrod-Domar-Modell 76–78 Globalsteuerung 233, 282, 302, 304–306, 313, 319, 327f., 343f., 349, 360 Great Society Program (USA) 282 Große Koalition 21f., 150, 169, 287, 300, 305– 343, 347, 357, 360f. Grundgesetz 70, 141, 270, 311, 314 Gürzenich-Affäre 22, 244, 257–264, 356 Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA) 97–99, 112, 217, 238 Harvard University Committee on Economic Research 92 Haushaltsdefizit 34, 269, 297f., 301, 303f., 307, 321, 331f., 347f. Haushaltssicherungsgesetz 303 Hessenplan 287 Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung 44, 66, 68, 70, 91, 94–96, 98–100, 103, 107, 109, 112, 116f., 119, 152, 155f., 178, 217, 324, 328, 344, 355 – Arbeitskreis langfristige Projektionen 116 – Investitionstest 116 IG Metall 316, 338 Inflation 34, 47, 58, 63, 166, 168, 177, 207, 212f., 235, 265, 268, 270, 272f., 277, 291, 295, 301, 304, 309, 315–317, 330, 337, 340, 345f., 349f.

423 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Ingenieurwissenschaften 131, 201, 351 Input-Output-Analyse 46, 50 76, 104–108, 195, 243, 354 Institut für Außenhandel und Seewirtschaft (Hamburg) 238 Institut für Konjunkturforschung (Berlin) 47, 50, 65f., 92, 180, 190, 328 Institut für landwirtschaftliche Marktforschung (Braunschweig) 98 Institut für Weltwirtschaft (Kiel) 47f., 50, 56, 62, 72, 83, 96-99, 105, 112, 156f., 217, 238, 328 – Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft 92 Institut für Zeitgeschichte (München) 66 Interministerieller Arbeitskreis Gesamtwirtschaftliche Vorausschätzung 111, 328, 332, 337, 360 Interministerieller Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Bilanzen 109 Interministerieller Ausschuss für Sozialbudget und soziale Strukturfragen 334 Internationaler Währungsfonds 206f., 272, 274, 277 Interventionismus 11, 43, 50, 54, 72, 87, 101, 153, 215f., 221, 254, 259, 265, 293, 323, 350, 360 Investitionshaushalt 209, 251, 272, 281, 284, 288, 292 Investitionstheorie 28, 53, 57, 79f., 117

267, 270, 279–281, 285f., 288–291, 295, 301, 312, 344f., 356, 360 Konjunkturrat 101, 283, 325f., 329, 347 Konjunkturtheorie 19f., 27, 40, 44, 49–51, 66, 69 – hydraulisches Röhrensystem 105f. – Kreislauftheorie 49–51, 57, 74, 78f., 202 Konstanzer Seminar für Geldtheorie und Geldpolitik 349 Konvergenztheorie 167, 187–197, 203, 205, 230, 359 Konzertierte Aktion 150, 291, 305, 315–329, 336–339, 344f. – Arbeitsausschüsse 338 Korea-Boom 62, 234 Korea-Krieg 62, 235, 297 Korporatismus 21, 135, 146, 151, 155, 305, 318–320, 355 Kreditplafondierung 293, 299, 301f. Kriegswirtschaft 50, 87, 102, 126, 152 Kritischer Rationalismus 133f. Kuba-Krise 187 Kulturpessimismus, -kritik 40–42, 113, 198, 253 Kybernetik 197–203, 352 List-Gesellschaft 221 Lohn-Preis-Spirale 247f., 251, 253, 271, 315, 346 Lohnfortzahlung 338f. Lombardsatz 275, 323

Juliusturm 249, 259 Kabinettsausschuß für Wirtschaft 146f., 161, 246, 252, 339 Katholikentag, Bochum (1949) 139 Katholische Soziallehre 59, 126, 132, 139f. Keynesianische Theorie 12, 18–20, 22, 26, 33, 44, 50–62, 68, 74, 77–79, 85, 126, 152, 215, 239, 259, 282, 305, 308, 310, 339, 348f., 351–353, 357f., 360f. – Rezeption in Deutschland 54–58 Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit der Mitbestimmung 318 Königsteiner Kreis 181 Konjunkturforschung 47, 49f., 69, 72–74, 80, 83, 91–98, 157, 217, 233, 328, 354 – Barometermethode 92, 113, 355 – empirische K. 26, 91, 97f. – Konjunkturtest 95, 100, 109, 115, 355 Konjunkturpolitik 17f., 21f., 51, 54, 57, 62, 65, 68–72, 80, 96f., 127, 160, 164, 202, 205, 207–221, 228f., 245, 250, 252, 255, 257–

Magisches Viereck, Dreieck 157, 208, 243, 292, 309, 320, 330 Makroökonomische Theorie 208, 243, 292, 307, 309f., 330 Marktversagen 84, 240 Marshall-Plan/European Recovery Program 17, 101, 107, 235, 292 Massachusetts Institute of Technology (Boston) 76, 183, 190 – Center for International Studies 183, 190 Mauerbau 186f. Meinungsumfragen 246, 279, 298, 299, 321, 343, 355 Mitbestimmung 139, 141–144, 146, 234, 318f. Mittelfristige Finanzplanung (MFP) 219, 225– 229, 231, 292, 307, 312, 331–336, 338, 346– 348, 359f. Mittelstandsförderung 281 Modernisierungstheorie 191, 282 Monetarismus 349–352, 360

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Mont Pèlerin Society 125 Moral suasion 276, 317 National Bureau of Economic Research (New York) 92, 104 National Economic Development Council (UK) 215 National Planning Association (USA) 83, 101, 152 Nationalbudget 83, 110, 221, 243, 262 Nationaldemokratische Partei Deutschlands 298 Neoklassik 18–20, 25–28, 33f., 38, 42, 44–53, 56, 59f., 76–79, 130, 239, 349 – Rezeption in Deutschland, 44–51 Neoklassische Synthese 19, 51, 59–62, 78, 354 New Deal (USA) 22, 67, 83, 152 New School of Social Research (New York) 48 Notstandsgesetze 307, 314 Nutzen-Kosten-Analyse 88, 335, 360 Ökonometrie 26, 44, 46, 48, 62, 73f., 80f., 91, 102, 104–110, 114–119, 125, 185, 233, 261, 329f., 354f., 361 Ökonometrische Arbeitsgemeinschaft (Tübingen) 106 Operation Researchs 201, 243 Ordoliberalismus 17f., 33–44, 61f., 126, 131f., 175, 193, 219, 230, 306, 353 Organization for Economic Cooperation and Development 178, 219 Organization of European Economic Cooperation 101–103, 108f., 165, 206f., 209–211, 214, 223, 228, 246, 268, 355 – Economic Policy Committee 207, 210 – National Accounts Research Unit (Cambridge) 102 Parlamentarischer Rat 66 Planification économique 214–221, 227f., 230, 282, 359 Planning-Programming-Budgeting-System 88, 335f., 360 Planwirtschaft 39, 42, 58f., 67, 102f., 114, 126, 177, 184–189, 192f., 203, 205, 214, 220, 222, 225, 236, 244, 354, 359 Politikberatung 12f., 15f., 21f., 38, 43, 74, 83, 96, 98, 121, 123–135, 136, 139, 146–160, 163, 168–174, 233, 238, 252, 259f., 287, 348f., 353, 355f., 361f. Politikversagen 351 Positive/normative Ökonomik 12, 36f., 84, 91, 120, 128f., 134, 355

Positivismusstreit 133 Potsdamer Abkommen 180 Prager Frühling 203 Preußischer Volkswirtschaftsrat 135f. Privateigentum 177, 237, 239–241 Prognos AG 347 Prognoseverfahren – Bonner Modell 117–120 – Tübinger Modell 117–119 – sukzessive Approximation 330f. Prognostik 62, 74, 77f., 92, 95, 106, 108–121, 157, 163, 166, 172, 177, 189, 201, 211, 213, 216, 219, 223–227, 265, 294, 296, 321f., 326, 328–337, 344f., 347, 349f., 352, 355, 360f. Programmierung, lineare 106, 115, 192, 195, 201, 243 Public choice 318 Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft 155 Regelkreissystem 202, 351 Reichswirtschaftskammer 94, 105, 141, 144 Reichswirtschaftsministerium 38, 54, 137 Reichswirtschaftsrat 135–139, 146, 148, 355 Rentenpolitik 22, 242, 264f., 287, 293 – Rentenversicherung 264, 287, 293, 310 Rezession – 1966/67: 295–297, 300–307, 321, 332, 336f., 339, 340, 343, 357, 360f. – 1974/75: 22, 349 Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (Essen) 97f., 99, 107, 112, 165, 217, 328 Rockefeller Foundation (USA) 38, 48, 61, 85, 116f. Ruhrbergbaukrise 266, 297, 299 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 13, 44, 119, 128, 152–174, 223, 266, 287, 291f., 294, 297, 299, 309, 315–317, 320–322, 325f., 329, 332, 337f., 340–343, 348f., 351, 355f., 360f. Schulen – Freiburger S. 17f., 20, 33, 37f., 42–44, 59, 88, 128, 132, 192f., 239f., 353 – Historische S. der Nationalökonomie 13, 25–28, 30f., 33–37, 40, 42, 62, 86, 88, 233, 353 – Kieler S. 47 – Kölner S. der Finanzwissenschaften 85

425 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

– Österreichische/Wiener S. 34, 37, 47f., – Stockholmer S. 57 Sowjetische Besatzungszone 180–182 Sozialdemokratische Partei Deutschlands 18, 22, 109f., 143, 145, 150, 154, 156, 158, 161– 163, 187, 219, 234–244, 258–260, 277, 280f., 287, 290–295, 298f., 301f., 308, 314– 316, 341–344, 348, 357 – Dortmunder Aktionsprogramm 240 – Godesberger Programm 22, 150, 218, 236– 242, 279f. – linker Flügel 240, 348 – Stuttgarter Parteitag (1958) 239, 241f. Soziale Marktwirtschaft 18, 175f., 205, 220f., 280, 242, 253, 293, 320 – Zweite Phase 22, 176, 231, 279–283, 296 Sozialer Dialog 316 Sozialversicherungsträger 283, 285, 310, 344, 354 Spiegel-Affäre 286 Sputnik-Schock 179 Staatsquote 87, 191, 346f. Staatsrechtslehre 318, 355 Stabilisierungspolitik 54, 265, 269, 272, 274, 291, 299, 313, 315–317, 341, 351 – Konjunkturprogramme 97, 152, 209f., 235, 250–252, 255–257, 260f., 272, 321–328, 341f., 349 Stabilitäts- und Wachstumsgesetz – Gesetzesvorlage (1961ff.) 283–303 – Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (1967) 71, 305, 308–316, 320, 324, 327–329, 331, 341, 347, 349, 352, 357f., 360 – Wachstumsgesetz, SPD-Entwurf (1956) 243f., 258f., 357 Stagflation 22, 350, 361 Stagnationstheorem 57, 77 State Departement 183 Statistik 13f., 19, 30, 46, 50, 54, 83, 89, 90, 92– 96, 99–110, 112, 115–119, 123, 130, 154f., 157, 160, 170, 172, 196, 211, 213, 217, 225, 233, 261, 329–332, 354f. – DDR 179–185 – Gebrauch von 108, 225f., 265 – Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke 103 Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften 103, 108 Statistisches Bundesamt 100, 103, 107f., 119, 123, 155, 157, 159, 170, 261 Statistisches Reichsamt 54, 83, 92, 100, 105, 107, 180 Steuerpolitik 82–87, 160, 177f., 223f., 247,

250f., 256f., 260–263, 266f., 269–273, 283, 285, 287, 289f., 291, 293f., 297, 303f., 307, 311, 314, 322, 324–327, 332, 334f., 338f., 341, 347 Stiftung Volkswagenwerk 96 Stiltheorie 27, 31, 41, 36, 78 Studiengesellschaft für Geld- und Kreditwirtschaft 65 Stufentheorie 27, 36, 78 Süddeutsches Institut für Wirtschaftsforschung 94 Supply-Side Economics 350, 360 Systemkonkurrenz 21, 175–178, 186, 191f., 197–204, 240 Systemtheorie 201f., 351f. Systemvergleich 44, 175–204, 359 Tarifwesen 155–157, 212, 247f., 250, 253, 256, 271, 215–217, 322f., 326f., 336–338 – Streik 345 – Tarifautonomie 156f., 315, 317, 336 – Tarifverhandlungen 247, 326, 247, 250, 267, 297, 322f., 337, 346 Troeger-Kommission 287, 290f., 334 Überinvestitionstheorie 28, 245 Überseeclub Hamburg 17, 252 Universitäre Ausbildung der Wirtschaftswissenschaftler 123 Unternehmensbefragung (Konjunkturtest) 95f., 116 USA 12, 38, 44, 48, 58, 60–62, 73, 75, 83, 85, 87f., 92, 95, 101f., 104–106, 110, 112, 115, 117, 126, 152, 183, 185f., 189–192, 208, 210, 215f., 268f., 272, 282, 303f., 335f., 340f., 346, 353–355, 358, 360 US-amerikanische Militärverwaltung 83, 126, 183 Verband der chemischen Industrie 116 Verein für Socialpolitik 56, 62, 73, 86, 104, 114, 124f., 132, 134, 165, 169, 178, 238 Vereinte Nationen 73, 101f., 182, 207, 355 – Committee of Statistical Experts 101 Verfassungskonvent Herrenchiemsee 141, 257 Verstaatlichung 234, 236, 239, 241 Verteilungstheorie 76, 79, 84 Verwaltungslehre 82 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 54, 57, 83, 90, 94, 99–111, 154, 183, 223, 259, 261, 265, 294, 310, 329–331, 354 – Kontensysteme 96, 100–104, 108, 182, 330, 355

426 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

– Sozialprodukt 54, 73f., 78f., 94, 100–102, 108–112, 116f., 166, 182, 184f., 191, 223, 226, 235, 246f., 272, 295–297, 324, 333, 341 – Standardsystem der nationalen Buchführung (OEEC) 102, 108 – Verflechtungsbilanz 104–107, 201 – Volkswirtschaftlichen Eröffnungsbilanz 94 – Zentralbehörde für volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 110, 154 WAAGE 125 Wachstumsforschung 19–21, 44, 63, 72–81, 116, 190f., 194–197, 203, 233, 330, 352, 359 – empirische 116 – historische 66, 78, 116, 191, 194–196 – keynesianische 44 – neoklassische 77, 330 Wachstumszyklen (der Bundesrepublik) 295f. Wahlrechtsreform 307, 314 Wechselkurse 166, 169, 207, 274f., 294, 314, 340, 342, 345f., 350 – Paritätsänderungen 275, 277, 294 – Wechselkurspolitik 275, 294, 314 – Wechselkurssystem (fest/flexibel) 166, 170, 207, 274, 340, 342, 345f., 350 Weimarer Reichsverfassung 70, 136 Weimarer Republik 16, 21, 33, 41, 64–68, 92, 107, 136–139, 147, 151, 298, 320 – als Referenz 64, 70f., 135, 138, 288, 298, 304 Weltbank 206 Weltwirtschaftskrise 20, 35, 51, 53f., 58, 63– 71, 132, 136f., 194, 208, 288, 298, 300, 313, 358 Werlé-Plan 284 Werturteilsstreit 128–131, 133f. Wettbewerbsrecht 22, 43, 145, 241, 250, 266, 287 Wirtschaftsdemokratie 138–142, 145, 150f. Wirtschaftsgeschichte (Disziplin) 14, 16f., 28, 30, 32, 78, 190, 288

Wirtschaftspolitik, regelgebundene 351, 360 Wirtschaftspolitische Gesellschaft 13, 125 Wirtschaftsrat, Frankfurt 236 Wirtschaftsverfassung 27, 34, 138, 178, 241 Wirtschaftswissenschaftliches Institut der Gewerkschaften 181, 236, 238 Wissenschaftlicher Beirat – BMF 31, 68, 110f., 126f., 132, 137, 170, 259, 266, 269–271, 309 – BMWi 62, 80, 104, 110f., 126f., 129f., 132, 137, 154, 157f., 164, 170, 210, 219, 259, 309, 340, 351 Wissensgesellschaft 14f., 22, 361 Wohlfahrtsökonomik 80f., 85, 120, 192, 243, 335 Wohnungsbauförderung 22, 242, 251, 260f., 270f., 284, 287, 308 WTB-Plan 97 Zahlungsbilanz 34, 120, 177, 206f., 209, 212– 214, 229, 246, 265, 267f., 272–277, 297, 304, 339–342, 346 Zeitschriften/Fachorgane – Der Volkswirt 169 – Economia Internazionale 182 – Europa-Wirtschaft 65 – Finanzarchiv 32, 83, 85f. – Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 32 – Jahrbuch für Sozialwissenschaft 32 – Konjunkturpolitik 91, 94 – Kyklos 29, 32f., 184f. – Ordo 32, 44 – Schmollers Jahrbuch 32, 57 – Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung 94 – Weltwirtschaftliches Archiv 97 – Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 32 Zölle 248, 250, 256f., 260f., 270

427 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Zeitgeschichte bei Wolfgang Schieder / Alexander Nützenadel (Hg.)

Arnd Bauerkämper / Konrad H. Jarausch / Marcus M. Payk (Hg.)

Zeitgeschichte als Problem

Demokratiewunder

Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa

Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945–1970

Geschichte und Gesellschaft. Sonderhefte, Heft 20. 2004. 349 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-36420-2

2005. 335 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-36285-4

Seit langem gibt es in Deutschland eine intensive Debatte über Aufgaben, Ziele und Methoden einer modernen Zeitgeschichtsforschung. Umstritten ist vor allem die Frage, was Zeitgeschichte überhaupt sein soll und inwiefern es sich um ein eigenständiges Teilgebiet innerhalb der Geschichtswissenschaften handelt. Die Diskussion über die methodischen Probleme und thematischen Schwerpunkte der Zeitgeschichtsforschung in Deutschland berücksichtigt viel zu selten die Debatten und Kontroversen in anderen europäischen Ländern. Der Band stellt erstmals die zeitgeschichtlichen Traditionen und Forschungsperspektiven in verschiedenen europäischen Ländern dar. Neben einer Einführung der Herausgeber enthält der Band Beiträge zu folgenden Ländern: Bundesrepublik Deutschland (Martin Geyer), DDR (Martin Sabrow), Polen (Rafa Stobiecki), Tschechoslowakei/Tschechien (Martin Schulze Wessel), Ungarn (Arpad von Klimó), Großbritannien (Detlev Mares), Italien (Lutz Klinkhammer), Frankreich (Rainer Hudemann), Schweiz (Christoph Dipper), Österreich (Ernst Hanisch), Spanien (Walther Bernecker), Sowjetunion/Russland (Stefan Plagenborg), Niederlande (Christoph Strupp).

Die politisch-kulturelle Verwurzelung der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland ist ohne transatlantische Einflüsse und ihre Vermittlung durch einzelne Personen kaum denkbar. Die Politik der re-education nach 1945, mit der die amerikanischen Besatzungsbehörden demokratische Ideen und pluralistische Werthaltungen vermitteln wollten, wurde ganz wesentlich von Intellektuellen, Journalisten und amerikanischen Deutschlandexperten getragen, unter ihnen zahlreiche Remigranten und deutschstämmige Auswanderer. Der Einfluss dieser Kulturvermittler und ihr Zusammenspiel mit Besatzungsbehörden, Bevölkerung und eigenem beruflichen Umfeld ist Gegenstand der Porträts und Studien dieses Bandes, die den bislang vernachlässigten Prozess der »inneren Demokratisierung« der Deutschen nachzeichnen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 168: Cornelius Torp

162: Gunilla-Friederike Budde

Die Herausforderung der Globalisierung

Frauen der Intelligenz

Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914 2005. 430 Seiten mit 11 Grafiken und 21 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-35150-X

167: Uffa Jensen

Gebildete Doppelgänger Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert 2005. 383 Seiten mit 3 Abbildungen, kartoniert. ISBN 3-525-35148-8

165: Jürgen Schmidt

Begrenzte Spielräume Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870–1914

Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975 2003. 446 Seiten mit 17 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-35143-7

161: Nikolaus Buschmann

Einkreisung und Waffenbruderschaft Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850-1871 2003. 378 Seiten mit 11 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-35142-9

160: Christian Müller

Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland

2005. 432 Seiten mit 23 Tabellen und 1 Karte, kartoniert ISBN 3-525-35147-X

2004. 337 Seiten mit 2 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-35141-0

164: Florian Cebulla

Meinungslenkung im Krieg

Rundfunk und ländliche Gesellschaft 1924–1945 2004. 358 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35145-3

159: Anne Lipp Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914-1918 2003. 354 Seiten mit 18 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-35140-2

163: Philipp Heldmann

Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks Konsumpolitik in der DDR der Sechzigerjahre 2004. 336 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35144-5

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351499 — ISBN E-Book: 9783647351490

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