Strategien der Einverleibung: Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst 9783839450307

Im Kontext aktueller Debatten um Nationalismus und Migration gewinnt das in der brasilianischen Moderne entwickelte Konz

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German Pages 336 Year 2020

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Inhalt
Einführung
Die Anthropophagie-Metapher in Europa und im Zuge der Entdeckung der ‚Neuen Welt‘
Das Movimento Antropófago im brasilianischen Modernismus
Die Bewegung des Tropicalismo
Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst
Dekolonisierungsstrategien
Anthropophagie und postkoloniale Kritik
Adriana Varejão: Dekonstruktion kolonialer Repräsentationsweisen
Cildo Meireles: Konstruktionen eines hybriden dritten Raumes
Über den Postkolonialismus hinaus: Die Antropofagia im Spannungsfeld von Migration, Ethnizität und Geschlecht
Anna Maria Maiolino: Die Antropofagia als Konzept mit universalistischer Offenheit
Ernesto Neto: Fluide Manifestationen des Körperlichen
Ricardo Basbaum: neue Formen des kollektiven Körpers
Die Antropofagia als globale Kulturtechnik
Resümee
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Danksagung
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Strategien der Einverleibung: Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst
 9783839450307

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Irina Hiebert Grun Strategien der Einverleibung

Image  | Band 166

Irina Hiebert Grun, geb. 1982, ist Kunsthistorikerin. Im Anschluss an ihr Studium an der Universität Trier promovierte sie zu brasilianischer Gegenwartskunst, während sie als Doktorandin bei der Daimler Art Collection in Berlin angestellt war. Aktuell ist sie wissenschaftliche Assistentin in der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin.

Irina Hiebert Grun

Strategien der Einverleibung Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst

Zugleich: Dissertation am Fachbereich Humanwissenschaften, Technische Universität Darmstadt Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Adriana Varejão: Proposta para uma Catequese – Parte I Díptico: Morte e Esquartejamento (Detail), 1993 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5030-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5030-7 https://doi.org/10.14361/9783839450307 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einführung | 7 Die Anthropophagie-Metapher in Europa und im Zuge der Entdeckung der ‚Neuen Welt‘ | 21

Die Projektion der Anthropophagie auf die indigenen Völker Brasiliens in illustrierten Reiseberichten | 25 Brasilien als ‚Kontinent der Kannibalen‘ im Sujet der Erdteilallegorien | 35 Das Stereotyp des edlen Wilden | 38 Das Movimento Antropófago im brasilianischen Modernismus | 43

Die Manifeste Oswald de Andrades | 50 Das Manifesto Da Poesia Pau Brasil | 51 Das Manifesto Antropófago | 53 Die Malerei Tarsila do Amarals | 66 Ausgewählte Künstler der Semana de Arte Moderna | 80 Die Bewegung des Tropicalismo | 87

Der Neoconcretismo | 92 Lygia Clark: Die Antropofagia als Therapie | 98 Hélio Oiticica: Die Antropofagia als politisches Instrument der Intervention und gesellschaftliches Projekt | 103 Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 111

Dekolonisierungsstrategien | 111 Anthropophagie und postkoloniale Kritik | 112 Adriana Varejão: Dekonstruktion kolonialer Repräsentationsweisen | 118 Subversion kolonialer Geschlechterdifferenzen | 125 Hybride Kulturen: Transformationen des brasilianischen Barock | 133 Cildo Meireles: Konstruktionen eines hybriden dritten Raumes | 150 Intervention gegen hegemoniale Machtstrukturen | 161 Grenzverschiebungen | 168

Über den Postkolonialismus hinaus: Die Antropofagia im Spannungsfeld von Migration, Ethnizität und Geschlecht | 177 Anna Maria Maiolino: Die Antropofagia als Konzept mit universalistischer Offenheit | 178 Immigration als anthropophager Prozess | 179 Feministische Standpunkte | 186 Ernesto Neto: Fluide Manifestationen des Körperlichen | 203 Das Verschlingen der Rezipient/innen im anthropophagen Kunstwerk | 204 Aufhebung binärer Geschlechterordnungen | 219 Ricardo Basbaum: neue Formen des kollektiven Körpers | 227 Eröffnung transkultureller Räume der Kommunikation | 228 Das Projekt einer fortdauernden Hybridisierung | 242 Die Antropofagia als globale Kulturtechnik | 265 Resümee | 283 Anhang | 287 Abbildungsverzeichnis | 297 Literaturverzeichnis | 309 Danksagung | 331

Einführung

Vorstellungen über Anthropophagie1, welche die Praxis des Essens menschlichen Fleisches durch Menschen bezeichnet, wurden in Europa bereits in der Antike und dem Mittelalter verbreitet. Der Vorwurf der Anthropophagie erweist sich dabei als Stereotyp, welches zur Charakterisierung fremder ‚primitiver‘ Völker verwendet wurde, um deren Unmenschlichkeit und Grausamkeit herauszustellen und so eine Distanz zur eigenen ‚zivilisierten‘ Gesellschaft aufzubauen. Im Zuge des Kolonialismus konnte die Metapher der Anthropophagie daher wirkungsvoll dazu dienen, die Unterwerfung und Versklavung der Bewohner/innen der ‚Neuen Welt‘2 zu legitimieren und die Machtposition der Kolonisatoren zu stärken. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurde der Kannibalismus als Hauptcharakteristikum barbarischer

1

Der Begriff leitet sich ab vom griechischen Anthropos [Mensch] und phagein [essen]. Durch die Entdeckungsfahrten des Christoph Kolumbus setzte sich schließlich um 1500 die Bezeichnung Kannibalismus im europäischen Sprachgebrauch durch. Kolumbus berichtet im Bordjournal seiner Reise zu den Antillen vom indigenen Volk der Cariben, das er der Anthropophagie bezichtigt. Vgl. KOLUMBUS, Christoph: Schiffstagebuch, Leipzig: Reclam, 1980 (1826), S. 69.

2

Der Begriff ‚Neue Welt‘ fand im Kontext der ‚Entdeckungsreisen‘ der Europäer/innen seit dem späten 15. Jahrhundert Verwendung. Hiermit war insbesondere das heutige Süd- und Nordamerika gemeint, bisweilen auch Australien und Neuseeland. Der Terminus impliziert ein Neu- oder Niemandsland und verweist damit auf das koloniale Legimitationsmuster, die entsprechenden Gebiete seien unbewohnt, wodurch auch Niemand Ansprüche auf sie geltend machen könne. Vgl. ARNDT, Susan/OFUATEYALAZARD, Nadja (Hrsg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast Verlag, 2011, S. 695.

8 | Strategien der Einverleibung

Lebensform schließlich prototypisch auf den brasilianischen ‚Indianer‘3 übertragen.4 In Brasilien wird das Thema der Anthropophagie in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts von dem Schriftsteller Oswald de Andrade in seinem Konzept der Antropofagia aufgegriffen und metaphorisch auf Europa zurückgeworfen. Ausgehend von einer kritischen Reflexion über das koloniale Erbe des Landes erwächst im brasilianischen Modernismus das Bedürfnis nach einer Emanzipation von europäischer Dominanz im kulturellen Bereich und der Definition einer eigenständigen brasilianischen Identität. So fordert de Andrade in seinem Manifesto Antropófago [Anthropophages Manifest] aus dem Jahr 1928 Brasilien dazu auf, die Haltung des Anthropophagen anzunehmen und diejenigen europäischen Einflüsse, die für die eigene Kultur als Bereicherung dienen können, in einem selbstbewussten Akt zu verschlingen, sie mit lokalen Traditionen zu vermischen und das Übrige auszuspeien.5 De Andrade vollzieht mit seiner Strategie der Einverleibung eine Umkehrung der herkömmlichen Bedeutung der Figur des Kannibalen: Diente die Metapher der Anthropophagie traditionell dazu, eine Differenz im Sinne eines Ausschlusses von Fremdheit herbeizuführen, stellt sie nun die Möglichkeit einer Integration fremder Kultureinflüsse dar, die mit einer Aufhebung hegemonial geprägter Dichotomien wie Eigen und Fremd, Zivilisation und Wildheit oder Zentrum und Peripherie einhergeht. Innerhalb dieses Verständnisses der Anthropophagie wird die Formulierung eines nationalen Standpunktes nicht mit Konzepten von ethnischer Reinheit verbunden. Vielmehr betont de Andrades Konzept den Prozess der Hybridisierung 3

Der Begriff ‚Indianer‘ wird in dem von Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard herausgegebenen Nachschlagewerk zu Rassismen in der deutschen Sprache als unzulässiger Terminus bezeichnet, da er das koloniale Machtgefüge reproduziere. Die Bezeichnung stammt von Kolumbus, der ihn in Bezug auf die Bewohner/innen der karibischen Inseln verwendete und auf dem Irrtum beruht, Indien ‚entdeckt‘ zu haben. Im Neologismus ‚Indianer‘ wird die Vielzahl geografisch und kulturell unterschiedlicher Gesellschaften in den Amerikas homogenisiert, um diese als rassisches Gegenkonstrukt zum Eigenen zu verorten. Vgl. ebd., S. 122, 690f.

4

Vgl. FRANK, Erwin: „Sie fressen Menschen, wie ihr scheußliches Aussehen beweist…“ Kritische Überlegungen zu Zeugen und Quellen der Menschenfresserei, in: Hans Peter Duerr (Hrsg.): Authentizität und Betrug in der Ethnologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, S. 199-224, hier: S. 210.

5

Vgl. de ANDRADE, Oswald: Manifesto Antropófago, erstmals publiziert in: Revista de Antropofagia, São Paulo, Ano 1, No. 1, Maio de 1928. Der Originaltext ist sowohl in der portugiesischen Originalfassung als auch in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Oliver Precht (Hrsg.): Oswald de Andrade. Manifeste. Portugiesisch-Deutsch, Wien/Berlin: Turia + Kant, 2016, S. 34-59.

Einführung | 9

und den Aspekt der Heterogenität der brasilianischen Gesellschaft.6 Das nationalistische Projekt eines postkolonialen Emanzipationsakts basiert somit grundlegend auf einem komplexen Denkmodell zur kulturellen Identität. Die Inhalte der Antropofagia werden in den 1920er Jahren vom gattungsübergreifenden Movimento Antropófago [Anthropophage Bewegung] getragen und von den bildenden Künstler/innen des Modernismus, an erster Stelle von der Malerin Tarsila do Amaral, in ihren Werken umgesetzt. In den 1960er Jahren wird de Andrades Programm der kulturellen Anthropophagie von dem Künstler Hélio Oiticica wieder aufgegriffen und aktualisiert. Sein 1967 entwickeltes Konzept Tropicália bildet die theoretische Grundlage für eine kulturelle Bewegung, die ein Fortbestehen hegemonialer Ausbeutungsmechanismen und westlicher Dominanz in Brasilien konstatiert, weshalb erneut die Bestimmung einer selbstbewussten, postkolonialen Identität gefordert wird. De Andrades Strategie der Einverleibung fremder Kultureinflüsse stellt für die Künstler/innen des Tropicalismo eine geeignete Methode der Emanzipation dar, mit der eine brasilianische Avantgarde gebildet werden soll, welche das Projekt einer künstlerischen Erneuerung in Brasilien vorantreiben möchte. Vor dem Hintergrund einer beginnenden repressiven Militärdiktatur wird die modernistische Strategie der Einverleibung zu einer Möglichkeit der Artikulation eines Widerstandes gegen Formen der Unterdrückung im eigenen Land. 7 In der brasilianischen Gegenwartskunst findet auf vielfältige Weise ein Bezug auf das Konzept der kulturellen Anthropophagie Oswald de Andrades statt – ein Sachverhalt, der von der Forschung bisher nicht hinlänglich beachtet wurde und dem sich die vorliegende Publikation widmet. Eine vergleichende Analyse der zeitgenössischen Positionen von Ricardo Basbaum, Anna Maria Maiolino, Cildo Meireles, Ernesto Neto und Adriana Varejão wird darlegen, wie sich der Einfluss der Antropofagia in die heutigen Werke einschreibt und wie die Künstler/innen das Programm de Andrades weiterentwickeln und aktualisieren. Hiermit soll der Frage nachgegangen werden, weshalb das Konzept der Antropofagia für nachfolgende Künstler/innengenerationen, die sich nicht in einer gemeinsamen nationalen Avantgardebewegung wie der des Modernismo oder des Tropicalismo verorten lassen, eine zentrale Bezugsquelle darstellt. Entsprechend wird die Untersuchung zeigen, 6

Vgl. NUNES, Benedito: Anthropophagie für Alle, in: Oliver Precht (Hrsg.): Oswald de Andrade. Manifeste. Portugiesisch-Deutsch, Wien/Berlin: Turia + Kant, 2016, S. 68-97, hier: S. 81f. Bei dem hier angeführten Aufsatz von Benedito Nunes handelt es sich um die deutsche Übersetzung des erstmals unter dem Titel A antropofagia ao alcance de todos publizierten Vorwortes in: Oswald de Andrade: A Utopia Antropofágica, Obras Completas de Oswald de Andrade, São Paulo: Globo, 1990 (1950), S. 5-8.

7

Vgl. BASUALDO, Carlos: Tropicália. A Revolution in Brazilian Culture (1967-1972), Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art, Chicago, São Paulo: Cosac Naify, 2005, S. 12f.

10 | Strategien der Einverleibung

dass die Behauptung eines nationalen Standpunkts in der zeitgenössischen Rezeption der Antropofagia gänzlich zurücktritt. Eine zeitgenössische Adaption des Andradschen Konzepts lässt sich über mehrere Generationen hinweg feststellen und äußert sich durchgängig in den unterschiedlichen Werkphasen der ausgewählten künstlerischen Positionen. So gehören Anna Maria Maiolino (*1942) und Cildo Meireles (*1948) der unmittelbar auf die Bewegung des Tropicalismo folgenden Künstler/innengeneration an. Eine Auseinandersetzung mit den Inhalten der Antropofagia findet sich nicht nur in ihren Frühwerken, die bereits zu Beginn der 1970er Jahre unter dem Eindruck der Militärdiktatur in Brasilien entstanden, sondern auch in Arbeiten der unmittelbaren Gegenwart. Darüber hinaus integriert die vorliegende Studie mit Ricardo Basbaum (*1961), Ernesto Neto (*1964) und Adriana Varejão (*1964) eine jüngere Generation von Kunstschaffenden in die Analyse, deren Karrieren erst in den 1990er Jahren begannen, wodurch die Aktualität des modernistischen Konzepts verdeutlicht wird. Die ausgewählten Künstler/innen, die mit unterschiedlichen Medien der Bildenden Kunst arbeiten,8 sind prominente Persönlichkeiten der brasilianischen Kunstszene. Sie genießen in Brasilien einen großen Bekanntheitsgrad und sind regelmäßig in Ausstellungen im Land vertreten. Daneben sind ihre Werkansätze durch die Teilnahme an Biennalen und durch die Präsenz in US-amerikanischen und europäischen Ausstellungskontexten und Sammlungen einem internationalen Publikum bekannt. Die hieraus resultierende, weitgehend befriedigende Publikationslage weist jedoch eine signifikante Forschungslücke auf, da nur vereinzelte, oberflächliche Anknüpfungspunkte an das Konzept der Antropofagia gegeben werden. Der Bezug auf das Andradsche Konzept, welcher sich in allen künstlerischen Werkansätzen manifestiert, stellte bisher kein eigenständiges wissenschaftliches Untersuchungsthema einer monographischen Abhandlung dar.9 8

Während Adriana Varejão vorrangig im klassischen Medium der Malerei arbeitet, sind die Werke Cildo Meireles‘, Ernesto Netos und Anna Maria Maiolinos durch einen multimedialen Ansatz geprägt, der sowohl Installations- und Konzeptkunst als auch Fotografie, Video und Skulptur einschließt. Ricardo Basbaums Werk weist insbesondere eine Nähe zur Netz- und Performancekunst auf.

9

Mit Ausnahme Ricardo Basbaums sind allen ausgewählten Künstler/innen bereits groß angelegte Retrospektiven in Brasilien wie auch im Ausland ausgerichtet worden, im Zuge dessen umfangreiche monographische Kataloge erschienen sind. Insbesondere das Werk Cildo Meireles‘ ist in der internationalen Literatur gut bearbeitet. Bereits 1995 widmete das IVAM - Instituto Valenciano de Arte Moderno dem Künstler eine erste Retrospektive, worauf weitere Einzelausstellungen in namhaften Museen folgten. So waren seine Arbeiten unter anderem im Jahr 2008 in einem Ausstellungsprojekt der Tate Modern in London zu sehen, das im Anschluss nach Barcelona, Houston und Los

Einführung | 11

Eine kunsthistorische Analyse der zeitgenössischen Rezeption der Antropofagia, die an die tropikalistische Bewegung anschließt, erweist sich allgemein als Forschungsdesiderat. Bisherige Forschungen rekrutieren fast ausschließlich aus andeAngeles wanderte. Vgl. CASANOVA, Maria (Hrsg.): Cildo Meireles, Ausst.-Kat. IVAM Centre del Carme, Valencia, Valencia: IVAM, 1995; sowie BRETT, Guy (Hrsg.): Cildo Meireles, Ausst.-Kat. Tate Modern, London, London: Tate Publishing, 2008. Der bisher umfassendste Publikationsbeitrag zu Anna Maria Maiolinos Œuvre findet sich in dem von Helena Tatay im Jahr 2010 herausgegebenen Katalog, der im Kontext der Retrospektiven in der Fundació Antoni Tapies, im Centro Galego de Arte Contemporáneo sowie in der Malmö Konsthall erschien. Eine weitere wichtige Quelle für diese Arbeit findet sich in der ein Jahr zuvor erschienenen Publikation von Rina Carvajal und Paulo Venâncio Filho, die in Kooperation mit der Pinacoteca do Estado de São Paulo und dem MAC - Miami Art Central entstand. Vgl. TATAY, Helena: Anna Maria Maiolino, Ausst.-Kat. Fundació Antoni Tapies, Barcelona/Centro Galego de Arte Contemporáneo, Santiago de Compostela/Malmö Konsthall, London: Koenig Books, 2010; sowie CARVAJAL, Rina/VENÂNCIO FILHO, Paulo (Hrsg.): Anna Maria Maiolino, Ausst.-Kat. Pinacoteca do Estado de São Paulo/Miami Art Central, São Paulo: Stilgraf, 2006. Adriana Varejãos Werk war 2005 im Centro Cultural de Belém in Lissabon sowie in der Fondation Cartier pour l’art contemporain in Paris zu sehen, im Rahmen dessen ein umfangreicher Ausstellungskatalog entstand. Ihre Arbeiten werden jedoch vorwiegend in Brasilien rege rezipiert. So bietet insbesondere die 2009 von Isabel Diegues in Rio de Janeiro herausgegebene Publikation, welche unabhängig von einem konkreten Ausstellungsprojekt entstand, eine umfassende Kontextualisierung des Werks der Künstlerin. Vgl. PERCEVAL, Sophie/PELLETIER, Adeline (Hrsg.): Adriana Varejão: Câmara de Ecos, Ausst.-Kat. Centro Cultural de Belém, Lissabon/Fondation Cartier pour l’art contemporain, Paris, Nantes: Imprimerie Le Govic, 2005; sowie DIEGUES, Isabel (Hrsg.): Adriana Varejão. Entre carnes e mares, Rio de Janeiro: Cobogó, 2009. Einzig zur Analyse der Kunst Ernesto Netos kann auch auf deutschsprachige Monographien zurückgegriffen werden. Dem Künstler wurde 2002 eine Einzelpräsentation in der Kunsthalle Basel ausgerichtet. In jüngster Vergangenheit wurden Retrospektiven in der Kunsthalle Krems und im Arp Museum Bahnhof Rolandseck realisiert. Vgl. PAKESCH, Peter (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Kunsthalle Basel, Basel: Schwabe, 2002; sowie WIPPLINGER, Hans-Peter (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Kunsthalle Krems, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015; sowie KORNHOFF, Oliver (Hrsg.): Ernesto Neto. Haux Haux, Ausst.-Kat. Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Remagen, Köln: Strzelecki Books, 2014. Obwohl Ricardo Basbaum insbesondere durch seine Teilnahme an der documenta 12 im Jahr 2007 einem internationalen Publikum bekannt wurde, ist sein Werk bisher in keiner groß angelegten musealen Einzelschau gezeigt worden, weshalb vermehrt auf Kataloge im Kontext von Gruppenschauen zurückgegriffen werden muss.

12 | Strategien der Einverleibung

ren Disziplinen, wie der Literatur- oder der Theaterwissenschaft. So befragt der im Jahr 2000 von João Cezar de Castro Rocha und Jorge Ruffinelli herausgegebene Sammelband Anthropophagy Today? die heutige, globale Relevanz des Andradschen Konzepts in erster Linie aus einer literarisch-philosophischen Perspektive.10 Einen dahingehenden wichtigen Beitrag für den deutschsprachigen Raum liefert die 2007 veröffentlichte Publikation von Imke Wangerin. Die Autorin arbeitet in ihrer Untersuchung, welche zu einem großen Teil auf Interviews mit brasilianischen Kulturschaffenden basiert, die Aktualität der Antropofagia im zeitgenössischen brasilianischen Theater heraus. Hierbei veranschaulicht sie das heutige Verständnis der Metapher der kulturellen Einverleibung als philosophische Haltung und politische Kulturtechnik, womit ein auch für den Bereich der Bildenden Kunst zentrales Element in der zeitgenössischen Rezeption des Andradschen Konzepts benannt wird, das durch die vorliegende Studie bestätigt wird.11 Die einzige deutschsprachige kunsthistorische Abhandlung zum Thema findet sich im 2005 realisierten Ausstellungs-, Film und Tagungsprojekt Entre Pindorama des Künstlerhauses Stuttgart. Der begleitende Katalog liefert mit seinen künstlerischen und kulturtheoretischen Beiträgen äußerst aufschlussreiche Ansätze für die Frage nach der Bedeutung des anthropophagen Konzepts für heutige, international arbeitende Künstler/innen.12 Insbesondere erschließt sich den Leser/innen die inhaltliche Stoßrichtung der Antropofagia als emanzipatorisches Hybriditäts-Modell, wodurch die Transfertauglichkeit des Konzepts in europäische, auch über den Bereich der Bildenden Kunst hinausgehende Kontexte aufgezeigt wird. Erstmals werden auch zusammenfassende Thesen zur zeitgenössischen Adaption der Antropofagia formuliert. So stellen Elke aus dem Moore und Giorgio Ronna in den künstlerischen Positionen eine Präsenz von „Intervention, Partizipation und das Einschreiben des Körpers“ fest sowie eine Auseinandersetzung mit kolonial geprägten Stereotypen und ein „Infragestellen und Überwinden kultureller Hierarchien.“13 Anstelle

10

Vgl. de CASTRO ROCHA, João Cezar/RUFFINELLI, Jorge (Hrsg.): Anthropophagy

11

Die Autorin beschäftigt sich mit dem aktuellen Schaffen des Teatro Oficina, eines

Today? Nuevo Texto Critico 12, Nr. 23/24, Stanford: Stanford University, 2000. Theaters in São Paulo, welches die Programmatik Oswald de Andrades in seinen Aufführungen aufgreift und aktualisiert. Vgl. WANGERIN, Imke: Anthropophagie als Metapher der kulturellen Einverleibung. Zur künstlerischen und politischen Bedeutung der anthropophagischen Bewegung am Beispiel des Teatro Oficina, Stuttgart: ibidem, 2007. 12

In der Ausstellung waren Projekte von Ricardo Basbaum und Wendelien van Oldenborgh vertreten, die auch in dieser Studie thematisiert werden, sowie die Künstler/innen Efrain Almeida, João Modé, Lia Chaia, Lívia Flores und Lucia Koch.

13

Aus dem MOORE, Elke/RONNA, Giorgio: Entre Pindorama – Tritt ein in das Land der Palmen!, in: Dies. (Hrsg.): Entre Pindorama. Zeitgenössische Kunst und die Antropofa-

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einer tiefer gehenden, vergleichenden kunsthistorischen Analyse verbleiben diese Thesen jedoch als bloße Statements. Unter den im Katalog versammelten Essays verdeutlichen am eingehendsten die Künstler/innentexte von Wendelien van Oldenborgh und Ricardo Basbaum die zeitgenössische Relevanz des Andradschen Konzepts, die im Kontext ihrer eigenen Ausstellungsbeteiligung stehen. Auch in der internationalen Forschung steht eine systematische Untersuchung des Umgangs brasilianischer Gegenwartskunst mit der Antropofagia noch aus. Zwar leistete die 1998 ausgerichtete XXIV. Biennale São Paulos mit ihrer thematischen Fokussierung auf die Anthropophagie einen ersten wichtigen kunsthistorischen Beitrag zur Herausstellung der Bedeutsamkeit des Movimento Antropófago für die Bildende Kunst und bezieht auch zeitgenössische Künstler/innen in das Ausstellungskonzept ein, jedoch verzichtet der begleitende Katalog auf eine umfassende Untersuchung dieses Einflusses auf die Gegenwartskunst.14 Trotz gewinnbringender Einzelanalysen beschränken sich die Kuratoren weitestgehend auf die bloße Präsenz des Anthropophagie-Motivs in den unterschiedlichsten Epochen der internationalen Kunst. De Andrades Konzept der kulturellen Einverleibung wurde somit innerhalb der Ausstellung in ahistorischer und universalistischer Weise gebraucht.15 Welche Formen die Tendenz zur Universalisierung des Andradschen Konzepts annehmen kann, veranschaulicht die 2011 erschienene Publikation Nur der Kannibalismus eint uns. Die globale Kunstwelt im Zeichen kultureller Einverleibung der Ethnologin Katrin H. Sperling. Hierin wird die Antropofagia als Methode zur Beschreibung einer harmonisch aufgefassten Globalkunst genutzt, in der tradierte Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherie hinfällig geworden seien.16 Ein solgia, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Stuttgart, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2005, S. 15-21, hier: S. 17f. 14

Vgl. HERKENHOFF, Paulo/PEDROSA, Adriano (Hrsg.): XXIV Biennal de São Paulo: núcleo histórico: antropophagia e histórias de canibalismos, Ausst.-Kat. Biennale São Paulo, São Paulo: A Fundação, 1998. In der Ausstellung waren Anna Maria Maiolino, Cildo Meireles, Ernesto Neto und Adriana Varejão vertreten.

15

Zur Kritik am Ausstellungskonzept der Biennale São Paulos vgl. LAGNADO, Lisette: On how the 24th São Paulo Biennial took on cannibalism, in: Third Text - Critical Perspectives on Contemporary Art and Culture, Routledge/Oxfordshire, Nr. 13/46, Spring 1999, S. 83-88, hier: S. 88; sowie CHALMERS, Vera Maria: O outro é um: o diagnóstico antropófago da cultura brasileira, in: Ligia Chiappini/Maria Stella Bresciani (Hrsg.): Literatura e Cultura no Brasil: identidades e fronteiras, São Paulo: Cortez, 2002, S. 107-123, hier: S. 122.

16

Nach Sperling „eignet sich“ die Antropofagia „als theoretische Grundlage“ für eine Analyse der globalen Kunstwelt, weil sie „den kreativen Umgang und die bewusste Verwertung aufeinandertreffender kultureller Differenzen innerhalb spezifischer Kon-

14 | Strategien der Einverleibung

cher Ansatz läuft Gefahr, die Antropofagia als austauschbare Metapher für jegliche Formen kultureller Hybridisierung und künstlerischer Appropriation zu verwenden oder gar als kulturelles Narrativ zu sehen, das brasilianischer Kunst generell eingeschrieben sei. Davon abgrenzend gilt es in der Analyse der Kunstwerke, konkrete Verbindungslinien zu de Andrades Programmatik aufzuzeigen. Nur so kann die bedeutende Beeinflussung der kulturellen Anthropophagie auf die zeitgenössische brasilianische Kunst erstmals systematisch nachgewiesen werden, wodurch sich die Inhalte und Tendenzen in der Rezeption herausarbeiten lassen. Die Studie verfolgt somit einen eigenen Forschungsansatz, der davon ausgeht, dass die Antropofagia in der brasilianischen Gegenwartskunst als konzeptuell-ästhetische Strategie zur Anwendung kommt, die eine dezidiert gesellschaftskritische und politische Stoßrichtung entfaltet. Mit der Verwendung des Begriffes Strategie in diesem Kontext setzt sich der methodische Ansatz jedoch nicht über das von der Literaturtheorie poststrukturalistischer Prägung formulierte Konzept vom Tod des Autors17 hinweg. Im Anschluss an Roland Barthes und Michel Foucault wird ein Interpretationsansatz verfolgt, nach dem die Intention des Künstlers oder der Künstlerin nur einen Aspekt von vielen darstellt, die für die Analyse herangezogen werden. Vielmehr kann das texte positiv“ betont. Diese harmonische Auffassung einer Globalkunst sieht die Autorin vorrangig durch die seit 1992 bestehende Präsenz brasilianischer Kunst auf der documenta bestätigt. Sperling konstatiert weiter: „Die […] Metapher des Einverleibens […] unterstreicht ein Verständnis der globalen Kunstwelt als ein nach anthropophager Manier entstandenes, kulturell heterogenes, hybrides Gebilde.“ SPERLING, Katrin H.: Nur der Kannibalismus eint uns. Die globale Kunstwelt im Zeichen kultureller Einverleibung: Brasilianische Kunst auf der documenta, Bielefeld: transcript, 2011, S. 276, 279. 17

Die Debatte um den Tod des Autors wurde zunächst von Roland Barthes durch seinen gleichnamigen, 1968 erschienenen Text angestoßen und im darauffolgenden Jahr mit Michel Foucaults Essay Was ist ein Autor? fortgeführt. Beide Autoren hinterfragen den Schöpfer- und Geniekult und wenden sich primär gegen eine Literaturwissenschaft, in der die Intention des Autors als letztgültige Deutungsinstanz fungiert, wobei sie auch auf den Bereich der Bildenden Kunst verweisen. Der Tod des Autors meint hierbei nicht, wie Michael Wetzel betont, „die grundsätzliche Negation der werkimmanenten Kategorie Autor,“ sondern vielmehr die „funktionale Relativierung derselben im Gesamtprozess ästhetischer Sinngebung.“ WETZEL, Michael: Autor/Künstler, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart: Metzler, 2001, S. 480-543, hier: S. 481. Sowohl Roland Barthes‘ Schrift Der Tod des Autors (1968) als auch Michel Foucaults Text Was ist ein Autor? (1969) finden sich vollständig abgedruckt und in deutscher Übersetzung in: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam, 2000.

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Werk selbst, auch unabhängig vom intentionalen Subjekt, Bedeutungen entwickeln. In diesem Sinne stellen existierende Aussagen von Künstler/innen zwar eine wichtige Stütze der Argumentation dar, jedoch geht die Analyse verstärkt vom Werk selbst aus, in dem sich Strategien der Einverleibung manifestieren. Gerade der strategische Aspekt ist im Manifesto Antropófago konstitutiv, denn es will einen Weg der Emanzipation aus kolonial geprägten Machtgefügen eröffnen. De Andrades Konzept der Antropofagia erweist sich somit als postkoloniales Projekt und lässt sich zur wissenschaftlichen Theorie des Postkolonialismus in Bezug setzen, die Ende der 1970er Jahre maßgeblich von den Literaturwissenschaftler/innen Edward Said, Homi K. Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak entwickelt wurde.18 Die Ansätze, Themen und Fragen der Postcolonial Studies sind ebenso Ausgangspunkt für das Movimento Antropófago gewesen. So versteht sich der Postkolonialismus als Artikulation eines Widerstandes gegen koloniale Herrschaftsformen und ihre Auswirkungen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Analyse kolonialer Beziehungen und die Frage, wie eine Dekolonisierung erreicht werden kann. Der Postkolonialismus versucht, der kolonisierten Welt ihre eigene Sprache wiederzugeben und eine Machtverschiebung zu bewirken, die die kolonisierten Kulturen aus ihrer peripheren Situation und aus ihrer Position der Unterdrückten befreit.19 Das Offenlegen der Beschreibungssysteme des Westens über fremde Kulturen als koloniale Stereotype, das Edward Said anhand des Orientalismusdiskurses vollzieht,20 stellt eine zentrale Analogie zu de Andrades Aneignung und Umformulierung der Figur des Anthropophagen dar, die er dekonstruiert und metaphorisch auf Europa zurückwirft. Insbesondere lässt sich das der Antropofagia zugrundeliegende Konzept einer Vermischung unterschiedlicher Kulturen mit postkolonialen Hybriditätskonzepten, explizit mit Homi K. Bhabhas Modell von Hybridität, in Bezug setzen. Darin 18

Während in mehreren Publikationen wiederholt eine strukturelle Verbindung zwischen postkolonialer Theorie und der Antropofagia gezogen wird, hat insbesondere Peter W. Schulze das Andradsche Konzept in seiner Bedeutung als kulturspezifischen postkolonialen Beitrag zur anglophon bestimmten Theoriebildung ausgearbeitet. Vgl. SCHULZE, Peter W.: Strategien kultureller Kannibalisierung. Postkoloniale Repräsentationen vom brasilianischen Modernismo zum Cinema Novo, Bielefeld: transcript, 2015.

19

Vgl. DHAWAN, Nikita/do MAR CASTRO VARELA, María: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript, 2005, S. 25f.

20

Edward Said lieferte mit Orientalism von 1978 die Gründungsschrift der postkolonialen Theorie. Anhand des Orientalismusdiskurses macht er deutlich, dass die Repräsentationen des Fremden nicht im Interesse einer Wirklichkeitsabbildung stehen, sondern europäische Konstruktionen darstellen, die der Stärkung der Machtposition der dominanten Kultur und der Legitimierung von imperialer Gewalt dienen. Vgl. SAID, Edward: Orientalismus, Berlin: S. Fischer, 2009 (1978).

16 | Strategien der Einverleibung

wird das Aufeinandertreffen von Kulturen nicht mehr dualistisch gedacht, sondern als ein Verschmelzen verschiedener Kultureinflüsse zu einem hybriden dritten Raum aufgefasst, wodurch Hierarchien und Dualismen von Selbst und Fremd überwunden werden.21 Die Metapher der anthropophagen Nahrungsaufnahme, in der kulturelle Austauschprozesse und eine Alteritätserfahrung stattfinden, steht bewusst konträr zu Konstrukten einer fixierten kulturellen Identität. Dementsprechend dekonstruiert die postkoloniale Theorie den Begriff der nationalen Identität und setzt an ihrer Stelle den der Differenz, indem Kulturen generell als hybrid verstanden werden. 22 Die theoretischen Modelle des Postkolonialismus liefern somit ein geeignetes Instrumentarium, mit dem ein Teil der zeitgenössischen Kunstwerke analysiert werden kann. So ist de Andrades Manifesto Antropófago für Cildo Meireles und Adriana Varejão, die in ihren Arbeiten postkoloniale Fragestellungen verhandeln, ein zentraler Bezugspunkt. Die historische Aufarbeitung und kritische Neuschreibung der kolonialen Geschichtserzählung ist in beiden künstlerischen Positionen zentral. In den Werken werden koloniale Macht- und Ausschlussmechanismen strategisch durchkreuzt und essentialistische Vorstellungen von kultureller Identität unterwandert. Die Rezeption der Antropofagia entspricht hier erneut einer postkolonialen Emanzipationsgeste und ist damit als Teil einer Dekolonisierung zu lesen. Ein mehrfach vorgebrachter Vorwurf gegen postkoloniale Theoriebildung ist, dass sie noch immer von einem primär westlichen Beobachtungsstandpunkt ausgeht und somit einem Eurozentrismus verhaftet bleibt. Der postkoloniale Theoriediskurs ist in der anglophonen Wissenschaftssphäre verankert, wodurch lateinamerikanische Wissenschaftsdiskurse marginalisiert werden. 23 Dieser Kritik entgegenwirkend, werden die Theoriekonzepte der klassischen Vertreter/innen der Postcolonial Studies um jene lateinamerikanischer Kulturkritiker/innen erweitert, die sich mit postkolonialen Fragestellungen beschäftigen. So lässt sich Silviano Santiagos 21

Homi K. Bhabha formuliert seine Konzeption von Hybridität sowie seine interkulturelle Denkfigur des dritten Raumes in seinem Werk The Location of Culture von 1994. Vgl. BHABHA, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg, 2000 (1994). Auf die Analogien zwischen den Hybriditätskonzepten Bhabhas und de Andrades haben mehrere Autoren hingewiesen. Vgl. z.B. RINCÓN, Carlos: Antropofagia, Reciclagem, Hibridação, Tradução ou: Como Apropriar-se da Apropriação, in: João de Castro Rocha/Jorge Ruffinelli (Hrsg.): Antropofagia Hoje? Oswald de Andrade em Cena, São Paulo: Realizações Ed., 2011, S. 545-560, hier: S. 555ff.

22

Vgl. BACHMANN-MEDICK, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2009, S. 205f.

23

Diese Kritik wurde beispielsweise von Amaryll Chanady formuliert. Vgl. CHANADY, Amaryll: The Latin American Postcolonialism Debate in a comparative context, in: Carlos A. Jáuregui (Hrsg.): Coloniality at Large. Latin America and the postcolonial Debate, Durham/London: Duke University Press, 2008, S. 417-434.

Einführung | 17

Denkfigur des entre-lugar [Zwischenraum], mit der er wesentliche Elemente des Hybriditätskonzepts von Bhabha vorwegnimmt und zudem die Strategie der kulturellen Anthropophagie einbezieht, für eine theoretische Untermauerung der künstlerischen Arbeiten heranziehen.24 Insbesondere der in der vorliegenden Publikation verfolgte Interpretationsansatz, die künstlerischen Arbeiten von Cildo Meireles und Adriana Varejão als Beiträge zu einer dekolonialen, interventionistischen Praxis zu sehen, lässt sich mit den Ausführungen Walter D. Mignolos, eines zentralen Vertreters der lateinamerikanischen Postkolonialismus-Debatte, methodisch fundieren. Im Sinne Mignolos und unter Berufung auf de Andrades Konzept unterziehen die zeitgenössischen Kunstwerke das okzidentale Denken einer Hinterfragung. 25 Die Untersuchung wird jedoch zeigen, dass die zeitgenössische Rezeption der Antropofagia differenziert erfolgt. Ausgehend von ihrem postkolonialen Kontext wird die Strategie der Einverleibung für weitere Bedeutungsfelder geöffnet und 24

Vgl. SANTIAGO, Silviano: Latin American Discourse: The Space In-Between (1971), in: Ders.: The Space In-Between. Essays on Latin American Culture, Durham/London: Duke University Press, 2001, S. 25-38. Neben den konzeptionellen Ähnlichkeiten zwischen Santiagos entre-lugar und Bhabhas drittem Raum findet sich in Santiagos Ansatz eine historische und lokale Verankerung des Konzepts in der brasilianischen Kunst und Kultur, während Bhabhas Theorem auf einer abstrakteren Ebene operiert und sich auf unterschiedliche (neo-)koloniale Beziehungen übertragen lässt. Beide Theorieansätze lassen sich als gegenseitige Ergänzungen verstehen und gewinnbringend miteinander verbinden. Santiagos Text erschien in der portugiesischen Originalfassung unter dem Titel O Entre-Lugar do Discurso Latino-Americano in: Silviano Santiago: Uma Literatura nós Trópicos. Ensaios sobre Dependência Cultural, São Paulo: Prespectiva, 1978.

25

Walter D. Mignolo ist ein argentinischer Literaturwissenschaftler. Seine Thesen zur Dekolonisierungs-Debatte entwickelte er maßgeblich in seinem 2006 in Buenos Aires erschienen Buch Descolonidad del ser y del saber, das 2012 ins Deutsche übersetzt wurde. Vgl. MIGNOLO, Walter D.: Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien: Turia + Kant, 2012 (2006). Peter W. Schulze erkennt in seiner Analyse der Antropofagia ebenfalls die Anschlussfähigkeit der Thesen Mignolos, wenn er schreibt: „Mit Walter Mignolo (der nicht auf Oswald de Andrade rekurriert) lässt sich das Manifesto Antropófago mit seiner fractured enunciation begreifen als eine Form des border thinking, als Grenzdenken, das sich eurozentrischen Diskursen und Geschichtsbildern, die zu universalistischen global designs (v)erklärt wurden, widersetzt und diese subvertiert. Denn bei Oswald de Andrade geht es neben inhaltlichen Revisionen (neo-)kolonialistischer Diskurse vor allem auch um eine grundlegende Infragestellung der epistemischen Vormachtstellung der westlichen Modernezentren, durch die eine partikulare Denkweise universalisiert und zur Norm erhoben wurde, um den Anderen der Moderne auszuschließen.“ SCHULZE, 2015, S. 10f.

18 | Strategien der Einverleibung

über die Polaritäten der 1920er Jahre hinausgedacht. So tritt die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe des Landes in der Rezeption der Antropofagia durch Ricardo Basbaum, Ernesto Neto und Anna Maria Maiolino in den Hintergrund. Hierbei wird das kritisch-subversive Potenzial des Andradschen Konzepts fortgeführt und für eine Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themenfeldern fruchtbar gemacht. In den drei Werkansätzen manifestierten sich Strategien der Einverleibung, die im Spannungsfeld von Migration, Ethnizität und Geschlecht operieren. Denn unabhängig von ihrem postkolonialen Impetus beinhaltet die Antropofagia das Potenzial, unterschiedliche Machtgefüge zu unterlaufen. So werden unter Bezug auf die Antropofagia feministische und queere Standpunkte formuliert. Auch wird das modernistische Konzept zur Beschreibung von Migrationsprozessen genutzt, wobei es der Formulierung einer antirassistischen Haltung dient. Im Rahmen einer partizipativen Kunst werden mittels Anwendung der Strategie der Einverleibung nicht nur kulturelle Dichotomien, sondern auch gesellschaftliche Hierarchien durchbrochen. Im Anschluss an die eingangs analysierte, postkolonial ausgerichtete Rezeption der Antropofagia artikulieren die Werkansätze auch hier eine auf dem Aspekt der Hybridität basierende Auffassung von Identität. Dabei wird die Strategie der Einverleibung wiederholt als ein Instrument der Intervention eingesetzt, mit der Konstrukte einer fixierten – kulturell, national oder geschlechtlich bestimmten – Identität überwunden werden, zugunsten eines schöpferischen Umgangs mit Differenz. Entsprechend lassen sich die künstlerischen Projekte von Ricardo Basbaum, Ernesto Neto und Anna Maria Maiolino mit theoretischen Reflexionen des Poststrukturalismus verbinden, die sich mit Fragen nach der Dekonstruktion von diskursiven Machtverhältnissen befassen und für eine Identitätspolitik eintreten, die sich von der Vorstellung eines in sich homogenen Kollektivs loslösen. Durch diese methodische Fundierung der zeitgenössischen Kunstwerke kann die aktuelle Anschlussfähigkeit des Andradschen Konzepts herausgearbeitet werden. So werden an den künstlerischen Arbeiten parodistische Praktiken ablesbar, die mit Judith Butlers performativem Modell von Geschlecht26 in Bezug gesetzt werden können. Im Sinne Butlers wird das traditionelle binäre System der Geschlechterbeziehungen, das sich 26

Judith Butler entwickelte ihr performatives Modell von Geschlecht in ihrem 1990 veröffentlichten Buch Gender Trouble, das in deutscher Übersetzung unter dem Titel Das Unbehagen der Geschlechter erschien. Grundlage für Butlers Theorie der Performativität ist die These, dass die soziale Geschlechtsidentität (gender) nicht naturgemäß an das anatomische Geschlecht (sex) gebunden ist. Vielmehr werden die Kategorien männlich und weiblich als kulturelle Konstruktionen betrachtet, die sich durch die performative Wiederholung von Sprechakten stets aufs Neue verfestigen. Vgl. BUTLER, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2014 (1990), S. 22f., 206f.

Einführung | 19

durch den Ausschluss abweichender Geschlechtsidentitäten und Grenzziehungen konstituiert, unterwandert. Unter Anwendung der Strategie der Einverleibung wird geschlechtliche Identität als hybrider Raum vorgestellt, der offen ist für Verhandlungen. Ein weiterer methodischer Zugang kann über das poststrukturalistische Modell des Rhizoms von Gilles Deleuze und Félix Guattari gezogen werden. Das Rhizom beinhaltet eine Form der Weltanschauung und wird als offenes Denknetz verstanden, in dem immer wieder neue Erkenntnisverknüpfungen hergestellt und alternative Perspektiven eingenommen werden können.27 Mit seiner antihierarchischen, antiessentialistischen und heterogenen Denkweise, die das Potenzial einer Befreiung aus definierten Machtstrukturen beinhaltet, steht das Rhizom dem Andradschen Konzept der kulturellen Anthropophagie nahe.28 Somit werden die schriftlich erzeugten Diskurse des Poststrukturalismus und Postkolonialismus um eine Analyse der Bildlichkeit erweitert,29 wodurch sich die vorliegende Studie grundlegend interdisziplinär ausrichtet.30 Die Untersuchung versteht sich durch ihren methodischen Zugang als Beitrag zu einer dezentrierten, 27

Gilles Deleuze und Félix Guattari führen ihr Modell des Rhizoms im Vorwort ihres Werkes Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus in Opposition zu dem auf die antike Logik zurückführenden Baum des Wissens ein. Dieser beinhaltet eine hierarchische und dichotome Klassifikation der Wissenschaften, bei dem die einzelnen Elemente unterschiedlichen Ordnungsebenen zugeteilt sind, die nicht miteinander in Beziehung treten können. Im Gegensatz hierzu befördert das rhizomatische Modell diverse Kreuzungen, Überschneidungen und Querverbindungen, wodurch es eine Heterogenität des Denkens propagiert. Vgl. DELEUZE, Gilles/GUATTARI, Félix: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin: Merve Verlag, 1997 (1980), S. 14, 16, 37.

28

Peter W. Schulze hat erwähnt, dass im Manifesto Antropófago das von Deleuze und Guattari geprägte „rhizomatische Prinzip der Konnexion und Heterogenität“ angelegt sei, „basierend auf einer anti-diskursiven Schreibweise und assoziativen Verknüpfungen.“ SCHULZE, 2015, S. 10.

29

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Hanna Büdenbender, die Saids Konzept des Orientalismus auf eine Analyse der bildlichen Repräsentation der Tropen überträgt und hierdurch dekonstruktive Bildpraktiken zeitgenössischer Künstler/innen aufzeigt. Vgl. BÜDENBENDER, Hanna: »Wow, that's so postcard!« – De-/Konstruktionen des Tropischen in der zeitgenössischen Fotografie, Bielefeld: transcript, 2020.

30

Indem der Bezug der künstlerischen Positionen auf das Manifest Oswald de Andrades die grundlegende Fragestellung der Untersuchung darstellt, ist eine transdisziplinäre Arbeitsweise konstitutiv. Da sich die Bewegungen um Antropofagia und Tropicália als gattungsübergreifende, gesamtgesellschaftliche Phänomene erweisen, werden schließlich Dokumente verschiedenster kultureller Sparten wie auch der Populärkultur in die Analyse aufgenommen.

20 | Strategien der Einverleibung

transkulturellen Kunstgeschichtsschreibung, die den künstlerischen Werken Rechnung trägt, welche dichotome Klassifizierungen im Kontext von Lokalität und Globalität unterwandern. Die brasilianischen Gegenwartskünstler/innen vollziehen innerhalb ihrer Rezeption der Antropofagia transkulturelle Austauschprozesse und tragen so zu einer kritischen, globalen Kunstgeschichte bei.31 Nach einem einleitenden Kapitel zur Tradition der Anthropophagie-Metapher in Europa und deren Übertragung auf die indigenen Völker Brasiliens im Zuge der Entdeckung der ‚Neuen Welt‘ wird de Andrades Manifesto Antropófago ausführlich analysiert, um die Inhalte der Antropofagia herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, wie die künstlerische Umsetzung des Andradschen Konzepts durch die bildenden Künstler/innen des Modernismo und des Tropicalismo erfolgt. Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst wird anhand einer aufeinanderfolgenden Analyse der Werkansätze von Adriana Varejão, Cildo Meireles, Anna Maria Maiolino, Ernesto Neto und Ricardo Basbaum untersucht. Dabei werden sowohl konkrete Referenzlinien in Bezug auf das Manifesto Antropófago und die künstlerischen Umsetzungen des Modernismo und Tropicalismo aufgezeigt wie auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen zeitgenössischen Positionen herausgearbeitet, wodurch die Inhalte und Tendenzen der Rezeption der Antropofagia in der brasilianischen Gegenwartskunst evident werden. Abschließend thematisiert die Publikation auch den Transfer anthropophager Ideen in das westliche Kunstsystem, wodurch das europäische Verständnis der Antropofagia befragt und zur brasilianischen Rezeption in Bezug gesetzt wird. Auch die in diesem Kapitel analysierte Anwendung der Strategie der Einverleibung durch transnational arbeitende Künstler/innenkooperationen verdeutlicht, wie Kulturanthropophagie über nationale Grenzen hinaus nutzbar gemacht und als globale Kulturtechnik wirksam wird.

31

Für ihre Analyse von Werken Lygia Clarks, Hélio Oiticicas und Dennis Fesers im Kontext der kulturellen Anthropophagie zieht Alexandra Karentzos Bhabhas Hybriditätskonzept heran und konstatiert: „In this way such works are heuristically interesting for the formation of postcolonial theory and issues concerning transculturality: art history cannot afford to restrict its perspective to simply classifying such works; rather, it must be willing to be open to their irritation and have its own rigid ordering principles set in motion.“ KARENTZOS, Alexandra: Incorporations of the Other – Exotic Objects, Tropicalism, and Anthropophagy, in: Gabriele Genge/Angela Stercken (Hrsg.): Art History and Fetishism Abroad. Global Shiftings in Media and Methods, Bielefeld: transcript, 2014, S. 251-270, hier: S. 267f.

Die Anthropophagie-Metapher in Europa und im Zuge der Entdeckung der ‚Neuen Welt‘

Die Metapher der Anthropophagie ist eine europäische Erfindung mit einer bis in die Antike reichenden Tradition. Bereits in zahlreichen antiken Mythen ist der anthropophage Akt präsent und stellt sich zumeist als ein Ausdruck von Herrschsucht oder Rache dar. Die anthropophagen mythologischen Gestalten werden hierin als besonders grausam und unmenschlich gekennzeichnet, etwa wenn Thyestes seinem Bruder, der ihn entthront hat, die eigenen Kinder zum Mahl vorsetzt. Kronos, der Herrscher des Himmels, verschlingt seine Kinder, die Sterne, um zu verhindern, dass seine Nachkommen mächtiger als er werden könnten. Auch finden sich Kannibalen in Verbindung mit der Charakterisierung von Wildheit in Form der Kyklopen, von denen beispielsweise Polyphem die Gefährten des Odysseus verspeist. Allen Mythen gemein ist, dass Anthropophagie stets als schändlich angesehen wird und die Götter erzürnt.1 Für die abendländische Gesellschaft wie für fast alle Hochkulturen bedeutet Anthropophagie ein „Greuel und eine unverständliche Verirrung des Menschen, einen Schandfleck auf der Entwicklungsgeschichte des Menschengeschlechts,“2 wie 1

Vgl. FRANK, 1987, S. 210; sowie WENDT, Astrid: Kannibalismus in Brasilien. Eine Analyse europäischer Reiseberichte und Amerika-Darstellungen für die Zeit zwischen 1500 und 1654, Frankfurt am Main: Lang, 1989, S. 1f. Die anthropophagen Handlungen der mythologischen Gestalten werden unter anderem von Homer und Ovid beschrieben. Zur Geschichte von Thyestes und seinem Bruder Atreús vgl. HUNGER, Herbert (Hrsg.): Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart, Wien: Hollinek, 1988, S. 93. Zu den Figuren Kronos und Polyphem vgl. RECLAM, Philipp (Hrsg.): Reclams Lexikon der antiken Mythologie, Stuttgart: Reclam, 1974, S. 301, 445.

2

VOLHARD, Ewald: Kannibalismus. Aus der Reihe Studien zur Kulturkunde, Bd. 5, hrsg. v. Ad. E. Jensen, Stuttgart: Strecker und Schröder, 1939, S. 9.

22 | Strategien der Einverleibung

Ewald Volhard zusammenfasst. Gerade aus diesem Grund konnte die Figur des Kannibalen wirkungsvoll dazu dienen, eine Distanz zu schaffen zum „archetypischen Anderen“, zum „Schreckensgespenst.“3 So diente die Anthropophagie im Mittelalter als Feindbild-Stereotyp der Marginalisierung und Diskriminierung sozialer Randgruppen in der eigenen Gesellschaft und wurde auf Personenkreise übertragen, die außerhalb der christlich-abendländischen Kultur standen, wie Ketzer/innen, Angehörige des Judentums oder Hexen. 4 Der Anthropophagie-Vorwurf erwies sich hierbei als propagandistisches Konzept von Kirche und weltlicher Obrigkeit und diente erfolgreich als Legitimationsmöglichkeit für eine öffentliche Anprangerung und Verfolgung dieser Abweichler.5 Auch lokalisierten bereits Antike und Mittelalter an der fernöstlich gelegenen Peripherie der damals bekannten Welt anthropophage Völker. Schon Herodot widmet sich in seinen Historien wiederholt der Beschreibung des antiken Volkes der Issedonen, das er als Androphagoi bezeichnet, da es die ethnographisch als Endokannibalismus6 bezeichnete Tradition haben soll, seine verstorbenen Verwandten zu verspeisen.7 Neben der anthropophagen Praxis werden den fremden Völkern weite-

3

SANDFÜHR, Thomas: Só a Antropofagia nós une: Assimilation und Differenz in der Figur des Anthropophagen, Düsseldorf, 2001, URL: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dok serv?idn= 963602896 (Zugriff: 01.06.2016), 2001, S. 6.

4

Vgl. RÖCKELEIN, Hedwig: Einleitung - Kannibalismus und europäische Kultur, in: Dies. (Hrsg.): Kannibalismus und europäische Kultur, Tübingen: Ed. Diskord, 1996, S. 9-27, hier: S. 12f.

5

Vgl. MENNINGER, Annerose: Die Macht der Augenzeugen. Neue Welt und Kannibalen-Mythos, 1492-1600, Stuttgart: Franz Steiner, 1995, S. 112f.

6

Während der Exokannibalismus das Verzehren von Feinden bezeichnet, werden beim Endokannibalismus verstorbene Verwandte und Freunde einverleibt, was dem Erhalt der Seele der Toten dienen soll. Vgl. MEYER, Carl Joseph (Hrsg.): Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 5, Leipzig: Bibliographisches Institut, 1906, S. 773.

7

Vgl. WENDT, 1989, S. 3. Der Hinweis auf die Anthropophagie findet sich bei Herodot im 4. Buch seiner Historien, das den Feldzügen gegen die Skythen und gegen Libyen gewidmet ist: „Von den Bräuchen der Issedonen erzählt man folgendes: Wenn der Vater eines Issedonen stirbt, bringen alle Verwandten Kleinvieh herbei, das man schlachtet und zerlegt. Aber auch den toten Vater des Wirtes zerschneiden sie, vermischen sein Fleisch mit dem anderen und halten ein Mahl.“ HERODOT: Historien, Bücher I–IX, hrsg. u. übers. v. Josef Feix, Zweisprachige Ausgabe Griechisch–Deutsch in zwei Bänden, Reihe Tusculum, Düsseldorf: Artemis & Winkler/Patmos, 2000, Abschnitt 26, S. 521.

Die Anthropophagie-Metapher | 23

re unmoralische Sitten, wie Wildheit, Gesetzlosigkeit und Nomadentum, zugewiesen.8 Spätere römische und griechische Schriftsteller orientieren sich an Herodots Ausführungen, halten am Anthropophagie-Mythos fest und übertragen ihn auf andere fremde Völker. Beispielsweise bezichtigt Strabo in seiner Erdbeschreibung die Bewohner/innen des Kaukasus des Endokannibalismus, Plinius d. Ä. siedelt anthropophage Völker in Äthiopien an, Ptolemäus in der Mongolei, im Gangesdelta und in Burma. Die spätere mittelalterliche Reiseliteratur führt die Tradition weiter, in entfernten Gebieten Menschen zu lokalisieren, die der Anthropophagie bezichtigt werden. Autoren wie Marco Polo oder John Mandeville sind bestrebt, die tradierten Topoi der abendländischen Geschichte zu bestätigen und treffen die anthropophage Praxis vornehmlich in Asien an.9 Erwin Frank stellt daher fest, dass die Metapher der Anthropophagie ein europäisches Konstrukt ist, bei dem auch neu hinzukommende Informationen über das Wesen der Anthropophagie „immer nur Teil und Varietät eines mitgebrachten und von den eigenen Autoritäten gestützten Wissens um die Existenz und Praxis von Kannibalen“10 waren. Der Anthropophagie-Vorwurf diente von Beginn an der Konstruktion einer Differenz zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Zivilisation und Wildheit und war gedanklich stets mit einer zeitlichen, räumlichen oder sozialen Distanz zwischen der Welt der Berichterstatter und der unbekannten Welt der Anderen verbunden.11 Diese europäische Tradition stellte schließlich den Nährboden für die Übertragung des Anthropophagie-Stereotyps auf die Menschen in der ‚Neuen Welt‘ dar, die mit der ‚Entdeckung‘ der Antillen durch Kolumbus ihren Anfang nahm. Dieser berichtet im Bordjournal seiner ersten Reise aus den Jahren 1492 und 1493, dass sich die friedfertigen Bewohner der Westindischen Inseln in der ständigen Angst vor den auf der Nachbarinsel lebenden Cariben befänden, welche einäugige, 8

So heißt es an anderer Stelle bei Herodot: „Die Menschenfresser führen das roheste Leben von allen. Sie kennen weder Recht noch Gesetz. Sie sind Nomaden […].“ Ebd., Abschnitt 106, S. 581.

9

Vgl. WENDT, 1989, S. 4f. Der Asienreisende Marco Polo erzählt in seinem zwischen 1271 und 1295 verfassten Reisebericht Il Milione von Kannibalen an der Malabarküste, in Kaschmir und in Japan. Vgl. POLO, Marco: Il Milione: Die Wunder der Welt, Übers. u. Nachw. v. Elise Guignard, Zürich: Manesse, 1983, S. 284f., 297f. Der Topos des Kannibalismus findet sich auch in John Mandevilles Schriften, die Mitte des 14. Jahrhunderts verfasst wurden. Vgl. MANDEVILLE, John: Reisen des Ritters John Mandeville. Vom heiligen Land ins ferne Asien 1322-1356, hrsg. v. Christiane Buggisch, Lenningen: Marix, 2004, S. 195, 207, 211, 265f., 278ff.

10

FRANK, 1987, S. 210.

11

Ebd. S. 200.

24 | Strategien der Einverleibung

hundsköpfige Menschenfresser seien.12 In Kenntnis der antiken und mittelalterlichen Schrifttradition zur Anthropophagie leistete Kolumbus’ Begegnung mit kannibalischen Völkern in der ‚Neuen Welt‘ einer Erwartungshaltung folge, die durch seine Überzeugung, Asien entdeckt zu haben, bestärkt wurde. 13 Sehr schnell wurde der Begriff des Kannibalismus nicht nur in Bezug auf die Cariben verwendet, sondern universal auf die in der ‚Neuen Welt‘ lebenden Menschen und schließlich prototypisch auf die indigenen Völker Brasiliens übertragen.14 Da der Kannibalismus seit Kolumbus als Hauptmerkmal barbarischer Lebensform galt, konnte er im Zuge der Kolonisierung als moralische Rechtfertigung für Imperialismus und Kapitalismus dienen und die Machtposition zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten wirkungsvoll stärken.15 Auch bestand ein zweckdienlicher Zusammenhang zwischen der unterstellten Moral- und Kulturlosigkeit der indigenen Völker und ihrer Unterwerfung und Versklavung, da in der ersten Phase der militärischen Annexion der ‚Neuen Welt‘ zunächst Arbeitskräfte benötigt wurden.16

12

Vgl. KOLUMBUS, 1980 (1826), S. 69. Der Kannibalismus-Vorwurf wird in Kolumbus’ Bordbericht, in welchem eine idealisierende Darstellung der Einheimischen und deren Ressourcen dominiert, auf ein feindliches indigenes Volk übertragen. Die Nachricht vom Kannibalismus sieht Kolumbus durch den geschilderten Umstand belegt, dass seine Männer einen Menschenkopf in einem verlassenen Haus finden. Dieser Indizienfund wird von späteren Autoren herangezogen, ebenso wie das Antreffen von friedlichen Einheimischen und grausamen Kannibalen.

13

Vgl. RÖCKELEIN, 1996, S. 13.

14

Vgl. ebd.

15

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 6.

16

Schon Kolumbus sieht in den kannibalischen Völkern geeignete Sklav/innen, da diese sich nicht freiwillig unterwerfen würden. Eine Versklavung der ,Eingeborenen‘ wurde von der portugiesischen Krone ausdrücklich gebilligt, wenn diese Kannibal/innen seien oder sich gegen die Kolonialherren auflehnten. Ab 1547 fanden groß angelegte Expeditionen, sogenannte Bandeiras, statt, bei denen die Portugiesen ins Landesinnere vordrangen und Indigene für die Versklavung regelrecht einfingen. Vgl. LUCHESI, Elisabeth: Von den »Wilden/Nacketen/Grimmigen Menschenfresser Leuthen/in der Newenwelt America gelegen«. Hans Staden und die Popularität der ›Kannibalen‹ im 16. Jahrhundert, in: Karl-Heinz Kohl (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas, Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin, Berlin: Frölich und Kaufmann, 1982, S. 71-74, hier: S. 71; sowie WENDT, 1989, S. 25.

Die Anthropophagie-Metapher | 25

DIE PROJEKTION DER ANTHROPOPHAGIE AUF DIE INDIGENEN VÖLKER BRASILIENS IN ILLUSTRIERTEN REISEBERICHTEN Im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts setzte eine Flut von Reiseberichten über Brasilien ein, die den Topos der Anthropophagie aufgriffen und immer detaillierter beschrieben. Die Entdeckungsreisenden wollten in Brasilien nun wahrhaft Augenzeugen anthropophager Handlungen gewesen sein, teilweise sogar unter den indigenen Völkern gelebt haben, wodurch Einzelheiten über deren vermeintliche Praktiken bekannt wurden. Brasilien wurde schließlich zum Sinnbild des Kannibalismus schlechthin.17 Den Anfangspunkt der Berichterstattung über Brasilien stellen die überaus erfolgreich publizierten Berichte des Florentiner Kaufmannes Amerigo Vespucci dar, der an spanischen und portugiesischen Entdeckungsfahrten beteiligt war und unter den anthropophagen Völkern gelebt haben will. Neben Beschreibungen des Erscheinungsbildes der Indigenen und der Schilderung der gängigen unmoralischen Gebräuche und Sitten widmet der Autor in seinen Schriften dem Thema der Anthropophagie die größte Aufmerksamkeit. Bei seiner Darstellung der lokalen Bevölkerung knüpft er an Kolumbus’ Bild vom aggressiven, kannibalischen Insel- und Festland-Kariben an.18 Auffallend ist auch die Ähnlichkeit zwischen dem von Vespucci entworfenen Bild der Indigenen und der in Europa im Mittelalter und der frühen Neuzeit verbreiteten Vorstellung der sogenannten Wildleute. Diese wurden in Asien und in abgele-

17 18

Vgl. MENNINGER, 1995, S. 128f. In seinem 1503 erschienenen Bericht mit dem Titel Mundus Novus will Vespucci Augenzeuge von anthropophagen Handlungen gewesen sein. Um 1505 führt er diese Beobachtungen in seinen Lettera di Amerigo Verspucci delle isole nuovamente trovate in quattro suoi viaggi weiter aus, die auch unter dem Titel Soderini-Brief bekannt wurden. Vespucci orientiert sich bei seiner Beschreibung der Indigenen an den üblichen abwertenden Charakteristika, die in Bezug auf die Darstellung der vermeintlichen Anthropophag/innen genutzt wurden, wie Nacktheit und sexuelle Zügellosigkeit sowie das Fehlen jeglicher Gesetze und Religion, was mit völliger Kulturlosigkeit gleichgesetzt wurde. Vespucci stellt insbesondere die Grausamkeit und Unmoral der indigenen Völker heraus. So will er gesehen haben, wie ein Vater seine eigene Frau und sein Kind verzehrte, wie er geräuchertes Menschenfleisch in den Behausungen aufgehängt vorfand oder wie ein Indigener mit dem Verzehr von hunderten Menschen geprahlt habe. Zudem berichtet er vom Übergriff des ‚Kannibalenstammes‘ auf einen seiner Matrosen, dessen anschließende grausame Tötung und gierige Verspeisung vor seinen Augen. Vgl. MENNINGER, 1995, S. 130ff.; sowie WENDT, 1989, S. 13ff.

26 | Strategien der Einverleibung

genen Wäldern Europas lokalisiert und der Anthropophagie bezichtigt, wodurch sie eine Gefahr für den ordentlichen Bürger darstellten.19 Susi Colin weist darauf hin, dass die Charakteristika, mit denen Vespucci die brasilianischen Indigenen belegt, mit denen der Wildleute nahezu identisch sind, indem diese neben der Ausübung von Anthropophagie als unzivilisiert, unbekleidet, bewaffnet sowie gesetzlos und sexuell ungehalten beschrieben werden.20 Sogar die zumeist vollständige Körperbehaarung der Wildleute wird auf die Darstellung der brasilianischen Indigenen übertragen. So zeigt das Frontispiz einer Ausgabe der Schrift Mundus Novus einen Indigenen in Gestalt eines wilden Mannes, der bärtig, nackt, völlig behaart und mit einer Keule bewaffnet ist (Abb. 1).21 Im Vergleich mit einem Kupferstich von Martin Schongauer aus dem 15. Jahrhundert, der einen wilden Mann abbildet (Abb. 2), treten die Ähnlichkeiten in der Darstellung deutlich hervor. Abbildung 1: Anonym: Wilder Mann als Wappenträger, ca. 1505 Abbildung 2: Martin Schongauer: Wappenschild mit Windhund, von einem Wilden Mann gehalten, letztes Drittel des 15. Jahrhunderts

19

Vgl. MENNINGER, Annerose: Die Kannibalen Amerikas und die Phantasien der Eroberer. Zum Problem der Wirklichkeitswahrnehmung außereuropäischer Kulturen durch europäische Reisende in der frühen Neuzeit, in: Hedwig Röckelein (Hrsg.): Kannibalismus und europäische Kultur, Tübingen: Ed. Diskord, 1996, S. 115-141, hier: S. 117f.

20

Vgl. COLIN, Susi: Das Bild des Indianers im 16. Jahrhundert, Idstein: Schulz-Kirchner,

21

Vgl. MENNINGER, 1995, S. 137, 142. Die Darstellung der Indigenen als Wildleute ist

1988, S. 63ff. in den Publikationen zu Vespuccis Schrift Mundus Novus allgemein gängig. Susi Colin führt weitere Bildbeispiele an. Vgl. COLIN, 1988, S. 73ff.

Die Anthropophagie-Metapher | 27

Auch das um 1500 verfasste erste Buch der Acht Dekaden über die Neue Welt von Peter Martyr, des Hofchronisten der spanischen Krone, forcierte die Vorstellungen über den Kannibalismus in Brasilien. Martyr, der selbst Amerika nie bereist hatte, kam der offizielle Auftrag zuteil, die ‚Entdeckung‘ Amerikas literarisch festzuhalten. Seine Publikation basiert auf den Zeugnissen verschiedener Entdeckungsfahrer, insbesondere auf den Berichten Kolumbus’ und Vespuccis. 22 Auch Martyr rückt die Anthropophagie in den Mittelpunkt seiner Beschreibung, in der sich ähnliche Versatzstücke wie in der Schilderung Vespuccis finden. So wird der anthropophage Akt als Rachemotiv verstanden. In Kriegszügen werden Menschen geraubt, die einige Zeit in Gefangenschaft verbringen, wo sie gemästet werden und ihnen zur Zeugung von Nachkommen ein/e Partner/in zugewiesen wird. Daraufhin wird das Braten und Kochen von Leichenteilen beschrieben, die schließlich vom ‚Kannibalenstamm‘ gemeinsam verzehrt werden.23 Seit Vespuccis Berichten wird die Anthropophagie auch in den die Reiseliteratur begleitenden Illustrationen und Landkarten vornehmlich auf die indigenen Völker Brasiliens übertragen.24 In der frühneuzeitlichen Publizistik zur Anthropophagie in Brasilien entstanden mehrere Formen visueller Stereotype. Das erste geläufige Bildvokabular zeigt einen am Spieß bratenden Körper oder Körperteile, wie es bereits auf Lorenz Fries’ Weltkarte von 1530 zu sehen ist (Abb. 3). An der nordöstlichen Küste Südamerikas sind mit Federröcken bekleidete Indigene in einer anthropophagen Szene dargestellt: Während im Vordergrund ein Mann beim Braten eines aufgespießten Armes und Beines über dem offenen Feuer abgebildet ist, zeigt der Hintergrund des Holzschnittes eine Frau, die ein menschliches Körperteil verzehrt, unterdessen ein Anderer den toten Körper eines weiteren Opfers heranträgt. Die Gruppe befindet sich unter einem Baum, an dessen Ästen menschliche Extremitäten aufgehängt sind, ein weiteres wiederkehrendes Versatzstück in der Darstellung der brasilianischen Anthropophagie.25 Mit dem Motiv des aufgespießten Menschenkörpers bedient man sich europäischer Vorbilder aus biblischen Höllendarstellungen.26 Das um 1500 von Hieronymus Bosch geschaffene Jüngste Gericht beispielsweise zeigt auf der Mitteltafel einen auf einen Pflock gespießten Menschen, der von einem Teufel über dem Feuer geröstet wird (Abb. 4).

22

Vgl. MENNINGER, 1995, S. 54f.

23

Vgl. ebd., S. 177.

24

Vgl. LUCHESI, 1982, S. 71.

25

Auf einer Inschrift steht geschrieben: „Land der Kannibalen. Die hier leben sind Menschenfresser.“ Vgl. COLIN, 1988, S. 297f.; sowie MENNINGER, 1995, S. 143: „Terra Canibalor. Qui hanc habitant Anthropophagi sunt.“

26

Vgl. MENNINGER, 1995, S. 144.

28 | Strategien der Einverleibung

Abbildung 3: Anonym: Carta marina navigatoria (Detail), ca. 1530 Abbildung 4: Hieronymus Bosch: Jüngstes Gericht (Detail), um 1500

Ein weiteres häufiges Bildmotiv ist die Darstellung von Anthropophagen, die beim Zerlegen menschlicher Leichen dargestellt sind und dabei aus europäischer Perspektive wie Metzger agieren. In der Ausgabe Diß büchlin saget von 1509 über die vier Reisen Vespuccis schwingt ein Indigener ein Beil über einem Tisch, auf dem zerhackte Menschenteile verstreut liegen (Abb. 5).27 In einem Holzschnitt, der in einem Begleittext zu Fries’ Weltkarte abgedruckt war, findet sich dieses Motiv zu einem Fleischerladen ausgeweitet (Abb. 6). Die Illustration bezieht sich zwar auf Kolumbus’ Berichte über die Kannibalen der Westindischen Inseln, jedoch wird die Übertragbarkeit dieses stereotypen Bildmotivs auf die brasilianischen Indigenen augenscheinlich. Der Holzschnitt zeigt hundsköpfige Menschenfresser, die im Vordergrund eines Hauses damit beschäftigt sind, auf einem Holztisch die Leichname mit einem Schlachterbeil zu zerlegen. An einer über ihren Köpfen angebrachten Stange werden die Gliedmaßen der Verstümmelten wie zum Verkauf präsentiert.28

27

Vgl. ebd., S. 134f.

28

Vgl. ebd., S. 144f. Der Holzschnitt erschien in einer Begleitbroschüre zu Lorenz Fries’ Carta Marina navigatoria, welche 1525, 1527 und 1530 in drei Auflagen auf dem Markt publiziert wurde, und diente der Illustration der Reisen des Kolumbus. In der dritten Edition wurde der Holzschnitt sogar zusätzlich zur Illustration im Text als Frontispiz verwendet. Vgl. FRIES, Lorenz: Uslegung der mercarthen oder Cartha Marina, Straßburg: Johannes Grüninger, 1527.

Die Anthropophagie-Metapher | 29

Abbildung 5: Anonym: Ohne Titel, ca. 1509 Abbildung 6: Anonym: Ohne Titel, ca. 1527

Nachdem Hans Stadens Berichte über das indigene Volk der Tupinambá29 in Europa bekannt geworden waren, wurde der ‚Tupi-Indianer‘ schließlich zum Synonym für den Kannibalismus schlechthin.30 Staden, ein hessischer Landsknecht und Brasilienreisender, soll 1553 von den Tupinambá gefangen genommen worden sein und einige Zeit mit ihnen gelebt haben. Nach seiner Befreiung verfasste er einen mit 54 Holzschnitten und einer Brasilienkarte illustrierten Bericht, der 1557 unter dem Titel Wahrhaftige Historia und Beschreibung einer Landschaft der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser, in der Neuen Welt Amerika gelegen auf dem Buchmarkt erschien. Seine Publikation, welche die bis dahin ausführlichste und unmittelbarste Beschreibung der anthropophagen Praxis enthielt, avancierte in kürzester Zeit zu einem Bestseller und wurde vor Ende des Jahrhunderts neunmal in verschiedenen Übersetzungen wieder aufgelegt.31 Die in den Text eingebundenen

29

Tupinambá ist eine im Grunde genommen unspezifische Bezeichnung für ein heterogenes indigenes Volk Brasiliens. Im Kontext der Stereotypisierung Brasiliens als ‚Kontinent der Kannibalen‘ steht der ‚Tupi-Indianer‘ als emblematische Chiffre für die Figur des Kannibalen.

30 31

Vgl. RÖCKELEIN, 1996, S. 13. In der Originalausgabe von 1557 beschreibt Staden in einem ersten packenden Berichtteil seine Erlebnisse von der Gefangennahme bis hin zu seiner Befreiung, worauf ein zweiter ethnographischer Informationsteil folgt, in dem er die Sitten und Bräuche der Tupinambá darlegt und in diesem Rahmen detailliert über das anthropophage Ritual berichtet. Vgl. STADEN, Hans: Wahrhaftige Historia und Beschreibung einer Landschaft der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser, in der Neuen Welt Amerika gelegen,

30 | Strategien der Einverleibung

Illustrationen zu Stadens Bericht zeigen erstmals den Gesamtablauf des rituellen Kannibalismus in chronologischer Abfolge von der Gefangennahme bis zur Tötung des Feindes, dem anschließenden Ausweiden, Rösten und Kochen seiner Leiche und der Verspeisung der Körperteile durch Männer, Frauen und Kinder (Abb. 7). 32 Abbildung 7: Anonym: Illustration in Hans Staden: Wahrhaftige Historia, Kassel 1557

Originalgetreue Faksimile-Ausgabe, hrsg. v. Günter E. Th. Bezzenberger, Kassel: Thiele & Schwarz, 1978 (1557), o. Seitenangabe; sowie LUCHESI, 1982, S. 71f. 32

Zehn Holzschnitte illustrieren das anthropophage Ritual und zeigen auch die Abfolge der rituellen Handlungen, die dem Töten und Verspeisen des Gefangenen vorausgehen: Als Vorbereitung auf die gemeinsame Verspeisung des Gefangenen werden Gefäße und zeremonielle Gegenstände hergestellt, Getränke zubereitet und aus den Nachbardörfern werden Gäste eingeladen. Es folgt eine Begrüßungsrede des Häuptlings an die Versammlung, das Singen der Frauen und das gemeinsame Trinken, an dem der Gefangene sich beteiligt. Des Weiteren erfolgt eine ausführliche Schilderung der verschiedenen Vorbereitungen des Gefangenen wie des Totschlägers, die sich mit einer bestimmten Anrede begegnen. Für die Tötung wird das Opfer mit einem um die Hüften gebundenen Strick in die Mitte der Gemeinde geführt, wo er durch einen Schlag auf den Kopf mit einer Zeremonialkeule getötet wird. Die Ausführungen schließen mit einer Beschreibung der Zubereitung, Verteilung und des Essens des Menschenfleisches. Vgl. STADEN, 1978 (1557), o. Seitenangabe; sowie LUCHESI, 1982, S. 72.

Die Anthropophagie-Metapher | 31

Mit der Expansion des Reiseliteraturmarktes im 16. Jahrhundert werden die bildlichen Darstellungen des Kannibalismus immer spektakulärer. In erster Linie sind hier die Illustrationen des Frankfurter Verlegers und Kupferstechers Theodor de Bry in dem 1593 erschienenen dritten Band seiner Grands Voyages zu nennen. Dieser Band basiert auf bereits existenten Text- und Bildvorlagen und enthält den Bericht Stadens sowie jenen des französischen Theologen Jean de Léry, der ebenfalls während seines Brasilienaufenthaltes Augenzeuge des Kannibalismus gewesen sein will.33 Die sieben Kupferstiche, die das anthropophage Ritual detailliert dokumentieren, übertreffen die groben Holzschnitte in Stadens Originalausgabe in Detailgenauigkeit und Grausamkeit jedoch bei weitem, wie Elisabeth Luchesi beobachtet:34 „Die Fremden, die bei Staden keinen physischen Ausdruck bekommen hatten, werden in den Kupferstichen de Brys nahezu körperlich greifbar, die Distanz zum Betrachter wird […] aufgehoben.“35 Im ersten Kupferstich des Léry-Textes (Abb. 8a) greift de Bry auf das gängige Motiv des Grills zurück, das in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Motiv des Spießes ablöst. Durch das Bild des Grills, auf dem die einzelnen Körperteile sorgsam zur Schau gestellt werden, ist der Illustrator in der Lage, den Schrecken eindeutiger in Szene zu setzen.36 In der Illustration wird der von einem lodernden Feuer angeheizte Grill von der anthropophagen Gemeinde umringt, die Männer, Frauen und Kinder einschließt. Sie sind im gierigen Verzehr einzelner Körperteile dargestellt, wodurch die Grausamkeit der Szenerie gesteigert wird. Anhand der Illustrationen de Brys lässt sich aufzeigen, dass sich die Darstellungen der Anthropophagie in der Reiseliteratur des 16. Jahrhunderts zu einem wichti33

Jean de Léry beschrieb bereits in seiner 1578 erschienenen Histoire d’un voyage fait en la terre du Brésil, wie er unter den Indigenen gelebt und Zeuge der kannibalischen Handlungen geworden sein will. Der Text wurde von fünf Holzschnitten illustriert, die sich an Dramatik und Grausamkeit im Vergleich zu den Publikationen Stadens und de Brys jedoch zurückhielten. Vgl. GREVE, Anna: Die Konstruktion Amerikas. Bilderpolitik in den Grands Voyages aus der Werkstatt de Bry, Köln: Böhlau, 2004, S. 150.

34

Michaela Holdenried analysiert, dass in Stadens Illustrationen ein beschreibender Charakter der Szenen im zeitlichen Zusammenhang vorherrscht, während de Bry die Figuren in seinen Kupferstichen inszeniert und sie wie auf einer Bühne agieren lässt, wodurch die zeitliche Verortung aufgehoben wird. Vgl. HOLDENRIED, Michaela: Einverleibte Fremde. Kannibalismus in Wort, Tat und Bild, in: Kerstin Gernig (Hrsg.): Fremde Körper: Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin: Dahlem University Press, 2001, S. 116-145, hier: S. 132ff.

35 36

LUCHESI, 1982, S. 73. Vgl. ZIKA, Charles: Kannibalismus und Hexerei: die Rolle der Bilder im frühneuzeitlichen Europa, in: Hedwig Röckelein (Hrsg.): Kannibalismus und europäische Kultur, Tübingen: Ed. Diskord, 1996, S. 75-114, hier: S. 89ff.

32 | Strategien der Einverleibung

gen Teil an der europäischen Tradition der Hexendarstellungen orientieren, die vom 15. bis 17. Jahrhundert ausgearbeitet wurde. Die Anthropophagie ist darin vornehmlich weiblich konnotiert und wird mit Lüsternheit verbunden, womit an die Angst der Betrachter/innen vor sexueller Unordnung appelliert wird. 37 Die in der Hexenikonographie üblichen Darstellungsformen waren Frauen, die Menschenteile, vornehmlich Kinder als Inbegriff der Unschuld, während ihres Sabbats verzehrten oder Leichenteile für die Zubereitung ihrer Zaubermittel nutzten.38 Sowohl in Stadens Holzschnitten als auch in de Brys Kupferstichen kommt den indigenen Frauen, die sich am anthropophagen Festmahl beteiligen, eine betont aktive Position zu, indem sie meist die Ausführenden der einzelnen anthropophagen Handlungen sind.39 Anna Greve hat die Bezüge der de Bryschen Kupferstiche zur zeitgenössischen Hexenikonographie herausgestellt. So zeigt der fünfte Kupferstich des Staden-Textes (Abb. 8b) am rechten Bildrand zwei Frauen, die menschliche Eingeweide und einen Kopf in einen befeuerten Kessel geben, was an die Zaubertrankzubereitung von Hexen erinnert. Ein weiterer Bezugspunkt zur Hexenikonographie liegt in der Anwesenheit von Kindern und deren aktiver Teilnahme am anthropophagen Ritual. Kinder werden neben der traditionellen Darstellung als Opfer der Hexen ab dem Beginn des 16. Jahrhunderts auch als Mittäter gezeigt. Im Kupferstich de Brys feuert ein Kind den Heizkessel an, während ein zweites am linken Bildrand einen abgetrennten Kopf herbeiträgt. Die auf diese Szene folgende Illustration (Abb. 8c) zeigt eine im Kreis sitzende Gruppe von Frauen, Jungen und Mädchen, die von Tellern essen, auf denen sich menschliche Überreste befinden, womit die Darstellung an einen Hexensabbat erinnert.40 Die indigenen Kannibalinnen sind zudem sexualisiert dargestellt. So führt die Frau am linken Bildrand des erwähnten Kupferstiches eine lüsterne Geste aus, indem sie sich mit der rechten Hand in den Schritt greift und gleichzeitig an ihrem linken Finger leckt, wodurch ihre Sittenlosigkeit zusätzlich gesteigert wird. 41 Ein Ausdruck sexueller Perversion findet sich in der Darstellung einer weiteren Szene, in der eine Frau einem Opfer einen Stab in den Anus rammt (Abb. 8d). Vergleichbare Erotisierungen der Frau finden sich in den Hexendarstellungen von Hans Baldung Grien aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Diese thematisieren einen voyeuristischen Blick und stellen die Nacktheit der Abgebildeten in den Vordergrund, wofür eine Zeichnung des Künstlers aus dem Jahr 1515 exemplarisch steht 37

Vgl. ebd., S. 75, 100.

38

Vgl. GREVE, 2004, S. 165.

39

Für diese These spricht auch, dass sowohl das Anfangsbild wie auch das Schlussbild der Sequenz, die der Abfolge des anthropophagen Rituals gewidmet ist, ausschließlich Frauen zeigen. Vgl. HOLDENRIED, 2001, S. 131.

40

Vgl. GREVE, 2004, S. 165f.

41

Vgl. ebd., S. 166f.

Die Anthropophagie-Metapher | 33

(Abb. 9).42 Auch de Bry stellt die kannibalischen Indigenen zum Teil als erotische Frauen dar, die dem damaligen europäischen Schönheitsideal entsprechen. Abbildung 8a-d: Theodor de Bry, Americae, 1592

In seinen Kupferstichen ist jedoch auch das Motiv der Frau mit den hängenden Brüsten präsent, das sich bereits im Mittelalter findet und allgemein auf Unheil bringende Frauen und deren Bruch mit moralischen Normen übertragen wird. Ein Bildbeispiel hierfür stellt Dürers Avaritia dar, die mit Sünde und Laster verbunden wird (Abb. 10).43 Beide Frauentypen sind auf dem eingangs besprochenen Kupfer-

42

In der Zeichnung ist eine Hexe dargestellt, die von kleinen puttenähnlichen Kindern umgeben ist. Ein Drache stößt seine Zunge zwischen ihre Beine.

43

Das Motiv der Frau mit den hängenden Brüsten findet sich ebenfalls in der Hexenikonographie sowie in Darstellungen der wilden Frau. Vgl. BUCHER, Bernadette: Die

34 | Strategien der Einverleibung

stich de Brys vereint (Abb. 8a), wo am linken Bildrand im Vordergrund eine junge schöne Frau abgebildet ist, hinter der zwei weitere Frauen dargestellt sind, deren Alter durch schlaffe Brüste und strähnige Haare hervorgehoben wird. 44 In den einzelnen Szenen befindet sich der beobachtende Europäer meist mit im Bild und wird durch einen Bart erkennbar. Sein Schrecken und seine Entrüstung vor den Grausamkeiten, bei denen er zugegen sein muss, werden durch Gesten der Abwehr oder des Betens deutlich gemacht.45 Abbildung 9: Hans Baldung Grien: Hexe und Drache, 1515 Abbildung 10: Albrecht Dürer: Avaratia, 1507

Die sich in Text und Bild manifestierende Analogie zwischen den auf die brasilianischen indigenen Völker bezogenen Darstellungen der Anthropophagie und traditionellen Vorstellungen über Hexen, Wildleute oder biblische Höllenszenarien macht deutlich, dass sich die Berichterstatter und Illustratoren bei ihrer Beschreibung der

Phantasien der Eroberer. Zur graphischen Repräsentation des Kannibalismus in de Brys America, in: Karl-Heinz Kohl (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas, Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin, Berlin: Frölich und Kaufmann, 1982, S. 75-91, hier: S. 75; sowie HOLDENRIED, 2001, S. 138. 44

Beide Frauentypen müssen nach Bernadette Bucher jedoch als dämonisch und sündig aufgefasst werden, da de Bry keinen Unterschied zwischen den Grausamkeiten, die sie begehen, macht. Die Autorin führt aus, dass sowohl die schöne als auch die alte Frau mit den hängenden Brüsten als böse und verrucht ausgewiesen werden, sich einzig als „zwei Typen von Esslust“ unterscheiden, da die jüngeren Frauen in den Darstellungen in der Regel gebratenes, festes Fleisch vorziehen, die älteren sich eher vom „tropfenden Saft“ des Fleisches ernähren. BUCHER, 1982, S. 79.

45

Vgl. GREVE, 2004, S. 170.

Die Anthropophagie-Metapher | 35

‚Neuen Welt‘ auf in Europa bereits bekannte Topoi beziehen und auf tradierte Mechanismen in der Darstellung von Wildheit, Laster und Schrecken zurückgreifen. Die Reiseberichte und die sie begleitenden Illustrationen waren darauf ausgerichtet, ein möglichst grausames, abstoßendes Bild der indigenen Völker und deren Sitten zu zeichnen, mit dem der Sensationslust des Käuferpublikums Rechnung getragen werden sollte. Die Marktpräsenz der auf den Berichten Vespuccis und Martyrs basierenden Publikationen blieb in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bestehen. In der Folge fand die Vorstellung über die brasilianische Anthropophagie durch die Berichte Stadens und de Brys ihre charakteristische Prägung. Daneben wurden Reiseberichte in großer Zahl publiziert, die schließlich in ihrer Gesamtheit dazu beitrugen, dass die Figur des Kannibalen zum Ende des 16. Jahrhunderts zum Symbol nicht nur für Brasilien, sondern für den lateinamerikanischen Kontinent schlechthin werden konnte.46

BRASILIEN ALS ‚KONTINENT DER KANNIBALEN‘ IM SUJET DER ERDTEILALLEGORIEN Lateinamerika wurde in der bildlichen Umsetzung noch in einem weiteren Sujet, dem der Erdteilallegorien, sehr deutlich als ‚Kontinent der Kannibalen‘ gekennzeichnet. Zum Ausgang des 16. Jahrhunderts stellt die brasilianische Indigene die Personifikation Amerikas dar, wobei die Anthropophagie als deren Hauptcharakteristikum dient. Seinen Ursprung hat das Motiv in der Antike, wo erstmals mit Attributen versehene weibliche Figuren jeweils einen Erdteil symbolisieren. Das Sujet diente von Beginn an der Repräsentation von Macht und wurde in seiner neuzeitlichen Wiederbelebung wirkungsvoll dafür eingesetzt, die Idee der europäischen Weltherrschaft zu visualisieren.47 Die Kontinentalallegorie, die auf Landkarten, Titelblättern und Frontispizen erscheint, zeugt in besonderem Maße von den stereotypen Vorstellungen in Bezug auf die Repräsentation der kolonisierten Menschen, da anhand einer einzigen Figur die Bevölkerung eines ganzen Kontinents charakte-

46

Vgl. MENNINGER, 1995, S. 157. Auch von Jesuitenmissionaren verfasste Briefe lieferten neue Informationen über die Bräuche und Sitten der Brasilianer/innen, worin häufig ein Hauptaugenmerk auf die Anthropophagie gelegt wurde. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Schriften des Padre Manuel da Nóbrega zu nennen, wie seine Cartas do Brasil [Briefe aus Brasilien] aus den Jahren 1549–1570.

47

Vgl. POESCHEL, Sabine: Europa – Herrscherin der Welt? Die Erdteilallegorie im 17. Jahrhundert, in: Klaus Bußmann/Elke Anna Werner (Hrsg.): Europa im 17. Jahrhundert: ein politischer Mythos und seine Bilder, Wiesbaden/Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2004, S. 269-287, hier: S. 270ff.

36 | Strategien der Einverleibung

risiert wird. Die visuelle Verschmelzung von Land und Frau lässt sich zudem als Ausdruck männlicher Eroberungsphantasien lesen, indem die Jungfräulichkeit des ‚neu entdeckten‘ Kontinents bildlich herausgestellt wird, während zugleich ihre Wehrhaftigkeit die europäische Manneskraft herausfordert. 48 Abbildung 11: Abraham Ortelius: Ohne Titel, ca. 1570 Abbildung 12: Theodor Galle: America, um 1585

Die erste eigentliche Amerika-Allegorie stammt von Abraham Ortelius aus dem Jahr 1570 (Abb. 11). Sie schmückte die Titelseite des Atlanten Theatrum Orbis Terrarum, der in Antwerpen erschien, und enthält bereits die gängigen Charakterisierungsmuster Amerikas als Kannibalin: Der vierte Kontinent wird als jungfräulich nackte, nur mit einer Federkrone geschmückte und mit Pfeil und Bogen bewaffnete Indigene dargestellt, die in ihrer linken Hand einen abgeschlagenen Menschenkopf emporhält. Auch die Hierarchie der Erdteile wird auf dem Kupferstich deutlich herausgestellt, der eine Renaissancearchitektur zeigt, auf der zuoberst Europa mit dem Kreuz als Signum thront und als Zeichen der Macht mit Zepter und Krone ausgestattet ist. Vor den Säulen der Architektur sind stehend zur linken Asien und zur rechten Afrika personifiziert. Amerika befindet sich am Boden in einer liegenden Position, wodurch ihre unterlegene Stellung deutlich gemacht wird.49 Ein späteres Beispiel ist die um 1585 entstandene Amerika-Allegorie des flämischen Künstlers Theodor Galle, welcher den Aspekt der Anthropophagie noch 48

Vgl. KÜCHLER WILLIAMS, Christiane: Erotische Paradiese. Zur europäischen Südseerezeption im 18. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein, 2004, S. 101f.

49

Vgl. WENDT, 1989, S. 164f.

Die Anthropophagie-Metapher | 37

stärker in den Vordergrund rückt (Abb. 12).50 Die unbekleidete Indigene, mit langen lockigen Haaren und Federkrone, trägt nicht nur in ihrer rechten Hand einen Menschenkopf, sondern schreitet auch über einen am Boden liegenden abgetrennten Arm hinweg. Als Zeichen ihrer Kriegslüsternheit ist sie zudem mit einem Bogen, einem mit Pfeilen gefüllten Köcher und einer zu einer Lanze erweiterten Keule bewaffnet. Als weiteres Attribut ist ihr ein Papagei am linken Bildrand zur Seite gestellt.51 Abbildung 13: Crispijn van de Passe I.: America, um 1600

Eine weit verbreitete Darstellung war zum Ende des 16. Jahrhunderts auch die Erdteilallegorie, die auf einem Symboltier reitet, wie sie beispielsweise in einem Kupferstich zu finden ist, der vom flämischen Künstler Crispijn van de Passe I. um 1600 angefertigt wurde (Abb. 13). Amerika ist auf einem Gürteltier sitzend in einer Landschaft dargestellt und mit den üblichen Attributen wie Nacktheit, offenes Haar, Federkrone, Köcher, Bogen und Lanze ausgestattet, während sich das Motiv des abgeschlagenen Kopfes zu ihren Füßen liegend findet und auf die Anthropophagie verweist. Die mit dem Motiv des Kannibalismus verbundenen stereotypen Zuschreibungen von Barbarei und Kriegslüsternheit bestimmen die Amerika-Allegorie bis ins 17. Jahrhundert hinein und sind auch im 18. Jahrhundert noch anzutreffen. 52

50

Der Kupferstich erschien in der zwischen 1579 und 1600 erschienenen Prosopographia, die in Form eines Musterbuches ein Verzeichnis von Personifikationen darstellte. Herausgeber der Publikation war Theodor Galles Vater, Philipp Galle.

51

Vgl. ebd., S. 170ff.

52

Vgl. MENNINGER, 1995, S. 162.

38 | Strategien der Einverleibung

DAS STEREOTYP DES EDLEN WILDEN Gleichzeitig zum Bild des grausamen Anthropophagen entsteht in der AmerikaRezeption auch die idealisierte Figur des Bon Sauvage, welche auf die gleichen Ethnien übertragen wird. Bereits bei Kolumbus finden sich erste Ansätze zur Ausbildung des Mythos vom edlen Wilden, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von den späteren Berichterstattern weiter ausformuliert wird. In Kolumbus’ Schiffstagebuch dominiert eine idealisierende Darstellung der Bewohner/innen der Antillen, die als einfaches, friedfertiges und unschuldiges Volk beschrieben werden, das ohne Reichtums- oder Standesunterschiede in Harmonie und Zufriedenheit lebt. Zudem hebt Kolumbus wiederholt den wohlgeformten Körperwuchs der Menschen hervor.53 Kolumbus’ Praxis, die Bewohner/innen der ‚Neuen Welt‘ in die Kategorien von Friedfertigkeit und Bösartigkeit zu unterteilen, wird in späteren Berichten fortgeführt. Beispielsweise findet sich eine Beschreibung der Indigenen als edle Wilde auch in Martyrs Reisebericht: „Die Spanier erfuhren auch, bei jenen Menschen gelte der Boden als gemeinsamer Besitz aller wie die Sonne und das Wasser, und ein Streit um Mein und Dein, die Wurzel allen Übels, komme bei ihnen nicht vor. Die Bewohner geben sich nämlich mit so wenigem zufrieden, dass in diesen weiten Räumen eher Land unbenutzt bleibt, als dass daran Mangel herrscht. Diese Menschen haben noch das Goldene Zeitalter; weder durch Gräben, Mauern oder Zäune trennen sie die Felder ab; sie leben in Gärten ohne Grenzen. Ohne Gesetze, ohne Bücher, ohne Richter tun sie ganz natürlich das Rechte.“54

Der edle Wilde stellt als ebenfalls konstruierte und stereotypisierte Figur das Gegenbild zum barbarischen Kannibalen dar. Beide Denkmodelle entspringen einem ethnozentrischen Kulturbewusstsein, wodurch sich das Bild des Wilden als eine ambivalente Kippfigur erweist.55 Die Konstruktion des edlen Wilden erfolgt wie bei der Figur des Anthropophagen durch einen Rekurs auf das Bekannte, denn sie hat ihren Ursprung bereits in antiken Mythen, die den anfänglichen Glückszustand der Menschheit thematisieren, wie beispielsweise die antike Sage vom Goldenen Zeital-

53 54

Vgl. KOLUMBUS, 1980 (1826), S. 23f., 90, 101f. MARTYR VON ANGHIERA, Petrus: Acht Dekaden über die Neue Welt, Bd. 1, Dekade I-IV, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972, S. 61.

55

Vgl. HASLINGER, Peter/KAUFMANN, Stefan: Der Edle Wilde – Wendungen eines Topos, in: Monika Fludnerik/Peter Haslinger/Stefan Kaufmann (Hrsg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg: Ergon, 2002, S. 13-30, hier: S. 14ff.

Die Anthropophagie-Metapher | 39

ter oder die paradiesischen Inseln der christlichen Überlieferung. Darin wurde im Gegensatz zum Fortschrittsgedanken die Urphase der Menschheitsgeschichte als ursprünglicher Idealzustand betrachtet, in der die Menschen in Frieden und Sorglosigkeit lebten.56 Sowohl Vespucci als auch Kolumbus beschreiben Amerika, auch aufgrund der auf sie idyllisch und üppig wirkenden tropischen Natur, als irdisches Paradies. Die idealisierenden Darstellungen des ‚Eingeborenenlebens‘ in den Berichten über die ‚Neue Welt‘ dienten Europa als positives Gegenbild zur eigenen Kultur, die den ursprünglich guten Naturzustand verdorben hatte.57 So nimmt Jean de Léry in seinem 1578 erschienenen Reisebericht Histoire d’un voyage fait en la terre du Brésil eine Aufwertung der Indigenen vor, die einer Kritik an Europa und insbesondere dem Katholizismus dient. In einer komparatistischen Gegenüberstellung der indigenen Sitten mit den katholischen Riten, den Religionskriegen oder dem Aufkommen des Merkantilismus lässt er die Lebenswelt der indigenen Völker als Idylle erscheinen.58 Die Illustrationen zu seinem Reisebericht zeigen eine frühe bildliche Darstellung der Figur des edlen Wilden, indem die Indigenen in antikisierenden Posen und Physiognomie dargestellt werden. Ein Kupferstich (Abb. 14) zeigt einen Mann des Volkes der Tupinambá mit athletischem Körperbau, der eine Keule hält und im klassischen Kontrapost dargestellt ist, was Assoziationen mit dem Speerträger des Polyklet hervorruft. Am rechten Bildrand ist ein abgeschlagener Menschenkopf zu sehen, der zunächst im irritierenden Kontrast zur Idealisierung der Indigenen zu stehen scheint, jedoch mit dem begleitenden Text korrespondiert, in dem de Léry den Kannibalismus in Brasilien in Relation zu den europäischen Missständen in seiner Verwerflichkeit abstuft.59 Dieses Vorgehen darf jedoch nach Lévy-Strauss nicht im Sinne eines Kulturrelativismus verstanden werden, da der Vergleich ausschließlich der Kritik an der eigenen Gesellschaft dient und eine Hinterfragung der Abhängigkeit des Urteils vom eigenen Standpunkt nicht stattfindet.60 Eine kulturkritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kannibalismus findet sich erstmals in Michel de Montaignes Essay Des cannibales von 1580, in dem der Philosoph eine Verschmelzung der Figuren des Kannibalen und des edlen Wilden vollzieht. De Montaigne vergleicht darin die Anthropophagie der indigenen 56

Vgl. KOHL, Karl-Heinz: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Berlin: Medusa, 1981, S. 12f.

57 58

Vgl. ebd. Vgl. LÉVY-STRAUSS, Claude: Eine Idylle bei den Indianern. Über Jean de Léry, in: Karl-Heinz Kohl (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas, Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin, Berlin: Frölich und Kaufmann, 1982, S. 68-70, hier: S. 69.

59

Vgl. MENNINGER, 1995, S. 231ff.

60

Vgl. LÉVY-STRAUSS, 1982, S. 69.

40 | Strategien der Einverleibung

Völker Brasiliens mit den im französischen Konfessionskrieg begangenen Verbrechen, welche er als grausamer beurteilt, womit er den Vorwurf der Barbarei auf die europäische Zivilisation zurückwirft: „Was mich ärgert, ist keineswegs, dass wir mit Fingern auf die barbarische Grausamkeit solcher anthropophagen Handlungen zeigen, sehr wohl aber, dass wir bei einem derartigen Scharfblick für die Fehler der Menschenfresser unseren eigenen gegenüber so blind sind. […] Wir können die Menschenfresser […] nach Maßgabe der Vernunftregeln durchaus Barbaren nennen, nicht aber nach Maßgabe unsres eigenen Verhaltens, da wir sie in jeder Art von Barbarei übertreffen. Unter ihnen ist jedenfalls nie einer auf den abartigen Gedanken verfallen, Verrat, Treulosigkeit, Tyrannei und sinnlose Grausamkeit zu rechtfertigen – Laster, die bei uns doch gang und gäbe sind.“61

Abbildung 14: Anonym: Zwei Krieger mit Pfeil und Tötungskeule, ca. 1972

Die Figuren des barbarischen Kannibalen und des edlen Wilden widersprechen sich bei de Montaigne nicht, sondern werden miteinander verbunden. So werden die anthropophagen Indigenen aufgewertet und idealisiert, indem deren Wildheit und Naturverbundenheit dem Zivilisierten und Künstlichen als überlegen dargestellt wird. In seinem Essay unternimmt de Montaigne den Versuch, den Kannibalismus aus der Perspektive der Fremdkultur heraus rational zu begründen und ihm seinen Schrecken zu nehmen.62 Durch den Vergleich, wie Gefangene jeweils von den Tupinambá und von den Europäern behandelt werden, stellt de Montaigne heraus,

61

De MONTAIGNE, Michel: Über die Menschenfresser (1580), in: Hans Stilett (Hrsg.): Essais – Michel de Montaigne, erste moderne Gesamtübersetzung, Frankfurt am Main: Eichborn, 1998, S. 109-115, hier: S. 113.

62

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 62, 68f.

Die Anthropophagie-Metapher | 41

dass in der Ritualanthropophagie der Indigenen mit dem Opfer würdevoll umgegangen wird und die eigentlichen anthropophagen Schritte wie Verstümmelung, Zubereitung und Verzehr am toten Opfer vollzogen werden, das demnach keinen Schmerz erleiden muss. Die Praxis Europas jedoch sei die der Folter, der Qual bei lebendigem Leibe. Auch stünden die Kriege der indigenen Völker nicht unter dem Zweck der territorialen Inbesitznahme, sondern darin, ihre Tugend, ihren Mut und ihre Tapferkeit unter Beweis zu stellen.63 De Montaignes Essay thematisiert erstmals den Blick Europas auf fremde Völker und unterzieht diesen einer kritischen Überprüfung, um ihn schließlich als Produkt von negativem Vorurteil und Ethnozentrismus zu entlarven.64 So erkennt er die Praxis Europas, fremde Völker vorschnell und unbedacht als minderwertig zu charakterisieren, und macht darauf aufmerksam, dass sich diesem Vorgehen bereits die Griechen bedienten, welche alle ihnen fremden Kulturen als Barbaren bezeichneten.65 Trotz dieser bemerkenswerten Infragestellung der eigenen kulturellen Position verbleibt de Montaigne bei seinen Ausführungen in einem ethnozentrischen Dualismus.66 Unter Bezug auf die Sage vom Goldenen Zeitalter idealisiert de Montaigne die indigenen Völker als edle Wilde mit gängigen Beschreibungen wie „reiner Unschuld“ und „ursprünglicher Einfachheit“67 sowie in enger Naturverbundenheit, ohne Besitz- oder Standesunterschiede lebend.68 De Montaignes Ausführungen wurden prägend für die spätere Reiseliteratur bis hin zur Philosophie Rousseaus, in der der Mythos vom edlen Wilden eine prägnante Formulierung findet.69 Für die Verbreitung der Vorstellung von der ‚Neuen Welt‘ als irdischem Paradies trugen die Schriften der großen Utopisten der Renaissance, Thomas Morus und Tommaso Campanella, erheblich bei, die eine lange Tradition

63

Vgl. de MONTAIGNE, 1998 (1580), S. 112f.

64

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 70, 75.

65

Vgl. de MONTAIGNE, 1998 (1580), S. 109.

66

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 69.

67

De MONTAIGNE, 1998 (1580), S. 111.

68

Vgl. ebd.; sowie JURT, Joseph: Die Kannibalen. Erste europäische Bilder der Indianer – Von Kolumbus bis Montaigne, in: Monika Fludnerik/Peter Haslinger/Stefan Kaufmann (Hrsg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg: Ergon, 2002, S. 45-63, hier: S. 60f.

69

In seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes aus dem Jahr 1755 stellt Rousseau den edlen Wilden als Sinnbild für einen ursprünglichen Naturzustand dar. Dies ist Ausdruck einer Nostalgie und dient der Kritik an der eigenen Gesellschaft, in der eine allgemeine Unfreiheit konstatiert wird. Vgl. HASLINGER/KAUFMANN, 2002, S. 14, 22, 25.

42 | Strategien der Einverleibung

fiktiver Reiseliteratur einleiteten.70 Im 18. Jahrhundert, in dem die Tendenz zum Eskapismus besonders ausgebildet war, gewann die Figur des edlen Wilden in Form von Robinsonaden und utopistischen Erzählungen und Reisebeschreibungen schließlich ihre charakteristische Ausprägung. Die Hinwendung zum Stereotyp des guten Wilden entspringt hier einer Realitätsflucht und Zivilisationskritik, welche aus einer Unzufriedenheit innerhalb der eigenen Kultur resultiert. Somit stellt der edle Wilde eine Projektionsfigur dar, die ebenso wenig wie der Kannibale einer Wissensbereicherung über fremde Kulturen diente.71

70

Diese Gesellschaftsutopien wurden von Morus in seinem 1516 erschienenen Roman Utopia ausgebaut und von Campanella 1602 in seiner Arbeit La città del Sole [Der Sonnenstaat] beschrieben. In Anlehnung an die zeitgenössische Reiseliteratur konzipierten beide Autoren auf Inseln angesiedelte ideale Staaten, auf denen ein gesellschaftliches Leben von allgemeinem Glück und Sorglosigkeit erdacht wurde. Hier war es die Erfahrung der eigenen gesellschaftlichen Umbrüche in Europa, die das Bild vom edlen Wilden mitbestimmte. In Anbetracht des von den Autoren kritisierten Übergangs von der feudalen zur kapitalistischen Produktionsweise und die daraus resultierende Verarmung der ländlichen Bevölkerung wurde die Aufhebung des Privateigentums als Voraussetzung für ein gerechtes Gesellschaftsmodell gesehen. Vgl. KOHL, 1981, S. 16f.

71 Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 64.

Das Movimento Antropófago im brasilianischen Modernismus

Das Movimento Antropófago, welches sich im brasilianischen Modernismus der 1920er Jahre ereignete, entstand in einer Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte Brasilien einen wirtschaftlichen Aufschwung, welcher in erster Linie von der Kaffeeproduktion und der einsetzenden Industrialisierung in São Paulo getragen wurde. Der Modernisierungsprozess verband sich mit einer rasanten technischen Entwicklung, der Elektrifizierung und Motorisierung, dem Ausbau des Verkehrsnetzes sowie einer Urbanisierung. Das Bevölkerungswachstum stieg rasant an, was zu einem großen Teil auch durch die hohe Zahl der Einwanderer bedingt wurde. Die Republik, die im Jahr 1889 ausgerufen worden war, hatte sich schließlich außenpolitisch etablieren können, war jedoch durch eine schnelle Aufeinanderfolge von Krisen geprägt. 1 Im Gegensatz zu den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Landes hatte eine Erneuerung auf kultureller Ebene nur in wenigen Ausnahmen stattgefunden. Die Kunstinstitutionen in Brasilien waren zu Beginn des Jahrhunderts noch stark vom Akademismus geprägt und an Europa orientiert. Obwohl die politische Unabhängigkeit bereits im Jahr 1822 erreicht worden war, 2 konstatierten 1

Vgl. PONTUAL, Roberto: Nation, Welt, Modernität. Brasilianische Kunst im 20. Jahrhundert, in: Guido Magnaguagno (Hrsg.): Brasilien. Entdeckung und Selbstentdeckung, Bern: Benteli Verlag, 1992, S. 320-340, hier: S. 320; sowie BERNECKER, Walther/PIETSCHMANN, Horst/ZOLLER, Rüdiger: Eine kleine Geschichte Brasiliens, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 224f.

2

Nachdem der portugiesische König João VI. Brasilien im Jahr 1821 verlassen hatte, ließ sich sein Sohn im darauffolgenden Jahr zum Kaiser ernennen. Mit der Unabhängigkeitserklärung wurde somit gleichzeitig eine erneute Monarchie gegründet, die die kolonialen Machtverhältnisse aufrechterhielt. Roberto Schwarz beschreibt diese auf die Unabhängigkeit Brasiliens folgende Situation eines fortbestehenden Imperialismus: „Brazil’s gaining of independence did not involve a revolution. Apart from changes in

44 | Strategien der Einverleibung

die Intellektuellen des Landes, dass Brasilien weiterhin einem kulturellen Kolonialismus unterworfen sei. Sie kritisierten den dominanten Einfluss europäischer Kultur auf die brasilianische Gesellschaft und beklagten, dass die brasilianischen Kulturschaffenden zumeist immer noch darum bemüht seien, die europäischen Vorbilder zu imitieren und sich in dem Bewusstsein befänden, dass die eigene Kunst nur die Kopie des Originals sein könne. Oswald de Andrade prangerte diese Situation bereits 1915 in seinem Artikel Em prol de uma pintura nacional [Einer nationalen Malerei zum Besten] an und forderte die Schaffung eines „überlegenen Ausdrucks von Nationalität“3 in der Kunst, welche der Lebensrealität und dem Fortschritt des Landes gerecht würde.4 Das sich in den folgenden Jahren formierende, gattungsübergreifende Movimento Antropófago mit de Andrade als dessen Leitfigur entstand demnach aus dem Bedürfnis heraus, sich von den dominanten geistigen Einflüssen Europas loszulösen und ein neues nationales Selbstbewusstsein zu artikulieren, das den Einfluss fremder, kolonialer Kulturen selbstbestimmt reguliert. Die primäre Stoßrichtung im modernistischen Konzept der Antropofagia zielte auf einen radikalen Bruch mit Europa wie auch mit der eigenen Vergangenheit ab, welcher zu einem Neuanfang führen sollte. Dieser doppelte Bruch wurde durch eine Neu- und Aufwertung des Primitivismus vollzogen, womit sich die Modernist/innen von den bisherigen idealisierenden Darstellungen der Einheimischen, wie sie insbesondere in der romantischen Strömung des Indianismo in Brasilien zu finden waren, genauso distanzierten wie von früheren Imitationen der europäischen Vorbilder. So wurde die indigene Kultur in der brasilianischen Romantik ebenso wie in de Andrades modernistischem Konzept als Ursprung Brasiliens angesehen und zugunsten der Fundierung einer nationalen Identität aufgewertet, jedoch entsprach die Darstellung der Indigenen bei den romantischen Autoren der idealisierten Vorstellung vom edlen Wilden, während sich de Andrade auf die negativ konnotierte Figur des Kannibalen bezog. 5 external relations and a reorganization of the top administration, the socio-economic structure created by colonial exploitation remainded intact, though now for the benefit of local dominant classes.“ SCHWARZ, Roberto: Brazilian Culture: Nationalism by Elimination, in: Ders.: Essays on Brazilian Culture, hrsg. v. John Gledson, London/New York: verso, 1992, S. 1-18, hier: S. 12. 3

De ANDRADE, Oswald: Em prol de uma pintura nacional (1915), in: Ders.: Estética e Política. Obras Completas, Bd. 16, São Paulo: Globo, 1992 (1950), S. 141-143, hier: S. 143: “uma manifestação superior de nacionalidade“. Der Artikel wurde erstmals veröffentlicht in: O Pirralho, São Paulo, 02.01.1915.

4 5

Vgl. ebd. Vgl. RÖSSNER, Michael: Lateinamerikanische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar: Metzler, 1995, S. 228; sowie SCHULZE, 2015, S. 84ff. Die brasilianische Romantik wurde 1836 durch den in Paris publizierten Gedichtband Suspiros Poéticos e Saudades

Das Movimento Antropófago | 45

Im modernistischen Emanzipationsprozess galt es Strategien zu entwickeln, wie Brasilien als peripheres Land trotz einer Loslösung von den westlichen Kulturzentren Modernität verkörpern könne, um zu einem kulturellen Ausdruck zu finden, der gleichzeitig brasilianisch wie modern sei. Die Inhalte des Movimento Antropófago fanden in der Semana de Arte Moderna [Woche der Modernen Kunst], die anlässlich der 100-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Brasiliens im Februar 1922 im Teatro Municipal de São Paulo ausgerichtet wurde, einen ersten öffentlichen Ausdruck. Die Semana, welche den offiziellen Beginn des Modernismus in Brasilien einläutete, umfasste verschiedene Veranstaltungen, wie Lesungen, Konzerte und Ausstellungen bildender Künstler/innen und Architekt/innen, mit denen eine grundlegende Neuerung in der Kunstproduktion Brasiliens demonstriert werden sollte. Der Bruch mit an Europa orientierten Kunstvorstellungen wurde durch die beteiligten Künstler/innen einerseits durch ein Aufgreifen der europäischen Avantgarde und andererseits durch eine Aufwertung des nationalen Kulturerbes vollzogen. 6 [Poetische Seufzer und Sehnsüchte] von Gonçalves de Magalhães eingeleitet. Zu den maßgeblichen Autoren des Indianismo zählen außerdem José de Alencar und Gonçalves Dias. Insbesondere de Alencars Romane, die als nationale Gründungsepen stilisiert wurden, schreiben die europäisch geprägten, stereotypen Darstellungsmuster der Indigenen fort. In seinem 1857 erschienenen Roman O Guaraní [Der Guaraní] romantisiert de Alencar die gewaltsame Begegnung von Kolonialherren und Kolonisierten, indem sie in Form einer Liebesgeschichte erzählt wird, in der sich der sanftmütige Indigene Peri der Portugiesin Cecília als Leibeigener unterwirft. In dem acht Jahre darauffolgenden Roman Iracema, lenda do Ceará [Iracema, Legende von Ceará] erzählt der Autor eine analoge Romanze, die sich zwischen der jungfräulichen Indigenen Iracema und dem Portugiesen Martim Soares Moreno abspielt. Die indigenen Hauptfiguren in de Alencars Romanen sind als assimilierungswillige edle Wilde charakterisiert, während die Kolonisatoren als heldenhafte Edelmänner und -frauen dargestellt werden. Peter W. Schulze analysiert daher treffend: „Die Verschmelzung von indianischen und portugiesischen Figuren als Ursprung des brasilianischen Volkes manifestiert sich bei Alencar als idealisierte eurozentrische Unterwerfung des Anderen, die einer vollständigen Assimilierung gleichkommt.“ SCHULZE, 2015, S. 86. 6

Die Initiatoren der Semana waren die Künstler und Intellektuellen Emiliano Di Cavalcanti, Yan de Almeida Prado, Paulo Prado, Rubens Borba de Morais und Ronald de Carvalho. Beteiligte Maler/innen an der Semana waren u.a. Anita Malfatti, Emiliano Di Calvacanti, Zina Aita, Amrtins Ribeiro, John Graz, Vicente do Rego Monteiro und J. F. de Almeida Prado. Zudem stellten die Bildhauer Victor Brecheret und William Haarberg aus. Als Architekten waren Antonio Moya und Georg Przirembel an der Ausstellung beteiligt, als Musiker sind insbesondere Heitor Villa-Lobos und Guiomar Novaes zu nennen. Es fanden Lesungen der Schriftsteller Mário und Iswald de Andrade, Ronald de Carvalho, Menotti Del Picchia, Renato Almeida, Luiz Aranha, Ribeiro Couto, Age-

46 | Strategien der Einverleibung

Die Semana gab Tendenzen vor, die in den darauffolgenden Jahren in Zeitschriften, Manifesten und Romanen präzisiert und programmatisch ausgearbeitet wurden. Die modernistischen Standpunkte der Antropofagia wurden in erster Linie in der Revista de Antropofagia [Anthropophage Zeitschrift] formuliert, die zwischen Mai 1928 und August 1929 in zwei Editionen in São Paulo erschien. 7 Die Zeitschrift führte nach dem Prinzip der Collage verschiedene Textformen zusammen, indem sie Interviews, Gedichte, Essays oder Fragmente aus modernistischen Romanen beinhaltete. Die theoretische Grundlage der Antropofagia lieferte das von Oswald de Andrade verfasste Manifesto Antropófago, welches 1928 in der ersten Ausgabe der Revista publiziert wurde. Darin entwickelte de Andrade eine kulturelle Strategie, die es ermöglichen sollte, das Land aus seiner peripheren Position herauszulösen. Hierbei bezog er sich metaphorisch auf den Kannibalismus: So wie es der als Mythos überlieferte Brauch der Tupinambá war, seine Feinde zu verschlingen, um sich ihre Kraft anzueignen, forderte de Andrade in einem radikalen wie ironischen Umgang mit dem europäischen Erbe dazu auf, sich in anthropophager Weise die für die eigene Kultur bereichernden Teile der fremden Kultur geistig einzuverleiben, sie zu transformieren und den überflüssigen Rest auszuscheiden. In dem äußerst machtvollen Bild des Verschlingens einer sonst so übermächtigen Kultur formuliert sich die Revolte der Kolonisierten gegen die Kolonisatoren. De Andrades Konzept der kulturellen Anthropophagie beinhaltet, wie Benedito Nunes ausführt, sowohl eine Metapher wie es auch eine Diagnose stellt und gleichzeitig eine Therapie eröffnet: „[…] eine organische Metapher, inspiriert von der kriegerischen Opferung des tapferen, im Kampf gefangengenommenen Feindes bei den Tupi, des Feindes, der all das repräsentierte, was wir zurückweisen, assimilieren und überwinden müssten, um unsere intellektuelle Autonomie zu erringen; eine Diagnose der kolonialen Unterdrückung, welche die brasilianische nor Barbosa, Tácito de Almeida und Guilherme de Almeida statt. Die Gruppe der Modernist/innen erweiterte sich im darauffolgenden Jahr um Tarsila do Amaral, die sich zum Zeitpunkt der Semana im Ausland aufhielt. Vgl. AMARAL, Aracy: Arts in the Week of ’22, São Paulo: BM&F - Bolsa de Valores & Futuros, 1992, S. 117ff. 7

Die Revista erschien in zwei thematisch unterschiedlichen Phasen, innerhalb derer mehrere Zeitschriften herausgebracht wurden. Um ihr Programm zu verdeutlichen, wählten die Herausgeber statt des Begriffs edições [Editionen] das Wort dentições [Dentitionen]. Der Begriff meint das Zahnen, das beim Menschen in zwei Phasen abläuft, dem Durchbruch der Milchzähne und dem Durchbruch der bleibenden Zähne. Die erste Phase der Herausgabe mit zehn Ausgaben fällt in die Zeit zwischen Mai 1928 und Februar 1929, die zweite Stufe der Edition mit sechzehn Ausgaben schloss hieran an und dauerte bis August 1929. Vgl. PRADO BELLEI, Sérgio Luiz: Brazilian anthropophagy revisited, in: Francis Barker/Peter Hulme/Margaret Iversen (Hrsg.): Cannibalism and the Colonial World, Cambridge: University Press, 1998, S. 87-109, hier: S. 90.

Das Movimento Antropófago | 47

Gesellschaft traumatisiert und in ihrer Entwicklung bestimmt hat und die ihr Modell in der Unterdrückung der rituellen Anthropophagie durch die Jesuiten fand; schließlich eine Therapie, als gewalttätige und systematische Reaktion gegen die sozialen und politischen Mechanismen, gegen die intellektuellen Gewohnheiten, gegen die literarischen und künstlerischen Erscheinungen, die bis in das erste Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts hinein aus dem Trauma der Unterdrückung, deren paradigmatischer Fall die Katechese darstellte, eine Instanz der Zensur, ein kollektives Über-Ich machte. In diesem Kampf machte sich die Therapie, in verbaler Form, als Satire und als Kritik, eben jenen, die längste Zeit unterdrückten anthropophagen Instinkt zunutze, der nun in einer imaginären Katharsis des nationalen Bewusstseins befreit wurde.“8

Dabei erfährt das Motiv des Menschenfressers durch de Andrade eine erhebliche Wandlung in der Bedeutung: Wurde die Anthropophagie traditionell und insbesondere im Zuge der Kolonisierung Brasiliens dafür genutzt, um eine Differenz zum Anderen zu schaffen, liegt die Betonung im Movimento Antropófago auf dem genauen Gegenteil, nämlich einer Überführung fremder Kultur in die eigene. Die Anthropophagie wird so, wie Peter W. Schulze feststellt, zu einer „positiv gewendeten Konzept-Metapher transformiert, welche die Dichotomien des othering aufhebt und das Wertmaßstäbe setzende kolonialistische Subjekt samt seiner Kulturformen verschlingt.“9 Die von de Andrade begründete Idee der kulturellen Einverleibung stellt eine Strategie der Kulturaneignung und –auffassung dar, die einen positiven, schöpferischen Umgang mit kultureller Differenz ermöglichen soll. Das Verschlingen wird im Movimento Antropófago als kreative Kulturtechnik verstanden, die ähnlich wie das Genre der Collage eine Vorlage zerstört und etwas Neues schafft. Eine Umsetzung des anthropophagen Konzepts, wie sie von de Andrade gefordert wird, soll von den brasilianischen Künstler/innen in einer möglichst respektlosen Aneignung europäischer Kultur vollzogen werden, die mit lokalen Traditionen vermischt wird. Die gesellschaftlich konstruierten Grenzen zwischen dem Eigenen und Fremden werden innerhalb dieses Verständnisses der Anthropophagie-Metapher radikal aufgehoben, wodurch eine absolute Durchdringung und Hybridisierung von Kulturen stattfindet und die Konstrukte von Reinheit und Originalität als Illusion entlarvt 8 9

NUNES, 2016 (1950), S. 81f. SCHULZE, 2015, S. 11. Der von Schulze verwendete Begriff des othering zitiert Gayatri Chakravorty Spivak, die hiermit den Grenzziehungs- und Abwertungsprozess bezeichnet, durch den sich die Kolonialmächte über fremde Kulturen erhoben. Vgl. SPIVAK, Gayatri Chakravorty: The Rani of Simur, in: Francis Barker/Peter Hulme/Margaret Iversen/Diana Loxley (Hrsg.): Europe and its Others, Bd. 1, Prceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature, Colchester: University of Essex, 1985, S. 128-151, hier: S. 128.

48 | Strategien der Einverleibung

werden.10 Dementsprechend strebte de Andrade bei seiner Forderung nach einer Nationalisierung des Kunstschaffens auch nicht die Konzeption einer auf homogenen Ethnien beruhenden nationalen Identität an, sondern orientierte sich vielmehr an der ethnischen und kulturellen Heterogenität Brasiliens. Anthropophagie wird bei de Andrade daher zu einer Metapher des Synkretismus und zu einer Strategie der Vermittlung. Sein Verständnis von Anthropophagie entspricht einer fruchtbaren Appropriation, indem er das Motiv des kannibalischen Aktes als ein Einverleiben der Kräfte des Feindes beschreibt. Dies stellt einen Gegenentwurf zur traditionellen Interpretation der europäischen Chronisten dar, die als Beweggrund Grausamkeit und Rache angaben. De Andrades Motiv impliziert, dass der Feind es wert ist, gefressen zu werden, indem dessen Kräfte und Stärke anerkannt werden. Es findet also keine Feindkonstruktion im Sinne eines Ausschließens statt, wie Lisette Lagnado feststellt: „Der Andere hört auf, Feind zu sein, wo er verinnerlicht wird und so die Identität mitformt.“11 De Andrade verkehrt nicht nur die Figur des Anthropophagen in ihr Gegenteil, sondern auch die traditionellen Interpretationen von Heterogenität. Während unter der postkolonialen heterogenen Gesellschaft Brasiliens geläufig Chaos und Derivation verstanden wurde, wertet de Andrade diese Verschiedenartigkeit als Zeichen von Fülle und Modernität. Entgegen der traditionellen Auffassung von Heterogenität als Identitätsverlust liegt für de Andrade gerade in der Verschiedenartigkeit der brasilianischen Gesellschaft das verbindende Element, das den brasilianischen Nationalcharakter formt.12 Die Antropofagia vertritt einen Nationalismus, der „im dialogischen und dialektischen Verhältnis zum Universellen“13 gedacht wird, womit sich die Bewegung bewusst von der zweiten großen modernistischen Gruppe des Verdamarelo [GrünGelbismus]14 distanzierte, die einen fremdenfeindlichen Nationalismus vertrat. Die Gruppe um den Schriftsteller Plínio Salgado sah ebenfalls in der Kultur der Tupi10

Vgl. aus dem MOORE/RONNA, 2005, S. 15ff.

11

LAGNADO, Lisette: Deutungen Brasiliens, in: Peter Weiermair (Hrsg.): Em Busca da Identidade - Auf der Suche nach Identität. Aktuelle Kunst aus Brasilien, Zürich: Edition Oehrli, 2000, S. 7-13, hier: S. 10.

12

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 82.

13

De CAMPOS, Haroldo: Über kannibalische Vernunft. Europa unter dem Zeichen der Einverleibung, in: Lettre international – Europas Kulturzeitung, Berlin, Nr. 11, 1990, S. 39-45, hier: S. 39. Bei der deutschen Übersetzung handelt es sich um eine gekürzte Fassung des erstmals unter dem Titel Da razão antropofágica: A Europa sob o signo da devoração veröffentlichten Aufsatzes in: Colóquio/Letras, Lissabon, Nr. 62, 1981.

14

Der Name Verdamarelo bezieht sich auf die Farben der brasilianischen Nationalflagge. Vgl. JÁUREGUI, Carlos A.: Canibalia: canibalismo, antropofagia cultural y consumo en América Latina, Madrid: Iberoamericana, 2008, S. 426.

Das Movimento Antropófago | 49

nambá die nationale Identität Brasiliens manifestiert. Auch hatte Salgado bereits vor der Veröffentlichung des Andradschen Manifests für Anthropophagie im programmatischen Sinne plädiert, verstand diese jedoch als rein zerstörerische Kraft, die auf die Vernichtung des Gegners ausgerichtet war. 15 In seiner 1927 an Menotti del Picchia gerichteten carta antropófaga [anthropophager Brief] schlug er vor, „[...] die lächerlichen Figuren des Boulevards zu grillen [...]. Nun, was ich verkünde ist zu Recht Anthropophagie, die Einverleibung von Allem, was uns angesichts unserer barbarischen Natur lächerlich erscheint. Ich habe Hunger nach Franzosen! Wir wollen alle Philosophen braten und einen Brei machen aus all jenen Subjekten, die hierherkommen und uns mit ihrem ‚n’est pas moderne‘ belästigen...“16

Dagegen steht das Antropofagia-Konzept des linksliberalen Oswald de Andrade. Sein Manifest reagiert ein Jahr später als Antwort auf den essentialistischen Impetus von Verdamarelo. Während die Bewegung um Salgado dazu tendierte, die dichotomen Kategorisierungen des Kolonialismus schlicht umzukehren und dadurch fortzuschreiben, ermöglicht de Andrades Antropofagia eine Konstruktion von nationaler kultureller Identität, die sich nicht über die xenophobe Abgrenzung gegenüber dem Fremden definiert.17

15

Die Gruppe trat zum ersten Mal 1926 mit der Veröffentlichung von Salgados Einwandererroman O Estrangeiro [Der Fremde] in Erscheinung. Mitstreiter der Bewegung waren unter anderem Cassiano Ricardo und Menotti del Picchia, mit denen Salgado 1927 den Manifestband O Curupira e o Carão [Der Curupira und das hässliche Gesicht] veröffentlichte, in dem sie eine gewalttätige und dynamische Kunst forderten. 1927 nannte sich die Bewegung in Anta [Tapir] um, was einer stärkeren Politisierung begründet war. Die Gruppe schloss sich zum Ende des Modernismo der rechten Politik Vargas, seinem Estado Novo, an. Vgl. RÖSSNER, 1995, S. 231, 236.

16

SALGADO, Plínio: carta antropófaga, in: Correio Paulistano, São Paulo, 18.02.1927, S. 7: „[…] fazer churrasco das figurinhas ridiculas do boulevard […]. Ora, o que eu prégo é justamente a anthropophagia, a comilança de tudo o que estiver ridiculo deante da nossa barbara natureza. Tenho fome de francezes! Queremos assar todos os philosophos e fazer pirão de todos esses sujeitos que nos vêm cá aborrecer com o seu ,n’est pas moderne‘…“

17

Vgl. RÖSSNER, 1995, S. 231.

50 | Strategien der Einverleibung

DIE MANIFESTE OSWALD DE ANDRADES Bereits vier Jahre vor Publikation des Manifesto Antropófago veröffentlichte de Andrade sein Manifesto Da Poesia Pau Brasil [Manifest der Pau-Brasil-Dichtung], welches bereits zentrale Elemente der Antropofagia enthält, indem es kritisch zwischen europäischer Kultur und der Gewinnung einer nationalen Identität zu vermitteln versucht.18 Die beiden Manifeste bildeten die initialen Momente in der Entstehung des brasilianischen Modernismus. In telegrafischem Stil verfasst und aus einer Aneinanderreihung von Aphorismen bestehend, stellen sie ebenso politische Programmschriften dar wie sie auch einen genuin dichterischen Charakter aufweisen.19 Ein zentrales Anliegen des Modernismo bestand in der Schaffung einer eigenständigen nationalen Poesie, die das von den ehemaligen Kolonialherren auferlegte europäische Portugiesisch modifizieren wollte. Entsprechend findet in den literarischen Werken des Movimento Antropófago die brasilianische Umgangssprache Eingang, die das heterogene Wesen Brasiliens, die Brasilidade [Brasilianität], verkörpern soll.20 So plädiert de Andrade in seinem Manifesto Da Poesia Pau Brasil für eine „Sprache ohne Archaismen, ohne Erudition. Natürlich und neologisch. Millionenfach alle Fehler beitragen. So wie wir sprechen. So wie wir sind.“21 Paulo Prado bezeichnet de Andrades Lyrik im Hinblick auf ihr emanzipatorisches Potenzial als den „ersten organisierten Versuch zur Befreiung des brasilianischen Verses.“22 Neben der Rehabilitierung der Alltagssprache und der Präsenz des indigenen Guaraní finden sich zudem fremdsprachige Textpassagen sowie Neologismen in den Manifesten, womit de Andrade im Sinne seines anthropophagen Programms jegliche Vorstellungen von Reinheit oder Homogenität bereits auf sprachlicher Ebene provoziert.

18

Vgl. JÁUREGUI, 2008, S. 245ff.

19

Vgl. PRECHT, 2016, S. 7ff.; sowie NUNES, 2016 (1950), S. 79.

20

Im Gegensatz zum Portugiesischen, das im „Herrenhaus“ zu verorten sei, manifestiere sich in der brasilianischen Alltagssprache ein „primitiver Geschmack“, wie Raul Bopp, ein zentraler Vertreter des Movimento Antropófago, rückblickend ausgeführt hat. BOPP, Raul: Movimentos Modernistas no Brasil, Rio de Janeiro: Livraria São José, 1966, S. 82: „Casa Grande“, „sabor primtivo“.

21

De ANDRADE, Oswald: Manifesto Da Poesia Pau Brasil (1924), in: Oliver Precht (Hrsg.): Oswald de Andrade. Manifeste. Portugiesisch-Deutsch, Wien/Berlin: Verlag Turia + Kant, 2016, S.12-33, hier: S. 19. Das Manifest wurde erstmals publiziert in: Correio da Manhã, São Paulo, 18. März 1924.

22

PRADO, Paulo: Poesia Pau-Brasil, in: Oswald de Andrade: Obras Completas, Bd. 3, Sao Paulo: Globo, 1990, S. 57-60, hier: S. 58: „o primeiro esforço organizado para a libertação do verso brasileiro“.

Das Movimento Antropófago | 51

Das Manifesto Da Poesia Pau Brasil Das Manifesto Da Poesia Pau Brasil, welches 1924 in der Zeitschrift Correio da Manhã veröffentlicht wurde, setzt erstmals die Tendenzen der Semana um, indem es eine Diskussion um die Beziehung zwischen brasilianischer und europäischer Kultur eröffnet, welche zur zentralen Frage des Modernismo werden sollte. Im Manifest spricht sich de Andrade gegen ein akademisches und aus den europäischen Metropolen importiertes Kulturverständnis aus. Im Zuge dessen wird die brasilianische Alltagskultur gegen die aus Europa importierten Kulturelemente ausgespielt und aufgewertet.23 So stellt der Autor eingangs die provokante Behauptung auf, dass Wagner gegen den Karneval, der in den Armenvierteln Rio de Janeiros entstand, nicht ankommen könne: „Die Dichtung existiert in den Tatsachen. Ärmliche Hütten in Safran und Ocker, zwischen den Grüntönen der Favela unter dem cabralistischen Blau, das sind ästhetische Tatsachen. Der Karneval in Rio ist das religiöse Ereignis der Rasse. Pau Brasil. Wagner geht unter, angesichts der Umzüge in Botafogo. Barbarisch und uns eigen.“24

De Andrade stellt im Manifest die Begriffe Schule und Urwald einander gegenüber. Damit polarisiert er zwischen den aus Europa kommenden, elitären Formen des Wissens, Rationalität und analytisches Denken, die abgewertet werden, und den volkstümlichen Formen des nativen Brasiliens, Intuition und Magie, die aufgewer25 tet werden. Dementsprechend tritt er für die Annahme einer neuen brasilianischen Perspektive ein, innerhalb derer eine Rückbesinnung auf die indigenen Traditionen zentraler Bestandteil ist, und plädiert für die Überwindung der aus Europa kommenden geläufigen Denkschemata: „Eine Reaktion gegen die Kopie. Die visuelle und naturalistische Perspektive durch eine Perspektive anderer Ordnung ersetzen: sentimental, intellektuell, ironisch. Ein neuer Maßstab: Der Andere, der einer proportionierten und katalogisierten Welt, mit Buchstaben in den Büchern, Kindern auf dem Schoß. […] Unser Zeitalter kündigt die Rückkehr zum reinen Sinn

23

Vgl. RÖSSNER, 1995, S. 230f.

24

De ANDRADE, 2016 (1924), S. 13. Mit dem Adjektiv cabralistisch bezieht sich de Andrade auf den portugiesischen Seefahrer Pedro Álvares Cabral, dem die ‚Entdeckung‘ Brasiliens im Jahr 1500 zugeschrieben wurde. Botafogo ist ein Stadtteil Rio de Janeiros. Vgl. PRECHT, 2016, S. 60.

25

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S, 101.

52 | Strategien der Einverleibung

an. […] Die indigene Ursprünglichkeit als Gegengewicht, um die akademische Angepasstheit zunichte zu machen.“26

De Andrade fordert, Importpoesie durch Exportpoesie zu ersetzen, was zur Schaffung einer neuen brasilianischen Poesie führen solle.27 Somit macht er auf die umgekehrte Beeinflussung aufmerksam, nämlich dass Brasilien selbst in der Lage ist, Kultur hervorzubringen, die exportiert werden kann. Hierbei bezieht er sich auf das Brasilholz, welches als erstes Exportgut Brasiliens namensgebend für das Land wurde. De Andrade nimmt damit Bezug auf die Geschichte der Ausbeutung der Ressourcen Brasiliens durch die Kolonisatoren. Das Brasilholz fungiert in de Andrades Manifest, wie Oliver Precht treffend analysiert, als „Chiffre der brasilianischen Nicht-Identität. Die ursprüngliche koloniale Enteignung, der Export, soll durch Oswalds Dichtung in einem universalisierten und herrschaftsfreien Sinn wiederholt werden.“28 Hinter diesem Vorgehen de Andrades steht der Versuch, Brasilien aus seiner peripheren Position herauszulösen und die Autorität des Westens als kulturschaffendes und tonangebendes Zentrum herauszufordern.29 Das Gegensatzpaar von Schule und Urwald verbindet de Andrade im Folgenden zu einer hybriden Einheit, indem er dafür plädiert, die Vorzüge der neuen Technologien in die Schaffung eines emanzipierten nationalen Kulturverständnisses zu integrieren und sie mit vorkolonialen Traditionen zu verknüpfen. Innerhalb dieses Vorgehens wird die Dichotomie zwischen Zivilisation und Barbarei, Primitivismus und Moderne, Zentrum und Peripherie strategisch aufgelöst:30 „Wir besitzen eine doppelte und gegenwärtige Grundlage – den Urwald und die Schule. Die leichtgläubige und widersprüchliche Rasse sowie die Geometrie, die Algebra und die Chemie, gleich nach der Milchflasche und dem Anistee. Eine Mischung aus Schlaf Kindchen, sonst holt dich ein Ungeheuer und Gleichungen. Ein Sehen, das gegen die Zylinder der Mühlen 26

De ANDRADE, 2016 (1924), S. 25-27, 31.

27

Im Manifesto Da Poesia Pau Brasil heißt es: „Ein einziger Kampf – der Kampf um den Weg. Wir unterscheiden: Die Dichtung des Imports. Und die Pau-Brasil-Dichtung des Exports.“ De ANDRADE, 2016 (1924), S. 19.

28

PRECHT, 2016, S. 60.

29

Vgl. BORN, Joachim: Tupi, or not tupi that is the question. Sprachwissenschaft und Anthropophagie im brasilianischen Modernismus, in: Quo Vadis Romania? Zeitschrift für eine aktuelle Romanistik. Die Sprachen der Avantgarde, Wien, Nr. 24, 2000, S. 91102, hier: S. 94.

30

ANDRADE, Ruda: Verschlungene Geschichte, in: Elke aus dem Moore/Giorgio Ronna (Hrsg.): Entre Pindorama. Zeitgenössische Kunst und die Antropofagia, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Stuttgart, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2005, S. 51-64, hier: S. 56.

Das Movimento Antropófago | 53

schlägt, gegen die elektrischen Turbinen, gegen die Produktionsstätten, gegen die Problematik der Wechselkurse, ohne das Nationalmuseum aus dem Blick zu verlieren. Pau Brasil.“31

Dieses Plädoyer für eine Vermischung der Kulturen wird durch einen Bezug auf die Metapher der Anthropophagie vertreten. Schon im Manifesto Da Poesia Pau Brasil plädiert de Andrade für seine später im Manifesto Antropófago weiter ausgearbeitete Strategie der selbstbewussten Einverleibung derjenigen europäischen Kultureinflüsse, die für die eigene Kultur als Bereicherung dienen können: „Die Notwendigkeit der Chemie, der Mechanik, der Ökonomie und der Ballistik. Alles verdaut.“ 32 War das Ziel des Pau Brasil in erster Linie eine ästhetische Erneuerung, die auf den Bereich der Literatur fokussiert war, plädiert das vier Jahre später folgende Manifesto Antropófago für eine Revolution auf kultureller, gesellschaftlicher und politischer Ebene und tritt für eine allgemeine Befreiung des Menschen ein, die in einem anthropophagen Akt metaphorisch vollzogen werden soll. 33 Das im Manifesto Antropófago ausgearbeitete Programm stellt demnach eine Weiterentwicklung und Radikalisierung des vorhergehenden Manifesto Da Poesia Pau Brasil dar. Das Manifesto Antropófago Die von de Andrade an die brasilianischen Künstler/innen gerichtete Forderung nach einer Umsetzung des anthropophagen Konzepts durch eine Aneignung europäischer Kultur, die mit lokalen Traditionen vermischt werden soll, findet im Manifesto Antropófago eine theoretische Grundlage und bereits einen ersten radikalen Ausdruck. So stellt sich das Manifest selbst als anthropophages Werk dar, indem es europäische Vorbilder nutzt, ohne sie einfach nur zu kopieren. Das Manifest beinhaltet eine Vielzahl von historischen und literarischen Bezügen auf wichtige Denker der europäischen Kultur aus verschiedensten Bereichen, wie der Philosophie, Psychologie, Literatur, Politik und Geschichte, die collageartig miteinander verbunden

31

De ANDRADE, 2016 (1924), S. 29.

32

Ebd., S. 33.

33

Entsprechend proklamiert die Kolumne De Antropofagia [Von der Antropofagia], die in der vierten Ausgabe der zweiten Edition der Revista de Antropofagia erschien: „Die anthropophage Bewegung ist weder eine literarische Revolution. Noch eine soziale. Noch eine politische. Noch eine religiöse. Sie ist alles zur gleichen Zeit.“ JAPY-MIRIM (vermutlich ein Pseudonym für Oswald de Andrade): De Antropofagia, in: Revista de Antropofagia, São Paulo, 2. dentição, 2. numero, 24.03.1929, Faksimile der Originalausgabe, São Paulo: Companhia Lithographica Ypiranga, 1976, o. Seitenangabe: „A descida antropofágica não é uma revolução literaria. Nem social. Nem política. Nem religiosa. Ela é tudo isso ao mesmo tempo.“

54 | Strategien der Einverleibung

werden. Diese Sinnbilder der westlichen Kultur werden von de Andrade in einem humoristischen, karnevalesken Stil verarbeitet beziehungsweise verdaut. Dadurch parodiert er die Vorbilder Europas und nimmt ihnen ihren Erhabenheitsstatus. 34 Entsprechend lautet der programmatischste, im Englisch stehende Satz seines Manifests: „Tupi or not Tupi, that is the question.“35 De Andrade formt hier Hamlets Worte um, indem er sie durch den Namen des brasilianischen indigenen Volkes ersetzt, das assoziativ mit dem Ritus der Anthropophagie verbunden wird. Der Satz ist durchaus in diesem Sinne zu verstehen: „Fressen oder gefressen werden – das ist hier die Frage.“36 Der Kannibale steht für de Andrade als Sinnbild für den Zustand Brasiliens vor Ankunft der Europäer und für die kriegerische Vergangenheit des Volkes.37 Durch die Kolonisierung, im Zuge derer die Missionare die Anthropophagie verboten, wurde für de Andrade in erster Linie eine Art primitive Weisheit unterdrückt, 38 die wiedererweckt und in das industrialisierte, moderne Zeitalter adaptiert werden soll. Dieser Prozess beinhaltet eine Legitimation der Anthropophagie, die der Schriftsteller mit den Worten Sigmund Freuds formuliert: „Anthropophagie. Die permanente Transformation des Tabu in Totem. […] Anthropophagie. Absorption des heiligen Feindes. Um ihn in ein Totem zu verwandeln.“39

De Andrade bezieht sich hierbei auf Freuds Ausführungen zum Kannibalismus in seiner 1913 erschienenen Schrift Totem und Tabu. Freud vertritt darin die These, die Zivilisation beruhe auf dem in Urzeiten von einer Brüderhorde begangenen anthropophagen Mordakt am übermächtigen Vater. Nach der Tat wurde das getötete Familienoberhaupt durch Scham und Schuldgefühle von den Brüdern heilig erklärt, indem es zu einem Totem gemacht wurde. Aus diesem Grund darf das Totem, welches meist in Gestalt eines Tieres oder einer Pflanze auftritt, weder 34

Vgl. BELLEI, 1998, S. 91; sowie BOAVENTURA, Maria Eugenia: A Vanguarda

35

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang. Alle folgenden, dem Manifesto Antropófago

Antropofágica, São Paulo: Editora Ática, 1985, S. 22ff. entnommenen Zitate orientieren sich an der Übersetzung von Oliver Precht, wobei einzelne Passagen von der Autorin geringfügig abgeändert wurden, um sprachlich näher am Original zu bleiben. Im Folgenden wird daher auf die Übersetzung im Anhang verwiesen, wo auch der portugiesische Originaltext wiedergegeben ist. 36

WANGERIN, 2007, S. 12.

37

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 80.

38

Im Manifesto Antropófago heißt es: „Was der Wahrheit Gewalt antat, war die Kleidung, das Undurchlässige zwischen innerer und äußerer Welt. Die Reaktion gegen den bekleideten Menschen.“ De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

39

Ebd.

Das Movimento Antropófago | 55

getötet noch gegessen werden. Es steht daher für die Durchsetzung eines Verbotes, wie dem Inzesttabu,40 und stellt eine Abwehrmaßregel dar. Jedoch darf es in religiösen Ritualen getötet und verspeist werden, wodurch der verdrängte Vatermord und eine Einverleibung desselben symbolisch durchlebt werden:41 „Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. […] Der gewalttätige Urvater war gewiss das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzten sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an. Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion.“42

In Anlehnung an Freuds Thesen erfolgt die Legitimation der Anthropophagie in de Andrades Konzept durch eine Transformation des Tabus des Vatermordes, wobei der Kolonisator die Person des Vaters einnimmt, in das akzeptierte Verspeisen des totemisierten Tieres, welches symbolisch den Kolonisatoren ersetzt, durch den Kolonisierten.43 Analog zu Freud, der im kannibalischen Vatermord den Ursprung von Kultur schlechthin sieht, versteht de Andrade Anthropophagie als eine allen sozialen Beziehungen zugrundeliegende Kraft, mittels derer Kultur hervorgebracht wird:44 40

Mit dem Mord am Urvater ist nach Freud das Inzesttabu entstanden. Das Totem ist immer mit einem Inzesttabu verbunden, da es stets für die Mitglieder einer Sippe verbindlich und erblich ist. So wird das Totem der Eltern auf ihre Nachkommen übertragen und steht für die Zugehörigkeit zu einer Sippe. Freud führt hierzu aus: „Fast überall wo der Totem gilt, besteht auch das Gesetz, dass Mitglieder desselben Totem nicht in geschlechtliche Beziehungen zueinander treten, also auch einander nicht heiraten dürfen. Das ist die mit dem Totem verbundene Exogamie.“ FREUD, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt am Main: Fischer, 1991 (1913), S. 8.

41

In Zeremonien wird das Totem der Gottheit geopfert und gemeinsam von dieser Gottheit und dem Totemclan verspeist. Dies stellt eine gesellschaftlich akzeptierte Triebabfuhr dar. Im gemeinsamen Essen wird die Zusammengehörigkeit der Gruppenmitglieder untereinander und mit der Gottheit herbeigeführt. Da die Clanmitglieder dasselbe Totem haben, wird das Inzesttabu hierdurch aufgehoben. Vgl. ebd., S. 160ff.

42 43

Ebd., S. 171f. Vgl. HELENA, Lucia: Uma literatura antropofágica, Rio de Janeiro: Cátedra, 1981, S. 107.

44

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 82.

56 | Strategien der Einverleibung

„Nur die Anthropophagie vereint uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch. Das einzige Gesetz der Welt. Verborgener Ausdruck aller Individualismen, aller Kollektivismen. Aller Religionen. Aller Friedensverträge.“45

Steht das Totem bei Freud für die Durchsetzung eines Verbots, wird es in der Adaption durch de Andrade zu einer positiven Strategie der Integration und Sichtbarmachung von Tabus gewandelt. Die Anthropophagie, welche im Kolonisierungszeitalter das Tabu schlechthin darstellte, wird auf diese Weise von de Andrade in ein Totem seines kulturellen Programmes verkehrt. 46 Der Kolonisator in Gestalt des Freudschen Urvaters wird bei de Andrade gerade dadurch überwunden, dass er als heiliger Feind einverleibt und so in die Konstruktion einer neuen nationalen Identität konstitutiv eingebunden wird. De Andrade gelingt es so innerhalb seines Manifests, „die absolute Differenz im Machtgefüge zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten hervorzuheben und zugleich deren Auflösung und Überwindung in einer originären Neuordnung der (neo-)kolonialen Konstellation Brasiliens zu projektieren. Mit dieser – nur scheinbar paradoxen – begrifflichen Zusammenführung entsteht ein Modell zur Überwindung (internalisierter) kolonialistischer Repressionsformen.“47 De Andrade formuliert eine Widerstandshaltung gegen (post-)koloniale Einflüsse auf Brasilien, welche durch die programmatische Ablehnungsformel contra [gegen] zum Ausdruck gebracht wird, die den einzelnen Passagen des Manifests vielfach vorangestellt ist. Auf den hierfür grundlegenden Satz „Gegen alle Katechesen.“48 folgt die Aussage: „Wir wurden niemals katechisiert. Stattdessen machten wir Karneval.“49 Dem Katechismus, der als Sinnbild für die Unterwerfung der Indigenen und deren Angleichung an die portugiesische Kolonialkultur steht, stellt de Andrade den Karneval als spezifisch brasilianische Kulturpraxis gegenüber. Damit wird die subversive Schreibpraxis de Andrades sichtbar, welche das hierarchische Ordnungsgefüge des Kolonialismus unterwandert. Mit seinem Bezug auf den Karneval vollzieht de Andrade eine Aufwertung der (afro-)brasilianischen Alltagskultur, die der christlichen Religion entgegengestellt wird. 50 De Andrades Manifest liest sich als Kriegserklärung an den Westen und als eine Abrechnung mit dem Kolonialismus, im Zuge dessen der Primitivismus aufgewertet

45

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

46

Vgl. WANGERIN, 2007, S. 22f.

47

SCHULZE, 2015, S. 109.

48

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

49

Ebd.

50

Vgl. SCHULZE, 2015, S. 93.

Das Movimento Antropófago | 57

wird. Das Konzept der Einverleibung des westlichen Kulturgutes fungiert dabei als Strategie, sich gegen den fortbestehenden Kolonialismus zu behaupten: 51 „Aber es waren keine Kreuzfahrer, die kamen. Es waren Geflüchtete einer Zivilisation, die wir gerade aufessen, weil wir stark und rachsüchtig sind wie der Jabuti.“52

Der Universalitätsanspruch der eurozentrischen Geschichtsschreibung wird nicht nur programmatisch negiert, wenn de Andrade schreibt: „Gegen die Wahrheit der missionarischen Völker […]. Sie ist die vielfach wiederholte Lüge.“53 Mit subversivem Humor entwirft de Andrade in seinem Manifest eine „anti-koloniale Gegengeschichte“, die er durch eine „karnevaleske Verkehrung“ 54 der Kolonialgeschichte Brasiliens herbeiführt. In diesem Sinne stellt er das Jahr 1554 an den Beginn der brasilianischen Zeitrechnung, indem er sein Manifest mit folgenden Worten unterzeichnet: „Oswald de Andrade, in Piratininga, im Jahre 374 nach dem Verschlingen des Bischofs Sardinha.“55 Der Überlieferung nach soll der portugiesische Bischof Sardinha vom indigenen Volk der Caeté als Ausdruck des Widerstandes gegen die Kolonialmacht verspeist worden sein. De Andrade definiert damit den ersten gegen die weißen Eroberer gerichteten anthropophagen Akt als Geburtsstunde der brasilianischen Nation.56 Anthropophagie steht bei de Andrade für die Verteidigung gegen Eindringlinge und dient dem Selbstschutz, weshalb sie als Emanzipationsstrategie gegen Unterdrückung, Missionierung und koloniale Hegemonie angewandt wird. 57 De Andrades Entwurf der Antropofagia führt eine Umkehrung der Rollen von Kolonisatoren und Kolonisierten herbei, indem Brasilien die Haltung des Ausbeuters einnimmt. Mit seinem Bild des anthropophagen Indigenen gelingt es de Andrade somit, Brasilien aus seiner Opferrolle herauszulösen, wie Thomas Sandführ ausführt:

51 52

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 76ff. De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang. Jabuti bezeichnet eine brasilianische Schildkrötenart, die innerhalb der indigenen Mythologie als Hochstapler oder Schurke auftritt. Vgl. PRECHT, 2016, S. 65.

53

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

54

SCHULZE 2015, S. 93.

55

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang. Abgeleitet von pirá-tininga [trockener Fisch], war Piratininga die Bezeichnung der Tupi-Guaraní für die heutige Metropole São Paulo. Vgl. SANDFÜHR, 2001, Anm. im Anhang.

56

Der Ursprung und die Geschichte Brasiliens sind nach de Andrade also grundlegend im Körperlichen verwurzelt. Vgl. WANGERIN, 2007, S. 7.

57

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 81.

58 | Strategien der Einverleibung

„Nach Andrade haben nicht die Kolonisatoren die Qualitäten der besiegten Indianer absorbiert, vielmehr soll es genau andersherum gewesen sein. […] Metaphorisch betrachtet repräsentiert er eine neue Einstellung in Bezug auf die kulturellen Beziehungen zu einer Kolonialmacht. Imitation und Einfluss im herkömmlichen Sinne des Wortes sind nicht mehr möglich, da die Grenzen zwischen Esser und Gegessenem, zwischen Metropole und Peripherie verschwimmen und letztendlich verschwinden.“58

De Andrades Vorgehen, Geschichte in einer ironischen Geste umzuwerten, zieht sich durch das gesamte Manifest. Europäische Errungenschaften, Religion und historische Ereignisse werden neu interpretiert und als von Brasilien kommend umgewertet oder nach Brasilien versetzt, wodurch eine Verkehrung von Ursprüngen vollzogen wird. Dabei werden die Widerstandskraft, Stärke und Überlegenheit des brasilianischen Volkes stetig betont: „Ohne uns hätte Europa nichts als seine armselige Erklärung der Menschenrechte. […] Wir wurden niemals katechisiert. Wir leben durch ein schlafwandlerisches Recht. Wir haben Christus in Bahia zur Welt kommen lassen. Oder in Belém do Pará. Aber nie haben wir die Geburt der Logik unter uns zugelassen.“59

De Andrades Programm der kulturellen Anthropophagie beinhaltet die Technik, Elemente, die bereits mit kultureller Bedeutung aufgeladen sind, neu zu organisieren. Gerade diese Fähigkeit zur Vermischung fremder Einflüsse macht das Wesen der Brasilianer/innen aus und bestimmt die Originalität brasilianischer Kulturprodukte. De Andrades brutaler, bösartiger Anthropophage, der Weiße und deren kulturelle Produkte verschlingt, unterscheidet sich damit radikal vom romantisierten, unterwürfigen edlen Wilden, der durch die Kolonisatoren zivilisiert wurde. Haroldo de Campos fasst diesen Aspekt in den folgenden Worten zusammen:

58

Ebd., S. 108.

59

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang. Bahia ist ein Bundesstaat im Nordosten Brasiliens, der den größten afrikanischen Einfluss im Land aufweist. Die im Norden des Landes, im Bundesstaat Pará befindliche Stadt Belém [Bethlehem] gehörte ursprünglich zum Gebiet der Tupinambá. Vgl. PRECHT, 2016, S. 62. Die Passage „Wir ließen Christus in Bahia zur Welt kommen.“ stellt zudem einen Verweis auf das Sambastück Cristo nasceu na Bahia [Christus wurde in Bahia geboren] dar, das 1926 von Sebastião Cirino und Duque komponiert wurde. Das Lied wurde von der Companhia Negra de Revistas aufgegriffen, einer afro-brasilianischen Musiktheaterkompanie, die in den Jahren 1926/27 große Medienresonanz erhielt. Mit diesem Bezug wertet de Andrade die afro-brasilianische Kultur auf. Vgl. SCHULZE, 2015, S. 91f.

Das Movimento Antropófago | 59

„Die Anthropophagie Oswald de Andrades ist dr Gedanke der kritischen Einverleibung des universellen Kulturerbes, der nicht dem unterwürfigen und versöhnten Blickwinkel des guten Wilden entsprang, sondern aus der respektlosen Sicht des bösen Wilden, des Verschlingers von Weißen, des Anthropophagen. Sie beinhaltet keine Unterwerfung (keine Katechese), sondern eine Transkulturation: besser noch eine Transvalorisierung: eine kritische Sicht der Geschichte mit negativer Funktion […], die ebenso fähig ist, sich etwas anzueignen wie zu enteignen, zu enthierarchisieren, zu dekonstruieren.“60

Im Findungsprozess einer brasilianischen Identität stellt die Rückbesinnung auf die eigenen indigenen Wurzeln den zentralen Ausgangspunkt dar. Der anthropophage Indigene des Volkes der Tupinambá, der für de Andrade den wahren Ursprung Brasiliens verkörpert, wird im Konzept der Antropofagia aufgewertet und idealisiert, was durch einen Bezug auf den Mythos vom Goldenen Zeitalter geschieht. Der Indigene wird dabei zum Symbol einer idealen Vergangenheit, indem er in einer matriarchalischen, freien und klassenlosen Gesellschaft lebte, die somit der zivilisierten Welt überlegen war. De Andrade hebt damit die Dichotomie der eurozentrischen Stereotype des rohen Barbaren und des edlen Wilden auf, indem er beide Figuren unter Bezug auf de Montaigne miteinander vereint:61 „Das von Amerika verkündete Goldene Zeitalter. Das Goldene Zeitalter. Und all die girls. Abstammung. Der Kontakt mit dem karibischen Brasilien. Oú Villegaignon print terre! Montaigne. Der Naturmensch. Rousseau.“62

Hiermit kritisiert de Andrade auch das im Indianismo verbreitete, idealisierte Bild des Indigenen, was im Manifesto Antropófago durch ironisierende Verweise auf José de Alencars Romane zum Ausdruck kommt: „Der Indio als Senator des Reiches verkleidet. Der vorgibt, Pitt zu sein. Oder in den Opern von Alencar auftritt, voll von guten portugiesischen Gefühlen.“63

60

De CAMPOS, 1990 (1981), S. 39.

61

Vgl. SANDFÜHR, 2001, S. 60f. Bereits im Manifesto Da Poesia Pau Brasil wird das dichotome Gegensatzpaar des barbarischen Kannibalen und edlen Wilden miteinander verbunden. Dort charakterisiert de Andrade die Indigenen mit den Adjektiven „Barbarisch, leichtgläubig, pittoresk und sanftmütig.“ De ANDRADE, 2016 (1924), S. 33.

62

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang. Bei der im Französischen wiedergegebenen Textpassage „Oú Villegaignon print terre!“ handelt es sich um ein Zitat aus de Montaignes Essay Des Cannibales. Nicolas Durand de Villegagnon gründete im Dienst der französischen Krone im Jahr 1555 eine Kolonie im heutigen Rio de Janeiro, die bereits 1567 von den Portugiesen zerstört wurde.

60 | Strategien der Einverleibung

An anderer Stelle wendet sich de Andrade „gegen den Indio als Fackelträger,“64 womit er auf die romantisch verklärte Versklavung des Indigenen durch die portugiesische Kolonialmacht verweist, wie sie in de Alencars Roman O Guaraní in der Figur des Indigenen Peri in Erscheinung tritt. Der Indigene wird daraufhin in ein groteskes Abstammungsmodell der abendländischen Geschichte integriert, indem er zum „Sohn der Maria, Patenkind der Katharina von Medici und Schwiegersohn von Dom Antônio de Mariz“65 erklärt wird. Peter W. Schulze konstatiert, dass de Andrade mit seinem Manifesto Antropófago der „homogenisierenden indianistischen Konstruktion von brasilidade“, wie sie in de Alencars Romanen zum Ausdruck kommt, „eine Strategie entgegen[setzt], die gerade die Widersprüche des Kulturkontaktes sowie die daraus hervorgehende heterogene kulturelle Identität betont.“66 Wie schon im Manifesto Da Poesia Pau Brasil stellt de Andrade die Zivilisation in Opposition zum Primitivismus. Dem europäischen Streben nach Differenz, Wissenschaftlichkeit, Reinheit und Rationalität werden das tropische Wuchern, Aneignung, Naivität, Wildheit und Poesie entgegengesetzt:

63

Ebd. Mit den „Opern von Alencar“ bezieht sich de Andrade auf José de Alencars Romane, insbesondere auf seine Erzählung O Guaraní, die von Antônio Gomes im Jahr 1870 als Opernstück uraufgeführt wurde. William Pitt (1759-1806) war ein britischer Premierminister, der sich für die Abschaffung der Sklaverei in England einsetzte. Vgl. PRECHT, 2016, S. 64; sowie SCHULZE, 2015, S. 88.

64

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

65

Ebd. Dom Antônio de Mariz war ein portugiesischer Adliger, dessen Wirken im kolonialen Brasilien von de Alencar in seinem Roman O Guaraní stark romantisiert wurde. Sowohl mit den Titeln „Sohn der Maria“ als auch „Patenkind der Katharina von Medici“ verweist de Andrade auf die Missionierung der Indigenen. In der Nennung der Katharina von Medici findet sich ein Verweis auf die Geschichte der Indigenen Paraguasso, die im 16. Jahrhundert nach Frankreich gebracht und dort getauft wurde. Katharina von Medici soll in einer Version der Geschichte, die sich später als unwahr herausstellte, ihre Patin gewesen sein. Zudem stellt die Namensnennung eine ironische Anspielung auf das historische Spektakel der Menschenschauen dar. Im Jahre 1550 wurde in Rouen, dem damaligen Hauptumschlagplatz für das Brasilholz, zu Ehren des Königs von Frankreich und seiner Frau Katharina von Medici ein Dorf der Tupinambá nachgebaut, in dem das Leben der Indigenen durch verschleppte Einheimische und verkleidete Franzosen für die schaulustigen Europäer/innen nachgestellt wurde. Vgl. PRECHT, 2016, S. 66; sowie SCHULZE, 2015, S. 88f.

66

SCHULZE, 2015, S. 89.

Das Movimento Antropófago | 61

„All das, weil wir weder Grammatiken hatten noch Sammlungen alter Pflanzen. Und nie wussten wir, was urban, suburban, angrenzend und kontinental war. Träge auf der Landkarte Brasiliens. Ein teilhabendes Bewusstsein, eine religiöse Rhythmik. Gegen alle Importeure von Bewusstsein aus der Konserve.“67

De Andrade kritisiert die kapitalistische Zivilisation als Patriarchat, welches sich als ein unmenschliches, auf sozialen Ungleichheiten beruhendes System darstelle. Hierdurch würde der Mensch seinem natürlichen Instinkt, seinen Emotionen und seiner Gemeinschaftlichkeit entbunden, was entgegen seiner sozialen Bedürfnisse stehe.68 De Andrade fordert nun eine karibische Revolution, die das patriarchale kapitalistische System abschaffen soll. Er entwirft in seinem anthropophagen Programm eine politische Utopie, das Matriarchat von Pindorama,69 welches an den vorkolonialen Zustand der klassenlosen Gesellschaft mit kollektivem Besitz angelehnt ist. Das anthropophage Ritual war nach de Andrade im Matriarchat fest verwurzelt: „Der historische Bruch mit der matriarchalischen Welt vollzog sich, als der Mensch aufhörte den Menschen zu verzehren, um ihn zu seinem Sklaven zu machen.“70 Hierbei ist ein Einfluss des marxistischen Begriffs der klassenlosen Gesellschaft unverkennbar. Oliver Precht hat herausgearbeitet, dass de Andrade selbst „seine Manifeste als eine dichterische Fortsetzung der marxistischen Tradition der Kritik“ sah, die „dem Manifest der kommunistischen Partei, in dem die marxistische Kritik ihre genuine Ausdrucksform findet, einige ihrer wichtigsten Impulse verdanken. So wie für Marx die ‚herrschenden Ideen einer Zeit […] stets nur die Ideen der herrschenden Klasse‘ waren, so ist für Oswald die gesamte importierte Kultur das Produkt eines andauernden kulturellen Imperialismus. […] Und dieser Imperialismus stellt das Produkt einer Entwicklung dar, in welcher der Klassengegensatz immer mehr zu einem geographischen Gegensatz zwischen dem Zentrum und der Peripherie wurde.“71

67

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

68

Vgl. WANGERIN, 2007, S. 100f.

69

Pindorama ist der Name, den die Indigenen ihrem Land vor der Kolonisierung gegeben hatten. Der Begriff leitet sich aus dem Wort pidó-rama ab, was in der Sprache der TupiGuaraní Palme bedeutet. De Andrade wendet sich mit der Verwendung des Begriffs gegen die von den Portugiesen eingeführte Landesbezeichnung Brasilien. Vgl. ebd., S. 11.

70

De ANDRADE, Oswald: A Crise da Filosofia Messiânica, in: Ders.: A Utopia Antropofágica. Obras Completas, Bd. 6, São Paulo: Globo, 1990 (1950), S. 101-155, hier: S. 104: „A ruptura histórica com o mundo matriarcal produziu-se quando o homem deixou de devorar o homem para fazê-lo seu escravo.“

71

PRECHT, Oliver: Lernen, sich der Anderen zu Essen zu geben, in: Ders. (Hrsg.): Oswald de Andrade. Manifeste. Portugiesisch-Deutsch, Wien/Berlin: Turia + Kant,

62 | Strategien der Einverleibung

Die anfänglich aufgestellten Polaritäten zwischen Zivilisation und Primitivismus werden in einem zweiten Schritt von de Andrade wieder aufgehoben, indem er sie miteinander verbindet. So wird in die Rückkehr zu einem ursprünglich primitiven Zustand der technologische Fortschritt konzeptionell eingebunden: „Von der Französischen Revolution zur Romantik, zur bolschewistischen Revolution, zur surrealistischen Revolution und zum technisierten Wilden Keyserlings.“72

De Andrade versteht unter dem Begriff des Matriarchats von Pindorama eine barbarische technisierte Zukunft, in der Natur und Magie mit moderner Technologie und Rationalität verbunden werden. Ein zentraler Bezugspunkt stellt hierbei die Vorstellung vom technisierten Barbaren dar, die auf die Idee von Hermann Graf von Keyserling zurückgeht. 73 In dieser Figur verschmelzen industrieller Fortschritt und primitiver Naturmensch, wodurch die Polarität zwischen Zivilisation und Wildheit aufgehoben wird.74 De Andrades technisierter Barbar nutzt in anthropophager Manier die neuen Technologien, um seine Emanzipation durchzusetzen und die matriarchalische Gesellschaftsform herbeizuführen, wodurch die industrielle Zivilisation humanisiert wird. De Andrade war von dieser Utopie überzeugt: „Nur die technisierte Wiederherstellung einer anthropophagen Kultur wird die aktuellen Probleme des Menschen und der Philosophie lösen können.“ 75 Innerhalb dieser Utopie sollte der glückliche Müßiggang des primitiven Wilden verwirklicht werden, der erst durch die westlichen Technologien ermöglicht werden könne. 76 Hier wird

2016, S. 98-144, hier: S. 113f. Precht zitiert hier aus dem 1848 erschienenen Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels. 72

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

73

Vgl. SCHWARTZ, Jorge (Hrsg.): De la antropofagia Brasil a Brasilia, Ausst.-Kat. IVAM Centre Julio González, Valencia: VEGAP, 2000, S. 527.

74

De Andrade referiert auf Keyserlings Vorstellung, dass der moderne Mensch durch die Technik seiner selbst entfremdet sei. Der deutschbaltische Philosoph hatte seine Idee von der technischen Barbarei in seinem 1926 in Darmstadt veröffentlichten Werk Die neuentstehende Welt entwickelt. Vgl. KEYSERLING, Graf Hermann: Die neuentstehende Welt, Darmstadt: Reichl, 1926.

75

De ANDRADE, Oswald: A Crise da Filosofia Messiânica, 1990 (1950), S. 146: „só a restauração tecnizada duma cultura antropofágica resolveria os problemas atuais do homem e da Filosofia“.

76

Die positive Bewertung der Faulheit des Wilden und die damit verbundene Abwesenheit von Arbeit im Matriarchat von Pindorama wird der europäischen Zweckrationalität bewusst entgegengestellt. Vgl. FILHO, José Galisi: Dialektik des Fragments und Realismus in der Peripherie: Heiner Müller und Oswald de Andrade, in: Daniela Co-

Das Movimento Antropófago | 63

deutlich, dass de Andrade nicht im Sinne eines idealisierend verklärten Blicks einen Rückgriff auf die vorkolonialen Wurzeln seines Landes propagierte, sondern überzeugt war, dass sein modernistisches Projekt nur in Verbindung mit außerkulturellen Einflüssen zu verwirklichen sei. Benedito Nunes versteht die Antropofagia in diesem Sinne als „ein aktives Prinzip unseres intellektuellen Lebens, welches genauso in der literarischen Nutzung barbarischer Elemente der brasilianischen Kultur gelten muss, wie in der poetischen Absorption ultrazivilisierter Aspekte der technisch-industriellen Welt.“77 De Andrades Aneignung europäischen Wissens wird mit einem Bezug auf Friedrich Nietzsche fortgeführt, dessen Philosophie für die Ausarbeitung des Manifesto Antropófago von zentralem Einfluss war.78 So bezieht sich de Andrade mit seinem auf einer permanenten Transformation beruhenden Konzept 79 und seiner Ankündigung einer Rückkehr zum Matriarchat auf Nietzsches zyklische Zeitauffassung, innerhalb derer Geschichte als nicht-linear und als ewige Wiederkehr des Gleichartigen verstanden wird.80 Auch de Andrades Kolonialismuskritik findet eine Entsprechung in Nietzsches Kritik am Christentum. So wie Nietzsche im christlichen Glauben eine Versklavung des Menschen sieht, weshalb er ihm den Kampf ansagt,81 so ist es de Andrades Anliegen, mittels der kulturellen Strategie der Anlombo (Hrsg.): Das Drama bei Heiner Müller und Christa Wolf, Würzburg: Königshausen und Neumann, 2009, S. 497-517, hier: S. 509. 77

NUNES, Benedito: Oswald Canibal, São Paulo: Ed. Perspectiva, 1979, S. 28: „um princípio ativo de nossa vida intelectual, que deveria vigorar tanto no aproveitamento literário dos aspectos bárbaros da cultura brasileira, quanto na absorção poética dos aspectos ultracivilizados do mundo técnico-industrial“.

78

Vgl. BITARÃES NETTO, Adriano: Antropofagia oswaldiana: um receituário estético e científico, São Paulo: Annablume, 2004, S. 52f.

79

Im Manifesto Antropófago heißt es: „Anthropophagie, die permanente Transformation des Tabu in Totem.“ De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

80

Der Gedanke von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen ist in Nietzsches Philosophie zentral und wird erstmals in seiner 1882 erschienenen Schrift Die fröhliche Wissenschaft formuliert. Nietzsche vertritt die Vorstellung, dass das Leben eine wiederkehrende Abfolge von bereits stattgefundenen Geschehnissen ist. Damit verbindet er den Appell, ein lebensbejahendes Dasein zu führen, bei dem man sich wünschen sollte, jedes Ereignis noch einmal zu erleben. Vgl. NIETZSCHE, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, Stuttgart: Alfred Kröner, 1965 (1882), Aph. 341, S. 231f.

81

Nietzsche formuliert seine Kritik am Christentum in seiner Schrift Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. Darin konstatiert er, der Begriff des Christentums stehe entgegen jeglicher Humanität und sei ausgesprochen lebensfeindlich. Vgl. NIETZSCHE, Friedrich: Der Antichrist – Fluch auf das Christentum, Neuenkirchen: RaBaKa-Publishing, 2008 (1888), Aph. 7, S. 20ff. In seiner Arbeit Jenseits von Gut und Böse vertritt er fol-

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tropofagia den Menschen aus seiner durch den Kolonialismus herbeigeführten Unterjochung und Fremdbestimmung zu befreien und zu eigenverantwortlichem kreativem Tun zu verhelfen.82 Die Antropofagia ist der Versuch einer Dekolonisierung der brasilianischen Kultur, mit der eine neue Gesellschaftsform geschaffen werden soll.83 De Andrades Dekolonisierungskonzept beinhaltet das Bestreben nach einer allgemeinen Befreiung des Menschen auf gesellschaftlicher, religiöser und politischer Ebene. Sein Manifest enthält demzufolge eine sozialpolitische Aussage, wenn er eine „Realität ohne Komplexe, ohne Wahnsinn, ohne Prostitution und ohne die Strafanstalten“84 fordert.85 De Andrades Bezug auf die Figur des Kannibalen stellt auch die anthropophage Aneignung eines europäischen Vorläufers im Sinne einer Uminterpretation dar. So hatte die Anthropophagie bereits Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer aufkommenden Hinwendung zum Primitivismus, zum Magischen und Unterbewussten Einzug in die europäische Avantgarde erhalten.86 Alfred Jarry beispielsweise verfasste bereits 1902 einen Essay mit dem Titel Anthropophagie. Darin wertet er den Kannibalismus positiv und verwendet ihn bereits als Metapher der Appropriation, indem er schreibt, „eine der edelsten Neigungen des menschlichen Geistes [sei] sein Hang, zu assimilieren, was er gut findet.“87 Von den Dadaisten wurde die Anthropophagie als programmatischer Teil ihrer Bewegung genutzt, um das Bürgertum zu provozieren und in Schrecken zu versetzen. Francis Picabia veröffentlichte 1920 sein Manifeste Cannibale Dada und veröffentlichte gemeinsam mit Tristan Tzara gende Ansicht: „Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit des Geistes; zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung.“ NIETZSCHE, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Die Geburt der Tragödie, Hamburg: Meiner, 2013 (1886), Aph. 46, S. 58. Auch in der Arbeit Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister polemisiert er gegen das Christentum. Darin kommt besonders sein Anliegen zum Ausdruck, die Menschen aus ihrer Versklavung durch die Religion zu befreien und ihnen zur Rückgewinnung ihres ursprünglichen Reichtums, zu einem freien Geist, zu verhelfen. NIETZSCHE, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, Berlin: Verlag der Contumax GmbH und Co. KG, 2016 (1878), Aph. 108-144, S. 72-96. 82

Vgl. WANGERIN, 2007, S. 10.

83

Vgl. SCHWARTZ, 2000, S. 540f.

84

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

85

Vgl. RÖSSNER, 1995, S. 232.

86

Vgl. BITARÃES NETTO, 2004, S. 27ff.

87

JARRY, Alfred: Anthropophagie (1902), in: Ders.: Œuvres complètes, Bd. 2, hrsg. v. Henri Bordillon, Paris: Gallimard, 1987, S. 344-346, hier: S. 345: „l’une des nobles tendances de l’esprit humain, sa propension à s’assimiler ce qu’il trouve bon“.

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das Journal Cannibale.88 Kenneth David Jackson betont, dass de Andrades Antropofagia ein ästhetisches und politisches Konzept darstellt, wohingegen der Kannibalismus bei Dada ein exotisches Thema bleibt, gegen das de Andrade mit seiner gegenteiligen Auffassung von Anthropophagie Stellung bezieht: “The theory of cultural devouring, an autonomous re-elaboration of cultural materials in terms of philosophic value, is what best defines Oswald de Andrade’s Manifesto Antropófago and distinguishes his ideas from the European vanguard which had been imbued with primitivism, African art, and the cannibalistic metaphor. French playwright Alfred Jarry and Dadaist Francis Picabia, for example, exploited cannibalism as an exotic theme which shocked and frightened bourgeois minds. For Oswald, Antropofagia was both more concrete and more philosophical: his manifesto is dated from the eating of Bishop Sardinha by the Caetés Indians. The structure of his idea involves civilizations in conflict, challenges the noble savage of Rousseau, and American society. At the same time, Antropofagia theorizes one of the first movements of liberation in terms of the flexibility of American thinking, its power of assimilation.”89

Das Manifesto Antropófago stellt die programmatische Formulierung eines kulturellen Konzepts dar, das zeitgleich in weiteren Klassikern des Modernismo vielfach literarisch verankert wurde. Als ein Hauptwerk des Movimento Antropófago gilt die 1928 erschienene Erzählung Macunaíma. O herói sem nenhum caráter [Macunaíma. Der Held ohne Charakter] von Mário de Andrade. Der Autor schöpft darin aus indigenen Mythen, aus Klassikern der brasilianischen Literatur sowie aus portugiesischen Chroniken, welche er collageartig neu zusammensetzt. 90 Protago-

88

Das Manifeste Cannibale Dada wurde erstmals im März 1920 in der Pariser Zeitschrift Dadaphone veröffentlicht und findet sich übersetzt in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart/Weimar: Metzler, 1995, S. 192-193. Von dem Journal Cannibale erschienen zwei Ausgaben in den Monaten April und Mai 1920, die Erwähnung finden in: Peter Brooker/Sascha Bru/Andrew Thacker/Christian Weikop (Hrsg.): The Oxford Critical and Cultural History of Modernist Magazines, Volume III: Europe 1880 – 1940, Oxford: Oxford University Press, 2013, S. 180-202.

89

JACKSON, Kenneth David: A View on Brazilian Literature: Eating the Revista de Antropofagia, in: Latin American Literary Review, New York, Vol. VII, Nr. 13, Fall/Winter, 1978, S. 1-9, hier: S. 2f.

90

De Andrade bezieht sich insbesondere auf das Werk Vom Roroima zum Orinoco des Ethnologen Theodor Koch-Grünberg. Koch-Grünberg forschte und berichtete um 1900 über südamerikanische indigene Völker und trug in seiner Schrift indigene Mythen zusammen. Vgl. KOCH-GRÜNBERG, Theodor: Vom Roroima zum Orinoco: Ergebnisse

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nist der Geschichte ist der im Urwald in Müßiggang lebende und mit ambivalenten Charakterzügen ausgestattete Macunaíma, der sich im Laufe des Romans auf die Suche nach einem verlorenen Talisman begibt, welcher symbolisch für die Suche nach seinem Nationalcharakter steht.91 Hierbei gelangt Macunaíma in die Stadt São Paulo, was eine Konfrontation des Mythischen der Natur mit der modernen Technik zur Folge hat. Die Suche nach dem Wesen der Brasilidade stellt de Andrade jedoch als ein erfolgloses Unterfangen dar, da Macunaíma seinen Talisman am Ende des Romans endgültig verloren hat. In der Erzählung vertritt der Autor einen kritischen Standpunkt in Bezug auf die Konstruktion nationaler Identität und entlarvt die Vorstellung eines reinen, ursprünglichen Brasiliens als Utopie. Am Ende des Romans wird Macunaíma schließlich von seiner Gefährtin in einem anthropophagen Akt verspeist.92

DIE MALEREI TARSILA DO AMARALS Das anthropophage Konzept wurde in der bildenden Kunst des Modernismo an erster Stelle von der Malerin Tarsila do Amaral umgesetzt. Nach Studienaufenthalten in Paris bei Albert Gleize, Fernand Léger und André Lhote kehrte sie 1924 wieder nach São Paulo zurück. Die spätere Lebensgefährtin von Oswald de Andrade war Mitbegründerin des Movimento Antropópfago und an der Ausarbeitung des anthropophagen Programmes maßgeblich beteiligt. 93 Während de Andrade

einer Reise in Nordbrasilien und Venezuela in den Jahren 1911-1913, Paderborn: Salzwasser Verlag, 2012 (1924). 91

Vgl. RÖSSNER, 1995, S. 232; sowie SANDFÜHR, 2001, S. 121.

92

Vgl. de ANDRADE, Mário: Macunaíma - der Held ohne jeden Charakter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982 (1928). Auch die Themen und Ansätze in den Werken des Schriftstellers Manuel Bandeiras stehen mit den Inhalten der Antropofagia in Einklang. Der Autor plädierte für eine Erneuerung in der Kulturproduktion Brasiliens und eine Emanzipation gegenüber der westlichen Kulturhegemonie. Nennenswert sind auch der 1928 erschienene Essay Retrato do Brasil [Portrait von Brasilien] Paulo Prados, in dem die Suche nach dem Nationalcharakter ebenfalls das zentrale Thema darstellt. Raúl Bopps Roman Cobra Norato [Norato-Schlange] stellt mit seinem Erscheinen im Jahre 1931 ein Nachzüglerwerk der anthropophagen Literatur dar. Es handelt von einer Reise durch den Amazonas, die durch eine mythische Sichtweise beschrieben wird. Vgl. RÖSSNER, 1995, S. 235f.

93

Das enge Zusammenwirken von literarischer und malerischer Ausarbeitung der Antropofagia findet in der von Mário de Andrade erfundenen Wortschöpfung Tarsiwald einen Ausdruck. Vgl. BONET, Juan Manuel: A “Quest” for Tarsila, in: Ders. (Hrsg.):

Das Movimento Antropófago | 67

den theoretischen Grundstein für die Antropofagia legte, findet sich im Werk do Amarals bereits vor Veröffentlichung des Manifesto Antropófago eine erste malerische Ausformulierung des Konzepts. So stellt das 1923 in Paris entstandene Gemälde A Negra [Die Schwarze] (Abb. 15) bereits eine künstlerische Umsetzung anthropophager Ideen dar, wie do Amaral selbst rückblickend ausführt: “The Anthropophagite movement had its pre-Anthropophagite phase before Pau-Brasil painting, in 1923, when I painted a very controversial picture, A Negra […]. A Negra announced the birth of Anthropophagism.“94

Abbildung 15: Tarsila do Amaral: A Negra, 1923 Abbildung 16: Anonym: Yemanjá, 19. Jhdt.

Das Gemälde zeigt einen schwarzen Frauenakt, der sich den Betrachter/innen in Frontalansicht präsentiert. Die stilisierte Figur ist mit eingeschlagenen Beinen sitzend dargestellt. Über ihrem rechten Arm, der sich vor ihrem Oberkörper verschränkt, liegt eine überdimensionierte Brust, die in das Bildzentrum ragt. Auch ihre Lippen und Gliedmaßen sind übermäßig voluminös abgebildet. Der massive Körper der Dargestellten nimmt nahezu die gesamte Leinwand ein. Im Kontrast zu den weichen, rundlichen Körperformen des Frauenaktes zeigt der Hintergrund horizontal verlaufende Linien in geometrischer Abstraktion, die durch das Blatt einer Bananenpflanze vertikal durchbrochen werden. Tarsila do Amaral, Ausst.-Kat. Fundación Juan March, Madrid, Madrid: Editorial de Arte y Ciencia, 2009, S. 67-91, hier: S. 71. 94

Do AMARAL, Tarsila: Pau-Brasil Painting and Antropofagia (1939), in: Jorge Schwartz (Hrsg.): De la antropofagia Brasil a Brasilia, Ausst.-Kat. IVAM Centre Julio González, Valencia: VEGAP, 2000, S. 587-589, hier: S. 588. Der portugiesische Originaltext erschien in: Revista Anual do Salão de Maio, São Paulo, Nr. 1, 1939, S. 31-35.

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Die Darstellung einer schwarzen Frau stellt in der brasilianischen Kunst zu dieser Zeit ein Novum dar. Im Gegensatz zu den Indigenen, die in der Romantik eine idealisierende, dem Bild des edlen Wilden entsprechende Darstellung erfuhren, wurde die afro-brasilianische Kultur aus der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts nahezu ausgeschlossen.95 Im Prozess der Konstruktion der brasilianischen Nation nach der Unabhängigkeit sowie auch nach der Abolition wurden die AfroBrasilianer/innen systematisch ausgegrenzt, da die Landespolitik davon ausging, dass der Fortschritt des Landes in erster Linie durch eine Europäisierung und das Ideal des branqueamento, einer Verweißung, vorangetrieben werden könne.96 Die Antropofagia wertet als Protest gegen diese europäisierte Politik der Ausgrenzung die afrikanische Kultur in Brasilien auf, indem diese von den Modernist/innen als fundamentaler Bestandteil in die Bildung einer brasilianischen Nationalkultur einbezogen wird. Do Amarals Gemälde A Negra steht exemplarisch für die im Movimento Antropófago vollzogene Integration der afrikanischen Kultur.97 Do Amaral bezieht sich bei der Darstellung ihrer Figur zudem auf Plastiken der Fruchtbarkeitsgöttin Yemanjá, die der synkretistischen Religion der Yoruba ent95

Vgl. PONTUAL, Roberto: Anthropophagie et/ou construction: une question de modèles, in: Aracy Amaral: Modernidade. Art brésilien du 20e siècle, Ausst.-Kat. Musée de la Ville de Paris, Paris: Ass. Francaise d'Action Artistique, 1987, S. 39-46, hier: S. 41.

96

Nach Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 stellten die Afro-Brasilianer/innen weiterhin eine entrechtete Gesellschaftsgruppe dar, da sie keine Bodenrechte zugesprochen bekamen und der Großteil als Analphabet/innen kein Wahlrecht besaß. Mit der europäischen Einwanderungswelle zwischen 1890 und 1929 wurde eine zusätzliche Europäisierung Brasiliens vollzogen. Daneben wurden von der Regierung Versuche unternommen, eine ‚farbige‘ Immigration zu verhindern. Noch 1945 war in der brasilianischen Verfassung zu lesen, dass die „Notwendigkeit“ bestünde, „bei der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung die besten Eigenschaften und ihre europäische Herkunft zu erhalten.“ FAUSS, Monica: „Tupy, or not tupy that is the question.“ Drei Gemälde Tarsila do Amarals oder: Primitivismus und Anthrophagismus in der Kunst des brasilianischen Modernismo, in: kritische berichte – Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Kromsdorf, 3/1997, S. 22-38, hier: S. 27f., 39f. Die Situation und Stellung des/r Afro-Brasilianers/in in Brasilien wird ausführlich thematisiert in: SKIDMORE, Thomas E.: Racial Ideas and Social Policy on Brazil, 1870-1940, in: Richard Graham (Hrsg.): The Idea of Race in Latin America, 1870-1940, Austin: University of Texas Press, 1990, S. 7-36.

97

Vgl. HERKENHOFF, Paulo: Color in Brazilian modernism – navigating with many compasses, in: Paulo Herkenhoff/Adriano Pedrosa (Hrsg.): XXIV Biennal de São Paulo: núcleo histórico: antropofagia e histórias de canibalismos, São Paulo: A Fundação, 1998, S. 346-355, hier: S. 349.

Das Movimento Antropófago | 69

stammen. Bei einem Vergleich mit einer solchen Holzskulptur aus dem 19. Jahrhundert (Abb. 16) werden die formalen Ähnlichkeiten anschaulich, die sowohl in der Position der Figur in Frontalansicht und Schneidersitz liegen als auch im Element der übergroßen, hängenden Brust. Die Plastik stellt als Produkt einer Verschmelzung zwischen afrikanischer und christlicher Religion in Brasilien die hybride Figur einer schwarzen Madonna dar. Do Amaral bezieht sich mit ihrem Verweis auf den Synkretismus auf das später im Movimento Antropófago ausgearbeitete Plädoyer für eine positiv gewertete Heterogenität der brasilianischen Gesellschaft. 98 Mit der Abbildung einer überdimensionierten Brust referiert do Amaral auch auf die Historie der schwarzen Ammen, welche als Sklavinnen die Kinder weißer Farmerfamilien aufzogen.99 Die Künstlerin macht somit auf die Ausbeutung der schwarzen Frau im Kolonialismus aufmerksam. Do Amaral stellt die Figur im Kontext ihrer Kolonialismuskritik jedoch nicht als Opfer dar, sondern als selbstbewusste Frau mit einem kraftvollen Körper und einem offenen Blick. Aracy Amaral kommt daher zu der Beobachtung, dass hier „erstmals eine Afro-Brasilianerin mit solchem Selbstbewusstsein und solcher Stärke ins Bild gesetzt“100 wird. Do Amaral wendet sich mit ihrer Darstellung der Negra gegen das stereotypisierte Bild der passiven, erotischen, fremden Frau in der Ikonographie der schwarzen Venus, das beispielsweise in den Gemälden Frank Buchsers aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu finden ist (Abb. 17). Dort wird der schwarze Frauenakt als exotisches Lustobjekt ausgewiesen und ist auf die Befriedigung voyeuristischer Interessen ausgerichtet.101 Mit ihrer dem Schönheitsideal widersprechenden Darstellung der schwarzen Frau nimmt do Amaral auch eine Gegenhaltung zum europäischen Primitivismus-Diskurs ein, in dem der schwarze, nackte weibliche Körper einen zentralen Topos darstellt und mit Exotik, Erotik und Eskapismus verbunden ist – ein Typus, der sich insbesondere in expressionistischen Werken, wie beispielsweise in den Gemälden Paul Gaugins, findet.102 Die Ausformulierung des Grundgedankens des anthropophagen Konzepts, der Aneignung europäischer Avantgarde und ihrer Vermischung mit lokalen Traditionen, kommt in do Amarals Gemälde bereits zum Tragen, indem, so Monika Fauss, 98

Vgl. FAUSS, 1997, S. 25.

99

Vgl. JUSTINO, Maria José: O banquete canibal: a modernidade em Tarsila do Amaral 1886-1973, Curitiba: Ed. UFPR, 2002, S. 133.

100 AMARAL, Aracy: Tarsila – sua obra e o seu tempo, São Paulo: Ed. da Universidade de São Paulo, 1975, S. 97: „Pela primeira vez apresentava-se um preto numa tela com tal destaque e força“. 101 Vgl. NOSEDA, Simonetta: Der weibliche Akt, in: Roman Hollenstein/Petra TenDoesschate Chu (Hrsg.): Frank Buchser 1828-1890, Einsiedeln: Eidolon, 1990, S. 77– 91, hier: S. 78. 102 Vgl. FAUSS, 1997, S. 26.

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„eine anthropophage und phantastische Ebene (versinnbildlicht durch die Figur selbst) und eine konstruktivistische Ebene (versinnbildlicht durch den abstrahierten Hintergrund) in einem ambivalenten Ganzen“103 verbunden sind. Dieser Interpretation schließt sich auch Maria José Justino an, indem sie konstatiert, A Negra eröffne einen Dialog zwischen Primitivismus und Moderne.104 Abbildung 17: Frank Buchser: Nackte Sklavin mit Tamburin, 1880

Dieser Dialog wird in do Amarals Pau Brasil-Phase fortgeführt, in der die Künstlerin in Analogie zu Oswald de Andrades Manifesto Pau Brasil eine Gegenüberstellung und Zusammenführung von Primitivismus und Zivilisierung bildlich vorführt mit dem Anspruch, eine brasilianische Nationalkultur zu formulieren.105 Do Amaral illustrierte de Andrades 1924 veröffentlichten Gedichtband Pau Brasil, in dem auch das gleichnamige Manifest abgedruckt war. Das Coverbild (Abb. 19a) ironisiert die brasilianische Nationalflagge, indem es deren Aufbau und Farben aufgreift, wohingegen das auf der Flagge befindliche positivistische Motto Ordem e Progresso [Ordnung und Fortschritt] durch den Titel des Buches Pau Brasil ersetzt ist. Do Amarals Umschlaggestaltung ist somit als Affront gegen die aus Europa importierte Philosophie des Positivismus zu verstehen, welchem die Gründerväter der ersten unabhängigen Republik anhingen. In Anlehnung an die in de Andrades Manifest formulierte Gegenüberstellung von Schule und Urwald setzt do Amaral der aus Europa importierten rationalen positivistischen Philosophie durch den Schriftzug Pau Brasil eine Betonung auf die mit den Begriffen Intuition und Magie verbunde-

103 Ebd., S. 35. 104 Vgl. JUSTINO, 2002, S. 133f. 105 Vgl. ebd., S. 134.

Das Movimento Antropófago | 71

ne brasilianische Natur entgegen. Eine Synthese beider Elemente formt schließlich den neuen Nationalcharakter.106 Abbildung 18: Vítor Meireles: A Primeira Missa no Brasil, 1860 Abbildung 19a/b: Tarsila do Amaral: Illustrações para Pau Brasil, 1925

Den einzelnen Kapiteln des Gedichtbandes Pau Brasil waren insgesamt zehn Tuschzeichnungen do Amarals vorangestellt, die einen intermedialen Dialog mit de Andrades Lyrik eingehen. De Andrades dekonstruktivistische Schreibpraxis manifestiert sich insbesondere innerhalb des Kapitels História do Brasil [Geschichte Brasiliens], in dem er historische Chroniken kolonialer Entdeckungsreisen von Pero Vaz de Caminha, Pêro de Magalhães Gândavo und Claude d’Abbeville ironisch durchkreuzt.107 Analog hierzu persiflieren do Amarals Zeichnungen die exotisch-

106 Vgl. BARNITZ, Jacqueline (Hrsg.): Twentieth Century Art of Latin America, Austin: University of Texas Press, 2001, S. 62. Auch fehlen in der Illustration do Amarals die auf der brasilianischen Flagge üblicherweise abgebildeten Sterne, die auf das Kreuz des Südens und die damit verbundene Kolonisierung Brasiliens verweisen. Mit dieser Aussparung verweigert sich die Künstlerin jeglicher Assoziation, die Gründung der brasilianischen Nation sei auf deren ‚Entdeckung’ durch die kolonialen Eroberer zurückzuführen. Zum Kreuz des Südens siehe S. 158 in dieser Publikation. 107 Pero Vaz de Caminha hatte an der durch Pedro Álvares Cabral geführten Reise, die im Jahr 1500 zur ‚Entdeckung‘ Brasiliens geführt hatte, teilgenommen. Er schrieb hierüber einen Brief an die portugiesische Krone, in dem der Kontakt zwischen Einheimischen

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idealisierenden Illustrationen der Zeit. Auf de Andrades „Kannibalisierung der Entdeckungstexte“108 antwortet die Künstlerin mit einer Kannibalisierung der Entdeckerbilder. Do Amarals skizzenhafte, kleinformatige Zeichnungen, die eine reduzierte Linienführung aufweisen und naiv-primitivistische Szenerien darstellen, lesen sich als parodistischer Kommentar auf großformatige Historiengemälde, in denen die Entdeckung Brasiliens in glorifizierender Weise dargestellt wird. Ein Beispiel hierfür ist das 1860 entstandene, von Vítor Meireles mit Primeira Missa no Brasil [Erste Messe in Brasilien] betitelte Gemälde, das die Kolonisatoren im Einklang mit der indigenen Bevölkerung zeigt, indem sie gemeinsam die christliche Messe feiern (Abb. 18). Die offizielle Darstellung der Kolonisierung als friedlicher Akt wird von do Amaral in ihrer de Andrades História do Brasil vorangestellten Zeichnung in ironisch zugespitzter Form aufgegriffen (Abb. 19b). Dort begegnen sich vor der idyllischen Kulisse von Zuckerhut, Vögeln und Palme eine Karavelle der Kolonisatoren und kleinere Ruderboote der lokalen Bevölkerung. 109 In den in der Folgezeit entstehenden Gemälden schafft do Amaral wiederholt idealisierte Szenerien und referiert damit auf einen Primitivismus, der im Sinne der Antropofagia aufgewertet wird. Die Gemälde aus der Zeit zwischen 1924 und 1927 zeigen an der brasilianischen Volkskultur orientierte Ausdrucksweisen und Bildthemen, wie das ländliche Leben, die Religion, tropische Landschaften und Tiere, den Karneval, Märkte oder die Favelas, die Armenviertel Brasiliens. Die anthropophage Metapher findet in do Amarals Gemälden einen Ausdruck, indem die Künstund Kolonisatoren als friedlich und herzlich beschrieben wird. Pêro de Magalhães Gândavo war ein portugiesischer Chronist, der zwischen 1558 und 1572 für den Gouverneur von Bahia arbeitete. De Andrade bezieht sich insbesondere auf Gândavos 1576 in Lissabon publiziertes Buch História da Província Santa Cruz a que vulgarmente chamamos Brasil, in dem unter anderem die indigene Bevölkerung mit dem Stereotyp der Faulheit beschrieben wird. Claude d’Abbeville war ein franziskanischer Mönch, der an der Missionierung der Indigenen in Brasilien maßgeblich beteiligt war. In seinem 1614 veröffentlichten Reisebericht entwirft er ein sexualisiertes Bild der indigenen Frauen. De Andrade entnimmt für seine Pau-Brasil-Dichtung Passagen aus den genannten Quellen, die er aus ihrem ursprünglichen Kontext isoliert und in seiner Dichtung im Sinne einer anthropophagen Geste ironisch verwertet. Vgl. NUNES, 2016 (1950), S. 77ff.; sowie BITARÃES NETTO, 2004, S. 79. 108 SCHWARTZ, Jorge: Um Brasil em tom menor: Pau-Brasil e Antropofagia, in: Revista de Crítica Literatura Latinoamericana, Medford, Jg. XXXIV, Nr. 47, 1998, S. 53-65, hier: S. 63: „canibalização dos textos da descoberta“. 109 Vgl. SCHWARTZ, Jorge: Tarsila and Oswald in the Wise Laziness of the Sun, in: Juan Manuel Bonet (Hrsg.): Tarsila do Amaral, Ausst.-Kat. Fundación Juan March, Madrid, Madrid: Editorial de Arte y Ciencia, 2009, S. 93-103, hier: S. 100f.; sowie SCHULZE, 2015, S. 66f.

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lerin die Elemente der Volkskultur und des Primitivismus mit der Malweise des Kubismus verbindet.110 So findet sich im Gemälde Carnaval em Madureira [Karneval in Madureira] von 1924 (Abb. 20) ein Bezug auf Robert Delaunay. Darin versetzt die Künstlerin den Eiffelturm als das Symbol für Frankreich in eine tropische, farbenfrohe Landschaft, in welcher afro-brasilianische Bewohner/innen einer Favela den Karneval feiern. Do Amaral verweist mit der Darstellung des Eiffelturms auf Delaunays Gemälde Tour Eiffel aux arbres von 1910 (Abb. 21), welches sie sich einverleibt und in einen neuen Zusammenhang stellt. Dadurch schafft sie dem anthropophagen Konzept entsprechend ein hybrides Kunstwerk, in dem der Einfluss der europäischen Avantgarde aufgenommen und mit autochthonen Elementen der brasilianischen Kultur verbunden wird. Primitivismus und Populärkultur werden somit in der Sprache der Moderne ausgedrückt.111 Ähnlich wie es de Andrade auf literarischem Weg vollzieht, integriert do Amaral in ihrer Malerei die aus Europa importierte Sprache der Avantgarden in die Schaffung einer spezifisch brasilianischen Kunst, wie Haroldo de Campos zusammenfasst: “Tarsila coded our environmental and human landscape in a cubist key, at the same time that she rediscovered Brazil through this selective and critical reinterpretation […]. ‚No formula for the contemporary expression of the world. Look with open eyes,‘ said Oswald de Andrade, her companion in this radical reinvention of Brazil, in the 1924 Manifesto of PauBrasil Poetry. […] Both devoured the imported techniques and reworked them in our way, under our conditions, with results that were new and ours.”112

Icleia Cattani analysiert folglich, dass do Amaral in ihren Bildern multiple Räume entwirft, die eine Synthese zweier formaler Systeme und Kulturen darstellen, womit die Künstlerin auf die Heterogenität Brasiliens verweist. 113 Auch findet sich de Andrades Vorstellung vom technisierten Barbaren in Gemälden visualisiert, welche die Stadt São Paulo darstellen. Dies zeigt sich beispielsweise im Gemälde E.F.C.B. von 1924, in dem die tropische Landschaft durch Eisenbahn und Elektrizität modernisiert ist (Abb. 22). Die Umsetzung des anthropophagen Konzepts erfolgt somit 110 Vgl. JUSTINO, 2002, S. 122, 126. 111 Vgl. ebd., S. 154. 112 De CAMPOS, Haroldo: Tarsila: A Structural Painting (1969), in: Juan Manuel Bonet (Hrsg.): Tarsila do Amaral, Ausst.-Kat. Fundación Juan March, Madrid, Madrid: Editorial de Arte y Ciencia, 2009, S. 55-57, hier: S. 265. Der Essay erschien erstmals in portugiesischer Sprache unter dem Titel Uma pintura estrutural in: O Estado de S. Paulo, São Paulo, 12/4/1969. 113 CATTANI, Icleia: Les lieux incertains ou l’apprentissage de la modernité de Tarsila do Amaral, in: Éliane Chiron (Hrsg.): L’incertain dans l’art, Paris: Cérap, 1998, S. 13-34, hier: S. 25.

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durch eine Verschmelzung von Gegensätzen in den Gemälden, wie den Begriffspaaren barbarisch und zivilisiert, Volkskultur und hohe Kunst, kosmopolitisch und national, Mythos und Realität.114 Abbildung 20: Tarsila do Amaral: Carnaval em Madureira, 1924 Abbildung 21: Robert Delaunay: Tour Eiffel aux arbres, 1910

Abbildung 22: Tarsila do Amaral: E.F.C.B., 1924 Abbildung 23: Fernand Léger: La Ville, 1919

114 Vgl. MILLIET, Maria Alice: Tarsila do Amaral e Di Cavalcanti: mito e realidade no modernismo brasileiro, Ausst.-Kat. Museu de Arte Moderna de São Paulo, São Paulo: mam, 2002, S. 173.

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Do Amaral vollzieht eine Synthese zwischen alten und neuen Elementen, indem Maschinen, Elektrizität und Geschwindigkeit neben traditionellen Festen, Zeremonien, Tieren und Mythen koexistieren, wodurch eine brasilianische Identität in einer universalen Sprache geschaffen wird.115 Auch der Einfluss ihres Pariser Lehrers Fernand Léger ist in do Amarals Gemälde klar zu erkennen. Ein Vergleich mit Légers Gemälde La Ville von 1919 (Abb. 23) zeigt anschaulich die Analogien in Bezug auf Linienführung, Formen und Farbigkeit. Insbesondere die runden Volumen der abgebildeten Körper erinnern an die zylindrischen, maschinenhaften Formen in Légers Werken.116 Das bereits in der Pau-Brasil-Phase begonnene Projekt der Ausarbeitung eines anthropophagen Bildprogramms gelangt in der anschließenden Antropofagia-Phase schließlich zur vollen Umsetzung, in der in erster Linie eine Hinwendung zum Surrealismus offenkundig wird. Die zwischen den Jahren 1928 und 1930 entstandenen Gemälde zeigen traumartige Landschaften und Figuren, die bis zur Unförmigkeit verzerrt sind. Das Gemälde Abaporú von 1928 (Abb. 24) bedeutet in der Sprache der Tupinambá Anthropophage und wurde namensgebend für de Andrades Manifest.117 Es zeigt eine Figur, die in sitzender Seitenansicht dargestellt ist. Ihr rechter Arm und ihr rechtes Bein sind übermäßig verlängt, wozu der kleine Kopf im Kontrast steht, der auf dem aufgestützten linken Arm ruht. Der Titel gibt an, dass es sich um einen Indigenen handelt, den do Amaral in einer tropischen Natur, vor einem Kaktus platziert. Den Hintergrund bildet ein strahlend blauer Himmel, an dem sich eine zum Bild einer aufgeschnittenen Orange stilisierte Sonne befindet. 115 Vgl. JUSTINO, 2002, S. 126f. 116 Vgl. SCHØLLHAMMER, Karl Erik: A Imagem Canibalizada: A Antropofagia na Pintura de Tarsila do Amaral, in: João de Castro Rocha/Jorge Ruffinelli (Hrsg.): Antropofagia Hoje? Oswald de Andrade em Cena, São Paulo: Realizações Ed., 2011, S. 267-279, hier: S. 277. 117 Der Titel setzt sich durch eine Kombination zweier Worte aus dem Guaraní zusammen, Aba [Mann] und Porú [der isst], und geht auf eine Nennung von Oswald de Andrade und Raul Bopp zurück. So resümiert do Amaral über ihr Werk im Zusammenhang mit der Entstehung der Antropofagia: „[…] the movement originated with a painting of mine that Oswald de Andrade and Raul Bopp baptized with the name Antropófago, which was later translated as Abaporú […]. […] That monstrous figure of enormous feet planted on the Brazilian soil, beside a cactus, suggested to Oswald de Andrade the idea of the earth, the native, wild, the cannibal man, and from there emerged the movement created by him […].“ DO AMARAL, Tarsila: Still the “Week” (1943), in: Juan Manuel Bonet (Hrsg.): Tarsila do Amaral, Ausst.-Kat. Fundación Juan March, Madrid, Madrid: Editorial de Artey Ciencia, 2009, S. 41-43, hier: S. 43. Der Artikel wurde erstmals in portugiesischer Sprache publiziert in: Diário de São Paulo, São Paulo, 28. Juli 1943.

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Die Künstlerin konstruiert somit eine ironisch übersteigerte Form von Exotik, die sie auf Europa zurückwirft. Die Antropofagia beinhaltet, wie Carlos Rincón ausführt, eine „Selbstkritik der künstlerischen Repräsentationen der brasilianischen Identität mittels einer parodistischen und radikalen Autoexotisierung,“ 118 welche do Amaral in ihren Gemälden exemplifiziert. Abbildung 24: Tarsila do Amaral: Abaporú, 1928 Abbildung 25: Oswald de Andrade: Manifesto Antropófago, 1928

Zugleich lassen die lose an den Körper angelegten Arme Assoziationen an abgetrennte Gliedmaßen aufkommen, wie sie in der eurozentrischen Bildsprache zur Darstellung des brasilianischen Kannibalismus gängig sind. Die enge Verbindung von do Amarals Werk mit den Inhalten der Antropofagia wird insbesondere durch den Umstand ersichtlich, dass die Originalfassung des Manifests zusammen mit einer unbetitelten Zeichnung do Amarals veröffentlicht wurde, die eine Variante des Gemäldes darstellt (Abb. 25). Do Amarals Illustration war auf der ersten Seite des Manifests zentral abgebildet, wodurch eine intermediale Verknüpfung zwischen Text und Bild hergestellt wurde.119 Der Bezug auf den Primitivismus kommt im Bild durch die Naturverbundenheit der Figur zum Ausdruck, die mit einer Betonung auf dem Irrationalen, dem Instinkt und der Magie einhergeht. Dies ist im Sinne der Antropofagia als dekolonisierende 118 RINCÓN, 2001, S. 551: „autocrítica das representações artísticas da identidade brasileira, mediante uma paródica e radical autoexotização“. 119 Vgl. SCHULZE, 2015, S. 12ff.

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Strategie zu verstehen, indem die Künstlerin die im Manifesto Antropófago formulierte Vorstellung visualisiert, die Kolonisierung Brasiliens sei in erster Linie durch ein Aufzwingen des europäischen rationalen Denkens vollzogen worden. Analog hierzu schreibt de Andrade in seinem Manifest, die Brasilianer/innen hätten stets eine surrealistische Sprache beherrscht, und stellt eine Gemeinsamkeit zwischen der Anthropophagie und dem Surrealismus heraus, die in dem Potenzial der Befreiung von Instinkten liege.120 Do Amarals Wahl einer surrealistischen Malweise entspricht in diesem Kontext der Andradschen Legitimierung der Anthropophagie im Sinne eines postkolonialen Befreiungsakts.121 Dementsprechend wird der winzige Kopf als Ausdruck einer Minimierung des Intellekts und der Logik interpretiert, wobei der überdimensionale, fest auf der Erde stehende Fuß der Figur auf das Konzept der festen Verwurzelung in der brasilianischen Erde verweisen soll.122 Der Emanzipationsprozess aus einer Situation der Unterdrückung wird von do Amaral unter Bezug auf den Surrealismus und auf die Thesen Sigmund Freuds auch durch die Proklamation einer sexuellen Befreiung fortgeführt. So beinhaltet Abaporú phallische Referenzen in den Formen des Beines und des Armes.123 Die so im Bild formulierte Abkehr vom Primat des Intellekts wird von do Amaral jedoch auch irritiert, indem sie die Figur in einer klassischen Denkerpose darstellt. 124 Im Sinne de Andrades 120 Im Manifesto Antropófago heißt es: „Wir hatten schon den Kommunismus. Wir hatten schon die surrealistische Sprache. Das Goldene Zeitalter.“ und an anderer Stelle: „Nur die reinen Eliten vermochten es jedoch, die fleischliche Anthropophagie zu verwirklichen, die den höchsten Sinn des Lebens in sich trägt und all die von Freud identifizierten Übel, die katechistischen Übel, meidet. Was sich darin vollzieht, ist keine Sublimierung des Sexualtriebs. Es ist die thermometrische Skala des anthropohagen Instinkts.“ De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang. 121 Vgl. SULLIVAN, Edward J. (Hrsg.): Brazil. Body and Soul, Ausst.-Kat. Guggenheim Museum, New York, New York: Publications U.S., 2003, S. 385. 122 Auch Mário de Andrades referiert in seinem Roman Macunaíma auf den Primitivismus, der im brasilianischen Dschungel verortet wird, was eine enge Verbundenheit der Menschen zum Kosmos versinnbildlicht. Vgl. BARNITZ, 2001, S. 62. 123 Die phallischen Formen in Abaporú werden von Sonia Salzstein als eine Referenz auf Constantin Brancusis Skulptur Princess X gesehen, in der er sich auf die volkstümliche Kunst des indigenen Volkes der Papua in Neu-Guinea bezieht. Vgl. SALZSTEIN, Sonia: Tarsila’s audacity, in: Paulo Herkenhoff/Adriano Pedrosa (Hrsg.): XXIV Biennal de São Paulo: núcleo histórico: antropofagia e histórias de canibalismos, São Paulo: A Fundação, 1998, S. 364-371, hier: S. 367. 124 Vgl. BADER, Lena: Hunger nach anderen Anderen. Antropofagia oder die Lust am Verschlingen der Bilder, in: Andreas Beyer/Dario Gamboni (Hrsg.): Poiesis. Über das Tun in der Kunst, Passagen/Passages Bd. 42, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag, 2014, S. 255–273, hier: S. 261.

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vollzieht do Amaral somit erneut eine Verbindung der Gegensatzpaare von Schule und Urwald. Abbildung 26: Tarsila do Amaral: Antropofagia, 1929

Das ein Jahr später entstandene Gemälde Antropofagia (Abb. 26) vereint die einzelnen Figuren aus Abaporú und A Negra,125 die mit ineinander verschränkten Beinen vor einer mit Kakteen und Palmen bewachsenen Landschaft dargestellt sind. Antropofagia enthält die in Bezug auf Abaporú genannten Elemente, wobei hier der Aspekt der Sexualität stärker ins Bild gesetzt ist. Indem das Paar nahezu zu einer Person verschmolzen ist, werden Assoziationen zu Fruchtbarkeit und Erotik gefördert. Zudem kommt in der Abbildung der männlich und weiblich konnotierten Figuren, die in harmonischer Verbundenheit sowohl miteinander als auch zur Natur dargestellt sind, do Amarals Bezug auf einen primitiven, glücklichen Naturzustand verstärkt zum Tragen, indem Referenzen auf die paradiesische Geschichte von Adam und Eva evident werden.126 Auch in der kräftigen Farbigkeit findet sich ein Rückbezug auf prämoderne, folkloristische Traditionen, welcher eine Befreiung von den aufgezwungenen Wertvorstellungen der akademischen Malweise beinhaltet. Die Künstlerin beschreibt diese Werkentwicklung mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen als eine Rückkehr zu einem ursprünglichen harmonischen Zustand: “In Minas I found the colors that I had adored as a child. Afterwards they taught me that they were ugly and provincial. I followed the dull routine of refined taste. But later I avenged myself for that oppression, introducing them in my paintings: very pure blue, violet pink, bright yellow, shrill green, and all in gradiations of varying strength, depending on the admix-

125 Vgl. JUSTINO, 2002, S. 163. 126 Vgl. FAUSS, 1997, S. 33.

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ture of white. Above all, clean painting, without fear of conventional canons. Freedom and sincerity.”127

Die der brasilianischen Barockkunst entlehnten Farben werden in do Amarals Gemälden weiterhin als spezifisch brasilianisch ausgewiesen.128 In Minas Gerais mit seinen barocken Bauten, die durch eine hybride Ästhetik geprägt sind, sieht die Künstlerin einen autochthonen, nationalen Ausdruck manifestiert, auf dessen Suche sie sich 1924 durch Expeditionen ins Landesinnere, gemeinsam mit den Mitgliedern der anthropophagen Gruppe, begeben hatte:129 “The contact with the land, filled with tradition, the paintings in churches and houses in those essentially Brazilian small towns – Ouro Preto, Sabará – awakened in me a feeling of Brazilianity.”130

Dem brasilianischen Barock kam im Modernismo eine zentrale Funktion in der Konstruktion einer spezifisch brasilianischen kulturellen Identität und Ästhetik zu.131 So entwickelte Mário de Andrade auf Basis des barocco mineiro [barocker Minenarbeiter] sein Konzept einer nationalen Kunst. Gerade in der Hybridität der barocken Architektur manifestiere sich der brasilianische Nationalcharakter, so de Andrade. Insbesondere die Barockbauten des Architekten Aleijadinho 132 in Ouro Preto dienten den Antropófagos als Referenz und Ausdruck einer Brasilidade, 127 Do AMARAL, 2000 (1939), S. 587. 128 Vgl. FAUSS, Monika: Inkorporierung und Auflösung. Der Anthropophagismus als Kulturtechnik und Identitätsmodell in der Kunst Tarsila do Amarals, in: Herbert Uerlings/Karl Hölz/Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hrsg.): Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin: Erich Schmidt, 2001, S. 259-271, hier: S. 262. 129 Vgl. FAUSS, 1997, S. 30. 130 Do AMARAL, 2000 (1939), S. 587. 131 Vgl. BAUMGARTEN, Jens/TAVARES, André: O Barocco colonizador: a produção historiográfico-artística no Brasil e suas principais orientações teóricas, in: Perspective [En ligne], Versions originales, mis en ligne le 30 septembre 2014, URL: http://per spective.revues.org/5538 (Zugriff: 12.06.2015), o. Seitenangabe. 132 Aleijadinho gilt als bedeutendster Architekt und Bildhauer des brasilianischen Barock. Er wurde 1738 unter dem Namen Antônio Francisco Lisboa in Vila Rica, dem heutigen Ouro Preto, als Sohn eines portugiesischen Architekten und einer Sklavin geboren. Aleijadinho prägte den Stil des barocco mineiro mit seinem Wirken. Zahlreiche seiner Bauten sind in Minas Gerais heute noch erhalten. Vgl. LEMOS, Maria Alzira Brum: Aleijadinho: homem barroco, artista brasileiro, Rio de Janeiro: Garamond, Fundação Biblioteca Nacional, 2008, S. 33ff., 39ff.

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indem sie grundlegend durch eine transkulturelle Ästhetik geprägt waren. 133 Entsprechend ist do Amarals Verständnis einer brasilianischen Nationalität mit Universalität gepaart. Monika Fauss sieht in do Amarals Gemälden das Identitätsmodell der Antropofagia umgesetzt, wenn sie schreibt: „Vor allem die ausufernden Körperformen der Figuren Tarsila do Amarals, ihre Maß- und Formlosigkeit, stehen nicht nur für sich auflösende menschliche Körpergrenzen, sondern können als Auflösung von persönlichen Identitäten und Setzungen des Eigenen gedeutet werden.“134

Die als indigen und afrikanisch konnotierten Figuren im Gemälde Antropofagia verschmelzen zu einer gemeinsamen Identität, die als hybrid und fluid begriffen wird. Damit werden auch die mit den Konstrukten Eigen und Fremd verbundenen Hierarchien im malerischen Akt symbolisch aufgelöst.135

AUSGEWÄHLTE KÜNSTLER DER SEMANA DE ARTE MODERNA Eine Auseinandersetzung mit dem von Oswald de Andrade und Tarsila do Amaral ausgearbeiteten anthropophagen Programm fand im brasilianischen Modernismus in einer Vielzahl von Werken bildender Künstler/innen statt. Insbesondere diejenigen Künstler/innen, die bereits in der Semana de Arte Moderna mit einer Ausstellung beteiligt waren, versuchten in der Folge, die hiervon ausgehenden Modernisierungstendenzen in ihrer Kunst umzusetzen. So beschäftigten sich die Maler Vicente do Rego Monteiro, Emiliano Di Cavalcanti, Lasar Segall und Flávio de Carvalho mit Strategien der Einverleibung, mit denen sie eine Erneuerung anstrebten.136 Wie do Amaral hatten sich diese modernistischen Künstler durch Studienaufenthalte in Europa europäische Kunstströmungen der Avantgarde angeeignet. Insbesondere die Malerei des Kubismus, Surrealismus und Expressionismus wurde nun in Bezug auf die Inhalte der Antropofagia mit vorkolonialen, traditionellen Elementen ihres Landes verbunden.

133 Vgl. de ANDRADE, Mário: Aleijadinho: posição histórica (1928), in: Ders.: Aspectos das Artes Plásticas no Brasil, Belo Horizonte: Ed. Itatiaia, 1984, S. 13-46, hier: S. 13ff. Der Aufsatz wurde erstmals publiziert in: O Jornal, Rio de Janeiro, edição especial sobre MG, 1928. 134 FAUSS, 2001, S. 265. 135 Vgl. ebd., S. 265f. 136 Vgl. HERKENHOFF/PEDROSA, 1998, S. 364.

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Abbildung 27: Vicente do Rego Monteiro: O menino em tartaruga com cabeça humana, 1924 Abbildung 28: Vicente do Rego Monteiro: A adoração dos Reis Magos, 1925 Abbildung 29: Vicente do Rego Monteiro: Maternidade Indígena, 1924

In ihrer Auseinandersetzung mit de Andrades Manifesto Antropófago finden sich in den Werken der genannten Künstler dieselben Versatzstücke wie in der Malerei do Amarals. So sind durchgängig eine Hinwendung zum Indigenen und ein Bezug auf den Urwald anzutreffen, um das Projekt der kulturellen Emanzipation voranzutreiben. Die Gemälde und Zeichnungen Vicente do Rego Monteiros basieren auf indigenen Legenden und einer Übernahme nativer Ausdrucksformen aus der Kunst des Amazonas, womit der Künstler einen nationalen Standpunkt formuliert und eine Verbindung von Volkskultur und hoher Kunst vollzieht.137 Seine Arbeit O menino em tartaruga com cabeça humana [Stammesfürst platziert auf einem menschlichen Schildkrötenpanzer] von 1924 (Abb. 27), in der er einen kindlichen Stammesfürsten ins Bild setzt, geht auf die direkte Vorlage einer aus dem Amazonasgebiet Santarém stammenden Begräbnisurne aus Keramik zurück.138 Im Sinne der Antropofagia ist do Rego Monteiros Nationalismus mit Universalismus gepaart, indem sich in seinen Bildern eine Vermischung verschiedener Kultureinflüsse findet. So stellt der

137 Vgl. GUARNIERI ATIK, Maria Luiza: Vicente do Rego Monteiro. Um brasileiro da França, São Paulo: Editora Mackenzie, 2004, S. 116ff. 138 Vgl. HERKENHOFF/PEDROSA, 1998, S. 364.

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Synkretismus Brasiliens das Leitthema seiner Kunst dar: Der Maler greift vielfach auf klassische Szenen der christlichen Ikonographie zurück, die er mit indigenen Ausdrucksweisen zur Darstellung bringt. Sein Gemälde A adoração dos Reis Magos [Anbetung der heiligen drei Könige] von 1925 (Abb. 28) zeigt monumentale, starre Figuren, die in Farbe, Volumen und Form auf die Keramik des Amazonas Bezug nehmen wie auch auf die Reduktion der kubistischen Formensprache. 139 Die Darstellung der im Bildzentrum befindlichen Maria mit dem auf ihrem Schoß sitzenden Jesuskind geht auf ein früheres Gemälde zurück, in dem do Monteiro eine indigene Frau zu einer christlichen Heiligen erhob und sie unter Referenz auf das Motiv einer Madonna mit Kind abbildete (Abb. 29). Das Motiv des Karnevals, mit dem eine Hinwendung zur heterogenen Volkskultur Brasiliens einhergeht, stellt analog zur Präsenz in do Amarals Werk ebenfalls ein zentrales Bildthema in den Gemälden Emiliano Di Cavalcantis dar. So zeigt sein Werk Samba von 1928 den Karneval von Rio de Janeiro, womit er Bezug auf die in de Andrades Manifesto Da Poesia Pau Brasil gefeierte Heterogenität Brasiliens nimmt (Abb. 30). Das Werk zeigt mestizische und afro-brasilianische Bewohner/innen einer Favela beim Tanz und Musizieren. Einen wichtigen Stellenwert nimmt die mestizische Frau im Werk Di Cavalcantis ein, die in Samba prominent ins Bildzentrum gerückt ist und durch einen offenen Blick Selbstbewusstsein verkörpert.140 In einer weiteren Arbeit, die den Karneval thematisiert, sind die Hautfarben der Dargestellten nicht mehr zu erkennen, da sie unter der buntfarbenen Bemalung auf den Gesichtern der Maskierten verborgen bleiben (Abb. 31). Das Gemälde stellt den Karneval als farbenfrohes Fest dar, welches alle Kulturen integriert. Oswald de Andrade bezieht sich in seinen Schriften wiederholt auf die Malerei Di Cavalcantis. Seine kubistische Malweise, die sich insbesondere durch eine anthropophage Aufnahme der Werke Pablo Picassos und Georges Braques auszeichnet, wird von de Andrade als ein Befreiungsschlag von „der imitierenden Kunst der Museen“ verstanden, wodurch das modernistische Projekt „einer wahrhaft brasilianischen und aktuellen Malerei“141 vorantgetrieben wird. 139 Vgl. BARNITZ, 2001, S. 63. 140 Vgl. MILLIET, 2002, S. 172; sowie ZÍLIO, Carlos: A Querela do Brasil: a Questão da Identidade da Arte Brasileira: a Obra de Tarsila, Di Cavalcanti e Portinari - 1922-1945, Rio de Janeiro: MEC, Ed. Funarte, 1982, S. 86. 141 De ANDRADE, Oswald: O Esforço Intelectual do Brasil Contemporâneo (1923), in: Ders.: Estética e Política. Obras Completas, Bd. 16, São Paulo: Globo, 1992 (1950), S. 29-38, hier: S. 38: „arte imitadora dos museus“, „uma pintura realmente brasileira e atual“. Der Artikel entstand anlässlich einer Konferenz an der Sorbonne im Jahr 1923 und wurde erstmals in französischer Sprache veröffentlicht in: Revue de l’Amerique Latine 2, Paris, Nr. 5, 1923, S. 197-207. De Andrades Statement bezieht sich ebenfalls auf die Malerei Tarsila do Amarals und Vicente do Rego Monteiros.

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Abbildung 30: Emiliano Di Cavalcanti: Samba, 1928 Abbildung 31: Emiliano Di Cavalcanti: Carnaval, 1924

Abbildung 32: Lasar Segall: Bananal, 1927 Abbildung 33: Flávio de Carvalho: A inferioridade de deus, 1931

Die Darstellung von Afro-Brasilianer/innen findet sich auch im Werk des aus Litauen stammenden Lasar Segall, der 1923 nach Brasilien emigrierte und im darauf folgenden Jahr brasilianischer Staatsbürger wurde.142 Segall verbindet in seinen Bildern den deutschen Expressionismus mit einer brasilianischen Thematik, womit er nach Mário de Andrade eine gelungene Umsetzung des anthropophagen Projekts erreicht, zugleich modern wie national zu sein.143 Eine Kolonialismuskritik, ver142 Lasar Segall hatte in Deutschland und Russland studiert und war Mitglied der Dresdner Sezession und der Brücke. Der Künstler hatte erstmals 1913 eine Einzelausstellung in São Paulo, die bereits als entscheidender Schritt zum Modernismus gewertet wird. Vgl. AMARAL, 1992, S. 38. 143 Vgl. SCHWARTZ, 2000, S. 536.

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bunden mit der Formulierung einer brasilianischen Identität, findet sich in Segalls Gemälde Bananal [Bananenfeld] von 1927 (Abb. 32). Darin erscheint das Gesicht eines Sklaven zwischen grünen, blauen und gelben Bananenpflanzen. Segall referiert mit den in den Farben der brasilianischen Nationalflagge gehaltenen Bananenblättern, in ähnlicher Form wie es bereits von do Amaral in der Gestaltung des Coverbildes zu de Andrades Pau Brasil-Band formuliert wurde, auf einen neu verstandenen Nationalismus, in dem die afro-brasilianische Kultur einen festen Platz einnimmt. Gleichzeitig evoziert das Bild des in den dicht stehenden Pflanzen eingeschlossenen Körpers das Gefühl einer Gefangenschaft, womit der Künstler auf die koloniale Vergangenheit der Afro-Brasilianer/innen als Sklav/innen verweist. 144 Segall thematisiert die Ausbeutung der schwarzen Arbeitskraft und der brasilianischen Ressourcen im Zeitalter des Kolonialismus, wofür die Bananenplantage symbolhaft steht.145 Im Werk von Flávio de Carvalho findet sich eine direkte Auseinandersetzung mit Anthropophagie in Bezug auf den Surrealismus und Freuds Überlegungen zum Kannibalismus, womit Aspekte berührt werden, die ebenfalls in de Andrades Manifest sowie in do Amarals Antropofagia-Phase zentral sind. De Carvalhos Gemälde beinhalten eine verschlüsselte Bildsprache, welche einen Bezug auf die psychoanalytischen Konzepte von Tabu, Sublimation und Kastration in sich birgt. De Carvalhos Bezug auf die Anthropophagie stellt eine Kritik am Patriarchat und an der christlichen Religion dar, was im Kontext der Antropofagia als Kritik an europäischer Hegemonie im Bereich der Kultur interpretiert werden kann. Das Gemälde A inferioridade de deus [Gottes Minderwertigkeit] von 1931 thematisiert die Kastration des Gottes der patriarchalen Gesellschaft, im Bild dargestellt durch ein rotes Oval, welche ein anthropophages Mahl beinhaltet (Abb. 33). Durch diesen kannibalischen Akt wird im Freudschen Sinne eine Vereinigung mit dem Vater vollzogen, was durch den angedeuteten Übertritt einer Figur von der linken in die durch eine vertikale Linie abgeteilte rechte Bildseite suggeriert wird.146 144 Vgl. AGUILAR, Nelson: Mostra do Redescobrimento: Arte Moderna, Ausst.-Kat. Bien al de São Paulo, São Paulo: Associação Brasil 500 Anos Artes Visuais, 2000, S. 39; sowie BARNITZ, 2001, S. 62. 145 Vgl. HERKENHOFF/PEDROSA, 1998, S. 352. 146 Vgl. ebd., S. 354f. Neben seiner malerischen Praxis war de Carvalho auch als Architekt tätig. 1930 repräsentierte er das Movimento Antropófago auf dem vierten Pan American Congress of Architecture in Rio de Janeiro. Dort stellte er seine urbane Utopie A cidade do homem nu [Die Stadt der nackten Männer] vor, welche ein Leben imaginierte, das die Menschen von jeglichen christlichen Tabus entledigte. De Carvalhos Modell sah eine aus konzentrischen Kreisen aufgebaute Stadt vor, in der ein allen Bewohner/innen zugängliches Forschungszentrum die alleinige Form von Autorität darstellte. De Carvalho gestaltete zudem das Coverbild der ersten Ausgabe von Raul Bopps Cobra

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Die exemplarisch vorgestellten malerischen Positionen des Modernismus verdeutlichen das enge Zusammenwirken von Literatur und Malerei bei der Entstehung der Antropofagia.147 Das Ende des Modernismus, der mit der Semana von 1922 seinen Anfang genommen hatte, wurde durch den Machtantritt von Getúlio Vargas im Jahr 1930 eingeläutet. Der Präsident rief 1937 den diktatorischen Estado Novo, den Neuen Staat, aus, der sich in vielen Punkten an den faschistischen Regimen in Europa orientierte. Das im Movimento Antropófago entwickelte Konzept der gegenseitigen Kulturbeeinflussung stand daher im Kontrast zu den Ideologien der neuen Regierung, sodass die modernistischen Künstler/innen keine Ausstellungsmöglichkeit bekamen und sich zum Teil im Untergrund zusammenfanden. 148

Norato von 1931, wodurch seine Beteiligung am Movimento Antropófago deutlich wird. Vgl. MOREIRA LEITE, Rui: Flávio de Carvalho: Suggestões de Leitura, in: Ders. (Hrsg.): Flávio de Carvalho, Ausst.-Kat. Museu de Arte Moderna de São Paulo, São Paulo: mam, 2010, S. 24-33, hier: S. 26. 147 Vgl. SCHØLLHAMMER, 2011, S. 267f. 148 Vgl. BERNECKER/PIETSCHMANN/ZOLLER, 2006, S. 243; sowie BARNITZ, 2001, S. 63f.

Die Bewegung des Tropicalismo

Rund vierzig Jahre nach de Andrades Manifesto Antropófago entwarf der Künstler Hélio Oiticica sein Konzept der Tropicália, in dem er die anthropophagen Ideen des Modernismo wieder aufgriff und ihnen zu neuer Aktualität verhalf. Tropicália wurde namensstiftend für eine musik-, kunst-, literatur- und theaterübergreifende Bewegung, die das anthropophage Konzept in die Zeit zwischen 1967 und 1972 übersetzte und in neuen Kunstformen ausdrückte.1 In der Wiederaufnahme der Inhalte des Movimento Antropófago manifestierte sich eine politische Strategie, gegen die seit drei Jahren bestehende Militärdiktatur Stellung zu beziehen und sich damit auch gegen die neo-kolonialen Absichten von Ländern, wie insbesondere den USA, zu wenden, die diese Regierung massiv unterstützten. Im kapitalistischen Produktionssystem, welches sich in den 1950er und 1960er Jahren in Brasilien zu etablieren begann, wurde ein Fortbestehen hegemonialer Ausbeutungsmechanismen beobachtet, wogegen Tropicália eine Gegenhaltung einnehmen wollte.2 Unter diesen Bedingungen wurde erneut die Bestimmung einer selbstbewussten, postkolonialen Identität Brasiliens gefordert. Der Tropicalismo wollte eine brasilianische Avantgarde artikulieren, die das Projekt einer nationalen Identität vorantreiben sollte und den Stellenwert der brasilianischen Kultur im internationalen Kontext kritisch zu reflektieren vermochte.3 Oiticica präsentierte sein tropikalistisches Konzept in der Ausstellung Nova Objetividade Brasileira [Neue Brasilianische Objektivität], die 1967 im Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro stattfand. Darin wurde der Versuch unternommen, die Eigenständigkeit der brasilianischen Kunst in Bezug auf die tonangebenden internationalen Kunstrichtungen der Pop- und Op-Art, des Nouveau Réalisme und

1 2

Vgl. BASUALDO, 2005, S. 11. Vgl. BUCHMANN, Sabeth: Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica, Berlin: b_books, 2007, S. 238f.

3

Vgl. BASUALDO, 2005, S. 12f.

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des Hard Edge herauszustellen.4 In dem von Oiticica zur Ausstellung verfassten Katalogtext findet sich ein dezidierter Bezug auf de Andrades Konzept der kulturellen Anthropophagie: „Für uns hier bedeutet das Unterentwickeltsein auf gesellschaftlicher Ebene auch die kulturelle Suche nach einer nationalen Charakteristik, die sich auf spezifische Weise, im Sinne dieser ersten Prämisse, also in Bezug auf den konstruktiven Willen, umsetzen lässt. […] Die Antropofagia ist unsere Art, uns gegen jenen beherrschenden Einfluss von außen zur Wehr zu setzen, und der konstruktive Wille dazu ist unser wichtigstes schöpferisches Rüstzeug. Nichtsdestotrotz konnten wir auch damit nicht jene Art des kulturellen Kolonialismus verhindern, den wir heute auf objektive Weise abschaffen wollen, für immer aufgesogen von einer Meta-Antropofagia. Daraus entsteht die grundlegende Notwendigkeit einer Neuen Objektivität: die Suche nach unseren besonderen Eigenschaften […], die Objektivierung eines allgemeinen schöpferischen Zustands, den wir brasilianische Avantgarde nennen können, eine kulturelle Festigung […].“5

Oiticica realisierte in dieser Ausstellung seine Installation Tropicália, die er in seinem ein Jahr später entstandenen, gleichnamigen Text als „das anthropophagischste Werk der brasilianischen Kunst“ bezeichnet, da es den „bewussten Versuch“ darstelle, ein „Bild dessen, was brasilianisch ist, in den Kontext der aktuellen Avantgarde und generell der nationalen Kunst einzuführen.“ 6 Die Installation ist ein Environment, welches aus aufgeschüttetem Sand und Kies, tropischen Pflanzen, einem Käfig mit zwei Papageien und zwei zentralen Hütten besteht (Abb. 34). Diese unterschiedlich großen Penetráveis7 sind aus stoffbespannten Holzrahmen errichtet und referieren auf die Bauweise der Behausungen in den Favelas. Die 4

Vgl. OITICICA, Hélio: Schematischer Überblick über die Neue Objektivität (1967), in: Susanne Gaensheimer/Peter Gorschlüter/Max Jorge Hinderer Cruz/César Oiticica Filho (Hrsg.): Hélio Oiticica. Das große Labyrinth, Ausst.-Kat. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Ostfildern: Hatje Cantz, 2013, S. 179-215, hier: S. 179. Der Originaltext erschien 1967 unter dem Titel Esquema Geral da Nova Objetividade in dem von Aracy Amaral herausgegebenen Katalog Nova Objetividade Brasileira zur gleichnamigen Ausstellung im Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro.

5 6

Ebd., S. 180f. OITICICA, Hélio: Tropicália (1968), in: Susanne Gaensheimer/Peter Gorschlüter/Max Jorge Hinderer Cruz/César Oiticica Filho (Hrsg.): Hélio Oiticica. Das große Labyrinth, Ausst.-Kat. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Ostfildern: Hatje Cantz, 2013, S. 227-231, hier: S. 227, 229. Der Text wurde erstmals unter dem Titel Tropicália veröffentlicht in: Folha de São Paulo, Folhetim, São Paulo, 08.01.1984.

7

Penetrável bedeutet in der Übersetzung Durchdringung, was eine Anspielung auf de Andrades Konzept der Einverleibung darstellt.

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Ausstellungsbesucher/innen treten in die einzelnen Penetráveis ein, in denen sie mehrere Räume durchlaufen und so sensorische Erfahrungen erleben. Entsprechend sind die Böden der Hütten mit unterschiedlichen Materialien wie Sand, Kies oder Teppich belegt, die den Rezipient/innen durch das Betreten taktil vermittelt werden. Zudem können verschiedene, in Plastiksäcke gefüllte Materialien wie Sand, Erde oder Stroh erfühlt werden, welche an den Wänden der Hütten angebracht sind. Im zweiten Penetrável eröffnet sich für die Besucher/innen eine labyrinthartige Situation, in der Dunkelheit herrscht. Ein Fernsehgerät am Ende des Ganges fungiert darin als einzige Lichtquelle und sendet ein Geräusch aus. 8 Der Künstler intendiert hierdurch eine Wahrnehmungserfahrung, die in den Rezipient/innen das Gefühl evozieren soll, vom Kunstwerk „verschlungen“9 zu werden. Abbildung 34: Hélio Oiticica: Tropicália, 1967/2000

Durch die Verwendung lokalspezifischer Elemente wie Pflanzen, Stoffmuster und Papageien schafft Oiticica eine tropische Szenerie, die er auf einen nationaltypischen Kontext hin formuliert. Damit überträgt er die stilisierten tropischen Landschaften in den Gemälden Tarsila do Amarals in ein dreidimensionales Projekt und reflektiert eine „Dritte Welt-Ästhetik.“10 Ähnlich wie die modernistische Malerin spiegelt Oiticica den Blick westlicher Industrienationen auf die aus deren Perspektive exotische Kultur Brasiliens zurück und bezieht gegen hierarchisch gedachte

8

Vgl. BREITWIESER, Sabine (Hrsg.): vivências, Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien, Köln: König, 2000, S. 19.

9

OITICICA, 2013 (1968), S. 228.

10

BARNITZ, 2001, S. 226: „Third World aesthetic“.

90 | Strategien der Einverleibung

Vorstellungen von Zentrum und Peripherie Stellung.11 Durch die Integration des Fernsehers in seinem Environment nimmt der Künstler eine kritische Stellung zur Rolle der neuen Massenmedien ein, die das Bild eines folkloristisch verkitschten Brasiliens erheblich mitbestimmen und von der Militärregierung als Propagandamittel genutzt wurden.12 Oiticicas Adaption der Andradschen Programmatik einer Vermischung heterogener Substanzen erfolgt in der Installation durch die Überlagerung verschiedenster Darstellungsmittel. So enthält Tropicália einen Bezug auf den Konstruktivismus, indem die geometrische Struktur des labyrinthartigen Penetrável einen Verweis auf Mondrian beinhaltet,13 der von Oiticica mit der „organischen Architektur“ 14 der Favelas verbunden wird. Ebenso gehen die auf den brasilianischen Alltag verweisenden, lokalspezifischen Elemente mit dem Fernsehgerät als Symbol des technologischen Fortschritts eine Verbindung ein. Oiticica plädiert für eine kulturelle Hybridität, die in einer Aufhebung der Grenzen zwischen Alltag und Kunst sowie europäischer Avantgarde und brasilianischer Volkstümlichkeit in der Installation zum Ausdruck kommt.15 Dementsprechend findet sich auf einem der beiden Penetráveis die Inschrift A pureza é um mito [Reinheit ist ein Mythos]. In seinem Text zu Tropicália fordert Oiticica eine Einverleibung westlicher Kulturelemente im Zuge einer Emanzipationsgeste: „In Wirklichkeit wollte ich mit Tropicália den Mythos der Durchmischung heraufbeschwören – wir sind Schwarze, Indios, Weiße, alles auf einmal – unsere Kultur hat rein gar nichts mit der europäischen zu tun, auch wenn sie ihr bis heute unterworfen ist: Nur der Schwarze und der Indio haben sich ihr nicht ergeben. Wer sich darüber nicht im Klaren ist, kann gehen. Für die Erschaffung einer echten eigenwilligen und starken brasilianischen Kultur […] muss dieses verfluchte europäische und amerikanische Erbe anthropophagisch aufgesogen werden, durch das Schwarze und Indianische unseres Bodens […].“16

11

Vgl. BUCHMANN, 2007, S. 265. Oiticica schreibt in seinem Text Tropicália: „Wie klar geworden sein dürfte, ist der Mythos der Tropikalität weit mehr als Papagei und Bananenstaude: Es ist das Bewusstsein dessen, sich nicht durch etablierte Strukturen konditionieren zu lassen […].“ OITICICA, 2013 (1968), S. 231.

12

Vgl. SANTOS, Lidia: Tropical Kitsch. Mass Media in Latin American Art and Literature, Princeton/New Jersey: Markus Wiener Publishers, 2006, S. 36.

13

Vgl. BREITWIESER, 2000, S. 252.

14

OITICICA, 2013 (1968), S. 227.

15

Vgl. BREITWIESER, 2000, S. 19.

16

OITICICA, 2013 (1968), S. 229f.

Die Bewegung des Tropicalismo | 91

Mit dem Entwurf einer auf Hybridität beruhenden nationalen Identität nimmt Tropicália bewusst gegen den Patriotismus der Militärregierung Stellung, welche ein Reinheitsideal unterstützte.17 Die Installation manifestiert sich in einem Zusammenwirken akustischer, taktiler, visueller und semantischer Wahrnehmungselemente, die in ihrer Gesamtheit erst durch die körperliche Beteiligung der Besucher/innen erfasst werden können.18 Dieser Partizipationsansatz, der auf die Eigenbeteiligung der Betrachter/innen abzielt, wird von Oiticica 1967 in seinem Artikel O Aparecimento do Suprasensorial [Die Erscheinung des Supra-Sensorischen] ausformuliert. Darin tritt er für eine neue Form der Zuschauerbeteiligung in der Kunst ein, wodurch die klassische Trennung von Künstler/in, Kunstwerk und Betrachter/in aufgehoben wird. Der tropikalistische Ansatz strebt eine Vereinigung von Kunst und Leben an, wobei die Kunst kein „Instrument zur intellektuellen Herrschaft“ mehr sein soll. Die Werke „richten sich an die Sinne, um durch […] die totale Wahrnehmung, den Betrachter zu einer Art individueller Supra-Empfindung, zur Ausweitung seiner gewöhnlichen sensorischen Fähigkeiten, zu seiner inneren Schaffenskraft zu führen […].“ 19 In der Eröffnung von Selbsterkenntnis, Kreativität und Körperwahrnehmung klingt eine nahezu therapeutische Wirkung des Kunstwerks mit. Mithilfe des tropikalistischen Partizipationsansatzes soll das Individuum von jeglichen Konditionierungen befreit werden.20 Oiticicas Wahrnehmungsmodell lässt sich somit auf eine hegemonialpolitische Ebene übertragen. Im Kontext des repressiven politischen und kulturellen Klimas der Militärregierung ging es den tropikalistischen Künstler/innen grundsätzlich um die Befreiung des Menschen aus einer Situation der politischen Unterjochung und gesellschaftlichen Restriktionen21 – ein Anliegen, das bereits im Movimento Antropófago der zwanziger Jahre vertreten wurde.

17

Vgl. SANTOS, 2006, S. 36.

18

Vgl. BUCHMANN, 2007, S. 256.

19

OITICICA, Hélio: Über das Supra-Sensorische (1967), in: Susanne Gaensheimer/Peter Gorschlüter/Max Jorge Hinderer Cruz/César Oiticica Filho (Hrsg.): Hélio Oiticica. Das große Labyrinth, Ausst.-Kat. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Ostfildern: Hatje Cantz, 2013, S. 221-225, hier: S. 223, 225. Der Text wurde 1967 von Oiticica als Konferenzbeitrag vorgestellt und erstmals unter dem Titel O aparecimento do Suprasensorial na arte brasileira veröffentlicht in: Diário de Notícias, Rio de Janeiro, 10./11. Jan. 1968.

20

Vgl. ebd., S. 225.

21

Vgl. BUCHMANN, 2007, S. 161f., 264.

92 | Strategien der Einverleibung

DER NEOCONCRETISMO An der Ausarbeitung des tropikalistischen Ansatzes in der bildenden Kunst war neben Hélio Oiticica in erster Linie die Künstlerin Lygia Clark beteiligt. Ihre tropikalistischen Arbeiten entwickelten sich aus dem Neoconcretismo [Neokonkretismus], dessen Ansätze und Erneuerungen in der Kunst wesentlich für das Verständnis des Tropicalismo sind. Die Bewegung des Neoconcretismo fand sich 1959 in Rio de Janeiro als Abspaltung von der Gruppe konkreter Künstler/innen zusammen.22 Zu Beginn desselben Jahres fand die erste Ausstellung der Neokonkretist/innen im Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro statt, in der sich die Gruppe von der rationalisierten Industrieästhetik der Konkreten Kunst distanzierte, welche sich zu Beginn der 1950er Jahre in Brasilien etabliert hatte. Die Ausstellung Max Bills im Jahr 1950 im Museu de Arte de São Paulo und die Veranstaltung der ersten Internationalen Biennale von São Paulo im darauffolgenden Jahr hatten in der brasilianischen Kunst zu einer Tendenz in Richtung eines nichtfigurativen, geometrischen Stils geführt. 1956 hatte die erste Exposição Nacional de Arte Concreta [Nationale Ausstellung Konkreter Kunst] in São Paulo stattgefunden, in der Dichter/innen und Bildende Künstler/innen vereint waren.23 Im Gegensatz zur Konkreten Kunst, welche das Konzept einer reinen Visualisierung der Form vertrat und das Kunstwerk jeglicher Symbolik zu entleeren versuchte, lehnten die Vertreter/innen des Neokonkretismus wissenschaftliche und positivistische Anschauungen in der Kunst ab und wendeten sich gegen das Verständnis vom Objekt als Maschine, indem sie das Kunstwerk als organisches Phänomen verstanden, ohne jedoch das konstruktivistische Formenvokabular zu verlassen. 24 Ferreira Gullar theoretisierte den Neoconcretismo 1959 in seinem Manifesto Neoconcreto [Neokonkretes Mani-

22

Neben Clark und Oiticica gehörten auch die Künstlerin Lygia Pape sowie die Künstler Ivan Serpa, Franz Weissmann, Waldemar Cordeiro und Amílcar de Castro der neokonkreten Bewegung an. Daneben fungierten die Kritiker Ferreira Gullar und Mário Pedrosa als Theoretiker der Gruppe.

23

Die Hinwendung zur Konkreten Kunst fällt in eine Zeit des allgemeinen Entwicklungsenthusiasmus in Brasilien, der durch den Amtsantritt Juscelino Kubitscheks im Jahr 1956 vorangetrieben wurde. Teil dieser Modernisierungswelle waren das Aufblühen der Erdöl- und Stahlproduktion, der Aufbau der Automobilindustrie und die Ausweitung des Straßennetzes sowie die Errichtung der neuen Hauptstadt Brasília. Zur Mitte der 1960er Jahre gelangte Brasilien schließlich wirtschaftlich an die Spitze der südamerikanischen Länder. Die konkreten Künstler/innen in Brasilien wandten sich mit ihrer Vorliebe für geometrische Strenge und mathematische Gleichungen dem Fortschritt ihrer Zeit zu. Vgl. PONTUAL, 1992, S. 324f.

24

Vgl. ebd., S. 326.

Die Bewegung des Tropicalismo | 93

fest], in dem er unter Bezug auf Maurice Merleau-Pontys phänomenologische Theorie eine subjektive, körpergebundene Kunsterfahrung und das Zusammenwirken der Sinne in der Wahrnehmung hervorhob.25 In seiner hierauf folgenden Teoria do Não-Objeto [Theorie des Nicht-Objekts] plädiert Gullar für eine Abkehr von der Malerei und für eine Hinwendung zum „Nicht-Objekt, […] durch das sich eine Synthese von sensorischen und mentalen Empfindungen ergibt,“ vorgestellt als ein für die phänomenologische Erkenntnis „transparenter Körper, der vollständig wahrgenommen wird.“26 Lygia Clark und Hélio Oiticica, die zuvor im Stil der abstrakten, geometrischen Malerei gearbeitet hatten, vollziehen in ihren neokonkreten Arbeiten den Übergang von der zweidimensionalen Oberfläche des Bildes in den dreidimensionalen Raum. Clarks ab 1954 entstehenden Planos em superfície modulada [Ebenen auf modulierter Oberfläche] deuten bereits den Übertritt in die Dreidimensionalität an. Die Leinwand wird in diesen Arbeiten aufgebrochen. So besteht das im konstruktivistischen Stil gehaltene Gemälde Planos em superfície modulada No1 von 1955 (Abb. 35) aus zwei Holzplatten, wovon eine als Rahmen für die zweite, die eine mittige Fläche bildet, fungiert. An den Berührungsstellen lässt Clark einen Spalt von einem halben Zentimeter freistehen, wodurch ein Zwischenraum im Bild erscheint. Diesen offenen Spalt nennt Clark eine linha orgânica [organische Linie], ein Terminus, der sich auf den Kontakt zweier heterogener Elemente bezieht. 27 Clarks Konzept der linha orgânica, welches sie in ihren folgenden Arbeiten weiter ausbaut, beinhaltet somit bereits eine Weiterentwicklung der Antropofagia.28 25

Vgl. GULLAR, Ferreira: Neokonkretes Manifest (1959), in: Robert Kudielka/Angela Lammert/Luiz Camillo Osorio (Hrsg.): Das Verlangen nach Form – O Desejo da Forma. Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien, Ausst.-Kat. Akademie der Künste, Berlin, Berlin: Akademie der Künste, 2010, S. 12-15, hier: S. 14. Der Text erschien erstmals als Manifesto Neoconcreto in: Jornal do Brasil, Rio de Janeiro, 22.03.1959. Neben dem Autor unterzeichneten das Manifest Amilcar de Castro, Franz Weissmann, Lygia Clark, Lygia Pape, Reynaldo Jardim und Theon Spanúdis.

26

GULLAR, Ferreira: Theorie des Nicht-Objekts (1959), in: Robert Kudielka/Angela Lammert/Luiz Camillo Osorio (Hrsg.): Das Verlangen nach Form – O Desejo da Forma. Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien, Ausst.-Kat. Akademie der Künste, Berlin, Berlin: Akademie der Künste, 2010, S. 160-162, hier: S. 160. Der Originaltext erschien 1959 unter dem Titel Teoria do Não-Objeto in: Jornal do Brasil, Rio de Janeiro, 19.12.1959.

27

Vgl. BORJA-VILLEL, Manuel J./BRETT, Guy/MAYO, Nuria Enguita (Hrsg.): Lygia Clark, Ausst.-Kat. Fundació Antoni Tàpies, Barcelona, Barcelona: GRUP 3, 1997, S. 62f.

28

Vgl. BASBAUM, Ricardo: Antropofagia und Strategien permanenter Hybridisierung, in: Elke aus dem Moore/Giorgio Ronna (Hrsg.): Entre Pindorama. Zeitgenössische

94 | Strategien der Einverleibung

Abbildung 35: Lygia Clark: Superfície modulada No 1, 1955

Die ab 1959 entstehenden Bichos [Kreaturen] (Abb. 36) sind das erste Resultat des Prozesses einer Abwendung von der Malerei. Die beweglichen Skulpturen aus Metallplatten, die mit Scharnieren untereinander befestigt sind, enthalten eine geometrische Formensprache und manifestieren sich gleichzeitig als organische Objekte, da sie von den Betrachter/innen angefasst, bewegt und gefaltet werden können, wodurch sie vielfältige Figurationen annehmen. Die Skulptur manifestiert sich dadurch als ein veränderliches Objekt, das mit den Körpern der Rezipient/innen interagiert, wie Clark ausführt: „Meine jüngsten Arbeiten erhielten den Namen Bichos aufgrund ihres durchweg organischen Charakters. Außerdem erinnerte mich die Art und Weise, wie ich die Einzelteile mit einem Scharnier verband, an eine Wirbelsäule. […] Es ist ein lebender Organismus, ein Werk, das im Wesentlichen durch die Handlung bestimmt wird. Zwischen Ihnen und ihm entsteht eine totale, existentielle Interaktion. In der Beziehung, die sich zwischen Ihnen und dem Bicho entwickelt, gibt es keine Passivität, nicht von Ihnen und nicht von ihm. Es entsteht eine Art Körper-an-Körper zweier lebendiger Einheiten.“29

Ab 1963 verwendet Clark biegsamere Materialien wie Gummi, Plastik oder Stoff, um den organischen Aspekt zu betonen und die Skulpturen besser handhaben zu können. Die Arbeit Trepantes (Obra mole) [Larve (weiches Werk)] von 1964 (Abb. Kunst und die Antropofagia, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Stuttgart, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2005, S. 64-68, hier: S. 64. 29

CLARK, Lygia: Bichos (1960), in: Robert Kudielka/Angela Lammert/Luiz Camillo Osorio (Hrsg.): Das Verlangen nach Form/O Desejo da Forma. Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien, Ausst.-Kat. Akademie der Künste, Berlin, Berlin: Akademie der Künste, 2010, S. 174-175, hier: S. 174. Der Originaltext erschien in: Lygia Clark: 29 Esculturas de Lygia Clark, Ausst.-Kat. Galeria Bonino, Rio de Janeiro, 1960.

Die Bewegung des Tropicalismo | 95

37) ist Teil einer Serie, in der Clark mit der Struktur des Möbiusbandes experimentiert. Das Objekt manifestiert sich durch spiralförmige Schnitte aus einem kreisrunden Gummistoff, sodass es in diversen Konfigurationen von den Betrachter/innen arrangiert werden kann. Das Kunstwerk erhält somit erst in der Synthese mit seiner Umwelt, im Kontakt mit den Körpern der Teilnehmer/innen, mit Oberflächen oder anderen Gegenständen, eine spezifische Form und Bedeutung. 30 Abbildung 36: Lygia Clark: Bichos, 1960-64 Abbildung 37: Lygia Clark: Trepantes (Obra Mole), 1964

Ein weiterer zentraler Aspekt dieser Objekte liegt in der Tatsache, dass sie kein Oben oder Unten haben, sondern von allen Seiten her betrachtet, befühlt und verändert werden können. Hier manifestiert sich bereits der Kerngedanke des anthropophagen Konzepts, einer Aufhebung von Einseitigkeiten und Grenzen, der in den späteren tropikalistischen Arbeiten weiter ausgeführt wird. Das Möbiusband, welches auf einer in sich gedrehten Fläche basiert, steht in Clarks Werk sinnbildlich für diesen Aspekt der Umkehrbarkeit und Variabilität. Ihre Arbeit Caminhando [Unterwegs] von 1963 ist als Anleitung für die Betrachter/innen zu verstehen, ein Möbiusband aus Papier zu schneiden.31 Mit dem Aspekt der Handlung, der Clarks

30

Vgl. BAXMANN, Inge: Körper im Kulturkontakt. Räume des Kollektiven bei Lygia Clark und Hélio Oiticica, in: Sylvia Sasse/Stefanie Wenner (Hrsg.): Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld: transcript Verlag, 2002, S. 59-83, hier: S. 76f.

31

CLARK, Lygia: Caminhando (1963), in: Robert Kudielka/Angela Lammert/Luiz Camillo Osorio (Hrsg.): Das Verlangen nach Form/O Desejo da Forma. Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien, Ausst.-Kat. Akademie der Künste, Berlin, Berlin: Akademie der Künste, 2010, S. 176-177, hier: S. 176. Der Text, der gleich-

96 | Strategien der Einverleibung

Arbeiten inhärent ist, positioniert sich die Künstlerin gegen die Verwendung des Möbiusbandes im Werk Max Bills, der mit seinen zumeist aus Metall oder Gestein bestehenden Variationen der Unendlichen Schleife seine künstlerische Konzeption einer mathematischen Denkweise zum Ausdruck brachte.32 Dieser interaktive Aspekt wird in den Arbeiten des Neoconcretismo systematisch ausgearbeitet. Clark und Oiticica nehmen in ihren neokonkreten Werken die abstrakte Geometrie der Konkreten Kunst zum Ausgangspunkt für Wahrnehmungsexperimente, die den agierenden Körper in den Mittelpunkt stellen. Das Kunstwerk manifestiert sich dadurch erst in der Interaktion mit den Rezipient/innen, wonach der Abstraktion ein körperlicher Aspekt zuteilwird.33 Abbildung 38: Hélio Oiticica: Metaesquema, 1958

Parallel zu Clarks Übergang von der Konkreten Kunst zum Neoconcretismo vollzieht sich diese Veränderung auch im Werk Oiticicas. Im Jahr 1957 beginnt er seine Serie der Metaesquemas [Meta-Schemen], die großformatige Gouachen auf Papier beinhaltet (Abb. 38). Unter Bezug auf Mondrian platziert Oiticica darin zumeist rote oder blaue Rechtecke in vertikalen oder horizontalen Formationen und malt die

ermaßen die Arbeit erläutert wie er eine Handlungsanweisung an die Rezipient/innen darstellt, entstand 1963 und war erstmals 1983 abgedruckt in: Lygia Clark: Livro-obra, Rio de Janeiro, 1983. 32

Vgl. KUDIELKA, Robert/LAMMERT, Angela/OSORIO, Luiz Camillo (Hrsg.): Das Verlangen nach Form/O Desejo da Forma. Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien, Ausst.-Kat. Akademie der Künste, Berlin, Berlin: Akademie der Künste, 2010, S. 57. Max Bill führte sein Konzept einer mathematischen Denkweise in seinem Artikel Die mathematische Denkweise in der Kunst unserer Zeit aus, der im März 1949 in der Zeitschrift Werk erschien.

33

Vgl. BAXMANN, 2002, S. 79.

Die Bewegung des Tropicalismo | 97

dazwischenliegenden Hohlräume weiß aus. Ab 1959 überträgt er diese Rechtecke aus der Malerei in den dreidimensionalen Raum als hängende Elemente, die aus bemalten Spanplatten bestehen. Die Arbeit Grande Núcleo [Großer Kern] von 1960 (Abb. 39) stellt ein solches Ensemble dar: Intensiv leuchtende, gelb und orange bemalte, quadratische sowie rechteckige Holzplatten verschiedener Ausmaße werden in unterschiedlicher Höhe über dem Boden schwebend angebracht. Die Bewegung des Körpers und die Wahrnehmung der Betrachter/innen stehen im Vordergrund der Konzeption des Werkes. So definiert die Installation einen Raum, in dem sich die Rezipient/innen bewegen können, wobei Oiticica das Gefühl evozieren möchte, durch ein Bild zu gehen. Die visuelle Erfahrung wird durch eine taktile erweitert, indem auf dem Boden der Installation ein mit Sand gefülltes Becken errichtet ist, durch das die Besucher/innen schreiten.34 Abbildung 39: Hélio Oiticica: Grande Núcleo, 1960

Es wird deutlich, dass Oiticicas Partizipationskonzept, das er später für die Kunst des Tropicalismo in seiner Theorie des Suprasensorial ausformuliert, im Neoconcretismo bereits vorbereitet wird. 1961 löst sich die neokonkrete Gruppe auf. Clark und Oiticica entwickeln ihren neokonkreten Ansatz jedoch systematisch weiter und verbinden ihn im Tropicalismo schließlich mit de Andrades Antropofagia und neuen Ausdrucksformen wie der Performance-, der Installations- und Konzeptkunst.

34

Vgl. BARNITZ, 2001, S. 223f.

98 | Strategien der Einverleibung

LYGIA CLARK: DIE ANTROPOFAGIA ALS THERAPIE Der tropikalistische Bezug auf die anthropophage Metapher findet sich in Lygia Clarks Werk in einer Reihe von Objekten, die als Kleidung für die Rezipient/innen fungieren. Das Einkleiden entspricht darin einer Inkorporation des Kunstobjekts. 1967 entwarf Clark ihre Máscaras Sensoriais [Sinnesmasken] aus farbigem Stoff, die wie Helme angezogen werden. Im Bereich von Augen, Ohren und Nase sind Materialien eingenäht, die verschiedene sensorielle Wahrnehmungen ermöglichen. So befindet sich beispielsweise in einer eingefassten Innentasche an der Stelle der Ohren ein eingenähter Becher, aus dem das Geräusch eines rollenden Balles für die Träger/innen vernehmbar wird. Die Masken verfügen des Weiteren über eine Tasche an der Nase, die ein bestimmtes Riechsalz enthält. Über die Augen wird ein weiches Muslinnetz gestreift. Die Künstlerin wendet sich ganz im Sinne von Oiticicas Konzeption des Suprasensorial gegen das Primat des Visuellen in der Kunst, dem eine haptische Wahrnehmung, der Geruchssinn und der Hörsinn entgegengestellt werden.35 Abbildung 40: Lygia Clark: O Eu e o Tu: Série Roupa-Corpo-Roupa, 1967 Abbildung 41: Lygia Clark: A Casa é o Corpo, 1968

Die im selben Jahr entstandene Arbeit O Eu e o Tu: Série Roupa-Corpo-Roupa [Das Ich und das Du: Kleidung-Körper-Kleidung-Serie] besteht aus zwei Plastikanzügen, die für einen Mann und eine Frau konzipiert wurden (Abb. 40). Die blauen Overalls sind durch einen am Bereich des Bauchnabels sitzenden Schlauch miteinander verbunden. Am Außenbereich beider Kleidungsstücke befinden sich mit Reisverschlüssen versehene Taschen, die von der jeweils anderen Person taktil

35

Vgl. BORJA-VILLEL/BRETT/ENGUITA MAYO, 1997, S. 221.

Die Bewegung des Tropicalismo | 99

erkundet werden können. Durch eine helmartige Kopfbedeckung werden die Augen bedeckt, wodurch die sensorielle Erfahrung intensiviert wird. Die mit unterschiedlichen Materialien und Gegenständen gefüllten Taschen enthalten im Anzug der Frau männlich konnotierte Inhalte, während sich im Overall des Mannes weibliche Merkmale finden. So entdeckt das Paar im Körper des/r Anderen seine eigenen Geschlechtscharakteristika.36 Clark evoziert in ihrer Arbeit eine Öffnung der Teilnehmer/innen für ihre Körper und insbesondere ihre Sexualität. Kleidung wird in diesem Sinne von der Künstlerin nicht zur Bedeckung, sondern zur Enthüllung des Körpers genutzt.37 Indem die eigene Sexualität im Körper des oder der Anderen entdeckt wird, findet in Bezug auf das Konzept der Antropofagia eine Durchdringung von Körpergrenzen statt. Clark bezieht sich in ihrem Körperkonzept, ihrem Versuch einer Befreiung der Sexualität und ihrer Auffassung von Inkorporation auf die psychoanalytischen Überlegungen zur Anthropophagie. So nimmt sie auf Freuds orale Phase Bezug, die der Psychoanalytiker als kannibalische Existenz deutet:38

„I think that cannibalism is not only at the service of the conservation instinct, but that teeth are also the weapons useful to the libidinal tendencies, instruments which may help the child to penetrate the mother’s body […] On first contact with the breast, the child seeks to penetrate in search of the womb, the lost poetic shelter; unable to penetrate, it introjects it, beginning the cannibalistic phase. To be a devourer or to devour is the process of mutual incorporation.”39

36

Vgl. BREITWIESER, 2000, S. 21.

37

Vgl. Ebd., S. 135.

38

Nach Freuds Stufenmodell zur psychosexuellen Entwicklung findet sich der Mensch zu Beginn seines Lebens in der oralen Phase, die als kannibalische Existenz charakterisiert wird. Sexualtrieb und Nahrungsaufnahme werden in dieser frühen Entwicklungsstufe vom Kind noch nicht als getrennte Bereiche wahrgenommen, weshalb das kindliche Saugen stets einer Einverleibung entspricht. Darüber hinaus bezeichnet die orale Phase einen Zustand des Einsseins mit der Welt, in der das Kind noch kein Empfinden dafür hat, dass es einen eigenen, von der Welt getrennten Körper besitzt, weshalb die Brust der Mutter als Teil des eigenen Körpers wahrgenommen wird. Vgl. FREUD, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und verwandte Schriften, Frankfurt am Main: Fischer, 1976 (1905), S. 70.

39

CLARK, Lygia: Sobre o canibalismo, unveröffentlichter und undatierter Text, der sich im Lygia Clark-Archiv im Dokumentationszentrum des Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro befindet, zit. n. HERKENHOFF/PEDROSA, 1998, S. 46.

100 | Strategien der Einverleibung

Diese libidinöse, anthropophage Phase möchte Clark in ihren Arbeiten für die Rezipient/innen wieder erfahrbar machen.40 So erklärt sich beispielsweise die 1968 für die Biennale in Venedig realisierte Installation A Casa é o Corpo [Das Haus ist der Körper], in der die Besucher/innen eine Wiedergeburt durchleben (Abb. 41). Die Installation besteht aus einem mittig platzierten Plastikballon, welcher einen zeltartigen Raum bildet, und zwei seitlichen Kammern. Im Innern der Kammern durchlaufen die Rezipient/innen einzelne Räume, in denen die verschiedenen Stadien zwischen Befruchtung und Geburt durch taktile Eindrücke vermittelt werden.41 Die Rezeption der Antropofagia findet ihren beispiellosen Ausdruck in Clarks Konzeption des Corpo Coletivo [Kollektivkörper], welche sie in ihren Performances zu Beginn der 1970er Jahre während eines Lehraufenthaltes in Paris an der Sorbonne entwickelt. Die Arbeit Baba Antropofágica [Kannibalischer Speichel] von 1973 wurde als eine interaktive Performance mit Student/innen Clarks durchgeführt (Abb. 42). In Assoziation zur Spinne, die ihr Opfer in einen Kokon hüllt, umwickeln mehrere Teilnehmer/innen der Aktion eine am Boden liegende Person mit speichelgetränktem Garn, den sie aus ihren Mündern ziehen. Ist diese schließlich von einem dichten Netz von Fäden bedeckt, benetzen die Akteur/innen ihre eigenen Gesichter. Das Innere einer jeden Person wird somit nach außen gekehrt und von der Gruppe inkorporiert. Der Faden vernetzt die einzelnen Personen untereinander und vereint diese in einem Kollektivkörper. Durch den Akt des Einspinnens, bei dem organische Körperflüssigkeiten unter den Teilnehmer/innen ausgetauscht werden, soll eine Inversion von Subjekt und Objekt, Innen und Außen herbeigeführt werden.42 Die so metaphorisch vollzogene Erfahrung der wechselseitigen Einverleibung führt nach Clark zu einem Hervortreten der inneren Gefühlswelt. Ein therapeutischer Effekt kann hierbei durch das anthropophage Teilen der Gemütszu-

40

Vgl. ebd., S. 45f.

41

Die Besucher/innen zwängen sich am Eingang durch eine Gummiwand und gelangen so in einen dunklen Raum mit der Bezeichnung Penetração [Penetration], indem sie auf eine wenige Centimeter über dem Boden gespannte Plane steigen, die beim Betreten nachgibt. Schließlich gelangen sie in den zweiten Bereich mit Namen Ovulaҫão [Ovulation], der mit Luftballons gefüllt ist. Durch eine mundartige Öffnung erreichen sie den zentralen Raum der Germinaҫão [Keimung], worauf ein Tunnel durchlaufen wird, der in die Expulsão [Ausstoßkammer] führt, welche mit Haaren ausgekleidet und mit Gummibällen gefüllt ist. Vgl. CLARK, Lygia: A Casa é o Corpo (1968), in: Ferreira Gullar/Mário Pedrosa (Hrsg.): Lygia Clark, Rio de Janeiro: Funarte, 1980, S. 33-34, hier: S. 33.

42

Vgl. BORJA-VILLEL/BRETT/ENGUITA MAYO, 1997, S. 292, 296.

Die Bewegung des Tropicalismo | 101

stände zustande kommen. 43 Unter den Begriffen Anthropophagie und Inkorporation versteht die Künstlerin Prozesse, die Kommunikation ermöglichen und die Bildung eines Kollektivs hervorbringen: „Der Corpo Coletivo (kollektive Körper) besteht aus einer Gruppe von Personen, die gemeinsam Vorschläge leben und untereinander psychische Inhalte austauschen. Dieser Austausch ist keine angenehme Sache: Ein/e Teilnehmer/in der Gruppe erbricht das, was er/sie während der Teilnahme an der Umsetzung eines Vorschlags erlebt hat, andere verschlingen es, um es ihrerseits zu erbrechen, worauf es sofort vom nächsten verschlungen wird, und so fort. […] Es entsteht eine Identität als Ganzes. […] Im Corpo Coletivo wird das Objekt zum Subjekt.“44

Abbildung 42: Lygia Clark: Baba Antropofágica, 1973 Abbildung 43: Lygia Clark: Canibalismo, 1973

Auch die 1973 in São Paulo realisierte Performance Canibalismo [Kannibalismus] (Abb. 43) ermöglicht einen sinnlichen und körperlichen Austausch zwischen den Teilnehmer/innen, wodurch Gemeinschaft körperlich erfahrbar gemacht wird. In Canibalismo sind auf einer am Boden liegenden Person verschiedene tropische Früchte ausgebreitet, die die weiteren Gruppenmitglieder in der Performance verspeisen. Die Augen der Personen sind mit einem Tuch verbunden, wodurch die

43

Vgl. Lygia Clark in einem Brief an Hélio Oiticica vom 06.07.1974, in: Lygia Clark/Hélio Oiticica: Cartas 1964-74, Rio de Janeiro: Editora UFRJ, 1996, S. 221-224, hier: S. 223.

44

CLARK, Lygia: O Corpo Coletivo (1970), in: Sabine Breitwieser (Hrsg.): vivências, Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien, Köln: König, 2000, S. 146. Der Text findet sich in der portugiesischen Originalfassung in: Ricardo Fabbrini: Nascimento. O Espaço de Lygia Clark, São Paulo 1994, S. 170.

102 | Strategien der Einverleibung

sinnliche Erfahrung intensiviert werden soll. Clark lässt hier in Bezug auf das anthropophage Ritual ein Verspeisen von Teilen des Körpers eines anderen Menschen stattfinden, wobei das Fleisch durch die Frucht ersetzt ist. Im gemeinschaftsstiftenden Ritual der Nahrungsaufnahme findet eine Vereinigung der einzelnen Subjekte im Kollektivkörper statt.45 Die Performances Baba Antropofágica und Canibalismo, welche im Sinne Clarks „lebende, biologische Architekturen“ 46 darstellen, befinden sich an der Schnittstelle zwischen Symbolik und realem Ausagieren des anthropophagen Rituals.47 Indem Clark die Metapher der Einverleibung als körperliche Erfahrung inszeniert, geht sie einen Schritt weiter als die Modernist/innen, die eine rein symbolische Ausübung der Anthropophagie meinten.48 45

Vgl. BAXMANN, 2002, S. 61ff.

46

CLARK, Lygia: O Corpo é o Casa (1969), in: Mário Pedrosa/Ferreira Gullar (Hrsg.): Lygia Clark, Rio de Janeiro: Funarte, 1980, S. 35-38, hier: S. 36: „uma arquitetura viva, biológica“.

47

Vgl. BORJA-VILLEL/BRETT/ENGUITA MAYO, 1997, S. 253.

48

Vgl. BAXMANN, 2002, S. 65, 71. Zum Ende ihrer Karriere kam die therapeutische Dimension, die sich in der Symbiose von teilnehmendem Subjekt und Kunstobjekt manifestiert, in Clarks Kunst noch stärker zur Geltung, wobei sich die Künstlerin von der Arbeit mit der Gruppe loslöste und wieder dem Individuum zuwandte. In der zwischen 1976

und 1988 ausgearbeiteten Werkserie

Estruturação

do

Self

[Strukturierung des Selbst] wurden die Rezipient/innen zu Klient/innen, die von der Künstlerin in aufeinanderfolgenden Sitzungen anhand ihrer Objetos Relacionais [Relationale Objekte] behandelt wurden mit dem Ziel, innere Blockaden zu lösen. Die hierbei

verwendeten

Objekte

waren

aus

zumeist

weichen

oder

fluiden

Alltagsmaterialien hergestellt. So handelte es sich beispielsweise um mit Wasser, Sand, Styroporkugeln oder Luft gefüllte Plastiktüten, die auf die Körper gelegt wurden und so ihre Form veränderten. Die Objetos Relacionais provozierten die unterschiedlichsten Wahrnehmungen, indem sie sich in Größe, Gewicht, Konsistenz und Temperatur unterschieden. Vgl. CLARK, Lygia: Estruturação do Self (1975), in: Mário Pedrosa/Ferreira Gullar (Hrsg.): Lygia Clark, Rio de Janeiro: Funarte, S. 51-58, hier: S. 51ff. Auch in diesen späten Arbeiten bezieht sich Clark weiterhin auf die anthropophage Metapher, denn erst durch die Internalisierung des Objeto Relacional kommt die therapeutische Wirkung zustande: „Das relationale Objekt reicht direkt an den psychotischen Kern des Subjekts heran und wird in die Ichbildung integriert, einverleibt, innerlich verarbeitet und in einen symbolischen Ausgleich transformiert.“ CLARK, Lygia: Objeto Relacional em Contexto Terapéutico (1976), in: Mário Pedrosa/Ferreira Gullar (Hrsg.): Lygia Clark, Rio de Janeiro: Funarte, S. 50: „O objeto relacional toca diretamente o núcleo psicótico do sujeito, contribuindo para a formação do ego, este digerido, metabolizado e transformado em equação simbólica.“

Die Bewegung des Tropicalismo | 103

HÉLIO OITICICA: DIE ANTROPOFAGIA ALS POLITISCHES INSTRUMENT DER INTERVENTION UND GESELLSCHAFTLICHES PROJEKT Auch Oiticicas Anliegen ist es, zwischen den Rezipient/innen seiner tropikalistischen Arbeiten in Bezug auf die anthropophage Metapher ein körperliches und sinnliches Gemeinschaftsgefühl herzustellen. Während in Clarks Rezeption der Antropofagia vorrangig ein Interesse für innerpsychische Prozesse zum Ausdruck kommt, wendet sich Oiticica verstärkt dem öffentlichen Raum zu, 49 wodurch er seine Kunst als gesellschaftliches Projekt positioniert. Dies geschieht durch einen Bezug auf die Kultur der Favelas und insbesondere auf den Tanz und die Musik des Sambas, der in den ab 1964 entstehenden Parangolés zum Tragen kommt (Abb. 44). Diese Arbeiten, die seiner Installation Tropicália vorausgehen, stellen mehrfarbige Umhänge dar, welche vorwiegend im Rahmen kollektiver TanzPerformances getragen werden. In Analogie zur Technik der in den Armenvierteln Brasiliens lebenden Menschen, Abfallmaterialien aus der Konsumkultur zu Gebrauchsgegenständen weiterzuverarbeiten, verwendet der Künstler für die Herstellung seiner Umhänge Zeitungspapier, Mülltüten oder Stoffe, die mit Gedichten, Malereien oder Fotografien versehen werden und oftmals politische Botschaften tragen.50 Das Kunstwerk erweist sich als hybrides Objekt, indem die Schnittmuster der Kostüme auf die geometrische Malerei des Hard Edge verweisen, die nun im Kontakt mit den Körpern der Teilnehmer/innen eine organische, in Veränderung begriffene Form annimmt.51

49

Lygia Clark äußerte rückblickend im Jahr 1986: „Hélio war die Außenseite eines Handschuhs, die Verbindung mit der Außenwelt. Ich, ein Teil des Inneren. Und wir Beide existierten von dem Moment an, als eine Hand den Handschuh überstreifte.“ Eingangszitat von Lygia Clark (1986), in: Lygia Clark/Hélio Oiticica: Cartas 1964-74, Rio de Janeiro: Editora UFRJ, 1996, o. Seitenangabe: „Hélio era o lado de fora de uma luva, a ligação com o mundo exterior. Eu, a parte de dentro. Nós dois existimos a partir do momento em que há uma mão que calce a luva.“

50

Auf den Parangolés befinden sich beispielsweise die Slogans Cape of Liberty, I am possessed, I embody revolt, We are hungry oder Of adversity we live. Vgl. BRETT, Guy: Carnival of Perception. Selected Writings on Art, London: Institute of International Arts, 2004, S. 61f.

51

Vgl. OSTHOFF, Simone: Lygia Clark and Hélio Oiticica. A legacy of interactivity and participation for a telematic future, in: Coco Fusco (Hrsg.): Corpus delecti: performance art of the Americas, London: Routledge, 2000, S. 156-173, hier: S. 164, 166.

104 | Strategien der Einverleibung

Abbildung 44: Hélio Oiticica: Parangolé, 1964

Die Arbeit entsteht ausschließlich durch eine partizipative Inkorporation der Betrachter/innen, die den Künstler als Akteur zurücktreten lassen. Das Kunstwerk wird hierbei aus dem abgeschotteten und einem elitären Publikum vorbehaltenen Galerieraum herausgelöst und in die brasilianische Alltagskultur der Menschen überführt.52 Oiticica wendet sich bewusst an die marginalisierte Gesellschaftsschicht Brasiliens und lässt seine Performances in den Favelas stattfinden. Mit der Aufwertung der Marginalität stellt Tropicália ein soziales Projekt dar. So schreibt der Künstler: „Das Abbauen sozialer Vorurteile, der Barrieren zwischen den Gruppen und Klassen, ist für diese Erfahrung unumgänglich und von grundlegender Bedeutung. […] Die so genannten sozialen Schichten […] erscheinen […] mir allzu schematisch, künstlich, als schaute ich auf einmal von oben wie auf eine Karte herab, wie auf ein Schema, von außen – dass die Marginalisierung auf den Künstler ganz natürlich zutrifft, ist fundamental für mich geworden – das wäre zum einen das grundsätzliche Fehlen einer gesellschaftlichen Verortung und gleichzeitig die Entdeckung meiner Verortung als Individuum, als totaler Mensch in der Welt, als soziales Wesen in des Wortes vollster Bedeutung und nicht als Teil einer bestimmten Schicht oder Elite […].“53

52

Vgl. BAXMANN, 2002, S. 76.

53

OITICICA, Hélio: Bemerkungen zum Tanzen (1965/66), in: Susanne Gaensheimer/ Peter Gorschlüter/Max Jorge Cruz Hinderer/César Oiticica Filho (Hrsg.): Hélio Oiticica. Das große Labyrinth, Ausst.-Kat. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Ostfildern: Hatje Cantz, 2013, S. 161-167, hier: S. 162f. Der Originaltext wurde erstsmals unter dem Titel A Dança na Minha Experiênca publiziert in: Hélio Oiticica: Aspiro ao Grande Labirinto, Rio de Janeiro: Rocco, 1986, S. 72-75.

Die Bewegung des Tropicalismo | 105

Erst durch die Bewegung entfaltet sich das umfassende Konzept der Arbeit, da die Teilnehmer/innen im Tanz und in der Musik in Interaktion mit dem sie einhüllenden Kunstwerk treten wie auch miteinander kommunizieren. Oiticica vollzieht so, parallel zu Clark, eine Vereinigung der Rezipient/innen in einem Gemeinschaftskörper, in dem die klassische Trennung zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben wird, womit das anthropophage Konzept weitergeführt wird. 54 Im gemeinschaftlichen Tanz manifestiert sich eine „Körpertechnik“, die auf „ständiger Transformation“55 beruht, wie Inge Baxmann mit Blick auf die tropikalistische Konzeption des Kollektivkörpers feststellt. So entsteht eine Kulturauffassung, die sich in stetiger Veränderung befindet, da sie offen für Aushandlungen ist. 56 Für Oiticica stellt der Samba, welcher „aus dem inneren Rhythmus des Kollektivs heraus entsteht,“ 57 eine Art ursprüngliche, plastische Kunst dar. Auch positioniert sich der Künstler mit seiner Hinwendung zum Tanz gegen einen aufgezwungenen Rationalismus, welcher durch die freie Bewegung überwunden werden soll, womit er in der Tradition der Antropofagia steht: „Zuallererst möchte ich klarstellen, dass mein Interesse für den Tanz, für den Rhythmus in meinem Fall den Samba-Rhythmus, von einem Grundbedürfnis nach Entintellektualisierung herrührt, von dem Bedürfnis, intellektuelle Beklemmungen zu lösen, von der Notwendigkeit, mich frei ausdrücken zu können, denn ich fühlte mich und meine Ausdrucksmöglichkeiten durch übertriebene Intellektualisierung bedroht. Für mich bedeutet das den entscheidenden Schritt in Richtung Mythos, den Versuch, jenen Mythos zurückzuholen und ihn in meiner Kunst neu zu begründen, eine Erfahrung von größtmöglicher Vitalität, die nicht wegzudenken

54

Für Oiticica entspricht das Tragen der Parangolé-Capes einer „Inkorporierung der Werkelemente [...]. Durch die Entfaltung des Werks findet so etwas wie das Erkennen und Instituieren eines interkorporalen Raumes statt.“ Im Folgenden spricht der Künstler von einer „kollektiven Partizipation, bei der das Zelt, das heißt das ParangoléPenetrável eine wichtige Funktion bekommt: Es wird zum Schutz für den Teilnehmer und lädt ihn dazu ein, im Inneren zu partizipieren, indem er mit den im Inneren befindlichen Elementen interagiert [...].“ OITICICA, Hélio: Anmerkungen zum Parangolé (1964/65), in: Susanne Gaensheimer/Peter Gorschlüter/Max Jorge Cruz Hinderer/César Oiticica Filho (Hrsg.): Hélio Oiticica. Das große Labyrinth, Ausst.-Kat. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Ostfildern: Hatje Cantz, 2013, S. 157160, hier: S. 158f. Der Originaltext mit Titel Anotações sôbre o Parangolé wurde erstmals anlässlich der Ausstellung Opinião 65 veröffentlicht, die vom 01. August bis 12. September 1965 im Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro stattfand.

55

BAXMANN, 2002, S. 76.

56

Vgl. BRETT, 2004, S. 62.

57

OITICICA, 2013 (1965/66), S. 161.

106 | Strategien der Einverleibung

ist, vor allem wenn es darum geht, mit Vorurteilen, Stereotypen und ähnlichem aufzuräumen.“58

Ausgehend von der Eröffnung einer supra-sensorischen Wahrnehmungserfahrung kommt in den Parangolés Oiticicas Konzept des Crelazer59 zum Tragen. Hiernach soll das Kunstwerk Sinnlichkeit, Kreativität und Müßiggang vermitteln, womit der Künstler an die von de Andrade geforderte Befreiung des Individuums aus patriarchalen Arbeitsverhältnissen durch eine Verbindung von Müßiggang und neuen Technologien anknüpft.60 So konstatiert Oiticica: „Die Erkundung des Muße-Tuns – die Entdeckung des Crelazer – ist essentiell für die Vollendung der PartizipationsProposition: Die Freisetzung nicht-unterdrückerischer Energien und, damit verbunden, die Proposition des Müßiggangs.“ 61 Das Konzept des Crelazer erfährt in der Installation Éden, die Oiticica 1969 in der Londoner Whitechapel Gallery realisierte, seine volle Ausformulierung (Abb. 45). Éden war ein Environment, welches ähnlich wie die Installation Tropicália ausgerichtet war, indem es sich aus verschiedenen Penetráveis zusammensetzte, die auf einem sandigen Untergrund standen. Dafür konzipiert, den Rezipient/innen unterschiedlichste Möglichkeiten der Zerstreuung und Entspannung zu bieten, standen unter anderem Parangolé-Capes zur Verfügung, die getragen werden durften. In den einzelnen Hütten konnten die Besucher/innen sensorische Erfahrungen durch Tasten und Riechen durchlaufen oder sich in sogenannten Nest-Cells ausruhen, welche abgetrennte Einheiten darstellten, die eigens mit Materialien eingerichtet werden konnten und sich zum Niederlassen anboten.62 Éden sollte ähnlich wie

58

Ebd.

59

Der Begriff Crelazer stellt einen Neologismus aus der Zusammensetzung unterschiedlicher Begriffe dar. In ihm sind die Wörter crear [erschaffen], crescer [wachsen], lazer [Freizeit] sowie prazer [Genuss] miteinander verbunden. Vgl. BRETT, Guy: Situationen, die man erleben soll, in: Sabine Breitwieser (Hrsg.): vivências, Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien, Köln: König, 2000, S. 35-60, hier: S. 54.

60

Vgl. BUCHMANN, 2007, S. 233f.

61

OITICICA, Hélio: Muße-Tun (Crelazer) (1969), in: Susanne Gaensheimer/Peter Gorschlüter/Max Jorge Hinderer Cruz/César Oiticica Filho (Hrsg.): Hélio Oiticica. Das große Labyrinth, Ausst.-Kat. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Ostfildern: Hatje Cantz, 2013, S. 237-243, hier: S. 242. Der Originaltext, in dem Oiticica sein Konzept des Crelazer theoretisiert, erschien unter gleichnamigem Titel erstmals 1969 in Auszügen in: Revista da Cultura Vozes, Petrópolis, Aug. 1970, und vollständig in: Hélio Oiticica: Aspiro ao Grande Labirinto, Rio de Janeiro: Rocco, 1986, S. 113117.

62

Vgl. BREITWIESER, 2000, S. 51ff.

Die Bewegung des Tropicalismo | 107

Clarks Installation A Casa é o Corpo einen Schutzraum für die Rezipient/innen darstellen. So konstatiert der Künstler: „[…] die Strukturen werden allgemein, sind offen für kollektiv-zufälliges-momentanes Verhalten; In Whitechapel eröffnet sich das Verhalten für Jeden, der ankommt und sich in die geschaffene Umgebung hineinbegibt, von der Kälte der Londoner Straßen, […] und sich erholt im Sinne eines Zurückkehrens zur Natur, in die Wärme der Kindheit, die es ihm erlaubt, absorbiert zu werden: Selbstabsorbierung, im Uterus des offen konstruierten Raumes […].“63

Abbildung 45: Hélio Oiticica: Éden, 1969

Die Konzeption der Installation als Ruhe- und Erlebnisraum findet sich auch in der Werkgruppe der Quasi-Cinemas [Quasi-Kinos], bei der es sich um vertonte DiaSerien handelt, die auf die Wand eines Ausstellungsraumes projiziert werden, wobei dieser mit Sitz- und Liegemöglichkeiten für die Besucher/innen ausgestattet ist und über Spielmöglichkeiten verfügt. Innerhalb der Dia-Reihe veranschaulicht insbesondere die 1973 entstandene Serie Block-Experiments in Cosmococa64 (Abb. 63

OITICICA, Hélio: Apocalipópotese (1969), in: Ders.: Aspiro ao Grande Labirinto, Rio de Janeiro: Rocco, 1986, S. 128-134, hier: S. 130: „[...] as estruturas tornavam-se gerais, dadas abertas ao comportamento coletivo-casual-momentâneo; em Whitechapel o comportamento se abre, para quem chega e se debruça no ambiente criado, do frio das ruas londrinas, [...] e se recria como de volta à natureza, ao calor infantil de se deixar absorver: autoabsorção, no útero do espaço aberto construído […].“

64

Oiticica beginnt die Arbeit an den Quasi-Cinemas bereits 1969. Die Cosmococa-Serie besteht aus neun Teilen und ist aus einer Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Neville d’Almeida hervorgegangen. Vgl. BASUALDO, Carlos: Hélio Oiticica. QuasiCinemas, Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein/New Museum of Contemporary Art/Wexner Center for the Arts, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2001, S. 50.

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46) Oiticicas Bezug auf das von de Andrade begründete Konzept einer selbstbewussten Einverleibung westlicher Kulturelemente, wodurch hierarchische Identitätsmodelle subvertiert werden. Der Künstler benutzt für seine Dia-Reihe fotografische Vorlagen von Büchern, Plattencovern und Modezeitschriften, die prominente europäische und US-amerikanische Persönlichkeiten aus Film, Musik, Literatur und Kunst zeigen, wie Marylin Monroe, Jimi Hendrix, Yoko Ono, die Rolling Stones, John Cage oder Martin Heidegger. Die Auswahl der Figuren ist als Hommage an die Personen zu verstehen, die damals Oiticicas intellektuellen Umkreis bildeten. Die einzelnen Szenen der Dias zeigen, wie diese Bilder der Prominenten mit Kokain bemalt werden, das dann von einem androgyn wirkenden Mann geschnupft wird. Oiticica setzt mit dieser Handlung eine symbolische Einverleibung der berühmten Personen mittels Drogenkonsum ins Bild, worin eine ironische Aneignung massenmedialer Bilder stattfindet.65 Abbildung 46: Hélio Oiticica (in Zusammenarbeit mit Neville d‘Almeida): Quasi-Cinemas (aus der Serie Block-Experiments in Cosmococa), 1973

Im Genuss halluzinogener Drogen verbinden sich Oiticicas Modelle des Crelazer und des Suprasensorial im Sinne einer Ausweitung der Freizeitkultur und einer Bewusstseinserweiterung. Zudem liegt im Kokainkonsum ein Verweis auf die im Zuge der Kolonisierung Lateinamerikas untergegangene Kultur der Inkas, in der die Coca-Pflanze eine medizinische und spirituelle Bedeutung hatte. 66 Nach der Entdeckung des Kokains durch die Kolonisatoren wurde der Anbau des Coca-Strauchs illegalisiert und als reine Droge instrumentalisiert. Oiticica stellt mit dem histori65

Vgl. BUCHMANN, 2007, S. 266, 268.

66

Vgl. Hélio Oiticica in einem vom 11.07.1974 datierten Brief an Lygia Clark, in: Lygia Clark/Hélio Oiticica: Cartas 1964-74, Rio de Janeiro: Editora UFRJ, 1996, S. 225-233, hier: S. 226, 233.

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schen Bezug auf das Kokain die Komplizenschaft zwischen dem kapitalistischen Produktionssystem und kolonialen Ausbeutungsmechanismen heraus. In diesem Kontext formuliert sich im Drogenkonsum eine Widerstandshaltung gegen Imperialismus und Kapitalismus.67 Die Cosmococa-Serie stellt sich als ein experimentelles Zusammenspiel verschiedener Kunstgattungen dar, wie jene von Musik, Film, Fotografie, Malerei und Skulptur. Oiticicas Quasi-Cinemas nehmen Bezug auf das brasilianische Untergrundkino und auf das politisch-experimentelle Kino des Cinema Novo, welches aus der tropikalistischen Bewegung heraus entstand. Die Filme der Regisseure Glauber Rocha und Joaquim Pedro de Andrade beziehen sich auf die Antropofagia und stellen eine Gegenhaltung zur Dominanz des US-amerikanischen Films dar.68 Neben Oiticicas Bezug auf das Kino referieren die Quasi-Cinemas auch auf die musikalische Strömung der Tropicália, mit Gilberto Gil und Caetano Veloso als deren wichtigste Vertreter.69 Der Bezug auf das modernistische Konzept der Antropofagia, der sich vielfach in der Vermischung unterschiedlicher Kunstgattungen und kultureller Ausdrucksweisen äußerte, kam im Tropicalismo der 1960er und 1970er Jahre neben der Bildenden Kunst, der Musik und dem Kino außerdem in der Poesie und dem Theater zum Tragen.70 Das Moment des Tropicalismo stellt demnach ein gattungsübergrei67

Vgl. BASUALDO, 2001, S. 52; sowie BUCHMANN, 2007, S. 267.

68

Vgl. BASUALDO, 2001, S. 44f.

69

An die Antropofagia anknüpfend, verbinden Gilberto Gil und Caetano Veloso die EGitarre mit dem Samba und vermischen unterschiedliche Musikstile, wie den Bossa Nova, die Rockmusik und die serielle Musik. Verloso legt in seinem Buch Verdade Tropical [Tropikalistische Wahrheit] die Bedeutung des anthropophagen Konzepts für die musikalische Bewegung des Tropicalismo dar: „Wir Brasilianer sollten nicht imitieren, sondern vielmehr neue Informationen verschlingen, von wo auch immer diese herkommen […]. Die Idee des kulturellen Kannibalismus passte zu unserem tropikalistischen Ziel wie ein Handschuh. Wir aßen sowohl die Beatles wie auch Jimi Hendrix.“ VELOSO, Cateano: Verdade Tropical, São Paulo: Companhia das Letras, 1997, S. 247: „Nós, brasileiros, não deveríamos imitar e sim devorar a informação nova, viesse de onde viesse […]. A idéa do canibalismo cultural servia-nos, aos tropicalistas, como uma luva. Estávamos comendo os Beatles e Jimi Hendrix.”

70

Das Teatro Oficina von José Celso Martinez Correa aktualiserte das anthropophage Konzept mit dem 1967 aufgeführten Bühnenstück O rei da vela [Der Kerzenkönig] von Oswald de Andrade. Den tropikalistischen Ansatz in der Literatur verdeutlicht besonders die 1967 veröffentlichte Novelle PanAmérica [Panamerica] von José Agrippino de Paula. Zudem knüpften bereits in den 1950er Jahren die Vertreter/innen der konkreten Poesie an de Andrades Anthropophagie-Konzept wieder an. Hierunter sind vor allem Décio Pignatari sowie Augusto und Haroldo de Campos zu nennen.

110 | Strategien der Einverleibung

fendes politisches und soziales Projekt dar, in dem die Wiederbelebung der Strategie der Einverleibung dazu dienen konnte, gegen die Militärregierung und die USamerikanische Hegemonie Stellung zu beziehen wie auch Kritik an der Konsumindustrie und an dem Einfluss der Massenmedien zu üben. Die kulturelle Anthropophagie des Modernismo wurde von Oiticica und Clark durch die Operation mit realen Körpern weitergeführt und nahm damit die Dimension sozialer Aktionen an, die in das öffentliche und politische Leben eingreifen sollten. Unter Bezug auf die Metapher der Einverleibung formulierten sie anhand ihrer künstlerischen Projekte ein Nationalitätsbewusstsein, welches mit Universalismus gepaart war, und ein Kulturverständnis, welches sich auf Hybridität gründete.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst

Die Bewegung des Tropicalismo übersetzte die Antropofagia in die Zeit der 1960er und 1970er Jahre, wodurch sie für weitere Bedeutungsfelder geöffnet wurde und in neuen ästhetischen Ausdrucksformen zur Anwendung kam. Hierdurch fand bereits eine erste Aktualisierung und Weiterentwicklung des modernistischen Konzepts statt. Die zeitgenössische Rezeption der Antropofagia knüpft vielfach an die tropikalistischen Werkansätze Lygia Clarks und Hélio Oiticicas an, hebt sich jedoch insofern von ihnen ab, als dass die Einbindung in eine gemeinsame nationale Avantgardebewegung fehlt. Die Formulierung eines nationalen Standpunkts tritt in den künstlerischen Arbeiten Ricardo Basbaums, Anna Maria Maiolinos, Cildo Meireles‘, Ernesto Netos und Adriana Varejãos gänzlich zurück. Ein weiteres gemeinsames Charakteristikum aller zeitgenössischen Positionen, die das Thema der kulturellen Anthropophagie verhandeln, ist eine Beschäftigung mit den Begriffen Körperlichkeit, Identität und Hybridität. Während die Analyse der Werke Adriana Varejãos und Cildo Meireles‘ eine Weiterführung der postkolonialen Kritik de Andrades erkennen lässt, wird die Antropofagia in ihrer Rezeption durch Anna Maria Maiolino, Ernesto Neto und Ricardo Basbaum über den Postkolonialismus hinausgedacht und im Spannungsfeld von Migration, Ethnizität und Geschlecht thematisiert.

DEKOLONISIERUNGSSTRATEGIEN Oswald de Andrade entwickelt in seinem Manifesto Antropófago ein postkoloniales Widerstandskonzept gegen koloniale Herrschaftsformen und ihre Auswirkungen, womit er den Versuch einer Dekolonisierung unternimmt, welche die eigene Kultur aus ihrer peripheren und unterdrückten Position befreien soll. Eine Weiterführung dieser postkolonialen Kritik lässt sich in einem Teil der zeitgenössischen Rezeption der Antropofagia finden. Die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen

112 | Strategien der Einverleibung

Vergangenheit des Landes stellt sowohl für Cildo Meireles, dessen künstlerische Laufbahn in den 1970er Jahren während der Hochphase der Militärdiktatur beginnt, ein zentrales Thema dar, als auch für Adriana Varejão, deren Frühwerk in den 1990er Jahren entsteht. Unter dem Eindruck von Unterdrückung, Zensur und Folter beschäftigt sich Meireles in seinen installativen und konzeptuellen Arbeiten von Beginn an mit Formen des ideologischen Widerstandes und einer Analyse von Macht- und Ausschlussmechanismen, worin eine Auseinandersetzung mit kolonialen Strukturen stattfindet. Varejão analysiert in ihren Gemälden historische Dokumente des Kolonialismus, um eine postkoloniale Kritik zu formulieren. Die modernistische Strategie der kritischen Inkorporation westlicher Kulturelemente bildet eine wichtige Bezugsquelle in beiden künstlerischen Ansätzen. Ein zentrales Anliegen Meireles‘ wie Varejãos ist es, in ihren Werken kolonial geprägte Stereotype zu dekonstruieren und strategische Verschiebungen eurozentrischer Kategorisierungen, wie jene von Primitivismus und Zivilisierung, herbeizuführen. Darüber hinaus dient ihnen die Aneignung des anthropophagen Konzepts dazu, in ihren Werken hybride Identitätspositionen zu formulieren, wodurch sie essentielle Vorstellungen von kultureller Reinheit unterlaufen. Die Rezeption der Antropofagia entspricht in beiden künstlerischen Werkansätzen erneut einer postkolonialen Widerstandsgeste und ist somit als Teil einer Dekolonisierung zu lesen. Adriana Varejão und Cildo Meireles können daher in der Position postkolonialer Kritiker/innen gesehen werden, deren künstlerische Projekte strukturelle Ähnlichkeiten mit den Theoriekonzepten des Postkolonialismus aufweisen. Anthropophagie und postkoloniale Kritik Die Formulierung einer kolonialismuskritischen Haltung unter Bezug auf die Antropofagia findet sich in expliziter Weise in Cildo Meireles’ Installation Missão/Missões (Como Construir Catedrais) [Mission/Missionen (Wie man Kathedralen baut)] von 1987 (Abb. 47). Meireles thematisiert hierin die Missionierungen der indigenen Bevölkerung Brasiliens durch die Jesuiten.1 Diesen Verweis auf einen Aspekt der brasilianischen Kolonialgeschichte verbindet der Künstler durch symbolisch aufgeladene Materialien mit dem Thema der Anthropophagie. So finden die Rezipient/innen beim Eintreten des von schwarzen Stoffbahnen umgebe-

1

Die Arbeit wurde erstmals 1987 in der Gruppenausstellung Missões 300 Annos – A Visăo do Artista [300 Jahre Missionen – Eine künstlerische Sicht] ausgestellt, die im Teatro Nacional in Brasília stattfand und die Missionierungen der indigenen Völker durch die Jesuiten thematisierte. Vgl. HERZOG, Hans-Michael (Hrsg.): Seduções: Valeska Soares, Cildo Meireles, Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Daros-Latinamerica AG, Zürich, Ostfildern: Hatje Cantz, 2006, S. 85.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 113

nen Kubus einen sakral anmutenden Raum vor, in dessen Zentrum eine Reihe aufeinander geschichteter Oblaten von der aus dicht gehängten Knochen bestehenden Raumdecke zum Boden führt, der von einer Aufschüttung von Geldmünzen gebildet wird. Abbildung 47: Cildo Meireles: Missão/Missões (Como Construir Catedrais), 1987

Der Jesuitenorden erreichte Brasilien im Jahr 1549 und nahm sich zur Aufgabe, die in ihren Augen heidnische und kulturlose lokale Bevölkerung zum christlichen Glauben zu führen und sie zu ‚zivilisieren‘. Zu diesem Zweck in Jesuitenreduktionen zusammengeführt, wurden die indigenen Völker zur Sesshaftigkeit gezwungen und damit der Fundamente ihrer Gesellschaftsstrukturen beraubt.2 Meireles macht 2

Neben der Nacktheit, der Polygamie, dem Schamanismus und dem Nomadentum diente den Jesuiten insbesondere die unterstellte Praxis des Kannibalismus als Begründung für die Moral- und Kulturlosigkeit der indigenen Völker. Vgl. JAECKEL, Volker: Von Alterität, Anthropophagie und Missionierung. Der Einfluss der Jesuiten auf die kulturelle Identität Brasiliens in der Kolonialzeit (1549-1711), Stuttgart: ibidem, 2007, S. 18ff. Fernando Amado Aymoré bezeichnet die kolonialen Missionsdörfer der Jesuiten in Brasilien als „militärisch überwachte Internate […] mit Anwesenheitspflicht. […] Die Indios wurden darin vor Flucht oder Zuwiderhandlungen durch Kontrollen abgehalten und durch militärische Expeditionen oder kriegerische Strafaktionen aus ihren freien Wohnorten im Landesinneren zurückgeführt.“ AYMORÉ, Fernando Amado: Die Jesuiten im kolonialen Brasilien. Katechese als Kulturpolitik und Gesellschaftsphänomen (1549-1760), Frankfurt am Main: Peter Lang, 2009, S. 201. Gleichzeitig boten die Jesuitenreduktionen den Indigenen auch Schutz vor den Bandeirantes. Diese waren zumeist private Expeditionstruppen, die auf der Suche nach Gold das brasilianische Landesinne-

114 | Strategien der Einverleibung

in seiner Installation auf die Zerstörung der indigenen Kultur aufmerksam und hebt hervor, dass die Kirche neben der militärischen und politischen Macht als eine wichtige Stütze des Kolonialsystems gesehen werden muss, für deren Ausbau der Jesuitenorden sorgte. Der Künstler stellt die Verflechtung von materiellen Interessen und Missionsaufgaben durch die Materialwahl heraus, indem er die Hostien als Symbole für den Katholizismus mit den Geldmünzen verbindet. In Kombination mit den Knochen, die mit dem Tod assoziiert werden, betont er, dass aus der Symbiose zwischen Imperialismus und Kirche eine zerstörerische Kraft ausgeht, wonach die ‚Erste Welt‘ auf den Opfern der ‚Dritten Welt‘ errichtet ist.3 Die Gebeine aus Rinderknochen, die nach Meireles menschlichen Hüftgelenken ähneln sollen,4 können als dezidierte Verweise auf die Anthropophagie gedeutet werden. Indem Meireles in diesem Zusammenhang Hostien verwendet, verweist er auf die Praxis der Eucharistie in der christlichen Kirche, bei welcher der Körper Christi den Gläubigen einverleibt wird.5 Hedwig Röckelein bezeichnet die Eucharistie als „die bedeutendste symbolische Handlung aus dem Umfeld des Kannibalismus, die das abendländisch-christliche Europa praktizierte.“6 Bei der Eucharistiefeier wird im Akt der Transsubstantiation die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi vollzogen. Auf dem vierten Laterankonzil von 1215 wird diese Wesensverwandlung als Dogma festgeschrieben. Dort heißt es: „Es gibt nur eine allgemeine Kirche der Gläubigen. Außer ihr wird niemand gerettet. In ihr ist Jesus Christus Priester und Opfer zugleich. Sein Leib und Blut ist im Sakrament des Altares unter den Gestalten von Brot und Wein wahrhaft enthalten, nachdem durch Gottes Macht das Brot in den Leib und der Wein in das Blut wesensverwandelt sind: damit wir von dem Seinigen empfangen, was er von dem Unsrigen annahm, und so die geheimnisvolle Einheit vollendet werde.“7

re erschlossen. Durch ihre Absicht, die indigene Bevölkerung zu versklaven, kam es zu wiederholten Konflikten mit den Jesuiten. Die Legitimierung der Unterjochung der Indigenen durch die Christen konnte durch diesen Umstand verstärkt werden. Vgl. ebd., S. 206f. 3

Vgl. ANDERSON, Susan M.: Body to Earth – Three Artists from Brazil: Cildo Meireles, Mario Cravo Neto, Tunga, Ausst.-Kat. Fisher Gallery, University of Southern California, Los Angeles, Los Angeles: Fisher Gallery, 1992, S. 12.

4

Vgl. HERZOG, 2006, S. 86.

5

Vgl. ANDERSON, 1992, S. 12.

6

RÖCKELEIN, 1996, S. 12.

7

FOREVILLE, Raymonde (Hrsg.): Lateran I-IV, Mainz: Matthias-Grünewald, 1970, S. 334.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 115

Im Konzil von Trient wird 1551 die eucharistische Lehre ausführlich dargelegt. Es wird von einer Realpräsenz Christi im Sakrament ausgegangen, womit deutlich wird, dass bei der Transsubstantiation eine Wandlung in den Leib und das Blut Christi im wirklichen und nicht allein im symbolischen Sinne gemeint ist. Dementsprechend wird im Abendmahl der Körper Christi in Gestalt der Hostie von der Gemeinde inkorporiert, wodurch sich die Gläubigen mit Christus und der Kirche vereinigen.8 Mit dem Verweis auf die anthropophage Praxis der christlichen Kirche wirft Meireles den Vorwurf der Anthropophagie auf Europa zurück und weist die sogenannten zivilisierten Kulturen als die eigentlichen Kannibalen aus. Demnach vollzieht der Künstler eine strategische Umkehrung der dichotomen Kategorisierungen von Primitivismus und Zivilisierung, die in ähnlicher Weise bereits von Michel de Montaigne in seinem Essay Des cannibales formuliert und später von Oswald de Andrade weitergeführt wurde. Die inhaltliche Verschränkung von Anthropophagie und postkolonialer Kritik findet sich auf ebendiese Weise auch in Adriana Varejãos Gemälde Proposta para uma Catequese [Vorschlag für eine Katechese] von 1993 (Abb. 48). Das als Diptychon angelegte Ölgemälde besteht aus einem Kleinformat, das eine Blumenornamentik zeigt, sowie einem großformatigen Bild, in welchem sich die Künstlerin auf die Ikonographie der kolonialen Reiseberichterstattung bezieht. Unter einer monumentalen, mit Putten geschmückten barocken Portikusarchitektur, die sich vom linken Bildrand in die Mitte des Gemäldes erstreckt, sind Szenen des indigenen Ritualkannibalismus dargestellt, die eine Illustration aus Theodor de Brys America (Abb. 8d) zitieren: Im Zentrum des Bildes ist eine Tötungsszene abgebildet, in welcher der bärtige Europäer in Gestalt von Jesus Christus dargestellt ist, der mit seiner rechten Hand den Segensgestus ausführt. Er wird mittels eines um die Hüften gebundenen Seiles von einem Indigenen festgehalten, während ein zweiter die Zeremonialkeule zum tödlichen Schlag erhebt. In der unteren Bildmitte steht ein befeuerter Kessel bereit, neben dem am rechten Bildrand Frauen ein männliches Opfer zum Verspeisen zubereiten. Einzelne Bildpassagen sind mit roter Farbe umrandet, was ein gewaltvolles Aufbrechen der Leinwand in Form von blutigen Einschnitten in die Bildoberfläche suggeriert. Pointiert ist das linke Bein des dargestellten Europäers mit einer roten Linie eingefasst, worin ein expliziter Verweis auf die Anthropophagie besteht und was mit Tarsila do Amarals Geste der Hervorhebung 8

Vgl. KILGOUR, Maggie: From Communion to Cannibalism. An Anatomy of Metaphors of Incorporation, Princeton: Princeton University Press, 1990, S. 80; sowie RUBIN, Miri: Der Körper der Eucharistie im Mittelalter, in: Klaus Schreiner/Norbert Schnitzler (Hrsg.): Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München: Wilhelm Fink, 1992, S. 25-37, hier: S. 36.

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einzelner Gliedmaßen durch Überdimensionierung in ihren Gemälden Abaporú und Antropofagia korrespondiert. Abbildung 48: Adriana Varejão: Proposta para uma Catequese – Parte I Díptico: Morte e Esquartejamento, 1993

In der gemalten Stuckverzierung des Portikusbogens befindet sich die lateinische Inschrift Qui manducat meam carnem et bibit meum sanguinem in me manet et ego in illo. Johannem 6,57, womit Varejão die Worte Jesu im Johannes-Evangelium zitiert, in dem er die Eucharistie bezeugt.9 Die Künstlerin verbindet somit in einer sehr ähnlichen Geste wie es in Meireles’ Installation Missão/Missões (Como Construir Catedrais) der Fall ist, den anthropophagen Ritus mit der Praxis der Eucharistie und wirft den Anthropophagie-Vorwurf auf die Kolonialkultur zurück. Der Titel Proposta para uma Catequese verdeutlicht nach den Worten Varejãos diese Umkehrung: „It’s the catechism in reverse. In this case, the people teaching the lesson, the miracle of transubstantiation, are the Indians!“10 9

Jesus spricht: „Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und wie ich durch den Vater lebe, so wird jeder, der mich isst, durch mich leben.“ Die Bibel, Joh. 6, Vers 57.

10

Adriana Varejão im Interview mit Hélène Kelmachter, in: Sophie Perceval/Adeline Pelletier (Hrsg.): Adriana Varejão: Câmara de Ecos, Ausst.-Kat. Centro Cultural de Belém, Lissabon/Fondation Cartier pour l’art contemporain, Paris, Nantes: Imprimerie Le Govic, 2005, S. 79-99, hier: S. 99.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 117

Indem Varejão und Meireles in ihren Arbeiten die selbst ernannten Zivilisierten als die eigentlichen Barbaren vorführen, so die koloniale Geschichtsschreibung kritisch umwerten und Europa den Spiegel vorhalten, stehen sie in der Tradition von de Andrades Aneignung und Umformulierung der Figur des Anthropophagen, die er dekonstruiert und metaphorisch auf Europa zurückwirft. Ihre Werke decken auf, dass die Konstruktion der Anthropophagie im Zuge des Kolonialismus im Zusammenhang eines europäischen imperialistischen Projekts zu sehen ist, bei dem die Institution Kirche eine wichtige Mittäterrolle einnimmt. Dieses Vorgehen verbindet die beiden künstlerischen Ansätze mit einem postkolonialen Kritiker wie Edward Said, der kolonial geprägte Stereotype entlarvt und herausstellt, dass die Repräsentationen des Fremden nicht im Interesse einer Wirklichkeitsabbildung, sondern im Dienst ökonomischer und politischer Belange stehen.11 Da die zeitgenössische Adaption der Antropofagia Varejão und Meireles letztlich dazu dient, in ihren Werken eine Dezentralisierung okzidentalen Denkens zu bewirken, führen sie das von de Andrade initiierte Dekolonisierungsprojekt fort. Dementsprechend sind Beide im Sinne Walter D. Mignolos in der Position lateinamerikanischer, dekolonialer Denker/innen zu verstehen, die mit ihren künstlerischen Arbeiten eine interventionistische Praxis verfolgen. So konstatiert Mignolo: „Der Dekolonialismus versteht sich als Intervention, als eingreifende Praxis: So wie Länder von Kolonialherren befreit wurden, gilt es Wissenschaften, Denken und Alltagspraxen von Kolonialität zu befreien.“12 Die strategische Dekonstruktion eurozentrischer Sichtweisen, die in den Kunstwerken im Spannungsfeld von Anthropophagie, Kolonialismus und Katholizismus zur Anwendung kommt, entspricht dem von Mignolo geforderten Epistemischen Ungehorsam, der für eine Loslösung von einer „Wissensproduktion“ eintritt, „die sich durch die systematische Negation und Abstraktion der Möglichkeit anderer Wissensgefüge charakterisiert“ und sich „auf der Grundlage der (christlichkatholischen) Theologie errichtete, mit der Eroberung Amerikas missionarisch durchgesetzt wurde und ihre geopolitische Bedeutung gewann.“ 13

11

Vgl. SAID, 2009 (1978).

12

MIGNOLO, 2012, S. 23.

13

Ebd., S. 24f.

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Adriana Varejão: Dekonstruktion kolonialer Repräsentationsweisen Anthropophagy is present in all of my works whenever several issues are involved: cultural absorbtion, dismemberment, deconstruction, transculturalism, the devouring power of eroticism. Modernity in Brazil is based on this notion of anthropophagy, on the capacity to incorporate foreign ideas and transform them into your own.14 Adriana Varejão

Die anthropophage Aneignung der europäischen Bildsprache des kolonialen Zeitalters bildet den zentralen Kern innerhalb des Œuvres von Adriana Varejão. In ihrer Serie der Figuras de Convite [Eingangsfiguren] (Abb. 49, 50) rekurriert Varejão erneut auf die historischen Kannibalismusdarstellungen de Brys, um eine postkoloniale Kritik zu formulieren. In anthropophager Manier zitiert die Künstlerin zwei Bildversionen von de Brys weiblichen Picten seines ersten Americae-Teiles von 1590 (Abb. 51, 52), die ihres ursprünglichen Kontextes entnommen und durch Titel und Handgestik als Eingangsfiguren ausgewiesen werden. Die Figura de Convite ist ein Genre der Fliesendekoration, die in portugiesischen Palästen, Gärten und Höfen zu finden ist. Ein Beispiel für eine solche Eingangsfigur findet sich im Treppenhaus des Palacio do Patriarca in Santo Antão do Tojal in Lissabon (Abb. 53). Die Bartolomeu Antunes de Jesus zugeschriebene Figur zeigt einen Adligen, der eine Geste der Höflichkeit verkörpert und die Funktion innehat, die Besucher/innen willkommen zu heißen.15 Varejão eignet sich diese europäische Bildfigur an und transformiert sie, indem sie den männlichen, höfisch gekleideten Patriarchen durch eine nackte, tätowierte Barbarin ersetzt. Während in Figura de Convite I von 1997 der Blick durch die Balustrade die Kannibalismus-Szenen de Brys offenbart (Abb. 8a/b), begegnet uns in Figura de Convite III von 2005 America selbst als Kannibalin, die ein abgetrenntes Haupt in der Hand hält, ein Bildtypus, der sich beispielsweise in der nach 1579 entstandenen Allegorie von Theodor Galle findet (Abb. 12). Hiermit referiert Varejão auf die Ambivalenz von Faszination und Abscheu, die in

14

Adriana Varejão im Interview mit Hélène Kelmachter, in: Sophie Perceval/Adeline Pelletier (Hrsg.): Adriana Varejão: Câmara de Ecos, Ausst.-Kat. Centro Cultural de Belém, Lissabon/Fondation Cartier pour l’art contemporain, Paris, Nantes: Imprimerie Le Govic, 2005, S. 79-99, hier: S. 95.

15

Vgl. PEDROSA, Adriano: Adriana Varejão. Trabalhos e referências 1992-1999, São Paulo: Galeria Camargo Vilaça, 1999, S. 11; sowie SANTIAGO, 2009, S. 85ff.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 119

den europäischen Phantasien in Bezug auf den fremden, weiblichen Körper zum Ausdruck kommt, welcher als Inkarnation der Barbarei, jedoch auch als Verkörperung idealer Schönheit und purer Erotik fungierte. So wird im Kupferstich von Galle augenscheinlich, wie Nacktheit, Kannibalismus und Sexualität die zentralen Merkmale der ‚Neuen Welt‘ darstellten. Abbildung 49: Adriana Varejão: Figura de Convite I, 1997 Abbildung 50: Adriana Varejão: Figura de Convite III, 2005

Eine weitere Aneignung europäischer Kulturelemente findet sich in beiden Gemälden in der Imitation der Azulejos, einer blau-weißen Kachelverkleidung, die das Stadtbild in Portugal prägt und im Zuge des Kolonialismus nach Brasilien gelangte. Neben der Bildung großformatiger Wandbilder, in welcher Weise sich die traditionellen Eingangsfiguren zusammensetzen, findet man die Fliesen auch kleinformatig als Innendekoration oder an Hausfassaden von Restaurants, Bahnhöfen und Kathedralen und Privathäusern.16 Die typische florale oder mit Tiermotiven gestaltete Ornamentik der als trompe l’oil gemalten Fliesen wird in Varejãos jüngerer Arbeit durch Elemente abgetrennter Gliedmaßen unterbrochen, während der Grund, auf dem die Figur steht, von blutigem Dekor gesäumt ist. Angesichts dieser vielfältigen Verweise auf die Praxis der Anthropophagie lesen sich Varejãos Gemälde als „Pa-

16

Vgl. dos SANTOS SIMÕES, João Miguel: Estudos de Azulejaria, Lissabon: Imprensa Nacional-Casa da Moeda, 2001, S. 17ff.

120 | Strategien der Einverleibung

rodie auf die Theorie der Repräsentation,“17 die als pure Illusion entlarvt wird, da die Künstlerin die koloniale Gewalt hinter dem schönen Schein sichtbar macht. Entsprechend des Andradschen Konzepts unterzieht die Gegenwartskünstlerin die angeeigneten europäischen Kulturelemente einer kritischen Transformation, innerhalb derer eine strategische Verschiebung der Gegensatzpaare von Primitivismus und Zivilisierung herbeigeführt wird – eine Geste, die bereits in der Arbeit Proposta para uma Catequese präsent ist, in welcher ebenfalls der Stil der Azulejos imitiert und in den Kontext der Anthropophagie gesetzt wird. Abbildung 51: Theodor de Bry: Das II. Contrafeyt einer Frauwen auß den Picten, 1590 Abbildung 52: Theodor de Bry: Das III. Contrafeyt einer Jungfrawen auß den Picten, 1590 Abbildung 53: Bartolomeu Antunes de Jesus: figura de convite, um 1730

In einer Reihe von Werken, die zwischen Malerei und Skulptur changieren, wird die Zerstörung der portugiesischen Kacheln vorgeführt, die eine klaffende Wunde offenbart, welche auf die Geschichte der kolonialen Gewalt und des Chaos hindeutet, die sich hinter der geordneten Fassade und dem dekorativen Äußeren der Kolonialkultur verbirgt.18 So wird in der Arbeit Língua com padrão sinuoso [Zunge mit gewundenem Muster] von 1998 (Abb. 54) die Schönheit der Azulejos durch ein 17

HERKENHOFF, Paulo: Adriana Varejão. Fotografia como pintura, Rio de Janeiro:

18

Vgl. ARMSTRONG, Elizabeth/ZAMUDIO-TAYLOR, Victor (Hrsg.): Ultra Baroque.

SESC/Ed. Artviva, 2006, S. 11: „paródia da teoria da representação“. Aspects of Post Latin American Art, Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art, San Diego, San Diego: Museum of Contemporary Art, 2000, S. 107.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 121

Aufreißen der Leinwand verstörend unterbrochen, die ihren fleischlich-blutigen Inhalt in Gestalt einer sich plastisch aus dem Gemälde austretenden zungenähnlichen – und damit auf den Vorgang des Einverleibens explizit verweisende – Form preisgibt. Die anthropophage Strategie wird hierbei von Varejão mit Sigmund Freuds Psychoanalyse verbunden, indem sie in ihren Arbeiten gleichsam Unbewusstes an die Oberfläche treten lässt, worin der Charakter einer Therapie besteht.19 Abbildung 54: Adriana Varejão: Língua com Padrão Sinuoso, 1998

In ihrer Hinwendung auf die Aspekte Psychoanalyse und Therapie steht Varejão in der Tradition der künstlerischen Umsetzung des anthropophagen Konzepts durch Tarsila do Amaral, die im Sinne de Andrades die Aufwertung des Primitivismus und die damit verbundene Rückbesinnung auf das vorkoloniale Brasilien als Katharsis versteht. Auch Lygia Clark bezieht sich in ihrer Interpretation der Antropofagia grundlegend auf Freuds Psychoanalyse. In ihrem Körperkonzept, das in Werken wie A Casa é o Corpo oder Baba Antropofágica zum Ausdruck kommt, sollen innerpsychische Prozesse nach Außen treten. Entsprechend intendiert auch Hélio Oiticica mit seinen tropikalistischen Arbeiten eine Befreiung des Individuums aus patriarchalen Verhältnissen. Die Künstler/innen greifen damit einen ganz zentralen Aspekt des Manifesto Antropófago auf, in dem die Grundidee der positiven Neubewertung der Anthropophagie von de Andrade mit Freuds Ausführungen zu Totem und Tabu beschrieben wird. Schließlich ist das anthropophage Konzept wesentlich

19

Vgl. GROSENICK, Uta: Women Artists in the 20th and 21st century, Köln: Taschen, 2008, S. 529.

122 | Strategien der Einverleibung

Ausdruck eines Bestrebens nach einer Heilung, nach der Befreiung des ehemals kolonisierten Menschen. Die in Varejãos Werken dominierende Ästhetik der Gewalt stellt eine bildliche Entsprechung zu der von de Andrade literarisch konzipierten Metapher des gewaltvollen Verschlingens der Kolonialkultur dar und führt zu einer strategischen Umkehrung der Rollen von Kolonisatoren und Kolonisierten. Das Ausbeuten und Zersetzen der kolonialen, kulturellen Elemente entspricht einem emanzipatorischen Akt, der Brasilien aus seiner Opferrolle herauslöst, gleichzeitig aber die historischen Verbrechen der portugiesischen Kolonialherren offenlegt und dezidiert ins Bild setzt. De Andrade rekurriert in seinem Manifesto Antropófago wiederholt auf koloniale Fremddarstellungen Brasiliens. Die Stereotype des rohen Barbaren und edlen Wilden werden parodiert und somit humorvoll ad absurdum geführt. Auch verwendete de Andrade auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe der Revista de Antropofagia vom Mai 1928 eine Illustration de Brys, womit er sich das bildliche Stereotyp Brasiliens als ‚Kontinent der Kannibalen‘ ironisch aneignete. In dieser Tradition stehend, bezieht sich die Aneignung und Subversion der kolonialen Bildsprache in Varejãos Werk nicht nur auf die europäischen Darstellungen der Bewohner/innen Brasiliens als kannibalische Barbaren, sondern beinhaltet auch eine Inkorporation idealisierender Bildstereotype. Dieses parodistische Vorgehen findet bereits in do Amarals Illustrationen des Pau Brasil-Gedichtbandes eine Ausformulierung und gelangt in den zeitgenössischen Malereien Varejãos zu einer neuartigen Umsetzung. Im Zentrum der Arbeit Carne a la manera de Taunay [Fleisch á la Taunay] von 1997 (Abb. 55) hat Varejão ein gerahmtes Landschaftsgemälde platziert, das die Künstlerin mit sich plastisch hervorwölbenden und in die Leinwand vertieften Elementen zersetzt, die blutige Fleischstücke imitieren, welche auf sieben, das Bild umgebenden Porzellantellern verteilt wiederzufinden sind. Varejãos Gemälde ist als Parodie auf die Malerei der Missão Artística Francesa [Französische Künstlerische Mission] zu verstehen, die im Jahr 1816 nach Brasilien reiste und dort die Escola Real de Ciéncias, Artes e Ofícios gründete. Die Künstlerin zitiert hier das Gemälde Vista tirada do Morro da Glória [Blick vom Morro da Glória], welches um 1820 von Nicolas-Antoine Taunay, eines Mitglieds der Mission, während seines Brasilienaufenthaltes angefertigt wurde.20 Es steht exemplarisch für die akademische 20

Die Missão Artística Francesa war eine Gruppe französischer Künstler und Wissenschaftler, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Brasilien reiste mit dem Auftrag, in Rio de Janeiro eine Kunstakademie zu gründen, um mit Unterstützung der portugiesischen Regierung von João VI die Malerei im Land zu professionalisieren. Unter der Leitung des Universitätsprofessoren Joachim Lebreton nahmen, neben den Malern Jean-Baptiste Debret und Nicolas Antoine Taunay, die Bildhauer Auguste Marie Taunay und die Brüder Marc und Zépherin Ferrez an der Mission teil sowie der Architekt Grandjean de Montigny. Die Missão gründete in Rio de Janeiro die Escola Real de

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Malweise der Escola, in der Brasilien unter Bezug auf die Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter romantisiert und idealisiert wird. Taunays arkadische Landschaftsdarstellungen sind durch einen Exotismus geprägt und verkörpern den hegemonialen Blick auf das koloniale Brasilien.21 Abbildung 55: Adriana Varejão: Carne à la Taunay, 1997

Ciéncias, Artes e Ofícios, welche heute unter dem Namen Escola Nacional de Belas Artes do Rio de Janeiro als Kunstakademie fungiert. Jean-Baptiste Debret und Nicolas Antoine Taunay waren akademisch ausgebildete Landschafts- und Historienmaler, die im neoklassizistischen Stil arbeiteten. Vgl. de ABREU NEVES, Laura Maria/ GUIMARÃES DIAS, Mariza/CALDAS XEXÉO, Pedro Martins (Hrsg.): A Missão Artistica Francesa: coleção Museu Nacional de Belas Artes, Rio de Janeiro: Museu Oscar Niemeyer, 2007, S. 5. 21

Vgl. ROMMES, Aarnoud: In Other Words: Subaltern Epistemologies or How to Eat Humble Pie, in: Image and Narrative – Online Magazine of the Visual Narrative, Leuven, Issue 14, 2006, URL: http://www.imageandnarrative.be/painting/Aarnoud _Rommens. htm (Zugriff: 15.01.2010), o. Seitenangabe.

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Analog zu Varejãos vollzogener Zerstörung der portugiesischen Kacheln in anderen Werken zersetzt die Künstlerin das koloniale Dokument durch die Intervention des gewaltvollen Aufreißens und Verletzens des Gemäldes von Taunay und legt die dahinterliegende Realität frei, die sich in Form einer klaffenden Wunde als Ausdruck kolonialer Gewalt zeigt. Die aufgeschnittene Leinwand referiert damit auf die Idee des Gemäldes als Körper, der Geschichte, Kultur und Erinnerung inkorporiert hat. Das auf Tellern verteilte Fleisch, das ein Verspeisen suggeriert, verweist somit ebenso auf das Thema der Anthropophagie wie die Bemächtigung des Bildes von Taunay eine anthropophage Einverleibung darstellt. Varejãos Anwendung des Andradschen Konzepts lässt sich mit Silviano Santiagos Denkfigur des entre-lugar beschreiben. Indem nämlich das koloniale Dokument in der Adaption durch die Künstlerin eine Transformation und kritische Umwertung erfährt, erlangt es einen hybriden kulturellen Zwischenstatus, wodurch eine aktive Destabilisierung europäischer Normen vollzogen wird.22 Santiago selbst, der auch als Kunstkritiker agiert, attestiert Varejãos Werken eine Deterritorialisierung okzidentalen Denkens, was in erster Linie durch eine Inversion und Subversion des Betrachter/innenstandpunkts erreicht wird.23 Frantz Fanon hat ausgeführt, dass die Ausübung kolonialer Macht gerade in dem Privileg bestünde, Geschichte zu schreiben, in der die Einheimischen verdinglicht, entfremdet und zu bloßen Statisten degradiert würden. 24 Mittels der Strategie der Dekonstruktion erzielt die Künstlerin eine Demontage der kolonialen Geschichtserzählung, wodurch sie in der Tradition der Antropofagia steht und das Dekolonisierungsprojekt de Andrades fortführt.

22

Ausgehend von einer Analyse der Position lateinamerikanischer Künstler/innen, die unter neokolonialen Bedingungen zu arbeiten gezwungen seien und sich fortwährend einer westlichen Dominanz ausgesetzt sähen, konstatiert Santiago einen anthropophagen Umgang mit europäischen Kulturelementen. Diese Aneignung stelle jedoch kein passives Kopieren dar, sondern entspreche dem Vorgang einer Dekolonisierung. Indem das Original eine Transformation und kritische Umwertung erführe, finde eine aktive Destabilisierung europäischer Normen statt, wodurch eine systematische Destruktion von Konzepten wie Reinheit und Einheitlichkeit erfolge. Durch diesen anthropophagen Prozess befinde sich der oder die brasilianische Kulturschaffende in einem ambivalenten kulturellen Zwischenstatus, den Santiago mit dem Begriff des entre-lugar belegt. Vgl. SANTIAGO, 2001 (1971), S. 30, 34.

23

Vgl. SANTIAGO, Silviano: The Contemporary and Visionary Fiction of Adriana Varejão. Toward a Poetics of Mise-en-Scène, in: Isabell Diegues (Hrsg.): Adriana Varejão. Entre carnes e mares, Rio de Janeiro: Cobogó, 2009, S. 85-96, hier: S. 87f.

24

Vgl. FANON, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt am Main: Syndikat, 1980 (1952), S. 58.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 125

Subversion kolonialer Geschlechterdifferenzen Ein besonderer Fokus in Varejãos Appropriationen kolonialer Repräsentationsweisen gilt der Analyse der stereotypen Geschlechterdifferenz, die diesen inhärent ist. Die in europäischen Reiseberichten durch Wort und Bild hergestellte Dichotomie zwischen männlichem Eroberer und feminisierter Fremde, die bereits in Varejãos Figuras de Convite thematisiert ist, wird in weiteren Arbeiten subvertiert. Dabei steht die Hinwendung zur (post)kolonialen Frau im Fokus ihres Interesses, wodurch die Künstlerin feministische Anliegen artikuliert. In ihrem ovalförmigen Gemälde Hijo Bastardo [Bastardsohn] von 1992 (Abb. 56), rekontextualisiert Varejão erneut die idealisierende Malerei der Missão Artística Francesa und verwandelt sie in eine verstörende Darstellung. Die Künstlerin stellt in einer tropischen Waldlandschaft sexuelle Gewalt gegen Frauen dar, die zum einen von einem Geistlichen ausgeübt wird, der links im Bild eine Sklavin vergewaltigt, während zum anderen im rechten Bildteil zwei Funktionäre eine an einen Baum gefesselte nackte Indigene demütigen. Im Zentrum des Bildes verläuft ein vertikaler Schnitt, der das Gemälde aufbricht und sich als blutige, klaffende Wunde präsentiert und so die Assoziation zu einer vergewaltigten Vagina aufkommen lässt. Das Bild liest sich als Anklage gegen den Kolonialismus, wobei die Wunde eine physische Manifestation für die Erfahrung von militärischer und religiöser Gewalt in der kolonialen Vergangenheit Brasiliens darstellt. Der Titel der Arbeit deutet die Weiterführung der Szene an, wodurch Varejão auf die Ausübung kolonialer Gewalt als Ursprung einer brasilianischen Heterogenität hinweist.25 Die ins Bild gesetzten Funktionäre sind dem Gemälde Um Funcionário a Passeio com sua Família [Ein Funktionär auf dem Spaziergang mit seiner Familie] entnommen (Abb. 57), welches der zwischen 1834 und 1839 entstandenen Serie Viagem Pitoresca e Histórica ao Brasil [Pittoreske und Historische Reise nach Brasilien] des französischen Historienmalers Jean-Baptiste Debret entstammt. Darin stellt Debret den europäischen, männlichen Kolonialherren als friedlichen Anführer der heterogenen brasilianischen Gesellschaft dar.26 Varejão eignet sich dieses koloniale Dokument im anthropophagen Gestus an und unterzieht es durch ihre Manipulation einer kritischen Umformulierung. Durch die Dekonstruktion der kolonialen Repräsentationsweisen eröffnet Varejão einen postkolonialen Gegendiskurs zur offiziellen Geschichtsschreibung. Die Strategie, Geschichte umzuwerten, derer sich Varejão bedient, wird von de Andrade in seinem Manifest auf ironische 25

Vgl. HERKENHOFF, Paulo: Adriana Varejão. Paginas de Arte e Teatro da História, in: Thomas Cohn (Hrsg.): Proposta para uma Catequese. Adriana Varejão, Rio de Janeiro: Laserprint Editorial, 1993, o. Seitenangabe.

26

Vgl. HERKENHOFF, Paulo: Adriana Varejão. Painting/Suturing - Pintura/Sutura, Ausst.-Kat. Galeria Camargo Vilaça, São Paulo, São Paulo: Impresora Solart, 1996, S. 3.

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Weise durchgängig angewandt, indem historische Ereignisse neu interpretiert werden, wobei das okzidentale Wissen hinterfragt und der Begriff der Wahrheit neu verortet wird – ein dekoloniales Vorgehen, das dem von Walter D. Mignolo geforderten Epistemischen Ungehorsam entspricht.27 Abbildung 56: Adriana Varejão: Filho Bastardo, 1992 Abbildung 57: Jean Baptiste Debret: Um Funcionário a Passeio com sua Família, 1837/39

Der vertikale Schnitt in die Leinwand, der durch den Bildmittelpunkt verläuft, referiert ebenso auf die zwischen 1958 und 1966 entstandenen, eingeschnittenen monochromen Leinwände Lucio Fontanas. Fontanas Concetti Spaziali [Raumkonzepte], in denen der italienisch-argentinische Künstler mit der Eröffnung eines neuen, skulpturalen Raumes den formalen Versuch einer Abkehr von der traditionellen Malweise unternahm, stellen bereits in den Arbeiten der neokonkreten Gruppe eine zentrale Referenz dar.28 Der durch Fontanas Schnitt entstandene Zwischenraum wird von Lygia Clark in anthropophager Manier aufgegriffen und für ihr Konzept der organischen Linie genutzt, wodurch eine Durchdringung heterogener Elemente formuliert wird. Auch Hélio Oiticicas Raumarbeiten, wie die Installation Grande Núcleo, in denen der Übergang des Gemäldes in den Raum vollzogen wird,

27

De Andrade bleibt jedoch auf einer fiktiven, humorvollen Ebene, wenn er Christus in Bahia zur Welt kommen lässt oder 1554, das Jahr des ersten gegen die Kolonialherren gerichteten anthropophagen Akts, an den Beginn der Zeitrechnung stellt. Vgl. de ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

28

Vgl. HERKENHOFF, Paulo: Lucio Fontana Brasil, Mailand: Charta, 2001, S. 146ff.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 127

beziehen sich auf Fontanas künstlerische Geste des Einschnitts in den Raum, der in einem Zwischenraum mündet.29 Die Referenz auf Fontanas Schnittbilder erweist sich für die Neokonkretist/innen demnach als überaus geeignet, um das anthropophage Konzept zu aktualisieren. Diese Tradition aufgreifend, kommen in Varejãos Arbeit die Inhalte der Antropofagia auf formaler Ebene zum Tragen, indem eine Durchdringung medialer Grenzen vollzogen wird: Durch das Aufbrechen der Leinwand changiert das Kunstwerk zwischen Malerei und Skulptur, wodurch ein hybrider Zwischenraum entsteht. Entsprechend der Metapher der Einverleibung greift Varejão die künstlerische Strategie Fontanas auf,30 wobei ihre Geste des Einschnittes in die Leinwand das Gemälde in einen Körper verwandelt, 31 dessen Verletzungen historische Symbole und gleichsam physische Manifestationen für koloniale – und im Falle der Arbeit Um funcionário a passeio com sua família spezifisch maskuline – Gewalt darstellen.32 Neben rein formalen Analysen wird Fontanas vertikaler Schnitt in die Leinwand auch als Repräsentation des weiblichen Genitals interpretiert und der gewaltvolle Eingriff auf die Bildoberfläche als ein maskuliner Gewaltakt beschrieben.33 Der Männlichkeitsgestus Fontanas wird von Varejão in ihrer Arbeit aufgegriffen und gewendet, indem sie als weibliche Künstlerin agiert. In ihrem Einschnitt in die Leinwand, in ihrer Verwendung des Gemäldes als Körper, der „missbraucht“34 wird, besteht eine weiterführende Referenz zu europäischen Reiseberichten, in denen die ‚Neue Welt‘ mittels einer Körpermetaphorik beschrieben wird, die ein sexualisiertes Verhältnis des europäischen Reisenden zum fremden Raum herstellt. Darin wird das Land wiederholt als jungfräulicher, weibli29

Vgl. Hélio Oiticica in einem unbetitelten Text vom 16. Februar 1961, in: Luciano Figueiredo/Lygia Pape: Hélio Oiticica. Aspiro ao Grande Labirinto, Rio de Janeiro: Rocco, 1986, S. 26-28, hier: S. 28.

30

Herkenhoff verweist auf die anthropophage Einverleibung von Fontanas Arbeiten in den Werken Adriana Varejãos. Vgl. HERKENHOFF, Lucio Fontana Brasil, 2001, S. 146.

31

Vgl. MOSQUERA, Gerardo: Adriana Varejão. Secos e Molhados, Madrid: Galeria Soledad Lorenzo, 2002, S. 11.

32

Vgl. GROSENICK, 2008, S. 529.

33

Vgl. WHITE, Anthony: Lucio Fontana: The Post-Fascist Masculine Figure, 2005, URL: http://www.academia.edu/2588323/_Lucio_Fontana_The_Postfascist_Masculine_Figur e_ (Zugriff: 20.08.2015), S. 1ff.

34

Adriana Varejão äußert sich folgendermaßen: „Ich liebe und hasse das Gemälde, weil es in meiner Darstellung ein Fressen, einen Einschnitt, einen Mord repräsentiert. Es ist ein Körper, den ich benutze und missbrauche.“ Adriana Varejão im Interview mit Sabina Deweik, in: Jornal da Tarde, São Paulo, 07.05.1996, S. 9: „Eu amo e odeio a pintura porque a represento sendo comida, sendo cortada e morta. É um corpo que eu uso e abuso.“

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cher Körper verbalisiert und dadurch zum Objekt degradiert, das der Potenz des europäischen Eroberers unterworfen ist. In einem Zustand der Unschuld wartet es auf die europäische Kolonisierung, mit der seine Geschichte beginnen soll, wodurch der Herrschaftsdiskurs institutionalisiert wird. 35 Varejão greift diesen Aspekt der neuzeitlichen Reiseberichterstattung auf, indem sie das koloniale Bild aufbricht und so den Kolonisierungsprozess als eine Vergewaltigung herausstellt. Durch die Hinwendung auf die weibliche Identität und Erfahrung in Verbindung mit den Aspekten Schmerz, Gewalt und Sexualität ist Varejãos Arbeit in den Bereich der feministischen Kunst einzuordnen, in der das Motiv der blutigen Wunde zentral ist. So finden sich Parallelen in den Performances und Fotografien Ana Mendietas, in denen Blut ein wichtiges Medium der künstlerischen Praxis darstellt. Mendietas Videoarbeit Untitled (Blood Sign #2/Body Tracks) von 1979 zeigt eine Frau, die mit dem Rücken zur Kamera stehend langsam ihre Arme gegen eine weiße kahle Wand gleiten lässt und dort eine blutige Spur hinterlässt. Die aus den Aktionen der Serie Body Tracks entstandenen Papierarbeiten zeigen blutige Abdrücke auf weißem Grund. Die Fotografien der Serie Rape Scene von 1973 dokumentieren eine Performance Mendietas, in der sie eine Vergewaltigung rekonstruierte: Die Künstlerin zeigt sich darin gefesselt und mit nacktem, blutigem Unterkörper auf einem Tisch liegend.36 Diese Arbeiten Mendietas enthalten einen feministischen Appell, eine Anklage gegen männliche Gewalt, was mit dem Werk Varejãos vergleichbar ist, wobei diese stets die spezifischen Bedingungen von Frauen unter kolonialen Verhältnissen reflektiert. Darüber hinaus findet sich das Motiv der Vagina, das mit Varejãos Einschnitt in die Leinwand assoziiert wird, in Judy Chicagos zwischen 1974 und 1979 entstandenen Installation Dinner Party (Abb. 58), mit der die Künstlerin feministische Anliegen artikuliert. Die Installation besteht aus einer Tischtafel, deren Sitzplätze bedeutenden mythischen und historischen Frauen gewidmet sind, wodurch diese eine Würdigung erfahren. Die individuell gestalteten Tischsets enthalten jeweils einen im Stil chinesischer Keramik ausgearbeiteten Teller, der mit einer gemalten oder sich plastisch hervorwölbenden Form versehen ist, die eine abstrahierte Vagi-

35

Vgl. SCHÜLTING, Sabine: Wilde Frauen, fremde Welten. Kolonisierungsgeschichten aus Amerika, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997, S. 46ff. Diese Körpermetaphorik lässt sich beispielsweise in den Schilderungen Walter Raleighs finden, der in seinem 1596 erschienenen Reisebericht The discovery of the large, rich, and beautiful Empire of Guiana schreibt: „Guyana ist ein Land, das seine Jungfräulichkeit bewahrt hat.“ RALEIGH, Walter: Gold aus Guyana. Die Suche nach El Dorado 1595, übers. u. hrsg. v. Egon Larsen, Stuttgart: Erdmann, 1988, S. 170.

36

Vgl. VISO, Olga: Unseen Mendieta. The Unpublished Works of Ana Mendieta, München/Berlin/ London/New York: Prestel, 2008, S. 6ff.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 129

na darstellt.37 Während Chicago in ihrer Installation vorrangig Frauen(-figuren) aus dem westlich geprägten Kulturkreis ehrt, lenkt Varejão die Aufmerksamkeit in ihrem Werk auf die postkoloniale und damit die afro-brasilianische und indigene Frau, womit sie eine Verbindung zwischen Rassismus und Sexismus herstellt. Während Chicago in ihrer Installation konkrete Namen berühmter Frauen nennt, wendet sich Varejão in ihren Arbeiten den namenlosen, unbekannten postkolonialen Frauen zu. Abbildung 58: Judy Chicago: The Dinner Party (Detail), 1974–79

Das besondere Augenmerk auf die kolonisierte Frau in Varejãos Werk verbindet die Künstlerin mit dem postkolonialen Ansatz von Gayatri Chakravorty Spivak, in dem eine geschlechtsspezifische Perspektive eingenommen wird. Entsprechend Spivaks Ausführungen wird die postkoloniale Frau von Varejão mit einer doppelten Verletzung beschrieben, nämlich durch die Erfahrung von Kolonisierung und Ausbeutung einerseits sowie die erzwungene Unterordnung innerhalb eines patriarchalischen Systems andererseits.38 Das anthropophage Konzept wird demnach in Varejãos Rezeption wirksam mit feministischen Anliegen verbunden und hierdurch weiterentwickelt – eine Strategie, die im Werk Anna Maria Maiolinos einen noch zentraleren Stellenwert einnimmt, wie in der weiteren Analyse zu sehen sein wird.

37 38

Vgl. CHICAGO, Judy: The Dinner Party, New York: Penguin Books, 1996, S. 3ff. Vgl. SPIVAK, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? (1988), in: Patrick Williams/Laura Chrisman (Hrsg.): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory, Hemel Hemstead: Harester Wheatsheaf, 1994, S. 66-111, hier: S. 103; sowie DHAWAN/do MAR CASTRO VARELA, 2005, S. 58.

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Abbildung 59a/b: Adriana Varejão: Testemunhas oculares X, Y e Z, 1997

In Varejãos Arbeit Testemunhas Oculares X, Y, Z [Augenzeugen X, Y, Z] von 1997 (Abb. 59a/b) werden die Aspekte Weiblichkeit und Rassismus thematisch miteinander verbunden. Die als Triptychon fungierenden Gemälde zeigen Selbstportraits der Künstlerin, die sich in gleicher Pose als indigene, afro-amerikanische und asiatische Frau abbildet. Varejão referiert hierbei auf das Genre der Pintura de Castas [Malerei der Rassen],39 eines Bildtypus, der sich im frühen 18. Jahrhundert im Zuge der Kolonisierung Mexikos herausbildete und dazu dienen sollte, rassische Kategorisierungen in den spanischen Kolonien festzulegen. Ausgehend von der Vermischung der spanischen, indigenen und afrikanischen Ethnie sollten in der Pintura de Castas mögliche rassische Kombinationen herausgestellt werden, die in einem hierarchischen Kastensystem resultierten. So waren in einer Serie von Bildern in der Regel jeweils ein Mann und eine Frau dargestellt sowie ein aus der Vereinigung beider entstandenes Kind. Den Dargestellten unterschiedlicher Abstammung wurde meist ein Name zugeteilt, der die Hautfarbe klassifizieren sollte. Je stärker diese in Richtung weiß tendierte, umso höher wurde der soziale Status der jeweiligen Mestiz/innen befunden.40

39

Vgl. MIRO, Victoria: Adriana Varejão. Polvo, London: PUSH, 2013, o. Seitenangabe.

40

Vgl. KATZEW, Ilona: Casta Painting. Images of Race in eigtheenth-century Mexico, New Haven/ London: Yale University Press, 2004, S. 5ff. Nasheli Jiménez del Val kon-

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 131

Entsprechend ihrer Intention in Hijo Bastardo legt Varejão den gewaltvollen Heterogenisierungsprozess der brasilianischen Gesellschaft offen, indem die abgebildeten Frauen jeweils ein ausgestochenes Auge aufweisen und im Titel als Augenzeuginnen beschrieben werden. Im Innern von drei Glasaugen, die im Vordergrund der Gemälde ausgestellt sind, können die Betrachter/innen durch eine Lupe Fotografien der nachgestellten anthropophagen Szenen de Brys betrachten. Darin wird das europäische, männliche Opfer durch die von der Künstlerin selbst personifizierte wilde Frau ersetzt, wodurch sie auf ironische Weise ihre eigene Kannibalisierung inszeniert und damit die stereotype Verbindung von Weiblichkeit und Kannibalismus ad absurdum führt. Die Hinwendung zur gegenwärtigen, rassistischen Marginalisierung der postkolonialen Frau wird in Varejãos Projekt Polvo [Krake] von 2013 fortgeführt, das auf ihre Arbeit Testemunhas Oculares X, Y, Z aufbaut. Die Künstlerin bezieht sich hierin auf eine Studie von 1976, nach der das brasilianische Institut für Geografie und Statistik die Bevölkerung Brasiliens in 136 Hautfarben klassifizierte. Die Erhebung basierte auf Interviews, in denen Personen gebeten wurden, ihre eigene Hautfarbe einzuschätzen. Varejão wählte aus den hieraus resultierenden 136 Begriffen zur Bezeichnung von Hautfarben 33 Namen aus und entwickelte entsprechend ein Set hautfarbener Ölmalereituben, die deren eurozentrischen, stereotypen Gehalt wiedergeben. Begriffe wie Café com lete [Kaffee mit Milch], tendendo a branco [zu weiß tendierend] oder não tão branco [nicht so sehr weiß] offenbaren die Orientierung an der weißen Hautfarbe und die Selbst-Internalisierung des Rassismus in Brasilien. Weiterer Teil des Projekts sind elf Gemälde, die Selbst-Portraits der Künstlerin zeigen (Abb. 60), gemalt in den entwickelten unterschiedlichen Hautfarben, was mit dem Vorgehen in ihrer Arbeit Testemunhas Oculares X, Y, Z korrespondiert. Den Portraits ist jeweils ein Farbdiagramm untenan gestellt, wodurch Varejão wissenschaftliche Studien zur Farblehre imitiert. 41 statiert entsprechend: „[…] casta paintings can be viewed as the expression of the privileging of reason through the pictorial materialisation of taxonomic categories. An exercise of the representational privileges of the colonial elite, casta paintings permitted miscegenation in New Spain to be fixed and produced as an object for scientific inspection. As in all taxonomic enterprises, hierarchies were deployed in order to organise the scientifically legitimated differences between races. In the space and sequence of the pictorial format, these hierarchies took on an explicitly visual form. In most of the casta series, the first painting demonstrates the mixing of the male Spaniard and the female Indian, giving the white Spaniard pride of place as the initiator of the series, hence confirming the racial patriarchal hierarchies established in the colony.“ JIMÉNEZ DEL VAL, Nasheli: Pinturas de Casta: Mexican Caste Paintings, a Foucauldian Reading, in: New Readings, Cardiff, 10/2009, S. 1-17, hier: S. 4. 41

Vgl. MIRO, 2013, o. Seitenangabe.

132 | Strategien der Einverleibung

Abbildung 60: Adriana Varejão: Polvo Portraits I (Classic Series), 2013

Beginnend mit dem Kolonialismus setzte eine Vielzahl anthropologischer, ethnologischer, biologischer wie auch medizinischer Studien zur Rassenforschung ein. Darin waren dem Text Farbtafeln beigestellt, die unterschiedliche Töne von Hautfarben enthielten und dazu dienen sollten, Individuen in festgelegte Rassentypen zu klassifizieren. So findet sich in der 1897 erschienen Abhandlung Über die Hautfarbe der südamerikanischen Indianer, die der Münchner Arzt Karl Ernst Ranke nach einer Reise nach Brasilien verfasste, eine Farbenskala zur rassischen Klassifizierung der indigenen Völker Lateinamerikas.42 Indem Varejão ihr eigenes, immer gleiches Portrait in diversen Hautfarben abbildet, demonstriert sie die Absurdität und damit das Scheitern dieser Klassifizierungssysteme. Entsprechend des antirassistischen Impetus der Antropofagia, in der eine Aufwertung der indigenen und afro-brasilianischen Kulturen einhergeht, eignet sich die anthropophage Strategie für Varejão somit, um in ihren Arbeiten die durch den Kolonialismus herbeigeführten rassistischen Kategorisierungen in der brasilianischen Bevölkerung zu unterlaufen. Die Künstlerin tritt in ihren Werken für die Eröffnung eines antirassistischen Diskurses ein, der sich nicht durch binäre Oppositionen repräsentieren lässt. Identität wird von der Künstlerin im Sinne des Ethnizitätsbegriffs von Stuart Hall als beweglicher Bezugspunkt aufgefasst, der Raum für multiple Differenzen und Bedeutungen lässt.43 42

Vgl. RANKE, Karl Ernst: Über die Hautfarbe der südamerikanischen Indianer, in:

43

Der Soziologe Stuart Hall tritt für eine neue Identitätspolitik ein, die sich von der Vor-

Zeitschrift für Ethnologie, Berlin, 30. Jahrgang, 1898, S. 61-73, hier: S. 61ff. stellung eines in sich homogenen Kollektivs loslöst. In seiner Schrift Rassismus und kulturelle Identität von 1994 vertritt er eine Politik des Lokalen, die sich durch Wider-

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 133

Hybride Kulturen: Transformationen des brasilianischen Barock Neben der Referenz auf koloniale Gewalt formuliert Varejão in ihren Werken hybride Identitätspositionen, womit sie das anthropophage Konzept de Andrades weiterführt. Die wiederkehrende Verwendung des Azulejo in ihrem Werk verweist grundlegend auf den Aspekt der kulturellen Hybridität, da es ein nach Brasilien importiertes koloniales Produkt darstellt, das insbesondere in den barocken Kirchen von Minas Gerais und Bahia eine Synkretisierung erfahren hat. 44 Auch sind die Keramikfliesen keine portugiesische Erfindung, sondern stammen ursprünglich aus dem persischen Raum und wurden in der islamisch-arabischen Architektur verwendet. Frühe Kachelmosaike in Form abstrakt-geometrischer Ornamente finden sich in der Maurischen Kunst der Iberischen Halbinsel und Nordafrikas. Eine Weiterentwicklung der Keramikfliesen fand im 16. Jahrhundert in den Niederlanden statt, wo erstmals bildliche Darstellungen aufkamen und umfassende Bildzyklen entstanden, die zunächst im sakralen Bereich eingesetzt wurden, bald darauf aber auch ihren Weg in Adelspaläste fanden. Die portugiesischen Azulejos entwickelten sich schließlich zum Ende des 17. Jahrhunderts als Reflexion dieser Delfter Kacheln. Somit hatten die aus Portugal importierten Fliesen des kolonialen brasilianischen Barock bereits vielfältige kulturelle Einflüsse durchlaufen, wodurch sie ein hybrides Kulturprodukt darstellen.45 Olympio Pinheiro konstatiert entsprechend: “Das koloniale Azulejo kann nicht isoliert betrachtet werden, ohne seine Bedeutung zu berücksichtigen als ein komplexes System der Kommunikation, der Durchmischung von Kulturen oder als ein multikulturelles Phänomen. Auf der anderen Seite ist es aus einer Zusammenführung von zahlreichen Techniken und Gebrauchskontexten entstanden, die die Grenzen der Iberischen Halbinsel und Lateinamerikas passiert haben, wodurch sich ein Prozess konstituierte, den wir heute Globalisierung nennen. Genauso wie die Sprache, nimmt sprüche artikuliert und zur Intervention befähigt: „Dies ist eine Politik, die darin besteht, Identität in der Differenz zu leben – eine Politik, die anerkennt, dass wir alle durch verschiedene Kategorien, durch verschiedene Antagonismen komplex konstruiert sind […]. Dies bedeutet anzuerkennen, dass jede Gegenpolitik des Lokalen, die versucht Menschen aufgrund ihrer Verschiedenheit der Identifikationen zu mobilisieren, ein positional geführter Kampf sein muss. Es ist der Beginn eines Antirassismus, Antisexismus, Antiklassismus.“ HALL, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg: Argument Verlag, 1994 (1988), S. 84. 44

Vgl. SCHWARCZ, Lilia Moritz: Paved and Tiled by Adriana Varejão, in: Isabel Diegues (Hrsg.): Adriana Varejão. Entre carnes e mares, Rio de Janeiro: Cobogó, 2009, S. 143-155, hier: S. 144.

45

Vgl. DUGNANI, Patricio: A herança simbolica na azulejaria barroca: os paineis do claustro da Igreja de São Francisco da Bahia, São Paulo: Univ. Presbiteriana Mackenzie, 2011, S. 20f., 33ff.

134 | Strategien der Einverleibung

auch das Azulejo einen überaus prominenten Platz innerhalb unseres historisch-kulturellen Erbes ein.”46

Genau diese Doppeldeutigkeit als Zeichen des Kolonialismus und Ausdruck von Hybridität, die dem Azulejo inhärent ist, erweist sich für Varejão als überaus geeignet für die Anwendung ihrer anthropophagen Strategie. Der Bezug auf den Barock, der sich in der Imitation der Azulejos wie auch in der malerischen Wiedergabe von Putten, Ex-Votos, prunkvollen Architekturen und schließlich im Pinselduktus selbst manifestiert, ist in Varejãos Werk omnipräsent. In ihrer Hinwendung zum brasilianischen Barock, den die Künstlerin durch eine Reise nach Minas Gerais kennenlernt,47 ist eine Parallele zu den Expeditionen der Anthropophagen Gruppe der 1920er Jahre ins Landesinnere unverkennbar, jedoch tritt die Suche nach einer nationalen Identität, die das modernistische Projekt charakterisierte, in der zeitgenössischen Rezeption der Antropofagia durch Varejão gänzlich zurück. Vielmehr fokussiert die Gegenwartskünstlerin mit ihrer Hinwendung zum brasilianischen Barock auf den Aspekt der Hybridität, der dem Kulturverständnis der Antropofagia inhärent ist: „The churches are like jewel boxes containing complex, fascinating, carnivorous jewels that are capable of ingurgitating any foreign element, taking disseminated fragments and accumulating them, deforming them and integrating them into their sacred universe.”48

46

PINHEIRO, Olympio: Azulejo colonial luso-brasileiro: uma leitura plural, in Percival Tirapelli (Hrsg.): Arte sacra colonial. Barocco memória viva, São Paulo: Editora Unesp, 2. Ed., 2005, S. 118-145, hier: S. 123f.: „O Azulejo Colonial não é isolado ou isolável sob pena de se perder de vista seu sentido, como um complexo sistema de communicação, de interprenetação de culturas ou fenômeno multicultural. Por outro lado, ele resulta de inúmeras contribuções técnicas e de uso, que ultrapassam os limites da Península Ibérica e da América Latina, constituindo em si uma das nascentes do que hoje chamamos de processo de globalização. Tal como a língua, ocupa um lugar proeminente no nosso patrimônio histórico-cultural.“

47

Varejão bezeichnet ihre erste Reise nach Minas Gerais, die Ende der 1980er Jahre stattfand, als initiales Moment für ihre Beschäftigung mit dem Barock. Vgl. Adriana Varejão im Interview mit Adriano Pedrosa am 12./13. Oktober 1999, zit. n. Marcos Moraes: Adriana Varejão, São Paulo: Empresa Folha da Manhã, 2013, S. 19f.

48

Adriana Varejão im Interview mit Hélène Kelmachter, in: Sophie Perceval/Adeline Pelletier (Hrsg.): Adriana Varejão: Câmara de Ecos, Ausst.-Kat. Centro Cultural de Belém, Lissabon/Fondation Cartier pour l’art contemporain, Paris, Nantes: Imprimerie Le Govic, 2005, S. 79-99, hier: S. 81.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 135

In ihrer Serie Extirpação do Mal [Die Ausrottung des Bösen] von 1994 zitiert Varejão figürliche Fliesengemälde des Franziskanerklosters in Salvador da Bahia, welches über eine der reichsten Ausschmückungen des brasilianischen Barock verfügt. Die an Innen- und Außenwänden des Klosters befindlichen Azulejos wurden 1745 von Bartolomeu Antunes de Jesus in Lissabon hergestellt und im darauffolgenden Jahr als ein Geschenk des Königs von Portugal, Dom João III., nach Brasilien geschickt.49 Varejão stellt die portugiesischen Azulejos, die gleichsam als repräsentative Haut über die brasilianischen Kirchenwände gelegt werden, in Relation zur Tätowierung, indem sie erneut auf die Idee des Gemäldes als kultureller Körper referiert.50 Jede der Arbeiten der Reihe besteht aus Gemälden, die Fragmente der zitierten blau-weißen Fliesengemälde in trompe l’oil-Malerei auf einem unterschiedlichen Hautton-farbenen Grund wiedergeben und durch die Kombination mit Readymade-Objekten auf den physischen, dreidimensionalen Raum ausgeweitet werden. In ihrer Arbeit Extirpação do Mal por Incisura [Die Ausrottung des Bösen durch Einschnitt] (Abb. 61) findet sich die Malerei der Azulejos, die eine dämonische Szene zitiert (Abb. 62),51 als abgezogene, tätowierte Haut des Gemäldes auf einem Seziertisch vor dem Bild ausgelegt, was eine fleischliche Leerstelle auf der Leinwand hinterlässt. Es besteht eine stilistische Verbindung zu den Irezumis, 52 der traditionellen japanischen Tätowierung, in der die Motive oftmals aus Sagen stammen und Drachen oder Dämonen zeigen. In einer Reihe von Arbeiten versetzt Varejão die japanische Tätowierung in das Spannungsfeld von Kolonialismus und Anthropophagie. In der Arbeit Irezumi em ponta de diamante [Irezumi in Diamantspitze] von 1997 (Abb. 63), einer Ölmalerei auf Leinwand und Tierhaut, zitiert die Künstlerin eine 1946 entstandene Fotografie von Horace Bristol (Abb. 64), in der ein Mediziner eine tätowierte menschliche Haut untersucht. Die Fotografie verweist auf eine in Japan gängige Praxis, nach der Verstorbene, deren Haut Irezumis aufweist, teilweise

49

Vgl. DUGNANI, 2011, S. 22.

50

Vgl. SIMÕES CERQUEIRA, Fátima Nader: Memória e persuasão na pintura de Adriana Varejão, Vitória: Dados Internacionais de Catalogação na publicação (CIP), 2009, URL: http://portais4.ufes.br/posgrad/teses/tese_3576_disserta%E7%E3o%20ME STRADO.pdf (Zugriff: 16.01.2016), S. 34f.

51

Das zitierte Azulejo befindet sich im Eingangsbereich der Igreja São Francisco und ist der Geburt des heiligen Franziskus gewidmet. Vgl. ebd., S. 53.

52

Irezumi heißt übersetzt Das Einbringen von Tinte. Vgl. KITAMURA, Takahiro: Tattoos of the floating world. Ukiyo-e motifs in the Japanese tattoo, Amsterdam: ATM Publishers, Ed. 6, 2012, S. 14.

136 | Strategien der Einverleibung

gehäutet und in Sammlungen verwahrt werden.53 Varejãos abgezogene und vor einer kargen Fliesenwand drapierte bemalte Haut weist jedoch keine japanischen Motive, sondern die Tätowierung einer Kassettendecke auf, eines zentralen Elements barocker Kolonialbauten. Die Arbeit Pele tatuada à moda de azulejaria [Tätowierte Haut im Stil der Azulejos] von 1995 (Abb. 65) schließlich zeigt die abgezogene, tätowierte und in Stücke gerissene Haut des menschlichen Torsos mit einer religiös-barocken Malerei im Stil der Azulejos. Abbildung 61: Adriana Varejão: Extirpação do Mal por Incisura, 1994 Abbildung 62: Bartolomeu Antunes de Jesus: Ohne Titel, 1737

53

Vgl. PEDROSA, 1999, S. 32f. Der japanische Arzt Fukushi Katsunari baute auf dem Nachlass seines Vaters an der Pathologie der Universität Tokio eine Sammlung tätowierter und präparierter Menschenhäute auf, die für Besucher/innen zugänglich ist und Museumscharakter hat. In westlichen Gesellschaften stößt die Sammlung wiederholt auf Kritik, da der japanischen Kultur moralische, religiöse oder legale Verstöße vorgeworfen werden. Vgl. MARTÍNEZ ROSSI, Sandra: La Piel como superficie simbólica. Processos de transculturación en el arte contemporáneo, Madrid: FCE, 2011, S. 59f.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 137

Abbildung 63: Adriana Varejão: Irezumi em Ponta de Diamante, 1997 Abbildung 64: Horace Bristol, Doctor examining tattoed human skin, 1946

Die japanische Tätowierung weist eine lange Tradition auf. So lassen sich bereits im 3. Jahrhundert Tätowierungen bei den Wa, eines japanischen Urvolkes, nachweisen. Die Praxis der Irezumis entwickelte sich im Verlauf der von 1603 bis 1868 datierten Edo-Zeit zu einer dekorativen Körperkunst.54 Parallel wurde die Tätowierung jedoch auch von der Regierung als Brandmarkung für Straftäter eingesetzt eingesetzt und zuletzt 1720 in dieser Form ausgeführt. 1872 wurde schließlich die als unmoralisch deklarierte Praxis des Tätowierens verboten und erst nach dem zweiten Weltkrieg von der amerikanischen Besatzung wieder legalisiert. 55 Tätowierungen sind in Japan noch immer stigmatisiert, da sie allgemein mit dem kriminellen Milieu assoziiert werden. Insbesondere die den gesamten Torso einnehmenden Irezumis fungieren als Embleme der kriminellen Yakuza-Organisationen. Menschen mit großflächigen Tätowierungen werden daher in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in Japan ausgeschlossen, so wird ihnen beispielsweise in öffentlichen Bädern oftmals der Eintritt verweigert. 56 Vor dem Hintergrund als 54

Die Motivik der Irezumis entwickelte sich in Anlehnung an das parallel entstandene Sujet der Holzdrucke, in denen die dargestellten Krieger mit Tätowierungen versehen waren, die etwa Drachen, Schlangen oder Leoparden zeigten, um ihnen Tapferkeit, Mut und Stärke zu verleihen. Die sich um den Samurai rankenden Geschichten thematisierten Mord, Sexualität, Habgier und das Streben nach Macht. Diese Drucke spielten eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Designs und der Komposition der heute bekannten traditionellen japanischen Tätowierung, indem sich die Tätowierer an ihnen orientierten. Vgl. KITAMURA, 2012, S. 15ff.

55

Vgl. ebd., S. 14ff.

56

Vgl. ebd., S. 6.

138 | Strategien der Einverleibung

Zeichen sozialer Distinktion und der Stigmatisierung gesellschaftlicher Außenseiter ist die traditionelle japanische Tätowierung somit Ausdruck eines Widerstandes gegen herrschende, gesellschaftliche Normen: „One of the messages of the traditional tattoo in Japan was the dissidence of the wearer. He might have belonged to a group, but that group was by definition a minority and it guarded its differences. This, rather than some imagined Yakuza connection, is the real reason why authority in Japan has always been anti-tattoo.”57

Der Tätowierungsvorgang wird im Allgemeinen als Individualisierungsprozess durchlebt und als Akt der Befreiung von autoritären Normen verstanden.58 Karin Beeler spricht dem Tattoo daher ein subversives Potenzial zu. Trotz des heutigen globalen Mainstreams zur Körperbemalung sei die Tätowierung immer noch aufs engste mit den Aspekten Widerstand und Marginalität verknüpft. 59 Abbildung 65: Adriana Varejão: Pele Tatuada à Moda de Azulejaria, 1995

Entsprechend formuliert sich in Varejãos Arbeiten, die sich durch eine anthropophage Verschmelzung der japanischen Tätowierung mit dem europäischbrasilianischen Barock auszeichnen, ein Widerstands-Aspekt, der als postkolonialer Befreiungsakt gelesen werden kann. Denn mit ihrem Bezug auf die tätowierte Haut 57

Ebd., S. 7.

58

Vgl. ERMACORA, Beate/RIESE, Ute: Tattoo: Bilder die unter die Haut gehen, Ausst.Kat. Kunsthalle Kiel, hrsg. v. Hans-Werner Schmidt, Kiel: Pirwitz Druck & Design, 1996, S. 26.

59

Vgl. BEELER, Karin: Tattoos, Desire and Violence. Marks of Resistance in Literature, Film and Television, North Carolina: McFarland & Company, 2006, S. 4ff.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 139

greift die Künstlerin ein koloniales Stigma für Fremdheit und Unzivilisiertheit auf. Obwohl die Praxis der Tätowierung in Europa bereits seit dem 7. Jahrhundert vor Christus existierte,60 kam sie erst durch die Entdeckung der ‚Neuen Welt‘ in den Blick der Europäer/innen als „seltsamer Gegenstand der Betrachtung.“61 Ein Bildbeispiel für den stereotypen Zusammenhang von Wildheit und Tätowierung findet sich in den bereits erwähnten, von Varejão in ihrer Serie der Figuras de Convite zitierten Darstellungen der Picten de Brys, die den Betrachter/innen einen nackten, nahezu vollständig mit Tätowierungen bedeckten Körper präsentieren (Abb. 51, 52). Der Begriff Tattoo62 gelangte schließlich durch die zwischen 1769 und 1777 durchgeführten Expeditionen James Cooks nach Europa in Referenz auf die Praxis der Tätowierung der Südseeinsulaner/innen. Im Zuge der zweiten Expedition James Cooks wurde der tätowierte Tahitianer Omai im Jahr 1774 nach England gebracht, wo er in die hohen Gesellschaftskreise eingeführt und als Wilder öffentlich zur 60

Bereits auf Felsmalereien des 7. bis 8. Jahrhunderts vor Christus sind Menschen mit Körperbemalung zu sehen und beim Fund des Ötzis aus der Bronzezeit fand man einfache tätowierte Zeichen an dessen Beinen. Die Funktionen dieser frühen Tätowierungen sind unterschiedlich und reichen von reinen Verschönerungen über rituelle und religiöse Bedeutungen bis hin zur Markierung von Stammeszugehörigkeit und Identität, was eine kommunikative Bedeutung beinhaltet. Weiter ist für den Ausgang des 4. Jahrhunderts überliefert, dass die Frühchristen ebenso wie Soldaten gebrandmarkt waren, um sie kenntlich zu machen und aus der Gesellschaft auszuschließen. Die Tätowierung diente aber auch als Zugehörigkeitszeichen und Element der Gruppenstabilisierung. Im Mittelalter fungierten Brandmarken als Strafzeichen. Des Weiteren gab es die Kreuzrittertätowierung und noch im 16. und 17. Jahrhundert war es Sitte, sich beim Besuch des heiligen Grabes in Jerusalem gewisse Zeichen einstechen zu lassen. Vgl. OETTERMANN, Stephan: Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch, 1994, S. 9ff.

61 62

Ebd., S. 20. Tattoo heißt auf Tahiti tatatau, wobei ta schlagen und tatau richtig bedeutet. Das Wort weist demnach auf den Vorgang des Tatauierens hin. Dabei benutzt der sogenannte Tatauiermeister ein rechenartiges Gerät, an dem spitz zugefeilte Zähne oder Knochen angebracht sind. Diese werden in Farbe getaucht und in die Haut geschlagen. Eine gelungene Tatauierung gilt zum einen als Schönheitsideal, darüber hinaus bezeugt sie die Reife eines Menschen und ist soziales Symbol, dient also dem Prestigegewinn und ist beispielsweise äußeres Zeichen der Geschlechtsreife. Polynesischen Mythen zufolge ist das Tatauieren göttlichen Ursprungs und wird in einem rituellen Rahmen vollzogen. Vgl. GRÖNING, Karl (Hrsg.): Geschmückte Haut: Eine Kulturgeschichte der Körperkunst, München: Frederking & Thaler, 1997, S. 93f.; sowie MITTAG, Hannelore: Die Haut im medizinischen und kulturgeschichtlichen Kontext, Marburg: Völker & Ritter, 2000, S. 69, 71f.

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Schau gestellt wurde, wobei insbesondere dessen Tätowierungen das Interesse erregten und eine „erotisch-exotische Faszination“63 auf das europäische Publikum ausübten.64 Die Arbeiten Varejãos, in denen sie die Leinwand als tätowierte Haut ausweist, entsprechen ihrem Konzept des Gemäldes als Körper, das im Vergleich zu den eingangs besprochenen Werken noch einen Schritt weitergeführt wird, indem eindeutige Referenzen auf den menschlichen Körper gegeben werden, durch den hautfarbenen Ton des Bildgrundes einerseits und die als Tätowierung assoziierten Motive andererseits. Varejão reflektiert in ihrer Arbeit Extirpação do Mal por Incisura die Funktion der Haut als Körperhülle, als Grenze zwischen Körperinnerem und Außenwelt, und thematisiert deren gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung. Die Künstlerin vollzieht die Häutung des Körpers des Gemäldes, indem die Leinwand als Haut behandelt wird, die abgezogen und seziert wird. Die Erfahrung von Schmerz wird somit augenscheinlich vorgeführt. Der „schaurige, zutiefst entmenschlichende“65 Akt der Häutung erscheint als quälende, schmerzhafte Strafe, mit der man dem Opfer sein Leben und seine Identität raubt.66 Das Thema der Häutung findet sich auch in der griechischen Mythologie, wo Marsyas im musikalischen Wettstreit gegen Apollon verliert und daraufhin gehäutet wird. 67 Die Figur 63

ERMACORA/RIESE, 1996, S. 14.

64

Vgl. OETTERMANN, 1994, S. 9. Omai gelangte in Europa schnell zu großer Popularität. Es erschienen diverse, meist idealisierende, oft auch fiktive Berichte und Anekdoten über ihn und Tahiti, in denen moralisierend der ‚natürliche Anstand‘ des Tahitianers den verderbten europäischen Sitten gegenübergestellt wurde. Daneben wurden auch frivole Satiren und Gedichte veröffentlicht, in denen Omai Beziehungen zu feinen Damen unterstellt wurden oder tahitische Sitten, wie die Tätowierung bestimmter Körperteile, Kindestötung oder sexuelle Freizügigkeit, mit bekannten Persönlichkeiten in Verbindung gebracht wurden. Vgl. HEERMANN, Ingrid: Mythos Tahiti: Südsee-Traum und Realität, Berlin: Reimer, 1987, S. 16, 30ff. Hierdurch wird deutlich, dass die dem Körper Omais eingeschriebenen Tätowierungen im Europa des 18. Jahrhunderts einen ambivalenten Status innehatten, indem sie sich beliebig sowohl auf die stereotypen Vorstellungen vom edlen Wilden als auch vom rohen Barbaren übertragen ließen.

65

MITTAG, 2000, S. 29.

66

Vgl. ebd., S. 31.

67

Der Apoll-Marsyas-Mythos erzählt, dass Athene eine Flöte erfand, die sie jedoch bald darauf wegwarf, da sie ihr Gesicht entstellte. Marsyas fand das Instrument, erlernte das Flötenspiel und war schnell so von seiner Kunst überzeugt, dass er Apoll zum Wettstreit aufforderte. Dieser überlistete ihn, indem er Marsyas bat, seine Flöte umzudrehen und zur gleichen Zeit zu spielen wie zu singen. Was Apoll mit seiner Leier mühelos möglich war, gelang Marsyas nicht und er verlor. Apoll strafte ihn mit Häutung bei lebendigem Leibe. Aus Marsyas’ Blut entsprang schließlich ein gleichnamiger Fluss. Vgl. RO-

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des Marsyas verkörpert in den verschiedenen Varianten von Ovid und Herodot den wilden, triebhaften Satyr, der es wagt, sich über den Gott der Künste zu erheben und daraufhin grausam bestraft wird.68 Diese Geschichte des Triumphs des Kultivierten über das Primitive wird von Varejão mit dem Themenkomplex der Tätowierung verbunden und postkolonial gelesen: Die Künstlerin weist das durch blutig anmutende Leerstellen aufgebrochene, gehäutete Gemälde in ihrer Serie Extirpação do Mal explizit als Symbol für den geschundenen, kolonisierten Körper aus. Abbildung 66: Otto van Veen: Quinti Horatii Flacci Emblemata: imaginibus in aes incisis notisque ill., 1607 Abbildung 67: Bartolomeu Antunes de Jesus: NATURA Moderatrix Optima, 1737

Die in Varejãos Arbeit vollzogene Häutung des Gemäldes korrespondiert mit einem Aufbrechen und Verwischen von Körpergrenzen, was ein zentraler Aspekt des anthropopagen Konzepts ist. Mit ihrer Referenz auf die Praxis der japanischen Tätowierung, die sie mit dem europäisch-brasilianischen Katholizismus verbindet, veranschaulicht die Künstlerin im Andradschen Sinne eine Transkulturalität, die in weiteren Werken der Serie noch dezidierter zum Ausdruck kommt. Neben Szenen zum Leben und Wirken des heiligen Franziskus finden sich im Kreuzgang der Igreja São Francisco thematisch aufeinander folgende Fliesengemälde, die in Portugal nach Kupferstichen der 1607 erschienenen Emblemata Horatiana des Antwer-

SCHER, Wilhelm Heinrich: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. 2, Abt. 2, Leipzig: Teubner, 1894-1897, S. 2439ff. 68

Vgl. BOHDE, Daniela: Die Metaphorisierung eines Gewaltaktes: Tizians Schindung des Marsyas, in: Ursula Renner/Manfred Schneider (Hrsg.): Häutung. Lesarten des Marsyas-Mythos, München: Wilhelm Fink, 2006, S. 135-160, hier: S. 143.

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pener Künstlers Otto van Veen entworfen wurden, der Hofmaler Erzherzog Albrechts VII. war. In seinem Buch erstrecken sich insgesamt 103 Embleme über jeweils eine Doppelseite: Während die linke Seite eine Zusammenstellung von Zitaten antiker Autoren zu einem bestimmten Themenkomplex enthält, steht eine analoge sinnbildhafte Darstellung auf der rechten Seite (Abb. 66). Die von van Veen in Ölgrisaillen entworfenen und von verschiedenen Stechern ausgeführten Kupferstiche zeigen allegorische Personifikationen sowie Figuren der antiken Mythologie. Das Buch nahm die Funktion einer Erziehungsschrift ein und führt dementsprechend verschiedene Aspekte der Tugendhaftigkeit vor. Die an vier Wänden des Kreuzgangs im Franziskanerkloster Salvador da Bahias befindlichen Azulejos bestehen aus 37 großformatigen Fliesengemälden, die jeweils eine emblematische Szene van Veens aufgreifen, welche umrandet ist von einem reich verzierten, gemalten Rahmen, der eine lateinische, emblematische Inschrift aufweist (Abb. 67).69 In Extirpação do Mal por Overdose [Die Ausrottung des Bösen durch Überdosis] (Abb. 68) entnimmt Varejão Figuren und Szenen verschiedenen, auf die emblematische Schrift van Veens zurückgehenden Azulejos der Igreja São Francisco und fügt sie zu einem neuen Setting zusammen. Am linken oberen Bildrand befindet sich der vielbrüstige Torso der Artemis, die innerhalb des Emblemzyklus als Göttin der Fruchtbarkeit und als Personifikation der Natur in Funktion tritt. Artemis blickt zum rechten oberen Bildzentrum, wo sich die mythologische Tiergruppe der Hydra befindet, bestehend aus einem vielköpfigen schlangenähnlichen Ungeheuer und dem Nemeischen Löwen.70 Sowohl an einer Brust der Artemis sowie an der 69

Otto van Veens Emblembuch erschien erstmals 1607 unter dem Titel Quinti Horati Flacci Emblemata, worauf im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts zwanzig Neuauflagen in verschiedenen Sprachen folgten. Die Embleme handeln von der Suche nach Weisheit als Weg für ein tugendhaftes Leben, entsprechend einer moralischen, stoischen Philosophie. Vgl. LUDWIG, Walther: Die Struktur der Emblemata Horatiana des Otho Vaenius, 2013, URL: http://arkyves.org/static/misc/kiel_ludwigvaenius.pdf (Zugriff: 20.08.2015), S. 1f.

70

Die Darstellung der Artemis ist dem Azulejo Natura Moderatix Optima entnommen (Abb. 67), in der die Göttin als nährende Mutter der Natur auftritt und Waffen an Putten, die Liebesboten repräsentieren, verteilt. Artemis’ Aufgabe in diesem Zusammenhang ist es, eine Balance der menschlichen Leidenschaften herzustellen. Vgl. DUGNANI, 2005, S. 214f. Artemis ist in der griechischen Mythologie die jungfräuliche Jagdgöttin. Ihre berühmtesten Attribute sind die goldenen Pfeile und der silberne Bogen, die sie gegen die Sterblichen richtet, um Krankheiten über sie zu bringen. Artemis kommt ebenso die Rolle der Fruchtbarkeitsgöttin zu, weshalb sie oftmals mit einem von mehreren Brüsten bedeckten Oberkörper dargestellt ist. Vgl. HUNGER, 1988, S. 75ff. Die mythologischen Tierkörper in Varejãos Gemälde beziehen sich auf das Fliesengemälde Depois da Morte Cessa a Ineveja, in dem der Gott Heraklés auf den besiegten

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Gruppe der Fabelwesen sind Schröpfköpfe angebracht, die bereits in der römischen Antike bekannt waren und für die medizinische Therapieform des Blutenlassens verwendet werden.71 In der Arbeit Varejãos wird so der Anschein erweckt, dass blaufarbene Tinte über die an den Saugglocken angebrachten Infusionsschläuche aus dem Gemälde transportiert wird. Am unteren Bildrand befindet sich eine Appropriation der Medusa72, die durch einen über die Leinwand hinauslaufenden Tintenfluss nahezu unkenntlich gemacht ist. Die Verwendung der blauen Tinte bezieht sich wiederum auf die Praxis der Tätowierung und kennzeichnet die Bildoberfläche als Haut, die als Transferzone fungiert, über die ein Austausch von Körperflüssigkeiten vom Inneren nach Außen stattfindet. Im Gemälde Extirpação do Mal por Revulsão [Die Ausrottung des Bösen durch Ableitung] (Abb. 69) sind die fragmentarisch zitierten und neu verbundenen Szenen der Azulejos 73 stellenweise durch Ungeheuern stehend abgebildet ist. Heraklés ist Sohn des Zeus und der Alkmene. Das delphische Orakel befiehlt Heraklés, im Dienste des Eurystheus zwölf Aufgaben auszuführen, worunter die Tötung des Nemeischen Löwen und der Hydra fällt. Vgl. ebd., S. 201f. 71

Der Schröpfkopf ist eine Glasglocke, die auf die zu behandelnde Körperstelle aufgesetzt wird und sich durch Unterdruck an der Haut festsaugt. Beim blutigen Schröpfen wird die Haut zuvor angeritzt, woraufhin der Unterdruck das Blut durch die Verletzungen herauszieht. Das Schröpfen gilt als eine der ältesten medizinischen Behandlungsmethoden zur Schmerzlinderung. Vgl. NIEMIER, Kay/SEIDEL, Wolfram: Funktionelle Schmerztherapie des Bewegungssystems, Berlin/Heidelberg: Springer, 2011, S. 103.

72

Medusa ist in der griechischen Mythologie eine Gorgone, eine Tochter der Meeresgottheiten Phorkys und Keto. Sie besaß als einzige der drei Gorgonen eine sterbliche Natur. Medusa, deren zentrales Attribut ihre Schlangenhaare sind, wird in die Reihe der Dämonen eingeordnet. Wen ihr Blick trifft, erstarrt zu Stein. Sie wird schließlich von Perseus enthauptet und so besiegt. Während die archaische Kunst das abstoßende, fratzenhafte Haupt der Medusa hervorhob, wurde sie seit 400 vor Christus auch als schöne Frau abgebildet. Vgl. HUNGER, 1988, S. 178f. Das bildliche Zitat Varejãos entstammt dem Azulejo Grande Malum Invidia, wo Medusa Neid und Missgunst personifiziert. Vgl. SIMÕES CERQUEIRA, 2009, S. 43f.

73

Im linken oberen Teil des Gemäldes ist erneut Artemis in Verbindung mit einem Soldaten dargestellt, welche dem Azulejo Naturam Minerva Perficit entnommen ist, in dem Artemis ihren Sohn der Göttin Minerva übergibt. Daneben sieht man eine Personifikation des Todes, die über die am Boden liegende Medusa herrscht – eine Szene, die sich in der Fliesenmalerei Depois da Morte Cessa a Ineveja findet. Am rechten oberen und unteren Bildrand befindet sich eine fragmentarische Szene aus der Darstellung Tempora Mutantur et nos Mutamur in illis, in der Medusa und eine Personifikation der Tugend als Kinder zusammen mit der Allegorie der Zeit gen Himmel entschwinden. Des Weiteren appropriiert Varejão die Personifikation der Unvernunft aus dem Azulejo Vera Phi-

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Pflaster verdeckt und erneut mit Schröpfköpfen versehen, in denen sich eine blutähnliche Flüssigkeit befindet. Abbildung 68: Adriana Varejão: Extirpação do Mal por Overdose, 1994 Abbildung 69: Adriana Varejão: Extirpação do Mal por Revulsão, 1994

In der vielschichtigen Verbindung der Aspekte Kolonialismus, Katholizismus und Medizin sowie unter Bezug auf den Titel der Arbeit, Die Ausrottung des Bösen, vollzieht Varejão in ihrer Serie eine Art Teufelsaustreibung aus den europäischen, barocken Azulejos. Die europäische Moral- und Tugendhaftigkeit, die durch die Darstellung der Embleme van Veens in der portugiesischen Kolonie in Brasilien

losophia, Mortis est Meditatio, die sich im Bildzentrum befindet und zwischen Himmel und Erde steht. Von links kommend ragt die demselben Azulejo entstammende Figur eines Soldaten ins Bild, der eine Fackel trägt. Im unteren Bildrand zitiert die Künstlerin fast vollständig eine Szene der Fliesenmalerei mit dem Titel Mortis Certitudo, in der eine Reihe von Menschen bei der Personifikation des Todes einen Obulus überreicht bekommt und zur wartenden Fähre gen Tod schreitet. Die Darstellung Varejãos erweist sich damit als ein komplexes Bild fragmentarischer Zitate verschiedener Originale, die, ihrem ursprünglichen Kontext entnommen, in einen neuen Bildzusammenhang gestellt werden und nur noch rudimentär rekonstruierbar sind. Vgl. ebd., S. 45ff.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 145

vorgeführt werden sollte, wird durch Varejãos Intervention parodiert. Des Weiteren fügt die Künstlerin verschiedene Bildtraditionen und -formen zusammen, reichend von antiken Bildmotiven über die christlich-barocke Malerei bis hin zur Tätowierung des Körpers, wodurch sie eine vielfältige Transformation unterschiedlichster kultureller Elemente entstehen lässt. Die Künstlerin macht deutlich, dass die portugiesischen Güter, die durch die Kolonisierung nach Brasilien gelangten, wo sie eine Synkretisierung erfuhren, bereits hybride kulturelle Produkte darstellten. So hat das Material, das sich Varejão für ihre künstlerische Arbeit aneignet, bereits vielfältige Appropriationen und Transformationen durchlaufen. Entsprechend stellt Van Veens Emblembuch selbst schon ein Hybrid dar, da der Herausgeber unterschiedliche Zitate antiker Autoren, vorwiegend Horaz, aber auch Seneca, Ovid und Cicero sowie zeitgenössische Literaten wie Lipsius, zitiert und zu einem neuen Gesamtbild zusammenfügt. Zudem verkörpern die in der Igreja São Francisco befindlichen Azulejos eine Aufnahme niederländischen Einflusses auf die portugiesische Kultur, der darauffolgend auf Brasilien übertragen wird. Dort erfahren die Fliesen schließlich erneut eine Transformation, die von der Übersetzung der niederländischen Buchillustration in eine großformatige Fliesendekoration führt, wo sie für die religiöse Praxis der Franziskaner in der portugiesischen Kolonie nutzbar gemacht und erneuert werden.74 Ähnlich dem Prinzip der Collage zerstört Varejão ihre Vorlage, die als Original nicht anerkannt wird, und kreiert ein neues hybrides Werk, das sich durch eine vielfältige Transfusion unterschiedlicher Kulturkreise, Techniken und

74

Vgl. WESTSTEIJN, Thijs: Otto Vaenius‘ Emblemata Horatiana and the azulejos in the monastery of São Francisco in Salvador de Bahía, in: De zeventiende eeuw, Hilversum, Jaargang 21, 2005, S. 128-145, hier: S. 131, 133, 144. Die lineare Erzählstruktur der Emblemata Horatiana, die mit der Personifikation der Tugendhaftigkeit beginnt und mit der Figur des Todes endet, wird in der Abfolge der Azulejos im brasilianischen Kloster aufgehoben. Die Abfolge der Darstellungen an den vier Mauern des Kreuzgangs folgt einer eigenen Logik, die sich nach der angrenzenden Architektur und der alltäglichen Routine der Mönche richtet und deren Weg durch den Kreuzgang symbolisch begleitet. So führt Thijs Weststeijn aus: „A correct order in which to read the hieroglyphical imagery on the walls does not exist. The inhabitants of the monastery would cross the walkways of the cloister in various directions several times a day. Going from the monastery to the church they would pass the wall adjacent to the cemetery, and be reminded of their deceased precedessors and the fact that true philosophy is the meditation of death. When going from the monastery to the chapter-house, that opened onto the outside world, they would be confronted with the role of money in worldly affairs. Approaching the church from the chapter-house, they would be reminded of virtus in a general sense. Before entering the monastery, they would face the social decorum that also pervades their small religious fraternity.“ Ebd., S. 135.

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Zeiten manifestiert, wodurch das Konzept der Antropofagia zur Anwendung kommt. Abbildung 70: Adriana Varejão: Naufrágio da Nau da Cia. das Índias, 1992 Abbildung 71: Anonym: Ohne Titel, 1. Hälfte 18. Jhdt. Abbildung 72: Adriana Varejão: Paisagem Chinesa, 1991

In diesem Zusammenhang thematisiert Varejão in einer Reihe von Arbeiten auch die Beeinflussung Asiens auf die brasilianische Kultur. So ist das chinesische Porzellan ein häufiges Motiv im Werk der Künstlerin. Porzellan stellte in der kolonialen Welt eine populäre Handelsware dar und wurde von China zunächst nach Delft und dann nach Portugal importiert, wo es zu einem begehrten Luxusartikel avancierte und schließlich durch die Kolonialmacht nach Brasilien gelangte. 75 In der Darstellung der Porzellanteller in Carne a la manera de Taunay imitiert Varejão den Stil chinesischer Keramik ebenso wie in der Arbeit Naufrágio da nau da Cia. das Índias [Schiffbruch der East India Company] von 1992 (Abb. 70), in der sich die illusionistische Malerei eines Mosaiks aus Fragmenten chinesischen Porzellans findet. Hiermit bezieht sich die Künstlerin auf die dekorative Technik des embachado, die im brasilianischen Barock zur Anwendung kam. 76

75 76

Vgl. ARMSTRONG/ZAMUDIO-TAYLOR, 2000, S. 106. Vgl. HERKENHOFF, Paulo: Varejão – A China within Brazil, Amsterdam: Galerie Barbara Farber, 1992, S. 3.

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Varejão thematisiert in beiden Arbeiten die vielfältigen kolonialen Handelsbeziehungen zwischen Europa, Asien und Südamerika, womit sie auf den daraus resultierenden Transfer kultureller Artefakte aufmerksam macht. Jens Baumgarten hat auf den intensiven Wirtschafts- und Kulturaustausch zwischen Asien und Südamerika hingewiesen. Neben chinesischem Porzellan, wovon in Brasilien zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert über zehn Millionen Objekte verkauft wurden, handelte man vorwiegend mit indischem oder ceylonesischem Elfenbein, indischen und chinesischen Textilien sowie japanischen und indischen Möbeln. Die koloniale portugiesische Handelsroute, welche sich um 1570 etablierte, verlief von Goa in Indien über Malacca in Malaysia und Macau in China nach Salvador, Rio de Janeiro und Pernambuco.77 Die Seewege wurden von Schiffen der britischen East India Company befahren, auf die sich Varejão im Titel der Arbeit Naufrágio da nau da Cia. das Índias bezieht.78 Entsprechend Baumgartens Analyse, nach der die Präsenz der asiatischen Artefakte in der brasilianischen Kultur dichotome Konstruktionen von kultureller und nationaler Identität im kolonialen Kontext widerlegt,79 vollzieht die 77

Vgl. BAUMGARTEN, Jens: Transformation asiatischer Artefakte in brasilianischen Kontexten, in: Alexandra Karentzos/Alma-Elisa Kittner/Julia Reuter (Hrsg.): Topologien des Reisens, Eine Onlinepublikation der Universität Trier, 2010, URL: http://ubt. opus.hbz-nrw.de/volltexte/2010/565/pdf/Topologien_des_Reisens.pdf (Zugriff: 05.08. 2015), S. 178-194, hier: S. 180f.

78

Die East India Company war eine 1600 gegründete, staatlich privilegierte Handelsgesellschaft Londoner Kaufleute, die weite Teile des kolonialen Handels dominierte. Ihr wurde von der britischen Krone das alleinige Recht zugestanden, den gesamten Handel zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Magellanstraße abzuwickeln. Neben dem Handelsmonopol war die Kompanie mit dem Recht ausgestattet, selbstständig Gebiete zu erwerben, wodurch sie die oberste Gewalt in den dortigen bürgerlichen und militärischen Angelegenheiten erhielt. Um 1680 verwaltete sie weite Gebiete von Bengalen, Madras und Bombay und besaß große militärische Stärke. Gemeinsam mit der niederländischen Verenigden Oostindischen Compagnie etablierte sich die britische East India Company zu Beginn des 17. Jahrhunderts als einflussreichste Handelsmacht. Vgl. NAGEL, Jürgen G.: Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007, S. 37ff.

79

Vgl. BAUMGARTEN, 2010, S. 180. Baumgarten kommt zu dem Schluss, dass in den „reisenden Artefakten“ zwar „die Herrschafts- und Missionsstrukturen unsichtbar vorhanden sind,“ aber „gerade bei der Eingliederung der asiatischen Objekte in den südamerikanischen Diskurs“ kann, so Baumgarten, „von einer Ausweitung und Öffnung der Möglichkeiten der Wahrnehmung gesprochen werden.“ Ebd., S. 191. Die kulturellen Mischformen werden vom Autor als Spannung verschiedener, paralleler visueller Systeme verstanden, die einen diskursiven Raum ermöglichen, in dem eine Annäherung und Verhandlung zwischen den Kulturen stattfinden kann. Vgl. ebd., S. 192.

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Künstlerin eine Symbiose von Ost und West sowie eine Vermischung profaner und religiöser Elemente, wodurch sie im Sinne der Antropofagia jegliche Vorstellungen von kultureller Reinheit ad absurdum führt. Der brasilianische Barock, auf den sich Varejão durch ihre Bildsprache in all ihren Arbeiten grundlegend bezieht, ist wesentlich von einer Inkorporation chinesischer Darstellungsformen geprägt, die vornehmlich in den kolonialen Kirchenbauten von Minas Gerais vielfältige Ausdrucksformen erfahren haben. Die Aufnahme chinesischer Artefakte lässt sich beispielsweise in der Capela da Nossa Senhora do Ó in Sabará finden, in der die Dekoration des Triumphbogens eine chinesische Motivik aufweist, durch eine idealisierende, abstrahierte Landschaft als goldfarbene Zeichnung auf schwarzem Grund (Abb. 71). Es ist unklar, ob das aus der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts stammende Artefakt aus dem asiatischen Macau nach Brasilien importiert oder vom portugiesischen Maler Jacinto Ribeiro vor Ort ausgeführt wurde, der in Minas Gerais mit der malerischen Ausstattung von Kirchen beschäftigt war und sich zuvor einige Zeit in den asiatischen Kolonien aufgehalten hatte. 80 Die Verbindung einer chinesischen Bildsprache mit religiösen, barocken Elementen findet sich exemplarisch in Varejãos Werk Paisagem Chinesa [Chinesische Landschaft] aus dem Jahr 1992 (Abb. 72). Das Ölgemälde weist bewusst herbeigeführte Risse und Bruchstellen auf, womit Varejão auf das Porzellan der Sung Dynastie referiert.81 Der heilige Geist erscheint inmitten typischer Naturmotive chinesischer Tuschezeichnungen, am linken Bildrand befinden sich chinesische Siegelstempel. Im Ölgemälde Passagem de Macau a Vila Rica [Durchreise von Macau nach Vila Rica] von 1992 (Abb. 73) zieht die Künstlerin eine Verbindung von Macau, der einstigen portugiesischen Kolonie im Süden Chinas, nach Vila Rica, dem heutigen Ouro Preto in Minas Gerais, der in Brasilien reichsten Stadt an kolonialen Barockbauten.82 Durch Format und Technik greift Varejão die chinesischen Traditionen des Rollbildes und der Tuschezeichnung auf, wodurch die barocken Kirchen von

80

Vgl. ebd., S. 190.

81

Den Hinweis äußerte Adriana Varejão in einem unveröffentlichten Interview mit der Autorin, das am 11.07.2012 in Rio de Janeiro stattfand. Die Künstlerin hat eine spezielle farblose Lasur entwickelt, die sie auf die Leinwand aufträgt und bewirkt, dass sich diese an bestimmten Stellen zusammenzieht und aufreißt. Das Gemälde, das einreißt, korrespondiert mit Varejãos Einschnitten in die Leinwand.

82

Bereits 1513 betritt mit dem portugiesischen Seefahrer Jorge Alvarez der erste Europäer Macau. Die Kolonialherren bauen zahlreiche Kirchen, Festungen und prächtige Kolonialbauten. Der Handel mit Seide, Gewürzen und Tee floriert in den folgenden Jahrzehnten und bringt der ersten europäischen Kolonie in Asien großen Wohlstand. Vgl. HABERZETTL, Peter/PTAK, Roderich: Macau. Geographie, Geschichte, Wirtschaft und Kultur, Wiesbaden: Harrassowitz, 1995, S. 6ff.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 149

Minas Gerais in eine chinesisch anmutende Hügellandschaft versetzt werden.83 Varejão macht auf den Austausch kultureller Güter aufmerksam und zeigt Verbindungslinien zwischen den Ländern Brasilien und China auf, die die Erfahrung der Kolonisierung durch Portugal teilen. Abbildung 73: Adriana Varejão: Passagem de Macau a Vila Rica, 1992

In ihren hybriden Bildern, in denen der europäische Barock mit kulturellen Elementen aus Brasilien und Asien verschmilzt, stellt Varejão kulturelle Grenzen in Frage. Unter Anwendung der Strategie der Einverleibung, in der kulturelle Austauschprozesse und eine Alteritätserfahrung stattfinden, erfolgt in ihren Arbeiten eine kritische Intervention von Konstrukten wie Reinheit und Original. Indem Kulturen generell als hybrid verstanden werden, dekonstruiert die Künstlerin den Begriff der nationalen Identität und setzt an ihrer Stelle den der Differenz, womit sie für eine Identitätspolitik eintritt, die sich von der Vorstellung eines in sich homogenen Kollektivs loslöst. Somit erfährt de Andrades modernistisches Konzept der Antropofagia in der zeitgenössischen Rezeption durch Adriana Varejão eine Weiterführung.

83

Vgl. HERKENHOFF, 1999, S. 6f.

150 | Strategien der Einverleibung

Cildo Meireles: Konstruktionen eines hybriden dritten Raumes I think the notion of anthropophagy is a positive contribution that Brazilian culture can make to the possibility of co-existing with difference. This model of social harmony runs throughout Brazilian culture, despite its historical, social and political upheaval.84 Cildo Meireles

Die Schaffung transkultureller Übergangsräume, die für Adriana Varejãos Arbeiten wesentlich ist, stellt auch in Cildo Meireles’ konzeptuellen und installativen Werken einen zentralen Aspekt dar, wodurch eine Aktualisierung des anthropophagen Konzepts erfolgt. Bereits im Frühwerk der 1970er Jahre findet sich in Weiterführung des tropikalistischen Projekts eine Rezeption der Antropofagia in Meireles‘ Arbeiten, welche in seinen Werken des 21. Jahrhunderts und der unmittelbaren Gegenwart fortgeführt wird. Wie Varejão wendet Meireles die Strategie der kulturellen Einverleibung an, indem er westliche Kulturelemente zitiert, die er mittels kontrastiver kultureller und medialer Ausdrucksformen transformiert und so einer kritischen Umformulierung unterzieht. Anders als die jüngere Künstlerin bezieht er sich hierbei jedoch nicht konkret auf die historischen Bilder des Kolonialismus, sondern inkorporiert zentrale Topoi der europäischen Kunstgeschichte, die vom 16. Jahrhundert über die klassische Moderne bis hin zur zeitgenössischen Kunst reichen. Auch nimmt die anthropophage Einverleibung und Umwertung USamerikanischer Kunstströmungen, wie der Minimal Art oder der Pop Art, einen zentralen Stellenwert in seinem Werk ein. Gleichwohl enthalten Meireles’ Arbeiten stets einen kolonialismuskritischen Impetus, der mit einer Infragestellung kultureller Dichotomien und Hierarchien sowie der Formulierung eines hybriden Verständnisses von Identität einhergeht, wodurch die Parallelen zum Werk Varejãos offensichtlich werden. Exemplarisch für Meireles’ zeitgenössische Rezeption der Antropofagia steht die Installation Babel von 2001 (Abb. 74). Eine Vielzahl von im Kreis aufeinander gestapelten Radiogeräten unterschiedlicher Modelle formen einen von blauem Licht beschienenen Turm von drei Metern Durchmesser, der bis zur Decke des Ausstellungsraumes reicht, wodurch das Bild eines Wachsens in den Himmel evoziert wird. Die Radiogeräte sind jeweils auf deren leisester Stufe eingestellt und senden

84

Cildo Meireles im Interview mit Gerardo Mosquera, in: Paulo Herkenhoff (Hrsg.): Cildo Meireles, Ausst.-Kat. New Museum of Contemporary Art, New York, London: Phaidon, 1999, S. 6-35, hier: S. 28.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 151

in unterschiedlichen Frequenzen, wodurch ein Zusammenspiel unzähliger verschiedener Sprachen ertönt.85 Meireles nimmt mit der Arbeit Bezug auf die biblische Erzählung des Turmbaus zu Babel, in der das Vorhaben als Versuch der Menschheit gewertet wird, Gott gleichzukommen. Wegen dieser Überheblichkeit straft Gott die Völker, die zuvor eine gemeinsame Sprache hatten, mit Sprachverwirrung, die alle späteren menschlichen Konflikte begründet.86 Mit Babel zitiert Meireles zudem ein häufiges Bildthema der europäischen Kunstgeschichte. Ein prominentes Beispiel ist das Gemälde Pieter Brueghels d. Ä. von 1563, wo der Turm von Babel als Warnung vor menschlicher Torheit und als Symbol für die göttliche Übermacht steht. Abbildung 74: Cildo Meireles: Babel, 2001

Meireles dekonstruiert das europäische literarische und bildliche Original, indem er die dortige negativ konnotierte Differenz zwischen den Kulturen ins Positive wendet. In diesem Zusammenhang verweist seine Installation dezidiert auf den Kolonialismus, der die kolonisierte Kultur durch das Auferlegen einer Sprache homogenisiert, wozu der Künstler mit dem vielfältigen Sprachengewirr der verschiedenen Radiosender eine Gegenposition einnimmt. Meireles entwirft mit seiner Installation einen transkulturellen Übergangsraum, in dem permanente Kommunikationskreis-

85

Vgl. BRETT, 2008, S. 168.

86

Vgl. Die Bibel, Gen. 11, Vers 1-9.

152 | Strategien der Einverleibung

läufe stattfinden.87 Sein Babel thematisiert Kulturkontakte, die nicht dualistisch und essentialistisch begriffen, sondern als wechselseitige Durchdringung dargestellt werden. Die Vereinigung verschiedener Sprachen in Meireles’ Turm zu Babel geht mit einem Zusammenfallen verschiedener Zeitebenen in der Welt einher. Durch das durchgängige, simultane Senden der Radiogeräte wird Zeit als ein Element ausgewiesen, das die Menschen im globalen Kontext in einem hybriden Raum miteinander verbindet.88 Auch sind die in der Installation verwendeten Radiomodelle bezüglich des technischen Fortschritts höchst divergent, wodurch auf die ungleiche globale Verteilung des Zugangs zu neuen Technologien und somit zu Kommunikation und Information verwiesen wird. Durch das gleichzeitige Ertönen der unterschiedlichen Geräte in identischer Lautstärke wird nun jeder Lokalität das Recht, zu hören und gehört zu werden, symbolisch zugesprochen.89 Eine weitere Bezugsquelle besteht zur Erzählung La Biblioteca de Babel [Die Bibliothek von Babel], welche vom argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges im Jahr 1941 veröffentlicht wurde.90 Darin entwirft Borges die Fiktion eines Universums, das als Bibliothek von Babel beschrieben wird, in der alle unterschiedlichen Sprachen in Form von unendlich vielen Büchern in einem transkulturellen Raum zusammengeführt werden. Mit dieser Universalbibliothek, deren Bücher für die meisten Menschen unverständlich und nicht übersetzbar sind, formuliert Borges ein Verständnis von Literatur als einer generell hybriden Gattung, indem sie sich aus einer zyklischen Wiederkehr unendlicher Neukombinationen zusammensetzt und so durch eine Koexistenz von Differenzen geprägt ist.91

87

Vgl. dos ANJOS, Moacir: Cildo Meireles. Babel, Ausst.-Kat. Museu Vale do Rio Doce,

88

Vgl. DAZORD, Cécile (Hrsg.): Cildo Meireles, Ausst.-Kat. Musée d'Art Contemporain

89

Vgl. dos ANJOS, 2006, S. 62f.

90

Vgl. ebd., S. 69f.

91

Vgl. BORGES, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel (1941), in: Ders.: Fiktionen.

Vila Velha, Rio de Janeiro: ARTVIVA Editora, 2006, S. 62f. de Strasbourg, Gand: Snoeck-Ducaju & Zoon, 2003, S. 154.

Erzählungen, Frankfurt am Main: Fischer, 1999, S. 67-76. Die Erzählung La Biblioteca de Babel wurde erstmals 1941 in Borges’ Band El jardín de senderos que se bifurcan [Der Garten der Pfade, die sich verzweigen] und erneut 1944 in seinen Ficciones [Fiktionen] veröffentlicht, einer Reihe phantastischer Kurzerzählungen, in der tradierte Motive fremder Kulturen in fiktive Welten versetzt und zu borgesianischen Metaphern transformiert werden. Borges nahm in den 1920er Jahren die anthropophagen Ideen des Nachbarlandes Brasilien in die argentinische Literatur auf und verband europäische Avantgarde mit argentinischen Archetypen, die auf ein neues nationales Selbstbewusstsein verweisen sollten. Vgl. HANKE-SCHAEFER, Adelheid: Jorge Luis Borges zur Einführung, Hamburg: Junius, 1999, S. 8f.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 153

Die Formulierung eines hybriden Kulturverständnisses, das in Babel zum Ausdruck kommt, findet sich ebenfalls in der Arbeit Desvio para o Vermelho (Red Shift) [Verirrung ins Rot (Red Shift)] (Abb. 75a-c), welche Meireles zwischen 1967 und 1984 konzipierte. Die Installation stellt einen Raum dar, der mit einer Ansammlung von Gegenständen von roter Farbigkeit gefüllt ist. Die Raumeinrichtung, bestehend aus Möbeln, Elektrogeräten, Pflanzen, Büchern, Gemälden und Lebensmitteln, bildet einen typischen brasilianischen Wohnraum der 1960er und 1970er Jahre nach. Lisette Lagnado interpretiert Meireles’ Arbeit als Einverleibung fremder Kulturgüter im Sinne der Antropofagia. So stellt die Installation eine anthropophage Aneignung des 1911 entstandenen Gemäldes L‘atelier rouge von Henri Matisse dar (Abb. 76).92 In Matisses Künstleratelier befinden sich Gemälde, Skulpturen und Keramikgefäße sowie Mobiliar, wobei die Farbe Rot sich über die gesamte Bildfläche erstreckt und sowohl die Architektur des Raumes als auch alle darin befindlichen Gegenstände einnimmt.93 Analog hierzu stehen die einzelnen Objekte in Meireles‘ Installation völlig unhierarchisch nebeneinander. Weitere Appropriationen westlicher Kulturgüter finden sich in Meireles‘ rotem Zimmer in einer Hundefigur, die Keith Haring zitiert, sowie in einer eingeschnittenen Leinwand, die einen Bezug auf Lucio Fontana beinhaltet. Meireles kannibalisiert zudem Kunstwerke aus der eigenen Kultur, indem er Gemälde und Objekte von brasilianischen Künstler/innen zitiert. So verweisen diverse monochrome Gemälde auf den Maler Paulo Roberto Leal und ein an die Wand angebrachtes Herz auf eine Arbeit von Antonio Dias.94 Neben diesen vielfältigen Bezügen auf die globale Kunstgeschichte vereint Meireles zudem Elemente der Populärkultur aus unterschiedlichen Kulturkreisen, so ist ebenso eine gerahmte Fotografie von Marilyn Monroe Teil der Raumeinrichtung wie auch die aus dem Buddhismus stammenden Figuren der drei Affen Eingang finden. Meireles’ rotes Zimmer stellt somit eine Anhäufung von kulturell und medial höchst unterschiedlichen Readymades dar, die in einen neuen Zusammenhang gebracht werden.

92

Vgl. LAGNADO, Lisette: Cildo Meireles – detour into interpretation, in: Paulo Herkenhoff/Adriano Pedrosa (Hrsg.): XXIV Biennal de São Paulo: núcleo histórico: antropofagia e histórias de canibalismos, São Paulo: A Fundação, 1998, S. 402-405, hier: S. 404.

93

Durch die allumfassende Einnahme des Bildraumes von einer einzigen Farbe erhält das Gemälde von Matisse eine Flächigkeit, verliert das einzelne Objekt an Wichtigkeit und dem Raum zwischen den Dingen wird die gleiche Bedeutung zuteil wie den Dingen selbst. Vgl. SCHNELL, Werner: "Das rote Atelier" des Henri Matisse: ein Bild und seine Verwandten, Berlin: Mann, 2001, S. 18, 59.

94

Vgl. LAGNADO, 1998, S. 404.

154 | Strategien der Einverleibung

Abbildung 75a-c: Cildo Meireles: Desvio para o Vermelho (Red Shift), 1967-84

Abbildung 76: Henri Matisse: L‘atelier rouge, 1911

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 155

Durch die Kombination augenscheinlich disparater Dinge definiert sich Meireles‘ Arbeit als hybrider Raum, der, ähnlich Varejãos künstlerischer Geste in ihrer Serie Extirpação do Mal, einer synkretistischen Collage entspricht. Durch das Zusammenführen von Kunst- und Gebrauchsgegenständen des westlichen wie des eigenen Kulturkreises zeigt Meireles in seiner Arbeit ebenfalls vielfältige Verflechtungen auf, wodurch die Frage nach dem Fremden und dem Eigenen hinfällig wird. Indem sich Meireles mit seiner Appropriation des Gemäldes von Matisse auf die kunsthistorische Tradition des Atelierbildes bezieht und so seinen roten Raum in den Kontext eines Künstlerateliers setzt, jedoch nicht wie im Sujet üblich seine eigenen Werke, sondern jene anderer Künstler/innen präsentiert,95 verweist er explizit auf das Konzept der Antropofagia. Somit lässt sich Mereiles‘ Ansammlung roter Objekte einerseits als Zusammenführung seiner künstlerischen Beeinflussung lesen, gleichzeitig werden die Kategorien von Original und Kopie verwischt. Paulo Herkenhoff beobachtet in Desvio para o Vermelho (Red Shift) eine Beschäftigung mit dem Monochrom, das in den dreidimensionalen Raum übertragen wird und die Betrachter/innen förmlich verschlingt, worin eine körperlichräumliche Komponente des Anthropophagie-Bezuges zur Anwendung kommt, die in einer Weiterführung des neokonkreten und tropikalistischen Ansatzes Hélio Oiticicas besteht.96 So erinnert Meireles’ Arbeit an Oiticicas Werk Grande Núcleo, das den Rezipient/innen das Gefühl ermöglichen soll, durch ein Bild zu gehen, 97 95

Das Sujet des Künstlerateliers hatte im 19. Jahrhundert eine große Popularität erlangt. Neben Henri Matisse schufen auch Pablo Picasso, Georges Braque oder Max Beckmann einige Atelierbilder, in denen sich die Künstler selbstreflexiv mit ihrer Arbeit als Maler auseinandersetzten. Das Atelierbild sollte in erster Linie die künstlerischen Intentionen wiederspiegeln. Auch ging es darum, den Entstehungskontext der Werke festzuhalten, weshalb in der Regel halb fertige Arbeiten dargestellt wurden oder der Maler selbst im Arbeitsprozess an der Staffelei, mit oder ohne Modell, ins Bild gesetzt war. Matisses L‘atelier rouge stellt in diesem Sinne kein typisches Atelierbild dar, da es eher den Anschein eines gutbürgerlichen Interieurs macht. Vgl. SCHNELL, 2001, S. 21. Auch Meireles‘ rotes Zimmer ist nicht mit den typischen Motiven eines Atelierbildes ausgestattet. In der Ansammlung einer Vielzahl roter Objekte, die gleichwertig nebeneinander präsentiert werden und auf die künstlerische Beeinflussung verweisen, rückt seine Installation in die Nähe der Atelierwand von André Breton aus den Jahren 1922 und 1966, die als originalgetreue Rekonstruktion im Centre Pompidou in Paris installiert ist. Dort dokumentierte der Schriftsteller an einer Wand seines Arbeitszimmers mehr als 200 Werke und Objekte aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen, wie surrealistische Bilder, mathematische Zeichnungen oder naturkundliche Objekte, die er völlig unhierarchisch nebeneinander arrangierte.

96

Vgl. HERKENHOFF/PEDROSA, 1998, S. 38.

97

Vgl. BARNITZ, 2001, S. 281f.

156 | Strategien der Einverleibung

wie auch an seine Installation Tropicália, in welcher eine Einverleibung derselben durch das Kunstwerk intendiert wird. Unter Bezug auf die Wahrnehmungsphänomenologie Maurice Merleau-Pontys sowie die neokonkreten Wahrnehmungsexperimente, die den agierenden Körper in den Mittelpunkt stellen, setzt Meireles die rote Farbe dazu ein, den Sinneseindruck zu intensivieren und eine Synthese zwischen den Rezipient/innen und der Arbeit zu vollziehen.98 Meireles’ monochrome Installation, in der eine Farbe alle Gegenstände des Raumes verschluckt, beinhaltet einen weiteren anthropophagen Aspekt. Die Dominanz der Farbe Rot kann auch als Bild für den Kolonialismus gesehen werden, der die kolonisierte Kultur gleichsam kannibalisiert. Hierdurch erfolgt eine ähnliche Umkehrung der Kategorisierungen von Barbarei und Zivilisierung wie in Meireles’ Installation Missão/Missões (Como Construir Catedrais) und einer Vielzahl von Varejãos Gemälden. Die Farbe Rot wird von Meireles in ihrem symbolischen Verweis auf Blut und Gewalt gebraucht, was mit Varejãos Arbeiten korrespondiert. Analog zu ihrer Rezeption des anthropophagen Konzepts verbindet Meireles in seiner Arbeit die Formulierung eines positiv verstandenen hybriden Identitätsbegriffes mit dem Verweis auf den gewaltvollen Ursprung des brasilianischen Heterogenisierungsprozesses durch die europäischen Kolonisatoren. In Fortführung des tropikalistischen Projekts fungiert die Installation zudem als Bild für die Gewalt der Militärdiktatur in Brasilien, während derer Meireles seine Arbeit konzipierte. Blut als Material stellte in der brasilianischen Kunst zum Ende der 1960er bis in die 1980er Jahre hinein ein zentrales Element dar, um auf die Opfer des Gewaltregimes zu referieren. So stellte Artur Barrio 1969 im Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro verschnürte, blutige Stoff- und Plastikbündel aus, welche mit tierischen Fleischstücken und Knochen gefüllt waren. Im selben Jahr weitete er dieses Konzept in den öffentlichen Raum aus und hinterließ blutige Hinterlassenschaften in Straßen und Parks von Rio de Janeiro und Belo Horizonte.99 Entsprechend dient die Farbe Rot in Desvio para o Vermelho (Red Shift) der Vermittlung eines Gefahrenmoments.100 Haben die Besucher/innen den Raum durchquert, werden sie um eine Ecke zum Eingang eines dunklen Ganges geführt, wo sie mit dem Geräusch von fließendem Wasser sowie einer auf dem Boden lie98

Vgl. LAGNADO, 1998, S. 403. Entsprechend verweist der Name Red Shift im Titel der Arbeit auf ein physisches Phänomen, wonach rote Lichtstrahlen die längste Wellenlänge innerhalb des Lichtspektrums besitzen. Vgl. CASANOVA, 1995, S. 178.

99

Vgl. CAMNITZER Luis: Conceptualism in Latin American Art: Didactics of Liberation, Austin: University of Texas Press, 2007, S. 198f.; sowie CULLEN, Deborah (Hrsg.): Arte ≠ Vida. Actions by Artists of the Americas 1960-2000, Ausst.-Kat. El Museo del Barrio, New York, New York: El Museo del Barrio, 2008, S. 109.

100 Vgl. TODOLÍ, Vicente (Hrsg.): Cildo Meireles. Installations, Ausst.-Kat. Pirelli HangarBicocca, Mailand, Mailand: Mousse Publishing, 2014, S. 138.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 157

genden Glasflasche konfrontiert werden, aus der eine rote Vinylspur in die Dunkelheit des Ganges führt. Folgt man dieser roten Linie, wird am Ende des Korridors ein schräg auf die Wand projiziertes Waschbecken sichtbar, aus dessen Wasserhahn unaufhörlich eine rote Flüssigkeit fließt, die assoziativ mit Blut verbunden wird und ein Motiv Barrios rezipiert. Meireles evoziert somit eine Desorientierung der Betrachter/innen, um ein Gefühl von Angst und drohender Gefahr zu vermitteln: In einem ersten Schritt wird das Auge durch die rote Farbigkeit überfordert, woraufhin die Konfrontation mit der Dunkelheit des Ganges eine Situation der Unsicherheit herstellt. Die Flasche, aus der mehr Flüssigkeit fließt als sie beinhalten könnte, sowie das Bild des schief hängenden Waschbeckens und der entgegen der Schwerkraft in einem 30 Grad-Winkel fließende rote Strahl stehen entgegen den Gesetzen der Logik.101 Abbildung 77: Cildo Meireles: Cruzeiro do Sul, 1970

Parallel zu seinen raumfüllenden Installationen entstehen Skulpturen, mit denen sich Meireles US-amerikanische Kunstströmungen im Andradschen Sinne einverleibt und mit lokalspezifischen Elementen verbindet, um eine postkoloniale Kritik zu formulieren. Die Skulptur Cruzeiro do Sul [Kreuz des Südens] von 1970 (Abb. 77) zitiert das reduzierte, geometrische Formenvokabular der Minimal Art, wodurch diese einer Revision unterzogen wird. Das Objekt besteht aus Kiefern- und Eichenholz, das aufeinandergepresst wurde und einen Kubus in Miniaturgröße formt. Das Material hat insofern symbolischen Charakter, als dass es auf die in einem rituellen Akt vollzogene Technik der Tupinambá verweist, durch das Anei-

101 Ebenso wie Matisse, der an der Beziehung zwischen Farbe und Form interessiert war und mit seinem roten Atelier der Frage nachging, wie Raum in einer Fläche sichtbar gemacht werden kann, nutzt Meireles wahrnehmungspsychologische Aspekte der Farbe, jedoch geht es ihm in erster Linie um den symbolischen Gehalt der Farbe Rot, die in seiner Installation mit Blut, Gewalt und Gefahr verbunden wird.

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nanderreiben der beiden als heilig geltenden Hölzer Feuer zu entfachen.102 Das Objekt wird nach Vorgabe Meireles’ in einem mindestens 200 Quadratmeter großen, leeren Raum auf dem Boden liegend ausgestellt, wodurch es für die Besucher/innen leicht zu übersehen ist. Einzig ein Spot, der die Skulptur von oben beleuchtet, macht auf sie aufmerksam. 103 Ähnlich wie in seiner Installation Missão/Missões (Como Construir Catedrais) thematisiert Meireles mit dem minimalen Objekt die Reduzierung und Ausrottung der vielfältigen indigenen Kultur mit ihren Bräuchen und Mythen durch die Kolonialkultur, was der Künstler durch die Kleinheit seiner Skulptur für die Betrachter/innen physisch erfahrbar macht. Der Titel Cruzeiro do Sul verweist auf das gleichnamige Sternbild des Südhimmels, welches den europäischen Seefahrern im 16. Jahrhundert als Orientierungshilfe diente und sich in Brasiliens Nationalflagge findet. In Tarsila do Amarals Illustration zu Oswald de Andrades Gedichtband Pau Brasil wird das Sternbild bereits im Kontext der Antropofagia thematisiert und gleichermaßen als Verweis auf den Kolonisierungsprozess wie auch auf die damit verbundene Christianisierung Brasiliens gedeutet, worauf sich Meireles ebenfalls bezieht. Indem sein Kubus symbolisch aufgeladen ist und auf einen größeren Sinnzusammenhang verweist, nimmt Meireles eine völlig entgegengesetzte Haltung zum selbstreferenziellen amerikanischen Minimalismus ein. Auch die Verwendung armer Materialien steht im Gegensatz zur Hochglanzästhetik der Kunstwerke der Minimal Art. Meireles verwendet für diese Reihe von Arbeiten die Bezeichnung humiliminimalismo, eine Verschmelzung der Wörter humility und minimalism oder auch minimalism of the poor.104 Die Skulptur erweist sich folglich unter Anwendung der Strategie der Einverleibung als hybrides Objekt, das aus einer Vereinnahmung der amerikanischen Minimal Art resultiert, die eine kritische Umformulierung erfahren hat, indem sie mit spezifisch brasilianischen Elementen verbunden wurde. Dieses Vorgehen entspricht dem von Bhabha beschriebenen Hybridisierungsprozess, bei dem Elemente der dominanten Kultur in die Kolonialkultur Eingang finden und dort von den Kolonisierten verfremdet und kritisch hinterfragt werden. Der unscheinbare Miniaturwürfel, dem die Idee von verdichteter Energie innewohnt, enthält zudem das Potenzial, eine zerstörerische Kraft von großem Ausmaß zu entfalten, wodurch eine Wehrhaftigkeit der unterdrückten Kultur artikuliert wird. Während Varejão in ihren Werken stärker auf eine historische Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit fokussiert, kommentiert Meireles mit seinen hybriden Objekten auch aktuelle Ungleichheiten des globalen Kunstgeschehens. So veranschaulicht die Kleinheit seiner Skulptur zudem die marginalisierte Stellung Brasiliens in Bezug auf die Dominanz der westlichen Kunstmetropolen. Sein Spiel 102 Vgl. CASANOVA, 1995, S. 171; sowie HERKENHOFF, 1999, S. 29. 103 Vgl. TODOLÍ, 2014, S. 142. 104 Vgl. DAZORD, 2003, S. 170.

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mit Größenverhältnissen steht symbolisch für die Beziehungen zwischen ‚Erster‘ und ‚Dritter Welt‘.105 In der zwischen 1990 und 1995 entstandenen Arbeit Fio [Faden] (Abb. 78) wird dieser Diskurs weitergeführt. Sie besteht aus einem Kubus mit je acht Metern Seitenlänge, der aus neben- und aufeinander gestapelten Heuballen gebildet wird. Das Heu wird von einem goldenen Faden umfasst, der erst beim genauen Hinsehen sichtbar ist.106 Mit den gegensätzlichen Materialien des Heus und des Goldes, die beinahe nicht zu unterscheiden sind, stellt die Arbeit Fragen nach der Verteilung von Armut und Reichtum in der globalen Welt und subvertiert die üblichen Definitionen von Wert. Abbildung 78: Cildo Meireles: Fio, 1990-95

Es wird deutlich, dass Meireles mit seinen hybriden Objekten keinen Globalisierungsoptimismus formuliert. Vielmehr konstatiert der Künstler mit Arbeiten wie Cruzeiro do Sul oder Fio, die über eine Zeitspanne von rund zwanzig Jahren entstanden sind und in gegenwärtigen Ausstellungen erneut realisiert werden, dass Hierarchien und Ausschlussmechanismen im globalen Kunstgeschehen weiterhin bestehen, wodurch das modernistische Projekt eine Aktualisierung erfährt. Meireles’ künstlerisch formulierte Kritik lässt sich mit den Thesen lateinamerikanischer Theoretiker/innen der Globalisierungsdebatte beschreiben. So kommt die brasilianische Kulturwissenschaftlerin Ana Leticia Fialho in ihren Überlegungen zur Integration brasilianischer Kunst in internationalen Ausstellungskontexten zu der Beobachtung, dass hinter der vermeintlichen globalen Öffnung vorrangig politische und

105 Vgl. BRETT, 2008, S. 116; sowie HERKENHOFF, 1999, S. 29. 106 Vgl. DAZORD, 2003, S. 171. Eines der Fadenenden ist in eine goldene Nadel eingelassen, die in den Kubus eingeführt ist. Meireles spielt hiermit offensichtlich auf das Sprichwort Die Nadel im Heuhaufen suchen an.

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wirtschaftliche Interessen stehen, die „auf die Stärkung der symbolischen und wirtschaftlichen Macht jener zielen, die sich in den Zentren befinden, wodurch ein vereinfachtes, aus dem Kontext gerissenes, oft stereotypes Bild der Produktion in der Peripherie entsteht.“ Die Globalisierung habe daher keine wirkliche Demokratisierung der Kunstszene herbeigeführt, sondern lediglich eine „kontrollierte Diversifikation“, indem nämlich „die Plätze im Rampenlicht weiterhin den Institutionen der zentralen Achse vorbehalten bleiben.“107 Der Westen habe noch immer die Definitionsmacht über die künstlerischen Werte und lege auch maßgeblich die Marktpreise fest.108 Auch Gerardo Mosquera weist darauf hin, dass das Phänomen der Globalisierung nicht als ein „überterritoriales Netz von Kommunikation und Austausch“ gedacht werden kann. Demgegenüber spricht Mosquera von einem „radialen System“, in dem verschiedene Machtzentren agieren. Es bestünden weiterhin Zentren und Peripherien: „In der Peripherie ist die Globalisierung wenig vorangekommen, weil sie sich ausgehend von den Zentren und für die Zentren vollzieht.“109 Zwar bringe die zunehmende Internationalisierung der Kunst, die sich dezidiert an der Vielzahl an Biennalen auf der ganzen Welt zeige, immer neue global agierende künstlerische Akteur/innen hervor, die zuvor in ihrem jeweiligen lokalen Kontext begrenzt und nicht sichtbar waren, jedoch sei der Globalisierungsprozess von Ungleichheiten und Segregationsmechanismen geprägt, die fortwirkende koloniale Konfigurationen widerspiegeln.110 Meireles konstatiert mit seinen hybriden Objekten und Installationen, dass das Zeitalter der Globalisierung einen Neokolonialismus hervorbringt, wodurch sich Brasilien weiterhin einer Situation der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Suppression durch europäische und US-amerikanische Dominanz ausgesetzt sieht und im kulturellen Bereich einem peripheren Status in Bezug auf die westlichen Kunstzentren verhaftet bleibt. Indem seine hybriden Kunstwerke die Autorität des Westens im Sinne des von Mignolo geforderten Epistemischen Ungehorsams als kulturschaffendes und tonangebendes Zentrum herausfordern, steht Meireles‘ ästhetische Strategie thematisch in direkter Nachfolge des modernistischen Pro107 FIALHO, Ana Letícia: Gesammelte Tropen – Zur Integration brasilianischer Kunst in einer internationalen Institution, in: Springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Wien, 3/2005, URL: http://www.springerin.at/dyn/heft_text.php?textid=1673&lang=en%3C/a % 3E%3C/p%3E (Zugriff: 12.11.2015), o. Seitenangabe. 108 Vgl. ebd. 109 MOSQUERA, Gerardo: Beyond the Fantastic. Contemporary Art Criticism from Latin America, London: Institute of International Visual Arts, 1995, o. Seitenangabe. 110 MOSQUERA, Gerardo: Beyond Anthropophagy: Art, Internationalization and Cultural Dynamics, Vortrag im Rahmen des Symposiums Globalkunst/Global Art, 29.07.2011– 30.07.2011, Universität Salzburg, 2011, URL: http://www.summeracademy.at/media/ pdf/pdf776.pdf (Zugriff: 06.11.2015), S. 1f.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 161

jekts. Die von de Andrade in den 1920er Jahren begründeten Thesen und Fragestellungen, denen im anthropophagen Konzept nachgegangen wird, haben für Meireles im Zeitalter der Globalisierung an Aktualität nicht eingebüßt. Die Strategie der kulturellen Einverleibung stellt daher weiterhin eine geeignete Methode dar, als Künstler eine kritische Haltung gegen diese Formen der Unterdrückung einzunehmen und eine Aufwertung der brasilianischen Kultur zu formulieren. Intervention gegen hegemoniale Machtstrukturen Meireles‘ Anwendung der Strategie der Einverleibung unter Bezug auf neokoloniale Strukturen im globalen Zeitalter wird in frühen Arbeiten des Künstlers mit der Formulierung einer Widerstandshaltung gegen die herrschende Militärdiktatur in Brasilien verbunden, womit er das tropikalistische Projekt Hélio Oiticicas und Lygia Clarks weiterführt. 1970 nahm Meireles an der Gruppenschau Information im Museum of Modern Art in New York teil, welche internationale Positionen der Konzeptkunst versammelte. Die Ausstellung befragte den Status von Information in Bezug auf die sozialen und politischen Krisen der Zeit und machte auf deren Kontrolle und Manipulation durch die Medien aufmerksam. 111 Meireles stellte in diesem Kontext sein Projekt Inserções em Circuitos Ideológicos [Eingriffe in ideologische Kreisläufe] vor und thematisierte so die Funktion der Information beziehungsweise deren Vorenthalten als ein bevorzugtes Mittel des Staates, welches im ideologischen Kampf gegen die Bevölkerung eingesetzt wird.112 Während in Babel der ungleiche Zugang zu Kommunikation im globalen Kontext angesprochen wird, versuchte Meireles mit seinem drei Jahrzehnte früher entstandenen Projekt Inserções em Circuitos Ideológicos, aktiv in den von diktatorischer Zensur und Repression determinierten Informationskreislauf in Brasilien einzugreifen. Teil dieses Projekts ist das Projeto Coca-Cola [Coca-Cola-Projekt] (Abb. 79), bei dem es sich um Coca-Cola-Flaschen handelt, die der Künstler mit politischen Botschaften bedruckte und in Umlauf brachte. Da die Flaschen in einem Pfandsystem zirkulierten, die Schrift weiß und somit auf den leeren Flaschen kaum mehr zu erkennen war, stellte das Projekt eine geeignete Methode dar, um Botschaften unter den extrem repressiven Bedingungen der Militärdiktatur zu verbrei111 Infolge des Vietnam-Krieges, der Anti-Kriegs-Bewegung, der Militärdiktatur in Brasilien und den radikalen politischen Gruppen in den USA zu dieser Zeit beobachtete McShyne eine Hinwendung zu kommunikativen Strategien im Werk vieler Künstler/innen auf internationaler Ebene. Vgl. McSHINE, Kynaston: Information, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York, Baltimore/Maryland: Publication Press, 1970, S. 138ff. 112 Vgl. ENWEZOR, Okwui: On the politics of disaggregation: Notes on Cildo Meireles’s Insertions into Ideological Circuits, in: Guy Brett (Hrsg.): Cildo Meireles, Ausst.-Kat. Tate Modern, London, London: Tate Publishing, 2008, S. 68-73, hier: S. 72.

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ten und ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Die Flaschen fungieren als Embleme gegen die Militärdiktatur und gegen die kulturelle und wirtschaftliche Präsenz der USA in Brasilien, entsprechend findet sich das Statement Yankees go home!. Eine weitere Inschrift stellt die Frage Who killed Herzog?, womit Meireles den Tod des sozialistischen Journalisten Wladimir Herzog anklagt, der in Gewahrsam der Geheimpolizei der brasilianischen Armee umkam. 113 Ebenfalls Teil der Inserções em Circuitos Ideológicos ist das Projeto Cédula [Banknoten-Projekt], bei dem Meireles analoge Slogans oder Fragen auf Banknoten stempelte. Abbildung 79: Cildo Meireles: Inserções em Circuitos Ideológicos: Projeto Coca-Cola, 1970/1999

Bei Meireles’ Projekt ging es um die direkte Intervention in einem manipulativen Netzwerk, um darin eine Gegeninformation in Umlauf zu bringen, mit dem Ziel, eine gesellschaftliche und soziale Veränderung zu erwirken. So äußert sich der Künstler in einem Interview zu seiner künstlerischen Intervention wie folgt: „The Inserҫões interested me as an individual activity in relation to the hegemony of power. I wanted to create a mechanism for expressing the subject in relation to society.“114 Da die Arbeit konsequenterweise selbst Formen von Austausch und Handel annimmt, findet ein Eindringen in den Geldumlauf und in die Kreisläufe von Konsum statt. Meireles’ Eingriffe richten sich gegen den kapitalistischen Markt 113 Vgl. REUTER, Laurel (Hrsg.): The Disappeared - Los Desaparecidos, Ausst.-Kat. North Dakota Museum of Art, Grand Forks/El Museo del Barrio, New York, Grand Forks: Charta, 2006, S. 76. 114 Cildo Meireles im Interview mit Nuria Enguita, in: Maria Casanova (Hrsg.): Cildo Meireles, Ausst.-Kat. IVAM Centre del Carme, Valencia, Valencia: IVAM, 1995, S. 160-165, hier: S. 163.

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und hegemoniale Konsummuster, worin der Künstler ein Fortbestehen kolonialer Strukturen verortet.115 In diesem Zusammenhang findet auch eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Kunstproduktion des Landes und dem kommerziellen Kunstmarkt statt, der nach Meireles auf der Privilegierung der Käuferschicht und der Ausbeutung der Produzent/innen beruht. Indem dem Kunstwerk kein käuflicher Wert erteilt wird, soll „die Kategorie des Marktes durch die des Publikums ersetzt“ 116 werden. Dementsprechend stellen die Inserções em Circuitos Ideológicos anonyme Kunstwerke dar, die sich direkt an die Rezipient/innen wenden, da sie nicht nur als Alltagsobjekte auftreten, sondern auch erst durch die Beteiligung vieler existieren. Die Intervention wendet sich gegen die bürgerliche Kunstideologie, indem das Kunstwerk aus dem elitären Rahmen der Kunstinstitutionen herausgelöst wird und der Künstler in seiner Autorität zurücktritt.117 Parallelen zu den tropikalistischen Arbeiten, in denen das Kunstwerk in die brasilianische Alltagskultur der Menschen überführt wird, werden hierin deutlich. Der anthropophage Aspekt, wonach die Einverleibung des Kunstwerks durch die Rezipient/innen für das Verständnis des Projekts unerlässlich ist, ist dabei ein wichtiges Element der Arbeit. Die künstlerische Aneignung eines vorgefundenen, industriellen Objekts stellt einen Bezug auf Duchamps Konzept des Readymade dar, welches Meireles im anthropophagen Sinne umwertet. Während nämlich Duchamp ein industrielles Objekt aus seinem gewöhnlichen Sinnzusammenhang herauslöst, in den Kunstkontext überführt und dort ausstellt, gibt Meireles das Objekt nach einer minimalen Veränderung wieder in seinen gewöhnlichen Zusammenhang zurück. Meireles‘ Interventionen schlagen daher eine andere Richtung als die Duchampschen Readymades ein, da „nicht der Industriegegenstand statt des Kunstobjekts, sondern das Kunstobjekt agierend als Industriegegenstand“118 gesetzt wird. Während außerdem das industrielle Objekt im Konzept des Readymade aus einer anonymen Masse herausgelöst und zu einem einzigartigen Kunstwerk erklärt wird, beginnt der Prozess der Inserções em Circuitos Ideológicos in einem privaten und individuellen Raum, der in der Überführung in ein größeres System mündet. 119 Neben dem Bezug auf Duchamp findet in der Verwendung von Banknoten und Coca-Cola-Flaschen auch eine Subversion der Pop Art statt, die sich Motiven aus 115 Vgl. MEIRELES, Cildo: Inserções em Circuitos Ideológicos (1975), in: Sabine Breitwieser (Hrsg.): vivências, Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien, Köln: König, 2000, S. 204-215, hier: S. 206, 208. Der Text erschien erstmals in: MALASARTES, Rio de Janeiro, 2. Ed., Sept. 1975. 116 Ebd., S. 206. 117 Vgl. BREITWIESER, 2000, S. 45f. 118 Vgl. ebd., S. 23. 119 Vgl. DAZORD, 2003, S. 166.

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der Populärkultur und Konsumwelt bedient. Andy Warhol führte mit der seriellen Wiedergabe von Coca-Cola-Flaschen und Geldscheinen in seinen Siebdrucken die permanente Verfügbarkeit und Austauschbarkeit von Dingen im Zeitalter der Massenmedien vor. Für Meireles wie für lateinamerikanische Künstler/innen generell stellt die Coca-Cola-Flasche jedoch ein Symbol für Kommerz, Kapitalismus und kulturellen Kolonialismus dar.120 So konstatiert Paulo Herkenhoff: „Coca-Cola represented, like no other company, the negative, imperialist expansion of capitalism through the spread of multinational companies in Latin American countries.“ 121 In diesem Zusammenhang findet sich die Coca-Cola-Flasche als Objekt in ähnlicher Form wie in der Arbeit Meireles’ im Werk von Luis Camnitzer. In seiner Arbeit Coca Cola Bottle filled with a Coca Cola Bottle von 1973 zerbrach der Künstler eine Coca-Cola-Flasche und füllte die Glasstücke in eine weitere Coca-ColaFlasche, die er wieder verschloss und in einer Ausstellungssituation auf einem Podest präsentierte.122 Mit seiner Kritik am Kapitalismus, in der ein Fortbestehen kolonialer Strukturen gesehen wird, führt Meireles die Tradition der Antropofagia weiter. Eine Konsumund Imperialismuskritik sowie ein Vorgehen gegen die kulturelle und wirtschaftliche Hegemonie der Industrienationen, insbesondere gegen den US-dominierten Mainstream, sind bereits zentrale Elemente der tropikalistischen Arbeiten. Meireles’ Inserções em Circuitos Ideológicos gehen jedoch einen Schritt weiter, indem sie direkt in den Machtapparat eingreifen, womit der Versuch einhergeht, das System zu unterlaufen. Guy Brett macht darauf aufmerksam, dass Meireles’ Projekt eine Widerstands- und Überlebensstrategie gegenüber dem Militärregime und der westlichen Welt darstellt.123 Er bezeichnet weiterhin Meireles’ Aneignung und Umwertung des Duchampschen Readymade-Konzepts als „eine Form von Maskierung oder Mimikry,“124 womit eine Analogie zu Bhabhas Hybriditätskonzept augenscheinlich wird. Meireles’ Eingriffe sind somit als Versuch einer Dekolonisierung zu lesen, indem die bestehenden kolonialen Strukturen durchbrochen werden 120 Vgl. BARNITZ, 2001, S. 351. 121 HERKENHOFF, Paulo: Deconstructing the Opacities of History, in: Beverly Adams/Mari Carmen Ramirez (Hrsg.): Encounters/Displacements. Luis Camnitzer, Alfredo Jaar, Cildo Meireles, Ausst.-Kat. Archer M. Huntington Gallery, Austin, New York: Friendship Press, 1992, S. 49-57, hier: S. 49. 122 Luis Camnitzer wurde 1937 in Lübeck geboren und emigrierte im Alter von 2 Jahren nach Uruguay. Camnitzer ist ein bekannter Konzeptkünstler und Kunsttheoretiker Lateinamerikas. Vgl. CAMNITZER, Luis: The discrete charm of Coca Cola, in: Joxean Muñoz (Hrsg.): It's not neutral = Ez da neutrala = No es neutral, Donostia-San Sebastián: Tabakalera, 2008, S. 89. 123 Vgl. BRETT, 2000, S. 46. 124 Ebd., S. 45.

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sollen. Das künstlerische Bestreben, die Gesellschaft durch die Überwindung des kapitalistischen Systems zu verändern, kann mit de Andrades Utopie einer neuen kommunistischen Gesellschaftsform verbunden werden. So fordert Meireles in einem 1975 veröffentlichten Text zur Arbeit eine künstlerische Haltung, die diese Revolution ermöglichen soll: „In Brasilien begegnet man jetzt dem Modell des Künstler-Händlers, in dem sich Produktion, Distribution und Konsumtion verbinden. Dieses System gründet sich auf die Privilegierung des Individuums, das kauft und investiert, und das für diejenigen, die produzieren, erniedrigende Bedingungen schafft. Allerdings können KünstlerInnen ihr schöpferisches Vermögen heutzutage auch auf die Entwicklung einer Haltung richten, bei der es darum geht: Niemanden ausbeuten; und niemandem die Möglichkeit geben, einen selbst auszubeuten. Nichts zu haben. Nichts zu verlieren.“125

Die These, dass sich Meireles’ künstlerische Intervention mit dem anthropophagen Konzept in Bezug setzen lässt, kann durch eine Analyse des von ihm verfassten Katalogtextes zur Ausstellung Information bestärkt werden, in welchem sich wesentliche Gedanken de Andrades abzeichnen. Der Text wurde von Meireles im Jahr 1970 verfasst und trägt, ebenso wie die gleichnamige Skulptur, den (hier im Englischen stehenden) Titel The Southern Cross, worin ein Verweis auf die miteinander verbundenen Prozesse der Kolonisierung und Christianisierung Brasiliens besteht, was im Text thematisiert wird. Meireles beschreibt die Geschichte der Kolonisierung als eine Ziehung von Grenzen und bezieht sich auf den Vertrag von Tordesilhas, bei dem die Welt im Jahr 1494 zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt wurde.126 Auf Betreiben des Papstes war bereits 1493 eine Demarkationslinie von Pol zu Pol gezogen worden, wonach Portugal die östlich der Linie gelegenen Kontinente, Afrika und Asien, zugeteilt bekam und Spanien der westliche Teil, Amerika, zugesprochen wurde. Nach einer Anfechtung der Portugiesen wurde diese Linie im Vertrag von Tordesilhas nochmals nach Westen verschoben, wodurch es den Portugiesen ermöglicht wurde, wenigstens einen Teil der Ostküste Brasiliens zu kolonisieren.127 Im folgenden Verlauf des Textes verbindet Meireles die Grenzlinie von Tordesilhas mit einer Aufteilung Brasiliens in West und Ost, womit eine Kontrastierung von Dschungel und Zivilisation einhergeht, die de Andrades Gegenüberstellung von Primitivismus und Moderne entspricht. Dabei erfährt der Urwald in Ana125 MEIRELES, 2000 (1975), S. 208. 126 Vgl. MEIRELES, Cildo: The Southern Cross, in: Kynaston McShine (Hrsg.): Information, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York, Baltimore/Maryland: Publication Press, 1970, S. 85. 127 Vgl. BERNECKER/PIETSCHMANN/ZOLLER, 2006, S. 20.

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logie zu de Andrades Manifesten eine Aufwertung gegenüber der Zivilisation. So schreibt Meireles: „Its Eastern side you know rather well through post cards, pictures, descriptions and books. I would like, however, to speak from the other side of this border, with my head under the Equator line, hot and buried in the ground, the very opposite of skyscrapers, their roots in the ground, about all constellations. The wild side. The jungle is the head, deprived of the brilliancy of intelligence and brains. About this people, about the heads of these people, they who searched, or were forced, to bury their heads in the ground or in the mud.” 128

Deutet man die Gedanken Oswald de Andrades unter dem Aspekt der Umwelt, liest sich die Geschichte der Kolonisierung als Geschichte eines Krieges der Zivilisation gegen den Urwald, der ein ursprüngliches Grundelement brasilianischer Geschichte darstellt.129 Dementsprechend kontrastiert Meireles die industrialisierte, fortschrittliche, rationalisierte Ostseite Brasiliens mit dem im Westen gelegenen Amazonasgebiet, womit er die indigene Kultur anspricht, welche mit Intuition, Mythen und Naturverbundenheit assoziiert wird. Hierin wird deutlich, dass sich Meireles’ Verständnis vom Osten als Ort der Zivilisation nicht nur auf die Kolonialmacht oder die westlichen Kulturen und insbesondere die USA bezieht, sondern auch auf die Hauptstädte im eigenen Land übertragen wird. Damit macht er deutlich, dass Städte wie Rio de Janeiro oder São Paulo auf die peripheren Regionen des Landes dieselbe Art von hegemonialer Macht ausüben, welcher sie im internationalen Vergleich zu entkommen versuchen.130 Die traditionelle Verbindung der dichotomen Begriffspaare Ost-West als gedankliche Verknüpfung mit ‚Erster‘ und ‚Dritter Welt‘ wird in dieser Interpretation verkehrt, was mit der Strategie der Antropofagia korrespondiert. Der Dschungel ist für die Vertreter/innen des brasilianischen Modernismus wie auch für Meireles ein Ort der Geschichte, was entgegen der Sichtweise der ehemaligen Kolonialmacht steht, die im Urwald die Verkörperung der Unzivilisiertheit und daher eine Geschichtslosigkeit sah.131 Meireles’ Charakterisierungselemente 128 MEIRELES, 1970, S. 85. 129 Vgl. de ANDRADE, Ruda: Verschlungene Geschichte, in: Elke aus dem Moore/Giorgio Ronna (Hrsg.): Entre Pindorama. Zeitgenössische Kunst und die Antropofagia, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Stuttgart, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2005, S. 50-60, hier: S. 58. 130 Vgl. HERKENHOFF, Paulo: The Void and the Dialogue in the Western Hemisphere, in: Gerardo Mosquera (Hrsg.): Beyond the Fantastic. Contemporary Art Criticism from Latin America, London: Institute of International Visual Arts, 1995, S. 69-73, hier: S. 70. 131 Vgl. HERKENHOFF/PEDROSA, 1998, S. 348.

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des Urwaldes dienen einer Erinnerung an eine ideale, vorkoloniale Vergangenheit. Hierin wird ein glückliches, freies Zusammenleben ohne Hierarchien innerhalb der indigenen Gesellschaft angedeutet, was als Bezug auf de Andrades Vorstellung des Matriarchats von Pindorama gesehen werden kann. Der Künstler sieht sich in der Rolle des Fürsprechers seines Westens, der einer Situation der Unterdrückung und Ausbeutung ausgesetzt ist. Demnach steht der Urwald in Meireles‘ Text für die Personifikation des kolonisierten Subjekts. Analog zu de Andrades Vorgehen wird dem Dschungel jedoch nicht eine Opferrolle zugewiesen, sondern er wird der Zivilisation als überlegen und übermächtig herausgestellt, indem er die Haltung des Anthropophagen annimmt: „Hard luck on the hippies and their sterilized beaches, their disinfected lands, their plastics, their emasculated cults and their hysterical intelligence. Hard luck on the East. Hard luck on those who compromise: willfully or not, they take the side of the weak ones. Worse for them. For the jungle will grow and spread out to cover their sterilized beaches, their disinfected lands, their lazy sexes, their buildings, their roads, their earth-works, think-works, nihilworks, water-works, conceptual-works and so on, East of Tordesilhas and in each and every East of no matter what region. The jungle will go on spreading Itself over the East of no matter what region. The jungle will go on spreading itself over the East and over those who compromise, until all those who have forgotten, or no longer know, how to breathe oxygen will die, infected with health.”132

Meireles’ Text liest sich in Analogie zu de Andrades Manifest als Kampfansage gegen die Zivilisation, indem er in einem aggressiven, radikalen wie ironischen Ton die Drohung ausspricht, die Zivilisation in einem anthropophagen Akt zu schlucken. Der Künstler macht in seiner Schrift zunächst auf die Unterdrückung des Urwaldes durch die Kolonisierung aufmerksam, woraufhin er in einem zweiten Schritt eine Umkehrung vollzieht, indem sich der Urwald aus dieser Unterdrückung mittels Einverleibung der zivilisierten Kultur befreit. Der Text stellt somit in der Tradition de Andrades zu Beginn die Diagnose, dass Brasilien durch den Kolonialismus traumatisiert ist, und eröffnet gleichzeitig eine Therapie, welche darin besteht, die Metapher der Anthropophagie als Waffe gegen die Repressionen des Westens – respektive Ostens in Meireles’ Text – zu nutzen, um die ursprüngliche Basis der brasilianischen Gesellschaft wieder freizulegen. Meireles vollzieht somit unter Anwendung der Strategie der Einverleibung eine Befreiung des kolonisierten Subjekts im Sinne einer Dekolonisierung auf sprachlicher Ebene, was in seinen Inserções em Circuitos Ideológicos bildhaft-physisch zur Anwendung kommt. Meireles reflektiert in seinem Text auch seine Position als lateinamerikanischer Künstler in einem westlichen Ausstellungskontext. So leitet er seine Schrift mit den 132 MEIRELES, 1970, S. 85.

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Worten ein, er wolle mit seiner Anwesenheit in der Ausstellung keine Nationalität behaupten,133 womit er sich gegen eine stereotype Kategorisierung seiner Person wendet sowie die Erwartung westlicher Ausstellungsmacher/innen nach einer Exotik enttäuscht. Meireles’ Statement macht somit deutlich, dass sein Bezug auf die kulturelle Anthropophagie nicht mehr wie im Modernismus oder Tropikalismus mit einer Suche nach einer brasilianischen Identität, der Brasilidade, verbunden ist, sondern losgelöst von dem Wunsch nach der Schaffung einer spezifisch brasilianischen Kunst betrachtet werden muss, was ebenfalls auf das künstlerische Selbstverständnis Varejãos zutrifft, wie die Analyse zeigen konnte. Grenzverschiebungen Meireles’ Beschäftigung mit Grenzen, die in seinem Katalogtext The Southern Cross eine theoretische Grundlage erfährt, manifestiert sich bereits in Arbeiten wie Desvio para o Vermelho (Red Shift) oder Cruzeiro do Sul, in denen Formen des politischen, physikalischen, kulturellen und letztlich kolonialen Raums thematisiert werden, denn die Beschäftigung mit Raum erfordert stets eine Eingrenzung desselben. Meireles thematisiert in seinen Werken insbesondere den Aspekt, dass Identität, die traditionell räumlich verortet wird, durch diskursive Unterscheidungspraktiken geformt und durch Grenzziehungen nach Außen sozial hergestellt wird. Die Auseinandersetzung mit territorialen Grenzen, worin ein Verweis auf die koloniale Kartographie besteht, ist dabei der Ausgangspunkt seiner künstlerischen Arbeit. Die Durchdringung von Grenzen, die in seinen hybriden Objekten unter Anwendung der Strategie der Einverleibung erfolgt, erfährt eine weitere Ausformulierung in Werken, die sich im Bereich der Land Art und Performance verorten lassen. Bereits 1969 realisierte Meireles seine Serie Arte Física [Physische Kunst], die diverse Aktionen, Collagen und Objekte beinhaltet. In der Arbeit Arte Físika: Tordesilhas [Physische Kunst: Tordesilhas] (Abb. 80) zeichnete der Künstler auf einem Kartenausschnitt, welcher die östliche Küste des lateinamerikanischen Kontinents zeigt, die koloniale Grenzlinie von Tordesilhas mit einer roten Linie nach. Die wiederholte Bezugnahme auf die historische koloniale Grenzziehung verdeutlicht Meireles’ Verständnis des Kolonialismus als Ursprung kultureller und sozialer Segregation, die in die Gegenwart reicht. Die völlig gerade Demarkationslinie, die Brasilien durchzieht, demonstriert den willkürlichen und gewaltsamen Eingriff der kolonialen Grenzziehung, durch den Orte zerschnitten und Menschen voneinander getrennt wurden. In der rechten oberen Ecke des Papiers befindet sich die Zeichnung zweier Kisten, womit der Künstler auf seine Performance Arte Físika: Caixas de Brasília/Clareira [Physische Kunst: Brasília-Boxen/Rodung] verweist. Schauplatz der Aktion war eine Flusslandschaft im Norden Brasílias. Dort steckte Meire133 Der Text beginnt mit den Worten: „I am here, in this exhibition to defend neither a career nor any nationality.“ Ebd.

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les mit Holzpfählen und einer verbindenden Schnur einen quadratischen Bereich ab, in dessen Mitte er daraufhin aus der Umgebung zusammengetragene Blätter und Holz abbrannte. Anschließend wurde neben der gelöschten Feuerstelle ein Loch ausgehoben. Eine Holzkiste wurde nun mit der Asche der Feuerstelle, eine andere mit der Erde aus dem Erdloch gefüllt. In einer dritten Kiste wurden sowohl Asche als auch Erde gesammelt, welche daraufhin verschlossen und in das Erdloch eingegraben wurde. Die beiden übrigen Boxen werden vom Künstler in Ausstellungen gezeigt.134 Abbildung 80: Cildo Meireles: Arte Físika: Tordesilhas, 1969

Meireles’ physikalischer, minimaler Eingriff in die Natur sowie dessen schlichte, dokumentarische Präsentation verbinden ihn mit der US-amerikanischen und europäischen Land Art, jedoch beinhaltet seine Intervention eine andere Stoßrichtung. Meireles’ Arbeiten gehen über die in die Natur gesetzten Markierungslinien und geometrischen Strukturen eines Richard Long oder Walter De Maria insoweit hinaus, als dass sie auf einen speziellen Ort und einen historischen und kulturellen Kontext verweisen.135 Mit Meireles’ Vorgehen, einen zuvor definierten Grenzbe-

134 Vgl. CASANOVA, 1995, S. 171. Ebenfalls Teil der Ausstellung sind ein Stadtplan von Brasília, in dem Meireles den Ort markierte, an dem die Aktion stattfand, sowie Fotografien, in denen die einzelnen Schritte der Aktion dokumentiert sind. 135 Vgl. HERKENHOFF, 1999, S. 29. In einer frühen Arbeit Richard Longs, A Line Made by Walking, von 1967 visualisierte der Künstler eine temporäre Skulptur in der Natur,

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reich abzutragen und an einen anderen Ort zu versetzen, wird eine Brücke zwischen unterschiedlichen Orten geschlagen.136 Diese Verschiebung von Orten, die einer Aufhebung von Grenzen dient, wird in einer weiteren Arbeit des Projekts noch deutlicher herausgearbeitet. In der Aktion Mutações Geográficas: Fronteira Rio-São Paulo [Geographische Mutationen: Grenze Rio-São Paulo] wird das Grenzland zum Ausgangspunkt für eine Intervention. Schauplatz der Performance war die Grenze zwischen den Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo. Meireles grub auf jeder Seite der Grenze Löcher und tauschte Erde, Pflanzen und Schutt zwischen den Gruben aus. Meireles’ geographische Mutationen sollten damit physikalische Beschaffenheiten des Landes transformieren, Orte versetzen und Grenzen verstellen.137 Abbildung 81: Cildo Meireles: Arte Físika: Condensado II – Mutações Geográficas: Fronteira Rio-São Paulo, 1970

Das Projekt wird in der Ausstellungssituation durch einen Lederkoffer präsentiert, dessen Innenraum durch ein diagonal gespanntes Lederband in zwei gleich große Hälften unterteilt ist, in welchen das Material der Ausgrabungen enthalten ist. Ein weiteres Ausstellungsstück, das sich auf die Aktion bezieht, ist ein Fingerring (Abb. 81), der als Behälter fungiert, in dem sich eine Bodenprobe von beiden Seiten der Grenze befindet. Der Ring hat eine hexagonale Form und besteht aus Onyx, Saphir und Amethyst, welche die Farben der Staatsflaggen von São Paulo und Rio de Janeiro symbolisieren sollen.138 Der Ring verbildlicht damit eine Vorstellung von

indem durch mehrmaliges Abschreiten eine Linie in der Erde entstand. Walter De Maria zeichnete 1968 zwei parallele Kreidelinien in die Mojave-Wüste in Kalifornien. 136 Vgl. DAZORD, 2003, S. 146. 137 Vgl. CASANOVA, 1995, S. 171. 138 Vgl. BRETT, 2008, S. 50.

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Identität, die auf Differenz beruht. Hinter dem Durchbrechen geographischer Barrieren steht die Vorführung einer Aufhebung kultureller, sozialer und politischer Grenzen. Meireles schafft somit einen hybriden Zwischenraum, der entgegen kultureller Festschreibungen und Vorstellungen eines ethnischen Nationalismus gesetzt wird. Sein Vorgehen entspricht somit den theoretischen Konzepten postkolonialer Studien, in denen davon ausgegangen wird, dass „die für die Identitätsbildung konstituierenden und Differenz erzeugenden Grenzziehungsprozesse beweglich und von Instabilität gekennzeichnet sind.“139 Entsprechend Bhabhas Vorstellung von „kultureller Grenzarbeit,“ die nach einer „Begegnung mit der Neuheit“ 140 verlangt, entwirft Meireles einen Zwischenraum an der Grenze, der offen ist für Verhandlungen und Neukonstitutionen von Identität und Kultur. Meireles’ künstlerisches Vorgehen liest sich als Emanzipationsgeste, indem er sich über die kolonialen Grenzziehungen, die teilweise noch heute Bestand haben, hinwegsetzt. In diesem Zusammenhang kann seine Auseinandersetzung mit Grenzen mit dem Borderland-Konzept der Literaturwissenschaftlerin Gloria Anzaldúa verglichen werden. In ihrem 1987 erschienenen Buch Borderlands/La Frontera. The New Mestiza wird der Begriff der Grenze, die vom Menschen willkürlich hergestellt wird und stets die Positionen eines Unterdrückers und eines Unterdrückten fordert, kontinuierlich hinterfragt. Ausgehend von ihrer eigenen Biografie entwickelt die Autorin, die an der amerikanisch-mexikanischen Grenze aufwuchs und als Mestizin Restriktionen und Diskriminierungen ausgesetzt ist, ein auf dem Aspekt der Hybridität beruhendes Kulturverständnis, welches sie in ihrem Emanzipationskampf einsetzt. Sie entwirft das Grenzland als einen offenen Kommunikations- und Lebensraum, der losgelöst von hegemonialen Kategorisierungen gedacht wird. Dieser Denkansatz intendiert eine Aufhebung von physikalischen wie auch psychologischen und soziologischen Grenzen, welche die im Grenzland lebenden Menschen umgeben. Anzaldúa versteht demnach in Bezug auf Bhabha das Grenzland als einen dritten Raum, in dem eine hybride Sprache gesprochen wird.141 139 BAUSCHKE-URBAN, Carola: Im Transit. Transnationalisierungsprozesse in der Wissenschaft, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2010, S. 96. 140 BHABHA, 2000 (1994), S. 10. 141 Vgl. LAVIE, Smadar/SWEDENBURGS, Ted: Displacement, Diaspora, and Geographies of Identity, Durham/London: Duke University Press, 1996, S. 68. Anzaldúa schreibt im Vorwort ihres Buches: „The borderlands are physically present wherever two or more cultures edge each other, where people of different races occupy the same territory, where under, lower, middle and upper classes touch, where the space between two individuals shrinks with intimacy. I am a border woman. I grew up between two cultures, the Mexican (with a heavy Indian influence) and the Anglo (as a member of a colonized people in our own territory). […] Living on borders and in margins, keeping intact one’s shifting and multiple identity and integrity, is like trying to swim in a new

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Ein weiterer, mit dem Themenkreis der territorialen Grenzziehung verbundener Aspekt in Meireles’ Arbeiten, die sich im anthropophagen Diskurs verorten lassen, stellt die Beschäftigung mit Formen des räumlichen und sozialen Ausschlusses kolonialer und postkolonialer Subjekte dar. Im Zentrum steht hierbei die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Getto als geographisch, sozial und kulturell eingegrenztes Territorium. Meireles arbeitete sein Konzept des Gettos 1975 im Hörspiel Sal sem Carne [Salz ohne Fleisch] aus. Als Tonträger fungiert eine Schallplatte, die acht Stücke beinhaltet. Vier dieser Tonstücke sind der indigenen Kultur gewidmet und basieren auf Aufnahmen, welche beim Besuch eines indigenen Volkes in Goiás, eines Bundesstaates im mittleren Westen Brasiliens, entstanden. Meireles suchte damit einen Ort auf, der in den 1940er Jahren Schauplatz eines von Großgrundbesitzern initiierten Massakers am indigenen Volk der Kraos war, und verweist somit auf die gegenwärtige Fortführung von Genoziden an der indigenen Kultur nach dem Ende des Kolonialismus. Die Aufnahmen enthalten unter anderem Interviews, Gesänge und die Tonaufzeichnung eines rituellen Festes. Die vier weiteren Stücke beziehen sich auf die portugiesische Kultur und beinhalten ebenfalls Interviews und kulturelle Versatzstücke, wie beispielsweise die Einspielung einer elektronischen Zeitansage.142 Meireles bezeichnet seine Arbeit als „Soap-Opera,“143 die im Getto spielt. Der Künstler thematisiert darin das Zusammentreffen der portugiesischen und der indigenen Kultur, welche einer Konfrontation zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten entspricht. In seinem Text zur Arbeit beschreibt er den Kolonisierungsprozess als Schaffung einer Gettoisierung, wodurch ein harmonischer Zustand durchbrochen wurde.144 Der Vorgang der Kolonisierung wird in der Folge jedoch auch als Hybridisierungsprozess bezeichnet, bei dem sich eine Umkehrung der Positionen von Opfer und Täter vollzieht: element, an alien element. […] And yes, the alien element has become familiar – never comfortable […] but home. […] The switching of codes in this book from English to Castillian Spanish to the North Mexican dialect to Tex-Mex to a sprinkling of Nahuatl to a mixture of all of these, reflects my language, a new language – the language of the Borderlands. There, at the juncture of cultures, languages cross-pollinate and are revitalized; they die and are born.“ ANZALDÚA, Gloria: Borderlands/La Frontera. The New Mestiza, San Francisco: Aunt Lute, 1999 (1987), Vorwort. 142 Vgl. DAZORD, 2003, S. 172. 143 Cildo Meireles im Interview mit Gerardo Mosquera, in: Paulo Herkenhoff (Hrsg.): Cildo Meireles, Ausst.-Kat. New Museum of Contemporary Art, New York, London: Phaidon, 1999, S. 8-35, hier: S. 30. 144 Vgl. MEIRELES, Cildo: Sal sem Carne, in: Ronaldo Brito/Eudoro Augusto Macieira de Sousa (Hrsg.): Cildo Meireles. Arte brasileira contemporànea, Rio de Janeiro: Ed. Funarte, 1981, S. 38.

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„But the oppressor only knows his own wishes, whereas the oppressed, in addition, obviously, to knowing his own, is also forced to learn the wishes of the oppressor. Insofar as things are resolved on the level of knowledge, the oppressed (the ghetto) will inevitably transform the system. The density of the ghetto (Blindhotland) opens up the possibility of reserving the situation imposed and recovering the lost harmony.” 145

Meireles’ Vorstellung des Gettos als dynamischer Ort verdichteter Energie, 146 wodurch das koloniale System unterlaufen wird, entspricht Bhabhas Konzept von Hybridität als einer Widerstandsstrategie. Während nämlich nach Bhabha die Kolonisierten durch den Vorgang der Mimikry zunächst durch koloniale Gewalt dazu gezwungen werden, die Kolonialkultur nachzuahmen, entsteht unweigerlich ein Mehr an Wissen, welches zu einer Destabilisierung der kolonialen Machtposition führt.147 Auch Meireles führt vor, dass die hegemoniale Macht selbst destabilisierende Prozesse freisetzt. So erläutert der Künstler in einem Interview sein Konzept des Gettos mit den Worten: „When you compress something, you provoke an explosion.“148 Dieser Ansatz ist bereits in der miniaturhaften Skulptur Cruzeiro do Sul, der ein explosives Potenzial innewohnt, bildlich dargestellt worden und wird in Sal sem Carne auditiv umgesetzt. Meireles konstatiert somit analog zu Bhabha, dass koloniale Macht nicht einseitig konstituiert wird, sondern als wechselseitige 145 Ebd. 146 Die Basis für Meireles’ Verständnis des Gettos wurde in seiner fünf Jahre zuvor entstandenen Installation Eureka/Blindhotland gelegt, in welcher der Künstler einen eingegrenzten Bereich definierte und sich in diesem Zusammenhang mit der physikalischen Konstante der Dichte beschäftigte. 147 Bhabha versteht Hybridität als eine Form des kolonialen Widerstandes, indem sich eine strategische Umkehrung von Machtprozessen vollzieht. In der Zivilisierung kommt es nach Bhabha zum ambivalenten Prozess der Mimikry, bei dem eine Nachahmung der Kolonialkultur durch die Kolonisierten stattfindet, was eine Strategie kolonialer Macht darstellt. Da der oder die Kolonisierte jedoch nie völlig an die Kolonialkultur angepasst werden kann, führt die Nachahmung unweigerlich zu einer Destabilisierung der Machtposition: Die Kolonisierten eignen sich Elemente der Kolonialkultur an und integrieren sie in ihre eigene Kultur, wodurch eine Transformation der Kolonialkultur vollzogen wird. So entsteht ein dritter Raum, welcher weder der kolonisierenden noch der kolonisierten Kultur völlig entspricht. Innerhalb dieses Raumes, der auf Hybridität und nicht auf Diversität beruht, können kulturelle Symbole neu verhandelt werden. Hybridität kann so zum Ausgangspunkt für eine Subversion des kolonialen Diskurses werden. Vgl. BHABHA, 2000 (1994), S. 127, 165. 148 Cildo Meireles im Interview mit Gerardo Mosquera, in: Paulo Herkenhoff (Hrsg.): Cildo Meireles, Ausst.-Kat. New Museum of Contemporary Art, New York, London: Phaidon, 1999, S. 8-35, hier: S. 30.

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Beziehung zwischen den kulturellen Minoritäten und der Dominanzkultur verstanden werden muss. Hybridität wird als transformative, subversive Praxis ausgewiesen, die in die dominante Kultur eindringt, sie verändert und so entmachtet. Meireles bezieht sich in der Arbeit auf die Erzählung A Terceira Margem do Rio [Das dritte Ufer des Flusses] des brasilianischen Schriftstellers João Guimarães Rosa,149 welcher in seinem literarischen Werk an de Andrades Konzept der kulturellen Anthropophagie anknüpft.150 Die Geschichte erzählt von einem Mann, der nach dem Wunsch handelt, sein altes Leben hinter sich zu lassen und sich ein Boot baut, um fort zu segeln. Als er in der Mitte des Flusses ankommt, fasst er den Entschluss, für den Rest seines Lebens an dieser Stelle zu verweilen, ohne die linke oder die rechte Seite des Ufers zu berühren.151 Hinter diesem literarischen Bild steht die Idee eines interkulturellen Raumes, der auf Hybridität beruht und kulturelle Dichotomien überwindet. Diesem Konzept entspricht die Präsentation von Meireles‘ Arbeit im Ausstellungsraum, wonach ein linker Lautsprecher die mit der indigenen Kultur assoziierten Tonsequenzen sendet und aus einem rechten Lautsprecher die mit der portugiesischen Kultur verbundenen Aufnahmen ertönen. Die acht Kanäle der Tonspur werden in der Ausstellung abwechselnd wie auch simultan abgespielt, sodass die Stimmen, die entweder mit der indigenen oder der portugiesischen Kultur assoziiert werden, sich stellenweise überlagern, was es den Rezipient/innen unmöglich macht, die Zuordnung immer exakt eruieren zu können. Dichotome Kategorisierungen der beiden Kulturkreise werden durch dieses Vorgehen vom Künstler strategisch aufgelöst, miteinander verwoben und in neue Konstellationen gebracht, was der anthropopagen Strategie entspricht. Durch die Überlagerung der zueinander konträr stehenden Tonaufnahmen werden die beiden kulturellen Parteien in einem hybriden Zwischenraum vom Künstler wieder zusammengeführt. So konstatiert Meireles:

149 Vgl. DAZORD, 2003, S. 166. 150 João Guimarães Rosa ist ein bedeutender Literat der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Eine Weiterführung der anthropophagen Literatur äußert sich in Rosas Schriften in erster Linie in der Verbindung von verschiedenen Sprachformen. So schafft Rosa durch die Integration und Verschmelzung des Portugiesischen mit dem Latein, indigenen Sprachen, Dialekten und Redensarten eine sehr eigene hybride Sprache. Seine Figuren stammen aus dem Sertão, womit er den Blick auf die marginalisierte, arme Bevölkerung Brasiliens lenkt. Vgl. RÖSSNER, 1995, S. 236, 392. 151 Vgl. ROSA, João Guimarães: Das dritte Ufer des Flusses. Erzählungen, München: dtv – Deutscher Taschenbuch Verlag, 1975 (1962), S. 31ff. Die Originalausgabe erschien 1962 unter dem Titel Primeiras Estorias.

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„Using a stereo, I tried to obtain something that is not the sound of the left loudspeaker or that of the right loudspeaker, but a third sound that is both immaterial and extremely present.”152

In Analogie zu Bhabha stellt Meireles die Gettoisierten nicht als Opfer dar, sondern spricht ihnen eine Handlungsmacht zu, wodurch sie eine Aufwertung erfahren. Die Hinwendung zu den Marginalisierten der Gesellschaft findet in der Arbeit Zero Cruzeiro aus den Jahren 1974 bis 1978 einen dezidierten Ausdruck (Abb. 82). Diese stellt eine Edition von Falschgeld dar, in welcher Meireles die in den Kartuschen des brasilianischen Cruzeiro abgebildeten Portraits der nationalen Helden oder anderer Würdenträger durch die Fotografien eines Indigenen und eines psychisch Kranken ersetzt.153 Der Schriftzug Zero Cruzeiro zeigt an, dass der Geldschein wertlos ist, wodurch Meireles auf den Status der Abgebildeten als Rechtslose aufmerksam macht. Eine Verbindung zwischen den beiden Männern besteht nach Meireles in deren gemeinsamer Marginalisierung, indem beide Ausgeschlossene der Gesellschaft darstellen.154 Seine Beschäftigung mit dem postkolonialen marginalisierten Subjekt lässt sich mit dem Begriff des Subalternen in Verbindung setzen, wie er von Spivak benutzt wird. Die Autorin macht darauf aufmerksam, dass die Mehrzahl der postkolonialen Subjekte auch nach der Unabhängigkeit weiterhin in einem gettoisierten Raum von der Gesellschaft abgeschottet wird und so in einer Position der Marginalität verharrt.155 Meireles thematisiert in seiner Arbeit diese Situation der heutigen Subalternen, worin sich ein Fortbestehen hegemonialer Strukturen manifestiert. Der postkoloniale Diskurs geht davon aus, dass eine Aufwertung der Marginalität nur mit einer Artikulation erreicht werden kann. Das marginalisierte Subjekt ist durch eine Sprachlosigkeit und damit durch eine Unsichtbarkeit in der Gesellschaft gekennzeichnet, die durchbrochen werden muss, wenn eine Selbstbehauptung erreicht werden soll.156 Hinter der Portraitierung der Marginalisierten auf Geldscheinen steht dementsprechend der Versuch des Künstlers, die Gettoisierten aufzuwerten, ihnen 152 Cildo Meireles im Interview mit Hans Ulrich Obrist, in: Cécile Dazord (Hrsg.): Cildo Meireles, Ausst.-Kat. Musée d'Art Contemporain de Strasbourg, Gand: Snoeck-Ducaju & Zoon, 2003, S. 163-168, hier: S. 166. 153 Diese Fotografien befinden sich auch auf der Rück- und Vorderseite der Schallplattenhülle des Hörspiels Sal sem Carne, wodurch ein Bezug der beiden Arbeiten zueinander hergestellt wird. 154 Vgl. HERKENHOFF, 1999, S. 44. 155 Vgl. SPIVAK, Gayatri Chakravorty: The Spivak Reader, hrsg. v. Donna Landry/Gerald Maclean, New York/London: Routledge, 1996, S. 277, 288; sowie SPIVAK, Gayatri Chakravorty: The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, hrsg. v. Sarah Harasym, New York/London: Routledge, 1990, S. 270f. 156 Vgl. HA, 2004, S. 124f.

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eine Stimme zu geben und somit Ausschlussmechanismen zu untergraben. 157 Meireles’ Hinwendung zu den postkolonialen Subjekten und Randständigen der brasilianischen Gesellschaft steht in direkter Tradition der Bewegungen des Movimento Antropófago und des Tropicalismo, in deren Konzepten die indigene und afrobrasilianische Kultur Eingang finden und eine Aufwertung erfuhren. Die zeitgenössische Weiterführung dieser Inhalte des anthropophagen Konzepts ist, wie gezeigt wurde, ebenfalls in Varejãos Arbeiten präsent, wobei die Künstlerin eine genderperspektivische Fokussierung einnimmt und vorrangig die spezifische Position der postkolonialen Frau reflektiert. Abbildung 82: Cildo Meireles: Zero Cruzeiro, 1974-78

Wie dargelegt wurde, manifestiert sich die Rezeption der Antropofagia in den künstlerischen Ansätzen Cildo Meireles’ und Adriana Varejãos in ästhetischen Strategien, welche koloniale Macht- und Ausschlussmechanismen durchkreuzen sowie essentialistische Vorstellungen von kultureller Identität unterwandern. Die historische Aufarbeitung und kritische Umschreibung der kolonialen Geschichtserzählung ist in beiden künstlerischen Positionen zentral, wodurch eine postkoloniale Emanzipationsgeste artikuliert wird. Beide künstlerischen Ansätze sprechen für die Notwendigkeit, in der Kunst eine Aufwertung der brasilianischen Kultur zu vollziehen, wodurch sie das von de Andrade entworfene Dekolonisierungsprojekt fortführen und aktualisieren. Ihre Arbeiten adressieren die westliche Welt und konfrontie157 Vgl. HERKENHOFF, 1999, S. 44. Die Einführung des Falschgeldes in den Geldkreislauf reiht sich in das Projekt der Inserções em Circuitos Ideológicos ein und beinhaltet daher auch eine Markt- und Konsumkritik sowie die Strategie, den Markt durch die Wertlosigkeit des Geldes zu untergraben. Vgl. DAZORD, 2003, S. 160.

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ren diese mit Stereotypen über das vermeintlich Fremde. Dabei geht es ihnen in erster Linie um die von Mignolo postulierte neue Perspektive, die ein Weigern beinhaltet, Kunst für die Zentren zu produzieren und sich an den Zentren zu orientieren, womit das Manifesto Antropófago eine Aktualisierung erfährt. Meireles‘ und Varejãos Inkorporationen westlicher Kulturelemente befragen das Verhältnis von Kolonisierten und Kolonialherren, Ost und West oder Zentrum und Peripherie. Gleichzeitig vollziehen sie mit ihren kulturell hybriden Werken eine spielerische Auflösung dieser Dichotomien, wodurch eine Enthierarchisierung okzidentaler Kategorisierungen stattfindet. Entsprechend des Andradschen Konzepts, wonach Identität nicht als kohärente Einheit gedacht, sondern als veränderbar begriffen wird, formulieren sowohl Varejão als auch Meireles in ihren Arbeiten ein dynamisches Konzept von Identität, das sich von nationalstaatlichen Fixierungen loslöst. Somit wird Kultur als Ort der Grenzüberschreitung und der Verschiebung von Grenzen vorgestellt. Dies berührt einen Punkt der zeitgenössischen Rezeption der Antropofagia, der auch in der Analyse der folgenden künstlerischen Positionen zentral ist, wobei die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit des Landes in den Hintergrund rückt.

ÜBER DEN POSTKOLONIALISMUS HINAUS: DIE ANTROPOFAGIA IM SPANNUNGSFELD VON MIGRATION, ETHNIZITÄT UND GESCHLECHT Entgegen der Weiterführung des von de Andrade initiierten Dekolonisierungsprojektes, wie es in den künstlerischen Ansätzen von Cildo Meireles und Adriana Varejão zum Ausdruck kommt, wird das anthropophage Konzept in einem zweiten Teil der zeitgenössischen Rezeption von postkolonialen Fragestellungen losgelöst. In den Arbeiten von Anna Maria Maiolino, Ernesto Neto und Ricardo Basbaum wird die kulturelle Anthropophagie für weitere Bedeutungsfelder geöffnet und über die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Kolonialkultur und kolonisierter Kultur, Zentrum und Peripherie hinausgedacht. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit den Begriffen Körperlichkeit, Identität und Hybridität, die ebenfalls in der Rezeption Meireles’ und Varejãos zentral ist, wird das Andradsche Konzept dazu genutzt, gegen verschiedenste Formen von Unterdrückung und Machthierarchien Stellung zu beziehen. In diesem Sinne manifestiert sich die Strategie der Einverleibung in den Werken Maiolinos, Netos und Basbaums als interventionistische Praxis im Spannungsfeld von Migration, Ethnizität und Geschlecht.

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Anna Maria Maiolino: Die Antropofagia als Konzept mit universalistischer Offenheit Ich bin der fäkale Niederschlag, der aus dem anthropophagen brasilianischen Festmahl hervorgegangen ist: Wir werden Tupis, mein Werk und ich.158 Anna Maria Maiolino

Die Antropofagia erweist sich in Anna Maria Maiolinos Rezeption, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Position als europäische Immigrantin, als ein Konzept mit universalistischer Offenheit. Die 1942 in Kalabrien geborene Künstlerin emigrierte mit ihrer Familie im Alter von zwölf Jahren nach Südamerika, um der Armut im Süditalien der Nachkriegszeit zu entfliehen. Im Jahr 1960 zog sie von Venezuela zunächst nach Rio de Janeiro und bald darauf nach São Paulo, wo sie heute lebt und arbeitet. Gemeinsam mit Cildo Meireles gehört Anna Maria Maiolino der auf Hélio Oiticica und Lygia Clark nachfolgenden Generation an, deren Frühwerk sich unmittelbar an die tropikalistische Bewegung anschließt und von dieser stark beeinflusst ist. Die Erfahrung der Militärregierung in Brasilien übte daher ebenso einen erheblichen Einfluss auf ihre Werkgenese aus, weshalb sich die Anwendung der anthropophagen Strategie in vielen Arbeiten gegen Formen der politischen Unterdrückung im eigenen Land richtet. Anders als bei Meireles gezeigt werden konnte, geht es bei Maiolino jedoch nicht mehr um das Einverleiben der westlichen Kunst im Sinne eines postkolonialen Widerstands. Die Künstlerin fokussiert vielmehr auf autobiografische Aspekte, wobei sie die Antropofagia im Hinblick auf ihre eigene marginalisierte Position als Immigrantin und als weibliche Künstlerin in einer männerdominierten brasilianischen Gesellschaft als Emanzipationsgeste nutzt. Die Metapher der Anthropophagie erweist sich daher im Werk von Maiolino als Instrument der Intervention, um gegen politische Repression, Rassismus und Sexismus Stellung zu beziehen. Analog zur Rezeption in den Werken Meireles’ und Varejãos wird dieser Emanzipationsakt durch die Formulierung hybrider Identitätskonstruktionen herbeigeführt, wodurch das Andradsche Konzept zur Anwendung kommt, das den produktiven Prozess von Aushandlungen beinhaltet. Im Zusammenspiel von Zeich-

158 MAIOLINO, Anna Maria: Banquete antropofágico: Projeto de palestra (2009), in: Helena Tatay: Anna Maria Maiolino, Ausst.-Kat. Fundació Antoni Tapies, Barcelona/Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela/Malmö Konsthall, London: Koenig Books, 2010, S. 97-98, hier: S. 97f.: „Eu sou o bolo fecal resultado do banquete antropofágico brasileiro: tornamo-nos Tupis eu e minha obra.“

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nungen, Skulpturen, Performances, Installationen, Videoarbeiten, Fotografien und poetischen Texten wird die spielerische Auflösung von Gegensätzen vollzogen. Immigration als anthropophager Prozess Die eigene Biografie und das Thema der Identitätssuche nehmen einen zentralen Stellenwert in Maiolinos Werk ein. In ihrem 2009 verfassten Text Anthropophagous Banquet [Anthropophages Festmahl] resümiert die damals 67-jährige Künstlerin ihre Werkentwicklung. Darin definiert sie ihren persönlichen Identitätsfindungsprozess als anthropophag, da sie als Ausländerin im Zuge ihrer Eingliederung von der brasilianischen Kultur gefressen und daraufhin mit einer hybriden Identität, die zu gleichen Teilen italienisch wie brasilianisch sei, wieder ausgeschieden worden wäre. Zugleich beschreibt sie, wie sie selbst als Anthropophagin aus diesem Immigrationsprozess hervorgegangen sei, indem sie sich die brasilianische Kunst und Kultur einverleibte. Dabei bezieht sie sich explizit auf de Andrade, Oiticica und Clark und referiert durch die Verwendung von Zitaten auf das Manifesto Antropófago: „Ich bin der fäkale Niederschlag, der aus dem anthropophagen brasilianischen Festmahl hervorgegangen ist: Wir werden Tupis, mein Werk und ich. ‚Was der Wahrheit Gewalt antat, war die Kleidung, das Undurchlässige zwischen innerer und äußerer Welt.’ Im Festmahl entkleideten sie mich. Ich wurde nackt zurückgelassen. […] In meinem Verdauungstrakt vermischte sich die Kultur meines Heimatlandes, Kalabrien in Süditalien, mit der Kultur der Tupi-Guaranis. Ich verlor die Logik, die Verpflichtung kohärent zu sein, ich wurde befreit davon, den Katechismus zu lehren. Ich fand Frieden. ‚Der Geist weigert sich, einen Geist ohne Körper zu denken.’ Der fäkale Mörtel transformierte all ‚meine Tabus in ein Totem’. […] Ich kam nicht wie die Eroberer im ‚Land des Karnevals’ an, sondern in einem Zug voll von Immigranten. […] Ich ließ mich glücklich in das offene Maul der Guanabara-Bucht fallen. Ich wurde gegessen wie ein ‚heiliger Feind’, verdaut und selbst als Anthropophagin wieder ausgespuckt. In meiner neuen Gestalt als Anthropophagin begab ich mich auf die Suche nach Essen. Die erste Person, die ich fraß, war Oswald de Andrade durch die Identifikation mit seinem Anthropophagen Manifest. Als nächstes waren die Neokonkretisten an der Reihe. […] Ich probierte die Immanenz und die Subjektivität Lygia Clarks, während Hélio Oiticica neue Fragen über den Verzehr der Brasilidade aufwarf.”159 159 Ebd., S. 97f.: „Eu sou o bolo fecal resultado do banquete antropofágico brasileiro: tornamo-nos Tupis eu e minha obra. ‚O que atropelava a verdade era a roupa, o impeável entre o mundo interior e o mundo exterior’, no banquete foi-me retirada, fiquei nua. […] No meu aparato digestivo misturam-se a cultura da minha terra natal – a Calábria, ali no sul da Itália e a da terra Tupi Guarani. Tornei-me Calabra-TupiGuarani. Perdi a lógica, a obrigação de ser coerente, livrei-me da catequese. Ganhei liberdade. ‚O espírito recusa-se a conceber o espírito sem corpo’. Na argamassa fecal

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Die universalistische Offenheit des anthropophagen Konzepts tritt in Maiolinos manifestartigem Text deutlich zutage: Da das Fremde für de Andrades Entwurf der brasilianischen Identität konstitutiv ist, wird es Maiolino möglich, einen Perspektivwechsel zu vollziehen, indem sie sich als Europäerin die Metapher der Einverleibung aneignet und sich hierdurch in die brasilianische Kultur zu integrieren vermag. Dies entspricht, der Stoßrichtung der Antropofagia folgend, einem emanzipatorischen Akt, indem sie sich durch den anthropophagen Eingliederungsprozess aus ihrer randständigen Position als Neuankömmling in einem fremden Land befreit. Die Polaritäten zwischen europäischen Kolonialherren und brasilianischen Kolonisierten, die das Andradsche Manifest hinterfragt und in Meireles‘ und Varejãos Werken thematisiert werden, sind in Maiolinos Rezeption nicht mehr relevant. Die Anwendung der Strategie der Einverleibung dient ausschließlich der Reflexion ihrer eigenen subjektiven Position als Immigrantin. Der Bezug auf das Manifesto Antropófago ermöglicht es Maiolino, sich selbstbewusst als Künstlerin zu positionieren und ihre künstlerischen Einflüsse aufzuzeigen, die sie als anthropophage Aneignungen versteht, woraus ein hybrider Werkbegriff hervorgeht. Damit korrespondiert die Formulierung eines Identitätsbegriffs, der als heterogen und transformativ aufgefasst wird. Diesen anthropophagen Immigrationsprozess veranschaulicht Maiolino in einer Reihe von Arbeiten. Bei der 1967 entstandenen Skulptur Glu Glu Glu (Abb. 83) handelt es sich um eine Art Schaukasten, in dem die Gedärme eines zähnefletschenden Torsos offen präsentiert werden. Mit dem Titel Glu Glu Glu bedient sich die Künstlerin eines Wortes aus der Sprache der Tupi, das mit Schlucken übersetzt werden kann, wodurch sie sich explizit auf de Andrades Konzept der Einverleibung bezieht. Die bunte Farbigkeit des Verdauungstraktes verweist auf den transformativen, unterschiedliche Anteile verbindenden Identitätsbildungsprozess, wobei die Farben der italienischen Flagge, Rot, Grün und Weiß, mit dem Gelb und Blau der brasilianischen Flagge in der Skulptur eine Verbindung eingehen. Indem Maiolino in ihrer Arbeit auf den Immigrationsprozess als Schaffung einer hybriden Identität fokussiert, erfährt das Andradsche Konzept eine Aktualisierung. transformaram-se todos os ‚meus tabus em totens’. […] Não cheguei com os conquistadores no ‚País do Carnaval’, mas em um tardio comboio de imigrantes. […] Entreguei-me feliz à boca aberta da Bahia da Guanabara. Fui comida ‚como um inimigo sacro’, digerida e expelida eu mesma, uma antropófaga. Na nova condição de antropófaga fui á busca de comida. O primeiro a ser degustado foi Osvaldo de Andrade e por identificação sue manifesto antropofágico. A seguir, foi a vez dos artistas neoconcretos. […] Degustei a imanência e subjecitividade de Lygia Clark, enquanto Hélio Oiticica colocava novas questões ao consumo da brasilidade.“ Die in einfachen Anführungszeichen gesetzten Passagen entsprechen Zitaten, die dem Manifesto Antropófago entnommen sind und die Maiolino in ihrem Text als solche gekennzeichnet hat.

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Abbildung 83: Anna Maria Maiolino: Glu Glu Glu, 1967 Abbildung 84: Anna Maria Maiolino: Glu Glu, 1967

Der Bezug auf den menschlichen Verdauungstrakt findet sich ebenso in der analogen, im selben Jahr entstandenen Arbeit Glu Glu (Abb. 84). Der Holzschnitt zeigt im oberen Bildabschnitt eine Figur mit weit aufgerissenem Mund, während sich im mittleren Blickfeld ein gedeckter Essenstisch befindet, worauf in logischer Konsequenz zu unterst die Toilette folgt. Nahrung und Fäkalien und der damit zusammenhängende Akt der Verdauung sind wiederkehrende Elemente in Maiolinos Werk, womit sie sich auf die Strategie der Einverleibung bezieht.160 Hierdurch verweist die Künstlerin auf die Transformationsprozesse zwischen der Innen- und Außenwelt des Körpers, die für das Leben schlechthin stehen: „We live and die from the mouth to the anus.“161 Die eigene Identitätssuche arbeitet Maiolino in ihrer Arbeit ANNA von 1967 ebenfalls im Medium des Holzschnitts aus (Abb. 85). Die Arbeit zeigt einen klaren,

160 Auch Michael Asbury sieht eine Verbindung zur Antropofagia im Motiv des offenen Mundes der Figur sowie im Hinweis auf die Verdauung und im Wort Glu. Vgl. ASBURY, Michael: Anna Maria Maiolino. Order and Subjectvity, in: Michael Asbury/Garo Keheyan: Anna Maria Maiolino. Order and Subjectivity, Nicosia: Pharos Publishers, 2009, S. 23-33, S. 26f. 161 Anna Maria Maiolino im Interview mit Helena Tatay, in: Helena Tatay: Anna Maria Maiolino, Ausst.-Kat. Fundació Antoni Tapies, Barcelona/Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela/Malmö Konsthall, London: Koenig Books, 2010, S. 38-60, hier: S. 42.

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symmetrischen Bildaufbau in Form eines Palindroms. Der titelgebende Eigenname der Künstlerin, der selbst ein Palindrom darstellt, erscheint gedoppelt in großen Druckbuchstaben als Schrift im Bild sowohl im unteren Bildabschnitt sowie in einer Sprechblase zwischen zwei identisch geformten Figuren. Die Arbeit fungiert als Selbstportrait der Künstlerin, indem sie die gespaltene Identität Maiolinos verbildlicht. Dabei zeigt die Sprechblase die Suche nach Sprache an, welche im Werk Maiolinos mit einer Suche nach Identität verbunden wird.162 Abbildung 85: Anna Maria Maiolino: ANNA, 1967

Mit der Verwendung des Palindroms und des Eigennamens rezipiert Maiolino zudem Kurt Schwitters‘ 1919 entstandenes Gedicht An Anna Blume.163 Maiolinos Verweis auf den Dadaismus verbindet sie mit dem Vorgehen de Andrades, der sich in seinem Manifest auf Francis Picabia bezieht. Die Verwendung von Sprache und Schrift, die innerhalb der Avantgarde-Strömungen eine wesentliche Rolle einzunehmen beginnt, ist im Werk Maiolinos zentral. Maiolinos Interesse, bildende

162 Maiolino weist zudem die beiden Figuren als Vater und Mutter aus, weshalb der in der Sprechblase erscheinende Name auch als Ruf nach der abwesenden Tochter gelesen werden kann. Vgl. ebd., S. 44. 163 Kurt Schwitters‘ 1919 verfasstes Gedicht An Anna Blume, als Merzgedicht 1 untertitelt, steht als Inbegriff sinnfreier dadaistischer Lyrik und wird als Parodie auf die Gattung des Liebesgedichts interpretiert. Die fiktive Figur Anna Blume bildet das literarische Gegenstück zu Schwitters‘ Merz-Malerei. Der folgende Ausschnitt bringt die Auseinandersetzung Schwitters‘ mit der Palindrom-Struktur des Namens Anna zum Ausdruck: „[…] Anna Blume, Anna, a-n-n-a, ich träufle deinen Namen. Dein Name tropft wie weiches Rindertalg. Weißt du es Anna, weißt du es schon? Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne: „a-n-na“. Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken. Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir! […]“ SCHWITTERS, Kurt: Anna Blume und ich. Die gesammelten «Anna Blume»-Texte, Zürich: Verlag der Arche, 1965, S. 46.

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Kunst und Sprache miteinander zu verbinden, kommt durch die Einbeziehung des Titels als Schrift im Bild sowohl in ANNA als auch in Glu Glu Glu zum Tragen. Dieses interdisziplinäre Vorgehen kann im Zusammenhang mit ihrem Bestreben gesehen werden, unter Bezug auf die Antropopfagia disparate Elemente in ihrem Werk miteinander zu verbinden. In Korrespondenz zu ihren bildnerischen Arbeiten entwickelt Maiolino in ihrer Poesie ein auf den Prinzipien der Antropofagia beruhendes hybrides Identitätskonzept. So lautet ein 1970 entstandenes, unbetiteltes Gedicht: ich + du Körper + Körper Körper zu Körper Körper im Körper Individualität verloren Doppelstruktur Körper Zusammentreffen ich + du neuer Körper164

Maiolinos Holzschnitte erweisen sich als Hybride auf vielen Ebenen: Verschiedene Kultureinflüsse, künstlerische Traditionen, Kontexte und disparate Elemente werden miteinander vereint. So weisen die in Glu Glu und ANNA abgebildeten Figuren in ihrer reduzierten, blockhaften Körperlichkeit eine Analogie zu ägyptischen Würfelstatuen auf. Der Typus der Würfelfigur trat zu Beginn des Mittleren Reiches um 1950 v. Chr. auf, wobei es sich um eine Statuenform handelt, die für den öffentlichen Raum bestimmt war.165 Der Körper dieser mit eng angezogenen Knien am Boden sitzenden Figuren ist stets in einem geschlossenen Kubus verborgen, der Raum für biografische Inschriften bietet, weshalb sich Maiolino vor dem Hintergrund ihres Themas der Identitätssuche auf dieses Sujet bezieht. Der Holzschnitt ist nach Maiolino per se ein hybrides Medium, indem er Gegensätze vereint, da er stets eine Positiv- wie auch eine Negativ-Form verlangt

164 Unbetiteltes Gedicht von Anna Maria Maiolino von 1970, in: Helena Tatay: Anna Maria Maiolino, Ausst.-Kat. Fundació Antoni Tapies, Barcelona/Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela/Malmö Konsthall, London: Koenig Books, 2010, S. 20: „eu + tu / corpo + corpo / corpo a corpo / corpo no corpo / individualidade perdida / dupla estrutura corpo / encontro / eu + tu / novo corpo“. 165 Vgl. ROBINS, Gay: Egyptian Statues, Princes Risborough: Shire Publications, 2001, S. 27f.

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sowie ein Innen und Außen, eine Leere und Fülle beinhaltet.166 Durch die reduzierte Farbigkeit, die starke Schwarz-Weiß-Kontraste hervorbringt, wird dieser Aspekt betont. Mit dem Medium des Holzschnitts nimmt die Künstlerin zudem Bezug auf die O Cordel-Literatur, einer volkstümlichen Tradition des Nordostens Brasiliens, die selbst ein hybrides Kulturelement darstellt (Abb. 86).167 Die O Cordel-Literatur beinhaltet erzählende Gedichte in Form kleiner Bücher, die mit Holzschnitten illustriert und auf den Straßen zum Verkauf angeboten werden. Von den Portugiesen im Zuge des Kolonialismus nach Brasilien gebracht, waren ihre Inhalte ursprünglich Balladen oder Theaterstücke. In Brasilien wandelten sich die Themen zu Spiritualität, Legenden und Politik sowie Aspekten des Alltags.168 Abbildung 86: Titelseiten und Installation der „O Cordel“-Literatur

Die Referenz auf die Tradition des Holzschnitts in Brasilien als Medium der Volkskunst wird von Maiolino in ihrer Arbeit ANNA zudem mit der Bildsprache des Comics verbunden, dem das Motiv der Sprechblase entnommen ist. Die spezifische Ästhetik und Erzählstruktur des Comics, die sich durch eine Kombination zwischen Bild und Text manifestiert, entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts aus der satirischen Zeichnung und fällt in den Bereich der Populärkultur. Durch seine schablonenhaften Bilder und seinen eindimensionalen Wortschatz wurde der Comic

166 Vgl. Anna Maria Maiolino im Interview mit Helena Tatay, in: Helena Tatay: Anna Maria Maiolino, Ausst.-Kat. Fundació Antoni Tapies, Barcelona/Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela/Malmö Konsthall, London: Koenig Books, 2010, S. 38-60, hier: S. 44. 167 Vgl. HERKENHOFF, Paulo: Anna Maria Maiolino, São Paulo: Ebart, 1981, o. Seitenangabe. 168 Vgl. BATISTA, Lourival: O Cordel. Testemunha da História do Brasil, Rio de Janeiro: Fundação Casa de Rui Barbosa, 1987, S. 5ff.

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von Beginn an als Angriff auf die hohe Kultur verstanden. 169 Mit ihrem Bezug auf den Comic wie auch auf die O Cordel-Literatur vollzieht Maiolino eine Gegenüberstellung und Nivellierung von Hoch- und Populärkultur sowie eine Zusammenführung von Kunst und Leben, was ebenfalls zentrale Anliegen der tropikalistischen Arbeiten Lygia Clarks und Hélio Oiticicas sind. Gleichzeitig besteht in der Verwendung der Ästhetik des Comics eine kunsthistorische Referenz auf die Pop Art und insbesondere die Werke Roy Lichtensteins, der mit Beginn der 1960er Jahre den Comic auf die bildende Kunst übertrug. 170 Maiolino vollzieht im Sinne der Antropofagia eine Aneignung der amerikanischen Pop Art, die sie mit einer Vielzahl kultureller und medialer Verweise verbindet, wodurch ein hybrides Kunstwerk entsteht. Hierin ähnelt ihre künstlerische Geste dem Projekt Inserções em Circuitos Ideológicos von Cildo Meireles. Während Meireles jedoch mit der Verwendung von Cola-Flaschen und Banknoten eine Intervention gegen ein Fortbestehen kolonialer Strukturen erreichen will, liegt der Fokus bei Maiolinos Arbeit allein auf der Schaffung eines hybriden Identitätsverständnisses, wodurch sie das anthropophage Konzept von seiner postkolonialen Stoßrichtung loslöst. Ein subversives Potenzial beinhaltet ihre Rezeption der Strategie der Einverleibung dennoch, indem nämlich, ausgehend von der Emanzipation ihrer eigenen Künstlerpersönlichkeit, hierarchische Konstruktionen von Identität unterminiert werden. Subjektivität wird im Werk Maiolinos relational gedacht, indem sie stets im Zusammentreffen mit einem Anderen transformiert wird.

169 Vgl. AHRENS, Carsten: Kaboom! Comic in der Kunst, Ausst.-Kat. Museum für Moderne Kunst, Bremen, Heidelberg: Kehrer, 2013, S. 5. 170 Vgl. ebd., S. 24ff. Das erste Gemälde dieser Art war das 1961 entstandene Werk Look Mickey, auf dem Mickey Mouse und Donald Duck auf einem Bootssteg in einer humorvollen Situation dargestellt sind. Lichtensteins plakativ vergrößerte Motive aus ComicHeften sind als ironischer Kommentar auf die den amerikanischen Traum verheißende, entindividualisierte Konsumwelt zu verstehen. In seiner Werkserie der War Paintings, die zwischen Kaltem Krieg und beginnendem Vietnam-Konflikt entstand, parodiert er die Kriegsglorifizierung der USA, indem er die amerikanischen Superhelden aus den Comics auf seine Leinwand bringt. Da in der Pop Art die Ästhetik von Werbung und Massenmedien allgemein ins Zentrum des künstlerischen Interesses gerückt wurde, war es konsequent, dass sich die Künstler/innen auch der trivialen Ästhetik des Comics zuwandten, womit die Gegensätze von High und Low Art aufgehoben werden sollten. Nicht nur Roy Lichtenstein, auch Andy Warhol, Jasper Johns und Claes Oldenburg setzten sich mit den in Comics visualisierten amerikanischen Klischees auseinander, wie sie in stereotypen Rollenbildern vom markanten Siegertypen oder der jugendlichen Schönheit existent sind. Vgl. STRÖBEL, Katrin: Wortreiche Bilder. Zum Verhältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst, Bielefeld: transcript, 2013, S. 210f.

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Feministische Standpunkte In Maiolinos Werken nimmt die Thematisierung des weiblichen Körpers und der Rolle der Frau in der brasilianischen Gesellschaft einen zentralen Stellenwert ein ebensowie die Reflexion ihrer eigenen Position als weibliche Künstlerin. In den von 1974 bis 2007 entstandenen Arbeiten der Serie Fotopoemação [Fotogedichtaktion] wird eine Verbindung von anthropophager Strategie und feministischen Standpunkten evident. Die frühen Fotografien der Serie stellen vornehmlich Selbstportraits der Künstlerin dar, in denen ihr Gesicht mit Bändern verschnürt oder autoaggressives Verhalten angedeutet ist, wodurch die Unterdrückung der Frau in einer männerdominierten Gesellschaft thematisiert wird. Der Bezug auf das Konzept der Antropofagia wird durch den Einsatz von Fäden oder Bändern, die aus dem Mund der Abgebildeten heraustreten, dezidiert ins Bild gesetzt und steht – im Sinne der Drohgebärde des Fressens – als Widerstandsgeste gegen diese Form der Repression. Der Faden, der aus dem Mund heraustritt und somit die Übertretung der Grenze zwischen der Innen- und Außenwelt des Körpers anzeigt, stellt eine anthropophage Metapher dar, mit der auch Clark in ihrer Performance Baba Antropofágica arbeitet, die ein Jahr vor der Initiierung von Maiolinos Serie stattfand. In der Fotografie Por um Fio [durch einen Faden] (Abb. 87) zeigt sich die Künstlerin selbst flankiert von ihrer Mutter und ihrer Tochter, die durch einen aus ihren Mündern heraustretenden Faden miteinander verbunden sind. Wie bei Clark vernetzt der Faden die drei Generationen von Frauen miteinander und vereint diese gleichsam in einem gemeinsamen Kollektivkörper. Damit wird ein Austausch organischer Körperflüssigkeiten suggeriert, wodurch eine Inversion von Innen und Außen vollzogen wird. Entgegen der interaktiven, kommunikativen Situation, die Clark in ihrer Performance schuf, verharren die fotografierten Frauen jedoch in einer passiven, teilnahmslosen Haltung. Stumm blicken sie frontal in die Kamera. Ausgehend von ihrem autobiografischen Kontext als alleinstehende, alleinerziehende Frau in einer Gesellschaft, in der Frauen im Allgemeinen durch den Mann definiert werden,171 richtet Maiolinos Fotografie somit den Blick auf die geteilte weibliche Erfahrung der Marginalisierung und die damit verbundene Sprach- und Handlungsunfähigkeit. Der Verweis auf die Strategie der Einverleibung, den der Faden explizit macht, entspricht hierbei einer Widerstandsgeste gegen diese Formen der Unterdrückung der Frau. Entsprechend lesen sich die in der Arbeit De... Para... 171 1963 heiratete Maiolino den Künstler Rubens Gerchman, den sie zwischen 1968 und 1970 nach New York begleitete. Während ihr Mann dort ein Stipendium wahrnahm, ruhte ihre eigene künstlerische Arbeit. 1970 verließ Maiolino Gerchman und kehrte mit der gemeinsamen Tochter nach Brasilien zurück. Vgl. Anna Maria Maiolino im Interview mit Helena Tatay, in: Helena Tatay: Anna Maria Maiolino, Ausst.-Kat. Fundació Antoni Tapies, Barcelona/Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela/Malmö Konsthall, London: Koenig Books, 2010, S. 38-60, hier: S. 44ff.

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[Von...Nach…] (Abb. 88) vorgeführten Verschnürungen des Kopfes als Verweis auf die Suppression der Frau, während das aus dem Mund der Künstlerin führende Band eine Emanzipationsgeste darstellt. Abbildung 87: Anna Maria Maiolino: Por um Fio, aus der Serie Fotopoemação, 1974 Abbildung 88: Anna Maria Maiolino: De... Para..., aus der Serie Fotopoemação, 1974

Maiolinos Serie, in der die individuelle Identitätssuche mit der gesellschaftskritischen Analyse von Geschlechterrollen verbunden wird, steht in engem Zusammenhang mit der feministischen Bewegung der 1960er und 1970er Jahre, in der die These vertreten wurde, dass Frauen eine gemeinsame Geschichte des Ausschlusses und der Schädigung aufweisen, „die sie in die Randständigkeit gedrängt, als minderwertige Menschen definiert, von der öffentlichen Teilhabe ausgeschlossen und der alltäglichen Gewalt ausgeliefert hat.“172 Entsprechend der feministischen Theorie ist es auch Maiolinos Anliegen, Frauen in ihrer Kunst adäquat zu repräsentieren, ihnen eine Stimme zu geben und ihre Sichtbarkeit zu fördern. Por um Fio und De... Para... stehen thematisch in Bezug zu weiteren Arbeiten der Serie, in denen Maiolino autoaggressives Verhalten vorführt. In den drei Fotografien mit Titel É o que sobra [Das, was übrigbleibt] (Abb. 89) bildet sich die Künstlerin in Posen ab, in 172 THÜRMER-ROHR, Christina: Die unheilbare Pluralität der Welt – von Patriarchatskritik zur Totalitarismusforschung, Colloquium Psychologie und Postmoderne, 5. Juni 1997, Freie Universität Berlin, URL: http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/be richte2/thuermer_rohr.htm (Zugriff: 14.02.2016), o. Seitenangabe.

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denen sie im Begriff scheint, sich mit einer Schere Zunge und Nase abzuschneiden. Die in Maiolinos Fotografien angedeutete Selbstverletzung steht im Rahmen feministischer Kunst, welche die Identität der Frau ins Zentrum des Interesses rückt, im Zuge dessen der weibliche Körper politisiert wird. Abbildung 89: Anna Maria Maiolino: É o que sobra, aus der Serie Fotopoemação, 1974

So spielt die Selbstverletzung in der feministischen Performancekunst der 1970er Jahre eine zentrale Rolle, in der die Künstlerinnen vor Publikum ihrem eigenen Körper mit scharfen Gegenständen Schmerz zufügen. Dabei wird der Körper nach seinen gesellschaftlichen Normierungen befragt und alternativen, befreiten Körperkonzepten gegenübergestellt. In Valie Exports Performance-Film ...Remote...Remote... von 1973 sieht man eine Frau, die sich mit einem Teppichmesser die Nagelhaut aufritzt. Die Thematisierung und Inszenierung des Leides entspricht hierbei einer spezifisch weiblichen Emanzipationsgeste, wie Markus Brunner ausführt: Indem dem weiblichen Körper Schmerzen zugefügt werden, „zeige sich darin einerseits das Leiden der Frauen an der Verstümmelung durch die männlichen Konstruktionen und Normierungen ihrer Körper und an der Unmöglichkeit, sich einen eigenen Ausdruck zu verschaffen. Andererseits würde der männliche Blick ebenso irritiert, unterlaufen und angegriffen wie das als Negativform vom Männlichen abgeleitete, körperlich bestimmte sogenannte Weibliche. […] Valie Exports Performances sind also als Versuch zu lesen, sowohl am Körper wie am Blick auf ihn Dekonstruktionsarbeit zu leisten, den Körper als gesellschaftlich beschriebenen zu entblößen, den männlichen Blick auf ihn zu irritieren und diesen so überhaupt erst sichtbar zu machen.“173

173 BRUNNER, Markus: Körper im Schmerz – Zur Körperpolitik der Performancekunst von Stelarc und Valie Export, in: Paula Villa (Hrsg.): Schön normal. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf somatische Selbsttechnologien, Bielefeld: transcript, 2008, S. 21-40, hier: S. 11f. Die 1940 geborene Österreicherin Valie Export beschäftigt sich seit Ende der 1960er Jahre in ihrer Arbeit mit Körperkonstruktionen,

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Weit weniger drastisch als Export, indem die Selbstverletzung nicht real ausagiert wird, jedoch mit ähnlicher Intention, macht auch Maiolino in ihren Werken darauf aufmerksam, dass weibliche Kunstschaffende in der männlich dominierten Kunstszene ebenso wie auch Frauen generell in der Alltagswelt in ihren Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt werden und um diese kämpfen müssen. Die in den Fotografien Maiolinos angedeutete Selbstverletzung entspricht somit einer Verwundung des weiblichen Körpers in seiner von der männlichen Kultur geforderten Makellosigkeit, wodurch sich dieser dem männlichen Blick entzieht. Ihre Geste ist als Versuch zu sehen, den fremd besetzten Körper zu thematisieren und sich seiner zu entledigen. Durch den Schmerz geht die Frau als selbstbestimmtes Subjekt hervor, der Schnitt ist zugleich Ausdruck der Entfremdung, der Dekonstruktion und der Befreiung. Maiolinos Einschnürung des Kopfes in De... Para... verweist auf ein enges soziales Korsett, in dem sich Maiolino nach eigenem Empfinden als Frau und Künstlerin befindet. Hierin lassen sich Analogien zu den Performances und Filmen von Rebecca Horn aus den 1970er Jahren ziehen, die ihre Wurzeln in der feministisch engagierten Body-Art ihrer Zeit hat. Horn macht in ihren Arbeiten deutlich, dass der weibliche Körper, der in engen Bandagen eingeschnürt präsentiert wird, nicht frei agieren kann, sondern stets gesellschaftlichen Einschreibungen unterworfen ist. Die physische Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die Verschnürung des Körpers spricht dabei die Restriktionen an, denen Frauen generell ausgesetzt sind, was mit Maiolinos Ansatz im Einklang steht (Abb. 90).174 wobei die Künstlerin in Auseinandersetzung mit feministischer Theoriebildung eine geschlechterfokussierte Perspektive auf das Kunstsystem einnimmt. 174 Im Jahr 1972 entwarf die Künstlerin für Performances II eine ihren Kopf einschnürende Maske, die sich aus Bändern zusammensetzt, an denen Bleistifte befestigt sind. Vor einer weißen Wand bewegte Horn ihren Kopf in rhythmischen Bewegungen, wodurch eine Zeichnung auf der Wand in Form sich verdichtender Linien entstand. Die Künstlerin rekurriert mit ihrer Geste auf den weiblichen Künstlermythos der namenlosen Tochter des Debutades, der die Erfindung der Zeichenkunst zugeschrieben wird. Im Gegensatz zu den Schriften Pygmalions oder Prometheus’, in denen die Schöpferkraft allein dem männlichen Part zukommt, wird diese Fähigkeit in der Erzählung des Philosophen Athenagoras der Frau attestiert. Die Geschichte des Debutades, in dem die Tochter aus Sehnsucht ihren Geliebten zeichnet, lässt sich als Ursprungsmythos der künstlerischen Kreativität lesen. Indem Horn die gezeichneten Konturen ihres eigenen Profils auf der Wand hinterlässt, entwirft sie ein narzisstisches Selbstbild, womit ein Angriff auf das Patriarchat artikuliert wird. Durch die gezielte Verschiebung des Mythos formuliert sie ein alternatives Selbstbild der Künstlerin, in dem Weiblichkeit und Autorschaft zusammenfallen. Vgl. TACKE, Alexandra: Rebecca Horn. Künstlerische Selbstpositionierungen im kulturellen Raum, Köln: Böhlau, 2011, S. 91f.

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Abbildung 90: Rebecca Horn: Bleistiftmaske, 1972

Die Artikulation feministischer Anliegen unter Bezug auf die Antropofagia verbindet Maiolinos Rezeption mit den Arbeiten Adriana Varejãos, in denen sie die Erfahrung von kolonialer Gewalt an der Frau als Ursprung der brasilianischen Heterogenität thematisiert. Ähnlich wie bei Maiolino dient der Hinweis auf Schmerz, der in Varejãos Gemälden durch das Aufbrechen der Leinwand eine physische Manifestation erfährt, einer heilenden Therapie, wobei der feministische Emanzipationsakt in Maiolinos Werk von einer Reflexion kolonialer Strukturen losgelöst ist. In Maiolinos Videoarbeit In-Out-Antropofagia von 1973 wird der feministische Ansatz mit einer Widerstandsgeste gegen die politische Repression der Militärregierung in Brasilien verbunden (Abb. 91a-c). Das Video zeigt in aufeinanderfolgenden Close-ups intime Nahaufnahmen eines weiblichen und eines männlichen Mundes.175 Während der männliche Mund flüsternde, jedoch unverständliche Worte von sich gibt, ist der weibliche Mund in krampfhaften Versuchen des Sprechens festgehalten. In anderen Sequenzen wird er mit einem Klebeband sprachunfähig gemacht. Thematisiert ist hier erneut die Kommunikationsproblematik zwischen den Geschlechtern und das Artikulationsverbot der Frau. Zum anderen muss die Arbeit auch vor dem Hintergrund der Repressionen der brasilianischen Militärregierung gelesen werden, während derer die freie Meinungsäußerung stark eingeschränkt war. Der Moment des Widerstandes wird durch den dezidierten Verweis

175 Während es für die Betrachter/innen teilweise nicht eindeutig erscheinen mag, welches Geschlecht den jeweiligen Mündern zuzuordnen ist, besteht nach Maiolino das Konzept des Videos grundlegend auf der Gegenüberstellung eines weiblichen und eines männlichen Mundes. Vgl. MAIOLINO, Anna Maria: In-Out-Antropofagia (1973), in: Michael Asbury/Garo Keheyan: Anna Maria Maiolino. Order and Subjectivity, Nicosia: Pharos Publishers, 2009, S. 106.

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auf de Andrades Konzept, insbesondere durch das Zähnefletschen der Münder, angezeigt. Es geht gleichermaßen darum, die repressiven Organe der Militärregierung zu fressen wie auch ein Aufbegehren gegen Unterwerfungen des weiblichen Geschlechts zu artikulieren. Abbildung 91a-c: Anna Maria Maiolino: In-Out (Antropofagia), 1973

In Auseinandersetzung mit dem Konzept der Antropofagia führen die Aufnahmen eine permanente Transformation zwischen dem Inneren und Äußeren des Körpers vor, indem Rauch ein- und ausgeatmet wird und erneut Fäden aus dem weiblichen Mund quellen und wieder eingesaugt werden. Diese Durchdringung wird auch durch das Gebären eines Eies, welches daraufhin wieder verschluckt wird, verbildlicht. Das Ei wiederum verweist auf den Geburtsvorgang und steht im Werk Maiolinos gleichermaßen für den weiblichen Körper wie auch als Metapher für Gefahr. Die durch das Ei hervorgerufene Verbindung zwischen Mund und Vagina, die Maiolino hier im Kontext von Anthropophagie und Feminismus aufzeigt, beinhaltet Analogien zum Mythos der Vagina dentata, der bezahnten Vagina. Ausgehend von griechischen Mythen und indigenen Legenden über Frauen mit bezahnten Vaginen versinnbildlicht das Motiv in der Psychoanalyse die Kastrationsangst des Mannes.176 So führt der Jung-Schüler Erich Neumann in einer 1987 erschienenen Studie zur Zerstörungskraft des Weiblichen aus:

176 Sigmund Freud setzt sich mit dem Vagina dentata-Motiv auseinander. Zum einen bezieht er sich auf indigene Initiationsriten, die einer Kastration gleichkommen, zum anderen referiert er auf das mythologische Bild der enthaupteten Medusa, das er mit dem weiblichen Genital gleichsetzt, wodurch es die Kastrationsangst versinnbildlicht: „Kopfabschneiden=Kastrieren. Der Schreck der Meduse ist also Kastrationsschreck, der an einen Anblick geknüpft ist. Aus zahlreichen Analysen kennen wir diesen Anlaß, er ergibt sich, wenn der Knabe, der bisher nicht an die [Kastrations-]Drohung glauben wolle, ein weibliches Genitale erblickt. Wahrscheinlich ein erwachsenes, von Haaren umsäumtes, im Grunde das der Mutter.“ Sigmund Freud in einem vom 14.5.1922 datierten Manuskript, zit. n. Sonja Ross: Die Vagina Dentata in Mythos und Erzählung. Transkulturalität, Bedeutungsvielfalt und kontextuelle Einbindung eines Mythenmotivs, Bonn: Holos Verlag, 1994, S. 15. Das Vagina dentata-Motiv ist insbesondere in asiati-

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„Das Weiblich-Positive des Schoßes erscheint als Mund, deswegen werden dem weiblichen Genitale die Lippen zugeschrieben, und auf Grund dieser positiven Symbolgleichung ist der Mund als oberer Schoß der Geburtsort des Atems und des Wortes, des Logos. […] Der gähnend-gierige Charakter des Schlundes und der Spalte ist in mythologischer Apperzeption die Einheit des Weiblichen, das ebenso sexuell als gieriger Schoß das Männliche anzieht und den Phallus in sich tötet, um zu seiner Befriedigung und Befruchtung zu kommen, wie als Erdschoß der Großen Göttin, als Todesschoß […].“177

Die strategische Verbindung der oralen und genitalen Pole, die Maiolino in ihrer Arbeit herbeiführt, wird vor dem Hintergrund der Analogien zum Mythos der Vagina dentata als spezifisch weibliche Aggressivitäts- und Emanzipationsgeste lesbar, die sich als anthropophager Akt gegen den Mann richtet. Darüber hinaus verweist das Ei als Symbol für Gefahr in Maiolinos frühen Arbeiten auf die Erfahrung der repressiven Politik der brasilianischen Militärregierung. In der Aktion Entrevidas [Zwischenleben], die erstmals 1981 durchgeführt und fotografisch dokumentiert wurde, waren unzählige Hühnereier auf einer öffentlichen Straße ausgelegt. Die Performance führte vor, wie eine barfüßige Frau durch dieses Minenfeld lief. Das Ei als Symbol des Lebens mit einer gleichzeitigen Fragilität thematisierte innerhalb dieses Settings die Atmosphäre der Gefahr während der Militärdiktatur.178 Die Verwendung der anthropophagen Strategie als Widerstandsschen und nordamerikanischen Erzählungen anzutreffen. Sonja Ross’ Publikation zum Thema beinhaltet eine Sammlung dieser Mythen, worunter sich auch die folgende Textpassage einer aus Indien stammenden Legende findet: „Früher hatten Frauen tief in ihrer Vagina Zähne. Damals war ein Penis von enormer Größe, aber er wurde immer weiter von den Zähnen abgebissen, bis er so kurz ist, wie heute.“ ROSS, 1994, S. 209. Jean Delumeau konstatiert entsprechend in seiner Analyse der Kulturgeschichte der Angst des Mannes vor der Frau, dass diese die „Richterin seiner Sexualität ist, […] einem Feuer gleich, das man ununterbrochen in Gang halten muß, und verzehrend wie die Gottesanbeterin. Er fürchtet den sexuellen Kannibalismus seiner Partnerin, der in einem Märchen aus Mali die Gestalt einer riesigen Kalebasse annimmt, die sich im Rollen alle Dinge, die ihr auf ihrem Weg begegnen, einverleibt. […] Von Indien bis Amerika, von den homerischen Gesängen bis zu den mahnenden Abhandlungen der Gegenreformation, findet sich das Motiv des verlorenen Mannes, der sich der Frau ausgeliefert hat.“ DELUMEAU, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14.-18. Jahrhunderts, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1985 (1976), S. 460f. 177 NEUMANN, Erich: Die große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltung des Unbewussten, Freiburg im Breisgau: Olten,1987, S. 165, 168. 178 Maiolino betont die Zusammenführung widersprüchlicher Elemente, die dem Motiv des Eies inhärent sind: „It is evident, that these works, in which I utilise the OVO [das por-

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geste gegen die politische Situation im eigenen Land ist in den Werken der tropikalistischen Bewegung zentral und findet sich auch in der zeitgenössischen Rezeption Meireles’. In seiner Installation Desvio para o Vermelho (Red Shift) vermittelt er ebenfalls einen Gefahrenmoment, der auf die Gewalt der Militärdiktatur verweist. In ihren jüngeren Arbeiten schafft Maiolino raumgreifende Installationen, in denen sie eine Vielzahl von Skulpturen aus Ton, meist in Form von kugeligen oder schlangenähnlichen Gebilden in langen Bahnen seriell nebeneinander aufreiht oder auch lose anhäuft (Abb. 92a-c).179 Die Präsentation erinnert an Manufakturen oder Backstuben, die Skulpturen gleichermaßen an organische Produkte, wodurch Assoziationen zu Teigrollen wie auch zu Exkrementen aufkommen. Maiolino bezieht sich hierdurch ähnlich wie in ihren frühen Arbeiten Glu Glu Glu und Glu Glu auf den Prozess von Nahrungsaufnahme und Ausscheidung, womit sie auf das anthropophage Konzept referiert. Hinter ihrem Interesse an der prozesshaften biologischen Realität des menschlichen Körpers steht der Hinweis auf ein hybrides Identitätskonzept. Durch den Verweis auf die Ausscheidung stellt sie heraus, dass Natur und Leben niemals rein sind. Mit der Verwendung von Ton bezieht sich die Künstlerin auf das Element Erde, was sie durch die Betitelung ihrer Arbeiten als Terra Modela [modellierte Erde] deutlich macht, und damit auf den Ursprung des Lebens. Maiolino reflektiert die befruchtende Kraft des Kotes auf die Erde und den Prozess der Verwandlung des Kotes zu Erde. Dominique Laporte formuliert diesen Aspekt in seiner Schrift Eine gelehrte Geschichte der Scheiße folgendermaßen: „Alles ist in allem enthalten, jedes Ding enthält ein Prinzip und sein Gegenteil. Was

tugiesische Wort für Ei], questions about the limits between life and death are elaborated. The same those utilised by Freud: Eros as the life instinct and Thanatos, his opposite, as the death instinct. It is this duality, trying to evade death in favour of life in the broadest sense, that these works live. […] looking at the way the word itself is written reinforces it as an archetype par excellence of the OVO – life. Furthermore, it reinforces the presupposition that the word OVO forms a palindrome in that it can read forwards and backwards. The OVO shares the simplicity of the ovality of the zero O – the smallest form par excellence – which to the Hindus means: ‚previous to the realisation – the aura of nothing’, and considered the ‚root of diversity’. Hence, faced with the egg we are faced by nothing and everything; the empty and the full; the beginning as past, the end and the infinite.“ Anna Maria Maiolino in einem unbetitelten Text von 2002, in: Michael Asbury/Garo Keheyan: Anna Maria Maiolino. Order and Subjectivity, Nicosia: Pharos Publishers, 2009, S. 90. 179 Das Terra Modela-Projekt wurde initiiert in den späten 1980er Jahren und erstmals 1995 im Rahmen einer Installation in der Kanaal Foundation in Belgien ausgestellt. Maiolino begann ihre Arbeiten mit Ton somit in einer Zeit, in der die neuen Medien in der Kunst aktuell waren.

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verdorrt und austrocknet, wird mit der Zeit fruchtbar und nahrhaft. Der muffige Geruch verwandelt sich in Wohlgeruch, und Fäulnis wird zu Gold.“180 Abbildung: 92a-c: Anna Maria Maiolino: Terra Modela, 1995-2006

Maiolino schafft simple, organische Formen, die stets unfertig wirken. Das Material des Tons, der seine Beschaffenheit von einer weichen, knetbaren Masse hin zu einem festen Material ändert, durchläuft dabei selbst einen transformativen Prozess. Zudem werden die Tonskulpturen nicht gebrannt und sind durch die Trocknung an der Luft ständigen Veränderungen unterworfen, während sich die Installationen selbst als temporär erweisen. So entstehen die Objekte für eine Ausstellung immer wieder neu und werden nicht erhalten, sie verfallen also letztendlich wieder zu Staub. Da die Tonskulpturen den Handabdruck der Künstlerin und somit einen Hinweis auf den Bearbeitungsprozess enthalten, schreibt sich der Körper in die Arbeit ein. Da die Werke ihren eigenen Formungsprozess repräsentieren, wird der Fokus auf das Prozesshafte gelenkt.

180 LAPORTE, Dominique: Eine gelehrte Geschichte der Scheiße, Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 1991 (1978), S. 42.

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In diesem Sinne schafft Maiolino sich bewegende, organische Kunstwerke, die die taktilen Sinne der Rezipient/innen ansprechen, womit sie mit Clarks Maxime „The art is the body“181 in Einklang stehen. Analog zu Clarks Kunstansatz geht es Maiolino darum, eine ihren Objekten innewohnende Körperlichkeit zu vermitteln, die als transformativ aufgefasst wird. Entsprechend assoziiert Maiolino ihre Installationen mit lebenden „Kreaturen.“182 In Weiterführung von Clarks Anliegen will Maiolino die Betrachter/innen für ein Bewusstsein ihres eigenen Körpers öffnen. Dabei ist die Interaktion, die Clark den Rezipient/innen überlässt, bei Maiolino durch den Aktions-Prozess der Künstlerin ersetzt, die das Material modelliert. Die Präsentation von nahezu gleichformatigen Tonballen oder -rollen, die in systematischer Reihung nebeneinander auf Tischen und in Schränken ausgelegt werden, eröffnet Assoziationen zu Backstuben, zu Teigwaren, die auf einem Blech liegen und auf das Backen warten.183 Hierin liegt ein Bezug auf Piero Manzonis Achromes, in denen er mit Kaolin überzogene Brötchen in einem geometrischen Raster auf der Leinwand anordnete (Abb. 93).184 Auch die Abwesenheit von Farbe, 181 CLARK, Lygia: L’art c’est le corps (1973), zit. n. Helena Tatay: Anna Maria Maiolino, Ausst.-Kat. Fundació Antoni Tapies, Barcelona/Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela/Malmö Konsthall, London: Koenig Books, 2010, S 232f. Der Text erschien erstmals in: Preuves 13, Paris, 1973, S. 143-145. 182 MAIOLINO, Anna Maria: Works in Processes (1997), zit. n. Catherine de Zegher: “ciao bella”: the ins and outs of a migrant, in: Rina Carvajal/Paulo Venâncio Filho (Hrsg.): Anna Maria Maiolino, Ausst.-Kat. Pinacoteca do Estado de São Paulo/Miami Art Central, São Paulo: Stilgraf, 2006, S. 133-146, hier: S. 134: „creatures“. Maiolino führt diesen Gedanken folgendermaßen aus: „The segments, that are removed begin to live a life on their own, composing a new, autonomous sculpture distant from the mother sculpture. […] The governing factor of these creatures is its self-constitution into the principle of the work, which renders the different mountings actually one, and only one work.“ Ebd. 183 Maiolino stellt die Analogie zu Teigwaren bewusst her: „The analogical gaze spots the pasta (dough) laid out to dry.“ MAIOLINO, Anna Maria: Anna Maria Maiolino, São Paulo: J. J. Carol, 2007, S. 56. 184 Vgl. de ZEGHER, 2006, S. 132. Mit seiner Werkserie der Achromes – der titelgebende Neologismus kann in etwa als unfarbig übersetzt werden – strebte Piero Manzoni einerseits eine ultimative Reduktion der Malerei an, anderseits erweiterte er sie zugleich mit Dingen des Alltags, indem er Brötchen oder auch Styropor einbezog. Beginnend 1957 bis zu seinem Tod im Jahr 1963 entstanden nahezu 600 Arbeiten dieser Werkgruppe. Mit Gips und Kaolin bediente er sich in seinen Achromes Materialien, die plastische Eigenschaften aufweisen und somit den Übergang vom Bild in das Objekt eröffneten. Vgl. ENGLER, Martin (Hrsg.): Piero Manzoni. Als Körper Kunst wurden, Ausst.-Kat. Städel Museum, Frankfurt am Main, Bielefeld: Kerber, 2013, S. 50.

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durch die sich Manzonis Achromes definieren, ist Maiolinos unbehandelten Tonskulpturen gemein. Während Manzoni jedoch auf jede persönliche Geste verzichtet, bestimmt die eigene physische Intervention grundlegend das Werk Maiolinos. Anders als die verwendeten Brötchen in Manzonis Arbeiten, die Readymades darstellen, enthält jede von Maiolinos Tonskulpturen den hinterlassenen Handabdruck der Künstlerin, wodurch individuelle Werke mit autobiografischer Färbung entstehen. Auch im Gegensatz zu den seriellen Reihungen reduzierter geometrischer Objekte in der Minimal Art führt Maiolino nicht die Wiederholung desselben vor, sondern fokussiert auf die Differenz der scheinbar gleichen Stücke, die stets Unikate sind. 185 Ihre handgemachten, mit Symbolen des Organisch-Körperlichen verbundenen Tonarbeiten, die einen Zwischenprozess anzeigen und fast noch Rohmasse sind, sind eng mit der eigenen Person verbunden. Abbildung 93: Piero Manzoni: Achrome, ca. 1962

Gleichwohl wird die Einschreibung des Körpers in die künstlerische Arbeit auch in Manzonis Werk vollzogen, da durch die Materialwahl des Brötchenteigs Hinweise auf den Appetit und auf die Verdauung gegeben werden. Ab 1951 setzte sich Manzoni zunehmend mit dem menschlichen Körper auseinander, wobei die Hin-

185 Vgl. DOCTORS, Marcio: Precisão e Potência, in: Celma Albuquerque (Hrsg.): Anna Maria Maiolino, Belo Horizonte: Gráfica e Editora Tamóios, 1999, o. Seitenangabe. Dementsprechend äußert sich Anna Maria Maiolino selbst zu ihrer Arbeit: „This work follows the repetition of the action of the gesture, which, being nature, does not repeat itself. In sameness, there is difference. […] A work in progress – an unfinished work – since the use of the module makes it possible to take up the work again, adding to it. The module, besides facilitating transportation and manipulation of the work, is a pause, a break in the day’s work, which could conceivably go on indefinitely. In the causal ordering of the work, the instant is personified in the gesture at rest.“ MAIOLINO, 2007, S. 15.

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wendung zum Verdauungsprozess einen wichtigen Stellenwert einnahm. In seiner Kunstverzehr-Aktion von 1960 versah Manzoni 150 gekochte Hühnereier mit seinem Daumenabdruck und bot sie den Besuchern zum Verzehr an. Dabei fungieren „die eigentlich für Identität und Unverwechselbarkeit stehenden Fingerabdrücke“ als „Buchstaben zur reproduzierbaren künstlerischen Setzung. […] Manzonis Interesse gilt nicht ihm selbst, sondern der Verwandlung eines alltäglichen Nahrungsmittels als Nicht-Kunst in ein Objekt der Kunst und zugleich der Entauratisierung des Kunstwerks und seiner Schöpfung.“186 Auf die performative Nahrungsaufnahme folgte im darauffolgenden Jahr als logische Konsequenz die Beschäftigung mit der körperlichen Ausscheidung, die in Manzonis Werkreihe Merda d’artista [Künstlerscheiße] seinen Ausdruck fand. Der Künstler stellte zylindrische Blechdosen aus, die nach seinen Angaben mit seinen eigenen Fäkalien gefüllt waren und versiegelte diese geruchsfest.187 Briony Fer bringt entsprechend Maiolinos Bezug auf Manzoni mit der kulturellen Anthropophagie in Verbindung, wenn er schreibt: „This idea of having the historical avant-garde and maybe also the neo-avantgarde inside you can be related to an anthropoghagical notion of cannibalising other cultures.“188 Maiolino selbst hat wiederholt herausgestellt, dass ihre Installationen mit Ton einen biografischen Aspekt beinhalten, indem sie Analogien zu den arbeitenden Händen der Mutter herstellt, die Teig kneten. Durch die Verbindung zum Backen referiert die Künstlerin somit dezidiert auf den weiblichen Körper und die alltägli-

186 ENGLER, 2013, S. 184. Die Aktion wurde in einem mittlerweile verschollenen Kurzfilm von Paolo Maccentelli und Piero Finocchi dokumentiert. Heute existieren noch 51 der ursprünglich 150 Eier in Holzschachteln, die parallel zur Performance entstanden waren. 187 Die auf eine Stückzahl von neun Exemplaren limitierten Dosen wurden ähnlich gängiger Konservierungsverfahren für Lebensmittel in jeweils vier Sprachen mit Angaben zu Abfülldatum, Gewicht und Konservierungsart versehen und unter dem Hinweis Produced by vom Künstler signiert. In Manzonis Arbeiten wird der Körper „zum Medium für die Aufnahme, Produktion und Ausscheidung von Kunst. […] Indem Manzoni seine eigenen Exkremente eindost, indem er das Hohe mit dem Niedrigen, das GeistigAbstrakte mit dem allzu Konkret-Körperlichen und kulturell Tabuisierten verbindet, gelingt es ihm, den traditionellen Kunstbegriff radikal zu erweitern, um gleichzeitig dessen Gültigkeit zu hinterfragen.“ Ebd., 2013, S. 194. Catherine de Zegher bringt in ihrem Text Piero Manzonis skatologische Arbeiten ebenfalls in Verbindung zu Anna Maria Maiolinos Tonarbeiten. Vgl. de ZEGHER, 2006, S. 140ff. 188 FER, Briony: The Mould: Anna Maria Maiolinos Work in Clay, in: Michael Asbury/Garo Keheyan: Anna Maria Maiolino. Order and Subjectivity, Nicosia: Pharos Publishers, 2009, S. 155-163, hier: S. 161f.

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che Arbeit der Frau.189 Maiolino spielt hiermit auf die klassische und Geschlechterhierarchien reproduzierende Rollenverteilung an, bei der die Frau dem Häuslichen zugeordnet wird. In Maiolinos Werk geht es gleichermaßen darum, eine Würdigung der Frau zu artikulieren, indem sie rückblickend auf die aktive Rolle der Frau in der Gesellschaft hinweist, die in der von Männern geschriebenen Geschichte oftmals ausgespart ist, wie auch darum, überholte Rollenklischees zu persiflieren. So referiert Maiolino mit der Modellierung von Lehm auch auf die göttliche Schaffung des ersten Menschen, auf die archaische Keramik und die Frühgeschichte der Kunst. 190 Indem die Frau als Schöpferin und Ursprung des Lebens ausgewiesen wird, erfährt das Weibliche eine Aufwertung. Gleichzeitig setzt sich die Künstlerin spielerisch und ironisch mit traditionellen Geschlechtsidentitäten auseinander. So enthält die Arbeit ein subversives Potenzial, wonach binäre Konzepte von Identität und Geschlecht provoziert werden. Durch die gleichzeitige Präsenz von als maskulin assoziierter puristischer Strenge, die in der klaren Präsentation zum Ausdruck kommt, und den mit Weiblichkeit verbundenen organischen, unperfekten, aufspringenden Teigkugeln werden gegensätzliche Paradigmen in der Arbeit vereint. Damit werden die Oppositionen Ordnung und Unordnung, Rationalität und Intuition und die damit verbundenen Attribute von Männlichkeit und Weiblichkeit zusammengeführt. Maiolino subvertiert dominante Konzepte der Gefühl-Körper-Dualität. Entsprechend hat de Andrade in seinem Manifesto Antropófago eine Synthese beider Gegensatzpaare vollzogen, dort heißt es: „Der Geist weigert sich, einen Geist ohne Körper zu denken.“191 Maiolino durchbricht, in der Tradition de Andrades stehend, die philosophische Tradition von Platon über Husserl zu Sartre, in der die ontologische Unterscheidung zwischen Seele und Körper Unterordnungsmechanismen und Hierarchien unterstützt. Judith Butler hat herausgearbeitet, dass der Geist kulturell mit Männlichkeit assoziiert wird, der den als Weiblich konnotierten Körper unterwirft. Daher fordert sie eine kritische Verhandlung der Körper-Geist-Dichotomie, da diese implizit die Geschlechter-Hierarchie produziere, aufrechterhalte und rechtfertige.192 In de Andrades Utopie eines Matriarchats von Pindorama ist eine Stellungnahme gegen eine Herrschaft des Mannes bereits angelegt, wobei diese Geste einer Dekonstruktion kolonial-geschlechtlicher Stereotypen dient. Gerade die Of189 Vgl. Anna Maria Maiolino im Interview mit Helena Tatay, in: Helena Tatay: Anna Maria Maiolino, Ausst.-Kat. Fundació Antoni Tapies, Barcelona/Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela/Malmö Konsthall, London: Koenig Books, 2010, S. 38-60, hier: S. 56; sowie TATAY, 2010, S. 205. 190 Vgl. DOCTORS, Marcio: The Burning Bush, in: Anna Maria Maiolino: Anna Maria Maiolino, São Paulo: J. J. Carol, 2007, S. 38-55, hier: S. 48; sowie TATAY, 2010, S. 206. 191 De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang. 192 Vgl. BUTLER, 2014 (1990), S. 31.

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fenheit des Andradschen Konzepts, das sich „gegen alle Katechesen“ 193 richtet, ermöglicht es Maiolino, über seine ursprünglich postkoloniale Stoßrichtung hinauszugehen, es mit feministischen Anliegen zu verbinden und somit zu erweitern. In Maiolinos Installationen gehen Ordnung und Chaos eine Synthese ein, indem die organisch anmutenden Objekte einerseits in ein strenges Ordnungsgefüge gebracht werden und andererseits diese klaren Reihungen von Passagen abgelöst werden, in denen mit Mulden versehene Tonklumpen in ungeordneter Weise, ähnlich eines Wucherns, Wände und Böden der Ausstellungsräume einnehmen. Zur Verdeutlichung des Aspekts des Chaos, der in Maiolinos Installationen in Verbindung mit dem Hinweis auf Exkremente zum Tragen kommt, lassen sich die psychoanalytischen Deutungen zur Perversion von Janine Chasseguet-Smirgel heranziehen.194 Ausgehend von den Überlegungen Marquis de Sades, der den Verdauungsund Ausscheidungsprozess als eine Fähigkeit des Menschen versteht, Neues hervorzubringen, folgert sie: „Die [anale Welt] ist letztendlich die Welt des Sakrilegs. Alles, was tabu, verboten oder heilig ist, wird vom Verdauungstrakt verschlungen, der ein gewaltiges Mahlwerk darstellt, dass alle so aufgenommene Materie in seine Moleküle auflöst, um sie in Exkremente zu verwandeln. […] Ich glaube, dass dieses immer wiederkehrende Motiv der Veränderung der Gestalt – der Fähigkeit des Menschen, Dinge zwar nicht auszulöschen, aber aufzulösen und nach der Zerlegung in die Einzelheiten in eine neue Form umgestalten zu können – bedeutet, dass alle Dinge zum Chaos zurückkehren müssen, zum ursprünglichen Chaos, das man mit Exkrementen identifizieren kann.“195

Diesem Entwurf einer analen Welt folgend, in der eine Vermischung aller Dinge vollzogen wird, findet in Maiolinos Installationen eine Verwerfung jeder Idee von Ordnung, Struktur, Gesetz, Reinheit und Klassifizierung statt, was dem anthropophagen Konzept entspricht. Catherine De Zegher schlussfolgert dementsprechend, dass Maiolinos skatologische Arbeiten eine Subversion statischer Konventionen vollführen und sieht ebenfalls eine Verbindung zur Antropofagia: “The anal universe of mixture as melting pot is, in essence, the universe of sacrilege, or perhaps, of Antropofagia, in terms of Brazilian art.“196 Maiolino nimmt auch Bezug auf Sigmund Freuds Konzeption der analen Phase, innerhalb derer die Ausscheidung als das erste kreative Werk des Menschen bezeichnet wird. In Das Unbehagen der Kultur definiert Freud drei Prinzipien der Zivilisation: Schönheit, Reinlichkeit und

193 De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang. 194 Vgl. de ZEGHER, 2006, S. 142. 195 CHASSEGUET-SMIRGEL, Janine: Kreativität und Perversion, Frankfurt am Main: Nexus, 1986 (1984), S. 11f. 196 De ZEGHER, 2006, S. 142.

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Ordnung. Die Kultur ist damit eine Verkörperung der reinen Ordnung sowie der göttlichen Macht.197 Maiolinos Anspielungen auf den Verdauungsprozess entsprechen im Freudschen Sinne einer Umwandlung von Tabu zu Totem, die de Andrade in seinem Manifest vollzieht. Denn der Kot ist ein Tabu, das mit Scham und Schweigen belastet ist. Indem sich Maiolino auf die substanzielle Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme und –ausscheidung bezieht, grundlegende Bedürfnisse eines jeden Menschen und Teil des alltäglichen Lebens, werden gesellschaftliche Hierarchien ironisch durchbrochen.198 Der Aspekt des organischen Wucherns, der Maiolinos Toninstallationen wesentlich charakterisiert, ist zudem als ironischer Affront gegen die bürgerliche Ordnung zu verstehen, was besonders in ihrer auf der documenta 13 im Jahr 2012 realisierten Installation Aqui & Lá [Hier & Dort] deutlich herausgestellt wurde (Abb. 94). Dort bespielte Maiolino alle drei Stockwerke eines typischen Wohnhauses aus den 1940er Jahren. Die Künstlerin verteilte ihre Tonelemente über die verschiedenen Räume und Stockwerke, wo sie nahezu das gesamte Mobiliar überwucherten. Entsprechend steht die künstlerische Inszenierung des Chaos und des organischen Abfalls auch entgegen der Totalität eines Staates. 199 So hat der brasilianische Staat die Ordnung als Dogma in seine Nationalflagge aufgenommen, wo sich das Motto ordem e progresso [Ordnung und Fortschritt] befindet.200 Indem Maiolino mit ihren skatologischen Arbeiten bestehende Ordnungsgefüge und gesellschaftliche Hierarchien subvertiert, lassen sich Parallelen zu Alfred Jarrys, 1896 uraufgeführten Theaterstück König Ubu ziehen, das von den Surrealisten und Dadaisten vielfach rezipiert wurde. Fäkale Metaphern werden von Jarry bewusst als Provokation eingesetzt, um bestehende Konventionen zu durchbrechen und den Zusammenhang von Macht und Sadismus in der bürgerlichen Gesellschaft 197 Vgl. FREUD, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: Ders.: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt am Main: Fischer, 2004 (1930), S. 58f. Chasseguet-Smirgel bemerkt, dass die chaotische, anale Welt, in der Unterschiede aufgehoben werden, völlig konträr zur christlichen Religion steht, die auf Unterscheidungen aufgebaut ist. Gott ordnet am Anfang der Genesis das ursprüngliche Chaos und schafft eine Ordnung, indem er Differenzierungen, Trennungen und Aufteilungen herstellt. Dies zeigt sich, wenn Gott etwa zwischen dem Licht und der Finsternis scheidet. Im göttlichen Schaffungsprozess ist somit kein Raum für Hybridisierungen. Vgl. CHASSEGUET-SMIRGEL, 1986 (1984), S. 17ff. 198 Vgl. de ZEGHER, 2006, S. 142. 199 De Zegher konstatiert: „The more the state institutionalizes cleanless and order, the more totalitarian it becomes.“ Ebd., S. 135. 200 Gegen das von der brasilianischen Regierung proklamierte positivistische Motto der Ordnung wendete sich auch Tarsila do Amaral in ihrer Illustration des Coverbildes zu Oswald de Andrades Gedichtband Pau Brasil.

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bloßzulegen.201 So wird der Begriff merdre202 zum initialen Ausruf Ubus, der selbst durch eine enthemmte, vulgäre Leiblichkeit repräsentiert ist. Eine humorvolle Umwertung von Normen und sakralen Gegenständen vollzieht Jarry wiederholt durch skatologische Verweise, indem er beispielsweise seinem König eine Klosettbürste statt eines Zepters als Attribut beigibt.203 Die Ablehnung konventioneller Kunstformen und bürgerlicher Ideale, die Jarrys Werk kennzeichnet, findet sich ebenso in Maiolinos Arbeiten, die sich den Mechanismen des Marktes entziehen. Mit ihren fäkalen Wucherungen, die nicht erhalten werden können, parodiert sie den Kunstbetrieb. Durch die Hinwendung zum alltäglichsten Bedürfnis des Menschen befreit sie ihn von seinem elitären Status. Abbildung 94: Anna Maria Maiolino: Here & There, 2012

Entsprechend des anthropophagen Konzepts steht Maiolinos Referenz auf die Verdauung damit für ein hybrides Identitätsverständnis, das jegliche Vorstellungen von Reinheit unterläuft. Maiolino lässt binäre Differenzierungsmechanismen in Bezug auf die identitätsformenden Aspekte Kultur, Ethnie und Geschlecht in ihrer Arbeit verschwimmen, indem sie transformative Begegnungen zwischen Nahrungsaufnahme und -ausscheidung, Innen und Außen, Chaos und Ordnung visualisiert. Die Arbeit mit Ton, der geformt und auf dem ein Abdruck hinterlassen wird, referiert in diesem Zusammenhang grundlegend auf die Existenz des Gegensatzes, eines Posi201 Vgl. NÖBEL, Manfred: Alfred Jarry – Versuch einer Annäherung, in: Alfred Jarry: Œuvres complètes, Bd. 2, hrsg. v. Henri Bordillon, Paris: Gallimard, 1987, S. 5-27, hier: S. 10ff. 202 Der Begriff merdre [Schreiße] ist eine Wortneuschöpfung Jarrys, womit er sich auf das Wort merde [Scheiße] bezieht. 203 Vgl. JARRY, Alfred: König Ubu, Leipzig: Reclam, 1978 (1896), S. 31ff.

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tivs und eines Negativs, des Eigenen und Fremden. Maiolino nimmt eine neue Perspektive ein, in der Identität als Zwischenraum gedacht wird, wodurch sie das anthropophage Konzept aktualisiert.204 Wenn auch ähnliche Aspekte in Maiolinos Bezug auf de Andrades Anthropophagie-Konzept aufscheinen wie es in der Rezeption durch Meireles und Varejão der Fall ist – die Formulierung eines auf Hybridität beruhenden Verständnisses von Identität und die Anwendung der anthropophagen Strategie als Widerstandshaltung – so tritt in ihrer Adaption des Konzepts, wie gezeigt wurde, die Auseinandersetzung mit postkolonialen Fragestellungen zurück. Bei Maiolino geht es demnach nicht mehr um das Einverleiben der westlichen Kunst im Sinne eines postkolonialen Befreiungsaktes. Auch tritt die kritisch-ironische Inkorporation und Transformation fremder Kulturelemente und deren Verbindung mit lokalspezifischen Elementen in den Hintergrund. Hybridität wird in ihren Werken durch die Verbindung einer Vielzahl disparater Elemente herbeigeführt sowie durch den Entwurf eines in ständiger Veränderung begriffenen Konzepts von Körper und Identität. Die Reflexion ihrer eigenen Biografie, die feministische Stoßrichtung sowie die Erfahrung der Militärdiktatur stellen die zentralen Ausgangspunkte für ihre Beschäftigung mit dem anthropophagen Konzept dar. Dementsprechend erweist sich die Antropofagia im Werk von Maiolino als Geste der Emanzipation gegen Machthierarchien in Bezug auf Politik, Geschlecht und Kultur.

204 In Maiolinos 1995, parallel zum Entstehen ihrer Tonarbeiten verfassten Gedicht wird der Aspekt der Durchmischung, der in ihrem Terra Modela-Projekt zum Tragen kommt, deutlich herausgestellt: „You + I / My hands work / I weave with the threads of hope / Sharing space in my shout: pleasure / Pain / The call of the children / My paradigm is Antigone in her fraternal love / Compassion accompanies me / My sex is an abstraction / A vacuum / I feel the walls of my cafity in the other’s presence / Being multiplied in spirals and ecstasy / My hands work / They wash / They clean / They cook / The knead dough / Model clay / And with my eyes I read philosophy / I like poetry / Frightened am I with technology / Politics / The domain of intolerance / Profit scares me / In the end, why the rush? / And you, my companion, / Why do you place so much emphasis on differences? / Because I am in you / And you are me.“ Unbetiteltes Gedicht von Anna Maria Maiolino aus dem Jahr 1995, in: Helena Tatay: Anna Maria Maiolino, Ausst.Kat. Fundació Antoni Tapies, Barcelona/Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela/Malmö Konsthall, London: Koenig Books, 2010, S. 144.

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Ernesto Neto: Fluide Manifestationen des Körperlichen There is in my work this idea that you have been swallowed by the sculpture, and you are inside a complex of body relations.205 Ernesto Neto

In den vorwiegend skulpturalen und installativen Arbeiten des 1964 in Rio de Janeiro geborenen Künstlers Ernesto Neto findet sich eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Antropofagia in erster Linie in einer Weiterführung des tropikalistischen Ansatzes. So ist die Partizipation der Betrachter/innen, die mit dem Kunstwerk in physischen, intimen Kontakt treten und eine sinnliche Erfahrung durchlaufen, grundlegend für das Verständnis seines Werkes. Dabei fungiert das Kunstwerk als Metapher für den Körper, der die Rezipient/innen in anthropophager Weise verschlingt und mit diesen eine Symbiose eingeht. 206 Entgegen des tropikalistischen Projekts enthalten Netos Werke jedoch nicht den Impetus einer postkolonialen Widerstands- und Emanzipationsgeste. Analog zur zeitgenössischen Rezeption der Antropofagia durch Anna Maria Maiolino beinhaltet Netos künstlerischer Ansatz dennoch ein subversives Potenzial, indem festgelegte Kategorien des Körpers, die Geschlecht und Identität konstituieren, durch die Formulierung eines fluiden Körperkonzepts unterlaufen werden.

205 Ernesto Neto im Interview mit Ralph Rugoff, in: Ralph Rugoff (Hrsg.): Ernesto Neto: The Edges of the World, Ausst.-Kat. Hayward-Gallery, New York, New York: Hayward Publishing, 2010, S. 23. 206 Ähnlich argumentiert auch Thomas Mießgang, wenn er schreibt, Ernesto Neto habe ausgehend von einer Rezeption tropikalistischer Werke „seine eigene Version von anthropophagischer Korporalität“ gefunden, und weiter ausführt: „Es geht bei Neto wie bei den Tropikalisten um ein multisensorisches Erlebnis, um ein Verschlungenwerden von Kunstwerken, deren anthropomorphe Anmutung vor allem durch die Verwendung von Materialien, die an die menschliche Epidermis erinnern, durchaus intentional ist.“ Eine ausführlichere Analyse der Werke Netos, die Mießgangs These untermauert, lässt der Ausstellungskatalog der Kunsthalle Wien jedoch vermissen. MIEßGANG, Thomas: Tropicália. Das Verschlingen des geheiligten Feindes, in: Gerald Matt/Thomas Mießgang (Hrsg.): Tropicália. Die 60s in Brasilien, Ausst.-Kat. Kunsthalle Wien, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2010, S. 9-38, hier: S. 37.

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Das Verschlingen der Rezipient/innen im anthropophagen Kunstwerk Ernesto Neto versteht sich in erster Linie als Bildhauer, der einen um den Körper erweiterten Skulpturenbegriff vertritt. 207 Sein Konzept vom Kunstwerk als Körper, der die Rezipient/innen einverleibt, arbeitet Neto Ende der 1980er Jahre in seinen ersten begehbaren Skulpturen aus, die an die Struktur der Nervenzelle angelehnt sind.208 Das Grundelement seiner Serie der Naves [Raumschiffe] (Abb. 95) bildet ein Kubus aus dehnbarem, transparentem Lycragewebe, dessen Eckpunkte mit Bleikugeln beschwert und an Decke und Boden des Ausstellungsraumes gezogen werden, wodurch die Assoziation zu Dendriten hergestellt wird. Neto evoziert den Rezipient/innen somit das Gefühl, in das Innere eines Zellkörpers zu treten. Entsprechend äußert sich der Künstler mit Blick auf die Entstehung der Naves-Serie: „I wanted the viewers, when they got into the sculpture, to have the feeling of getting in the abstract idea of a body, like if you would get inside your own body.”209

Indem Neto das Kunstwerk als Körper ausweist und mit einem interaktiven Ansatz verbindet, der für das Werkverständnis konstitutiv ist, lässt sich der Vorgang des Betretens der Skulptur durch die Betrachter/innen als anthropophage Einverleibung beschreiben.210 Zugleich wird durch die vulvenförmigen Eingänge der Naves die Assoziation des Penetrierens der Skulptur durch die Rezipient/innen gefördert und eine erotische Lesart evoziert. Daneben stellt Neto mit der Wahl der Titel wie Nave Deusa [Raumschiff Göttin], Nave Utero Capela [Raumschiff Uterus-Kapelle] oder Nave Óvulo Organóid [Raumschiff Organisches Ei] Analogien zum weiblichen

207 Vgl. WIPPLINGER, Hans-Peter: Vorwort, in: Ders. (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Kunsthalle Krems, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015, S. 8-11, hier: S. 8ff.; sowie Ernesto Neto in einem transkribierten Künstlergespräch, in: Koichi Nakata (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Marugame Genichiro-Inokuma Museum of Contemporary Art, Kagawa: Graph Co, 2007, S. 40-53, hier: S. 40. 208 Vgl. PLATOW, Raphaela: Ernesto Neto: el cuerpo quem e lleva, in: Petra Joos (Hrsg.): Ernesto Neto: el cuerpo que me lleva/The Body that Carries Me, Ausst.-Kat. Museo Guggenheim Bilbao, Barcelona: Ediciones Polígrafa, 2014, S. 20-45, hier: S. 37f. 209 Ernesto Neto in einem transkribierten Künstlergespräch, in: Koichi Nakata (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Marugame Genichiro-Inokuma Museum of Contemporary Art, Kagawa: Graph Co, 2007, S. 40-53, hier: S. 45. 210 Die thematische Verbindung der Naves zur Antropofagia wurde bereits von Paulo Herkenhoff und Adriano Pedrosa herausgestellt, indem die Kuratoren der 24. Biennale von São Paulo Netos Installation Nave Deusa dort zeigten und unter Bezug auf das Thema der Großausstellung deren Assoziation zum Körperinneren thematisierten.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 205

Körper und dem Geburtsvorgang her, weshalb Samantha Elizabeth Wilson die partizipative Erfahrung als Gefühl, sich in einem Uterus zu befinden, beschreibt: „Nave is gendered as a female space in which the participant is gestated for a period of time and then is (re)born into the world. This metaphorical process of ingestion, gestation and rebirth could also be described as a cannibalistic or anthropophagic encounter in which one body devours another, incorporates and takes in aspects of the other, and eventually produces a new body that is a synthesis of both.”211

Abbildung 95: Ernesto Neto: Navedenga, 1998

In der Verbindung von Anthropophagie, Sexualität und Geburt steht Netos Serie in direktem Bezug zu Lygia Clarks Installation A Casa é o Corpo, in der die Rezipient/innen eine Wiedergeburt durchleben. Wie Clark geht es Neto darum, den Menschen zurück zu einer befreiten Körpererfahrung zu führen. Seine Kunst stellt entsprechend eine Form der Therapie dar, die durch einen den Werken inhärenten Wohlfühlaspekt herbeigeführt werden soll, indem eine Rückkehr in den ruhenden, glücklichen Zustand vor der Geburt evoziert wird. Die Skulptur dient als Schutzraum, der in bewusster Opposition zur Außenwelt gesetzt wird.212 So konstatiert der Künstler: 211 WILSON, Samantha Elizabeth: O Corpo Brasil: The Role of the Brazilian Body in the Art of Ernesto Neto, Master Thesis Washington University in St. Louis, 2010, Paper 508, URL: http://openscholarship .wustl.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1507&context =etd (Zugriff: 19.03.2016), S. 25. 212 Vgl. PEREIRA, Cecilia (Hrsg.): Ernesto Neto. O Corpo, Nu Tempo, Ausst.-Kat. Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela, Santiago de Compostela: Palabras del arte, 2001, S. 84, 309; sowie Ernesto Neto im Interview mit Dobrilla Denegri, in: Maria Elisa Tittoni (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. MACRO - Museu d’arte Con-

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„I try to create places that are […] areas of insight for people, places where people manage somehow to alienate themselves from the daily life and interact with another existential possibility, but that each person will have a different interpretation. […] My goal is to embrace people, take care of people, carry them as if I were carrying a baby. The space in which I work is pre-language space. It is an area for understanding the physical world, texture, weight, colour, temperature, joy, sadness. It is the space of affective relationships with the world.”213

Die taktile Erfahrung, die Clarks Installation den Rezipient/innen ermöglicht, ist in Netos Werken ebenfalls zentral, so befinden sich im Innern der Naves hängende oder sich vom Grund erhebende Gebilde, die befühlt und teilweise auch olfaktorisch wahrgenommen werden können, indem sie Düfte und Gewürze enthalten. Ausgehend von der Struktur der Nervenzelle, die den Naves zugrunde liegt, weitet Neto sein Konzept vom Kunstwerk als Körper in seinen monumentalen, raumgreifenden Installationen weiter aus, die wuchernde, biomorphe Gebilde darstellen. Die Arbeit Globiobabel nudelioname landmoonaia von 2000 ist als Metapher für den Körper konzipiert (Abb. 96a/b). So fungiert der Eingang der Installation als geöffneter Mund, der die Personen, die sie betreten, in anthropophager Manier verschlingt. Paulo Herkenhoff weist auf Netos Bezug auf de Andrades Konzept der Antropofagia in der Rauminstallation hin: „[…] it provides an imagery source informed by anthropophagic thought. The mouth-door is a hyper-porous space. The mouth suckles, swallows, bites, devours, assimilates, vomits, drools – and opens up Globiobabel to take in the audience.”214

Im Innern der Arbeit durchlaufen die Rezipient/innen ein Labyrinth aus tunnelförmigen Gängen und zwängen sich durch faserartige Strukturen aus elastischem Lycragewebe, welche vom Boden bis zur Decke reichen. Den Untergrund der Installation bildet ein dehnbarer Lycrastoff, der ebenso wie bei der Serie der Naves in einigen Zentimetern über dem Boden des Ausstellungsraumes angebracht ist, wodurch er beim Betreten nachgibt und anschließend wieder in seinen ursprünglitemporanea, Rom, Mailand: Mondadori Electa S. p. A., 2008, S. 7-35, hier: S. 23. Die Vorstellung der Installation als Uterus, der für die Rezipient/innen als Schutzraum dienen soll, findet sich ebenso in Oiticicas Éden. 213 Ernesto Neto im Interview mit Caroline Menezes, in: Studio International, New York, September 9, 2010, o. Seitenangabe. 214 HERKENHOFF, Paulo: Globiobabel nudelioname landmoonaia..., in: Hans-Michael Herzog (Hrsg.): Seduções: Valeska Soares, Cildo Meireles, Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Daros-Latinamerica AG, Zürich, Ostfildern: Hatja Cantz, 2006, S. 150-175, hier: S. 171.

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chen Zustand zurückkehrt. Die Besucher/innen der Ausstellung treten dadurch in taktilen Kontakt mit der Stofflichkeit der Raumskulptur und das Kunstwerk wird als lebender Organismus wahrgenommen, indem es nicht statisch ist, sondern sich in Bewegung befindet,215 womit Neto den im Neokonkretismus entwickelten Ansatz vom organischen Kunstwerk weiterführt. Abbildung 96a/b: Ernesto Neto: Globiobabel Nudelioname Landmoonaia, 2000

Das multisensorielle Partizipationsmodell Hélio Oiticicas, das insbesondere in seinen Installationen Tropicália und Éden zur Anwendung kommt, findet in Netos labyrinthartigen Installationen eine konsequente Weiterentwicklung. 216 In der Arbeit Malmö Experience, welche 2006 realisiert wurde, durchlaufen die Rezipient/innen verschiedenste sensorielle Erfahrungen (Abb. 97a-d). So gehen sie beispielsweise über mit verschiedensten Materialien gefüllte Kissen, sie können in ein Becken mit Plastikbällen eintauchen oder auf Sitzsäcken Platz nehmen. Von der Decke der Installation hängende stalaktitartige Gebilde enthalten Duftsäcke, die Gerüche verströmen, zudem vernimmt man ein stetig schmatzendes Geräusch. Neto

215 Vgl. PEREIRA, 2001, S. 29ff. 216 Neto bezeichnet seine Objekte und Installationen selbst als „penetrable sculptures“, womit er sich auf Oiticicas Penetravéis bezieht. Ernesto Neto in einem Statement, zit. n. Cecilia Pereira (Hrsg.): Ernesto Neto. O Corpo, Nu Tempo, Ausst.-Kat. Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela, Santiago de Compostela: Palabras del arte, 2001, S. 303.

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schafft in seinen Labyrinthen somit ganze Landschaften oder Architekturen, die in Anlehnung an Oiticicas Installationen als Erlebnis-, Ruhe- und Schutzraum fungieren.217 Abbildung 97a-d: Ernesto Neto: The Creature, Malmö Experience, 2006

Die Verwendung von Lycra als Material mit seinen Eigenschaften der Dehnbarkeit, Leichtigkeit und Lichtdurchlässigkeit, verbunden mit einer fleischlichen oder weißen Farbe schafft eine strahlend helle Räumlichkeit im Innern der Installation. Die Form der einzelnen plastischen Gebilde beinhaltet menschliche und animalische Referenzen, die Assoziationen zum Körperlichen aufkommen lassen, wie Synapsen oder Venen, welche Neto bewusst intendiert: „Our bodies constist of four million cells, and that means four million micro-organisms inside of us […] all my work […] is about that.”218

217 Vgl. HERZOG, 2006, S. 146. 218 Ernesto Neto im Interview mit Martin Gayford, in: The Telegraph, 28.05. 2010, zit. n. Hans-Peter Wipplinger (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Kunsthalle Krems, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015, S. 95.

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„I was thinking about making sculpture made of cells, and when you touch it, you get the idea of flesh.”219

Abbildung 98: Ernesto Neto: Anthropodino, 2009

Dabei fungiert die formgebende Außensilhouette der Skulptur als Haut, die von den Rezipient/innen durchdrungen wird, welche so die Grenze zwischen dem Außenund Innenbereich des Körpers hindurchwandern.220 In seiner 2009 in der Park Avenue Armory realisierten Installation Anthropodino (Abb. 98) spannt Neto das hier weiße, blass-gelbe und rosa-farbene Lycragewebe über knochenähnlich zugeschnittene Sperrholzplatten, wodurch die Struktur eines Skeletts nachempfunden wird. Der von Neto gewählte Titel der Arbeit beinhaltet einen Neologismus der Begriffe Antropologia [Anthropologie] und Antropofagia [Anthropophagie], womit sich der Künstler explizit auf das modernistische Konzept de Andrades bezieht.221 Der durch 219 Ernesto Neto im Interview mit Peter Simek, in: FRONT/ROW BLOG, 18.5.2012, zit. n. Hans-Peter Wipplinger (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Kunsthalle Krems, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015, S. 100, 103. 220 Die Haut wird in Netos interaktiven Skulpturen in ihrer Bedeutung als zentrales Sinnesorgan für Tastsinn und Berührung reflektiert. 221 Vgl. Ernesto Neto im Interview mit Jess Wilcox, in: Art in America, New York, May 27, 2009, o. Seitenangabe. Ebenso wie seine Installation Malmö Experience besteht Anthropodino aus tunnelförmigen Gängen, die in einem zentralen Raum münden. Auch

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die formale Analogie zu Knochen vollzogene Hinweis auf das Thema der Anthropophagie verbindet Netos Arbeit mit Meireles‘ Verwendung von Tierknochen in dessen Installation Missão/Missões (Como Construir Catedrais). Im Gegensatz zu Meireles‘ Verweis auf den kolonialen Genozid dominieren in Netos Installationen Referenzen auf einen lebenden Organismus, wodurch er auf die transformativen, schöpferischen Inhalte der Anthropophagie-Metapher fokussiert. Das Verständnis vom Kunstwerk als Körper verbindet Netos Raumskulpturen aufs engste mit Varejãos Rezeption der Antropofagia, in der das Gemälde als Metapher für den Körper begriffen wird. In beiden künstlerischen Ansätzen referiert das Motiv der Haut als durchlässige Übergangszone zwischen dem Innen- und Außenbereich des Körpers. Entgegen Varejãos gewaltvollen Einschnitten und Häutungen der Leinwand, was eine Dekonstruktion kolonialer Bildstereotype beinhaltet, fehlt Netos Werken die aggressive Stoßkraft des postkolonialen Projekts. Er intendiert vielmehr eine vorrangig sinnlich-friedvolle und spielerische Erfahrung im Umgang mit seiner Kunst. In Korrespondenz zu Oiticicas sozialem Ansatz wird der Ausstellungsraum bei Neto zum Aktions-, Kreativitäts- und Begegnungsraum, indem durch die geteilte Erfahrung ein Gemeinschaftsgefühl gefördert wird.222 Die Arbeit Globiobabel nudelioname landmoonaia nimmt auch Bezug auf den Aspekt der Hybridität, indem Neto im Titel, einer Zusammensetzung diverser Wörter unterschiedlicher Sprachherkunft, auf die Geschichte des Turmbaus zu Babel referiert.223 In Analogie zu Meireles’ mittels seiner Installation Babel formulierten Aussage soll Netos Raumarbeit ebenfalls „das Gegenteil der Geschichte von Babel“224 sein, in der sich die Menschen aufgrund der Sprachverwirrung nicht miteinander verständigen können, hier finden sich die Elemente der hängenden, mit Gewürzen gefüllten Tropfen sowie Kissenlandschaften und ein mit Plastikbällen gefülltes Becken, die zum interaktiven Erleben der Skulptur einladen. Anthropodino erstreckte sich 2009 über einen Großteil der 25 Meter hohen und 5000 Quadratmeter fassenden Wade Thompson Drill Hall, indem über der an den Boden gebundenen Skulptur ein Baldachin aus weißem Nylongewebe angebracht wurde, dessen tropfenförmige Auswüchse teilweise bis zur unteren Struktur reichten. 222 Vgl. CHAIMOVICH, Felipe: Soft Life, in: Ders. (Hrsg.): Ernesto Neto. Dengo, Ausst.Kat. Museu de Arte Moderna, São Paulo. São Paulo: mam, 2010, S. 106-111, hier: S. 108f.; sowie PEREIRA, 2001, S. 304. 223 Der Titel erweist sich als hybrides Sprachgebilde. So beinhaltet er die Begriffe Babel, nude, name/me, lion, bio, land und moon. Glob(i)o ist das portugiesische Wort für Globus. Der Begriff iaiá ist eine Abkürzung des portugiesischen senhora [Frau] und entspringt ebenso dem Vokabular der afro-brasilianischen Kultur wie er sich gleichzeitig auch auf das inaiá aus der Sprachfamilie des Tupí-Guaraní bezieht, das einen Baum bezeichnet. Vgl. HERZOG, 2006, S. 147, 171. 224 Ebd., S. 141.

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sondern ein globales Babel darstellen, ein Ort der Zusammenkunft, an dem ein gegenseitiger Dialog und ein Verständnis untereinander durch die Sinne hergestellt wird. Indem Neto in seinen Installationen auf das körperliche Erleben fokussiert, eröffnet er allen Besucher/innen, gleich welcher kulturellen Herkunft, einen Zugang zu seiner Kunst wie auch einen Raum für ein Miteinander und illustriert eine universelle Verbundenheit.225 Neto konstruiert in Weiterführung des tropikalistischen Ansatzes eine „organische Architektur des Utopischen“226 als Gegenentwurf zur städtischen Ordnung und Zivilisation und richtet sich gegen das Verständnis vom Körper als Maschine. 227 In der Tradition der Antropofagia stehend, führt er eine Gegenüberstellung von Rationalität und Natur vor, welche er als Primitivismus bezeichnet und aufwertet. Diese Gegenüberstellung von Primitivismus und Zivilisation dient jedoch nicht mehr der Abgrenzung gegen den Westen, gegen Europa oder gegen die Kolonialkultur, sondern richtet sich gegen die heutigen Megastädte im eigenen Land: „[…] my works are places of sensation. They have a classical absoluteness as well as a sense of the everyday. Still, the connotations, the knots, the weights and the smells – everything that I want to put together – are primitive. If we go beyond our high-tech world, beyond the lights, buildings, and nightclubs, in the end what we find is the sun, the stars, the big bang, quarks.”228

Die Verbindung zum Primitivismus, die in Netos Kunst in seiner Hinwendung zu organisch-körperlichen und sinnlichen Elementen zum Tragen kommt, findet sich auch in seinem wiederholten Bezug auf die indigene Kultur, die in de Andrades Manifesto Antropófago die Basis der Identifikation darstellt. In seiner Installation Paxpa – There is a Forest Encantada Inside of Us,229 die 2014 im Rahmen seiner Einzelausstellungen im Arp Museum, Bahnhof Rolandseck und in der Kunsthalle Krems verwirklicht wurde (Abb. 99a-d), bezieht sich Neto auf das indigene Volk

225 Vgl. BONAKDAR, Tanya (Hrsg.): Ernesto NETO ...Ai...ai..., Pressemeldung Tanya Bonakdar Gallery, New York, 2008, URL: http://www.tanyabonakdargallery. com/exhibitions/ernesto-neto_1 (Zugriff: 27.06.2016), o. Seitenangabe. 226 PAKESCH, 2002, S. 1f. 227 Vgl. HERZOG, 2006, S. 144. 228 Ernesto Neto in einem eigens verfassten, unbetitelten Katalogtext zur Ausstellung, in: Peter Weiermair (Hrsg.): Em Busca da Identidade - Auf der Suche nach Identität. Aktuelle Kunst aus Brasilien, Zürich: Edition Oehrli, 2000, S. 96. 229 Paxpa ist der Name eines Frosches in der Sprache der Huni Kuin. Das portugiesische Wort Encantada kann mit verzaubert oder verwunschen übersetzt werden.

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der Huni Kuin,230 in deren Legenden das Thema der Anthropophagie einen wichtigen Stellenwert einnimmt. So handelt deren Ursprungsmythos von einem Mann, der zwischen einer Menschen- und Tierwelt wandelt und mit einer Schlange Kinder zeugt, die den Vater schließlich aus Sehnsucht und Liebe verschlingen: „Doch seine drei Kinder, die noch immer in der anderen Welt wohnten, machten sich Sorgen um ihren Vater. Als der Mann eines Tages auf dieser Seite der Welt wieder auf die Jagd ging, traf er am Rande des Baches seinen jüngsten Sohn. Der Schlangensohn erkannte seinen Vater und erzählte von seinem anderen Bruder, seiner Schwester und der Mutter. Er rief »Siri, Siri, Siri« und aß dabei die Zehen seines Vaters auf. So kam sein anderer älterer Sohn und während dieser den Oberschenkel seines Vaters verschlang, erschien seine Tochter und verschlang seine Hüfte.“231

Die Gedankenwelt der Amazonasbewohner/innen ist maßgeblich für Netos Kunst. Mit dem titelgebenden Namen der Installation Paxpa bezieht er sich auf einen Frosch des Amazonasgebietes, dessen Körperdrüsen heilende Sekrete für den Menschen absondern, die von den Huni Kuin als spirituelles Heilmittel gebraucht werden. Die begehbare, zeltartige Struktur wird von einer Kuppelkonstruktion aus Polyamidgewebe gehalten und bildet einen sakral anmutenden Raum, wobei sich Neto inhaltlich und formal an ein Kupixawa, das Gemeinschaftshaus der Huni Kuin, anlehnt. Im Inneren befindet sich eine mit Musikinstrumenten und Kerzen ausgestattete Bank, die von Sitzkissen flankiert wird, welche in kreisrunder Formation ausgelegt sind. Entsprechend Netos zuvor besprochenen Installationen findet sich auch hier die Intention, sowohl einen Ort der Kontemplation als auch einen Raum des sozialen Handelns zu schaffen.232 230 Das Volk der Huni Kuin ist im Amazonas, im Bundesstaat Acre im Norden Brasiliens beheimatet. Im Gebiet Rio Jordão bewohnt es 33 Dörfer, in denen jeweils rund 60 Menschen leben. Vgl. LEWIN, Kathy: Huni Kuin und die neue Zeit, in: Oliver Kornhoff (Hrsg.): Ernesto Neto. Haux Haux, Ausst.-Kat. Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Köln: Strzelecki Books, 2014, S. 98-101, hier: S. 99. 231 N.N.: Die Geschichte der Cipó (Huni). Das Treffen der Jiboia mit dem irdischen Medizinmann Dua Bussin, in: Oliver Kornhoff (Hrsg.): Ernesto Neto. Haux Haux, Ausst.Kat. Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Köln: Strzelecki Books, 2014, S. 120-123, hier: S. 123. 232 Vgl. MIESGANG, Thomas: Idylle und Katastrophen. Das Erbe von Tropicália in der Kunst von Ernesto Neto, in: Hans-Peter Wipplinger (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Kunsthalle Krems, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015, S. 58-71, hier: S. 58; sowie MATTERN, Jutta: Seelenranken oder die Entdeckung des Selbst, in: Oliver Kornhoff (Hrsg.): Ernesto Neto. Haux Haux, Ausst.-Kat. Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Köln: Strzelecki Books, 2014, S. 50-57, hier: S. 54f.

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Abbildung 99a-d: Ernesto Neto: Paxpa – There is a Forest Encantada Inside of Us, 2014

Die von der Kuppeldecke der Raumskulptur sowie im Außenbereich hängenden Nylonstrukturen enthalten Gewürze und Edelsteine, die koloniale Handelswaren darstellten. Entsprechend Varejãos Werken, in denen sie den kolonialen Porzellanhandel und die damit einhergehende Beeinflussung Asiens auf die brasilianische Kultur thematisiert, formuliert Neto hiermit ein positiv verstandenes hybrides Kulturverständnis im Sinne der Antropofagia. Die in Paxpa verwendeten Gewürze Nelken, Pfeffer, Kurkuma und Ingwer stammen aus Südasien, vornehmlich aus Indien, während Lavendel ursprünglich ein Gewächs Südeuropas ist. Im Zuge des

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Kolonialismus gelangten diese nach Südamerika. 233 Entgegen Varejãos historischanalytischer Aufarbeitung kolonialer Handelsbeziehungen nutzt Neto Gewürze jedoch vorrangig unter Bezug auf deren sinnlich-ästhetische Komponenten, mit denen das multisensorielle Partizipationskonzept in der tropikalistischen Nachfolge weitergeführt werden kann. Bereits Mitte der 1990er Jahre beginnt Neto mit Gewürzen zu arbeiten, die in Nylonsäcke gefüllt werden und die Wahrnehmung der Rezipient/innen nicht nur auf olfaktorische, sondern auch auf visueller Ebene ansprechen, da sie das Gewebe des Nylons einfärben. Entsprechend strömt der Pigmentstaub durch die durchlässige Membran des Materials seiner hängenden Elemente in Paxpa hindurch und schwebt im Raum. Dort wird er auch von den Besucher/innen inhaliert, wodurch eine Aufnahme des Materials in den Körper stattfindet und das Thema der Einverleibung weitergeführt wird. Das Auslösen von Erinnerungen und Emotionen durch Gerüche kann ebenfalls Teil der Erfahrung von Netos Kunst werden.234 Die Verwendung von Gewürzen entspricht auch, in Weiterführung tropikalistischer Inhalte, der von Neto propagierten Nähe der Kunst zum Alltag, indem sie auf Straßenmärkte und Nahrungszubereitung verweisen. 235 Im Kontext der Installation Paxpa verweist die Präsenz von Gewürzen und Steinen explizit auf die Verbundenheit des Menschen mit der Natur, die in spirituellen Heilzeremonien der Huni Kuin erneuert wird. 236 Auch werden Gewürze als Färbemittel zur Körperbemalung verwendet, wie der Annato-Samen, den Neto in seiner Skulpturengruppe O Mundo e o Mundo [Die Welt ist die Welt] verwendet (Abb. 100), die in Nachbarschaft zu Paxpa in der Ausstellung des Arp Museums zu 233 Der Handel mit Gold, Diamanten und Edelsteinen, die ab 1698 schwerpunktmäßig im heutigen Bundesstaat Minas Gerais zu großer Zahl gefunden wurden, stellte zu Kolonialzeiten einen zentralen Wirtschaftszweig der Portugiesen dar. Neben Edelmetallen und –steinen gehören auch Gewürze zu den ältesten Handelsobjekten der Menschheit, so bestanden bereits im Altertum wichtige Handelswege zwischen Europa, Asien und Afrika. Ein entscheidendes imperialistisches Motiv für die Entdeckungsreisen in die ‚Neue Welt‘ stellte dementsprechend die Suche nach Gewürzen dar. Vgl. BERNECKER/PIETSCHMANN/ZOLLER, 2000, S. 99f.; sowie KÜSTER, Hansjörg: Kleine Kulturgeschichte der Gewürze. Ein Lexikon von Anis bis Zimt, München: Beck, 1997 (1987), S. 8f., 92ff., 125f., 126ff., 168ff., 192ff. 234 Vgl. WIPPLINGER, Hans-Peter: Zwischen Physik und Alchemie. Ernesto Netos Kunst als sinnlich-poetische Metapher für ein Leben im Fluss, in: Ders. (Hrsg): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Kunsthalle Krems, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015, S. 12-57, hier: S. 32. 235 Vgl. NETO, Ernesto: Dengo, in: Felipe Chaimovich (Hrsg.): Ernesto Neto. Dengo, Ausst.-Kat. Museu de Arte Moderna, São Paulo, São Paulo: mam, 2010, S. 20-57, 8592, hier: S. 91. 236 Vgl. LEWIN, 2014, S. 99.

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sehen war. Da die rote Farbe des Annato auch vom Volk der Tupinambá als Körperbemalung genutzt und von den Azteken dazu gebraucht wurde, um Kakao rot zu färben und so eine Analogie zum Blut trinken herstellen zu können, beinhaltet das Gewürz auch einen anthropophagen Aspekt.237 In O Mundo e o Mundo wurden vier mit Annato gefüllte Nylonsäcke auf einer weißen, oval liegenden Form arrangiert, wodurch Assoziationen zu biologischen Organismen aufkommen, die in einer Beziehung von Wirt und Gast stehen. Entsprechend findet sich die Metapher der Einverleibung auch durch diesen Verweis auf Bakterien, Pflanzen oder Tiere, die sich größeren Organismen anhaften, sich von ihnen ernähren und eine Symbiose mit diesen eingehen.238 Abbildung 100: Ernesto Neto: O Mundo e o Mundo, 1999

237 Vgl. WILSON, 2010, S. 84. 238 Die mit rotem Annato-Samen gefüllten Nylonsäcke in O Mundo e o Mundo lassen sich aus unterschiedlichen Werkserien Netos ableiten. In der Serie der mit Piff, Paff, Poff oder Puff onomatopoetisch betitelten Arbeiten, die ab 1996 entstehen, füllt Neto NylonSäcke mit farbigen Gewürzen und Sand und lässt diese kraftvoll fallen, wodurch eine farbige Umrandung des Sackes auf dem Boden entsteht, der die Kontur desselben nachzeichnet. Schon hier manifestiert sich Netos später weiter ausgearbeitete Vorstellung des Kunstwerks als Körper, da eine Analogie zu einem fallengelassenen Körper hergestellt wird und eine Auseinandersetzung mit Bewegung und Gewicht stattfindet. Den hierzu analogen Gegenpart stellt Netos Serie der Copulônias dar, in der er Nylonsäcke mit kleinen Bleikugeln befüllt und auf dem Boden des Ausstellungsraumes arrangiert. Der Titel der Serie ist ein Neologismus, der sich aus der Zusammensetzung der Wörter colónia [Kolonie, Siedlung] und (se-)copular [sich paaren] bildet, wobei die einzelnen Objektansammlungen Eigennamen wie Família [Familie] oder Mãe e filho [Mutter und Kind] bekommen und so eine menschliche Personifizierung erhalten.

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Animalische Referenzen finden sich ebenfalls in Elementen der Installation Paxpa. So verweisen die bereits mit Dendriten assoziierten Ausläufer der Raumskulptur, die diese am Boden halten, auf die mit Haftscheiben versehenen Finger und Zehen eines Frosches. Daneben bilden die von der Decke hängenden Nylontropfen teilweise rüsselartige Formen. In Referenz auf die Vorstellung der Huni Kuin, nach der die Übergänge zwischen Mensch und Natur fließend sind, schafft Neto so ein körperliches Hybrid aus menschlichen, animalischen und pflanzlichen Elementen. 239 Der von Viveiros de Castro beschriebene indigene Multinaturalismus geht davon aus, dass alle Bewohner/innen des Kosmos eine Seele und somit Geist und Kultur besitzen. Da Körper und Geist in indigenen Kulturen ein Kontinuum darstellen, ergibt sich in der indigenen Mythologie konsequenterweise die Vorstellung, dass alle Wesen permanente Metamorphosen durchlaufen. Der Körper wird innerhalb dieser Verwandlungsprozesse als Kleidung verstanden, die von den Wesen in unterschiedlichen Situationen gewechselt werden kann und diesen bestimmte Fähigkeiten verleiht.240 Identität wird in indigenen Mythen somit stets als wandelbar und durchlässig erfahren, was Neto für seine Werke aufgreift: „My work does not have a clear identity, everything is interrelated. Nothing is alone. Everything relates to something else at any given moment, it is a temporary thing.”241

Cliff Lauson resümiert jedoch treffend: „Critically, for Neto, the interest in and heightened consciousness of the self is not something that is specific to a Brazilian context. The work of Viveiros de Castro on the Amerindians is a kind of cipher for the much broader consideration of the complexities and intricacies of human relationships. In everyday life, this motif can be as straight-forward as addressing one’s perspective or point of view.”242

239 Folglich lässt sich auch der Untertitel der Installation, There is a Forest Encantada Inside of Us, erklären, der darauf anspielt, dass der Mensch Teil der Natur ist. 240 Vgl. VIVEIROS de CASTRO, Eduardo: A inconstância da alma selvagem e outros ensaios de antropologia, São Paulo: Cosac & Naify, 2002, S. 345ff.; sowie LAUSON, Cliff: Intimate Immensity, in: Ralph Rugoff (Hrsg.): Ernesto Neto: The Edges of the World, Ausst.-Kat. Hayward-Gallery, New York, New York: Hayward Publishing, 2010, S. 10-17, hier: S. 13f. 241 Ernesto Neto im Interview mit Petra Joos, in: Petra Joos (Hrsg.): Ernesto Neto: el cuerpo que me lleva /The Body that Carries Me, Ausst.-Kat. Museo Guggenheim Bilbao, Barcelona: Ediciones Polígrafa, 2014, S. 20-29, hier: S. 24. 242 LAUSON, 2010, S. 14.

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Abbildung 101: Hans Arp: Träumender Stern (Astre en rêve), 1958

Im Sinne des anthropophagen Konzepts beinhalten Netos Arbeiten auch eine Vereinnahmung des Werkes von Hans Arp, das er mit der neokonkreten und tropikalistischen Tradition seines Landes verbindet und somit weiterführt. Parallelen zu Arps Œuvre bestehen auf formalästhetischer wie auch auf inhaltlicher Ebene. 243 So findet sich in Netos weich fließendem, biomorphem Formenvokabular eine Analogie zur organischen Abstraktion, die Arp in den 1930er Jahren prägte. Seine zumeist aus Bronze oder Marmor geschaffenen Skulpturen (Abb. 101) stehen als „Sinnbilder der ewigen Verwandlung und des Werdens der Körper.“244 Dabei erscheint das Symbol des Nabels bereits seit den 1910er Jahren als wiederkehrendes Element des Arpschen Bildvokabulars. Dieser ist für den Künstler Ausdruck der Verbundenheit des Menschen mit der Natur, da er bei allen Säugetieren vorhanden ist. In seiner biologischen Funktion der Verbindung zweier Lebewesen steht der Nabel als elementares Zeichen für den Ursprung der Natur schlechthin.245 Unter Bezug auf diesen Themenkomplex und unter Berücksichtigung von Netos vielfältigen Verweisen

243 Neto konstatiert selbst, dass seine Kunst eine Weiterentwicklung des Arpschen Ansatzes sei: „I start where Arp stopped.“ Ernesto Neto in einem unveröffentlichten Gespräch mit Astrid von Asten, zit. n. von ASTEN, Astrid: Sinnbilder der ewigen Verwandlung und des Werdens der Körper. Zu den biomorphen Werken von Hans Arp und Ernesto Neto, in: Oliver Kornhoff (Hrsg.): Ernesto Neto. Haux Haux, Ausst.-Kat. Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Köln: Strzelecki Books, 2014, S. 18-26, hier: S. 19. 244 ARP, Hans: Sophie Taeuber, in: Ders.: Unsern täglichen Traum: Erinnerungen, Dichtungen und Betrachtungen aus den Jahren 1914-1954, Zürich: Verlag der Arche, 1955, S. 12. 245 Vgl. WALLNER, Julia: Hans Arp – Die Welt durch einen Nabel sehen, in: Dies. (Hrsg.): Hans Arp. Nabel der Avantgarde, Ausst.-Kat. Georg Kolbe Museum, Berlin, Berlin: H. Heenemann, 2015, S. 17-25, hier: S. 17ff.

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auf Schwangerschaft und Geburt können die runden Hohlräume oder Einstülpungen, die sich wiederholt in Netos Werk finden, ebenfalls mit dem Symbol des Nabels assoziiert werden. Entsprechend lassen sich die Seile, welche teilweise durch die offenen Durchgangszonen in der Kuppelkonstruktion von Paxpa geführt sind, als Verweise auf Nabelschnüre deuten. Netos Vorgehen, in seiner Installation Paxpa den Arpschen Ansatz aufzunehmen und durch seinen Bezug auf das Volk der Huni Kuin und die Weiterführung tropikalistischer Anliegen mit dem brasilianischen Kontext zu verbinden, steht in Analogie zu Cildo Meireles’ Rezeption der Antropofagia. Während Meireles jedoch in Arbeiten wie Zero Cruzeiro unter Aufnahme der amerikanischen Pop Art die Position des postkolonialen marginalisierten Subjekts thematisiert und somit eine Emanzipationsgeste vollzieht, ist Netos Bezug auf die indigene Kultur nicht als postkoloniale Widerstandshaltung zu lesen. Es geht in Netos Adaption des anthropophagen Konzepts nicht mehr um das Fressen einer übermächtigen Kolonialkultur, sondern der Künstler lässt in seinen Werken gleichsam die Natur den Menschen verschlingen,246 um diesen zu einer sinnlichen Erfahrung zu führen, die Körper und Geist in Einklang bringen möchte. Die Dichotomie von Organischem und Rationalität, die Neto in seinem künstlerischen Ansatz aufzulösen versucht, beruht nicht primär auf der Opposition von brasilianischer und westlicher Kultur, sondern lässt sich auf einer universelleren Ebene fassen. Der darin gleichwohl enthaltene Therapiecharakter wird von der postkolonialen Stoßrichtung der modernistischen und tropikalistischen Projekte losgelöst betrachtet. So konstatiert der Künstler: „Although our reality is the space in which the conflict between biology and technology is played out, in spite of all the paraphernalia, lights, buildings, planes, computers, etc…. we are descendants of the amoeba. The aim of my work is to open a space in which these conflicting

246 Thomas Miesgang analysiert Netos Weiterführung tropikalistischer Inhalte in Bezug auf seine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Antropofagia auf ähnliche Weise: „Die multisensorische Praxis Ernesto Netos ist […] auch und vor allem im Zusammenhang mit jenem philosophischen Konzept zu diskutieren, das die tropikalistische Bewegung von Beginn an inspirierte und determinierte: der Anthropophagie. […] Ernesto Netos neotropikalistische Appropriation der anthropophagischen Kulturtheorie und –praxis, die sich viele Jahre später unter völlig veränderten politischen Rahmenbedingungen vollzog, funktionierte nach dem Prinzip Inversion: Während die tropikalistische Bewegung […] mit fremden Kulturen, vor allem jener der Kolonialmächte, kannibalisch verfuhr, konstruiert Neto archaische Szenarien, die an paläolithische Tropfsteinhöhlen oder an urtümliche Ungeheuer erinnern.“ MIESGANG, 2015, S. 64ff.

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realities can be reconciled in an intellectual and sensorial universe that lets me breathe freely, if only for a moment.”247

Aufhebung binärer Geschlechterordnungen Ernesto Netos organisch-körperliche Formensprache ist stark von männlich und weiblich konnotierten Elementen geprägt. So evozieren schlauchartige Gebilde, zapfenförmige Ausstülpungen und vulvenartige Öffnungen Assoziationen zu Geschlechtsorganen, die oftmals eine Verbindung miteinander eingehen und so dezidiert auf den Sexualakt hinweisen. Entsprechend findet sich ebenso die Embryonalform als wiederkehrendes Motiv. Insbesondere die hängenden, mit Gewürzen gefüllten Tropfen aus Polyamid fungieren als Phallussymbol. 248 Schließlich hat das Material des Polyamids selbst einen spezifisch weiblichen Charakter, indem es für die Herstellung von Damenstrumpfhosen verwendet wird. Neto selbst legt eine genderperspektivische Lesart seiner Installationen nahe, indem er dem mit seinen charakteristischen Eigenschaften der Glätte, Härte und klaren Geometrie als maskulin attribuierten White Cube die stofflichen, weichen und somit femininen Formen seiner Skulpturen entgegensetzt: My textile sculptures are built with mathematics and sensitiveness. On the other hand, cloth is a much more delicate material and its manufacture involves a kind of feminine universe, while the more masculine and tough side is reserved for the installation, which sometimes becomes a real war.249 247 NETO, Ernesto: Parallel Times, in: José Jiménez (Hrsg.): El final del eclipse: el arte de América Latina en la transición al siglo XXI, Ausst.-Kat. Museo Extremeño e Iberoamericano de Arte Contemporâneo, Badajoz, Madrid: Fundación Telefónica, 2001, S. 212. Der Begriff der Zivilisation wird auch in Meireles’ Text Southern Cross auf die Hauptstädte im eigenen Land übertragen. Im Gegensatz zu Neto basiert die Gegenüberstellung von Natur und Zivilisation in Meireles’ Text jedoch grundlegend auf der Opposition zwischen der kolonisierten Kultur und der ehemaligen Kolonialmacht beziehungsweise der neokolonialen Machtausübung durch die USA. 248 Vgl. MALBRÁN, Florencia: Is it day or is I night?, in: Gunnar Kvaran/Ernesto Neto (Hrsg.): Ernesto Neto. Intimacy, Ausst.-Kat. Astrup Fearnley Museum of Modern Art, Oslo, Oslo: Astrup Fearnley Museum of Modern Art, 2011, S. 17-19, hier: S. 18. 249 Ernesto Neto in einem unbetitelten Statement in: Cecilia Pereira (Hrsg.): Ernesto Neto. O Corpo, Nu Tempo, Ausst.-Kat. Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela, Santiago de Compostela: Palabras del arte, 2001, S. 302. An anderer Stelle spricht Neto davon, dass seine Kunst eine feminine Praxis durch die Hand eines Mannes sei. Vgl. HERKENHOFF, Paulo: Ernesto Neto, in: Ralph Rugoff (Hrsg.): Psycho Buildings: Artists Take on Architecture, Ausst.-Kat. Hayward Gallery, London, London: Hayward Publ., 2008, S. 110-121, hier: S. 112.

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Die binären Geschlechterkategorien werden von Neto in seinen Arbeiten in einem zweiten Schritt strategisch aufgelöst. So konstatiert Hans-Peter Wipplinger: „Signifikant ist Netos Tendenz, eine Verbindung dieser divergierenden Elemente – oft in ein und derselben organischen Architektur oder Skulptur – herzustellen und damit eine Metapher der Einheit der Geschlechter zu formulieren.“ Der Autor spricht weiterhin von einer „positiv konnotierten Vereinigung und damit der Absage einer Isolation zwischen den Geschlechtern,“250 die in Netos Kunst zum Tragen komme. Indem Neto androgyne, mutierte Körper entwirft, werden die gängigen, sozial akzeptierten Kategorien von Geschlecht verworren und unterwandert. 251 Abbildung 102: Ernesto Neto: Leda, 1989

Entsprechend findet sich in der Skulptur Leda von 1989 (Abb. 102) die offensichtliche Analogie zu einem Phallus, der durch seine zusammengerollte Position eine Vertiefung bildet, die wiederum Assoziationen zur Vulva herstellt. Zugleich fördert die Form des Objekts den Gedanken an die Embryonalstellung des menschlichen Fötus im Mutterleib, wodurch die Aspekte Sexualität und Geburt angesprochen werden. Der Titel der Skulptur bezieht sich auf den griechischen Mythos von Leda, der als bekanntes Sujet der Kunstgeschichte beispielsweise von Michelangelo malerisch festgehalten wurde.252 Wie in seiner Installation Globiobabel nudelioname 250 WIPPLINGER, 2015, S. 40. 251 Vgl. LÓPEZ, Miguel A.: The Best Is Yet to Come. Vibration, Collapse, Sculpture, Neto, in: Adriano Pedrosa: La Lengua de Ernesto. Ernesto Neto. Obras 1986-2011, Ausst.-Kat. Museo de Arte Contemporáneo de Monterrey/Faena Arts Center, Buenos Aires, Mexico 2011, S. 21-25, hier: S. 22. 252 Schon aus der Antike sind ikonographische Darstellungen der Verführungsszene erhalten, in denen Leda zumeist sitzend oder liegend dargestellt ist, während sich der Schwan ihr zu einem Kuss nähert oder sie umarmt. Die Künstler des 15. und 16. Jahr-

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landmoonaia greift Neto somit erneut einen bekannten Topos der europäischen Kultur- und Kunstgeschichte auf und formuliert ihn um, womit er in der Tradition der anthropophagen Aneignung steht. Ähnlich wie die alttestamentarische Erzählung von Babel eröffnet auch jener griechische Mythos von Leda einen Hybriditätsdiskurs. Leda war die Tochter des ätolischen Königs Thestios und der Eurythemis. Zeus verliebte sich in Leda, woraufhin er sich ihr in Gestalt eines Schwanes näherte und sie schwängerte. Doch auch Ledas Gemahl, der spartanische König Tyndareos, schlief in dieser Nacht mit ihr. Leda gebar daraufhin zwei Eier, von jeweils einem der beiden Männer befruchtet, mit vier Kindern. Der Aspekt des Hybriden, der in der Geschichte durchgängig zum Tragen kommt, wird weitergeführt, indem die von Zeus gezeugten Kinder Helena und Polydeukes unsterblich, jene von Tyndareos, Klytaimnestra und Kastor, dagegen sterblich waren.253 Indem Neto auf eine mythologische Frauenfigur referiert, die er in einer phallischen Form ausdrückt, stellt seine Skulptur ein geschlechtliches Hybrid dar. Netos hybride Verfahrensweise kommt nicht nur in seiner Formgebung und in der Thematik zum Tragen, sondern auch in der Materialwahl. So besteht die Füllung der aus Polyamidgewebe hergestellten Haut der Skulptur aus Styropor- und Bleikugeln, wodurch feste und weiche Materialien sowie die hiermit verbundenen Gender-Attribuierungen eine Symbiose eingehen. Da der Topos der Anthropophagie wie kaum ein anderer den prekären Status von Grenzen und Differenzen repräsentiert, eignet er sich nicht nur zu einer Auseinandersetzung mit Identität in interkultureller, sondern auch in intergeschlechtlicher Perspektive. Wie bereits in der Analyse der Werke von Adriana Varejão und Anna Maria Maiolino aufgezeigt werden konnte, wird das Andradsche Konzept in der zeitgenössischen Rezeption dazu genutzt, in die Hierarchisierung der Geschlechter verändernd einzugreifen und feministische Standpunkte zu formulieren. Die zeitgenössische Adaption der Antropofagia durch Ernesto Neto birgt zudem das Potenzi-

hunderts orientierten sich in ihren Gemälden und Skulpturen weitestgehend an dieser Darstellungsweise. In der Renaissance griff Filarete das Motiv in einem Relief auf der Bronzetür des Petersdoms in Rom auf, darauf folgten einige Skizzen und zwei Gemälde Leonardo da Vincis. Von Michelangelos verschollener, liegender Leda gibt es zahlreiche Kopien. Seine Darstellung wurde zur Grundlage für viele Variationen nachfolgender Maler. Vgl. RAGIONIERI, Pina (Hrsg.): Michelangelo. La “Leda” e la seconda Repubblica fiorentina, Ausst.-Kat. Palazzo Bricherasio, Torino/Rheinisches Landesmuseum, Bonn, Mailand: Silvana Editoriale Spa, 2007, S. 157f. 253 Vgl. RANKE-GRAVES, Robert: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997 (1955), S.184ff.

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al, geschlechtliche und sexuelle Identitätskategorien selbst in Frage zu stellen, was ein queeres Anliegen ist.254 Abbildung 103: Ernesto Neto in Zusammenarbeit mit Murillo Meirelles: O escultor e a deusa, 1995 Abbildung 104: Anonym: Venus von Willendorf, 25.000 v. Chr.

Die Fotografie O escultor e a deusa [Der Bildhauer und die Göttin] von 1995 (Abb. 103) steht innerhalb Netos Œuvres als emblematische Grundlage seines skulpturalen Ansatzes, in dem die Metapher der Anthropophagie für eine Aufhebung essentieller Kategorisierungen in Bezug auf Körper und Geschlecht genutzt wird. Einen anthropophagen Akt evozierend, zeigt die Fotografie den Mund des Künstlers, in dem eine nackte Frauenfigur aus Gips gehalten wird. Neto referiert hierin auf die Figur der Venus aus der griechischen Mythologie, der Göttin der Liebe, des erotischen Verlangens und der Schönheit, und verweist auf die Anfänge der Bildhauerkunst. Die in der Fotografie abgebildete Figur weist signifikante formale Ähnlichkeiten mit den Venusfigurinen der Altsteinzeit auf, die mit ihren stark ausgeprägten weiblichen Merkmalen durch die besondere Akzentuierung der Brüste und des Gesäßes als Fruchtbarkeitsgöttinnen fungierten (Abb. 104). In Kontrast zu

254 Die Queer Studies entwickelten sich zu Beginn der 1990er Jahre im angloamerikanischen Raum als akademische Forschungsrichtung und politisch-aktivistische Bewegung. Sie beschäftigen sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit Fragestellungen der sexuellen Identität. Grundlegendes Anliegen ist es, das in der Gesellschaft vorherrschende heterosexuelle Denken und Handeln, das abweichende Lebensmodelle diskriminiert, in Frage zu stellen. Vgl. KRAß, Andreas: Queer Studies – eine Einführung, in: Ders. (Hrsg.): Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 7-30, hier: S. 15ff.

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kunsthistorischen Darstellungen der Venus Pudica wie jener Sandro Botticellis, in der die Göttin trotz ihrer Nacktheit kein Symbol der körperlichen, sondern eines der geistigen Liebe und der Keuschheit darstellt, bezieht sich Neto in seiner Fotografie erneut auf die Werte von Sinnlichkeit und Erotik.255 Ernesto Neto evoziert ebenso eine Geburt im Sinne des künstlerischen Schöpfungsaktes wie auch eine Einverleibung der selbst geschaffenen Skulptur. Diese Geste steht in Korrespondenz zu Anna Maria Maiolinos Video In-OutAntropofagia, in der das Überschreiten der Grenze zwischen Körperinnerem und – äußerem durch das Gebären und wieder Einsaugen eines Eies vorgeführt wird. Wird die strategische Verbindung zwischen Mund und Vagina im Werk Maiolinos aber als weibliche Aggressivitäts- und Emanzipationsgeste lesbar, die sich als anthropophager Akt gegen den Mann richtet, geht Netos künstlerischer Ansatz einen Schritt weiter, indem er irritierende Verschiebungen zwischen den Geschlechtern herbeiführt. In seiner Fotografie wird der Mann zum Gebärenden, während die Frau aufgrund ihrer vertikalen Form auch phallisches Symbol ist. Elisa de Souza Martinez kommt in ihrer Analyse der Fotografie daher zu der Beobachtung, dass Neto die Oppositionen von männlich und weiblich in einem geschlechtlichen Synkretismus miteinander verschmilzt, bei dem es um die anthropophage Einverleibung der Frau durch den Mann wie umgekehrt geht.256 Netos Geste, mittels der Strategie der Einverleibung eine Verschiebung starrer Geschlechtergrenzen zu vollziehen, kommt insbesondere in seinen seit 2001 entstehenden Humanóides [Menschenähnliche] zur Ausformulierung, welche weiße oder lachsfarbene, mit Styropor gefüllte Polyestersäcke unterschiedlicher Größe darstellen (Abb. 105). Das Konzept vom interaktiven Kunstwerk, das als anthropophager Körper fungiert, wird in den Humanóides weitergeführt, indem die Skulpturen Hohlräume enthalten, in welche die Rezipient/innen hineingreifen oder -kriechen können, um darin Platz zu nehmen. Die Objekte fungieren somit als Sitzmöbel oder 255 Vgl. de SOUZA MARTINEZ, Elisa: O escultor, a deusa e as histórias de canibalismos, XXIV Congresso Brasileiro da Comunicação, Campo Grande/MS, 2001, URL: http://www.academia.edu/5594930/O_escultor_a_deusa_e_as_hist%C3%B3rias_de_canibalismos (Zugriff: 19.03.2016), S. 2f.; sowie WIPPLINGER, 2015, S. 54. Die gewöhnlich weniger als zehn Zentimeter großen Venusfigurinen waren aus Elfenbein, Keramik oder Stein gefertigt, wie die 1908 in Österreich gefundene und auf 25.000 v. Chr. datierte Venus von Willendorf. Wegen ihrer Nacktheit wird die altsteinzeitliche Frauenfigurine als Venus impudique [schamlose Venus] bezeichnet. Damit steht sie konträr zu Darstellungen der Venus pudica [schamhafte Venus] der griechisch-römischen Antike und Renaissance, in denen die Scham meist verhüllt ist. Vgl. ANTL-WEISER, Walpurga: Die Frau von W. Die Venus von Willendorf und die Geschichte(n) um ihre Auffindung, Wien: Verlag des Naturhistorischen Museums, 2008, S. 135ff. 256 Vgl. de SOUZA MARTINEZ, 2001, S. 12.

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Kleidung, in denen man verweilen oder sich im Raum fortbewegen kann. Dies kann das Gefühl auslösen, in simultaner Weise zurück in einen fötalen Zustand zu gelangen wie sich selbst in Schwangerschaft zu befinden.257 In Analogie zu Clarks Arbeit O Eu e o Tu: Série Roupa-Corpo-Roupa verfügen auch die Humanóides im Außenwie im Innenbereich über Taschen, in welchen verschiedene Materialien und Gegenstände erfühlt werden können, die gezielt Assoziationen zu Geschlechtsorganen suggerieren. So erweist sich das Kunstwerk in der Verschmelzung mit seinem/r jeweiligen Träger/in als androgyner Körper, der in sich eine Vielzahl geschlechtlicher Elemente vereint, die in ihrer Gesamtheit keine klare Einordnung in die traditionellen Klassifikationsschemen von Sexualität mehr erlauben. Die Skulptur verformt den menschlichen Körper, der in sie hineinschlüpft, in einen fragilen Mutanten. Die Rezipient/innen erfahren sich somit selbst als geschlechtliche Hybride.258 Abbildung 105: Ernesto Neto: Humanóides, 2001

Indem geschlechtliche Identität in Netos Werken unter Anwendung anthropophager Ideen als hybrider Raum vorgestellt wird, der offen ist für Verhandlungen, lässt sich sein künstlerischer Ansatz mit der dekonstruktivistischen Geschlechterforschung in Bezug setzen. Judith Butler kritisiert in ihren theoretischen Konzepten zu Identität und Geschlecht das traditionelle binäre System der Geschlechterbeziehungen, das sich durch den Ausschluss abweichender Geschlechtsidentitäten und Grenzziehungen konstituiert. Ausgehend von der These, dass das soziale Geschlecht keinen naturgegebenen kausalen Zusammenhang mit dem biologischen Geschlecht hat, sondern kulturell konstruiert wird, wird eine Pluralität von Geschlechtsidentitäten

257 Elisabeth Schlebrügge bezeichnet diese Erfahrung mit der Umschreibung von „ImBauch-Sitzen“ und „Einen-Bauch-Haben“. SCHLEBRÜGGE, Elisabeth: Ernesto Neto: Odysee im Kunstraum, in: Peter Pakesch (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Kunsthalle Basel, Basel: Schwabe, 2002, S. 5-8, hier: S. 6f. 258 Vgl. LÓPEZ, 2011, S. 23.

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denkbar.259 Butlers Argumentation folgend formuliert Neto in seinem künstlerischen Ansatz ein fluides Körperkonzept, das nicht an die Einordnung in eine Kategorie des Geschlechts gebunden ist, sondern unzählige mögliche Geschlechtsidentitäten eröffnet. Eine Strategie Butlers ist es, durch parodistische Praktiken in die performative Wiederholung der Geschlechterrollen einzugreifen, um so die binären Kategorien des Geschlechts und der Sexualität zu subvertieren. In Analogie zur Travestie legen Netos Humanóides entsprechend den Rezipient/innen nahe, neue Geschlechtsidentitäten einzunehmen, wenn sie beispielsweise in einem Mann das Gefühl hervorrufen, sich in Schwangerschaft zu befinden und so in den Körper einer Frau zu schlüpfen. Mit seinen androgynen Körperskulpturen parodiert der Künstler im Sinne Butlers die Vorstellung von einer ursprünglichen geschlechtlich bestimmten Identität.260 Die anziehbaren Stoffskulpturen, die Analogien zu Maskerade und Parodie enthalten, sind zudem aufs engste mit Oiticicas Parangolés und dessen Bezug auf den Karneval verbunden. Richard Parker stellt in seiner Publikation Bodies, Pleasures, and Passions: Sexual Culture in Contemporary Brazil heraus, dass es ein zentrales Anliegen des brasilianischen Karnevals ist, durch die Travestie eine Inversion von Geschlechterrollen zu vollziehen, indem diese verdreht und parodiert werden: „Grotesque, diabolical, or monstrous figures combine the body parts of male and female in order to create ambigious androginos (androgens). Men transform themselves into women, and women into men. Indeed, no symbolic form dominates the symbolism of the festival as completely transvestism.”261

Die als (Ver-)Kleidung fungierenden Werke Oiticicas und Netos, welche die Rezipient/innen einverleiben, lassen in diesem Zusammenhang eine karnevaleske Lesart zu.262 Anhand einer Analyse der Lachkultur, worunter er insbesondere den Karneval 259 Vgl. BUTLER, 2014 (1990), S. 22f., 206f. 260 Butler konstatiert entsprechend: „Der hier verteidigte Begriff der Geschlechter-Parodie (gender parody) setzt nicht voraus, dass es ein Original gibt, das diese parodistischen Identitäten imitieren. Vielmehr geht es gerade um die Parodie des Begriffs des Originals als solchem. […] Diese fortwährende Verschiebung ruft eine fließende Ungewißheit der Identitäten hervor, die ein Gefühl der Offenheit für deren Re-Signifizierung und ReKontextualisierung vermittelt. Die parodistische Vervielfältigung der Identitäten nimmt der hegemonialen Kultur und ihren Kritiken den Anspruch auf naturalisierte oder wesenhafte geschlechtlich bestimmte Identitäten.“ Ebd., S. 203. 261 PARKER, Richard G.: Bodies, Pleasures, and Passions: Sexual Culture in Contemporary Brazil, Boston: Beacon Press, 1991, S. 145. 262 Eine karnevaleske Lesart findet sich auch bei Alexandra Karentzos in Bezug auf Oiticicas Parangolés. Vgl. KARENTZOS, 2014, S. 263. Katya Garcia-Anton zeigt in ihrem

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zählt wie auch das volkstümlich-festliche Leben im allgemeinen, definiert Michail Bachtin das Karnevaleske als eine von Hybridität bestimmte, subversive Kraft, die in der Lage ist, eine offizielle Macht oder Ideologie zu dezentralisieren. 263 Analog zu Bachtins Verständnis des Karnevalesken realisiert Neto in seinen Werken die Vorstellung eines grotesken Körpers, der „ein werdender [ist]. Er ist nie fertig und abgeschlossen, er ist immer im Entstehen begriffen und erzeugt selbst stets einen weiteren Körper; er verschlingt die Welt und läßt sich von ihr verschlingen.“ 264 Katalogtext ebenfalls Verbindungen von Netos Kunst zum brasilianischen Karneval und Bachtins Konzept der Karnevalisierung auf und bemerkt, dass in Netos Arbeiten die von Bachtin beschriebene Fluidität evident wird. Vgl. GARCIA-ANTON, Katya: Ernesto Neto – Gramatica Jocosa, in: Dan Cameron (Hrsg.): Ernesto Neto, Ausst.-Kat. Institute of Contemporary Arts London, Manchester: Cornerhouse Publications, 2000, S. 2631, hier: S. 27. 263 Der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin entwickelte sein kulturhistorisches Konzept der Karnevalisierung in seinem 1940 als Dissertation eingereichtem Rabelais-Text. Darin analysiert er die mittelalterliche Karnevalszeit als geduldeten Tabubruch, in der sich das Volk für eine begrenzte, aber legale Zeit gegen Obrigkeit, Autorität und Macht wenden darf. Symbole der repressiven Staatsmacht werden dabei umgestülpt und ins Lächerliche gezogen. Das Karnevaleske beinhaltet damit freiheitliche, anti-hierarchische Tendenzen, wobei das kollektive Lachen als Befreiung erlebt wird. Der Karneval basiert nach Bachtin auf dem Prinzip der Hybridität, da er heterogene, aus verschiedensten Bereichen stammende kulturelle Elemente in sich vereint. Vgl. BACHTIN, Michail: Rabelais und seine Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995 (1940), S. 58ff. Robert Stam hat einige Analogien zwischen der Antropofagia und Bachtins Konzept der Karnevalisierung herausgearbeitet. De Andrades ironische Umformulierung der Figur des Anthropophagen entspricht nach Stam einer parodistischen, karnevalesken Strategie, mit der eine Machtverschiebung zwischen Kolonisierten und Kolonialherren herbeigeführt wird und eine humorvolle Desakralisierung der europäischen Moderne wie der eigenen kulturellen Produktion stattfindet. Vgl. STAM, Robert: Subversive Pleasures. Bakthin, Cultural Criticism, and Film, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press, 1989, S. 125f. 264 BACHTIN, 1995 (1940), S. 358. Eine groteske Motivik besteht nach Bachtin u.a. aus Körperfragmenten, der symbolischen Überhöhung und Hervorhebung einzelner Organe, insbesondere der Geschlechtsorgane, androgynen Motiven sowie der permanenten Bewegung und Wandlung der Maskerade. Besondere Bedeutung kommt hierbei den Ausstülpungen und Öffnungen des Körpers zu, da „an ihnen die Grenze zwischen zwei Körpern oder Körper und Welt überwunden wird.“ Ebd., S. 359. Der groteske Leib wird weiterhin kollektiv, stets in Verbindung mit anderen Körpern gedacht. Der eigene Körper kann dabei nicht von fremden Körpern oder auch der Außenwelt getrennt verstanden werden. Neben der Aufhebung der Körpergrenzen nach Außen wird auch die Gren-

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Neto entwickelt in seinen sexualisierten, jedoch stets androgynen Skulpturen ein fluides Körperkonzept, in dem Grenzen als offene Zonen des Kontakts, des Übergangs und der Vereinigung ausgewiesen werden. Wenn auch Netos Werken nicht dieselbe politische Dimension zugesprochen werden kann, wie sie der modernistischen und tropikalistischen Bewegung inhärent war,265 wird somit doch augenscheinlich, dass sein künstlerischer Ansatz das subversive Potenzial des Andradschen Konzepts fortführt. Da Identität im Werk Netos als instabil und hybrid gedacht wird, steht seine Rezeption der Antropofagia analog zu den Werken Meireles’ und Varejãos, wobei er sich von der Auseinandersetzung mit kolonialen Repräsentationen loslöst. Während die Beschäftigung mit Aspekten von Migration und Ethnizität im Werk Maiolinos einen zentralen Stellenwert einnimmt, fokussiert Neto auf die Analyse identitätsstiftender Prozesse in Bezug auf Körperlichkeit und Geschlecht, wodurch er die Antropofagia weiterführt und aktualisiert. Ricardo Basbaum: neue Formen des kollektiven Körpers Entstanden in den späten 1920er Jahren, verlor das Konzept der Antropofagia mit der Aktualisierung im 21. Jh. seine nationalen Spuren und öffnete sich zu Strategien der Vielfalt und der Hybridisierung. [Heute] muss der Schwerpunkt des Konzepts, die Verschiedenheit als strategische Basis für ein Projekt der fortdauernden Hybridisierung, hervorgehoben werden. Betrachtet man es als eine Form von wandelnder Macht, kann Antropofagia behilflich sein, die Fallen des Totalitären zu umgehen, die sich als rein und uniform zeigen. 266 Ricardo Basbaum

ze zwischen der Körperhülle und seinen inneren Organen in Bachtins Konzeption des Grotesken aufgelöst, wodurch die Berührungspunkte zu Netos Werken aufscheinen. Vgl. ebd., S. 359, 363. 265 Vgl. BASUALDO, Carlos: Ernesto Neto. Eighteightnineeight, Ausst.-Kat. Galeria Camargo Vilaça, São Paulo, São Paulo: Galeria Camargo Vilaça, 1998, S. 12. 266 Ricardo Basbaum in einem Statement zur Vortragsreihe Entre Pindorama: Antropofagia Gestern & Heute am 29./30.10.2004 im Künstlerhaus Stuttgart, URL: http:// kuenstlerhaus.de/entre-pindorama-antropofagia-gestern-heute-vortragsseminar/? lang=de (Zugriff: 09.08.2016).

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Auch der 1961 in São Paulo geborene Künstler Ricardo Basbaum versteht das Konzept der Antropofagia heute als künstlerische Methode, die jenseits der Polaritäten der 1920er Jahre gedacht wird. In seiner zeitgenössischen Adaption der Ideen de Andrades und in Weiterführung von Lygia Clarks Konzept der linha orgânica zielt das Gesamtwerk Basbaums auf die Schaffung eines hybriden Kollektivkörpers im Sinne einer lebenden biologischen Skulptur. Strategischer Ausgangspunkt hierfür stellt die grundlegende Verschiedenheit zwischen Individuen jenseits nationaler Grenzen dar. Seine vorrangig in den Bereich der Aktions- und Performancekunst einzuordnenden Arbeiten sind auf den produktiven Dialog zwischen den Rezipient/innen ausgerichtet, die innerhalb der Kunsterfahrung einen Transformationsprozess durchlaufen, aus dem sie mit einer hybriden Identität hervortreten. So erkennt Basbaum das Wesen einer jeden Kultur als stetigen Prozess wechselseitiger Einverleibungen. Eröffnung transkultureller Räume der Kommunikation Seit 1990 konzentriert sich die gesamte künstlerische Arbeit Ricardo Basbaums auf das Projekt NBP - Novas Bases para a Personalidade [NBP – Neue Basis für eine Persönlichkeit], worunter unterschiedliche Aktionen gebündelt werden, in denen die Rezipient/innen in kommunikative Handlungen involviert werden, die eine Veränderung und Erweiterung der Persönlichkeit einfordern. Im Mittelpunkt steht hierbei das 1994 initiierte und als work in progress konzipierte Projekt Você gostaria de participar de uma experiência artística? [Würden Sie gerne an einer künstlerischen Erfahrung teilnehmen?]. Vom Künstler mit der Absicht entwickelt, Akteure verschiedener Orte zusammenzuführen, die „trotz ihrer unterschiedlichen Bezüge, Hintergründe und Einschreibungen eine Kontaktzone finden,“267 eröffnet das Projekt Strategien zur Schaffung transkultureller Räume des Austauschs und Dialogs, wodurch das anthropophage Konzept weitergeführt wird. Das diese Dynamik auslösende Element stellt ein wannenartiges emailliertes Stahlobjekt dar, welches die spezifische Form eines an seinen Eckpunkten abgeflachten Rechtecks mit einer mittigen, kreisrunden Öffnung aufweist, womit es ebenso auf das Bild eines Auges wie auf einen Zellkörper referiert. 268 Bei dem 267 BASBAUM, Ricardo: Von „Love Songs“ zu anderen Rhythmen, in: Susanne Leeb (Hrsg.): Materialität der Diagramme. Kunst und Theorie, Berlin: b_books, 2012, S. 195214, hier: S. 208. 268 Bereits Ende der 1980er Jahre nutzte Basbaum das Auge als grafisches Zeichen für körperliche Wahrnehmung und Kommunikation und brachte es in Form von Stickern oder Bemalungen im öffentlichen Raum an, was bereits einen Versuch darstellte, die Passant/innen direkt anzusprechen und in den Kunstprozess zu involvieren. Gleichzeitig weist die Form Analogien zu einem Zellkörper auf, womit körperliche Referenzen aufscheinen. Vgl. Ricardo Basbaum im Interview mit Jens Maier-Rothe, 2009, URL:

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Objekt handelt es sich um ein Multiple, das beliebig neu produziert werden kann und keinen Anspruch auf Originalität erhebt. Jeweils eines dieser Objekte wird interessierten Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen für eine begrenzte Dauer von bis zu einem Monat zur freien Verfügung überlassen mit der einzigen Vorgabe, eine individuell gewählte künstlerische Erfahrung mit diesem zu realisieren. Entgegen einer musealen Präsentation wird das Kunstobjekt so in die Alltagswelt der Menschen integriert, die es beispielsweise als Backform, Pflanzenkübel, Spielzeug oder Waschhilfe benutzen (Abb. 106a). Die verschiedenen Erfahrungsformen werden durch die Teilnehmer/innen in einem zweiten Schritt auf der projekteigenen Homepage http://www.nbp.pro.br/ in Form von Texten, Videos oder Bildern dokumentiert, die somit als Archiv fungiert, in dem alle Handlungen zusammengeführt werden (Abb. 106b). Auch kann die Webseite als Forum des internationalen Austauschs über die Kunstaktion genutzt werden. 269 Die konkrete Handlung und deren Dokumentation im Internet werden dabei als sich bedingende und konzeptuell miteinander verbundene Teile des Projektes verstanden. Bisher wurden über 150 Erfahrungen in Süd- und Nordamerika, Europa und Afrika realisiert.270 Das Objekt fungiert dabei als Vehikel für eine Form des Networking zwischen den Teilnehmer/innen verschiedener Städte, Länder und Kontinente, die sich zum überwiegenden Teil nie persönlich kennengelernt haben. Die Dokumentation im Internet macht diese transkulturelle Verbindung visuell. Die konzeptuelle Nähe von Basbaums Projekts zur kulturellen Anthropophagie wird nicht nur durch den programmatischen Anspruch auf Hybridität, sondern auch anhand einer spezifischen Körpermetaphorik deutlich. So wird das virtuelle Archiv von Basbaum als ein membranartiger, kollektiver Körper verstanden, in dem sich nicht nur unterschiedliche Nationalitäten sammeln, sondern auch unterschiedliche Meinungen und Handlungsformen zusammengeführt werden, indem jede Persönlichkeit ihren eigenen Charakter sowie ihre subjektiven Erfahrungen und Konflikte in das Projekt einbringt. Somit wird die Differenz zwischen Individuen als produktive Ausgangsbasis für das Projekt einer Transformation gesehen, aus der jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin mit einer hybriden Identität hervortritt. Entsprechend wird die sensorielle Erfahrung, die die Rezipient/innen in der körperlichen Interaktion mit dem Objekt durchleben, von Basbaum als eine Inkorporation verstanden, womit er http://www.sonicthinking.org/downloads/ basbaum.pdf (Zugriff: 21.06.2016); sowie BASBAUM, Ricardo: Post-Participatory Participation, in: Diana Baldon/Ilse Lafer (Hrsg.): Counter-Production, Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien, Wien: Generali Foundation, 2012, S. 15-26, hier: S. 19f. 269 Die mehrsprachige Webseite beinhaltet eine Kommentar-Funktion, über die die Teilnehmer/innen Statements zu den Partizipationen abgeben können. 270 Vgl. Webseite zu Ricardo Basbaums Projekt Você gostaria de participar de uma experiência artística?, 1994, URL: http://www.nbp.pro.br/nbp.php (Zugriff: 12.12.2016).

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die Metaphorik der Antropofagia aufgreift und die im Tropicalismo entwickelten künstlerischen Strategien weiterführt.271 Abbildung 106a/b: Ricardo Basbaum: Você gostaria de participar de uma experiência artística?, work in progress seit 1994

271 Vgl. BASBAUM, Ricardo: “Would you like to participate in an artistic experience?”: critical novel, archive as membrane/“Você gostaria de participar de uma experiência artistica?”: romance crítico, arquivo como membrana, in: Octávio Camargo/Brandon LaBelle: Manual for the construction of a cart as a device to elaborate social connection/Manual para construção de um carrinho como um dispositivo para elaboração de conexões sociais, Berlin: Druckerei Conrad, 2009, S. 52-53, hier: S. 52.

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Mit der Benutzung des Kunstwerks durch die Rezipient/innen, die selbst entscheiden, welche Erfahrungen als solche erkannt und wie diese aufgezeichnet werden, realisiert Basbaum eine geteilte Autorschaft und vollführt eine Durchdringung von Kunst und Alltag, womit er Kritik an bestehenden Ausschlussmechanismen in der Erfahrung von Kunst übt und explizit auf das tropikalistische Projekt zurückgreift. In Weiterführung von Lygia Clarks Konzeption der linha orgânica272 vollzieht Basbaum die Durchdringung eines für die Kunstinstitution stehenden Innen mit dem Außen der Alltagskultur. Der Künstler selbst agiert lediglich als Initiator und Archivar, wobei der kreative Akt dem Publikum zugewiesen wird. Auch das Kunstobjekt tritt hinter der Erfahrung der Teilnehmer/innen zurück. Die Art und Weise, wie es durch diese belebt wird, ist ausschlaggebend für die Kunstproduktion.273 Das bestimmende Element des Projekts findet sich in der Weiterführung und Aktualisierung der tropikalistischen Konzeption des Kollektivkörpers. Entsprechend konstatiert Sabine Gebhardt Fink, bei Basbaums Projekt handele es sich um eine „kollektive soziale Praktik“, indem alle Teilnehmer/innen durch ein kollektives Interesse, die Teilnahme an einer künstlerischen Erfahrung, und ein kollektives Ziel, die Dokumentation der Handlungen in einem Archiv, miteinander verbunden seien. Wie der Tropicalismo versuche Basbaum heute, Formen des Kollektiven „in Form eines Ereignisses zu entwickeln.“274

272 Das konstitutive Element innerhalb Clarks Konzeption der linha orgânica besteht nach Basbaum in der „Produktion eines neuen Raums (das heißt: Differenz und Anderssein) durch disjunktives Aufeinandertreffen zweier verschiedener Entitäten“, was eine Weiterentwicklung des Andradschen Konzepts darstellt. BASBAUM, Ricardo: Antropofagia und Strategien permanenter Hybridisierung, in: Elke aus dem Moore/Giorgio Ronna (Hrsg.): Entre Pindorama. Zeitgenössische Kunst und die Antropofagia, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Stuttgart, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2005, S. 64-69, hier: S. 64. 273 Vgl. BRETT, Guy: ART IN THE PLURAL, Rio de Janeiro, 2002, URL: http://www .nbp.pro.br/doc/art_in_the_plural_guy_brett_1162.pdf (Zugriff: 18.11.2016). Ebenso entspricht die Dokumentation des Projekts im Internet Basbaums partizipativem, antiautoritärem Kunstansatz, indem die Teilnehmer/innen selbst ihre individuellen Beiträge online stellen und daher erneut kreativ werden. Zudem wird hierdurch die Präsentation des Kunstprojekts aus dem elitären Rahmen der Kunstinstitutionen herausgelöst und in ein für die Allgemeinheit leicht zugängliches, alltägliches Medium überführt. Somit wird die der Kulturpolitik innewohnende Hierarchisierungslogik überwunden, die nicht nur auf der Wertdifferenz von Künstler/innen und Rezipient/innen, sondern auch auf jener von Hoch- und Breitenkultur beruht. 274 GEBHARDT FINK, Sabine: Wahrnehmung und Erfahrung. Ricardo Basbaum, „Möchten Sie an einer künstlerischen Erfahrung teilnehmen?“, in: Dies.: Process – Embodi-

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Mit seiner künstlerischen Konzeption eines Kollektivkörpers, der sich in Form eines virtuellen Archivs visualisiert, nutzt Basbaum das Internet in seiner Funktion als globales Netzwerk,275 womit er die von Clark in ihrer Performance Baba Antropofágica ausagierte Strategie des Vernetzens der Rezipient/innen untereinander aktualisiert und die anthropophage Metapher in das digitale Zeitalter überführt. Das NBP-Projekt bezieht sich auf die gesellschaftlichen Veränderungen der Globalisierung und knüpft an die vielfach vertretene Gesellschaftsdiagnose an, welche den Verlust der Bedeutungen realer körperlicher Interaktion zugunsten einer stärkeren Virtualisierung der Beziehungen als Symptome der weltumspannenden Vernetzung durch das Internet benennt.276 Der generellen Tendenz zur Entkörperlichung wirkt Basbaums Projekt jedoch gerade entgegen, indem es einen nachdrücklichen Akzent auf Körperlichkeit legt. Die körperliche Interaktion mit dem Objekt stellt den unabdingbaren Ausgangspunkt für das Projekt dar, die Bildung eines Netzwerkes erfolgt durch das Weitergeben des physisch zirkulierenden Gegenstandes, während die virtuelle Plattform die so herbeigeführte Verbindung zwischen den Akteur/innen sichtbar macht. Basbaums Projekt ist somit Ausdruck einer Dialektik von Virtualität und körperlicher Präsenz, wodurch es zwischen beiden Polen vermittelt. 277 Você gostaria de participar de uma experiência artística? weist eine Affinität zur Mail Art auf, in der Korrespondenz und Vernetzung als künstlerische Strategien eingesetzt werden. Ray Johnson begann Ende der 1950er Jahre, kleinformatige Collagen über den Postversand an Kolleg/innen und ihm unbekannte Personen zu verschicken, die diese weiter bearbeiteten und erneut versandten, wodurch ein gement – Site. Ambient in der Kunst der Gegenwart, Wien: Passagen Verlag, 2012, S. 101-114, hier: S. 104f., 109. 275 Vgl. BASBAUM, Ricardo: Differences between us and them, in: Becky Shaw/Gareth Woollam (Hrsg.): Us and Them - Static Pamphlet Anthology 2003-04, Static Gallery, Liverpool, 2005, URL: https://rbtxt.files.wordpress.com/2011/04/us_and_them_rev_ blog.pdf (Zugriff: 18.11.2016), o. Seitenangabe. 276 Beispielsweise diagnostiziert Manuel Castells in seiner umfangreichen Untersuchung zum Informationszeitalter den Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, der mit der Entkörperlichung der Subjekte im Raum der Ströme einhergehe. Vgl. CASTELLS, Manuel: Das Informationszeitalter. Teil 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen: Leske + Budrich, 2001, S. 431ff. 277 Basbaum bezieht sich konkret auf die vielfach diagnostizierte Entkörperlichung des digitalen Zeitalters, wenn er innerhalb seiner Definition des NBP-Konzepts schreibt: „Immaterialität des Körpers: Durch die Technologie wird der Körper aufgelöst, er wird immateriell. Unsere Körper bewegen sich durch Schwingung. Körper können zur gleichen Zeit an vielen Orten sein.“ Webseite zu Ricardo Basbaums Projekt Você gostaria de participar de uma experiência artística?, 1994, URL: http://www.nbp.pro.br/nbp. php (Zugriff: 12.12.2016).

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meinsam geschaffenes Gesamtkunstwerk entstand. Indem Johnson die Sendungen mit den Aufforderungen add to and send to, add to and return to oder detach and send to versah, entwickelte sich in kürzester Zeit ein eigendynamisches, internationales Netzwerk. Entsprechend des Basbaumschen Ansatzes initiierte Johnson mit seiner Correspondence Art einen aktiven Kommunikationsprozess, bei dem Künstler/innen und Nicht-Künstler/innen gleichberechtigt beteiligt waren.278 Sowohl der partizipative Aspekt der Mail Art, bei der die Rezipient/innen aktiv auf die zugesandten künstlerischen Beiträge reagieren, als auch die damit verbundene Befragung nach dem Stellenwert des Originals stellen eine weitere Verbindung zu Basbaums Projekt dar. Im Unterschied zur Mail Art, bei der diverse Elemente im Netzwerk weitergereicht und kreativ verändert werden, handelt es sich bei Basbaum jedoch stets um das gleiche spezifische Objekt, das seine ursprüngliche Form behält und durch die kreative Nutzung keine bleibende Umgestaltung erfährt. Es fungiert als visuell schnell erfassbares Logo, welches auf das Gesamtprojekt Novas Bases Para Personalidade verweist.279 Auch nimmt die Dokumentation und Visualisierung des durch Você gostaria de participar de uma experiência artística? geschaffenen Netzwerks im Internet einen werkkonstitutiven Stellenwert ein und eröffnet eine neue Ebene des Austauschs der Akteure untereinander wie auch eine Form der öffentlichen Sichtbarkeit. Die Kreation einer projekteigenen Webseite rückt Basbaums Arbeit in den Bereich der digitalen Netzkunst, die Mitte der 1990er Jahre mit der globalen Verbreitung des World Wide Web aufkam und in Weiterführung der analogen Netzte der Mail Art das Internet in seiner Funktion als Medium der Vernetzung vielfach nutzt. Ein solches Beispiel stellt Charles Broskoskis, 2011 konzipierte Arbeit Directions to Last Visitor dar, die die Entwicklung der Homepage http://directionstolastvisitor. com beinhaltete. Über die IP-Adresse der Besucher/innen lokalisiert die Seite deren jeweiligen Standort und berechnet mithilfe von Google Maps eine Route zum Standort des/r letzten Besuchers/in. Broskoskis Arbeit bildet damit eine Form des Networkings zwischen gewöhnlich anonymen Internetnutzer/innen, die sich ihrer eigenen Sichtbarkeit im Netz bewusstwerden. Indem die Webseite die Gesamtanzahl ihrer Aufrufe sichtbar mitzählt, beinhaltet sie auch einen archivalischen Aspekt und visualisiert den jeweils aktuellen Stand des Projekts. Die Homepage ist als subversive Aktion des Künstlers zu verstehen. Broskoski verweist auf die hinter dem Internet stehenden realen Existenzen ebenso wie er Fragen nach der Pri-

278 Vgl. RÖDER, Kornelia: Topologie und Funktionsweise des Netzwerks der Mail Art. Seine spezifische Bedeutung für Osteuropa von 1960 bis 1989, Köln: Salon Verlag, 2008, S. 55ff. 279 Vgl. Webseite zu Ricardo Basbaums Projekt Você gostaria de participar de uma experiência artística?, 1994, URL: http://www.nbp.pro.br/nbp.php (Zugriff: 12.12.2016).

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vatsphäre in einer digitalisierten Welt stellt.280 Broskoskis Arbeit steht exemplarisch für eine Reihe von Werken aus dem Bereich der Netzkunst, in denen die dem Internet innewohnenden Möglichkeiten der Vernetzung, Interaktivität und Speicherung von Daten strategisch genutzt werden. Auch Basbaums Projekt ist hier einzureihen. Während die klassische Netzkunst hingegen in erster Linie das Internet aus sich heraus thematisiert und unter Bezug auf die digitalen Überwachungs- und Kontrollmechanismen einer kritischen Befragung unterzieht, dient es Basbaum vorrangig als Mittel zum Zweck, nämlich der Schaffung eines hybriden Kollektivkörpers. In Basbaums Netzwerkbegriff findet sich eine Betonung der Aspekte von Körperlichkeit und Hybridität, was den Einfluss der Antropofagia deutlich aufscheinen lässt. So erweist sich das durch körperliche Einschreibungen besetzte Objekt als hybrid, indem es in seiner nomadischen Existenz zwischen verschiedenen Kontinenten, Kulturen und Kontexten wandert und unterschiedliche Beziehungen und Identitäten durchläuft.281 Das spezifische Objekt konfiguriert entsprechend einen diskursiven Raum, der als instabiles, dynamisches Feld vorgestellt wird, wo sich Differenzen in einer kontinuierlichen Zirkulation befinden: „Sicherlich handelt es sich hier um ein instabiles Feld – trotz der scheinbaren Festigkeit der spezifischen Form: man muss sie dynamisch sehen, in Bewegung, gierig auf Mutationen und Kontakte; als ob sie tatsächlich nicht als abstraktes Signal existierte, sondern nur als Zeichen oder Diagramm, in anderen Worten, in einem Zustand des Interface. Wenn die Errichtung einer Struktur gegeben ist (tatsächlich weist der Buchstabe B, von NBP, in diese Richtung, indem er eine Basis vorschlägt), konfiguriert sich diese als Transportmittel und als Ort für Zusammenschlüsse – in anderen Worten, als Ort für Verkehr, Transport und Verschiebung. Und so wurde eine Art Struktur entwickelt, die […] von Differenz zu Differenz fließt.“282

280 Vgl. ADLER, Phoebe (Hrsg.): Art and the Internet, London: black dog publishing, 2013, S. 92. 281 Die NBP-Form bezeichnet Basbaum als „Träger hybrider Elemente unterschiedlicher Herkunft“. Ricardo Basbaum im Interview mit DW-WORLD.DE, 2006, URL: http:// www.dw.com/pt/você-gostaria-de-participar-de-uma-experiência-artística/a-2465447 (Zugriff: 12.03.2016): „portador de elementos híbridos de várias procedências“. 282 Ricardo Basbaum im Interview mit Cecilia Cotrim, in: Cultura e Pensamento, Rio de Janeiro, No 2, outubro-novembro 2007, S. 70-77, hier: S. 76: „Certamente que se trata de um campo instável – apesar da aparente rigidez da forma específica: é preciso vê-la dinâmica, em deslocamento, ávida por mutações e contatos; como se de fato não existisse enquanto sinal abstrato, mas apenas como signo ou diagrama, ou seja, em estado de interface. Se há o estabelecimento de uma estrutura (e de fato a letra B, de NBP, aponta nessa direção, ao propor bases), esta se configura enquanto veículo e local para acoplagens – ou seja, espaço para trânsito, transporte e deslocamento. Assim foi desen-

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Indem Basbaum ein als hybrid ausgewiesenes Kunstobjekt in der Alltagswelt zirkulieren lässt, werden Parallelen zu Cildo Meireles’ Rezeption der Antropofagia in seinen Inserções em Circuitos Ideológicos augenscheinlich.283 Die Überführung der Kunst in den Alltag und die damit verbundene Partizipation der Rezipient/innen stellen in Weiterführung der tropikalistischen Avantgarde-Bestrebungen zentrale Elemente einer künstlerischen Intervention in beiden Werkansätzen dar. Entsprechend nimmt auch Basbaums partizipative Kunst-Aktion eine Widerstandshaltung gegenüber dem kapitalistischen System ein, indem sie sich einer Instrumentalisierung und Kommerzialisierung durch den Kunstmarkt entzieht. Im Unterschied zu Meireles’ mit politischen Botschaften bedruckten Cola-Flaschen, die gleichermaßen die Pop Art subvertieren wie sie auch Embleme gegen die westliche Welt und das Weiterwirken kolonialer Strukturen im Land darstellen, erscheint Basbaums Objekt jedoch zunächst wertneutral, bis es von den Rezipient/innen mit immer neuen, individuellen Bedeutungen belegt wird. Innerhalb Basbaums künstlerischem Ansatz wird das anthropophage Konzept somit losgelöst von Fragen nach dem Verhältnis von Kolonialkultur und kolonisierter Kultur, Zentrum und Peripherie, West und Ost. Basbaums Intervention operiert zunächst auf einer subjektiven Ebene, die auf eine Transformation der Persönlichkeit der oder des Einzelnen im Kontakt mit dem Kunstwerk zielt, welche eine Dynamik entwickelt, die schließlich im zweiten Schritt einen kollektiven Hybridraum entstehen lässt: „Seen from the perspective of the modification of the economy of culture, in the last decade of the twentieth century, the pedagogical – as proposed by the avant-garde, in terms of the public sharing of the sensorial and conceptual aspects of artistic propositions and the production of a new subject from that confrontation – is recognized as one of the regions that can be occupied by strategies of resistance that value contact as a means of bringing forward difference, in terms of subjectification and transformational dynamics (i.e. resistance). […] The pedagogy of the avant-garde indicates how to produce membranes that generate contact and potentialize experience: becoming other with the artwork points toward a model for action, for modelling the subject and being transformed by it, outside formal limits. As an artist, I have focused on this scenario for the transformation of art and its actors – coming up with proposals to contribute to this general shift in terms of the production of the sensorial and the discursive together.”284

volvido algo como uma estrutura que – como você diz – flui de diferença para diferença.“ 283 Vgl. Ricardo Basbaum im Interview mit Marina Fraga, in: Revista Carbono, São Paulo, 19.03.2013, o. Seitenangabe. 284 BASBAUM, Post-Participatory Participation, 2012, S. 25.

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Während in Você gostaria de participar de uma experiência artística? ein kollektiver Körper durch den physischen Kontakt mit dem Kunstobjekt sowie auf virtueller Ebene geformt wird, besteht ein zweiter wichtiger Teil des NBP-Projekts in performativen Gruppeninteraktionen, in denen ein direkter zwischenmenschlicher Austausch stattfindet. In seinen mit Eu/Você [Ich/Du] betitelten Workshops lädt Basbaum Personen dazu ein, rote und gelbe T-Shirts zu tragen, die wahlweise mit einem der beiden Personalpronomen bedruckt sind (Abb. 107).285 Der Künstler nimmt in der nun folgenden „Inszenierung von Körpern in ihrer Bewegung durch den Raum“286 die Rolle des Choreografen ein, der jedoch auch immer selbst Teilnehmer der Performance ist, von innen am Geschehen mitwirkt und den spontanen Handlungen der Teilnehmer/innen unterworfen ist. Basbaum schafft so den diskursiven Rahmen für eine Erfahrung von Identitätsverschiebungen, wonach innerhalb der Gruppe eine Performance in Form einer körperlichen Interaktion durchgeführt wird. Unabhängig davon, ob die Teilnehmer/innen gemeinsam Spiele und Übungen entwickeln oder von Basbaum entworfenen Choreografien folgen, ist die sich in der Aktion entstehende Gruppendynamik das bestimmende Element des künstlerischen Ansatzes. So sind die Entscheidungen der einzelnen Teilnehmer/innen der jeweils spezifischen Gruppe ausschlaggebend dafür, welche Resultate hervorgebracht werden, welche Beziehungen und Identitäts-Konstellationen sich bilden.287 Abbildung 107: Ricardo Basbaum: me-you: choreographies, games and exercises, 2003

285 Die mit Personalpronomen bedruckten Shirts wurden bisher in den Sprachversionen Portugiesisch, Englisch, Arabisch, Bengalisch und Mandarin produziert. 286 HOLMES, Brian: Die potenzielle Persönlichkeit. Trans-Subjektivität in der Kontrollgesellschaft, in: springerin – Hefte für Gegenwartskunst, Wien, 03/2005, URL: http:// www.springerin.at/dyn/heft.php?id=44&pos=1&textid=1671&lang=de (Zugriff: 07.10. 2012), o. Seitenangabe. 287 Vgl. BASBAUM, 2005, o. Seitenangabe.

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Im Rahmen seiner Teilnahme an der Ausstellung Entre Pindorama: Zeitgenössische brasilianische Kunst und die Adaption antropofager Strategien des Künstlerhauses Stuttgart veranstaltete Basbaum einen dreitägigen Workshop, in dem eine Gruppe von sieben Teilnehmer/innen neun Choreografien durchführte, was eine Diskussion auslösen sollte über die Themen „Innen und Außen, Grenzwerte und Grenzen, die organische Linie (im Sinn von Lygia Clarks Konzept aus dem Jahr 1958), künstliche Erinnerung, Zeichen und Kommunikation, Wörter und Bilder usw.“288 Entsprechend der intendierten Durchdringung von Innen- und Außenraum, Institution und Alltagswelt erstreckten sich die Choreografien ausgehend vom Künstlerhaus selbst auf öffentliche Plätze im Außenraum von Stuttgart. Durch das Tragen der Personalpronomen mit der Relativität ihrer eigenen Identitätspositionen konfrontiert, nehmen die Teilnehmer/innen der Eu/VocêWorkshops spielerisch die Rolle des/r Anderen ein, wodurch eine ständige Verschiebung der Positionen von Ich und Du evoziert und alternative, hybride Identitätskonzepte performativ ausgehandelt werden. Analogien zu Clarks Arbeit O Eu e o Tu: Série Roupa-Corpo-Roupa, bei der in der körperlichen Interaktion eine Verschiebung von Identitätspositionen herbeigeführt wird, werden hierin ebenso augenscheinlich wie Parallelen zu Oiticicas Samba-Performances, in denen der Künstler zwischen den Träger/innen seiner Parangolés ein sinnliches Gemeinschaftsgefühl herzustellen versucht. Der permanente Kontakt mit dem/r Anderen, den Basbaum mit seinen Workshops erzielen möchte, lässt die Gruppe der Teilnehmer/innen als organisches Gebilde erscheinen, die im Sinne des Künstlers gemeinsam als „Schwarm“289 agieren. Das hinter diesen Aktionen stehende, von Basbaum formulierte Ziel findet sich in der Erschaffung eines Superpronomens, eines neuen Pronomens, das durch die Verbindung der persönlichen Fürwörter eu und você entsteht und sowohl ein Subjekt als auch ein Objekt beinhaltet. Basbaums Essay Differences between us and them bildet die theoretische Grundlage für die in seinen Workshops eröffnete Diskussion um Identität und verdeutlicht zudem den hohen Stellenwert von Sprache in seinem Werk. Darin vollzieht der Künstler ein sprachliches Spiel mit den Personalpronomen, im Zuge dessen er das Superpronomen wie folgt definiert: „nominative pronouns, converging in a single word. meyou, youme mixture, hybridization, reciprocal contamination 288 Aus dem MOORE/RONNA, 2005, S. 140. 289 Basbaum beschreibt dies folgendermaßen: „The initial unrelated participants start to behave as one organic and affective entity, a sort of fragile and local swarm, forceful and volatile at the same time.“ BASBAUM, Post-Participatory Participation, 2012, S. 22.

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of one by the other, me by you, you by me into one thing. object’s ecstasy, ideal desire synthesis. tool for negotiating actions towards an embodied otherness, in flight.”290

Hinter der auf sprachlich-konzeptueller Ebene und performativ vollzogenen Hybridisierung in Basbaums Werk steht die Vorstellung, dass ein singuläres Individuum nicht ohne die intensive Präsenz eines Anderen entwickelt werden kann. Entsprechend des künstlerischen Ansatzes in Você gostaria de participar de uma experiência artística? mündet auch die in den Eu/Você-Performances entstehende Gruppendynamik in einem Zwischenraum,291 in dem die Differenzen zwischen den Teilneh-mer/innen nebeneinander Bestand haben und Hierarchien und Dichotomien hinlänglich werden, womit Basbaum die Inhalte der Antropofagia weiterführt. Entsprechend der vorhergehend analysierten zeitgenössischen Positionen findet sich die Antropofagia auch in der Rezeption durch Basbaum losgelöst von der Behauptung eines nationalen Standpunkts, so erläutert der Künstler in seinem Essay im ausstellungsbegleitenden Katalog des Künstlerhauses Stuttgart, es gehe ihm in seinem Projekt darum, einen spielerischen Prozess in Gang zu setzen, in dem „dauerhafte Beziehungen“ etabliert werden und „eine Diskussion über den Aufbau von Gemeinschaften, in denen wir (aus Brasilien) uns zusammen mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen einbringen können, allerdings nicht als Brasilianer, sondern als Individuen mit ganz persönlichen Beiträgen.“ 292 Analog zum tropikalistischen Rezeptionsansatz nutzt auch Basbaum die anthropophage Metapher vorrangig als Strategie der Kommunikation, wonach sein Projekt eine „soziale Skulptur“293 darstellt. Basbaums hybrider Kollektivkörper entspricht einem sozialen Raum, in dem Momente des Austauschs, der Verhandlung und des Dialogs ermöglicht werden. In seiner Fokussierung auf den Aspekt der Kommunikation und seiner Hinwendung zur Sprache lässt sich Basbaums Konstruktion eines Kollektivkörpers mit Michail Bachtins Konzeption der intentionalen Hybridität von Sprache und seinen damit verbundenen Thesen zur Dialogizität, Intertextualität und Polyphonie verbinden. Nach Bachtin stellt die Verwendung von Sprache eine stetige Vorführung 290 BASBAUM, 2005, o. Seitenangabe. 291 Maria Moreira spricht ebenfalls von einem „space between“, der in Basbaums Werk entwickelt wird. MOREIRA, Maria: RIGOR/RESONANCE + ART AS CONFRONTATION, 1992, URL: http://www.acertainbrazilianness.net/htmlpages/rigor.html (Zugriff: 01.03.2016), o. Seitenangabe. 292 BASBAUM, Ricardo, Antropofagia und Strategien permanenter Hybridisierung, 2005, S. 66. 293 Den Begriff verwendet Basbaum in seinem zum NBP-Projekt ausgearbeiteten Diagramm (Abb. 109b). Vgl. hierzu die folgenden Ausführungen in diesem Kapitel.

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des Prozesses einer Hybridisierung dar, indem eine sprachliche Äußerung stets eine Vermischung zweier sozialer Sprachen beinhaltet. Innerhalb des Kommunikationsprozesses werden zwei individuelle Stimmen oder Standpunkte einander dialogisch konfrontiert, wobei das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt verhandelt wird, so Bachtin.294 Da einzelne Stimmen miteinander interagieren, was zu Wechselbeziehungen führt und weitere Reaktionen antizipiert, findet dem Autor zufolge durch die Verwendung von Sprache eine stetige Aufnahme und Verarbeitung des Fremden statt, wodurch es unweigerlich zu einer Differenzbildung kommt. Dabei strebt das dialogische Erkenntnisprinzip Bachtins weder eine Tilgung des Anderen noch des Eigenen durch die Identifikation mit dem Anderen an, was sich mit Basbaums künstlerischem Ansatz verbinden lässt. Indem Sprache von Bachtin weiterhin als grundlegend polyphon, heterogen und antihierarchisch ausgewiesen wird, besitzt sie das Potenzial, essentielle Vorstellungen von Kultur und Identität zu unterlaufen. 295 Entsprechend versteht sich Basbaums künstlerische Schaffung eines Superpronomens, das Alterität verhandelt und einen produktiven Zwischenraum eröffnet, als Intervention: „Here I proposed a few strategies for intervening in such excluding standard conditions, searching for different ways to reinstate the dynamics that could trigger the proper effects produced by otherness in group dynamics, language and other meaning production processes. Without such practices of touching the in-between with the aim of creating flux, movement, diversion and flight, the risk is that us and them just come closer and closer to each other, resulting into the usthem – that is, the ‚unlimited everything’ (does something exist beyond us and them?) without any interval, mediation, distinction and difference. It is always interesting to open up things through productive gestures, like the games and exercises proposed here – they are the passageways from where you and me can enter.”296

Ähnlich wie Bachtin konstatieren auch Gilles Deleuze und Félix Guattari, dass eine „Aussage stets kollektiv“ sei, „auch wenn sie scheinbar einzig von einem Individu-

294 Vgl. BACHTIN, Michail: The Dialogic Imagination: Four Essays, Austin: University of Texas Press, 1981 (1975), S. 358f. 295 Vgl. SASSE, 2010, S. 136. 296 BASBAUM, Differences between us and them, 2005, o. Seitenangabe. Ausgehend von der konkreten Aktion soll sich das Superpronomen auch im Alltag etablieren, so Basbaum: „It would be necessary to develop further the superpronoun’s use in sentences like meyou am going away, youme come closer, etc, to cause their effective presence to be felt in daily language. To insert them into speech is to promote an intervention in the language, introducing meanings that could not be said before.“ Ebd.

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um wie dem des zölibatären Künstlers produziert wird.“ 297 Diese poststrukturalistischen Überlegungen zu Sprache und Kommunikation aufgreifend, fokussiert Basbaum auf die Schaffung eines vielstimmigen Kunstkollektivs, das „die komplexe Artikulation eines Ganzen“298 versinnbildlicht. In konsequenter Weiterentwicklung des dialogischen Ansatzes in seiner Kunst widmet Basbaum seine jüngste, seit 2011 entstehende Serie Collective Conversation dem Zusammenwirken von Schreiben, Lesen und Sprechen. In seiner 2015 im Rahmen von Stadtkuratorin Hamburg initiierten Arbeit membranosa (hamburg): collective-conversation evozierte Basbaum eine künstlerische Begegnung zwischen ihm und weiteren sieben Personen, die ein „kollektives Nachdenken über die materielle, soziale und räumliche Membran zwischen KünstlerIn, Kunstsystem, Kunstobjekt und TeilnehmerIn“299 anstoßen sollte. Hierfür schrieb die Gruppe zunächst ein Skript, das sie daraufhin im öffentlichen Raum vorstellte, wobei sich die Teilnehmer/innen in einer zuvor festgelegten Choreografie in Analogie zur linha orgânica durch den Stadtraum Hamburgs bewegten.300 Die in den Eu/VocêWorkshops vollzogenen Verschiebungen in Bezug auf identitätsstiftende Kategorien stehen auch im Mittelpunkt des in der Collective Conversation vorgetragenen Skripts. So beginnt die Performance mit den abwechselnd von den Teilnehmer/innen vorgetragenen Zeilen: „stepping in / stepping out / Tap dancing / dancing around / circling a form / naming a center / tackling a city / forming a line / dividing a place / following the line / looking for a goal / ending up somewhere / pointing a direction / turning around / cutting the line / having two lines / moving them / two parallel lines / going into the same direction / but never meet / two crossing lines / I wait to let you cross my line / you wait, so we bump into each other / creating a special point”301

297 DELEUZE, Gilles/GUATTARI, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976 (1975), S. 115. 298 BASBAUM, Ricardo: Em torno do ‘vírus de grupo’ Seminário Guattari não cessa de proliferar, in: Lugar Comum, Rio de Janeiro, Nr. 30, 2012, S. 135-146, hier: S. 136: „complexa articulação de conjunto“. 299 Webseite von Stadtkuratorin Hamburg, URL: http://stadtkuratorin-hamburg.de/curating/ membranosa-hamburg-collective-conversations/ (Zugriff: 09.01.2016). 300 Die Performance fand am 31. Mai 2015 statt und führte in zwei verschiedenen Routen vom Hansaplatz zum Stübenplatz und zurück. Die Aktion wurde in Form einer 22:15minütigen Audio-Aufzeichnung dokumentiert, die in einem Café am Hansaplatz während der beiden darauffolgenden Monate zu hören war. 301 Unveröffentlichtes Skript des Projekts membranosa (hamburg): collective-conversation, Quelle: Stadtkuratorin Hamburg/Ricardo Basbaum, 2015.

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Die eingangs stehenden Wortpaare stepping in / stepping out ziehen sich als wiederkehrender Refrain durch den gesamten Sprechakt und verdeutlichen die in der Tradition anthropophager Ideen stehende Thematik der Durchdringung der Pole von Innen und Außen. Assoziativ und in loser Abfolge bewegt sich die nun folgende Konversation von einem Thema zum nächsten, wodurch die sprachliche Performance analog zur gestischen Bewegung in Basbaums Kunst Aspekte der Musik und des Tanzes aufgreift und einer „sozialen Choreografie“302 entspricht. Der Austausch von unterschiedlichen Gedanken und Standpunkten realisiert sich als polyphone Wechselrede, in der die einzelnen Stimmen sowohl in Soloauftritten als auch synchron sprechen. Entsprechend der von de Andrade in seinem Manifesto Antropófago angewandten Technik der Aneignung und Hybridisierung kultureller Elemente finden sich im Skript Liedzeilen verschiedener Musiker von Elvis Presley über die dänische Rockband Savage Rose bis hin zu einer Aufzählung von Songtiteln der Hamburger Hip-Hop-Formation Deichkind und einem Statement Frank Zappas, die an philosophische Zitate Merleau-Pontys und Lao-Tzus gereiht werden.303 Darüber 302 Der Begriff stammt aus einem Essay des Kunstkritikers Jan Verwoert, den die Teilnehmerin Charlotte erwähnt: „During this project I have been reading Jan Verwoert’s essay Social Choreography, Metaphors that Set the Body in Motion.“ Ebd. Jan Verwoert definiert eine soziale Choreografie als Metapher wie folgt: „It’s a powerful concept because it blends the dynamic aspects of picturing the world as a stage with the analytic edge of reading social life as coded: As dancers on the social stage we move in synchronicity with groups or break away to perform solos and, relying on the gestures we have rehearsed, we structure the space and time of everyday life through the specific choreographies of our motions.” VERWOERT, Jan: Social Choreography. Metaphors that Set the Body in Motion, in: Ders. (Hrsg.): Tell me what you want, what you really, really want, Berlin/New York: Sternberg Press, 2010, S. 81-96, hier: S. 81f. 303 Folgende Passage aus dem Song Wild Child der Band Savage Rose wird im Skript zitiert: ”I hear the sound of voices / And a working day begins / My souvenir is misfortune / And a burning heart within / I'm a Wild Child / I’m a Wild Child“. Darauffolgend ist Elvis Presleys Liedtext ausschnitthaft wiedergegeben: „In the ghetto, on a cold and grey chicago morning another little baby child was born in the ghetto…“ Des Weiteren findet sich Frank Zappas Statement „Without deviation from the norm, progress is not possible.” neben den Zeilen des chinesischen Philosophen Lao-Tzu, die besagen: „Water is fluid, soft, and yielding. But water will wear away rock, which is rigid and cannot yield. As a rule, whatever is fluid, soft, and yielding will overcome whatever is rigid and hard. This is another paradox: what is soft is strong.” Maurice Merleau-Ponty wird in Dänisch zitiert: „Jeg er ikke i rummet og i tiden, jeg tænker ikke rummet og tiden; jeg er til i rummet og tiden, min krop hæfter sig til dem og favner dem. [Ich bin nicht im Raum und in der Zeit, ich denke nicht Raum und Zeit; ich bin vielmehr zum Raum und zur Zeit, mein Leib heftet sich an ihnen an und umfängt sie (Übers. aus: MERLEAU-

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hinaus wechselt die Sprache ausgehend vom Englischen wiederholt ins Französische, Deutsche, Dänische, Malaysische oder Portugiesische. Anders jedoch als de Andrade, der in seinem Manifest die europäischen Vorlagen in einem humoristischen Stil verändert und collageartig neu organisiert, ist es nicht mehr Basbaums Anliegen, die zitierten Elemente aus Populärkultur und Philosophie kritisch umzuwerten. Diese spiegeln vielmehr die diversen Interessen und Hintergründe der Gruppenmitglieder wieder, die in unterschiedlichen Beiträgen in die geschaffene Dialogsituation eingebracht werden. In Basbaums Rezeption der Antropofagia wird nicht mehr die kolonialgeschichtliche Beziehung zwischen Brasilien und Europa behandelt, sondern die grundlegende Verschiedenheit der einzelnen Teilnehmer/innen bildet die Ausgangsbasis für die künstlerische Formung eines vielstimmigen Kollektivs. Das Projekt einer fortdauernden Hybridisierung Basbaums künstlerisches Anliegen, unter Bezug auf die Inhalte der Antropofagia einen synkretistischen Raum, einen „diskontinuierlichen Ort“ 304 zu entwerfen, in dem eine Vielzahl von Wahrnehmungspotenzialen und kulturellen Verbindungen möglich wird, manifestiert sich neben seiner performativen Arbeit auch grundlegend in seinen aus Linien, grafischen Elementen und Begriffen bestehenden Diagrammen, die seiner künstlerischen Arbeit eine theoretische und analytische Basis geben. Das im Kontext der Arbeit membranosa (hamburg): collective-conversation entstandene Diagramm (Abb. 108) visualisiert die räumliche Verortung der Performance im Stadtraum Hamburgs ebenso wie es konkrete Bezugspunkte des künstlerischen Konzepts benennt. So erscheint im Zentrum der diagrammatischen Darstellung der Bezug auf Clarks Konzeption der linha orgânica als Begriff in unterschiedlichen Sprachversionen, während sich auf der vertikalen Darstellungsachse eine Membran als unterbrochene Linie visualisiert, die in Weiterführung anthropophager Inhalte als Kontaktzone ausgewiesen wird.

PONTY, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter, 1966, S. 169.)].” Alle Zitate sind dem unveröffentlichten Skript des Projekts membranosa (hamburg): collective-conversation entnommen. Quelle: Stadtkuratorin Hamburg/Ricardo Basbaum, 2015. 304 GEBHARDT FINK, 2012, S. 107.

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Abbildung 108: Ricardo Basbaum: membranosa (hamburg): collective-conversation, Diagramm, 2015

Abbildung 109a: Ricardo Basbaum: Você gostaria de participar de uma experiência artística?, Diagramm, work in progress seit 1994

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Abbildung 109b/c: Ricardo Basbaum: Você gostaria de participar de uma experiência artística?, Diagramm (Details), work in progress seit 1994

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Abbildung 109d/e: Ricardo Basbaum: Você gostaria de participar de uma experiência artística?, Diagramm (Details), work in progress seit 1994

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Abbildung 110: Ricardo Basbaum: Diagram (me-you-series), 2000

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Als Vermittler zwischen Text und Bild stellt das Diagramm ein Hybrid dar, wodurch in ihm Gegensätze und Dualismen aufgehoben werden. Seit der Antike wird der diagrammatischen Darstellung eine abstrahierende und ordnende Funktion zugesprochen, da ihr die Aufgabe zuteilwird, Wissen oder Thesen zu veranschaulichen, Beziehungen aufzuzeigen und Prozesse zu konkretisieren. 305 Innerhalb der heutigen Vernetzungsgesellschaft wird dem Diagramm die Rolle eines „Schlüsselphänomens gegenwärtiger Kommunikationsformen“306 attestiert. Diese Charakteristika prädestinieren das Diagramm für eine Aufnahme in Basbaums künstlerisches Gesamtprojekt: „Diagramme schienen perfekt geeignet, um die mir notwendig erscheinenden simultanen Gesten der Projektentwicklung und des Außenbezugs zu ermöglichen. Gerade weil sie sich von der traditionellen Rolle der Darstellung abheben, eignen sich Diagramme direkter und relationaler zur Verbildlichung von Prozessen. […] Diagramme verweisen auf die Entstehung dichter Kontaktzonen oder Membranen.“307

Um die prozessuale Entwicklung des NBP-Projekts und die damit verbundenen Denkprozesse zu veranschaulichen, entwarf Basbaum 1994 ein Diagramm (Abb. 109a-e), das mit dem Fortgang des Projekts vom Künstler stetig erweitert wird, was dem grundlegend transformativen Charakter desselben entspricht. In der diagrammatischen Darstellung findet sich das durch die Weitergabe des spezifischen Objekts in Você gostaria de participar de uma experiência artística? und die performativen Gruppeninteraktionen entstehende Netzwerk visualisiert. Die anthropophage Metapher aufgreifend, erscheinen die wesentlichen Bezugspunkte des künstleri305 Die ersten Diagramme in Form von Ritzgebilden werden auf die Zeit um 80.000 v. Chr. datiert. In der Geschichte der Philosophie wurde die diagrammatische Darstellung seit Platon verwendet, um Gedanken zu formulieren und begreifbar zu machen. Vgl. BREDEKAMP, Horst: Das Diagramm als Prozess, in: John Bender/Michael Marrinan (Hrsg.): Kultur des Diagramms, Berlin: Akademie Verlag, 2014 (2010), S. VII-XI, hier: S. VII, IX. 306 Angesichts des 2003 von Felix Thürlemann proklamierten diagrammatic turn konstatiert Horst Bredekamp: „Unabhängig von der Übermüdung, die angesichts der immer neu ausgerufenen turns eingetreten ist, wird das Diagramm seine überragende Geltung bewahren, weil es zu einem Schlüsselphänomen der gegenwärtigen Kommunikationsformen geworden ist. Die riesigen digital erzeugten Datenmengen so gut wie sämtliche Lebens- und Erkenntnisräume sind sprachlich und numerisch nur mit einem gewaltigen Aufwand aufzuschließen, wohingehend sie durch Diagramme instantan zu erfassen sind. Aus diesem Grund gewinnen Diagramme den Charakter einer conditio sine qua non gegenwärtiger Verstehensweisen.“ Ebd., S. VIIf. 307 BASBAUM, 2012, S. 195f.

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schen Konzepts wie membrane, incorporation, hybrid subject, polyphony oder transformation als einzelne Stationen oder zusammengefasste Einheiten, die durch ein biomorphes Liniengeflecht miteinander verbunden sind. Entsprechend des Anliegens des NBP-Projekts, ein auf trans-subjektiven Erfahrungen aufbauendes Netzwerk zu schaffen, visualisieren Basbaums Diagramme Beziehungsgeflechte, welche die Verbundenheit des/r Einzelnen mit Anderen beinhalten.308 So veranschaulicht das 2000 entstandene Diagramm Love Songs aus der Serie der Mapas Relacionais [Relationale Kartographien] (Abb. 110) den Prototyp einer zwischenmenschlichen Beziehung, die zwischen Anziehung und Abstoßung, Begegnung, Trennung und erneuter Kontaktaufnahme oszilliert. 309 Parallel zur konkreten Erfahrung der Teilnehmer/innen von Basbaums Performances sind die Betrachter/innen der Diagramme in einer Ausstellungssituation aktiv dazu aufgefordert, sich in die Rolle des Subjekts oder seines Gegenübers zu begeben und eine Position innerhalb der dargestellten Kartographien einzunehmen. So waren in der Ausstellung des Künstlerhauses Stuttgart die für den Eu/VocêWorkshop ausgearbeiteten Choreografien als diagrammatische Wandbilder zu sehen, die zwischen den Personalpronomen Ich und Du hin- und herführende Pfeilmuster zeigten (Abb. 111a/b). Begleitet wurden die Diagramme von poetischen, konzeptuellen Sätzen, die den künstlerischen Ansatz anhand der Begriffe Überpronomen, Hybridisierung oder Transdurchgang benannten. Die Wandbilder waren in eine Installation integriert, die das Setting eines Wohnzimmers beinhaltete, womit sich Basbaum auf die alltagsnahen Ruhe- und Erlebnisräume Hélio Oiticicas bezog. Ebenso verwendete er tropische Zimmerpflanzen als Verweis auf Oiticicas Installation Tropicália.310 Für seine 2005 im Centro Atlántico de Arte Moderno in Las Palmas realisierte Installation (Abb. 112a/b) konzipierte Basbaum skulptural-architektonische Arbeiten, die zur körperlichen Aktion der Rezipient/innen animieren sollten. Der Künstler platzierte knöchelhohe, zaunähnliche Strukturen aus Eisen im Ausstellungsraum, die Wege vorgaben und Hindernisse darstellten, durch und über die sich die Besucher/innen bewegen mussten. Das Thema der Grenzüberschreitung wurde so körperlich ausagiert, gleichzeitig sollte eine eingeschränkte Bewegung die Wahrnehmungssensibilität erhöhen. Auf den Wänden befanden sich zusätzlich zu den Wanddiagrammen beschreibende Handlungsanweisungen, die auf die Interaktion der Rezipient/innen miteinander abzielten, wie listen to, look at, turn bodily toward, smile at, speak to, express wishes, make bodily contact, ask personal questions oder show off.

308 Vgl. LEEB, 2012, S. 38. 309 Vgl. BASBAUM, 2012, S. 198f. 310 Vgl. aus dem MOORE/RONNA, 2005, S. 137.

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Abbildung 111a/b: Ricardo Basbaum: Transatravessamento & Fuga (Sistema-Cinema), 2004

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Der Fokus in Basbaums Installationen liegt stets auf der Schaffung „diskursiver Umgebungen,“311 die den zwischenmenschlichen Austausch fördern und eine gesteigerte Körperwahrnehmung ermöglichen wollen. Hierzu werden die Rezipient/innen außerdem durch Bildschirme animiert, auf denen Aufzeichnungen vergangener Performances ausgestrahlt werden (Abb. 112b). Auch lässt Basbaum die Besucher/innen seiner Installationen mit Mikrokameras filmen. Diese sehen so im Wechsel ihr eigenes Bild auf den Monitoren wie auch die Bewegungen anderer Personen durch die aktuelle Ausstellungssituation oder durch frühere Installationen des Künstlers. In Weiterführung des tropikalistischen, multisensoriellen Ansatzes dient der Einsatz von Kameras nicht dem Zweck einer Überwachung, sondern der Eröffnung einer zweiten Wahrnehmungsebene zugunsten einer vielseitigen Erfahrung des Raumes.312 Da die ästhetische Erfahrung innerhalb seiner Installationen zwangsläufig an die körperliche und interaktive Bewegung der Besucher/innen gekoppelt ist, manifestiert sich eine zweite performative Ebene in Basbaums Arbeit. Im Diagramm werden die unterschiedlichen performativen Situationen des NBPProjekts zusammengeführt.313 Abbildung 112a: Ricardo Basbaum: obs. + sistema-cinema + superpronombre, 2005 Abbildung 112b: Ricardo Basbaum: Yo-Tú / Me-You, 2005

311 HOLMES, 2012, S. 68. 312 Vgl. BASBAUM, 2012, S. 204ff. Brian Holmes sieht in Basbaums Installationen auch eine Widerstandshaltung gegenüber der Kontrollgesellschaft manifestiert, indem sie die Prozesse des Denkens und des Fühlens intensivieren, die Kontrollmaßnahmen normalerweise in vorherbestimmte Verhaltensmuster umzulenken versuchen. Entgegen determinierter Verhaltensweisen fördern Basbaums Performances Improvisation und Austausch. Vgl. HOLMES, 2012, S. 78. 313 Vgl. BASBAUM, 2012, S. 204ff., 212.

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Abbildung 113: Stephen Willats: West London Social Research Project, Flow Diagram of Events, 1973

Die Darstellung sozialer Netzwerke mittels Diagrammen, die im Kontext von performativen Gruppenprojekten entstehen und als Dokumentationsformen wie auch als konzeptuelle Modelle dienen, verbindet Basbaums Werk mit dem künstlerischen Ansatz Stephen Willats‘. In Willats‘ seit den 1960er Jahren initiierten und in die unmittelbare Gegenwart hinreichenden partizipativen Nachbarschaftsprojekten werden die Bewohner/innen von Hochhaussiedlungen in zumeist sozialen Brennpunkten dazu angeregt, ihre Beziehungen zu ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt zu reflektieren. Die verschiedenen Stationen dieser Projekte werden von Willats ebenfalls diagrammatisch festgehalten (Abb. 113). Entsprechend Basbaums Ansatz verdeutlichen auch Willats‘ Diagramme ein Verständnis von der Gruppe als eine nicht-hierarchische Ordnung von sich wechselseitig bedingenden Beziehungen, in denen sich der oder die Einzelne immer in Zusammenarbeit mit Anderen befindet. Diese demokratische Struktur bezieht sich auch auf die Beziehung zwischen Künstler, Kunstwerk und Publikum.314

314 Vgl. CASSER, Anja/ZIEGLER, Philipp (Hrsg.): Stephen Willats. Art Society Feedback, Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst, 2010, S. 10, 100ff. Exemplarisch für Willats‘ Nachbarschaftsprojekte steht das The West London Social Resource Project, das in den Jahren 1972 und 1973 über sechs Wochen in vier Wohngegenden stattfand, die verschiedene soziale Gruppen repräsentierten. Die Teilnehmer/innen wurden gebeten, ihre

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Im Unterschied jedoch zu Willats‘ streng konstruiertem Bildaufbau mit reduzierten geometrischen Elementen, die in einen begrenzten Bildraum eingefasst sind, findet sich in Basbaums Diagrammen eine organische Formensprache, die mit der prinzipiellen Erweiterbarkeit seines Projekts korrespondiert. Während Willats daran interessiert ist, mithilfe seiner Diagramme menschliche Beziehungen zu kategorisieren, widersetzen sich Basbaums Visualisierungen sozialer Interaktionsräume klaren Zuschreibungen. Der mit dem anthropophagen Konzept verbundene Aspekt des organischen Wucherns, des aktionistischen oder installativen Ausbreitens des Kunstwerks, das räumliche und körperliche Zonen überschreitet und in Weiterführung des tropikalistischen Partizipationsmodells die Rezipient/innen aktiv involviert, ist sowohl in Meireles‘ Inserções em Circuitos Ideológicos als auch in Maiolinos Terra Modela-Serie und Netos biomorphen Lycra-Gebilden konstitutiver Bestandteil der Werkauffassung. Mit seinem auf eine ständige Ausbreitung ausgelegten NBP-Projekt reiht sich Basbaum in diese Tendenz ein. Ein Vergleich der Installationspläne Netos mit den Diagrammen Basbaums lässt zudem visuelle Ähnlichkeiten deutlich werden (Abb. 114). Abbildung 114: Ernesto Neto: The Malmö Experience Project (Floorplan), 2006

Assoziationen in Bezug auf vom Künstler in der Umgebung gefundene und in einem Handbuch visuell repräsentierte Objekte und Zeichen zu beschreiben. Anhand eines weiterführenden Fragebogens sollten sie außerdem ihre häusliche Situation eingehender beurteilen. Die Antworten der Bewohner/innen wurden in den öffentlichen Bibliotheken der Wohnviertel ausgestellt, wodurch eine Diskussion über die verschiedenen Ansichten entstand. Die unterschiedlichen Stationen des Projekts sind in Willats‘ parallel entstandenem Diagramm festgehalten. Vgl. Webseite von Stephen Willats, URL: http:// stephenwillats.com/work/west-london-social-resource-project/ (Zugriff: 21.01. 2017).

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Die in Basbaums diagrammatischen Darstellungen evidente organische Formensprache lässt somit seine Auffassung des Kunstwerks als lebender Organismus deutlich zu Tage treten. Während Neto mit seinen begehbaren Installationen und anziehbaren Stoffskulpturen haptisch wahrnehmbare Metaphern für den Körper schafft, operiert Basbaums Projekt auf einer konzeptuelleren Ebene, wobei das Kunstwerk als solches stärker zurücktritt. Auch fokussiert Neto in seinen Arbeiten vorrangig auf die persönliche, sinnliche Kunsterfahrung, während die Untersuchung zwischenmenschlicher und gruppendynamischer Prozesse im Zentrum von Basbaums Kunst steht. Seine Diagramme verdeutlichen diese theoretisch-konzeptionelle Werkauffassung. Für die Genese seiner Diagrammatik war Basbaums Auseinandersetzung mit Kurt Lewin maßgeblich, der in seinem 1936 erschienenen Werk Grundzüge der topologischen Psychologie statt einer Ich-Psychologie eine soziale Feldtheorie entwickelte.315 Als Begründer der Gruppendynamik, die insbesondere in Basbaums Eu/Você-Workshops erfahren wird, entwirft Lewin eine dynamische Theorie, bei der sich Wahrnehmung, Erleben und Verhalten einer Person in ihrem jeweiligen Umfeld wechselseitig bedingen. Dabei tragen die Beziehungen, die innerhalb der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit bestehen, entscheidend zur Persönlichkeitsentwicklung bei.316 Die aus seiner Feldtheorie resultierenden psychologischen Situationen stellt Lewin mathematisch-diagrammatisch dar, um wissenschaftliche Ableitungen zu ermöglichen (Abb. 115). Diese topologischen Darstellungen in Form von Jordankurven und elliptischen Feldern, welche die zwischen Subjekt und Lebensraum entstehende Dynamik abbilden, lassen nicht nur visuelle Parallelen zu Basbaums Diagrammen evident werden, auch das hierin visualisierte psychologische Theorem lässt sich mit dem künstlerischen Ansatz verbinden. So versteht Lewin eine Person nicht als homogene Einheit, sondern als „ein hoch differenziertes Gebilde“, das eine Vielzahl unterschiedlicher Bereiche in sich trägt. Diese stehen weiterhin in einer „dynamischen Kommunikation“ zueinander wie auch zur Au-

315 Vgl. BASBAUM, 2012, S. 197. 316 Maria Majce-Egger definiert Lewins Feldtheorie folgendermaßen: „In der Feldtheorie bilden Person und Umwelt einen interdependenten, unauflöslichen Systemzusammenhang, in welchem der Zustand jedes Teiles von jedem anderen Teil abhängig ist. Die Gesamtheit dieser Bedingungen ist der Lebensraum oder das psychologische Feld einer Person. Das Verhalten einer Person ergibt sich also aus der Totalität der gemeinsamen Faktoren, den Feldkräften, die ein dynamisches Feld im Hier-und-Jetzt konstituieren. Das Verhalten ist somit eine Funktion des Lebensraumes, der durch die Personenfaktoren und die Umweltfaktoren konstituiert ist.“ MAJCE-EGGER, Maria (Hrsg.): Gruppentherapie und Gruppendynamik – Dynamische Gruppenpsychotherapie. Theoretische Grundlagen, Entwicklungen und Methoden, Wien: Facultas, 1999, S. 24.

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ßenwelt, weshalb Lewin die Grenzen einer Person als grundlegend durchlässig auffasst.317 Abbildung 115: Kurt Lewin: The life spaces of a husband and a wife and the social field containing them both, 1951

Basbaums diagrammatische Choreografien und Netzwerke verdeutlichen entsprechend des Lewinschen Theorieansatzes ein Verständnis des Raumes als „soziale Konstellation“, wie Susanne Leeb treffend formuliert. Im Anschluss an das tropikalistische Projekt ist der Raum, der sich durch ein solches spezifisches Beziehungsgefüge bildet, „kein euklidischer mehr, sondern ein topologischer, in dem die Unterscheidung von Innen/Außen nicht mehr als absolute existiert, wie es das Sinnbild eines solchen Raumdenkens, die Möbiusschleife, illustriert. Aufgrund des Insichgedrehtseins kann ihr Außen immer auch ihr Innen sein und umgekehrt.“ 318 Da antihierarchisch organisierte Diagramme ein relationales Denken initiieren und viele verschiedene Lesarten befördern, entspricht dessen Verwendung im Werk Basbaums seinem grundlegenden Streben nach der Beteiligung der Rezipient/innen am Kunstprozess, die von der passiven Betrachtung wegführt. Astrid SchmidtBurkhardt hat ausgeführt, dass Diagramme einen „intraaktiven Wahrnehmungsprozess“ bei den Betrachter/innen auslösen, indem sie nach allen Seiten hin offen sind und von unterschiedlichen Richtungen her gelesen werden können – Beobachtungen, die sich auf Basbaums diagrammatische Darstellungen übertragen lassen: „Das Diagramm bietet viele Einstiegsmöglichkeiten und Pfade. Es gibt kein Leitsystem. Die Orientierung ist nicht zwingend vorgegeben, sondern Ergebnis der Lektüre. Jeder Betrachter wählt sich einen Ausgangspunkt und erarbeitet sich seinen Weg. […] Viele Diagramme […] 317 LEWIN, Kurt: Grundzüge der topologischen Psychologie, hrsg. v. Raymund Falk/ Friedrich Winnefeld, Bern: Verlag Hans Huber, 1969 (1936), S. 175, 177, 182. 318 LEEB, 2012, S. 38. Das Möbiusband bildete bereits den zentralen Ausgangspunkt bei der Entstehung von Clarks Bichos, wodurch erneut die Weiterentwicklung neokonkreter Errungenschaften in Basbaums Kunst offenkundig wird.

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verlangen nach einem wachen, beweglichen Auge, das Bedeutung und Struktur nicht allein durch ein striktes Lesen von links nach rechts, von oben nach unten erfasst, sondern sich im formatierten Großraum vorwärts und rückwärts bewegt. Anders als die lineare Fixierung des Textes stellen Blicksprünge neue Zusammenhänge und damit immer wieder neue Einsichten her. Die Zirkularität der Leserichtungen setzt einen Denkprozess in Gang, der den Betrachter ermächtigt, eigene Akzente zu setzen. In diesem Sinne gewinnt er die intellektuelle Interpretationshoheit. […] Als Vehikel der Inspiration unterstützt das Diagramm intellektuelle Operationen, die von der Produzentenseite angelegt sind, von der Rezipientenseite jedoch maßgeblich gesteuert werden können.“319

Entsprechend visualisiert Basbaum in seinem prinzipiell unabgeschlossenen und prozessual erweiterbaren NBP-Diagramm ein Netzwerk, das unhierarchische und azentrische Verbindungen von Einzelelementen manifestiert, die immer neue Querverweise und Leserichtungen zulassen. Basbaums Diagramm hat zwar die zeitliche Entwicklung des Projekts zur Grundlage, diese wird jedoch vielfach verschränkt und wieder umgekehrt, indem durch das diffuse Liniengeflecht die Aufmerksamkeit auf die vielfache Verknüpfung von Begriffen und grafischen Elementen gerichtet wird, die keinem linearen Narrativ folgt. Da Diagramme eine bestimmte Weltanschauung und Denkweise zum Ausdruck bringen und ebenso ästhetische wie ethische Dimensionen beinhalten,320 lassen sich Basbaums Netzdiagramme zur poststrukturalistischen Konzeption des Rhizoms in Bezug setzen, die von Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem 1980 erschienenen Werk Tausend Plateaus vorgestellt wurde.321 Die Autoren entwerfen darin ein neues Modell der Wissenschaftsorganisation und Weltbeschreibung, das traditionelle, durch eine hierarchische Baumstruktur verbildlichte Wissensmodelle ersetzt und in Opposition hierzu Heterogenität propagiert. Ausgehend von natürlichen Zwiebel- oder Knollengewächsen, die ein vielwurzeliges, in sich verflochtenes System darstellen, wird das Rhizom als offenes Denknetz verstanden, in dem immer wieder neue Erkenntnisverknüpfungen hergestellt und alternative Perspektiven eingenommen werden können. Auch die

319 SCHMIDT-BURKHARDT, Astrid: Die Kunst der Diagrammatik. Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas, Bielefeld: transcript, 2012, S. 28. 320 Vgl. BRUNNER, Christoph: Diagrammieren/Diagrammatische Praxis, in: Jens Badura/Selma Dubach/Anke Haarmann (Hrsg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin: diaphanes, 2015, S. 127-130, hier: S. 129; sowie LEEB, 2012, S. 7. 321 Umberto Eco verweist bei seiner Definition des Netzes entsprechend auf Deleuze und Guattari: „Ein Netz ist kein Baum. […] Das charakteristische Merkmal eines Netzes ist es, daß jeder Punkt mit jedem anderen verbunden werden kann, und wo die Verbindungen noch nicht entworfen sind, können sie trotzdem vorgestellt werden. Ein Netz ist ein unbegrenztes Territorium.“ ECO, Umberto: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig: Reclam 1989, S. 104-109, hier: S 105f.

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eigene Schreibweise der Autoren ist durch die rhizomatische Denkweise charakterisiert, entsprechend offeriert das literarische Werk keine lineare Lesrichtung: Es ist aus verschiedenen Ebenen, sog. Plateaus zusammengesetzt, die miteinander auf jede erdenkliche Weise in Beziehung gesetzt werden können und den Leser/innen an jeder beliebigen Stelle einen Einstieg ermöglichen.322 Mit seiner antihierarchischen, antiessentialistischen und heterogenen Denkweise, die das Potenzial einer Befreiung aus definierten Machtstrukturen beinhaltet, steht das poststrukturalistische Modell des Rhizoms dem Andradschen Konzept der kulturellen Anthropophagie nahe. So wird die rhizomatische Struktur des Buches von Deleuze und Guattari durch das Prinzip der Mannigfaltigkeit charakterisiert, das die Verbindung heterogener Elemente meint. Im Zuge dessen entwickeln die Autoren den Begriff des organlosen Körpers, der den klassischen Subjektbegriff hinterfragt und das Individuum als ein „zusammengesetztes Fragment aus Mehrfachexistenzen“323 begreift: „Ein Buch hat weder ein Objekt noch ein Subjekt, es besteht aus verschieden geformten Materien, aus den unterschiedlichsten Daten und Geschwindigkeiten. […] Ein Buch ist ein […] Gefüge und kann daher nicht zugeordnet werden. Es ist eine Mannigfaltigkeit […]. […] Es ist aber auch einem organlosen Körper zugewandt, der unaufhörlich den Organismus auflöst, der asignifikante Teilchen, reine Intensitäten eindringen und zirkulieren läßt […]. […] Als Gefüge besteht es selber nur in Verbindung mit anderen Gefügen, durch die Beziehung zu anderen organlosen Körpern. Man soll in einem Buch […] fragen, […] womit es funktioniert, in Verbindung mit was es Intensitäten eindringen läßt oder nicht, in welche Mannigfaltigkeiten es seine eigene einführt und verwandelt, mit welchen organlosen Körpern es seinen eigenen konvergieren läßt.“324

Weiterhin konfiguriert das Rhizom ein sich unaufhörlich transformierendes Dazwischen, wodurch es sich jeder Form des Dualismus verweigert: „Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, ein Intermezzo. […] Das Rhizom ist Allianz, einzig und allein Allianz. […] Die Mitte ist […] der Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden. Zwischen den Dingen bezeichnet keine lokalisierbare Beziehung, die vom einen zum anderen geht und umgekehrt, sondern eine Pendelbewegung, eine transversale Bewegung, die in die eine und in die andere

322 Vgl. DELEUZE/GUATTARI, 1997 (1980), S. 14, 16, 37. 323 WENZEL, Anna-Lena: Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst. Ästhetische und philosophische Positionen, Bielefeld: transcript, 2011, S. 98. 324 DELEUZE/GUATTARI, 1997 (1980), S. 12f.

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Richtung geht, ein Strom ohne Anfang und Ende, der seine beiden Ufer unterspült und in der Mitte immer schneller fließt.“325

In seinen Diagrammen entwirft Basbaum ein transkulturelles Denkmodell, das an die literarisch-philosophischen Konzepte der Antropofagia und des Rhizoms anknüpft. An der Schnittstelle zwischen ästhetischem Ausdruck und philosophischer Denkweise stellt die diagrammatische Darstellung einen zentralen Bestandteil zeitgenössischer Praktiken künstlerischer Forschung dar. 326 Entsprechend verdeutlichen Basbaums Diagramme das epistemische Interesse des Künstlers, der experimentell, forschend und beobachtend agiert. Das Zusammenwirken von Kunst und Wissenschaft im Werk Basbaums manifestiert sich ebenso in zahlreichen Texten, in denen der Künstler die brasilianische Kunstgeschichte wie auch sein eigenes Werk reflektiert und interdisziplinär verankert.327 Neben seiner künstlerischen Ausbildung absolvierte Basbaum auch ein Studium der Kunst- und Kulturwissenschaft sowie der Biologie. Indem er zwischen den im Kunst- und Wissenschaftskontext üblichen Rollen stetig wechselt und diese als sich einander bedingende Teile seiner künstlerischen Arbeit versteht, bildet sich ein eigener, subversiver Diskurs aus, der die Deutungshoheit der klassischen universitären Wissenschaftsdisziplinen und deren Methoden in Frage stellt.328 Basbaums künstlerische Forschung beinhaltet damit 325 Ebd., S. 41f. 326 Vgl. BRUNNER, 2015, S. 127ff. 327 Künstlerische Forschung wird verstanden als ein Prozess der ästhetischen Wissensproduktion, bei dem künstlerische Arbeitsweisen mit wissenschaftlichen verknüpft werden, um neues Wissen zu generieren, das über die traditionellen akademischen Wissenschaftsdisziplinen hinausgeht. Vgl. TRÖNDLE, Martin: Zum Unterfangen einer ästhetischen Wissenschaft – eine Einführung, in: Martin Tröndle/Julia Warmers (Hrsg.): Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zu einer transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst, Bielefeld: transcript, 2012, S. XV-XVIII, hier: S. XVI. Zur wissenschaftlichen und insbesondere kunsthistorischen Praxis in der künstlerischen Arbeit vgl. GLASMEIER, Michael (Hrsg.): Künstler als Wissenschaftler, Kunsthistoriker und Schriftsteller. Über Francis Alÿs, Bernhard Blume, Marcel Broodthaers, Richard Hamilton, Jenny Holzer, Agnes Martin, Michelangelo, Jonathan Monk, Panamarenko, Ad Reinhardt, Dieter Roth, Tomas Schmit, Félix Valloton, Jeff Wall, Emmett Williams, Köln: Salon Verlag, 2008. 328 Basbaum verwendet den Begriff Etc.-Artist als Bezeichnung für Künstler/innen, die traditionelle Rollenmodelle des Kunstkontexts überschreiten, kollaborative Kunstwerke schaffen und eine Verbindung von Kunst und Leben suchen. Basbaum wird auch als Kunsthistoriker, dessen Forschungsschwerpunkt auf der neokonkreten Bewegung in Brasilien liegt, wahrgenommen und hat eine Professur am Instituto de Artes der Universidade da Estado do Rio de Janeiro inne. Auch kuratierte er zahlreiche Ausstellungen.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 259

eine immanent politische Dimension und lässt sich im Anschluss an die Definition Jens Baduras und Monika Mokres verstehen als „eine repräsentationskritisch explorierende künstlerische Praxis“ mit dem „Anspruch einer Dekonstruktion hegemonialer Politik […] über den Weg der Ästhetik.“329 In diesem Zusammenhang entwickelt Basbaum seine spezifische Form ästhetischer Wissensproduktion unter Einbeziehung verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven. In seinem 2012 verfassten Essay Em torno do ‘vírus de grupo’. Seminário Guattari não cessa de proliferar [Rund um den ‘Gruppenvirus’. Das Guattari-Seminar hört nie auf, zu wuchern] stellt Basbaum selbst Bezüge zwischen seiner Kunst und poststrukturalistischen Theorieansätzen her, indem er sich auf Guattaris Ausführungen zur Transversalität der Gruppe bezieht. Ausgehend von einer Kritik an zentralisierten Organisationsformen der Psychiatrie, in der eine Hierarchie zwischen Personal und Kranken herrscht, versucht Guattari mit seinem Konzept der Transversalität eine offene kollektive Praxis einzuführen, die konträr zu den engen Grenzen der Institution operiert. Transversalität beinhaltet eine Kommunikation in verschiedene Richtungen und auf unterschiedlichen Ebenen, bei der das Subjekt kollektiv gedacht wird, als eine mit heterogenen Elementen ausgestatte Gruppe, die frei von Determinierungen agieren kann.330 Guattaris konzeptuelle Verbindung des Subjekts mit dem Kollektiv stellt hierbei den zentralen Bezugspunkt für Basbaums künstlerisches Projekt dar, wobei der Künstler Transversalität als eine Technik der

Vgl. BASBAUM, Ricardo: I Love Etc.-Artists, in: Jens Hoffmann (Hrsg.): The Next Documenta Should Be Curated by an Artist, Frankfurt am Main: Revolver, 2004, S. 1415, hier: S. 14. 329 BADURA, Jens/MORKE, Monika: Ästhetik und Politik, in: Jens Badura/Selma Dubach /Anke Haarmann (Hrsg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin: Diaphanes, 2015, S. 319-322, hier: S. 319, 321. 330 Guattari kritisiert die Praxis der Psychiatrie, „zwischen der Welt der Verrückten und der restlichen Gesellschaft“ zu unterscheiden. Im Gegensatz dazu dürfe man die Klient/innen der institutionellen Therapie keinesfalls „aus dem realen gesellschaftlichen Lebenszusammenhang herausreißen.“ GUATTARI, Félix: Transversalität, in: Ders.: Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976 (1964), S. 39–55, hier: S. 39. Transversalität wird von Guattari explizit als politische Praxis verstanden und zielt in einem größeren Zusammenhang auf die allgemeine Deterritorialisierung von Disziplinen, Feldern und Institutionen und will jegliche Formen von Herrschaft unterlaufen. Vgl. NIGRO, Roberto/RAUNIG, Gerald: Transversalität, in: Isabell Lorey/Roberto Nigro/Gerald Raunig (Hrsg.): Inventionen 1, Berlin/Zürich: Diaphanes, 2011, S. 194-196, hier: S. 194f.; sowie GENOSKO, Gary: Félix Guattari. A Critical Introduction, London: Pluto Press, 2009, S. 50f.

260 | Strategien der Einverleibung

viralen Zirkulation innerhalb der Gruppe auffasst.331 Entsprechend lässt sich Basbaums künstlerischer Ansatz als „transversale Kunstpraxis“ 332 beschreiben, bei dem ein gemeinsam produzierter, sozialer Interaktionsraum geschaffen wird. Im weiteren Verlauf des Textes verbindet Basbaum sein künstlerisches Projekt mit dem biologischen Begriff des Virus, den er als Metapher zur Beschreibung von Kultur und Subjektivität nutzt. So bezeichnet der Künstler das zirkulierende NBPObjekt als ein sich ausbreitender Virus, der die Rezipient/innen im körperlichen Kontakt kontaminiert und einen die Subjektivität transformierenden Prozess in Gang setzt.333 Indem das Virus als “Fremdkörper par excellence”334 fungiert, der Körpergrenzen und geografische Demarkationslinien überschreitet, dient er poststrukturalistischen Theoretiker/innen als Metapher für Grenzverhandlungen zwischen Eigenem und Fremdem. Viren wird eine grundlegend fragmentarische Identität zugewiesen, indem sie mutieren und damit permanent ihre Form und Stoßrichtung ändern. Daher findet der Begriff des Virus insbesondere im subversiven Gehalt jener poststrukturalistischen Konzepte Anklang, in denen eine Destabilisierung etablierter Hierarchien theoretisiert wird.335 Dementsprechend verweist Basbaum bei der Konstruktion seines NBP-Projekts auf eine virale Ausbreitungsund Vernetzungslogik und verknüpft seinen Ansatz mit dem Theorem Jacques

331 Vgl. BASBAUM, Em torno do ‘vírus de grupo’. Seminário Guattari não cessa de proliferar, 2012, S. 141, 143. 332 Der Begriff stammt von Susan Kelly, die Guattaris Konzept der Transversalität im Kunstkontext verortet und ausführt: „Transversale Praxen […] intervenieren […] nicht nur in die Strukturen künstlerischer Repräsentation, sondern auch in die institutionellen Strukturen, über die Objekte und Begegnungen produziert und reproduziert werden.“ Konkret geht es darum, „verschiedene Leute zusammenzubringen; darum, manchmal temporär, manchmal dauerhaft soziale Interaktionsräume zu schaffen. […] Die Strukturen der Gruppe beugen offenen Hierarchien vor, und die Arten, in denen sie ihre vielfältigen Praxen verortet, gewährleistet im Großen und Ganzen, dass verschiedene Felder, Institutionen und bestimmbare Praxisformen durchquert und enthindert werden.“ KELLY, Susan: Das Transversale und das Unsichtbare: wie macht man wirklich ein Kunstwerk, das kein Kunstwerk ist?, 2005, URL: http://republicart.net/disc/mundial /kelly01_de.pdf (Zugriff: 09.09.2016), S. 3. 333 Vgl. BASBAUM, Em torno do ‘vírus de grupo’, 2012, S.139. 334 MAYER, Ruth/WEINGART, Brigitte: Viren zirkulieren. Eine Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Virus! Mutationen einer Metapher, Bielefeld: transcript, 2014, S. 7-41, hier: S. 11. 335 Vgl. ebd., S. 8f., 21, 36.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 261

Derridas, der die Methode der Dekonstruktion konzeptionell mit der Begrifflichkeit des Viralen verbindet:336 „If I refer to a viral strategy for the NBP project, it has to do with the particular relation it establishes to the issues of replication, contact, and contagion: the work (relational situations, objects, and installations) seeks a continuous restaging of the initial specific-shape drawing, always with differences, investing in a sort of tactile/haptic condition in which the body is always physically involved. The proposed effects can be organized around Jaques Derrida’s virology: the French philosopher ‘begins a philosophical enterprise that attempts to introduce the Other into the I: a redefinition of the subject. Eventually, this introduction becomes infection, and the Other is radically recast as the virus.’”337

Mit seiner Aneignung der im Poststrukturalismus verhandelten Topik des Viralen aktualisiert Basbaum die Inhalte der Antropofagia, wodurch der Künstler sein Werk mit beiden theoretischen Kontexten verknüpft. Die Analyse des künstlerischen Projekts offenbart die offensichtlichen Analogien zwischen poststrukturalistischem Theorieansatz und Andradschem Konzept, die im beiderseitigen Fokus auf die metaphorische Einverleibung des Fremden und die damit verbundenen Aspekte von Transformation und Hybridität sowie in ihrer interventionistischen Stoßrichtung bestehen. Auch das in der Tradition poststrukturalistischer Denker/innen stehende dekonstruktive Vorgehen Basbaums, einen ursprünglich negativ konnotierten Begriff ins Positive zu wenden, lässt sich mit de Andrades Wandlung der Figur des Anthropophagen vergleichen. So wird die ursprüngliche Bedeutung des Virus als Krankheitserreger und Giftstoff338 vom Künstler überwunden, indem es als kom336 Derrida verweist wiederholt auf die Analogien zwischen dem Virus und der Methode der Dekonstruktion, wobei er deren Gemeinsamkeiten vorrangig im Kriterium der Hybridität sieht: “Comme tout bon parasite, il [le pharmakon] est à la fois dedans et dehors. Le dehors se nourrit du dedans. […] La deconstruction est toujours attentive à cette indestructible logique du parasitage.” Jacques Derrida im Interview mit J.-M- Hervieu, in: Elisabeth Weber (Hrsg.): Points de suspension. Entretiens, Paris: Editions Galilée, 1992, S. 241-267, hier: S. 249. 337 BASBAUM, Post-Participatory Participation, 2012, S. 26. Basbaum zitiert die Ausführungen des Soziologen Thierry Bardini zu Derridas Verwendung des Virus aus: Thierry Bardini: Hypervirus: A Clinical Report, in: Arthur and Marilouise Kroker (Hrsg.): CTheory29, Nr. 1-2, 2/2/2006, URL: http:www.ctheory.net/articles.aspx?id=504 (Zugriff: 23.12.2016). 338 Der aus dem Lateinischen stammende Begriff Virus bezeichnet ursprünglich tierisches Gift. Nach heutigem Verständnis stellen Viren biologische Strukturen dar, die meist Krankheitserreger sind und sich über Wirtszellen vermehren. Die gesellschaftliche Vorstellung vom Virus ist von Beginn an mit den Erfahrungen von Seuchen und Epidemien

262 | Strategien der Einverleibung

munikatives, Kreativität förderndes Element aufgefasst wird, als reisender Überträger von Information. Der Moment des Kontakts und Austauschs mit dem Fremden ermöglicht einen produktiven Transformationsprozess, der in der Schaffung eines positiv verstandenen, hybriden Kollektivs mündet. Basbaums NBP-Projekt eröffnet damit einen kritisch-philosophischen Diskurs, worin ein künstlerischer Widerstand formuliert wird.339 Entsprechend konstatiert der Künstler in Bezug auf die zeitgenössische Adaption der Antropofagia: „Heute situiert sich der künstlerisch-politische Kampf stärker in einem biopolitischen Kontext, in dem Widerstand bedeutet, Lebensformen neu zu erfinden; er konzentriert sich auf die Suche nach einem Ausweg aus der Dominanz aktueller Strukturen dezentraler, nichtlinearer Macht. Die Antropofagia heute als positive Kraft für Interventionen in der Realität wieder zu beleben heißt, sie in heutige Rahmenbedingungen zu verlagern und entsprechend zu aktualisieren. […] Wo Macht, wie es heute überwiegend der Fall ist, permanente Hybridisierung als eine ihrer Hauptstrategien verwendet (man denke nur an die Gentechnologie, genetisch veränderte Lebensmittel, Forschungslabore, die Gene, Proteine, Viren und Bakterien patentieren lassen), müssen auch die Strategien künstlerisch-politischen Widerstands neu formuliert werden.[…] Es ist elementar geworden, unabhängig von nationalen Linien zu arbeiten und nach anderen Arten von kollektiven Zusammenschlüssen und Gruppen zu suchen.“340

Analog zur Rezeption der Antropofagia durch Anna Maria Maiolino und Ernesto Neto verdeutlicht die abschließende Analyse des Werks Ricardo Basbaums somit, in welchem Maße das modernistische Konzept innerhalb eines Teils der zeitgenössischen brasilianischen Kunst von seiner postkolonialen Stoßrichtung losgelöst und für eine Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themenfeldern verbunden, die plötzlich und heftig auftraten und als aus der Fremde kommend angesehen wurden. Das Thema der Ansteckung wurde demnach zur Stereotypisierung von Randgruppen und zur Stärkung von Machthierarchien gebraucht und war mit dem Trennungsprinzip Reinheit versus Unreinheit verbunden. Aus Texten des Spätmittelalters ist ablesbar, dass stigmatisierte Randgruppen wie Söldner, jüdische Mitbürger/innen oder Bewohner/innen ärmerer Stadtteile für die Auslösung und Übertragung von Seuchen verantwortlich gemacht wurden – eine Vorstellung, die sich bis ins 17. Jahrhundert weitertrug, wobei dort auch Apotheker oder Ärzte als Krankheitsüberträger verunglimpft wurden. Vgl. DINGES, Martin: Bedrohliche Fremdkörper in der Medizingeschichte, in: Ruth Mayer/Brigitte Weingart (Hrsg.): Virus! Mutationen einer Metapher, Bielefeld: transcript, 2014, S. 79-95, hier: S. 79ff. 339 Vgl. Ricardo Basbaum im Interview mit Gregory Chaitin und Virginia Chaitin, in: Revista Carbono, Rio de Janeiro, 07/2014, o. Seitenangabe; sowie BASBAUM, Em torno do ‘vírus de grupo’ Seminário Guattari não cessa de proliferar, 2012, S. 135, 140f. 340 BASBAUM, 2005, S. 66.

Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst | 263

fruchtbar gemacht wird. Basbaums künstlerischer Ansatz der Schaffung eines hybriden Kollektivkörpers adaptiert die von de Andrade begründete Strategie der Einverleibung in das heutige globalisierte, digitale Zeitalter, wo sie wiederholt als Geste der Intervention in Bezug auf essentielle Kategorisierungen von Identität eingesetzt wird. Die theoretische Verknüpfung seiner partizipativen, sozial engagierten Kunst mit verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, wie der Sozialpsychologie, der Biologie und des Poststrukturalismus, veranschaulicht die Anschlussfähigkeit und Aktualität des modernistischen Konzepts für die zeitgenössische Kunst. Durch Basbaums Fokussierung auf die Analyse gruppendynamischer Prozesse wird ein weiterer zentraler Aspekt der zeitgenössischen Rezeption der Antropofagia benannt, der sich von den künstlerischen Positionen Maiolinos und Netos abhebt. Mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung im Spannungsfeld von Migration, Ethnizität und Geschlecht operierend, ist den verschiedenen Rezeptionsansätzen das kritisch-subversive Potenzial gemeinsam, das sich in der Auseinandersetzung mit Alteritätsdiskursen manifestiert.

Die Antropofagia als globale Kulturtechnik

Neben seiner Rezeption in der brasilianischen Gegenwartskunst findet Oswald de Andrades Konzept der kulturellen Anthropophagie seit einigen Jahren auch Eingang in das westliche Kunstsystem. Sowohl der deutsche Künstler Dennis Feser als auch die Niederländerin Wendelien van Oldenborgh beziehen sich auf die Inhalte der Antropofagia.1 Die Adaption des brasilianischen Konzepts dient hier einer kritischen Hinterfragung des europäischen Blicks auf fremde Kulturen und der Aufarbeitung der eigenen Kolonialgeschichte. Auch die Rezeption durch das brasilianisch-schweizerische Künstlerduo Maurício Dias & Walter Riedweg verdeutlicht, wie Kulturanthropophagie über nationale Grenzen hinaus nutzbar gemacht wird. Die Künstler leben wechselnd in der Schweiz sowie in Brasilien, wodurch sich ihre künstlerische Arbeit maßgeblich aus der beiderseitigen Erfahrung der zeitweisen Immigration in das Land des Anderen entwickelte. Das Wandeln zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten ermöglicht ihnen neue Perspektiven auf die Antropfagia, die als universeller, offener Denkansatz verstanden wird.2 Die Adaption des Andradschen Konzepts durch europäische Künstler/innen und transnationale Künstlerkooperationen zeigt, dass ähnliche Aspekte angesprochen werden, wie es in der brasilianischen Kunst der Fall ist. So findet anhand der Rezeption

1

Sowohl Dennis Feser als auch Wendelien van Oldenborgh reisten durch Stipendienprogramme nach Brasilien. Feser (*1978, Bingen am Rhein) hielt sich im Rahmen eines DAAD-Postgraduiertenstipendiums in den Jahren 2006 und 2007 in Brasilien auf. Er lebt und arbeitet in Berlin und Gau Algesheim. Van Oldenborgh (*1962, Amsterdam) reiste 2007 als Stipendiatin der Fundação Armando Alvares Penteado nach São Paulo, von wo sie 2010 nach Rotterdam zurückkehrte.

2

Vgl. Maurício Dias und Walter Riedweg im Interview mit Alfons Hug, in: Alfons Hug (Hrsg.): Zeitgenössische Künstler aus Brasilien, Göttingen: Steidl, 2013, S. 27-36, hier: S. 34f. Maurício Dias (*1964, Rio de Janeiro) und Walter Riedweg (*1955, Luzern) begannen ihre Kollaboration 1993 in der Schweiz und leben heute in Basel und Rio de Janeiro.

266 | Strategien der Einverleibung

der Antropofagia eine Verhandlung der Begriffe Postkolonialismus, Körperlichkeit und Hybridität statt. Hiervon ausgehend wird de Andrades Konzept für eine Subversion gesellschaftlicher und kultureller Machthierarchien im heutigen Brasilien fruchtbar gemacht wie auch als politische Intervention gegen aktuelle Nationalismus- und Rassismustendenzen in Europa eingesetzt. Die Tatsache, dass gegenwärtig ein Bezug auf die Antropofagia über nationale Grenzen hinaus in dieser Form stattfindet, verdeutlicht die universalistische Offenheit und aktuelle Relevanz des Konzepts. Die Antropofagia wird somit als globale Kulturtechnik wirksam. Abbildung 116a-c: Dias & Riedweg: Funk Staden, 2007

Wie Adriana Varejão beziehen sich sowohl Dennis Feser als auch Maurício Dias & Walter Riedweg in ihren Arbeiten auf die historischen KannibalismusDarstellungen, um sie als koloniale Stereotype zu dekonstruieren. Dias & Riedwegs Videoarbeit Funk Staden von 2007 (Abb. 116a-c), welche die Künstler für ihre

Die Antropofagia als globale Kulturtechnik | 267

Teilnahme an der Documenta 12 als 3-Kanal-Video-Projektion konzipierten, zitiert die Illustrationen zu Hans Stadens Wahrhaftigen Historia, indem die darin abgebildeten anthropophagen Szenen von Bewohner/innen der Favela Santa Marta in Rio de Janeiro in Form einer heutigen Tanz-Party nachgestellt werden. Das Video zeigt Jugendliche, die auf einem Hausdach ihres Wohnumfeldes ein kannibalisches Fest inszenieren und die wilden Menschenfresser spielen, wobei die zentralen Bildstereotype der Illustrationen des indigenen Ritualkannibalismus parodiert werden: Während auf einem Grill Würstchen und Steaks braten, tanzen die Darsteller/innen zu Funk-Musik um ein offenes Feuer. Der Verweis auf die Einverleibung des Europäers wird durch Requisiten in Form von abgetrennten Körperteilen herbeigeführt, die von menschengroßen, weißfarbenen Schaufensterpuppen stammen. Die Filmaufnahmen werden in zeitlichen Abständen mit den Bildern der Original-Holzschnitte aus Stadens Reisebericht überblendet, wodurch der Bezug auf die historischen Bildvorlagen für die Betrachter/innen nachvollziehbar wird. Indem sich die heutigen Brasilianer/innen das koloniale Stereotyp aneignen und es in ironisch übersteigerter Form zuspitzen, wird es in Andradscher Manier erneut auf Europa zurückgeworfen. Vor dem Hintergrund der Geschichte Stadens, der aus Kassel stammte, eröffnete die in der Sammlung Alter Meister im Schloss Wilhelmshöhe in Form eines Tryptichons installierte Arbeit einen neuen Zugang zur Geschichte der Stadt.3 Mit ähnlichen Strategien der Ironie und Parodie arbeitend, verwendet Dennis Feser in seiner vierzehn-teiligen Text-Bild-Serie colonial/desire von 2007 Kopien der Kannibalismus-Darstellungen aus Theodor de Brys America. Diese werden eigens verfassten kurzen Texten zur Seite gestellt, welche auf die Erfahrungsberichte kolonialer Reisender referieren und das Thema der Anthropophagie beinhalten. 4 Das dritte Element der Arbeit bildet ein Korpus aus Fotografien, welche auf dem Performancevideo organic basieren, das Feser während seines BrasilienAufenthaltes an einem Sandstrand sowie im architektonischen Außenraum realisierte. Die Fotografien zeigen den Künstler, der mithilfe von Klebeband und Frischhaltefolie Früchte, Salat und Pflanzen an seinem Körper fixiert und sich so eine grotesk anmutende Kleidung anlegt, die Analogien zu einer Rüstung befördert (Abb. 117).5 3

Vgl. BUERGEL, Roger M. (Hrsg.): documenta Kassel 16/06-23/09/2007, Ausst.-Kat. documenta 12, Museum Fridericianum, Kassel, Köln: Taschen, 2007, S. 232; sowie ASPIRON, Nicole/FETZER, Fanni (Hrsg.): Maurício Dias & Walter Riedweg. Kleine Geschichten von Bescheidenheit und Zweifel, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Luzern, Zürich: JRP Ringier Kunstverlag, 2014, S. 99, 142.

4

So lautet eine Textpassage: Offensichtlich war er bereits eng mit der Meute verbunden. Mit der Zunge spürte er seine sorgfältig spitz gefeilten Zähne.

5

Das 4:30-minütige Video organic dokumentiert die Performance. Es zeigt in wechselnder Abfolge den Künstler an einem kargen Sandstrand, der mithilfe von Klebeband sei-

268 | Strategien der Einverleibung

Abbildung 117: Dennis Feser: colonial/desire, 2007

Während in Funk Staden die Brasilianer/innen in der Rolle der Kannibal/innen agieren, nimmt Feser durch seine Verkleidung als Krieger die Haltung des kolonialen Eroberers ein. Zugleich stellt organic den Versuch dar, sich die fremde Kultur durch ein Einkleiden mit Naturmaterialien einzuverleiben, womit er sich auf die stereotypen Vorstellungen des Rousseauschen Naturmenschen bezieht.6 Es ist die Ambivalenz aus Faszination und Abscheu des ethnografischen Blicks, auf die Feser in seiner Arbeit referiert. Die Aktion des Künstlers führt vor, wie sich diese „sehn-

nen Körper mit Geäst und Pflanzen einkleidet und sich eine Art Helm aus Papayas formt. In einer weiteren Szene sehen die Zuschauer/innen Feser auf einem Hochhausdach stehend, der seinen Körper mit Salat, Gemüse und Frischhaltefolie ummantelt. An einem dritten Drehort fixiert sich der Künstler mit Frischhaltefolie an einem zwischen zwei Häuserwänden liegenden Gestänge. Die in colonial/desire verwendeten Fotografien bilden die verschiedenen Stadien dieses Einkleidungs- und Fixierungsprozesses ab und verbinden Fesers Performance konzeptionell mit dem Thema der Anthropophagie. 6

Mit der Einbeziehung eines Drehortes am Sandstrand und der Verwendung von Pflanzen bezieht sich Feser auf Hélio Oiticicas in seiner Installation Tropicália geschaffene tropische Szenerie. Die Präsenz von Früchten stellt wiederum einen Verweis auf Lygia Clarks Performance Canibalismo dar, in der das anthropophage Ritual durch ein Verspeisen von Früchten metaphorisch vollzogen wurde. Indem der Strand in organic jedoch einsam und karg und Fesers Verkleidung mit Früchten grotesk wirkt, wird das Klischee vom tropischen Paradies ironisch durchbrochen. Vgl. KARENTZOS, 2014, S. 265f.

Die Antropofagia als globale Kulturtechnik | 269

süchtige Fiktion in den weißen Körper einschreibt.“7 Während Dias & Riedweg in ihrer Arbeit die ehemals Kolonisierten die historischen Kannibalismusdarstellungen „postkolonial gebrauchen“ lassen und so einen Beitrag zur „Dekolonisierung der visuellen Kultur der Globalisierung“8 leisten, stellt Feser den eigenen, als weiß markierten Körper ins Zentrum seines Werks und wendet damit das Andradsche Konzept aus entgegengesetzter Perspektive heraus an. Indem ihm die Strategie der Einverleibung für eine Hinterfragung des eigenen europäischen Standpunkts dient, nimmt er ebenso die Haltung eines postkolonialen Kritikers ein. 9 Durch den ironischen Umgang mit dem kolonialen Stereotyp und die Übertragung in die heutige Zeit werden aktuelle Sichtweisen von Eigen und Fremd sowie die Mechanismen von Inklusion und Exklusion befragt. Auch zeitgenössische Erwartungshaltungen auf Brasilien werden enttäuscht, indem die Betrachter/innen anstatt eines tropischen Paradieses mit den gegenwärtigen Architekturen der Armenviertel und der Modernität brasilianischer Großstädte konfrontiert werden. So zeigt die Schlusseinstellung in organic Feser auf einem Hochhausdach, in der Pose einer romantischen Rückenfigur, auf die von dichtem Nebel oder Smog umgebenden Hochhäuser São Paulos hinabblickend. In seiner grotesken Maskerade wirkt der Künstler völlig verloren und deplatziert.10 Mit dem Aspekt der Maskerade referiert organic auch auf den brasilianischen Karneval, wodurch der subversive Ansatz des künstlerischen Projekts fortgeführt wird. In Analogie zu Michail Bachtins Konzept der Karnevalisierung11 verwandelt sich Feser durch seinen Versuch eines Übergangs des zivilisierten Körpers in sein naturhaftes Gegenstück in ein groteskes Hybridwesen, das einen kulturellen Zwischenraum eröffnet.12 Entsprechend konstatiert Alexandra Karentzos, dass Feser fixierte Konstrukte von Identität und Reinheit subvertiert: „What emerges in the anthropophagy concept is the ambivalence between adaptation and transgressing boundaries. By taking up this concept, time and again associated with Brazilianness, Feser himself slips into the role of the anthropophagite and subverts the self7

Dennis Feser in einem unveröffentlichten Manuskript, zit. n. Stephan Berg: Die Hybridisierung des Körpers, in: Stephan Berg/Dennis Feser/Sabine Kampmann (Hrsg.): Dennis Feser. Various Tapes, Braunschweig: Ruth Printmedien, 2009, S. 49-56, hier: S. 55.

8

SCHMIDT-LINSENHOFF, Viktoria: Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert. 15 Fallstudien, Marburg: Jonas Verlag, 2010, S. 30.

9

Vgl. KARENTZOS, 2014, S. 267f.

10

Vgl. KAMPMANN, Sabine: Inversion durch Gemüse. Körperproduktionen in der Videoperformance, in: Stephan Berg/Dennis Feser/Sabine Kampmann (Hrsg.): Dennis Feser. Various Tapes, Braunschweig: Ruth Printmedien, 2009, S. 65-72, hier: S. 70.

11

Vgl. KARENTZOS, 2014, S. 267.

12

Vgl. KAMPMANN, 2009, S. 70f.

270 | Strategien der Einverleibung

exoticising of hegemonic discourses. Feser himself sees Brazilian culture as an amalgam ‚that eats and digests good European taste and the Old World’s ways of live, and brings forth something new, hybrid.‘ In his work he reveals the constructions of identity. Whereas Oiticica and de Andrade still cling to something genuinely Brazilian, Feser challenges these categorisations completely and disrupts them to the point that such attributions are no longer possible.”13

Fesers Konstruktion eines grotesken Körpers weist insbesondere Ähnlichkeiten mit Ernesto Netos Humanóides auf, anhand derer ein hybrides Identitätsverständnis formuliert wird. Sabine Kampmann sieht in Fesers Maskerade entsprechend die Dekonstruktion binärer Geschlechterverhältnisse verwirklicht, wenn sie schreibt: „Fesers humorvolle Körpermodelle aus Klebeband und Gemüse verkörpern eine weitergehende Inversion und somit Subversion der Geschlechterverhältnisse.“14 Dieser Zusammenhang lässt sich auch auf den kolonialen Kontext übertragen, indem der Künstler mit seinen grotesken Körpererweiterungen „zu Reflexionen authentischer Männlichkeit zwischen Eroberer, Kolonialherr und kolonialisiertem Krieger“ anregt.15 Abbildung 118: Wendelien van Oldenborgh: Mauritsscript, 2006

Während sich Dennis Feser und Maurício Dias & Walter Riedweg auf die koloniale Ikonografie beziehen, eignet sich Wendelien van Oldenborgh in ihrer Arbeit Maurits Script (Abb. 118) historische Textdokumente an, um die niederländische Kolonialgeschichte in Brasilien aufzuarbeiten. Mauritis Script ist eine 67-minütige Vi-

13

KARENTZOS, 2014, S. 266f. Bei der in einfachen Anführungszeichen gesetzten Pas-

14

KAMPMANN, 2009, S. 67.

15

Ebd., S. 71.

sage zitiert Karentzos ein Statement Dennis Fesers.

Die Antropofagia als globale Kulturtechnik | 271

deoarbeit, die 2006 innerhalb eines Tages im Goldenen Raum des Mauritshuis in Den Haag aufgezeichnet wurde. Dieses Adelspalais, das heute die Königliche Gemäldegalerie beherbergt, ließ Johan Maurits van Nassau zur Mitte des 17. Jahrhunderts als seinen Wohnsitz erbauen, während er das Amt des Gouverneurs der niederländischen Kolonie in Brasilien innehatte. Van Nassaus Biografie wurde nach seiner Rückkehr in die Niederlande von dem Historiker Caspar Barlaeus in glorifizierender Weise niedergeschrieben. Die heutige Geschichtsschreibung gibt diese Darstellung van Nassaus als frühen Modernisten und Humanisten weitestgehend unhinterfragt wieder. Van Oldenborgh verfasste ein Filmskript, das auf Briefen van Nassaus basiert, die verschiedenen weiteren Textfragmenten aus Quellen der Zeit collageartig gegenübergestellt werden.16 In dekonstruktivisitischer, anthropophager Manier17 arbeitet die Künstlerin so die hinter der offiziellen Geschichtsschreibung stehenden imperialistischen Interessen und rassistischen Ideologien heraus, wobei

16

Johan Maurits van Nassau hatte von 1637 bis 1644 das Amt des niederländischen Gouverneurs in Brasilien inne. Im Skript zitiert van Oldenborgh Passagen aus Caspar Barlaeus’ 1647 verfasstem Buch Nederlands Brazilië onder het bewind van Johan Maurits van Nassau 1637–1644, welches u.a. Briefe van Nassaus beinhaltet. Van Nassau werden im Skript weitere Charaktere zur Seite gestellt. So tritt der gebürtige Dresdener Zacharias Wagener auf, der Küchenschreiber van Nassaus war und 1648 sein Thierbuch veröffentlichte, welches mehr als Hundert Illustrationen und Beschreibungen enthält zu Flora, Fauna und Menschen in Brasilien. Auch verwendet die Künstlerin Teile aus den Briefen Vincent Joachim Solers. Soler war spanischer Herkunft und ein reformierter Prediger, der zwischen 1636 und 1644 in Brasilien die indigene und afrikanische Bevölkerung christianisierte. Eine weitere Quelle stellen die im Jahr 1648 von Frei Manuel Calados unter dem Titel O Valeroso Lucideno e Triunfo da Liberdade veröffentlichten Chroniken dar. Der Portugiese reiste 1607 nach Pernambuco, wo er im Widerstand gegen die niederländischen Invasoren tätig war. Zudem finden sich im Skript Stimmen der van Nassau unterstellten politischen Räte sowie von Vertretern der Niederländischen Westindien-Kompanie, die das damalige Handelsmonopol für Westafrika und Amerika innehatte. Ein weiterer Charakter ist Gaspar Dias Ferreira, der 1618 von Lissabon nach Recife emigrierte und dort mit van Nassau kollaborierte, was die genannten Quellen belegen. Vgl. van OLDENBORGH, Wendelien: Maurits Script, Utrecht: Casco – Office for Art, Design and Theory, 2006, URL: http://www.wilfriedlentz.com/INS/TXT/21 /Mauritsscript-english.pdf (Zugriff: 16.02.2017), o. Seitenangabe.

17

Mit ihrem Vorgehen steht die Künstlerin insbesondere in der Tradition von de Andrades Pau Brasil-Dichtung, in der sich der Schriftsteller kolonialer Quellen bedient, die er im Sinne einer anthropophagen Geste ironisch verwertet.

272 | Strategien der Einverleibung

insbesondere van Nassaus Beteiligung am Sklavenhandel hervortritt, 18 wie ein Auszug aus dem Skript verdeutlicht: „Director of Angola, West Indies Company Report by P. Morthamer, having just been appointed director of Angola, 29 June 1643, addressed to the Zeeland Chamber of WIC, Middelburg The Portuguese are much better slave traders than we are. They can easily carry five hundred blacks on a small Caravelle, whilst our larger ships can hardly transport three hundred at a time. Through their care for the Negroes, with good sanitation, nutrition, and blankets, the Portuguese seldom have deaths on their ships. Besides this, they let the blacks get used to the life of a slave in Africa, so that they don’t feel the lack of freedom when they get to the New World. When we follow their example, we maintain better goods, have a lesser death toll during transport, and can obtain higher prices in Brazil. Johan Maurits Political testament of 1644 It will be for the benefit of the Company if the Negroes are better looked after. From the six thousand four hundred people that were sent over from Africa six months ago, one thousand five hundred and twenty-five have not reached their destination alive. I cannot attribute this to anything else other than their wretched treatment in the ships, where they are kept dirty, badly fed, and end up perishing. According to the size of their bodies, they differ in price. They should be given time to gain strength after the sea journey; without that, these emaciated beings sink below all prices. Weakened by the journey, they soon die after disembarking.“19

18

Vgl. PETHIK, Emily: Einführung, in: Wendelien van Oldenborgh: Maurits Script, Utrecht: Casco – Office for Art, Design and Theory, 2006, URL: http://www.wilfried lentz.com/INS/TXT/21/Mauritsscript-english.pdf (Zugriff: 16.02.2017), S. 1.

19

Van OLDENBORGH, 2006, o. Seitenangabe. Unter den Charakteren sind im Skript jeweils die Quellen der daraus entnommenen Textpassagen zitiert, die von van Oldenborgh nicht verändert wurden. Die Künstlerin reflektiert in ihrem Skript eine sehr konfliktbehaftete Zeit, in der die Niederlande mit Portugal um die Vormachtstellung der Kolonialherrschaft in Brasilien rivalisierten. Kurz nach Ankunft van Nassaus in Brasilien fanden bereits schwere Kämpfe statt, woraufhin die Niederlande im Jahr 1654 die brasilianische Kolonie an Portugal verloren. Die Charaktere des Skripts vertreten teilweise unterschiedliche Interessen innerhalb dieses Konflikts. Van Oldenborgh arbeitet so die Paradoxien einer Geschichte heraus, die von verschiedenen Blickpunkten aus betrachtet wird. Vgl. GORDON, Avery F.: The Hawthorn Archive. On Maurits Script, 2006, in: Wendelien van Oldenborgh/Emily Pethick (Hrsg.): Wendelien van Oldenborgh. Amateur, Berlin: Sternberg Press, 2015, S. 131-159, hier: S. 134ff.

Die Antropofagia als globale Kulturtechnik | 273

Im Video werden die Standpunkte der früheren Kolonialherren von acht Darsteller/innen unterschiedlicher kultureller Hintergünde vorgetragen, die von van Oldenborgh aufgrund ihrer persönlichen Involviertheit mit dem Thema ausgewählt wurden, wonach sich viele als Nachfahren der ehemaligen Sklav/innen verstehen. 20 Ähnlich wie es in Dias & Riedwegs Arbeit zum Ausdruck kommt, ist es ein grundlegendes Anliegen der Künstlerin, den postkolonialen Subjekten eine Stimme zu geben, was sie wie folgt formuliert: „The reading of the historical words opens up a space for other voices, the voices that perhaps did not write history.“ 21 Gleichzeitig entsteht eine Irritation bei den Zuschauer/innen, die nicht nur die stereotypen Vorstellungen der historischen Charaktere in Bezug auf fremde Kulturen zur Disposition stellt, sondern auch den eigenen Umgang mit Alterität hinterfragt. Das Video zeigt die Schauspieler/innen, die ihre Texte nüchtern ablesen, wobei deutlich wird, dass sie sich nicht mit ihrer Rolle identifizieren. Während Dias & Riedweg sowie Feser stereotype Sichtweisen durch parodistische Praktiken subvertieren, bedient sich van Oldenborgh hiermit einer Form des Brechtschen Verfremdungseffekts.22 Die Zwei-Kanal-Video-Projektion zeigt neben den einzeln aufgezeichneten Reden der Akteur/innen ebenso Aufnahmen der um einen Tisch versammelten Darsteller/innen, welche die Auswirkungen der niederländischen Kolonialgeschichte auf die Gegenwart diskutieren. Van Oldenborgh eröffnet so einen vielstimmigen Diskurs über das koloniale Erbe. Indem sie zusätzlich jeden historischen Charakter in Maurits Script von zwei Stimmen sprechen lässt, konstituiert sich das Element der Polyphonie auf einer weiteren Ebene, wie Anke Bangma analysiert:

20

In Maurits Script wirkten besonders viele Darsteller/innen mit, die einen surinamischen Migrationshintergrund aufweisen. Surinam ist ein Staat Südamerikas, der im 17. Jahrhundert durch die Niederlande kolonisiert wurde. Die Bevölkerung setzt sich zu großen Teilen aus Nachkommen ehemaliger Sklav/innen zusammen. In den 1970er und 1980er Jahren emigrierten viele Surinameser/innen ins Ausland. In den Niederlanden lebt heute eine große Gemeinschaft von Menschen surinamischer Herkunft. Darauf bezugnehmend wird in van Oldenborghs Skript auch auf die niederländische Kolonialherrschaft in Surinam eingegangen. Vgl. NESS, Immanuel (Hrsg.): The Encyclopedia of Global Migration, Chichester: Wiley-Blackwell, 2013, S. 848f., 1273f., 2296.

21 22

Wendelien van Oldenborgh in einem Statement, zit. n. GORDON, 2015, S. 137. Bertold Brecht entwickelte dieses Stilmittel für das Theater, wonach die Schauspieler/innen eine offensichtliche Distanz zu ihrer Rolle wahren sollen. Somit wird verhindert, dass das Publikum die vorgetragene Meinung als gegeben annimmt, wodurch eine kritische und bewusste Wahrnehmung des Gezeigten befördert wird. Vgl. BANGMA, Anke: Wendelien van Oldenborgh, Sarah Vanagt, in: Kunstjournalen B-post, Bøvågen, Ed. 1_10/11, 2010, URL: http://www.kunstjournalen.no/11_eng/anke-bangma-wend elien-van-oldenborgh-sarah-vanagt (Zugriff: 13.05.2016), o. Seitenangabe.

274 | Strategien der Einverleibung

„This kind of polyphony, in which multiple conflicting, yet equal voices intersect, is characteristic for Van Oldenborgh’s work. Each of the recited statements not only represents a historical point of view but is also imprinted with the accent and ethnic background of its contemporary performers, and resonates with their responses to the words they articulate. Thus, each historical document is literally made to speak in a double voiced discourse, which makes the conflicting perspectives of the historical narratives rub against each other.”23

Maurits Script ist Teil des Projekts A Certain Brazilianness, das van Oldenborgh 2004 initiierte und verschiedene, an die Filmproduktion angelehnte interaktive Arbeiten beinhaltet, die sich explizit auf de Andrades Manifest beziehen. 24 Analog zum künstlerischen Ansatz Ricardo Basbaums setzt van Oldenborgh Heterogenität als Basis für einen kreativen Austausch, in welchem die Konstruktion von Subjektivität ständig neu positioniert wird:25 „A Certain Braziliannes starts with the productivity of difference, which overlaps with concepts in different fields, for instance polyphony and polyrhythmic in music, use of pluriform text or -language types in literature or a non-hierarchical organisation of space: a productive result of multiplicity. A Certain Brazilianness puts the idea of fixed identities and therefore also national identities, up for discussion, in the acknowledgement that ‚identities are transformational, sliding and shifting in an ongoing complex stream of becoming […].‘”26

23

Ebd.

24

Vgl. Webseite zu Wendelien van Oldenborghs Projekt A Certain Brazilianness, 2004, URL: http://www.acertainbrazilianness.net/htmlpages/introduction.html#concept (Zugriff: 14.05.2016).

25

Das grundlegende Verbindungsglied zwischen Basbaums Novas Bases Para A Personalidade und van Oldenborghs A Certain Braziliannes liegt in der Realisierung performativer Gruppeninteraktionen, wodurch Räume des interkulturellen Dialogs eröffnet werden. Dabei lassen sich insbesondere Basbaums Collective Conversations mit van Oldenborghs Projekt vergleichen, da in beiden Fällen die Auseinandersetzung mit Sprache zentral ist, die sich im Schreiben eines Skripts und im darauffolgenden öffentlichen Diskurs realisiert. Vgl. BASBAUM, Ricardo/van OLDENBORGH, Wendelien: Conversations 2004-15, on Polyphonic Stage, 2004-05, in: Wendelien van Oldenborgh/Emily Pethick (Hrsg.): Wendelien van Oldenborgh. Amateur, Berlin: Sternberg Press, 2015, S. 101-129, hier: S. 101ff.

26

Webseite zu Wendelien van Oldenborghs Projekt A Certain Brazilianness, 2004, URL: http://www.acertainbrazilianness.net/htmlpages/introduction.html#concept

(Zugriff:

14.05.2016). Wie Basbaum greift somit auch van Oldenborgh den persönlichkeitstransformierenden Aspekt der anthropophagen Metapher auf.

Die Antropofagia als globale Kulturtechnik | 275

A Certain Brazilianness wird als eine anthropophage Lebenseinstellung verstanden, die das Verschlingen, Adaptieren und Benutzen kultureller Formen meint. Der 2004 unter dem Titel Polyphonic Stage in Rotterdam realisierte erste Teil des Projekts beinhaltete zunächst die Ausführung eines innenarchitektonischen Konzepts, das sich Elemente der brasilianischen Kulturgeschichte aneignete. 27 Als Veranstaltungsort diente ein Pavillon in Form eines architektonischen Parasiten (Abb. 119).28 Dieser wurde in Anlehnung an das ursprünglich in Rio de Janeiro gelegene Haus von Tia Ciata, einer Priesterin des Candomblé,29 umgestaltet.30 Deren Wohnhaus diente als Versammlungsort, an dem religiöse Rituale vollzogen wurden und sich der Samba entwickelte. Entsprechend liest van Oldenborgh den Grundriss des Hauses Tia Ciatas, dem eine non-hierarchische Organisation von Raum zugrunde liegt,

27

Das Teilprojekt Polyphonic Stage wurde im Rahmen von van Oldenborghs Beteiligung an der Ausstellung Entre Pindorama im Künstlerhaus Stuttgart initiiert, an der auch Basbaum teilnahm. Bereits im Vorfeld bestand ein reger Austausch zwischen Basbaum und van Oldenborgh, der dazu führte, dass Basbaum als Rechercheur, Drehbuchautor und Darsteller aktiv an der Realisierung von van Oldenborghs Arbeit mitwirkte. Auch veranstaltete er im Setting von Polyphonic Stage einen Eu-Você-Workshop. Vgl. BASBAUM/van OLDENBORGH, 2015, S. 101ff.

28

Der Pavillon mit Namen Het Beest [Das Tier] wurde 2001 vom Architekten Alexander van de Beld vom Büro Onix geschaffen und befindet sich auf einem Schulhof. Wie in Maurits Script bindet van Oldenborgh auch in Polyphonic Stage den symbolischen Gehalt der Architektur, in der ihr Projekt stattfindet, konzeptionell in das künstlerische Werk ein. Entsprechend verweist der architektonische Parasit auf eine virale Topik, die mit anthropophagen Inhalten korrespondiert. So bezeichnet van Oldenborgh die künstlerische Erfahrung als Prozess einer Kontaminierung. Vgl. ebd., S. 102.

29

Der Candomblé-Glaube ist eine afro-brasilianische Religion, die von afrikanischen Sklav/innen nach Brasilien gebracht wurde und dort durch den Kontakt mit europäischen und indigenen Religionsformen eine synkretistische Umformung erfuhr. Gottheiten, Rituale und Candomblé-Feiertage sind heute ein wesentlicher Bestandteil der brasilianischen Folklore. In van Oldenborghs Verweis auf die afro-brasilianische Kultur und den Synkretismus findet sich das von der Antropofagia entworfene Kulturverständnis einer positiv verstandenen Hybridität der brasilianischen Kultur wieder. Vgl. de OLIVEIRA PINTO, Tiago: Capoeira, Samba, Candomblé. Afro-brasilianische Musik im Recôncavo, Bahia, Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde Berlin: Abteilung Musikethnologie, Berlin: Reimer, 1991, S. 160ff.

30

Der Innenraum des für die Polyphonic Stage dienenden Gebäudes wurde dahingehend in drei Zonen unterteilt, sodass ein bühnenartiger Raum entstand, auf dem eine textbasierte und eine musikalische Inszenierung realisiert wurden, sowie zwei weitere Räume, die für Konversationen vorgesehen waren.

276 | Strategien der Einverleibung

als Visualisierung des gesellschaftlichen Austauschs und der Heterogenität. 31 Während des mehrtägigen Projekts stand das Haus allen Besucher/innen offen, die sich so in die Diskussion einbringen konnten. Die performativen Aktionen des Projekts wurden gefilmt und als nächtliche Live-Übertragung an eine Außenwand des Gebäudes projiziert. So sollten Passant/innen auf das Projekt aufmerksam gemacht werden und sich zur Teilnahme eingeladen fühlen.32 Abbildung 119: Wendelien van Oldenborgh: A Certain Brazilianness, Polyphonic Stage, 2004-2005

31

Vgl. van OLDENBORGH, 2005, S. 102. In Zusammenhang mit der Durchdringung von privatem und öffentlichem Raum und den Hybridisierungspraktiken, die im Candomblé und im Samba zum Ausdruck kommen, symbolisiert nach Maria Moreira Tia Ciatas Haus einen Ort des produktiven Aufeinandertreffens verschiedener Kulturen: „When analysing the plan for Tia Ciata’s house at Visconde de Itaúna St […], I understood the model of conflict-with-no-exclusion-of the other could be retraced as a collective performance, read directly from the space, just by following the positioning of the various activities on offer to the guests.“ MOREIRA, Maria: Urban Image and Otherness. An investigation through practice of installation art, 2004, URL: www.acertainbrazilianness .net/htmlpages/urban_image01.html (Zugriff: 14.05.2016), o. Seitenangabe. Bereits Oiticica hatte sich auf Tia Ciata bezogen, indem er in seiner Installation Éden befindliche Kabinen nach ihr benannte. Diese Hütten waren mit roter Plastikfolie ausgestattet, die das Licht filterten, und mit Matratzen ausgelegt, die zum Verweilen einluden. Der Bezug auf den Candomblé wurde hier auch durch das Abbrennen von Weihrauch hergestellt. Vgl. OITCICA, 2013 (1969), S. 240.

32

Vgl. LENTZ, Wilfried: Tia Ciata’s Open House: The Eeveryday As Stage, Booklet zur Ausstellung in der Wilfried Lentz Gallery, Rotterdam: J. Bout & Zonen, 2009, o. Seitenangabe.

Die Antropofagia als globale Kulturtechnik | 277

Das Projekt beinhaltete die Ausarbeitung eines Skripts, das anschließend in Form einer Diskussion aufgeführt wurde. Den inhaltlichen Ausgangspunkt bildeten hierbei sowohl Bachtins Konzept der Polyphonie als auch Mário de Andrades Erzählung Macunaíma.33 Ausgehend von einer Aufnahme und Verarbeitung dieser Vorbilder, in denen die Hybridisierung von Sprache und Identität theoretisiert und literarisch vollzogen wird, bestand das künstlerische Anliegen darin, „Möglichkeiten von Polyphonie, Simultanität und gesellschaftlicher Dynamik innerhalb von Heterogenität (bei möglicherweise gegensätzlichen Interessen) zu untersuchen, um produktives Handeln, Erneuerung und Erfindung anzuregen.“34 Weiterer Programmpunkt war eine Jamsession, zu der sich Musiker aus der HipHop-Szene Rotterdams zusammenfanden. Die Künstler entwickelten hierbei Raps und Rhythmen, die aus einer Mischung aus brasilianischen Klängen und westlichen Musikelementen basierten. Mit der Einbeziehung des HipHop findet sich erneut ein Verweis auf Emanzipationsstrategien der schwarzen Kultur. Der HipHop entstand Ende der 1970er Jahre in New York und fungierte dort als ein politisches Sprachrohr der marginalisierten Jugendlichen aus den Schwarzen- und Migrantenghettos. In der darauffolgenden globalen Verbreitung der HipHop-Kultur wurde die US-amerikanische Stilrichtung in unterschiedlichen lokalen Kontexten produktiv aufgenommen und mit dem jeweils spezifischen Erfahrungs- und Problemhorizont verknüpft. Die HipHop-Kultur verfolgt einen demokratischen Ansatz, wonach sie einen grundlegend performativen, gemeinschaftsstiftenden Charakter besitzt. 35 In 33

Entsprechend Bachtins Konzeption von Polyphonie in Bezug auf das Wesen der Sprache versteht van Oldenborgh den Begriff als eine antihierarchische Pluralität von Stimmen, die miteinander dialogisch interagieren. Dementsprechend fungiert die polyphone Station van Oldenborghs als eine Bühne, auf der Standpunkte und Meinungen ausgetragen werden. Mário de Andrades Roman steht für Wendelien van Oldenborgh als „Stellvertreter für den grotesken brasilianischen Volkskörper.“ Van OLDENBORGH, 2005, S. 98.

34

Ebd., S. 104. In diesem Zusammenhang stellt die Arbeit vielfach Bezüge zu heterogenen Elementen der brasilianischen Kultur her, wie eine von der Protagonistin Corinne vorgetragene Passage aus dem Filmskript verdeutlicht: „And Macunaíma is the hero… And also: the giant has two names… the giant is Piaimã, which is a name coming from the Indians, and another name is: Venceslau Pietro Pietra, which comes from Venice, in Italy. So he has a link with Europe, and he is double, just like the Orishas from the Afro-Brazilian cult, the Candomblé, who are linked with the Catholic Saints in Brazil. There are doubles every – everywhere, … there are doubles everywhere…” Fragment aus dem Filmskript der ersten Polyphonic Stage, zit. n. van OLDENBORGH, 2005, S. 101.

35

Vgl. ANDROUTSOPOULOS, Jannis (Hrsg.): HipHop. Globale Kultur – lokale Praktiken, Bielefeld: transcript, 2003, S. 11f.

278 | Strategien der Einverleibung

der Rap-Musik werden weiterhin Formen individueller Kreativität erprobt, wobei Improvisation und freie Assoziation zentrale Elemente darstellen, was van Oldenborghs Anliegen der Schaffung eines offenen Dialograumes entspricht.36 Ähnlich wie van Oldenborgh verknüpfen auch Dias & Riedweg in ihrer Arbeit Funk Staden die HipHop-Kultur konzeptionell mit der Antropofagia, indem sie die koloniale Geschichte Stadens in die heutige Funk-Kultur der Favelas transportieren. Der Rio Funk ist eine sehr populäre Form des HipHop in Brasilien, die in den Armenvierteln von Rio de Janeiro entwickelt wurde und noch heute eine Subkultur darstellt.37 Mit der Wahl der Favela als Drehort von Funk Staden und ihrer Bewohner/innen als Protagonist/innen lenken die Künstler den Fokus auf aktuelle Ausgrenzungsmechanismen und soziale Unterschiede im heutigen Brasilien. Entsprechend der Bezüge auf den Karneval und den Samba, die sowohl im Manifesto Antropófago als auch in den Werken Tarsila do Amarals und Hélio Oiticicas zentral sind, wird in diesem Zusammenhang auch die HipHop-Kultur als ein Moment des gleichen Projekts, des Widerstands der Peripherie, aufgefasst. Hierdurch wird das emanzipatorische Moment der modernistischen und tropikalistischen Bewegungen aktualisiert, in denen eine Hinwendung zur Marginalität und eine Aufwertung der afro-brasilianischen Kultur künstlerisch vollzogen wurde.38 36

Vgl. van OLDENBORGH, 2005, S. 104.

37

In Brasilien formierte sich Mitte der 1980er Jahre eine eigenständige HipHop-Szene innerhalb der Jugendkultur. Ausgangspunkt hierfür war die Entwicklung einer emanzipierten, kollektiven Identität der Afro-Brasilianer/innen. Die Auseinandersetzung mit Identität und Rassismus, mit dem Leben in der Peripherie und der Konfrontation mit Gewalt steht bis heute im Zentrum des Raps. Die Texte thematisieren die Erfahrung von Diskriminierung, um auf soziale und gesellschaftspolitische Missstände zu verweisen. Wenn im brasilianischen Rap von preto [schwarz] die Rede ist, meint dies nicht nur die ethnische, sondern vor allem auch eine milieu- und klassenspezifische Komponente. Damit besitzt der HipHop in Brasilien eine politische und soziale Funktion, der sich als Protest der ausgegrenzten Bevölkerung artikuliert. Vgl. WELLER, Wivian: Hiphop in São Paulo und Berlin, in: Elke aus dem Moore/Giorgio Ronna (Hrsg.): Entre Pindorama. Zeitgenössische Kunst und die Antropofagia, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Stuttgart, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2005, S. 158-163, hier: S. 159.

38

Die Favela-Bewohner/innen werden in Dias & Riedwegs Arbeit aus ihrer passiven Opferrolle herausgelöst, wodurch der subversive Ansatz des künstlerischen Werks deutlich wird. So konstatieren die Künstler: „Die Favela nimmt in unserer Arbeit einen besonderen Raum ein. Einerseits kann man sie als einen gesellschaftlich marginalisierten Ort darstellen, andererseits ließe sich diese Wahrnehmungslogik auch umkehren: Man könnte sich die Favela als ein Zentrum des Denkens und der unabhängigen Einstellungen vorstellen, wo andere Bezüge herrschen und demzufolge eigene Ausdrucksformen angemessen sind. Die sozialen und kulturellen Beziehungen in der Favela unterscheiden

Die Antropofagia als globale Kulturtechnik | 279

Vor diesem Hintergrund wird die interaktive Arbeit Dias & Riedwegs als sozial und politisch engagierte Kunst lesbar, die stets das spezifische soziale Umfeld und die gesellschaftliche Situation der Menschen befragt. Dias & Riedweg wenden sich in Funk Staden den Randständigen der Gesellschaft zu, denen sie zu Sichtbarkeit verhelfen.39 Dies trifft auch auf van Oldenborghs Projekt zu. So wählte die Künstlerin mit dem Rotterdamer Stadtteil Hoogvliet als Veranstaltungsort für Polyphonic Stage ein städtisches Hafengebiet aus, in dem zum Zeitpunkt des Projekts ein hoher Anteil an Migrant/innen aus den niederländischen Antillen lebte. 40 Der künstlerische Bezug auf den HipHop schließt an das hybride Identitätsverständnis der Antropfagia an. Über die Identifizierung mit einer weltumspannenden black culture setzt sich der HipHop per se mit Vorstellungen von Ethnizität und kultureller Identität auseinander. Stefanie Menrath beschreibt den HipHop daher als ein performatives Modell von Identität, das eine kulturelle Dynamik eröffnet: „Im HipHop gibt es den Versuch, herrschende Repräsentationen von Ethnizität auf parodistische Weise über Wege der Selbstessentialisierung zu vervielfältigen und so ihre diskursive Bedingtheit und Nicht-Natürlichkeit aufzudecken. Ebenso bemühen sich die HipHopper darum, Ethnizität als performative Inszenierung zu entlarven, u.a. indem sie sie gegen die selbstgewählte kollektive Identität HipHop ausspielen. Als performative Inszenierung aufgefasst, kann sich Identität nicht mehr auf einen wahren, inneren Kern stützen. Ihre Bedeutung kann verschoben werden.“41

Zum Selbstverständnis des HipHop gehört es, dass er verschiedene kulturelle Positionierungen zulässt. Dies äußert sich unter anderem in der Praxis des Samplings, sich stark von denen der Mittelschicht, wie sie in den dominanten brasilianischen Medien zu sehen sind. In unserer Arbeit wollen wir das ganze Bild zeigen und die Stärke des gesellschaftlichen Beitrags der Favela verdeutlichen, ohne in Rührseligkeiten, Mitleidsbekundungen oder moralische Urteile zu verfallen.“ Maurício Dias und Walter Riedweg im Interview mit Alfons Hug, in: Alfons Hug (Hrsg.): Zeitgenössische Künstler aus Brasilien, Göttingen: Steidl, 2013, S. 27-36, hier: S. 29f. 39

Die Künstler verweisen in diesem Zusammenhang auch auf den Umstand, dass sich die brasilianischen Metropolen in dem Sinne als anthropophag erweisen, als dass sie die Menschen verschlucken, die nicht den höheren sozialen Klassen angehören. Vgl. DAVID, Catherine (Hrsg.): Dias & Riedweg. O outro começa onde nossos sentidos se encontram com o mundo, Ausst.-Kat. Centro Cultural Banco do Brasil, Rio de Janeiro, Rio de Janeiro: Centro Cultural Banco do Brasil, 2002, S. 58ff.

40 41

Vgl. van OLDENBORGH, 2005, S. 100. MENRATH, Stefanie: »I am not what I am«: Die Politik der Repräsentation im HipHop, in: Jannis Androutsopoulos (Hrsg.): HipHop. Globale Kultur – lokale Praktiken, Bielefeld: transcript, 2003, S. 218-245, hier: S. 226.

280 | Strategien der Einverleibung

bei der sich die Musiker/innen bereits existierender Tonstücke bedienen, um diese in einem neuen musikalischen Kontext zu verwenden.42 Elke aus dem Moore bezeichnet den Rio Funk daher als „Beispiel gegenwärtiger anthropophager Strategie.“43 Indem das Aneignen und Vermischen kultureller Codes ein grundlegendes Charakteristikum des HipHop darstellt, verkörpert er nach van Oldenborgh eine anthropophage Denkweise.44 Der so herbeigeführte Bezug auf die Metapher der Anthropophagie, in der eine Alteritätserfahrung stattfindet, dient dem künstlerischen Anliegen, Konstrukte einer fixierten kulturellen Identität zu überwinden. 45 Analog zu Dias & Riedwegs künstlerischem Ansatz verortet sich van Oldenborghs Projekt in diesem Zusammenhang explizit politisch, wobei es sich insbesondere als Antwort auf aktuelle Nationalismus- und Rassismustendenzen in Europa versteht. Die Künstlerin will für eine Multikulturalismusdebatte eintreten, die nicht 42

Vgl. ebd., S. 222; sowie DRAGAUD, Rafael: Ein Zweig der Subkultur. Neues vom brasilianischen Hiphop, in: Elke aus dem Moore/Giorgio Ronna (Hrsg.): Entre Pindorama. Zeitgenössische Kunst und die Antropofagia, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Stuttgart, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2005, S. 155-157, hier: S. 156.

43

Aus dem MOORE, Elke: Entre Pindorama. Die Adaption anthropophager Ideen und Strategien, in: VIDC (Wiener Institut für Entwicklungsfragen und Zusammenarbeit), Kulturen in Bewegung (Hrsg.): Blickwechsel. Lateinamerika in der zeitgenössischen Kunst, Bielefeld: transcript, 2007, S. 87-104, hier: S. 102.

44

Vgl. van OLDENBORGH, 2005, S. 104.

45

Entsprechend des Andradschen Verständnisses vollziehen sich die performativ herbeigeführten kulturellen Austauschprozesse in van Oldenborghs Werk nicht immer harmonisch, sondern beinhalten oftmals konfliktbehaftete Aufeinandertreffen. So initiierte die Künstlerin im zweiten Teil von A Certain Brazilianness unter dem Titel Sound Track Stage ein Zusammentreffen des HipHop-DJs Mr Wix mit Paul Elstak, einer Ikone der Rotterdamer Gabber-Szene. Gabber ist eine Variante des Hardcore, die sich in den 1990er Jahren als Ausdruck der Jugend der weißen Arbeiterklasse entwickelte. HipHop und Gabber repräsentieren damit zwei distinkt unterschiedliche Musik- und Lebensstile. Auch sieht sich die nach eigenem Selbstverständnis unpolitische Gabber-Szene wiederholt mit rassistischen Vorwürfen konfrontiert, da ihre Musik auch Hooligans und Neonazis anzieht. In einem öffentlichen Filmshoot, der 2008 im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam stattfand, bekamen die beiden Musiker die Gelegenheit, ihre gegenteiligen Positionen musikalisch zu artikulieren. Van Oldenborgh eröffnete so einen polyphonen Dialog zwischen den als weiß und schwarz atrribuierten Musikszenen, die sich in einem gemeinsamen, reibungsvollen Soundtrack trafen. Erneut fokussierte die Künstlerin auf die Produktivität, die in der Differenz liegt. Vgl. LANDVREUGD, Charl: Fight The Power: Notes on Sound Track Stage, 2008, in: Wendelien van Oldenborgh/Emily Pethick (Hrsg.): Wendelien van Oldenborgh. Amateur, Berlin: Sternberg Press, 2015, S. 85-99, hier: S. 89.

Die Antropofagia als globale Kulturtechnik | 281

über die Rhetorik von Immigration oder Assimilation geführt wird, weshalb sie sich auf das brasilianische Konzept bezieht.46 De Andrades Strategie der kulturellen Einverleibung steht in der europäischen zeitgenössischen Rezeption durch van Oldenborgh somit für eine ethische, antirassistische Haltung. So stellt die Künstlerin fest: „Zu einer Zeit sich ändernder und belasteter kultureller Beziehungen innerhalb des alten nationalstaatlichen Europas und starker konservativer Kräfte, die auf diese Veränderungen reagieren, nimmt das Bedürfnis zu, sich sowohl auf die verschiedenen Arten der Wahrnehmung und Produktion von Erzählungen zu konzentrieren als auch auf das Politische und die Konstruktion von Subjektivität. Vielleicht könnte man in A Certain Brazilianness nach Alternativen suchen. Kulturelle Dynamik hat sich in Brasilien schon immer in Beziehung zur Vereinigung gegensätzlicher Kräfte entwickelt.“47

Die Antropofagia wird bereits in de Andrades Manifesto Antropófago als eine Gesetzmäßigkeit beschrieben, die eine nationenübergreifende Anwendung impliziert, wenn es heißt: „Nur die Anthropophagie vereint uns. […] Das einzige Gesetz der Welt.“48 Der universalistische Ansatz der Antropofagia wurde bereits in der Analyse der Rezeption durch Anna Maria Maiolino im Hinblick auf ihren Immigrationsprozess in die brasilianische Kultur evident. Die Aneignung durch europäische Künstler/innen und transnationale Künstlerkooperationen verdeutlicht schließlich die globale Anschlussfähigkeit des Andradschen Konzepts. Mittels Anwendung der Strategie der Einverleibung evozieren die exemplarisch vorgestellten Arbeiten van Oldenborghs, Dias & Riedwegs und Fesers einen transnationalen Dialog zwischen Kulturen, ein Zusammentreffen mit Fremdheit. Während sie zunächst auf einer lokalen Ebene operieren, werfen ihre Arbeiten universelle Fragestellungen in Bezug auf das Verständnis von Identität auf, die als fluid und hybrid gedacht wird. 49 Das Andradsche Konzept leistet innerhalb dieser Diskussion einen wichtigen globalen Beitrag, so konstatieren Dias & Riedweg:

46

Vgl. DOMENA, Paula: Resounding Conviviality, in: Elke aus dem Moore/Giorgio Ronna (Hrsg.): Entre Pindorama. Zeitgenössische Kunst und die Antropofagia, Ausst.Kat. Künstlerhaus Stuttgart, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2005, S. 98-109, hier: S. 106.

47

Van OLDENBORGH, 2005, S. 98.

48

De ANDRADE, 2016 (1928), s. Anhang.

49

Vgl. SCHMITT HUAPAYA, Priscilla: A Alteridade Como Experiência Estética na Produção Videográfica De Maurício Dias e Walter Riedweg, in: Ricardo O. Freitas (Hrsg.): Mídia alter{n}ativa: estratégias e desafios para a comunicação hegemônica, Ilhéus: Editus, Editora da UESC, 2009, S. 111-130, hier: S. 121ff.

282 | Strategien der Einverleibung

„Das Manifesto Antropófago von Oswald de Andrade kann heute als ein Meilenstein des modernen philosophischen Denkens über Hybridität bezeichnet werden und eröffnet ein mögliches postkoloniales, an den Tropicalismo angelehntes, eigenständiges Denken.“50

Indem sich die drei ausblickshaft analysierten Projekte postkolonial verorten, korrespondieren sie mit der dekolonialen Praxis Cildo Meireles‘ und Adriana Varejãos. Während diese aus der Position der ehemals kolonisierten Kultur heraus agieren, treiben Feser und van Oldenborgh das in der Andradschen Tradition stehende Dekolonisierungsprojekt aus europäischer Perspektive heraus voran. Damit tragen die brasilianischen wie europäischen Werke zu einer dezentrierten, transkulturellen Kunstgeschichte bei, wie es die transnationale Künstlerkooperation Dias & Riedwegs überdies verdeutlicht.

50

Maurício Dias und Walter Riedweg im Interview mit Alfons Hug: in: Alfons Hug (Hrsg.): Zeitgenössische Künstler aus Brasilien, Göttingen: Steidl, 2013, S. 27-36, hier: S. 35.

Resümee

Die Analyse der Werke Adriana Varejãos, Cildo Meireles’, Anna Maria Maiolinos, Ernesto Netos und Ricardo Basbaums konnte zeigen, dass Oswald de Andrades modernistisches Konzept der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst rege rezipiert wird. Die Antropofagia kommt hierbei als konzeptuellästhetische Strategie zur Anwendung, welche den gesellschaftskritischen und politischen Impetus des Andradschen Projekts fortführt und aktualisiert. Strategien der Einverleibung manifestieren sich in den untersuchten Werken durch ästhetische Verfahren, die disparate Elemente miteinander verknüpfen und permanente Grenzüberschreitungen vorführen. Dadurch wird eine Auffassung von Identität artikuliert, die binäre Argumentations- und Klassifikationsschemata subvertiert und stattdessen Denkräume der Vielschichtigkeit, Vermischung und Hybridität eröffnet. Die zeitgenössische Rezeption der Antropofagia erfolgt insofern differenziert, als dass in einigen künstlerischen Werkansätzen das modernistische Konzept primär in seiner ursprünglichen Funktion als dekolonisierender Emanzipationsakt fortgeführt wird, während in anderen die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte zurücktritt und eine Bedeutungserweiterung stattfindet. So wird die Strategie der Einverleibung in den Arbeiten Cildo Meireles‘ und Adriana Varejãos erneut als postkoloniales Widerstandskonzept gegen koloniale Herrschaftsformen und ihre Auswirkungen aktualisiert. Die historische Aufarbeitung und kritische Umschreibung der kolonialen Geschichtserzählung ist in beiden künstlerischen Positionen zentral, wodurch die epistemische Vormachtstellung des Westens in Frage gestellt wird. Dabei kommt die von de Andrade konzeptualisierte Aufnahme und ironische Umformulierung westlicher Kulturelemente zur Anwendung. Während sich Varejão in ihren Gemälden die historischen Dokumente des Kolonialismus aneignet, inkorporiert Meireles in seiner Installations- und Konzeptkunst tradierte Topoi der europäischen Kunstgeschichte wie auch zeitgenössische, insbesondere USamerikanische Kunstströmungen. Das Andradsche Konzept stellt für Meireles wie

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für Varejão weiterhin eine geeignete Strategie dar, eine Kritik am Fortwirken kolonialer Strukturen in Brasilien zu formulieren, die sich in einer Hinwendung zu gegenwärtigen Marginalisierungen des subalternen, postkolonialen Subjekts manifestiert. Auch lassen insbesondere Meireles‘ Arbeiten eine Reflexion über neokoloniale Strukturen im aktuellen globalen Kunstgeschehen erkennen, wodurch eine globalisierungskritische Haltung artikuliert wird. Beide Werkansätze adressieren die westliche Welt und konfrontieren diese mit Stereotypen über das vermeintlich Fremde. Sie befragen stets das Verhältnis von Kolonisierten und Kolonialherren, Ost und West oder Zentrum und Peripherie. Gleichzeitig vollziehen die kulturell hybriden Werke Meireles‘ und Varejãos eine spielerische Auflösung dieser Dichotomien, wodurch okzidentale Kategorisierungen unterlaufen werden. Demgegenüber wird die Antropofagia in ihrer Rezeption durch Ricardo Basbaum, Ernesto Neto und Anna Maria Maiolino für weitere Bedeutungsfelder geöffnet und über die Polaritäten der 1920er Jahre hinausgedacht. Mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung im Spannungsfeld von Migration, Ethnizität und Geschlecht operierend, ist den verschiedenen Rezeptionsansätzen das kritisch-subversive Potenzial gemeinsam, das sich in der Auseinandersetzung mit Alteritätsdiskursen manifestiert. Dementsprechend wird die Strategie der Einverleibung im multimedialen Werk von Maiolino als feministische Aggressivitäts- und Emanzipationsgeste lesbar. Unter Reflexion ihrer eigenen Biografie wird die Antropofagia von der Künstlerin auch zur Beschreibung von Migrationsprozessen genutzt und dient der Artikulation einer antirassistischen Haltung. In Netos Adaption des Andradschen Konzepts steht der Entwurf eines fluiden Körperkonzepts im Mittelpunkt, wodurch vorrangig queere Standpunkte formuliert werden, welche die binäre Geschlechterordnung in Frage stellen. Die in seinen partizipativen Installationen und Skulpturen eröffnete sinnliche Erfahrung einer Einverleibung der Rezipient/innen im anthropophagen Kunstwerk dient dem Entwurf eines Identitätskonzepts, das als wandelbar und durchlässig begriffen wird. Basbaum wiederum bildet mit seinem Projekt der Schaffung eines hybriden Kollektivkörpers einen eigenen kritisch-philosophischen Diskurs aus, mit dem eine Dekonstruktion hegemonialer Kultur und Politik einhergeht. Das der Antropofagia zugrundeliegende Hybriditätskonzept wird hier als strategischer Ausgangspunkt für die Eröffnung eines transkulturellen Begegnungsraumes gesetzt, in dem alternative Identitätspositionen mit realen Akteuren performativ ausgehandelt werden. Indem die Antropofagia durch ihr hybrides Identitätsverständnis das Potenzial beinhaltet, unterschiedliche Machtgefüge zu unterlaufen, die über die Reflexion des Kolonialismus hinausgehen, wird es möglich, das Andradsche Konzept auch unabhängig seines postkolonialen Impetus subversiv zu gebrauchen und es für aktuelle gesellschaftspolitische Themenfelder fruchtbar zu machen. Die Weiterführung tropikalistischer Inhalte kommt in der zeitgenössischen Rezeption der Antropofagia vielfach zum Ausdruck. Während Meireles und Maiolino

Resümee | 285

in ihren frühen Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre die Strategie der Einverleibung wiederholt nutzen, um eine Kritik an der Militärdiktatur im eigenen Land zu üben, manifestiert sich der tropikalistische Einfluss in der Kunst Netos und Basbaums vorrangig in einer Weiterentwicklung des multisensoriellen Partizpationskonzepts, das die Rezipient/innen aktiv involviert. Mit der Verbindung von Kunst und Leben, der Aufwertung von Marginalität sowie der Vorstellung vom Kunstwerk als lebender Organismus, was mit einer Hinwendung zum Körperlichen einhergeht, werden zentrale Aspekte der tropikalistischen Aufnahme anthropophager Ideen berührt, die sich in allen ausgewählten zeitgenössischen Ansätzen finden und auch in der Malerei Varejãos aufgegriffen werden. Ricardo Basbaum, Anna Maria Maiolino, Cildo Meireles, Ernesto Neto und Adriana Varejão sind zeitgenössische brasilianische Künstler/innen, die sich nicht mehr auf der Suche nach einem spezifisch brasilianischen Ausdruck befinden. Dass diese Künstler/innen sich auf ein historisches Konzept beziehen, welches aus einem Bestreben nach nationaler Selbstbehauptung entstanden ist, resultiert aus der universalistischen Offenheit und der kosmopolitischen Weltsicht der Antropofagia. Der Verdienst und das Potenzial einer wiederholten Aktualisierung des Andradschen Konzepts liegen in der Betonung des Aspekts der Hybridität, mit welcher der Befreiungskampf aus kolonialen Machtstrukturen geführt wird. Durch ihr hybrides Kulturverständnis, welches auf der Integration fremder Kultureinflüsse basiert, hebt sich das Konzept der Antropofagia von anderen Emanzipationsbewegungen und strategien, die auf eine Selbstethnisierung setzen, ab. So trat beispielsweise die Philosophie der Négritude, die im Zuge der Dekolonisation in den 1930er Jahren in Paris entwickelt wurde, für eine Rückbesinnung auf die Werte der schwarzen Kultur und Geschichte ein.1 Postkoloniale Theoretiker/innen kritisieren, dass die Négritude einem eurozentrischen Denken von essentialistischen Gegensätzen verhaftet bleibt, weshalb etwa Frantz Fanon konstatiert, die Bewegung stelle im Grunde die Umkehrung in einen „schwarzen Rassismus“2 dar.

1

Die Philosophie der Négritude wurde von den frankophonen Intellektuellen Aimé Cesaire, Léopold Sédar Senghor und Léon Gontran Dama als politischer Begriff kultureller Selbstbestimmung der schwarzen Welt begründet.

2

Diese Äußerung stammt aus der Rede Frantz Fanons über Rassismus und Kultur, die er 1956 anlässlich eines Kongresses afrikanischer Literatur und Kunst in Paris hielt. Vgl. AUGA, Ulrike: Intellektuelle - Zwischen Dissidenz und Legitimierung: Eine kulturkritische Theorie im Kontext Südafrikas, Berlin: LIT Verlag, 2007, S. 129f. Auch JeanPaul Sartre spricht sich in seinem Werk Black Orpheus von 1948 gegen den „antirassistischen Rassismus“ der Négritude aus. SARTRE, Jean-Paul: Black Orpheus (1948), in: The Massachusetts Review, Vol. 6, No. 1 (Autumn, 1964 - Winter, 1965), 1964, S. 1352, hier: S. 18: „anti-racist racism“.

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Der Umstand, dass die Antropofagia gegenwärtig über ihre nationalen Grenzen hinaus Eingang in künstlerische Produktionen findet, verdeutlicht die internationale Relevanz und den zukunftsweisenden Ansatz des modernistischen Konzepts, das insbesondere im Kontext von Diskussionen um Globalisierungs- und Migrationstendenzen an Bedeutung gewinnt. Gerade der strategische Aspekt und die politische Stoßkraft des Andradschen Konzepts machen es für seine heutige Aktualisierung im kulturellen wie auch im gesellschaftspolitischen Bereich attraktiv. So beruft sich beispielweise auch die österreichische Migrantinnen-Organisation MAIZ auf die Antropofagia, welche mit einer antirassistischen und feministischen Ethik verbunden wird und ein „strategisches Vorgehen gegenüber der Dominanzkultur“ 3 ermöglicht. Die gegenwärtige Anwendung der Antropofagia manifestiert sich somit in ästhetischen Strategien, die einen starken Gesellschaftsbezug und ein subversives Potenzial erkennen lassen. Die Strategie der Einverleibung fungiert für zeitgenössische Künstler/innen als ein Instrument der Intervention, mit dem jegliche Konstrukte einer fixierten Identität provoziert werden, zugunsten eines schöpferischen Umgangs mit Differenz.

3

CAIXETA, Luzenir: Anthropophagie als Antwort auf die eurozentrische Kulturhegemonie. Oder: Wie die Mehrheitsgesellschaft feministische Migrantinnen schlucken ›muss‹, in: Hito Steyerl/Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster: Unrast-Verlag, 2003, S. 186194, hier: S. 187. Die Migrantinnenselbstorganisation (MAIZ) initiiert Bildungs- und Kulturprojekte und positioniert sich politisch gegenüber einer eurozentrischen Kulturhegemonie. Der Verein versteht Anthropophagie als einen „Begriff, der im Zusammenhang von ästhetischem und ethischem Handeln entsteht.“ De Andrades Antropofagia wird als Aritkulation „gegen Sexismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und jede Art von Diskriminierung“ genutzt. Ebd., S. 186f.

Anhang

MANIFESTO ANTROPÓFAGO 1

Só a antropofagia nós une. Socialmente. Economicamente. Filosoficamente. Única lei do mundo. Expressão mascarada de todos os individualismos, de todos os coletivismos. De todas as religiões. De todos os tratados de paz. Tupi or not tupi that is the question. Contra todas as catequeses. E contra a mãe dos Gracos. Só me interessa que não é meu. Lei do homen. Lei do antropófago. Estamos fatigados de todos os maridos católicos suspeitosos postos em drama. Freud acabou com o enigma mulher e com outros sustos da psicologia impressa. O que atropelava a verdade era a roupa, o impermeável entre o mundo interior e o mundo exterior. A reação contro o homen vestido. O cinema americano informará.

1

De ANDRADE, Oswald: Manifesto Antropófago, erstmals publiziert in: Revista de Antropofagia, Ano 1, No. 1, Maio de 1928. Der hier wiedergegebene Text entspricht dem Wortlaut des portugiesischen Originals und findet sich wieder abgedruckt sowie in deutscher Übersetzung in: Oliver Precht (Hrsg.): Oswald de Andrade. Manifeste. Portugiesisch-Deutsch, Wien/Berlin: Turia + Kant, 2016, S. 34-59.

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Filhos do sol, mãe dos viventes. Encontrados e amados ferozmente, com toda a hipocrisia da saudade, pelos imigrados, pelos traficados e pelos touristes. No país da cobra grande. Foi porque nunca tivemos gramáticas, nem coleções de velhos vegetais. E nunca soubemos o que era urbano, suburbano, fronteiriço e continental. Preguiçosos no mapa-múndi do Brasil. Uma consciência participante, uma rítmica religiosa. Contra todos os importadores de consciência enlatada. A existência palpável da vida. E a mentalidade pré-lógica para o Sr. Lévy-Bruhl estudar. Queremos a Revoluão Caraíba. Maior que a Revolução Francesa. A unificação de todas as revoltas eficazes na direção do homen. Sem nós a Europa não teria sequer a sua pobre declaração dos direitos do homen. A idade do ouro anunciada pela América. A idade de ouro. E todas as girls. Filiação. O contato com o Brasil Caraíba. Oú Villegaignon print terre. Montaigne. O homen natural. Rousseau. De Revolução Francesa ao Romantismos, à Revolução Bolchevista, à Revolução Surrealista e ao bárbaro tecnizado de Keyserling. Caminhamos. Nunca fomos catequizados. Vivemos através de um direito sonâmbulo. Fizemos Cristo nascer na Bahia. Ou em Belém do Pará. Mas nunca admitimos o nascimento da lógica entre nós. Contra o Padre Vieira. Autor do nosso primeiro empréstimo, para ganhar comissão. O rei-analfabeto dissera-lhe: ponha isso no papel mas sem muita lábia. Fez-se o empréstimo. Gravou-se o açúcar brasileiro. Vieira deixou o dinheiro em Portugal e nos trouxe a lábia. O espírito recusa-se a conceber o espírito sem corpo. O antropomorfismo. Necessidade da vacina antropofágica. Para o equilíbrio contra as religiões de meridiano. E as inquisições exteriores. Só podemos atender ao mundo orecular. Tinhamos a justiça codificação da vingança. A ciência codificação da Magia. Antropofagia. A transformação permanente do Tabu em totem. Contra o mundo reversível e as idéias objetivadas. Cadaverizadas. O stop do pensamento que é dinâmico. O indivíduo vítima do sistema. Fonte das injusticas clássicas. Das injusticas românticas. E o esquecimento das conquistas interiores.

Anhang | 289

Roteiros. Roteiros. Roteiros. Roteiros. Roteiros. Roteiros. Roteiros. O instinto Caraíba. Morte e vida das hipóteses. Da equação eu parte do Cosmos ao axioma Cosmos parte do eu. Subsistência. Conhecimento. Antropofagia. Contra as elites vegetais. Em comunicação com o solo. Nunca fomos catequizados. Fizemos foi Carnaval. O índio vestido de senador do Império. Fingindo de Pitt. Ou figurando nas óperas de Alencar cheio de bons sentimentos portugueses. Já tínhamos o comunismo. Já tínhamos a língua surrealista. A idade de ouro. Catiti Catiti Imara Notiá Notiá Imara Ipeju. A magia e a vida. Tínhamos a relação e a distribuição dos bens físicos, dos bens morais, dos bens dignários. E sabíamos transpor o mistério e a morte com o auxílio de algumas formas gramaticais. Pereguntei a um homen o que era o Direito. Ele me respondeu que era a garantia do exercício da possibilidade. Esse homen chamava-se Galli Mathias. Comi-o. Só não há determinismo, onde há mistério. Mas que temos nós com isso? Contra as histórias do homen que começam no Cabo Finisterra. O mundo não datado. Não rubricado. Sem Napoleão. Sem César. A fixação do progresso por meio de catálogos e aparelhos de televisão. Só a maquinaria. E os transfusores de sangue. Contra as sublimações antagônicas. Trazidas nas caravelas. Contra a verdade dos povos missionários, definida pela sagacidade de um antropófago, o Visconde de Cairu: - É mentira muitas vezes repetida.

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Mas não foram cruzados que vieram. Foram fugitivos de uma civilização que estamos comendo, porque somos fortes e vingativos como o Jabuti. Se Deus é a consciência do Universo Incriado, Guaraci é a mãe dos viventes. Jaci é a mãe dos vegetais. Não tivemos especulação. Mas tínhamos adivinhação. Tínhamos Política que é a ciência da distribuição. E um sistema social-planetário. As migrações. A fuga dos estados tediosos. Contra as escleroses urbanas. Contra os Conservatórios e o tédio especulativo. De William James a Voronoff. A transfiguração do Tabu em totem. Antropofagia. O pater famílias e a criação da Moral da Cegonha: Ignorância real das coisas + falta de imaginação + sentimento de autoridade ante a prole curiosa. É preciso partir de um profundo ateísmo para se chegar à idéia de Deus. Mas a caraíba não precisava. Porque tinha Guaraci. O objetivo criado reage como os Anjos da Queda. Depois Moisés divaga. Que temos nós com isso? Antes dos portugueses descobrirem o Brasil, o Brasil tinha descoberto a felicidade. Contra o índio de tocheiro. O índio filho de Maria, afilhado de Catarina de Médicis e genro de D. Antônio de Mariz. A alegria é a prova dos nove. No matriarcado de Pindorama. Contra a Memória fonte do costume. A experiência pessoal renovada. Somos concretistas. As idéias tomam conta, reagem, queimam gente nas praças públicas. Suprimamos as idéias e as outras paralisias. Pelos roteiros. Acreditar nos sinais, acreditar nos instrumentos e nas estrelas. Contra Goethe, a mãe dos Gracos, e a Corte de D. João VI. A alegria é a prova dos nove.

Anhang | 291

A luta entre o que se chamaria Incriado e a Criatura - ilustrada pela contradição permanente do homen e o seu Tabu. O amor cotidiano e o modus vivendi capitalista. Antropofagia. Absorção do inimigo sacro. Para transformá-lo em totem. A humana aventura. A terrena finalidade. Porém, só as puras elites conseguiram realizar a antropofagia carnal, que traz em si o mais alto sentido da vida e evita todos os males identificados por Freud, males catequistas. O que se dá não é uma sublimação do instinto sexual. É a escala termométrica do instinto antropofágico. De carnal, ele se torna eletivo e cria a amizade. Afetivo, o amor. Especulativo, a ciência. Desvia-se e transfere-se. Chegamos ao aviltamento. A baixa antropofagia aglomerada nos pecados do catecismo – a inveja, a usura, a calúnia, o assassinato. Peste dos chamados povos cultos e cristianizados, é contra ela que estamos agindo. Antropófagos. Contra Anchieta cantando as onze mil virgens do céu, na terra de Iracema – o patriarca João Ramalho fundador de São Paulo. A nossa independência ainda não foi proclamada. Frase típica de D. João VI: - Meu filho, põe essa coroa na tua cabeça, antes que algum aventureiro o faça! Expulsamos a dinastia. É preciso expulsar o espírito bragantino, as ordenações e o rapé de Maria da Fonte. Contra a realidade social, vestida e opressora, cadastrada por Freud – a realidade sem complexos, sem loucura, sem prostituições e sem penitenciárias do matriarcado de Pindorama.

Oswald de Andrade Em Piratininga Ano 374 da Deglutição do bispo Sardinha.

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ANTHROPOPHAGES MANIFEST 2

Nur die Anthropophagie vereint uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch. Das einzige Gesetz der Welt. Verborgener Ausdruck aller Individualismen, aller Kollektivismen. Aller Religionen. Aller Friedensverträge. Tupi or not Tupi that is the question. Gegen alle Katechesen. Gegen die Mutter der Gracchen. Mich interessiert nur das, was mir nicht eigen ist. Gesetz des Menschen. Gesetz des Anthropophagen. Wir sind ermüdet von all den argwöhnischen katholischen Ehemännern, die in den Dramen erscheinen. Freud hat dem Mysterium der Frau und anderen Schrecken der Küchenpsychologie ein Ende bereitet. Was der Wahrheit Gewalt antat, war die Kleidung, das Undurchlässige zwischen innerer und äußerer Welt. Die Reaktion gegen den bekleideten Menschen. Das amerikanische Kino wird darüber Auskunft geben. Kinder der Sonne, Mutter der Lebenden. Gefunden und wild geliebt, mit der ganzen Scheinheiligkeit der Sehnsucht, von den Immigranten, von den Händlern und von den Touristen. Im Land der großen Schlange. All das, weil wir weder Grammatiken hatten noch Sammlungen alter Pflanzen. Und nie wussten wir, was urban, suburban, angrenzend und kontinental war. Träge auf der Landkarte Brasiliens. Ein teilhabendes Bewusstsein, eine religiöse Rhythmik. Gegen alle Importeure von Bewusstsein aus der Konserve. Die mit Händen zu greifende Existenz des Lebens. Und die vorlogische Mentalität soll Hr. Lévy-Bruhl erforschen.

2

Diese Übersetzung des portugiesischen Originaltextes gibt im Wesentlichen die in der oben zitierten Publikation Prechts befindliche Fassung wieder, wobei einzelne Passagen von der Autorin geringfügig abgeändert wurden, um sprachlich näher am Original zu bleiben.

Anhang | 293

Wir wollen die karibische Revolution. Größer als die Französische Revolution. Die Vereinigung aller Revolten, die dem Menschen dienen. Ohne uns hätte Europa nichts als seine armselige Erklärung der Menschenrechte. Das von Amerika verkündete Goldene Zeitalter. Das Goldene Zeitalter. Und all die girls. Abstammung. Der Kontakt mit dem karibischen Brasilien. Oú Villegaignon print terre! Montaigne. Der Naturmensch. Rousseau. Von der Französischen Revolution zur Romantik, zur bolschewistischen Revolution, zur surrealistischen Revolution und zum technisierten Wilden Keyserlings. Wir wurden niemals katechisiert. Wir leben durch ein schlafwandlerisches Recht. Wir haben Christus in Bahia zur Welt kommen lassen. Oder in Belém do Pará. Aber nie haben wir die Geburt der Logik unter uns zugelassen. Gegen Pater Vieira. Urheber unseres ersten Darlehens, um eine Provision zu kassieren. Der Analphabetenkönig hatte ihm gesagt: Bring dies zu Papier, aber ohne große Spitzfindigkeit. Das Darlehen wurde gewährt. Der brasilianische Zucker wurde besteuert. Vieira ließ das Geld in Portugal und brachte uns die Spitzfindigkeit. Der Geist weigert sich, einen Geist ohne Körper zu denken. Der Anthropomorphismus. Notwendigkeit der anthropophagen Impfung. Für das Gegengewicht zu den Religionen des Meridians. Und gegen die äußeren Inquisitionen. Wir können nur der vorhergehörten Welt Beachtung schenken. Wir besaßen die rechtmäßige Kodifizierung der Rache. Die wissenschaftliche Kodifizierung der Magie. Anthropophagie. Die permanente Transformation des Tabu in Totem. Gegen die umkehrbare Welt und die objektivierten Ideen. Kadaverisierte. Der Stopp des Denkens, das dynamisch ist. Das dem System zum Opfer gewordene Individuum. Quell der klassischen Ungerechtigkeiten. Der romantischen Ungerechtigkeiten. Und das Vergessen der inneren Eroberungen. Routen. Routen. Routen. Routen. Routen. Routen. Routen. Der karibische Instinkt.

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Tod und Leben der Hypothesen. Von der Gleichung Ich, Teil des Kosmos, zum Axiom Kosmos, Teil des Ich. Selbsterhaltung. Erkenntnis. Anthropophagie. Gegen die vegetierenden Eliten. Im Gespräch mit dem Erdboden. Wir wurden niemals katechisiert. Stattdessen machten wir Karneval. Der Indio als Senator des Reiches verkleidet. Der vorgibt, Pitt zu sein. Oder in den Opern von Alencar auftritt, voll von guten portugiesischen Gefühlen. Wir hatten schon den Kommunismus. Wir hatten schon die surrealistische Sprache. Das Goldene Zeitalter. Caiti Caiti Imara Notiá Notiá Imara Ipeju. Die Magie und das Leben. Wir hatten die Verbindung und die Verteilung des physischen Eigentums, des geistigen Eigentums und des Eigentums von Königs Gnaden. Und wir waren in der Lage, das Mysterium und den Tod mit Hilfe grammatischer Formen zu verschieben. Ich fragte einen Mann, was das Recht sei. Er antwortete mir, es sei die Garantie für die Ausübung der Möglichkeit. Dieser Mann wurde Galli Mathias genannt. Ich habe ihn aufgegessen. Es gibt nur dort keinen Determinismus, wo es das Mysterium gibt. Aber was haben wir damit zu tun? Gegen die Geschichten der Menschheit, die am Kap Finisterre beginnen. Die undatierte Welt. Unrubriziert. Ohne Napoleon. Ohne Cäsar. Die Fixierung des Fortschritts durch Kataloge und Fernsehapparate. Nur die Maschinerie. Und die Bluttransfusoren. Gegen die antagonistischen Sublimierungen. Mitgebracht in den Karavellen. Gegen die Wahrheit der missionarischen Völker, definiert durch den Scharfsinn eines Anthropophagen, des Vizegrafen von Cairu: Sie ist die vielfach wiederholte Lüge.

Anhang | 295

Aber es waren keine Kreuzfahrer, die kamen. Es waren Geflüchtete einer Zivilisation, die wir gerade aufessen, weil wir stark und rachsüchtig sind wie der Jabuti. Wenn Gott das Bewusstsein des ungeschaffenen Universums ist, dann ist Guaraci die Mutter der Lebenden. Jaci ist die Mutter der Pflanzen. Bei uns gab es keine Spekulation. Aber es gab Weissagung. Es gab Politik, die Wissenschaft von der Verteilung. Und ein planetarisches Sozialsystem. Die Wanderungen. Die Flucht vor den langweiligen Zuständen. Gegen die städtischen Sklerosen. Gegen die Konservatorien und die spekulative Langeweile. Von William James zu Voronoff. Die Verwandlung des Tabu in Totem. Anthropophagie. Der pater famílias und die Erschaffung der Storchenmoral: Echte Ignoranz der Dinge + Mangel an Einbildungskraft + Autoritätsgefühl angesichts des Neugiernachwuchses. Man muss von einem tiefen Atheismus ausgehen, um zur Idee Gottes zu gelangen. Aber für den Kariben war das nicht notwendig. Denn er hatte Guaraci. Das geschaffene Ziel reagiert wie die gefallenen Engel. Danach irrt Moses umher. Was haben wir damit zu tun? Bevor die Portugiesen Brasilien entdeckten, hatte Brasilien das Glück entdeckt. Gegen den Kerzenindio. Der Indio, Sohn der Maria, Patenkind der Katharina von Medici und Schwiegersohn von Dom Antônio de Mariz. Die Freude ist die Neunerprobe. Im Matriarchat von Pindorama. Gegen die Erinnerung, Quell des Brauchtums. Die erneuerte persönliche Erfahrung. Wir sind Konkretisten. Die Ideen kontrollieren, reagieren, verbrennen Leute auf den öffentlichen Plätzen. Lasst uns die Ideen und die anderen Lähmungen unterdrücken. Durch Reiserouten. An die Zeichen glauben, an die Instrumente und an die Sterne glauben.

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Gegen Goethe, die Mutter der Gracchen und den Hof von Dom João VI. Die Freude ist die Neunerprobe. Der Kampf zwischen dem, was man das Ungeschaffene nennen könnte und dem Geschöpf - veranschaulicht durch den ständigen Widerspruch zwischen dem Menschen und seinem Tabu. Die alltägliche Liebe und der kapitalistische modus vivendi. Anthropophagie. Absorption des heiligen Feindes. Um ihn in ein Totem zu verwandeln. Das menschliche Abenteuer. Der irdische Endzweck. Nur die reinen Eliten vermochten es jedoch, die fleischliche Anthropophagie zu verwirklichen, die den höchsten Sinn des Lebens in sich trägt und all die von Freud identifizierten Übel, die katechistischen Übel, meidet. Was sich darin vollzieht, ist keine Sublimierung des Sexualtriebs. Es ist die thermometrische Skala des anthropohagen Instinkts. Als fleischlicher wird er wählerisch und erschafft die Freundschaft. Als affektiver erschafft er die Liebe. Als spekulativer die Wissenschaft. Er weicht ab und wandelt sich. Wir kommen bis zur Erniedrigung. Die niedere Anthropophagie, versammelt in den Sünden des Katechismus - der Neid, der Wucher, die Verleumdung, der Mord. Pest der sogenannten kultivierten und christianisierten Völker, sie ist es, gegen die wir handeln. Anthropophagen. Gegen Anchieta, der von den elftausend Jungfrauen des Himmels singt, im Land von Iracema – der Patriarch João Ramalho, Gründer von São Paulo. Unsere Unabhängigkeit wurde noch immer nicht verkündet. Typischer Satz von D. João VI.: - Mein Sohn, setze diese Krone auf dein Haupt, bevor irgendein Abenteurer es tut! Wir haben die Dynastie vertrieben. Wir müssen den Geist Braganças vertreiben, die Dekrete und den Schnupftabak von Maria da Fonte. Gegen die soziale Realität, die verkleidete und unterdrückerische, von Freud niedergeschriebene – die Realität ohne Komplexe, ohne Wahnsinn, ohne Prostitution und ohne die Strafanstalten, im Matriarchat von Pindorama.

Oswald de Andrade In Piratininga im Jahre 374 nach dem Verschlingen des Bischofs Sardinha.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Anonym: Wilder Mann als Wappenträger, ca. 1505 Holzschnitt, Frontispiz zur Ausgabe von Amerigo Vespucci: Von den nawen Jnsulen ynnd Landen so itzt kurtzlichen erfunden sint durch den Königk von Portugal, Leipzig 1505. © public domain Abb. 2: Martin Schongauer: Wappenschild mit Windhund, von einem Wilden Mann gehalten, letztes Drittel des 15. Jahrhunderts Kupferstich, 7,8 cm (Durchmesser der Darstellung), Graphische Sammlung Albertina, Wien, Inventarnummer DG1926/1542. © Albertina, Wien Abb. 3: Anonym: Carta marina navigatoria, ca. 1530 Holzschnitt, Illustration (Detail) in der Ausgabe von Lorenz Fries: Cartha Marina, Straßburg 1530. © public domain Abb. 4: Hieronymus Bosch: Jüngstes Gericht, um 1500 Öl auf Holz, 247 x 163 cm, Detail der Mitteltafel, Akademie der bildenden Künste, Wien. © public domain Abb. 5: Anonym: Ohne Titel, ca. 1509 Holzschnitt, Illustration in der Ausgabe von Amerigo Vespucci: Quator Navigationes (Diss büchlin saget), Straßburg 1509. © public domain Abb. 6: Anonym: Ohne Titel, ca. 1527 Holzschnitt, Titelblatt und Illustration in der Ausgabe von Lorenz Fries: Uslegung der mercarthen oder Cartha Marina, Straßburg 1527. © public domain Abb. 7: Anonym: Ohne Titel, ca. 1557 Holzschnitt, Illustration in der Ausgabe von Hans Staden: Wahrhaftige Historia, Kassel 1557. © public domain Abb. 8a-d: Theodor de Bry: Americae, 1592 Kolorierte Kupferstiche in der Ausgabe von Theodor de Bry: Americae, 3. Buch, Frankfurt am Main 1592, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin. © public domain

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Abb. 9: Hans Baldung Grien: Hexe und Drache, 1515 Feder-Zeichnung, weiß gehöht auf braun grundiertem Papier, 29, 5 x 20, 7 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Kupferstichkabinett Abb. 10: Albrecht Dürer: Avaratia, 1507 Öl auf Holz, 35 x 29 cm, Rückseite des Brustbild eines jungen Mannes, Kunsthistorisches Museum, Wien. © KHM-Museumsverband Abb. 11: Abraham Ortelius: Ohne Titel, ca. 1570 Kolorierter Kupferstich, 36,6 x 21 cm, Titelblatt der niederländischen Ausgabe von Abraham Ortelius: Theatrum Orbis Terrarum, Antwerpen 1570, Universitätsbibliothek, Tübingen. © public domain Abb. 12: Theodor Galle: America, um 1585 Kupferstich, 18,5 x 12,6 cm (Blattgröße), 15,4 x 8,8 cm (Plattenmaß), Illustration in der Ausgabe von Philipp Galle: Prospographia, Kiel: Cornelius, 1585, Kunstsammlungen der Veste Coburg. © Kunstsammlungen der Veste Coburg Abb. 13: Crispijn van de Passe I.: America, um 1600 Kupferstich, 18,8 x 22 cm, Rijksmuseum, Amsterdam. © public domain Abb. 14: Anonym: Zwei Krieger mit Pfeil und Tötungskeule, ca. 1972 Holzschnitt, Illustration in der Ausgabe von Jean de Léry: Histoire d’un voyage faict en la Terre du Brésil, Lausanne 1972. © public domain Abb. 15: Tarsila do Amaral: A Negra, 1923 Öl auf Leinwand, 100 x 81 cm, Museu de Arte Contemporânea da Universidade de São Paulo. © Tarsila do Amaral Licenciamentos Abb. 16: Anonym: Yemanjá, 19. Jhdt. Bemaltes Holz, 19 cm Höhe, Salvador da Bahia. © public domain Abb. 17: Frank Buchser: Nackte Sklavin mit Tamburin, 1880 Öl auf Leinwand, 54 x 33,5 cm, Kunstmuseum Solothurn. © public domain Abb. 18: Vítor Meireles: A Primeira Missa no Brasil, 1860 Öl auf Leinwand, 270 x 357 cm, Museu Nacional de Belas Artes, Rio de Janeiro. © public domain Abb. 19a/b: Tarsila do Amaral: Illustrações para Pau Brasil, 1925 Illustrationen zu Oswald de Andrade: Pau Brasil, 1925, a: Buchumschlag der Originalausgabe, Bibliotheca Municipal Mário de Andrade, São Paulo; b: Illustration zum Kapitel História do Brasil, Originalzeichnung, Tusche auf Papier, 11,7 x 18 cm, Pinacoteca Municipal, Coleção de Arte da Cidade, São Paulo. © Tarsila do Amaral Licenciamentos Abb. 20: Tarsila do Amaral: Carnaval em Madureira, 1924 Öl auf Leinwand, 76 x 63 cm, Privatsammlung São Paulo. © Tarsila do Amaral Licenciamentos Abb. 21: Robert Delaunay: Tour Eiffel aux arbres, 1910

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Öl auf Leinwand, 126,4 x 92,8 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York. © public domain Abb. 22: Tarsila do Amaral: E.F.C.B., 1924 Öl auf Leinwand, 142 x 127 cm, Museu de Arte Contemporânea da Universidade de São Paulo. © Tarsila do Amaral Licenciamentos Abb. 23: Fernand Léger: La Ville, 1919 Öl auf Leinwand, 227 x 294 cm, Museum of Art, Philadelphia. © VG BildKunst, Bonn 2019 Abb. 24: Tarsila do Amaral: Abaporú, 1928 Öl auf Leinwand, 147 x 127 cm, Sammlung Eduardo Costantini, Buenos Aires. © Tarsila do Amaral Licenciamentos Abb. 25: Oswald de Andrade: Manifesto Antropófago, 1928 Text von Oswald de Andrade und Zeichnung von Tarsila do Amaral, abgedruckt in: Revista de Antropofagia, Ano 1, No. 1, Maio de 1928, FaksimileEdition, São Paulo 1975. © public domain Abb. 26: Tarsila do Amaral: Antropofagia, 1929 Öl auf Leinwand, 126 x 142 cm, Sammlung Paulina Nemirovsky, São Paulo. © Tarsila do Amaral Licenciamentos Abb. 27: Vicente do Rego Monteiro: O menino em tartaruga com cabeça humana, 1924 Öl auf Leinwand, 45 x 38 cm, Privatsammlung, Paris. © Carlos Ranulfo de Albuquerque Abb. 28: Vicente do Rego Monteiro: A adoração dos Reis Magos, 1925 Öl auf Leinwand, 45 x 55 cm, Sammlung Gilberto Chateaubriand, Rio de Janeiro. © Carlos Ranulfo de Albuquerque Abb. 29: Vicente do Rego Monteiro: Maternidade Indígena, 1924 Öl auf Leinwand, 250 x 104 cm, Palacio de los Bandeirantes, São Paulo. © Carlos Ranulfo de Albuquerque Abb. 30: Emiliano Di Cavalcanti: Samba, 1928 Öl auf Leinwand, 177,75 x 156,5 cm, Sammlung Geneviéve e Jean Boghici, Rio de Janeiro. © Elisabeth di Cavalcanti Veiga Abb. 31: Emiliano di Cavalcanti: Carnaval, 1924 Öl auf Leinwand, 990 x 75 cm, N.N. © Elisabeth di Cavalcanti Veiga Abb. 32: Lasar Segall: Bananal, 1927 Öl auf Leinwand, 85 x 124 cm, Pinacoteca do Estado de São Paulo. © Museu Lasar Segall Abb. 33: Flávio de Carvalho: A inferioridade de deus, 1931 Öl auf Leinwand, 54,5 x 73 cm, Sammlung Gilberto Chateaubriand, Rio de Janeiro. © Estate of Flávio de Carvalho Abb. 34: Hélio Oiticica: Tropicália, 1967/2000

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Holz, Plastik, Stoff, Pflanzen, zwei lebende Papageien, Sand, Kies, Maße variabel, Installationsansicht Generali Foundation, Wien, Generali Foundation, Wien. © César Oiticica Filho Abb. 35: Lygia Clark: Superfície modulada No 1, 1955 Lack auf Holz, 58,5 x 90,3 cm, N.N. © O Mundo de Lygia Clark Abb. 36: Lygia Clark: Bichos, 1960-64 Aluminium, Maße variabel, Associação Cultural "O Mundo de Lygia Clark", Rio de Janeiro. © O Mundo de Lygia Clark Abb. 37: Lygia Clark: Trepantes (Obra Mole), 1964 Gummi, Maße variabel, Museu de Arte Moderna, Rio de Janeiro. © O Mundo de Lygia Clark Abb. 38: Hélio Oiticica: Metaesquema, 1958 Gouache auf Papier, 54,61 x 63,5 cm, Projeto Hélio Oiticica, Rio de Janeiro. © César Oiticica Filho Abb. 39: Hélio Oiticica: Grande Núcleo, 1960 Öl und Harz auf Holzfaserplatte, Kies, Maße variabel, Projeto Hélio Oiticica, Rio de Janeiro. © César Oiticica Filho Abb. 40: Lygia Clark: O Eu e o Tu: Série Roupa-Corpo-Roupa, 1967 Plastik, Wasser, Gummi, Watte, Stroh, Bürste, gängige Konfektionsgrößen, Associação Cultural "O Mundo de Lygia Clark", Rio de Janeiro. © O Mundo de Lygia Clark Abb. 41: Lygia Clark: A Casa é o Corpo, 1968 Holz, Baumwollstoff, Lycra, Gummi, Schaumstoff, Luftballons, PVC-Folie, Plastikbälle, Spiegel, Glühbirne, ca. 8 x 3,7 x 3,2 cm, Installationsansicht XXXIV. Biennale di Venezia, Generali Foundation, Wien. © O Mundo de Lygia Clark Abb. 42: Lygia Clark: Baba Antropofágica, 1973 Performance an der Sorbonne, Paris, Dokumentationsfoto, Associação Cultural "O Mundo de Lygia Clark", Rio de Janeiro. © O Mundo de Lygia Clark Abb. 43: Lygia Clark: Canibalismo, 1973 Performance an der Sorbonne, Paris, Dokumentationsfoto, Associação Cultural "O Mundo de Lygia Clark", Rio de Janeiro. © O Mundo de Lygia Clark Abb. 44: Hélio Oiticica: Parangolé, 1964 Textil, Maße variabel, Performance in Rio de Janeiro, Dokumentationsfoto, Projeto Hélio Oiticica, Rio de Janeiro. © Projeto Hélio Oiticica Abb. 45: Hélio Oiticica: Éden, 1969 Installation mit verschiedenen Materialien, Maße variabel, Installationsansicht Whitechapel Gallery, London, 1969, Coleção César e Claudio Oiticica, Rio de Janeiro. © Guy Brett Abb. 46: Hélio Oiticica (in Zusammenarbeit mit Neville d‘Almeida): QuasiCinemas (aus der Serie Block-Experiments in Cosmococa), 1973

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35mm-Diaprojektion, Soundsystem, Matratzen, Ballons, Maße variabel, Filmstill, MACBA - Museu d'Art Contemporani de Barcelona. © Hélio Oiticica Abb. 47: Cildo Meireles: Missão/Missões (Como Construir Catedrais), 1987 600.000 Münzen, 800 Oblaten, 2.200 Knochen, 80 Steinplatten, Stoff, Stahl, 250 x 600 x 600 cm, Installationsansicht Musée National d’Art Moderne – Centre Georges Pompidou, Paris, 1989, Ed. 1/3: Daros Latinamerica Collection, Zürich/Blanton Museum of Art: The University of Texas, Austin/im Besitz des Künstlers. © Courtesy Cildo Meireles Abb. 48: Adriana Varejão: Proposta para uma Catequese - Parte I Díptico: Morte e Esquartejamento, 1993 Öl auf Leinwand, 140 x 240 cm, Privatsammlung, São Paulo. © Adriana Varejão’s Archive/Foto: Eduardo Ortega Abb. 49: Adriana Varejão: Figura de Convite I, 1997 Öl auf Leinwand, 200 x 200 cm, Privatsammlung, Miami. © Adriana Varejão’s Archive / Foto: Eduardo Ortega Abb. 50: Adriana Varejão: Figura de Convite III, 2005 Öl auf Leinwand, 200 x 200 cm, im Besitz der Künstlerin. © Adriana Varejão’s Archive/Foto: Eduardo Ortega Abb. 51: Theodor de Bry: Das II. Contrafeyt einer Frauwen auß den Picten, 1590 Kolorierter Kupferstich in der Ausgabe von Theodor de Bry: Americae, 1. Teil, Frankfurt am Main 1590, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin. © public domain Abb. 52: Theodor de Bry: Das III. Contrafeyt einer Jungfrawen auß den Picten, 1590 Kupferstich in der Ausgabe von Theodor de Bry: Americae, 1. Teil, Frankfurt am Main 1590, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin. © public domain Abb. 53: Bartolomeu Antunes de Jesus: figura de convite, um 1730 Bemalte Fliesen, Palacio do Patriarca, Santo Antão do Tojal. © public domain Abb. 54: Adriana Varejão: Língua com Padrão Sinuoso, 1998 Öl auf Leinwand und Alumnium, 200 x 170 x 57 cm, Privatsammlung Belo Horizonte. © Adriana Varejão’s Archive/Foto: Eduardo Ortega Abb. 55: Adriana Varejão: Carne à la Taunay, 1997 Öl auf Leinwand, Porzellan, Gesamtmaße variabel, 65 x 75 cm (Leinwand), Privatsammlung São Paulo. © Foto: Andrew Kemp Abb. 56: Adriana Varejão: Filho Bastardo, 1992 Öl auf Holz, 110 x 140 x 10 cm, Museum Van Hedenaagste Kunst, Gent. © Foto: Dirk Pauwels Abb. 57: Jean Baptiste Debret: Um Funcionário a Passeio com sua Família, 1837/39 Tafel Nr. 5 des 2. Bandes der Voyage Pittoresque et Historique au Brésil, Lithographie auf Papier, 34,2 x 21,7 cm, Coleção Brasiliana, Pinacoteca do Estado de São Paulo, São Paulo. © public domain

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Abb. 58: Judy Chicago: The Dinner Party, 1974–79 Keramik, Porzellan, Textil, 1,463 x 1,463 cm, Brooklyn Museum, New York. © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Abb. 59a/b: Adriana Varejão: Testemunhas oculares X, Y e Z, 1997 Öl auf Leinwand, Porzellan, Eisen, Silber, Glas, Fotografie, 200 x 250 x 35 cm (Gesamt), 85 x 70 cm (je Leinwand), 16 x 88 x 25 cm (je Objekt), Privatsammlung. © Adriana Varejão’s Archive/Foto: Eduardo Ortega Abb. 60: Adriana Varejão: Polvo Portraits I (Classic Series), 2013 Öl auf Leinwand, Triptychon, 80 x 65 cm (je Leinwand), im Besitz der Künstlerin. © Adriana Varejão’s Archive/Foto: Vicente de Mello Abb. 61: Adriana Varejão: Extirpação do Mal por Incisura, 1994 Öl auf Leinwand, Objekte, 265 x 320x 180 cm (Gesamt), 220 x 190 cm (Leinwand), 100 x 185 x 50 cm (Bahre), Privatsammlung São Paulo. © Adriana Varejão’s Archive/Foto: Eduardo Ortega Abb. 62: Bartolomeu Antunes de Jesus: Ohne Titel, 1737 Bemalte Fliesen, Detail aus dem Eingangsbereich zur Kirche, Igreja São Francisco in Salvador da Bahia. © public domain Abb. 63: Adriana Varejão: Irezumi em Ponta de Diamante, 1997 Öl auf Leinwand und Tierhaut, 200 x 200 cm, Privatsammlung Buenos Aires. © Adriana Varejão’s Archive/Foto: Eduardo Ortega Abb. 64: Horace Bristol: Doctor examining tattoed human skin, 1946 Fotografie, The Horace and Masako Bristol Estate. © The Horace and Masako Bristol Estate Abb. 65: Adriana Varejão: Pele Tatuada à Moda de Azulejaria, 1995 Öl auf Leinwand und Styropor, 140 x 160 cm, Privatsammlung São Paulo. © Adriana Varejão’s Archive/Foto: Jaime Acioli Abb. 66: Otto van Veen (Hrsg.): Quinti Horatii Flacci Emblemata: imaginibus in aes incisis notisque ill., 1607 Mit Kupferstichen illustrierter Buchband, Antwerpen 1607 [Cicognara Nr. 1970], Seite 97. © public domain Abb. 67: Bartolomeu Antunes de Jesus: NATURA Moderatrix Optima, 1737 Bemalte Fliesen, Detail, Kreuzgang der Igreja São Francisco in Salvador da Bahia. © public domain Abb. 68: Adriana Varejão: Extirpação do Mal por Overdose, 1994 Öl auf Leinwand, Objekte, 270 x 220 x 50 cm (Gesamt), 220 x 150 cm (Leinwand), 220 x 40 x 40 cm (Gestell), Coleção Paco Martinez Celório, Madrid. © Adriana Varejão’s Archive Abb. 69: Adriana Varejão: Extirpação do Mal por Revulsão, 1994 Mischtechnik, 180 x 150 x 15 cm, Coleção Ricard Akagawa, São Paulo. © Adriana Varejão’s Archive/Foto: Jaime Acioli Abb. 70: Adriana Varejão: Naufrágio da Nau da Cia. das Índias, 1992

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Öl und Gips auf Leinwand, 160 x 131 cm, Privatsammlung Belo Horizonte. © Adriana Varejão’s Archive Abb. 71: Anonym: o.T., 1. Hälfte 18. Jhdt. Details aus der Dekoration am Triumphbogen, Capela da Nossa Senhora do Ó, Sabará. © public domain/Foto: Jens Baumgarten Abb. 72: Adriana Varejão: Paisagem Chinesa, 1991 Öl und Gips auf Leinwand, 190 x 220 cm, Coleção Patricia Phelps de Cisneros, Caracas. © Adriana Varejão’s Archive Abb. 73: Adriana Varejão: Passagem de Macau a Vila Rica, 1992 Öl und Gips auf Leinwand, 165 x 195 cm, Coleção Família Vilaça, São Paulo. © Foto: Fl vio Lamenha Abb. 74: Cildo Meireles: Babel, 2001 Radiogeräte, Metall, 3 m Durchmesser, 5 m Höhe, Installationsansicht Pirelli HangarBicocca, Mailand, im Besitz des Künstlers. © Foto: Sophie Mutterer/ Courtesy Cildo Meireles Abb. 75a-c: Cildo Meireles: Desvio para o Vermelho (Red Shift), 1967-84 Raum mit Objekten, 300 x 1000 x 500 cm, Inhotim Centro de Arte Contemporânea, Minas Gerais. © Foto: Pedro Motta/Courtesy Cildo Meireles Abb. 76: Henri Matisse: L‘atelier rouge, 1911 Öl auf Leinwand, 181 x 219 cm, Museum of Modern Art, New York. © Succession H. Matisse/VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Abb. 77: Cildo Meireles: Cruzeiro do Sul, 1970 Kiefer- und Eichenholz, 0,9 x 0,9 x 0,9 cm, im Besitz des Künstlers. © Foto: Pat Kilgore/Courtesy Cildo Meireles Abb. 78: Cildo Meireles: Fio, 1990-95 Heu, 18 Karat-Gold, je 8 m Seitenlänge, Sammlung Patricia Cisneros, New York. © Foto: Wilton Montenegro/Courtesy Cildo Meireles Abb. 79: Cildo Meireles: Inserções em Circuitos Ideológicos: Projeto Coca-Cola, 1970/1999 Text auf Glas, je 25 x 6 x 6 cm, Museum of Modern Art, New York. © Foto: Pat Kilgore/Courtesy Cildo Meireles Abb. 80: Cildo Meireles: Arte Físika: Tordesilhas, 1969 Tinte, Graphit, Collage auf Papier, 32 x 45 cm, im Besitz des Künstlers. © Foto: Pat Kilgore/Courtesy Cildo Meireles Abb. 81: Cildo Meireles: Arte Físika: Condensado II - Mutações Geográficas: Fronteira Rio-São Paulo, 1970 Erde, Silber, Onyx, Amethyst, 2,2 x 2 x 2 cm, Sammlung Francisco Medeiros Sciliar, Instituto Carlos Sciliar, Rio de Janeiro. © Foto: Wilton Montenegro/Courtesy Cildo Meireles Abb. 82: Cildo Meireles: Zero Cruzeiro, 1974-78

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Offset-Print auf Papier, je 6,5 x 15,5 cm, im Besitz des Künstlers. © Foto: Pat Kilgore/Courtesy Cildo Meireles Abb. 83: Anna Maria Maiolino: Glu Glu Glu, 1967 Acryl und Stoff auf Holz, 110 x 59 x 12,5 cm, Sammlung Gilberto Chateaubriand, Museu de Arte Moderna, Rio de Janeiro. © Anna Maria Maiolino Abb. 84: Anna Maria Maiolino: Glu Glu, 1967 Holzschnitt, 66 x 48 cm, Ed. 20, Sammlung Gilberto Chateaubriand, Museu de Arte Moderna, Rio de Janeiro. © Anna Maria Maiolino Abb. 85: Anna Maria Maiolino: ANNA, 1967 Holzschnitt, 48 x 66 cm, Ed. 20, im Besitz der Künstlerin. © Anna Maria Maiolino Abb. 86: Titelseiten und Installation der O Cordel-Literatur. © public domain Abb. 87: Anna Maria Maiolino: Por um Fio (aus der Serie Fotopoemação), 1974 Analoge schwarz/weiß-Fotografien, 52 x 79 cm, Ed. 5, Galleria Raffaella Cortese, Mailand. © Anna Maria Maiolino Abb. 88: Anna Maria Maiolino: De... Para... (aus der Serie Fotopoemação), 1974 Analoge schwarz/weiß-Fotografien, 63,5 x 48 cm, Ed. 3, Galeria Luisa Strina, São Paulo. © Anna Maria Maiolino Abb. 89: Anna Maria Maiolino: É o que sobra (aus der Serie Fotopoemação), 1974 Analoge schwarz/weiß-Fotografien, je 28 x 40 cm, Galleria Raffaella Cortese, Mailand. © Anna Maria Maiolino Abb. 90: Rebecca Horn: Bleistiftmaske, 1972 Stoff, 21 Bleistifte, Filmstill aus Performances II, Privatsammlung. © VG BildKunst, Bonn 2019 Abb. 91a-c: Anna Maria Maiolino: In-Out (Antropofagia), 1973 Super-8 Film in Farbe, 8,14 min, Filmstills, 2000 in Video überspielt, Akteur/innen: Anna Maria Maiolino, João Eduardo Osório, Postproduktion: Paulo Humberto Moreiro, im Besitz der Künstlerin. © Anna Maria Maiolino Abb. 92a: Anna Maria Maiolino: Sem título (aus der Serie Terra Modela), 1995/2006 Ton, Maße variabel, Dokumentationsfoto aus dem Studio der Künstlerin, Installation für die Pinacoteca do Estado de São Paulo, nicht mehr existent. © Anna Maria Maiolino Abb. 92b: Anna Maria Maiolino: Ainda mais Estes (aus der Serie Terra Modela), 1996 Ton, Maße variabel, Details, Installation Ausstellung “Inside the Visble”, Whitechapel Gallery, London, nicht mehr existent. © Anna Maria Maiolino Abb. 92c: Anna Maria Maiolino: N Vezes Um (aus der Serie Terra Modela), 2002 Ton, Maße variabel, Details, Installation Ausstellung “Art in General”, New York, nicht mehr existent. © Anna Maria Maiolino Abb. 93: Piero Manzoni: Achrome, ca. 1962

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Brötchen und Kaolin auf Leinwand, 90 x 85 cm, Privatbesitz, Basel. © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Abb. 94: Anna Maria Maiolino: Here & There, 2012 Ton, Maße variabel, 2000kg, Details, Installationsansicht dOCUMENTA (13), Kassel, 2012, nicht mehr existent. © Anna Maria Maiolino Abb. 95: Ernesto Neto: Navedenga, 1998 Polyamid und Stoff, Sand, Nelken, Styropor, 366 x 457 x 640 cm, Installationsansicht Bonakdar Jancou Gallery, New York, The Museum of Modern Art, New York. © Foto: Oren Slor/Courtesy by the artist, Tanya Bonakdar Gallery, New York/Los Angeles, Fortes D’Aloia & Gabriel, São Paulo/Rio de Janeiro Abb. 96a/b: Ernesto Neto: Globiobabel Nudelioname Landmoonaia, 2000 Polyamid, Styropor, Sand, 435 x 750 x 1845 cm, Installationsansichten Institute of Contemporary Arts, London, Daros Latin America Collection, Zürich. © Daros Latin America Collection/Fotos: Zoé Tempest/Courtesy by the artist, Tanya Bonakdar Gallery, New York/Los Angeles, Fortes D’Aloia & Gabriel, São Paulo/Rio de Janeiro Abb. 97a-d: Ernesto Neto: The Creature, Malmö Experience, 2006 Baumwollstoff, Polyamid, Styropor, Plastik, Sand, Glas, Polypropylen, Kukuma, Nelken, Lavendel, Pfeffer, Kümmel, 350 x 6500 x 2300 cm, Installationsansichten Kunsthalle Malmö, Kunsthalle Malmö. © Malmö Konsthall/Fotos: Kajsa Lindskog/Courtesy by the artist, Tanya Bonakdar Gallery, New York/Los Angeles, Fortes D’Aloia & Gabriel, São Paulo/Rio de Janeiro Abb. 98: Ernesto Neto: Anthropodino, 2009 Polyamid, Sperrholz, Nelken, Pfeffer, Kümmel, Ingwer, Safran, Sand, Lavendel, Kamille, Kies, Naturstein, Reis, Plastik, Glas, Polyprpylen, Styropor, Polyurethan-Schaum, 58,5 x 37,2 x 21 m, Installationsansicht Park Avenue Armory, New York, Park Avenue Armory, New York. © Park Avenue Armory/Foto: James Ewing/Courtesy by the artist, Tanya Bonakdar Gallery, New York/Los Angeles, Fortes D’Aloia & Gabriel, São Paulo/Rio de Janeiro Abb. 99a-d: Ernesto Neto: Paxpa – There is a Forest Encantada Inside of Us, 2014 Baumwollgewebe, Ployamidgewebe, Sand, Marmor, Raffiabast, Sperrholz, Bergkristall, Amethyst, Amazonit, Glasperlen, Vinylbälle, Nelken, Pfeffer, Kurkuma, Ingwer, Lavendel, Musikinstrumente, Kerzen, 480 x 1016 x 1245 cm, Installationsansichten Arp Museum Bahnhof Rolandseck, im Besitz des Künstlers. © Arp Museum Bahnhof Rolandseck/Fotos: Mick Vincenz/Courtesy by the artist, Tanya Bonakdar Gallery, New York/Los Angeles, Fortes D’Aloia & Gabriel, São Paulo/Rio de Janeiro Abb. 100: Ernesto Neto: O Mundo e o Mundo, 1999 Polyamidgewebe, Styropor, Annato-Samen, 72 x 223 x 94 cm, Installationsansicht Arp Museum Bahnhof Rolandseck, im Besitz des Künstlers. © Arp Museum Bahnhof Rolandseck/Foto: Mick Vincenz/Courtesy by the artist, Tanya Bo-

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nakdar Gallery, New York/Los Angeles, Fortes D’Aloia & Gabriel, São Paulo/Rio de Janeiro Abb. 101: Hans Arp: Träumender Stern (Astre en rêve), 1958 Cristallino-Marmor, 98 x 85 x 60 cm, Hamburger Kunsthalle. © VG BildKunst, Bonn 2019 Abb. 102: Ernesto Neto: Leda, 1989 Polyamidgewebe, Styropor, Blei, 28 x 32 x 16 cm, Installationsansicht Arp Museum Bahnhof Rolandseck, im Besitz des Künstlers. © Arp Museum Bahnhof Rolandseck/Foto: Mick Vincenz/Courtesy by the artist, Tanya Bonakdar Gallery, New York/Los Angeles, Fortes D’Aloia & Gabriel, São Paulo/Rio de Janeiro Abb. 103: Ernesto Neto in Zusammenarbeit mit Murillo Meirelles: O escultor e a deusa, 1995 Farbfotografie, 100 x 80 cm (gerahmt), Ed. 5, Galeria Camargo Vilaça, São Paulo. © Foto: Murillo Meirelles/Courtesy by the artist, Tanya Bonakdar Gallery, New York/Los Angeles, Fortes D’Aloia & Gabriel, São Paulo/Rio de Janeiro Abb. 104: Anonym: Venus von Willendorf, 25.000 v. Chr. Kalkstein, 11 cm Höhe, gefunden 1908 in Willendorf, Österreich, Naturhistorisches Museum Wien. © public domain Abb. 105: Ernesto Neto: Humanóides, 2001 Polyamid, Styropor, Samt, Gewürze, 6 Elemente, 177,8 x 127 x 96,52 cm, 172,7 x 106 x 71,1 cm, 160 x 96,5 x 76 cm, 140 x 76,2 x 76,2 cm, 116,8 x 66 x 10 cm, 114,3 x 45,7 x 45,7 cm, Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, Wien/Daros Latinamerica Collection, Zürich. © Courtesy by the artist, Tanya Bonakdar Gallery, New York/Los Angeles, Fortes D’Aloia & Gabriel, São Paulo/Rio de Janeiro Abb. 106a: Ricardo Basbaum: Você gostaria de participar de uma experiência artística?, work in progress seit 1994 Emailliertes Stahl-Objekt, 125 x 80 x 18 cm, Partizipation Kan-si, Verão Vermelho, Brazil, 1997. © Courtesy Ricardo Basbaum Abb. 106b: Ricardo Basbaum: Você gostaria de participar de uma experiência artística?, work in progress seit 1994 Webseite zum Projekt: http://www.nbp.pro.br/nbp.php, Screenshot. © Ricardo Basbaum Abb. 107: Ricardo Basbaum: me-you: choreographies, games and exercises, 2003 Siebdruck auf T-Shirts, Performance, Video, Dokumentationsfoto Diamantina Winter Festival, Brasilien. © Ricardo Basbaum Abb. 108: Ricardo Basbaum: membranosa (hamburg): collective-conversation, 2020

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Workshop, Diagramm, digitale Zeichnung, Maße variabel. © Stadtkuratorin Hamburg/Ricardo Basbaum Abb. 109a-e: Ricardo Basbaum: Você gostaria de participar de uma experiência artística?, work in progress seit 1994 Diagramm, aktualisiert 30. Juli 2019, digitale Zeichnung, Maße variabel. © Ricardo Basbaum Abb. 110: Ricardo Basbaum: Diagram (me-you-series), 2000 Diagramm, digitale Zeichnung, Maße variabel, im Besitz des Künstlers. © Ricardo Basbaum Abb. 111a/b: Ricardo Basbaum: Transatravessamento & Fuga (Sistema-Cinema), 2004 2-Kanal-DVD, Soundsystem, Mikrokameras, Monitore, VHS-Recorder, 2 Wandbilder (Text und Diagramm), Pflanzen, Mobiliar, Zeitschriften, Maße variabel, Installationsansicht Künstlerhaus Stuttgart, im Besitz des Künstlers. © Courtesy Künstlerhaus Stuttgart Abb. 112a: Ricardo Basbaum: obs. + sistema-cinema + superpronombre, 2005 Eisen, Vinyl, Kameras, Monitor, Maße variabel, Installationsansicht Centro Atlántico de Arte Moderno, Las Palmas, im Besitz des Künstlers. © Foto: Nacho González/Courtesy Ricardo Basbaum Abb. 112b: Ricardo Basbaum: Yo-Tú / Me-You, 2005 Filmstills, Farbe und schwarz/weiß, 13.55 Min., im Besitz des Künstlers., im Besitz des Künstlers. © Ricardo Basbaum Abb. 113: Stephen Willats: West London Social Research Project, Flow Diagram of Events, 1973 Tusche und Letraset Text auf Papier, 21 x 29,7 cm, Stephen Willats Archive, Chelsea College of Art and Design Library, London. © Stephen Willats Abb. 114: Ernesto Neto: The Malmö Experience Project (Floorplan), 2006 Installationsplan, Kunsthalle Malmö, Kunsthalle Malmö. © Malmö Konsthall/ Foto: Kajsa Lindskog/Courtesy by the artist, Tanya Bonakdar Gallery, New York/Los Anegles, Fortes D’Aloia & Gabriel, São Paulo/Rio de Janeiro Abb. 115: Kurt Lewin: The life spaces of a husband and a wife and the social field containing them both, 1951 Diagramm aus Kurt Lewin: Field Theory in Social Science, New York 1951. © public domain Abb. 116a: Dias & Riedweg: Funk Staden, 2007 3-Kanal-Video-Installation, 14:32 Minuten, Loop, Maße variabel, Installationsansicht documenta 12, Schloss Wilhelmshöhe, Kassel, im Besitz der Künstler. © Dias & Riedweg Abb. 116b/c: Dias & Riedweg: Funk Staden, 2007 3-Kanal-Video-Installation, 14:32 Minuten, Loop, Filmstills, im Besitz der Künstler. © Dias & Riedweg

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Abb. 117: Dennis Feser: colonial/desire, 2007 14-teilige Serie aus 9 Fotografien, 3 Texten, 3 zitierten Kupferstichen von Theodor de Bry, Pigmentdrucke auf Hahnemühle Photo Rag, verschiedene Formate, im Besitz des Künstlers. © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Abb. 118: Wendelien van Oldenborgh: Mauritsscript, 2006 Zwei-Kanal-Video-Projektion, 67 Minuten, Videostill, Van Abbemuseum, Eindhoven. © Courtesy Wilfried Lentz Rotterdam and the artist Abb. 119: Wendelien van Oldenborgh: A Certain Brazilianness, Polyphonic Stage, 2004-2005 Performance, Hoogvliet, Rotterdam, Veranstaltungsort, Pavillon Het Beest von Alexander van de Beld/Onix, Dokumentationsfotografie. © Courtesy Wilfried Lentz Rotterdam and the artist

Literaturverzeichnis

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Danksagung

Die vorliegende Publikation wurde unter gleichnamigem Titel im Sommersemester 2017 vom Fachbereich Humanwissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt als Dissertation angenommen. Das Erwecken meines Forschungsinteresses verdanke ich Prof. Dr. Viktoria Schmidt-Linsenhoff, bei der ich an der Universität Trier Kunstgeschichte studierte. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Alexandra Karentzos (Technische Universität Darmstadt), die mich seit meinem Studium in meinen Fragestellungen unterstützt und meine Dissertation engagiert betreut hat. Ihre Anregungen und konstruktive Kritik haben wesentlich zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen. Ebenso herzlich danke ich meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Jens Baumgarten (Universidade Federal de São Paulo), der für meine Analyse wertvolle Impulse geliefert hat. Ivan Resaffi, Pedro Risse, Rubiane und Alessandra Roseira danke ich für ihre Hilfe bei Übersetzungen und beim Erlernen der portugiesischen Sprache. Die Familie Machado, Hesli Brito, Suely Lima und Haniel Occo haben mich während meines Brasilien-Aufenthaltes unterstützt. Meine dortigen Recherchen wurden maßgeblich ermöglicht, indem ich Zugang erhielt zu den Bibliotheken des Centro de Arte Contemporânea Inhotim, des Museu de Arte Contemporânea de Niterói (MAC), des Museu de Arte de São Paulo (MASP) und des Museu de Arte Moderna de São Paulo (MAM). Cildo Meireles, Adriana Varejão und Ricardo Basbaum möchte ich für ihr Interesse und ihre Zeit danken, meine Fragen zu beantworten. Ebenso haben mich die Studios und Galerien der in dieser Arbeit behandelten Künstler/innen mit der Bereitstellung von Bild- und Textmaterial unterstützt. Meine Anstellung als Doktorandin bei der Daimler Art Collection bot mir optimale Bedingungen, um an meiner Dissertation zu arbeiten, weshalb ich Dr. Kathrin Hatesaul und Dr. Renate Wiehager danke. Die Veröffentlichung meiner Forschungsarbeit in dieser Form konnte schließlich durch einen großzügigen Druckkosten-

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zuschuss der Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften realisiert werden. Hanna Büdenbender, Franziska Dusch, Hanna Dumont, Katharina Flachs, Sarah Hermes, Anna Jaitner, Carolin Reichert, Lisa Sasse, Elena Skarke und Eva Luy danke ich für den regen Austausch und den mentalen Beistand. Mein besonderer Dank gilt außerdem meiner Familie, die mich stets in meinem Vorhaben begleitet und auf so vielen Wegen unterstützt hat.

Kunst- und Bildwissenschaft Artur R. Boelderl, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

»Die Zukunft gehört den Phantomen« Kunst und Politik nach Derrida 2018, 430 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4222-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4222-7

Chris Goldie, Darcy White (eds.)

Northern Light Landscape, Photography and Evocations of the North

2018, 174 p., hardcover, numerous ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-3975-9 E-Book: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3975-3

Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2

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Kunst- und Bildwissenschaft Julia Mia Stirnemann

Über Projektionen: Weltkarten und Weltanschauungen Von der Rekonstruktion zur Dekonstruktion, von der Konvention zur Alternative 2018, 300 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4611-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4611-9

Annerose Keßler, Isabelle Schwarz (Hg.)

Objektivität und Imagination Naturgeschichte in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts 2018, 472 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3865-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3865-7

Alexandra Vinzenz

Vision ›Gesamtkunstwerk‹ Performative Interaktion als künstlerische Form 2018, 456 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4138-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4138-1

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