Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik: Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne [2 vols. In total 1.307 pages ed.] 9783110211559, 9783110204056

Starting from the position of the ancient Stoa, these two interdisciplinary collections examine the influence of Stoic t

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German Pages 1318 [1330] Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus
Determinismus in der Stoa
Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung
Philosophie als Psychotherapie. Die griechisch-römische Consolationsliteratur
Stoische Naturphilosophie und ihre Psychologisierung: Feuer als Prinzip des Schaffens und Zerstörens von der Antike bis zu Goethe und Hölderlin
Die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau
Herakles als Ideal stoischer Virtus. Antike Tradition und neuzeitliche Inszenierung von der Renaissance bis 1800.
Laokoon als Prototyp stoischer Schmerzbewältigung? Winckelmanns Deutung im Kontext ästhetischer Kontroversen
Cato als Repräsentant stoisch formierten Republikanertums von der Antike bis zur Französischen Revolution
Der Tod des Philosophen Seneca. Stoische probatio in Literatur, Kunst und Musik
Petrarcas Begründung der humanistischen Moralphilosophie: Rezeption und Relativierung der stoischen Tradition
Kritische Reflexionen über die Stoa: Leon Battista Albertis Profugiorum ab aerumna libri III
Zenons glücklicher Schiffbruch am Felsen der Weisheit: Eine stoische Allegorie im Dom zu Siena
„Nihil enim huius praeceptis sanctius“. Das Seneca-Bild des Erasmus von Rotterdam
Montaignes skeptische Stoa-Rezeption
Stoa und frühneuzeitliche Rationalität: Philipp Melanchthons Konzept der Geistphilosophie
Justus Lipsius und der politische Neustoizismus in Europa
Das Leben als Krieg. Eine Leitmetapher bei Seneca und Lipsius
Peter Paul Rubens und die stoische Philosophie des Justus Lipsius
Frontmatter
Inhalt
Shakespeare und die englische Rezeption des Stoizismus
Martin Opitz’ Trost-Getichte: ein Gründungstext der deutschen Nationalliteratur aus dem Geist des Stoizismus
Seneca christianus. Transformationen stoischer Vorstellungen in Andreas Gryphius’ Märtyrerdramen Catharina von Georgien und Papinian
Petrarkismus und Stoizismus: Die Kreuzung konträrer Diskurse in Paul Flemings Liebeslyrik
Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett An sich
Eine stoische meditatio mortis: Paul Flemings Grabschrift auf sich selbst
Von müßigen Geschäften und freiheitlichem Stand Stoische Tradition in der Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts
Wielands Auseinandersetzung mit dem Stoizismus aus dem Geist skeptischer Aufklärung
Navigation mit Virtus und Fortuna. Goethes Gedicht Seefahrt und seine stoische Grundkonzeption
„Seelenstärke“ und „Gemütsfreiheit“. Stoisches Ethos in Schillers ästhetischen Schriften und in seinem Drama Maria Stuart
Stoischer Pantheismus als Medium des Säkularisierungsprozesses und als Psychotherapeutikum um 1800: Hölderlins Hyperion
Die poetologische Transformation der stoischen Euthymie: Marc Aurel und Hölderlins Ode Dichtermut
Die Aktualisierung des preußisch-stoischen Erbes: Kleists Prinz Friedrich von Homburg als patriotischer Appell am Vorabend der Befreiungskriege
Die Autonomie des Denkens im 17. Jahrhundert
Spinozas Stoizismus
Pascals Auseinandersetzung mit der Stoa. Zwischen Paradox und Dialektik
„Stoisch, wahrhaft sokratisch“. Epiktet und Marc Aurel in der Philosophie Shaftesburys
Der Einfluß der stoischen Philosophie auf die Grundlagen der modernen Wirtschaftstheorie bei Adam Smith
Kant und die Stoiker
Die Synthese epikureischer und stoischer Elemente in John Stuart Mills Utilitarianism
Ataraxie und Rigorismus. Schopenhauers ambivalentes Verhältnis zur stoischen Philosophie
„Selbst-Tyrannei“ und „Bildsäulenkälte“. Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit der stoischen Moral
Vom Überleben in heillosen Zeiten. Stoizismus in der Weltliteratur vom Fin de siècle bis zur Gegenwart
Der Stoiker als komischer Typus. Stoa-Parodien in Literatur und Film
Backmatter
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 9783110211559, 9783110204056

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Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik Band 1



Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne Herausgegeben von

Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann

Band 1

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020405-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Vorwort Die europäische Wirkungsgeschichte der Stoa reicht von der Antike bis in die Gegenwart. Trotz wertvoller früherer Forschungsarbeiten ist sie erst partiell erkundet. Auf der Basis doxographischer und traditionsgeschichtlicher Untersuchungen werden in diesem Werk die Problemstrukturen, die Kontinuitäten und Adaptationen sowie die vielfältigen epochentypischen Transformationen auf ihren jeweiligen historischen Aussagewert hin befragt und funktionsgeschichtlich charakterisiert. Nicht nur das weite zeitliche Spektrum galt es zu erforschen. Darüberhinaus war das kaum überblickbare Feld zu vermessen, in dem sich die kulturelle Prägekraft des Stoizismus manifestiert. Vor allem Philosophie und Literatur zeugen von der intensiven Auseinandersetzung mit der Anthropologie der Stoa, aber auch auf Theologie, Psychologie, Kunst, Politik, Recht, auf ökonomische Theorie und medizinische Vorstellungen wirkte sie ein. Die historische und systematische Spannweite des Projekts machte ein interdisziplinäres Vorgehen notwendig. Die Herausforderung bestand darin, von der Antike bis in die Moderne Themen, Paradigmen, Epochen, Autoren und Werke in ihren jeweiligen diskursiven Zusammenhängen zu erschließen, zugleich aber auch in ihren spezifischen Konturen erkennbar werden zu lassen. Die Ethik, die schon im Zentrum der antiken Stoa stand, blieb auch für den späteren Stoizismus maßgebend. Anders als das modische Interesse an der ,Lebenskunst‘ ist die Praxisorientierung der stoischen Philosophie von einem markanten ethischen Anspruch getragen: von der Frage nach der rechten Lebensführung. Der Thyssen-Stiftung gilt unser Dank für die Förderung des Projekts. Für die gute redaktionelle Betreuung danken wir Anne Schlichtmann. Die Herausgeber

Inhalt

ERSTER BAND I. Überblick und Basiskonzepte Jochen Schmidt Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Dorothea Frede Determinismus in der Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

Maximilian Forschner Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung . . . . . . . .

169

Bernhard Zimmermann Philosophie als Psychotherapie. Die griechisch-römische Consolationsliteratur . . . . . . . . . . . . .

193

Jochen Schmidt Stoische Naturphilosophie und ihre Psychologisierung: Feuer als Prinzip des Schaffens und Zerstörens von der Antike bis zu Goethe und Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Sebastian Kaufmann Die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

II. Mythologische und historische Paradigmata Jochen Schmidt Herakles als Ideal stoischer Virtus. Antike Tradition und neuzeitliche Inszenierung von der Renaissance bis 1800. . . . . .

295

VIII

Inhalt

Barbara Neymeyr Laokoon als Prototyp stoischer Schmerzbewältigung? Winckelmanns Deutung im Kontext ästhetischer Kontroversen

343

Barbara Beßlich Cato als Repräsentant stoisch formierten Republikanertums von der Antike bis zur Französischen Revolution . . . . . . . . . .

365

Bernhard Zimmermann Der Tod des Philosophen Seneca. Stoische probatio in Literatur, Kunst und Musik . . . . . . . . . . .

393

III. Humanismus und Stoa Marlene Meuer Petrarcas Begründung der humanistischen Moralphilosophie: Rezeption und Relativierung der stoischen Tradition . . . . . . .

425

Klaus Mönig Kritische Reflexionen über die Stoa: Leon Battista Albertis Profugiorum ab aerumna libri III . . . . . . . .

453

Klaus Mönig Zenons glücklicher Schiffbruch am Felsen der Weisheit: Eine stoische Allegorie im Dom zu Siena . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

Peter Walter „Nihil enim huius praeceptis sanctius“ Das Seneca-Bild des Erasmus von Rotterdam . . . . . . . . . . . . .

501

Hugo Friedrich Montaignes skeptische Stoa-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

525

Günter Frank Stoa und frühneuzeitliche Rationalität: Philipp Melanchthons Konzept der Geistphilosophie . . . . . . . .

549

Gerhard Oestreich Justus Lipsius und der politische Neustoizismus in Europa . . . .

575

Andreas Urs Sommer Das Leben als Krieg. Eine Leitmetapher bei Seneca und Lipsius

631

Inhalt

Klaus Mönig Peter Paul Rubens und die stoische Philosophie des Justus Lipsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

655

ZWEITER BAND IV. Stoizismus in der Literatur des 17. Jahrhunderts Paul Goetsch Shakespeare und die englische Rezeption des Stoizismus . . . . .

673

Achim Aurnhammer Martin Opitz’ Trost-Getichte: ein Gründungstext der deutschen Nationalliteratur aus dem Geist des Stoizismus .

711

Katharina Grätz Seneca christianus. Transformationen stoischer Vorstellungen in Andreas Gryphius’ Märtyrerdramen Catharina von Georgien und Papinian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

731

Jochen Schmidt Petrarkismus und Stoizismus: Die Kreuzung konträrer Diskurse in Paul Flemings Liebeslyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

771

Barbara Neymeyr Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett An sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

787

Jochen Schmidt Eine stoische meditatio mortis: Paul Flemings Grabschrift auf sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

807

Thorsten Fitzon Von müßigen Geschäften und freiheitlichem Stand. Stoische Tradition in der Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

833

X

Inhalt

V. Stoische Konzepte in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Romantik Dieter Martin Wielands Auseinandersetzung mit dem Stoizismus aus dem Geist skeptischer Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

855

Barbara Neymeyr Navigation mit Virtus und Fortuna. Goethes Gedicht Seefahrt und seine stoische Grundkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

875

Barbara Neymeyr „Seelenstärke“ und „Gemütsfreiheit“. Stoisches Ethos in Schillers ästhetischen Schriften und in seinem Drama Maria Stuart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

897

Jochen Schmidt Stoischer Pantheismus als Medium des Säkularisierungsprozesses und als Psychotherapeutikum um 1800: Hölderlins Hyperion . .

927

Jochen Schmidt Die poetologische Transformation der stoischen Euthymie: Marc Aurel und Hölderlins Ode Dichtermut . . . . . . . . . . . . . . .

951

Jochen Schmidt Die Aktualisierung des preußisch-stoischen Erbes: Kleists Prinz Friedrich von Homburg als patriotischer Appell am Vorabend der Befreiungskriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

963

VI. Der Stoizismus in der philosophischen Diskussion vom 17. bis zum 19. Jahrhundert Wilhelm Dilthey Die Autonomie des Denkens im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . .

977

Hanna Klessinger Spinozas Stoizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

997

Lothar Willms Pascals Auseinandersetzung mit der Stoa. Zwischen Paradox und Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1017

XI

Inhalt

Friedrich A. Uehlein „Stoisch, wahrhaft sokratisch“. Epiktet und Marc Aurel in der Philosophie Shaftesburys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1047

Sabine Föllinger Der Einfluß der stoischen Philosophie auf die Grundlagen der modernen Wirtschaftstheorie bei Adam Smith . . . . . . . . . .

1063

Christoph Horn Kant und die Stoiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1081

Maximilian Forschner Die Synthese epikureischer und stoischer Elemente in John Stuart Mills Utilitarianism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1105

Barbara Neymeyr Ataraxie und Rigorismus. Schopenhauers ambivalentes Verhältnis zur stoischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1141

Barbara Neymeyr „Selbst-Tyrannei“ und „Bildsäulenkälte“. Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit der stoischen Moral . . . . . . . . . . . . . .

1165

VII. Stoische Anthropologie im kulturellen Spektrum des 20. Jahrhunderts Frank Pauly Vom Überleben in heillosen Zeiten. Stoizismus in der Weltliteratur vom Fin de siècle bis zur Gegenwart . . . . . . . . .

1201

Frank Pauly Der Stoiker als komischer Typus. Stoa-Parodien in Literatur und Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1267

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1297

I. Überblick und Basiskonzepte

Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus von Jochen Schmidt Vorbemerkung. Zur Hinführung und Ergänzung stellt der folgende Überblick zuerst die wesentlichen Zusammenhänge von der Antike bis zum Ausgang des Mittelalters dar, um dann eine übergreifende historische Orientierung zu den Stationen des neuzeitlichen Stoizismus zu geben. I. Anfang in Athen. Ausbreitung. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Bedingungen S. 4 – 13. – Überlieferung, Eigenart und spätere Funktionen der antiken Quellen S. 13 – 22. – Das soziale Spektrum: Marc Aurel – ein Kaiser als Stoiker. Stoische Popularphilosophie S. 22 – 25. – Philosophische Schulen und Diskursformationen. Die traditionbildende Konfrontation von Stoa und Epikureismus S. 26 – 33. – Die Bedeutung stoischer Moral und Askese für das frühe Christentum und das Mittelalter. Seneca- und Epiktet-Rezeption. Aspekte einer heidnisch-christlichen Mischkultur. Neuplatonische Überformung stoischer Vorstellungen bei Boethius. Dessen tausendjährige Wirkung S. 33 – 46. – Eine zeitübergreifende Debatte: ,Vorsehung‘ und schicksalhafte Determination in der Stoa und bei christlichen Autoren von der Antike bis in die Neuzeit S. 46 – 53. – Augustinus und die Stoa im Medium des Frühhumanismus: Petrarcas Secretum S. 53 – 65. II. Historisch-anthropologische Konturen des Neustoizismus. Justus Lipsius und die „niederländische Bewegung“ in Europa. S. 65 – 76. – Ein zentrales Thema: Weisheit. Die stoische Idealfigur des Weisen von der Antike bis in die Neuzeit. Christlich-antistoische Kritik: Bidermanns Cenodoxus als literarisches Paradigma S. 76 – 98. – Stoische Prägungen der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert: Opitz, Fleming und Gryphius S. 98 – 101. – Die moderne Neubelebung des stoisch-pantheistischen Monismus als weltanschauliche Wende: Spinozas Ethik S. 102 – 106. III. Überkreuzung epikureischer und stoischer Strömungen im 18. Jahrhundert. Revolutionäre und religionskritische Paradigmatisierung stoischer Leitfiguren S. 107 – 111. – Kants Stoa-Kritik im zeitgenössischen Kontext. Seine Affinität zur stoischen Auffassung des ,Mitleids‘ und der ,Pflicht‘ S. 112 – 121. – Strukturbildende Aufnahme stoischer Grundgedanken in Werken Goethes, Schillers, Hölderlins und Kleists S. 121 – 129. – Schopenhauers und Nietzsches Auseinandersetzung mit der stoischen Moral. Ausblick auf das 20. Jahrhundert S. 129 – 133.

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Jochen Schmidt

I Anfang in Athen. Ausbreitung. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Bedingungen Die Stoa gehört zu den großen philosophischen Schulen der Antike, die bis weit in die Moderne hinein wirkten.1 Zwar erhielt sie ihren Namen von einem räumlich fixierten Ort, einer mit Bildern ausgestatteten, 1

Überblick, Forschungsberichte, umfassende bibliographische Information sowie Sach- und Personenregister in: Grundriss der Philosophie der Antike. Begründet von Friedrich Ueberweg. Band 4. Herausgegeben von Hellmut Flashar. Zweiter Halbband. Basel 1994. Darin insbesondere die Darstellungen von Peter Steinmetz: Die Stoa (S. 495 – 716) sowie von Günter Gawlick und Woldemar Görler: Cicero (S. 995 – 1168). – Trotz gelegentlicher ideologischer Spuren der Hitlerzeit immer noch ein Standardwerk: Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 1. Band: Text, 1. Auflage Göttingen 1948, 4. Auflage 1971. 2. Band: Erläuterungen, 1. Auflage Göttingen 1949, 2. Auflage 1972 (mit Zitatkorrekturen, bibliographischen Nachträgen und Stellenregister von H.–Th. Johann). John M. Rist: Stoic Philosophy. Cambridge 1969. Im Hinblick auf die besondere Bedeutung Senecas für die Wirkungsgeschichte ist zu beachten, daß Seneca in den genannten Darstellungen (mit Ausnahme eines Kapitels bei Pohlenz, Bd. 1, S. 303 – 327) nicht vorkommt und auch nur ausnahmsweise in den Quellensammlungen berücksichtigt ist. Eine ausführliche Behandlung ist für Band 5 von Ueberwegs Grundriss angekündigt. Die grundlegende Quellensammlung: Stoicorum Veterum Fragmenta. Collegit Ioannes ab Arnim. 4 Bde. Bd. I-III Stuttgart 1903 – 1905 (Teubner), Bd. IV: Indices zu Bd. I-III, von Maximilian Adler (Stuttgart 1924). Alle Texte stehen hier in der griechischen und lateinischen Originalform ohne Übersetzung. Der angesichts der zersplitterten Überlieferung sehr nützliche Index-Band umfaßt zur Hauptsache einen griechischen Index der stoischen Worte, Begriffe und ,Sachen‘ und stellt sie in den näheren Kontext, darauf folgt ein knapper lateinischer Index der stoischen Termini, die von den römischen Schriftstellern vom Griechischen ins Lateinische übertragen wurden, sowie ein Namens- und Quellen-Index. Neudruck Stuttgart 1978 und 1979. – Neuere Quellensammlungen: A. A. Long/D.N. Sedley: The Hellenistic philosophers, 2 Bde, Cambridge 1987. Der erste Band enthält die englische Übersetzung der im 2. Band gebotenen Originaltexte sowie kurze Kommentare und KontextHinweise. Dieses Werk versammelt ausgewählte Texte zur Stoa, zur Skepsis und zum Epikureismus. Der 2. Band enthält eine ausführliche, durchgegliederte Bibliographie. Dem ersten Band entspricht die deutsche Version in: A. A. Long/D. N. Sedley: Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Übersetzt von Karlheinz Hülser. Stuttgart/Weimar 2000. Dieser – manchmal problematischen – deutschen Version ist kein zweiter Band mit den Originaltexten beigegeben, so daß die wissenschaftliche Benutzbarkeit eingeschränkt ist.

Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus

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„bunten“ Säulenhalle (Stoá poikíle) in Athen; ähnlich wie Platonismus, Aristotelismus und Epikureismus beschränkte sich aber auch die Stoa schon bald nicht mehr auf ihren athenischen Ursprung. In einem durch theoretische Schriften bewahrten Kontinuum der Grundgedanken und zugleich in historisch bedingten Transformationen breitete sich ihre Lehre während der Zeit des Hellenismus und des römischen Kaiserreichs über den ganzen Mittelmeerraum aus. Die Einschränkungen und Reduktionen, welche die antike philosophische Tradition nach dem Sieg des Christentums und dem Untergang Roms in den Jahrhunderten des Mittelalters erfuhr, ohne daß sie je ganz abgebrochen wäre, dauerten bis zur Wiedererweckung der antiken Kultur, die mit Renaissance und Humanismus begann. Diese Kultur prägte Europa bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Aber auch später und bis in die Gegenwart hinein strahlte die von ihr mitgetragene philosophische Tradition aus, und dies nicht nur in einer mehr oder weniger gelehrten Erinnerungskultur, sondern in vielerlei lebendigen Wandlungen. Immer allerdings blieb eine Grundeigenschaft des Stoizismus maßgebend: Sein Hauptinteresse gewann er als praktische Philosophie, als Anleitung zur richtigen Lebenseinstellung und zu einer Lebensführung, die mit dem allgemein gültigen Gesetz der Natur übereinstimmen sollte. Deshalb stand stets die Ethik im Mittelpunkt.2 Einen besonderen Rang im ethischen System der Stoa und auch in ihrer Wirkungsgeschichte hat die Lehre von den Affekten,3 deren Überwindung durch die Vernunft 2

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Hierzu das Standardwerk von Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. Stuttgart 1981. 2., durchgesehene und um ein Nachwort und einen Literaturnachtrag erweiterte Auflage. Darmstadt 1995. Otto Rieth: Grundbegriffe der stoischen Ethik. Berlin 1933. Vgl. auch Nicholas P. White: The basis of Stoic Ethics, in: Harvard Studies in Classical Philology 83, 1979, S. 143 – 178; Malcolm Schofield: Stoic Ethics, in: The Cambridge Companion to the Stoics, ed. by Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 233 – 256. Die stoischen Zeugnisse bei Hans von Arnim: SVF III (wie Anm. 1) in dem Kapitel Ethica VII: De affectibus, Nr. 377-Nr. 490. Dieser dritte Band ist insgesamt der stoischen Ethik gewidmet. Vgl. Max Pohlenz (wie Anm. 1), S. 141 – 153. Maximilian Forschner (wie Anm. 2), S. 114 – 141: Die Lehre von den Affekten. Michael Frede: The Stoic Doctrine of the Affections of the Soul, in: The Norms of Nature. Studies in Hellenistic Ethics, ed. Malcolm Schofield and Gisela Striker, Cambridge 1986, S. 93 – 110. Martha C. Nussbaum: The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics. Princeton 1994. Gisela Striker: Ataraxia: Happiness as Tranquillity, in: Essays on Hellenistic Epistemology and Ethics, ed. Gisela Striker, Cambridge 1996, S. 183 – 195. The Emotions in Hel-

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Jochen Schmidt

(ratio) sowie die Bewährung der Tugend (virtus). Ziel dieser ethischen Aufgabe ist die Seelenruhe (Ataraxie, tranquillitas animi). Nur durch sie kann der Mensch das „Glück“ der Vollendung erreichen. Obwohl die griechische Stoa wichtige Elemente aus der Naturphilosophie, insbesondere aus derjenigen Heraklits und des Peripatos aufnahm und eine kosmologische Grundlage hatte,4 obwohl sie gegen die sophistische Trennung von Nomos und Physis an Platons ontologischer Verankerung der Ethik festhielt und aus dem Timaios die Vorstellung einer Weltseele adaptierte5, und obwohl sie sogar eine eigene Erkenntnistheorie6, Logik7, Dialektik8 und Sprachphilosophie ausbildete, wurde die durch Sokrates vollzogene Wendung von naturphilosophischen und im engeren Sinn ,theoretischen‘ Grundfragen zur Anthropologie, vor allem zur Sorge um die seelische Befindlichkeit zum Hauptanliegen der Stoa. Dem entsprach eine Tendenz zur Verinnerlichung. Sie ließ die

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lenistic Philosophy, ed. Troels Engberg-Pedersen and Juha Sihvola. Dordrecht 1998. John M. Cooper: Reason and Emotion: Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical Theory. Princeton 1999. Hierzu Samuel Sambursky: The physics of the Stoics. London 1959. Anthony A. Long: Heraclitus and Stoicism, in: Philosophia 5 – 6, 1975 – 1976, S. 133 – 156. Michael Lapidge: Stoic cosmology, in: The Stoics, hg. von John M. Rist, Berkeley, Los Angeles, London 1978, S. 161 – 185. Michael J. White: Stoic natural Philosophy (Physics and Cosmology), in: The Cambridge Companion to the Stoics, ed. by Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 124 – 152. Vgl. Joseph Moreau: L’me du monde de Platon aux Stociens. Paris 1939. Nachdruck Hildesheim 1965. Hans Joachim Krämer: Platonismus und hellenistische Philosophie. Berlin 1971. Vgl. Max Pohlenz (wie Anm. 1), S. 54 – 63. Gerard Watson: The Stoic Theory of Knowledge. Belfast 1966. Francis H. Sandbach: 7Emmoia and Pqºkgxir in the Stoic Theory of Knowledge, in: CQ 24, 1930, S. 44 – 51. Vgl. Mariano Baldassarri: La logica stoica. Testimonianze e frammenti. Testi originali con introduzione e traduzione commentata. 8 Bände. Como 1984 – 1987. Vgl. Benson Mates: Stoic Logic. Berkeley, 2. Auflage 1961 (grundlegend, konzentriert sich auf die Aussagenlogik). Jürgen Mau: Stoische Logik. Ihre Stellung gegenber der Aristotelischen Syllogistik und dem modernen Aussagenkalkl, in: Hermes 85, 1957, S. 147 – 158. Maria Mignucci: Il significato della logica stoica. Bologna 1965. Ian Mueller: Stoic and Peripatetic logic, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51, 1969, S. 173 – 187. Michael Frede: Die stoische Logik. Göttingen 1974. Ian Mueller: The completeness of stoic logic. Stoic propositional Logic?, in: Notre Dame Journal of Formal Logic 20, 1979, S. 201 – 215. Susanne Bobzien: Die stoische Modallogik. Würzburg 1986. Charles H. Kahn: Stoic logic and stoic KOCOS in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51, 1969, S. 158 – 172. Hierzu: Karlheinz Hülser: Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Texte mit deutscher bersetzung und Kommentaren. 4 Bände. Stuttgart 1987.

Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus

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monistische Stoa, in der sich zwei Prinzipien ( !qwa¸), Materie (vkg) und naturgesetzlicher Logos (kºcor), zu einer untrennbaren Einheit verbinden, trotz des gerade in diesem Monismus liegenden wesentlichen Unterschieds zum dualistischen Christentum manchen christlichen Vorstellungen und Haltungen verwandt erscheinen. Dazu trugen auch gewisse semantische Eigenheiten der Stoa bei, etwa daß der immanente Logos als Gott (heºr) bezeichnet wurde. Von Anfang an prägte sich die stoische Philosophie in einzelnen Disziplinen und Lehrsätzen aus, wie es der schulmäßigen Organisation in Athen entsprach. Schon der Begründer der stoischen Schule, Zenon (335 – 262 v. Chr.), unterschied klar drei Hauptgebiete der Stoa:9 die Physik (d. h. die Naturlehre), die Ethik und die Logik; die Dialektik formte dann vor allem Chrysipp (3. Jh. v. Chr.) aus. Doch betonten die Stoiker trotz der Aufspaltung der Philosophie in verschiedene Disziplinen die enge Verbindung zwischen ihnen. Die innere Einheit des stoischen Philosophierens ergibt sich aus der Grundthese vom alles bestimmenden Logos. Er durchwaltet die Natur (Physik), legt ein ihm gemäßes Verhalten nahe (Ethik), erfordert ein ihm entsprechendes Denken (Logik) und eine ihm folgende sprachliche Organisation und Kommunikationsstruktur (Dialektik), aus der auch die besondere Bedeutung der Sprachtheorie10 und der Rhetorik resultiert.11 Dieser einheitstiftende Bezug auf den Logos begründet nicht nur den Zusammenhang der stoischen Philosophie. Er erhält auch eine legitimatorische Funktion als Letztbegründung, wie schon aus den Fundamentalsätzen Zenons hervorgeht. Einer der wichtigsten spricht vom „gemeinsamen Gesetz, welches der richtige Logos ist, der durch alles hindurchgeht“.12 Besonders relevant ist diese Legitimation für die theoretische Sicherung der Ethik. Sie steht in einer eigentümlichen Spannung zwischen Sein und Sollen, zwischen dem Apriori des alles seit jeher bestimmenden Logos und einem Endziel (Telos), das es gleichwohl für den einzelnen Menschen erst zu erreichen gilt. Da unsere individuelle 9 Diogenes Laërtios VII 39. Analog Seneca, Epist. 89, 9: „Philosophiae tres partes dixerunt et maximi et plurimi auctores: moralem, naturalem, rationalem“. 10 Vgl. Max Pohlenz (wie Anm. 1), S. 37 – 54. Ders.: Die Begrndung der abendlndischen Sprachlehre durch die Stoa, in: NAG, phil. hist. Kl. I 3.6, 1939, S. 151 – 198. 11 Definitorisch, sogar mit den griechischen Termini, hierzu wieder Seneca, Epist. 89, 17. 12 Diogenes Laërtios VII 88 (= SVF I, Nr. 162): b mºlor b joimºr, fspeq 1st· b aqh¹r kºcor, di± p²mtym 1qwºlemor.

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Natur, so die Argumentation, Teil der Allnatur ist, muß das Endziel das der Natur gemäße und das heißt: das der eigenen Natur wie der Natur des Alls gemäße Leben sein.13 Die stoische Telosformel „naturgemäß leben“ ist eine explizierende Version der ursprünglichen Telosformel „übereinstimmend leben“, die im Griechischen ihre Aussagekraft dadurch erhält, daß sie in dem prägnanten Gebrauch des Wortes „übereinstimmend“ als zentrales Element den Logos enthält: blo-kocou-l´myr. Dem Logos gemäß leben heißt demnach insofern ,naturgemäß leben‘, als der Logos als das der Natur zugrundeliegende und in ihr zu erkennende Gesetz aufgefaßt wird: als Nomos. Diese physikalische und kosmologische Verankerung der stoischen Philosophie ergibt ihre prinzipiell monistische Weltanschauung und macht ihre fundamentale Stärke aus. Zugleich aber resultieren daraus die Probleme ihrer Ethik, also gerade desjenigen Bereichs, der im Zentrum ihres anthropologischen Interesses steht und auch für die Wirkungsgeschichte maßgebend blieb: Wie kann es noch ethische Ziele und Aufgaben geben, wenn doch immer schon alles durch den naturgesetzlich wirkenden Logos determiniert ist und demnach der freie Wille als Grundlage ethischen Handelns in Zweifel gezogen werden muß? Und kann die Telosformel „naturgemäß leben“ als ethisches Postulat, ja überhaupt als Postulat gelten, wenn das Naturgesetz ohnehin schon alles bestimmt? Die Stoiker selbst provozieren geradezu diese Problemdiskussion, indem sie das Naturgesetz als Schicksal (eRlaql´mg) inthronisieren. Die Lösungen oder mindestens Vermittlungen, welche die stoische Philosophie entwirft, gehen von einer gradualistischen Durchstrukturierung ihres Logos-Denkens aus: Zwar bestimmt der Logos grundsätzlich alles, aber in unterschiedlicher Intensität. Allein der Mensch vermag ihn zu erkennen und sein Leben und sein Verhalten entsprechend auszurichten, weil der universelle Logos in ihm seine höchste Intensität als individuelle Ratio gewinnt. Als „recta ratio“ wird sie zum Kompaß für sein Handeln. Schon hier kommt das Bewußtsein (sume¸dgsir) ins Spiel, auch das Selbstbewußtsein. Den Idealfall einer vollkommenen Repräsentation, Erkenntnis und Verwirklichung des Logos im Leben 13 Diogenes Laërtios VII 87 (= SVF III, Nr. 4): p²kim d’ Usom 1st· t¹ jat’ !qetµm f/m t` jat’ 1lpeiq¸am t_m v¼sei sulbaimºmtym f/m, ¦r vgsi Wq¼sippor 1m t` pq¾t\ peq· Tek_m. l´qg c²q eQsim aR Bl´teqai v¼seir t/r toO fkou. diºpeq t´kor c¸metai t¹ !joko¼hyr t0 v¼sei f/m. fpeq 1st· jat² te tµm artoO ja· jat± tµm t_m fkym.

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verkörpert der Typus des „Weisen“. Der reale Normalfall ist derjenige, der zu solcher Vollendung noch unterwegs ist: der pqojºptym (procedens). Er bedarf der Selbstformierung durch Übung (Askesis, exercitatio14) und Lernen (Mathesis, institutio) sowie der Formierung durch andere mittels Ermahnung (admonitio) 15 und Erziehung. Daher das ausgeprägt pädagogische Engagement der Stoa, ihr Interesse auch an einer psychologisch organisierten Methode der Seelenleitung. Trotz mancher suggestiv-rhetorischer Strategien, die auch dem hohen Rang der Rhetorik im antiken Bildungswesen geschuldet sind, bleibt die Orientierung auf den Logos und die entsprechende Bevorzugung der Ratio maßgebend. Aufgrund solcher Vorgaben entfaltet die stoische Ethik ihre wesentlichen Positionen. Markant heben sich einige Hauptthemen ab. Erstens die Lehre von den Affekten, den ,Leidenschaften‘. Weil sie die recta ratio irritieren, sollen sie, obwohl sie doch auch naturgegeben sind, möglichst ausgeschaltet werden. Darin unterscheiden sich die Stoiker strenger Observanz von den Peripatetikern, welche die Affekte grundsätzlich als naturhaft anerkennen und lediglich mäßigen wollen, so daß sie statt der stoischen ,Apatheia‘ eine ,Metriopatheia‘ anstreben. Den Unterschied zu den Peripatetikern markiert Seneca, Epist. 116, 1: „Utrum satius sit modicos habere adfectus an nullos, saepe quaesitum est: nostri illos expellunt, Peripatetici temperant“ – „Ob es besser ist, gemäßigte Affekte oder gar keine zu haben, ist oft gefragt worden: Die unseren [d.h.: wir Stoiker] beseitigen sie, die Peripatetiker mäßigen 14 Epiktets Lehrgespräche widmen diesem Thema ein eigenes Kapitel (3, 12). 15 Eine klassische Stelle bietet Seneca in seinen Epistulae morales ad Lucilium (künftig: Epist.) 94, 45 – 46: „In duas partes virtus dividitur, in contemplationem veri et actionem: contemplationem institutio tradit, actionem admonitio. Virtutem et exercet et ostendit recta actio: acturo autem si prodest qui suadet, et qui monet proderit. Ergo si recta actio virtuti necessaria est, rectas autem actiones admonitio demonstrat, et admonitio necessaria est. Duae res plurimum roboris animo dant, fides veri et fiducia:utramque admonitio facit.“ – „In zwei Teile gliedert sich die Virtus auf: in die Betrachtung des Wahren und in das Handeln: die Unterweisung vermittelt die Betrachtung, die Ermahnung das Handeln. Das rechte Handeln übt die Virtus ein und zugleich macht es sie offenbar: wenn aber einer jemandem, der handeln will, mit einem Rat nützt, wird ihm auch derjenige nützen, der ihn ermahnt. Wenn also das rechte Handeln für die Virtus notwendig ist, rechte Handlungen aber die Ermahnung zeigt, ist auch Ermahnung notwendig. Zwei Dinge verleihen der Seele am meisten Kraft: das Vertrauen auf das Wahre und das Selbstvertrauen; Ermahnung bewirkt beides“.

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sie“. In einer eigenen Schrift ber die Affekte (peq· pah_m) statuierte Zenon vier Hauptgattungen: den Schmerz, die Furcht, die Begierde und die Lust. Die stoische Ethik entwirft ganze Kataloge von Affekten, die sie klassifizierend-systematisch gliedert. Ebenso verfuhren die Stoiker mit dem zweiten großen Bereich: mit dem der Tugenden, deren entschiedene Wahrnehmung dazu helfen sollte, eine feste Wertorientierung zu gewinnen und ein insgesamt tugendhaftes Leben zu führen, wozu als wesentliche Voraussetzung die Freiheit von Affekten gehört. Ein drittes Hauptthema ist die Pflicht. Der Begriff der Pflicht, des jah/jom, von den Römern nach der programmatischen Vorgabe Ciceros in den Terminus ,officium‘ übertragen, wurde ebenfalls schon von Zenon als ein Grundanliegen der stoischen Ethik formuliert.16 Die Pflicht bezieht sich auf naturgemäßes Verhalten und Handeln gegenüber anderen Menschen: gegenüber Eltern, Geschwistern, Kindern wie auch gegenüber der naturgegebenen menschlichen Gemeinschaft, dem „Vaterland“, das die Stoiker aber keineswegs restriktiv definieren. Sie verstehen sich vielmehr schon deshalb als Kosmopoliten, weil der Logos die ganze Welt durchwaltet und zu einem großen Zusammenhang macht. Wie für die Definition von Affekten und Tugenden gibt es auch im Hinblick auf die Pflichten den doppelten Parameter der Naturgemäßheit und der ihr entsprechenden Vernunftgemäßheit: Aufgrund der Lehre vom alles durchdringenden Logos interpretieren ja die Stoiker die Natur als letztlich vernünftige, weil naturgesetzlich organisierte Weltordnung. Die gleiche vorgängige und dann konsequent entfaltete Übereinstimmung von Natur und Vernunft zeigt sich in einem der interessantesten Theoreme der stoischen Ethik: in der Lehre von der Oikeiosis. Wirkungsgeschichtlich war sie weniger folgenreich als die oft ins platt Moralische übersetzte Lehre von den Affekten, den Tugenden und Pflichten. Doch kommt ihr eine tiefreichende Begründungsfunktion zu, ähnlich wie der Logoslehre, nur unter einem anderen Aspekt. Zielt die Logoslehre auf den naturgesetzlich garantierten OrdnungsCharakter des Daseins, so erfaßt die Vorstellung der Oikeiosis dessen dynamische Entfaltung im Lebensprozeß. Das Wortverständnis geht auf Oikos, Haus, und auf das davon abgeleitete Verbum oQjeioOm zurück: „zum Hause gehörig machen“, in übertragener Bedeutung: vertraut, zum Freunde machen. Die Form oQjeioOshai dieses Wortes hat die für den Begriff der Oikeiosis wichtigste Bedeutung: „sich aneignen“. Der 16 Diogenes Laërtios VII 108.

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Vorstellung der Oikeiosis liegt die von den Stoikern ausdrücklich formulierte Erkenntnis zugrunde, daß jedes lebende Wesen von Natur aus den Trieb zur Selbsterhaltung hat. Zuallererst richtet er sich auf die kreatürliche, instinktgesteuerte Selbsterhaltung, dann auf die Selbstwahrnehmung und schließlich, beim Menschen, auf erkennende und bewußte Selbstaneignung. Sie führt zur Selbstbefreundung, zu einem stufenweise sich aufbauenden Selbstbewußtsein und damit zur Identitätskonstitution. In besonderer Weise eignete sich die Oikeiosislehre – deutlich zeigt sich dies vor allem bei Seneca – zur Selbstbefestigung, auf welche die Stoa von Anfang an angesichts wechselhafter äußerer Umstände ihre Ethik ausrichtete. Psychologisch unterstützte die Lehre von der Oikeiosis auch das Streben nach Selbstbefriedung bis hin zur „tranquillitas animi“. Dennoch überschreitet die Oikeiosis das eigene Ich, da sie als ein der Selbsterhaltung und Selbstkonstitution dienendes Vertrautwerden des Individuums mit sich selbst auch mit dem Heimisch-Werden in der Umwelt zusammenhängt. Deren angemessene Wahrnehmung und Einbeziehung – die moderne Soziologie setzt gewissermaßen vom anderen Ende her mit dem Sozialisationsprozeß an – trägt schon zur elementaren Selbsterhaltung bei, und dies sowohl instinktiv und emotional wie rational. Die Stoa konzipiert die Oikeiosis als einen natürlichen, zuerst vom Selbsterhaltungstrieb instinktiv gesteuerten und dann immer mehr auch vernunftbestimmten Entwicklungsprozeß, der in gleichsam konzentrischen Kreisen, ausgehend von der Aneignung des Ichs, zur Weltaneignung führt. Analog zum aristotelischen Konnex von positiv verstandener Selbstliebe, vikaut¸a, und Freundschaft, vik¸a, zeichnet sich hier auch der tiefere Zusammenhang der „Selbstbefreundung“ mit der in der Stoa so auffällig hochgehaltenen „Freundschaft“ ab. Prinzipiell liegt er schon darin begründet, daß jedes einzelne Wesen als Teil der Allnatur mit dieser und den anderen Teilen verbunden ist, wie die Stoiker immer wieder betonen.17 Aus solchem Grundverhältnis entwickelt sich aber auch die Spannung zwischen befriedender Selbstbefreundung (oQje¸ysir, conciliatio), die notwendig eine gewisse Abgrenzung von Anderem voraussetzt, und Entgrenzungstendenzen, die bis zur Selbstentfremdung ( !kkotq¸ysir, alienatio) und sogar bis zum Selbstverlust führen können. Diese Spannung hat 17 Senecas klassische Formulierung: „Consortium rerum omnium inter nos facit amicitia[m]“ – „Die Zusammengehörigkeit aller Dinge bewirkt zwischen uns die Freundschaft“ (Epist. 48, 2).

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eine soziale, aber auch eine psychische Valenz und fordert die Vermittlung zwischen zentripetalen und zentrifugalen Kräften. Auch hier erhält die Ratio als steuernde „recta ratio“, soweit diese als vermittlungsfähig gedacht wird, eine wichtige regulative Funktion. So sehr die Ethik der Stoa in einem denkerischen Zusammenhang entstand, der über die Ethik im engeren Sinn hinausreicht, so sehr steht sie auch in historischen Kontexten, die schon in der Antike ihr Profil mitbestimmen. In besonderer Weise gilt dies gerade für die wirkungsgeschichtlich entscheidende Ausprägung des Stoizismus in Rom. Wie zum Aufschwung des Christentums trug zur Konjunktur der Stoa im römischen Reich und damit im lateinischen Schrifttum, das für die weitere Wirkungsgeschichte maßgeblich war, der Rückstoß einer sich immer mehr veräußerlichenden, ja verrohenden Massenzivilisation bei. Zu ihren Hauptunterhaltungen gehörten blutige Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen. Auch der Abscheu vor einer in exzessivem Wohlleben ausartenden Luxusgesellschaft trug zu diesem Rückstoß bei, schließlich der Hedonismus einer schamlos ihre Privilegien zelebrierenden Oberschicht, zu dem die oft entwürdigende Behandlung der Sklaven einen grellen Kontrast bildete. Eine farbige Vorstellung davon gibt, wenn auch in satirischer Übertreibung, der um 60 n. Chr., also zur Zeit Senecas entstandene Sittenroman des Petronius (Satyrica). In dessen Zentrum steht die Darstellung eines von dem neureichen Trimalchio veranstalteten Gelages (cena Trimalchionis). Mindestens ebenso stark waren die Rückwirkungen der chaotischen Verhältnisse in der späten römischen Republik des 1. Jahrhunderts v. Chr., als mörderische Bürgerkriege das Leben der Menschen erschütterten, und ein Jahrhundert später, in der Zeit Neros, als die Greuel hemmungsloser Willkürherrschaft viele nach Zuflucht und Halt in einem festen Ethos mit stabilen inneren Werten und hoher Abhärtungsqualität suchen ließen. Wie sehr gerade solche schlimmen Zeitumstände auch literarische Gegenreaktionen hervorriefen, bezeugen mehrere stoisch ausgerichtete Schriften Ciceros, wirkungsreich vor allem De officiis (ber die Pflichten) und die Tusculanae disputationes (Gesprche in Tusculum), dann nahezu alle Werke Senecas und die Lehrvorträge Epiktets. Der stoische Schutz-Reflex, insbesondere das Streben nach Ataraxie und Autarkie, zeigte sich erneut eineinhalb Jahrtausende später in der größten neuzeitlichen Manifestation des Stoizismus. Die sich über mehrere Menschenalter hinweg ziehenden Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die sich im Gefolge der Reformation über weite Teile Europas ausbreiteten und schließlich in den Dreißigjährigen

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Krieg mündeten, begünstigten das Wiederaufleben des Stoizismus. Zuerst in Frankreich und in den Niederlanden entstanden große Programmschriften, die schon im Titel den Wert stoischer Ethik „angesichts öffentlicher Übel“ („in publicis malis“) priesen. Hier ist vor allem Lipsius zu nennen, die Zentralfigur des Neustoizismus. Mit zahlreichen Auflagen und durch Übersetzungen in alle europäischen Sprachen18 gewannen seine Werke vom Ende des 16. Jahrhunderts ab und noch bis ins 18. Jahrhundert hinein überragende Bedeutung nicht nur für Literatur und Philosophie, sondern auch in Politik, Rechts- und Militärwesen. Die Universität Leiden, an der Lipsius wirkte, war gegen Ende des 16. Jahrhunderts zur führenden europäischen Universität in den ohnehin als moderner Musterstaat geltenden Niederlanden aufgestiegen. Aus allen Ländern zog sie Studenten an, und ihre Hauptattraktion war Lipsius. Von hier ging die sogenannte „Niederländische Bewegung“ aus, die das kulturelle und politische Leben tiefgreifend formieren sollte, am meisten in Brandenburg-Preußen. Das in der stoischen Naturrechtslehre verankerte moderne Völkerrecht fand durch den Niederländer Hugo Grotius seine europäische Schlüsselfigur (der Internationale Gerichtshof im Haag erinnert noch heute daran). Fast alle großen Schriftsteller, zahlreiche Gelehrte, Juristen und angehende Staatsmänner, so der spätere Große Kurfürst, studierten in Leiden und übertrugen das stoische Ethos samt seinem Wertekanon und Reformpotential in ihre Heimatländer.

Überlieferung, Eigenart und spätere Funktionen der antiken Quellen Die Wirkungsgeschichte der Stoa, so sehr sie von den jeweiligen zeitgenössischen Verhältnissen mitbestimmt ist, hängt eng auch mit ihrer Überlieferungsgeschichte19 zusammen. Kein einziges Werk der grie18 Vgl. Ferdinand van der Haeghen: Bibliographie Lipsienne. Oeuvres de Juste Lipse. 3 Bde, Gent 1886 – 1888. 19 Vgl. hierzu den knappen Überblick bei Pohlenz (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 9 – 12, zur Überlieferung der ,alten‘ Stoa. Zur Überlieferung der für die europäische Wirkungsgeschichte insgesamt viel wichtigeren Autoren Cicero, Seneca, Epiktet und Marc Aurel ist zwischen der nur sehr lückenhaften oder fragmentierten Überlieferung bis zum Ausgang des Mittelalters und der seit dem Humanismus neu geschaffenen Grundlage zu unterscheiden. Zahlreiche ErstEditionen stellten nun die Texte zur Verfügung und der neu erfundene Buchdruck verbreitete sie.

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chischen Stoiker ist vollständig erhalten, sieht man von den 39 Versen des Zeus-Hymnos des Kleanthes einmal ab.20 Sonst blieben von den drei Gründern der „alten“ Stoa, Zenon, Kleanthes und Chrysipp, dem mit Abstand bedeutendsten Denker, nur Fragmente in späteren Referaten und Zitaten sowie katalogartige Aufzählungen mit den Titeln der von ihnen verfaßten Werke.21 Auch von den beiden Hauptvertretern der „mittleren“, weniger strengen Stoa, von Panaitios (etwa 185 – 98 v. Chr.) und Poseidonios (etwa 135 – 51 v. Chr.), wissen wir nur durch spätere Zeugnisse.22 Alle sind zerstreut in Schriften von Anhängern oder Gegnern der Stoa, in kompilatorischen Werken, die ausdrücklich die Stoiker vorstellen, namentlich nennen und zitieren, aber auch in Schriften von Autoren, die nicht genau unterscheiden, sondern Verschiedenes zusammenbringen, um daraus entweder ihre eigene stoizistische Position zu synthetisieren oder einen gemeinsamen Nenner für Zustimmung oder Ablehnung zu finden. Manches wurde auch mißverständlich aus dem Zusammenhang gerissen oder tendenziös überformt. Alle modernen Fragment-Sammlungen gleichen deshalb einem Puzzle und sind mit Unsicherheiten behaftet. Von herausragender Bedeutung für die spätere Wirkungsgeschichte sind zwei römische Autoren: Cicero,23 der trotz seiner akademisch-skeptischen Grundhaltung vornehmlich in seinen letzten Werken die Stoa intensiv zur Geltung bringt, und Seneca, dessen gesamtes Oeuvre stoisch geprägt ist. Beide Autoren gehören zur dominierenden lateinischen Tradition in Europa, beide sind seit der Antike und besonders seit dem Humanismus fest im 20 Überliefert durch Stobaios, Ecl. I 1, 12. Abdruck in SVF I, Nr. 537. 21 Letztere bei Diogenes Laërtios VII 174 (Kleanthes), VII 189 (ein Teilverzeichnis der immensen Schriftenfülle des Chrysipp). Vgl. SVF I, Nr. 481 und SVF II, Nr. 13. 22 Gesammelt von Modestus van Straaten: Panaetii Rhodii fragmenta. 3. Auflage Leiden 1962, und Ludwig Edelstein and Ian G. Kidd: Posidonius. Bd. 1: The fragments. Cambridge, 2. Auflage 1989. Modestus van Straaten: Pantius, sa vie, ses crits, et sa doctrine. Amsterdam 1946. Grundlegend: August Schmekel: Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem geschichtlichen Zusammenhange dargestellt. Berlin 1892. Vgl. Max Pohlenz (wie Anm. 1), S. 191 – 247. John M. Rist (wie Anm. 1), S. 173 – 218. Robert Philippson: Panaetiana, in: Rheinisches Museum 78, 1929, S. 337 – 360. Ders.: Das Sittlich-Schçne bei Panaitios, in: Philologus 85, 1930, S. 357 – 413. 23 Grundlegend immer noch: Rudolf Hirzel: Untersuchungen zu Ciceros philosophischen Schriften, 3 Bde, Leipzig 1877 – 1883. Zur Wirkungsgeschichte Ciceros: Thaddäus Zielinski: Cicero im Wandel der Jahrhunderte. Leipzig 1897. 5. Auflage 1967.

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Bildungssystem verankert, die Schriften beider blieben zu einem großen Teil erhalten. Vollständige Werke griechisch schreibender Stoiker sind vor allem aus der Spätphase der Stoa in der römischen Kaiserzeit auf uns gekommen: von Epiktet, dessen nur mündlichen Vortrag einer seiner Schüler, der Geschichtsschreiber Arrian, aufgezeichnet und schriftlich überliefert hat, und von Kaiser Marc Aurel. Mehr als in ihrer griechischen Form wirkten sie in lateinischen und später dann in modernen muttersprachlichen Übersetzungen. Schon antike Kompilatoren und Doxographen,24 so der im Original verlorene, aber Jahrhunderte später in das Florilegium des Stobaios25 eingegangene Areios Didymos und Diogenes Laërtios,26 hatten einen 24 Zu den Doxographien grundlegend: Hermann Diels: Doxographi graeci. Berlin 1879. 25 Johannes Stobaios (5. Jahrhundert n. Chr.): Ekloga – eine griechisch verfaßte, umfangreiche Anthologie aus den Werken von etwa 500 griechischen Dichtern und Prosaautoren. Zum Überlieferungsverhältnis Areios Didymos (1. Jh. v. Chr./1. Jh. n. Chr.) – Stobaios vgl. S. 20. 26 Im siebten Buch seines Werks Vikosºvym b¸ym ja· docl²tym sumacyc¶ (,Sammlung der Lebensläufe und Meinungen der Philosophen‘) behandelt Diogenes Laërtios die stoischen Philosophen. Zur Vorgeschichte und zur Verwandtschaft mit den Kynikern ist auch das 6. Buch heranzuziehen. Die verschiedenen Philosophenschulen folgen aufeinander, nach ,Büchern‘ geordnet, innerhalb der ,Bücher‘ werden die einzelnen Philosophen mit – oftmals anekdotischen – Nachrichten zu ihrem Leben und mit Referaten und Zitaten aus ihren Lehren dargestellt. Das Material stammt vor allem aus Handbüchern der hellenistischen Zeit. Das gilt auch für die zahlreichen Zitate, die in der Regel aus dritter oder vierter Hand übernommen, aber von kaum zu überschätzendem Wert sind. Ausgaben: Diogenes Laertius: Lives of eminent philosophers, ed. R. D. Hicks, 2 Bde London/Cambridge, Mass. 1925, 7. Auflage 1972. Vitae philosophorum, ed. H. S. Long, 2 Bde Oxford 1964. London/ Cambridge, Mass. 1925 (griech.–engl.). Diogenis Laertii Vitae philosophorum, ed. Miroslav Markovich. 2 Bde Stuttgart/Leipzig 1998. Griechisch-Deutsch: Rainer Nickel. Zürich/München 1998. Deutsch: Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berhmter Philosophen. Aus dem Griechischen übersetzt von Otto Apelt (Philosophische Bibliothek Band 53/54). Hamburg 1998. Für die Wirkungsgeschichte wichtig ist der Traditionsprozeß. Am Anfang steht die einflußreiche lateinische Übersetzung des Ambrosius Traversari (vor 1433). In z. T. überarbeiteter Form ist sie den ersten Ausgaben beigefügt: Ioannes Sambucus: Laertii Diogenis de vita et moribus philosophorum libri decem opera Ioannes Sambuci Tirnaviensis Pannonii. Antwerpen 1566. – Marcus Meibomius: Diogenis Laertii De vitis, dogmatibus et apophtegmatibus clarorum philosophorum libri X, graece et latine, cum subiunctis integris annotationibus Is. Casauboni, Th. Aldobrandini et Mer. Casauboni. Latinam Ambrosii versionem complevit et emendavit Marcus Meibomius. Seorsum excusas Aeg. Menagii in Diogenem observationes auctiores habet vol II.

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philosophiegeschichtlichen Überblick mit zahlreichen Zitaten und Referaten geboten. Die Darstellung des Diogenes Laërtios zeichnet sich nicht nur durch die Fülle der Belege zu den wichtigsten griechischen Stoikern aus, sondern auch dadurch, daß er in dem umfangreichen Anfangskapitel über den Begründer der Stoa, über Zenon, die Grundgedanken der stoischen Schule insgesamt versammelt und in eine Ordnung zu bringen versucht, welche die charakteristischen Züge hervortreten läßt. Erst die moderne wissenschaftliche Forschung sammelte systematisch die Zeugnisse vor allem der „alten“ griechischen Stoa und rekonstruierte damit – bruchstückhaft – das Fundament. Zu nennen ist hier an erster Stelle das immer noch grundlegende Werk von Hans von Arnim: Stoicorum Veterum Fragmenta. 27 Eine übergreifende Darstellung der Rezeption liegt in einem französischen Werk vor, das mit überwiegend doxographischem Interesse eine wertvolle Materialsammlung zur Kontinuität stoischer Vorstellungen bis in die Moderne bietet.28 In der griechischen und römischen Antike und auch noch bis weit in den Humanismus hinein dominierte ein lehrhaftes stoisches Schrifttum: Traktate, dialogisch aufgebaute fiktionale Gespräche und ebenso fiktional konzipierte Selbstgespräche. Charakteristisch für die Haltung der griechischen Stoiker ist ihr Verzicht auf formalen Aufwand. Quintilian, die größte rhetorische Autorität von der Antike bis in die Neuzeit, urteilt in seiner Institutio oratoria (Ausbildung des Redners, 96 n. Chr.), nachdem er den glanzvollen Stil früherer Philosophen, insbesondere Platons gewürdigt hat: „Weniger Mühe auf die Kunst ihrer Beredsamkeit verwendet haben die Stoiker der alten Zeit“ – ihre Morallehren seien wirksamer gewesen als die Pracht ihrer Rede, nach Ut et eiusdem Syntagma de mulieribus philosophis et Joachim Khnii ad Diogenem notas … Amsterdam 1692. Die moderne Paragrapheneinteilung folgt dieser Ausgabe. 27 Vgl. Anm. 1. 28 Michel Spanneut: Permanence du Stocisme de Znon Malraux. Gembloux 1973. Vgl. auch vom selben Autor das für die Traditionsbildung wichtige Werk: Le Stocisme des P res de l’ glise de Clment de Rome Clment d’Alexandrie (Patristica Sorbonensia, N8 1), nouvelle édition revue et augmentée, Paris 1969. Eine in manchem bahnbrechende Überblicksdarstellung zum Neustoizismus mit Traditionsbezügen zur antik-frühchristlichen und mittelalterlichen Stoa-Rezeption sowie großen Kapiteln zu Justus Lipsius und Guillaume du Vair gab schon Léontine Zanta: La Renaissance du Stocisme au XVIe si cle. Paris 1914, Reprint Genf 1975 (Bibliothèque littéraire de la Renaissance NS 5). Vgl. auch André Bridoux: Le stocisme et son influence. Paris 1966.

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der sie auch gar nicht gestrebt hätten.29 Indem Quintilian von den „alten Stoikern“ spricht, meint er die griechische Stoa, nicht die römische. Ciceros stoische Spätschriften und dann Senecas Werke sind entschieden rhetorisch formiert, und auch dies hat zu ihrer besonderen Wirkung beigetragen, denn die Rhetorik spielte im antiken wie im neuzeitlichhumanistischen Bildungswesen eine zentrale Rolle. In der Dichtung finden sich nur sporadische Reflexe der Stoa, etwa bei Vergil und in Senecas Dramen, in der Neuzeit dann in größerem Maße bei den Schriftstellern der elisabethanischen Epoche, nicht zuletzt bei Shakespeare; erst seit 1600 beginnt der Stoizismus die lyrische und dramatische Dichtung, schließlich auch die erzählende Literatur zu erobern, besonders in Deutschland. Die poetische Anverwandlung reicht von Opitz, Fleming und Gryphius bis zu Wieland, Goethe, Schiller, Hölderlin und Kleist. Im zwanzigsten Jahrhundert greifen Schriftsteller vieler Nationen und sogar Filmemacher stoische Denkmuster zustimmend oder kritisch auf.30 Immer mischt sich Rezeption im engeren Sinn mit zeitgemäßer Aktualisierung und Umbildung. Kritisch setzen sich schon manche antike Schriften mit der Stoa auseinander: in speziell philosophischen Argumentationen Karneades, der radikal skeptische Begründer der Neuen Akademie (214 – 129 v. Chr.),31 und der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias mit seinem scharfsinnigen Traktat über das Fatum (2./3. Jahrhundert n. Chr.) 32 und 29 Institutio oratoria X 1, 84: „minus indulsere eloquentiae Stoici veteres, sed cum honesta suaserunt […] rebus tamen acuti magis quam, id quod sane non adfectaverunt, oratione magnifici“. 30 Hierzu die beiden abschließenden Beiträge von Frank Pauly im vorliegenden Werk. 31 Vgl. die gute Überblicksdarstellung in Ueberwegs Grundriss (wie Anm. 1), S. 849 – 897. Pieri S. Nonvel: Carneade. Padova 1978. Anthony Arthur Long: Carneades and the Stoic Telos, in: Phronesis 12, 1967, S. 59 – 90. Intensiv und aufschlußreich geht schon August Schmekel auf die Kritik des Karneades, insbesondere auf ihre Bedeutung für die Weiterentwicklung der Stoa in seinem Standardwerk ein: Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem Zusammenhange dargestellt. Berlin 1892, 3. Auflage (Reprint) Hildesheim 1989. 32 Vgl. Gérard Verbeke: Stocisme et Aristotlisme dans le De Fato d’Alexandre d’Aphrodise, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 50, 1968, S. 78 – 100. Paul Moraux: Der Aristotelismus bei den Griechen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias. 1. Bd. Berlin 1973. 2. Bd. Berlin 1984. Anthony Arthur Long: Stoic Determinism and Alexander of Aphrodisias, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 52, 1970, S. 247 – 268. Robert Sharples: Alexander of Aphrodisias On Fate. London 1983. Andreas Zierl: Alexander von Aphrodisias, ber das Schicksal. Berlin 1995.

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anderen Schriften, die wir nur aus der Schultradition kennen; aus eher weltanschaulichen Motiven Platoniker wie der seit dem Humanismus vielgelesene Plutarch sowie frühchristliche Schriftsteller. Diese Auseinandersetzungen reichen manchmal bis zu entschiedener Abgrenzung. Das gilt auch, wenngleich aus ganz unterschiedlichen Gründen für die Neuzeit, so für Pascal und Nietzsche, während andere, etwa Kant und Schopenhauer, zwar bestimmte stoische Grundpositionen ablehnten, darunter die These, daß Tugend (virtus) und Glück einen festen Zusammenhang bilden, sonst aber dem stoischen Ethos in Vielem zustimmten. Im neuzeitlichen Säkularisierungsprozeß und in der fortschreitenden Aufklärung fungierte ein revitalisierter Stoizismus als Medium der allmählichen Ablösung vom christlichen Welt- und Menschenbild: Das stoische Autarkie- und Autonomie-Konzept, das im idealen Leitbild des stoischen „Weisen“ seine scharf umrissene Kontur erhielt, konvergierte mit der sich verstärkenden Tendenz zum autonomen Denken und zur Statuierung einer autonomen, in einer eigenen „Humanität“ zentrierten Menschenwürde. Schon der Humanismus baute das im Christentum wesentlich heteronome Verständnis des Menschen ein Stück weit ab, indem er die geistig-kulturelle Selbstformung betonte. Hinzukam der Schönheitskult der Renaissance, der oft die in sich vollendete und erfüllte Diesseitigkeit vor Augen stellte. Von großer Tragweite war es auch, daß der seit seinen griechischen Ursprüngen zum Fundament der stoischen Philosophie gehörende monistische Pantheismus immer mehr das christlich-dualistische Weltverständnis ersetzte. Vom entschieden stoisch geprägten Pantheismus in Spinozas rational organisierter Ethik ausgehend und befördert vom empfindsam aufgeladenen Spinozismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, erreichte dieser Vorgang eine aufsehenerregende Aktualität im Spinozismus-Streit des 18. Jahrhunderts, in den auch Lessing und Goethe verwickelt waren. Seine höchste Intensität gewann er in einem prominenten literarischen Werk: in Hölderlins Hyperion. Der Säkularisierungsprozeß ist hier selbst schon geschichtlich reflektiert und paradigmatisch im Erfahrungsgang und Bewußtseinsfortschritt der Hauptfigur gestaltet. Geradezu programmatisch löst Hölderlin das christlich-dualistische Weltbild durch ein pantheistisch-monistisches ab. In zeitgenössischer Anverwandlung wählt er dafür das Medium stoischer Denkmuster. Den Beitrag des Stoizismus zum neuzeitlichen Säkularisierungsprozeß begleiteten Auseinandersetzungen vor allem zwischen christlicher Orthodoxie und stoischer Philosophie, soweit sie nicht in chris-

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tianisierter Form auftrat, doch wirkten auch die Frontbildungen zwischen verschiedenen philosophischen Schulen fort, die in der Antike begonnen hatten. Sie schärften gegenseitig ihr Profil. In der Antike bereits war ihre Konkurrenz nicht nur abstrakt von den zugrundeliegenden divergierenden Konzepten, sondern auch durch ihre Ausprägung und Verfestigung in unterschiedlichen „Schulen“ bestimmt,33 die einen entsprechenden Schulbetrieb als Hintergrund hatten. Wie die anderen Philosophenschulen war das stoische Lehrsystem durch eigene Lehrstühle in Athen institutionalisiert; in der Kaiserzeit gehörte es zur gehobenen Ausbildung, so daß stoische Vorstellungen und Begriffe bis in Lehrbücher hinein Verbreitung fanden. Es kam sogar zur Gründung von Filialen der stoischen Schule, so in Rhodos, in Pergamon (durch Krates aus Mallos) und in Seleukeia am Tigris (durch Archedemos). Besonders wichtige Zentren waren Rom und Alexandreia – nach Athen, das die ,Hauptstadt‘ der Philosophie blieb und Lehrende und Lernende aus dem ganzen Mittelmeerraum anzog. Die Schriften des berühmtesten Redners, Ciceros, hatten die griechische Stoa nach Rom vermittelt,34 obwohl er eher der Skepsis der jüngeren Akademie zuneigte; neben der inhaltlichen Wiedergabe stoischer Lehren legte er besonderen Wert auf eine der griechischen Begrifflichkeit entsprechende lateinische Terminologie.35 Sie wirkte im kaiserzeitlichen Rom, teilweise auch im Mittelalter und dann seit der frühen Neuzeit in entscheidender Weise weiter.

33 Zur stoischen „Schule“ vgl. David Sedley: The School, from Zeno to Arius Didymus, in: The Cambridge Companion to the Stoics, ed. by Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 7 – 32, sowie Christopher Gill: The School in the Roman Imperial Period, in: The Cambridge Companion to the Stoics, ed. by Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 33 – 58. 34 Vgl. Milton Valente: L’thique stocienne chez Cicron. Paris 1956. Vgl. auch Maximilian Schäfer: Ein frhmittelstoisches System der Ethik bei Cicero. München 1934. Hans Armin Gärtner: Cicero und Panaitios. SB der Heidelberger Akad. d. Wiss. Phil.–hist. Kl. 1974, 5. Abh. Heidelberg 1974. Karl Hans Abel: Die kulturelle Mission des Panaitios, in: Antike und Abendland 17, 1971, S. 119 – 143. Vgl. auch das grundlegende Werk von Rudolf Hirzel: Untersuchungen zu Ciceros philosophischen Schriften, 3 Bde, Leipzig 1877 – 1883. 35 Vgl. Georg Kilb: Ethische Grundbegriffe der alten Stoa und ihre bertragung durch Cicero im dritten Buch De Finibus Bonorum et Malorum. Diss. Freiburg i. Br. 1939. Vgl. auch: Ulrich Knoche: Cicero, ein Mittler griechischer Geisteskultur, in: Hermes 87, 1959, S. 57 – 74. Neudruck in: Rçmische Philosophie, hg. von Gregor Maurach, Darmstadt 1976 (Wege der Forschung 193), S. 118 – 141.

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Daß die verschiedenen Philosophenschulen schon in der Antike manchmal geradezu als sich gegenseitig dementierende Sekten wahrgenommen wurden, zeigt die Satire des Spötters Lukian in seinem Verkauf der philosophischen Sekten. 36 Das Spektrum der Möglichkeiten war weit: Es reichte von Versuchen, die philosophischen Schulen gegeneinander auszuspielen, bis zur Strategie, sie durch Auswahl miteinander kompatibler Aussagen zu harmonisieren, von der Absicht, einen Beitrag zur philosophischen Diskussionskultur zu leisten, bis zur historisierenden Darstellung. So verfuhr im Übergang vom ersten Jahrhundert v. Chr. zum ersten Jahrhundert n. Chr. Areios Didymos in seinen 1pitola¸ (Auszgen), die mit dem – schon gattungsmäßig etablierten – Titel peq· aRq´seym (ber die Philosophenschulen) eine präzisere Definition erhielten.37 Sie gingen fragmentarisch in einen der wichtigsten Überlieferungsträger stoischer Zeugnisse ein, in die 1jkoca¸ (Auswahl) des bereits genannten Stobaios (5. Jahrhundert n. Chr.). Auch der ebenfalls für die Wirkungsgeschichte wichtige Kirchenvater Eusebios zitierte in seiner zwischen 315 und 320 entstandenen Praeparatio evangelica (Eqaccekijµ pqopaqasjeu¶) zahlreiche stoische Lehrmeinungen aus dem von Areios Didymos zusammengetragenen Material.38 Dessen Schrift bot Auszüge aus den ethischen und naturphilosophischen Lehren Platons, des Aristoteles und der Stoa. Letztere berücksichtigte sie vom Schulgründer Zenon bis zu Poseidonios. Der größere Teil der Darstellung gilt der Ethik. Zwar markierte Areios bei der Lehre von den Affekten und vom Lebensziel (vom „Telos“) die Besonderheiten der Philosophenschulen, aber er perspektivierte sie doch auf den gemeinsamen Nenner einer mehr oder weniger idealistischen Ethik. Daß er Epikur nicht miteinbezieht, liegt an der Unvereinbarkeit seiner entschieden nicht-idealistischen Lehre mit derjenigen der anderen Schulen. 36 Vgl. Wielands Übersetzung, die erstmals in seiner Übersetzung von Lucians von Samosata Smtlichen Werken erschien (6 Theile, Leipzig 1788/89). Neudruck des Verkaufs der Philosophischen Secten in: Lukian von Samosata, Lgengeschichten und Dialoge. Aus dem Griechischen bersetzt und mit Anmerkungen versehen von Christoph Martin Wieland, Nördlingen 1985, S. 327 – 365. Der griechische Originaltitel lautet: BIYM PQASIS. Vgl. die Edition: Luciani Opera, hg. von M. D. Macleod, Tomus II, Oxford 1974, S. 24 – 50. 37 Unter diesem Titel steht bereits eine Darstellung des Panaitios, der später noch andere folgten. 38 Vgl. Ioannis Stobaei Anthologium recensuerunt Curtius Wachsmuth et Otto Hense. 5 Bde Leipzig 1884 – 1923. Nachdr. Hildesheim 1999. Systematische Berücksichtigung der stoischen Zeugnisse in SVF.

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Für die Wirkungsgeschichte relevant wurde die Überlieferung durch Stobaios auch, weil man im Mittelalter sein Werk in zwei Teile zerlegte und den zweiten als Florilegium gestaltete – durch das ganze Mittelalter und die frühe Neuzeit hindurch waren derartige Florilegien beliebt und sorgten für eine zwar wenig anspruchsvolle, aber umso einfachere Verbreitung insbesondere der stoischen Ethik, in der ohnehin bündige Lehrsprüche seit jeher zur Strategie einprägsamer Vermittlung gehörten. Immer hat man auch mit Zurechtstutzungen durch philosophisch nicht kompetente Dilettanten zu rechnen. Die Florilegien erfüllten die Funktion schlichter Doxographien und dienten zugleich als literarischphilosophische Apotheken für schnell Verwendbares. Wenn eine Sammlung wie die des Stobaios und auch schon die von Diogenes Laërtios (3. Jahrhundert n. Chr.) zusammengestellte, besonders reichhaltige und wertvolle Schrift Leben und Meinungen der Philosophen ganz verschiedene philosophische Richtungen und Schulen vereinigte, bildete sie zudem ein ideales Reservoir für den bereits seit dem Hellenismus florierenden Eklektizismus. Ähnliches gilt für den Epikureer Philodemos von Gadara (ca. 110 bis 40 v. Chr.), dessen zahlreiche Schriften sich auf Herculanenser Papyrusrollen nur fragmentarisch erhalten haben. Der antiken Philosophiegeschichte wandte sich seine Schrift S¼mtanir t_m vikosºvym (Systematische Zusammenstellung der Philosophen) in vermutlich zehn Büchern zu. Philodem verfaßte auch eine eigene Schrift Peq· t_m Stoij_m (ber die Stoiker).39 Schon im 1. Jahrhundert n. Chr. und dann immer mehr während der folgenden Jahrhunderte färbte sich der von solchen Zusammenstellungen beförderte Eklektizismus in der griechisch-römischen Koiné universalistisch ein. Umso leichter konnte der Stoizismus in andere Weltanschauungen diffundieren, vor allem in die neuplatonische und christliche, zumal er nach der Zeitenwende selbst von der immer stärkeren religiösen Grundströmung erfaßt wurde. Er gewann eine fluidale, die verschiedensten Diskurse mitbestimmende Präsenz. Auch wirkte er, besonders mit seinen naturrechtlichen Vorstellungen, stark auf das bis in die Neuzeit folgenreiche römische Recht ein. Bereits Cicero, selbst ein prominenter Anwalt, hatte in seiner Schrift ber die Gesetze (de legibus) 39 Zur Orientierung: Tiziano Dorandi: Filodemo. Gli orientamenti della ricerca attuale, in: ANRW (Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt), hg. von Hildegard Temporini, Wolfgang Haase, Berlin/New York, II 36, 4 (1990) S. 2328 – 2368, sowie ders.: Filodemo storico del pensiero antico, in: ANRW II (1990), S. 2407 – 2423.

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Bestandteile der stoischen Lehre vom Naturgesetz mit dem praktischen Sinn des Römers in die Terminologie des römischen Rechts übertragen und zur ideellen Basis eines konservativen Gesetzgebungsentwurfs gemacht.40 Selbst in der Medizingeschichte hinterließ der Stoizismus deutliche Spuren. Der berühmte Arzt Galenos aus Pergamon (um 130 – 199 n. Chr.), der Leibarzt Marc Aurels und bis in die Neuzeit hinein eine medizinische Autorität allerersten Ranges, hatte unter seinen 153 Werken eine Schrift ber die Lehren des Hippokrates und Platons (peq· t_m gIppojq²tour ja· Pk²tymor docl²tym) verfaßt, in der er auch auf die Affektenlehre der Stoiker Chrysipp und Poseidonios genau eingeht. Aufgrund der zahlreichen Exzerpte aus deren verlorenen Werken ber die Affekte (peq· pah_m) ist diese Schrift eine wichtige Quelle. Darüberhinaus läßt sie erkennen, wie sehr Galen, der besonderen Wert auf die philosophische Bildung des Arztes legte, den engen Zusammenhang der stoischen Lehre von den Affekten mit medizinischen Belangen sah.41 Trotz der weitreichenden Diffusions-, Anpassungs- und Transformationsprozesse aber bestand die Stoa in ihrer eigenen fest konturierten Form fort. Durch die einflußreichen Autoren Cicero, Seneca und Epiktet blieb sie zeitüberdauernd stabilisiert für den europäischen Traditionsprozeß.

Das soziale Spektrum: Marc Aurel – ein Kaiser als Stoiker. Stoische Popularphilosophie Einen Höhepunkt öffentlicher Bestätigung erreichte die Stoa im römischen Reich durch Marc Aurel, den Stoiker auf dem Kaiserthron. Er regierte von 161 – 180, aber schon seit dem Jahr 145 hatte er stoische Vorstellungen intensiv aufgenommen, unter anderem durch einen sei40 Hierzu die durchgreifende Darstellung von Sebastian Kaufmann im vorliegenden Band. 41 Vgl. die Gesamtausgabe durch Karl Gottlob Kühn: Claudii Galeni opera omnia. 20 Bde. Leipzig 1821 – 1833 (griechisch-lateinisch). Nachdruck Hildesheim 1997. Einzelausgabe der Schrift ber die Lehren des Hippokrates und Platons unter dem lateinischen Titel De placitis Hippocratis et Platonis, hg. und übersetzt von Phillip de Lacy, Berlin 1978 – 1980. Corpus medicorum Graecorum (CMG) V 4, 1 – 2, sowie die alte Ausgabe von I. Müller, Leipzig 1874. Die einschlägigen Partien zur stoischen Affektenlehre in: SVF III, Nr. 457 – 481. Vgl. seine Schrift Daß der beste Arzt auch ein Philosoph ist (fti b %qistor Qatq¹r ja· vikºsovor) und seine Hinfhrung zur Heilkunde (pqotqeptij¹r 1p’ Qatqij¶m).

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ner Lehrer, den Stoiker Apollonios von Chalkis. Marc Aurels zwischen 170 und 178 während des Krieges gegen Markomannen und Quaden verfaßte Selbstgesprche (t± eQr 2autºm) 42 gehören allerdings erst sehr viel später zu den bekannten stoischen Werken, denn er schrieb sie in griechischer Sprache als eine persönlich gehaltene, manchmal geradezu privat anmutende und nur stichwortartig fixierte Selbstermahnung und Selbstermutigung. Die Verbreitung setzte erst in der Neuzeit ein, nachdem 1559 die Erstausgabe erschienen war – die bis zu diesem Zeitpunkt faßbare handschriftliche Überlieferung ist sehr schmal. Seit dem 18. Jahrhundert mit seinem Sinn für das Empfindsame, für alles, was subjektiv-erlebnishaft legitimiert war und vorzugsweise in den Formen von Tagebuch und Briefromanen Ausdruck fand, wuchs die Aufmerksamkeit. Seither sind die Selbstgesprche eine beliebte Weltanschauungslektüre, wie die vielen Auflagen bis zur Gegenwart zeigen. Für so unterschiedliche Autoren wie Hölderlin und Turgenjew gewann Marc Aurel maßgebliche Bedeutung. Bei allem ethischen Ernst ging in seine Aufzeichnungen nichts von der moralischen Härte und Rigorosität der altstoischen Tradition ein. Die Selbstgesprche sind auf den Ton einer meditativ verinnerlichten Lebensweisheit gestimmt. Marc Aurels Hauptgedanken verraten die Inspiration durch die mittlere Stoa. Vor allem wirkte Poseidonios auf ihn ein, der zusammen mit seinem Lehrer Panaitios – einem Hauptgewährsmann Ciceros – diese kultiviert gemilderte und zugleich universell verbindende Form der Stoa vertrat.43 Eine kosmologisch begründete All-„Sympathie“44 ersetzt das alte (oft im modernen Sinn dieses Wortes mißverstandene) „Apathie“-Ideal. Ausgehend von der seit den Anfängen der Stoa zentralen Vorstellung der Allnatur, der v¼sir t_m fkym, psychologisiert45 42 Griechisch-Deutsch: Kaiser Marc Aurel: Wege zu sich selbst. Herausgegeben und übertragen von Willy Theiler. Zürich 1951 u. ö. Vgl. die Edition von Arthur S. L. Farquharson, Oxford/New York 1989. 43 Immer noch grundlegend: August Schmekel: Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem geschichtlichen Zusammenhange dargestellt. Berlin 1892. Nachdruck Hildesheim/New York 1974. Zu Panaitios: Modestus van Straaten: Pantius, sa vie, ses crits et sa doctrine. Amsterdam 1946. 44 Vgl. Karl Reinhardt: Poseidonios. München 1921. Ders.: Kosmos und Sympathie. München 1926. Ludwig Edelstein: The Philosophical System of Posidonius, in: American Journal of Philology 57, 1936, S. 286 – 325. Marie Laffranque: Posidonios d’Apame. Paris 1964. Ian G. Kidd: Poseidonios, in: Philosophen der Antike, Bd. II, hg. von Friedo Ricken, Stuttgart 1996, S. 61 – 82. 45 Vgl. Ludwig Stein: Die Psychologie der Stoa. Berlin 1886 (Berliner Studien für classische Philologie und Archaeologie 3, 1). Max Pohlenz: Poseidonios’ Affek-

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Marc Aurel die stoische Kosmologie hin zu einem Kosmosvertrauen, das Lebenshilfe und Trost vor allem angesichts von Sterben und Tod vermitteln soll. Als Teil des kosmischen Ganzen kehrt der Einzelne, so die beherrschende Vorstellung, ja nur in dieses Ganze der Allnatur zurück. Doch vermag dieses Kosmosvertrauen kaum die melancholische Grunderfahrung der Vergänglichkeit menschlichen Daseins aufzuhellen. Die Selbstgesprche, die auffallend oft Tod und Vergänglichkeit umkreisen, zeugen auch von einer ihrer selbst allmählich müde werdenden, von Untergangsahnungen umschatteten Zivilisation. Während seiner ganzen Regierungszeit mußte der Kaiser an fast allen Reichsgrenzen bedrohliche Kriege führen. Nur mit Mühe konnte er das Imperium noch zusammenhalten, in dem auch die Pest wütete. Das Christentum erstarkte so sehr, daß zudem die kultisch-religiöse Identität zu zerbrechen drohte. Das stoische Ethos Marc Aurels geht über in eine resignative und sich dennoch zur aktiven Verantwortung für das Gemeinwesen verpflichtende staatsmännische Haltung. Sie ist, dem stoischen Erbe entsprechend und dem Herrscher eines Weltreichs angemessen, kosmopolitisch.46 Friedrich der Große, der sich selbst als „philosophe stoïcien“ bezeichnete, berief sich mit Vorliebe auf sein Vorbild Marc Aurel, besonders in der Zeit des Siebenjährigen Krieges, als er mehr als einmal am Rand der Katastrophe stand. Auf einem ganz anderen Niveau bewegte sich in der griechischrömischen Zivilisation der Stoizismus als Popularphilosophie. Gerne berief man sich auf Sokrates als legitimierendes Vorbild.47 Bis ins dritte Jahrhundert hinein verkündeten die Popularphilosophen, die oft als arme, ihre Aussteiger-Existenz zur Schau stellende Wanderprediger auftraten, eine rigorose kynisch-stoische Moralbotschaft. Innere Freiheit, Seelenruhe und Seelenstärke, „Tugend“ und, besonders wenn das kynische Element der Stoa durchschlug, Bedürfnislosigkeit, ja welttenlehre und Psychologie, in: Nachr. d. Ges. d. Wiss. Phil.–hist. Kl. Göttingen 1922, S. 163 – 194. Annelise Modrze: Zur Ethik und Psychologie des Poseidonius, in: Philologus 87, 1933, S. 300 – 331. Robert Philippson: Zur Psychologie der Stoa, in: Rheinisches Museum 86, 1937, S. 140 – 179. 46 Hierzu Greg R. Stanton: The cosmopolitan Ideas of Epictetus and Marc Aurelius, in: Phronesis 13, 1968, S. 183 – 195. 47 Vgl. Klaus Döring: Exemplum Socratis: Studien zur Sokratesnachwirkung in der kynisch-stoischen Popularphilosophie der frhen Kaiserzeit und im frhen Christentum. Wiesbaden 1979 (Hermes, Zeitschrift für klassische Philologie, Einzelschriften 42). Anthony A. Long: Socrates in Hellenistic Philosophy, in: Classical Quarterly 38, 1988, S. 150 – 171, sowie in: Anthony A. Long: Stoic Studies, Cambridge 1996, S. 1 – 34.

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verachtende Askese – das waren die von ihnen propagierten Lebensziele. Das berühmte, oft beschworene Muster für eine solche weit über das sokratische Erbe hinausgehende Lebenseinstellung war Diogenes, der durch Anekdoten sinnfällig vergegenwärtigte Kyniker.48 Hier zeigen sich zukunftweisende Affinitäten zu der sich im dritten Jahrhundert anbahnenden und im vierten Jahrhundert um sich greifenden asketischen Bewegung, die das christliche Anachoretentum und schließlich das Mönchtum hervorbrachte.49 Es waren die Jahrhunderte, in denen sich die alte griechische Askesis – das Wort bedeutete bei Platon und Aristoteles schlicht „Übung“ – im Sinne rigoros „asketischer“ Sinnenfeindschaft veränderte.50 Jesus selbst erscheint schon in den Evangelien nicht nur in auffallender Nähe zu dem im Orient verbreiteten Typus des Wundermannes, sondern auch zum Typus des charismatischen Wanderpredigers mit entsprechend radikaler Lebenseinstellung.51 48 Vgl. Diogenes Laërtios VI, 19 – 81. Vgl. Les Cyniques grecs. Fragments et tmoignages par Lonce Paquet. Édition revue, correctée et augmentée. Ottawa 1990. Donald R. Dudley: A history of cynicism. From Diogenes to the 6th century A. D. London 1937. Reprint Hildesheim 1967. Das Kapitel Cynicism and Stoicism bei John M. Rist (wie Anm. 1), S. 54 – 80. Die Kyniker in der modernen Forschung. Aufstze mit Einfhrung und Bibliographie, hg. von Margarethe Billerbeck (Bochumer Studien zur Philosophie 15). Amsterdam 1991. Marie-Odile GouletCazé: Le cynisme l’poque impriale, in: Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt (ANRW), hg. von Hildegard Temporini und Wolfgang Haase, II 36.4, Berlin/ New York 1990, S. 2720 – 2833. Zur Wirkungsgeschichte bis in die Moderne: Le Cynisme ancien et ses prolongements. Actes du colloque international du CNRS (Paris, 22 – 25 juillet 1991), hg. von Marie-Odile Goulet-Cazé/Richard Goulet. Paris 1993. Heinrich Niehues-Pröbsting: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. München 1979. Audrey N. M. Rich: The cynic concept of autarkeia, in: Mnemosyne 9, 1956, S. 23 – 29. Ragnar Hoïstad: Cynic hero and cynic King. Studies in the cynic conception of man. Uppsala 1948. 49 Eine gute Kurzinformation gibt Karl Suso Frank: Grundzge der Geschichte der Alten Kirche, Darmstadt 1984, S. 166 – 183. Vgl. auch Karl Heussi: Der Ursprung des Mçnchtums. Tübingen 1936, sowie die Quellensammlung von Hugo Koch: Quellen zur Geschichte der Askese und des Mçnchtums in der Alten Kirche. Tübingen 1933. Vgl. auch Ernst Bickel: Das asketische Ideal bei Ambrosius, Hieronymus und Augustin. Eine kulturgeschichtliche Studie. Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 37, 1916, S. 437 – 474. 50 Vgl. Eric Robertson Dodds: Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst, Frankfurt 1985 (Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge 1965), S. 39 – 43. 51 Die moderne Theologie hat dafür den Terminus „Wanderradikalismus“ vorgeschlagen und weist auf das „Ethos der Heimatlosigkeit, Familiendistanz, Besitzkritik und Gewaltlosigkeit“ hin (Gerd Theißen: Die Entstehung des Neuen

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Philosophische Schulen und Diskursformationen. Die traditionbildende Konfrontation von Stoa und Epikureismus Das Spektrum der Möglichkeiten im Verhältnis der einzelnen philosophischen Schulen zueinander reicht noch in der Neuzeit von der polemischen Auseinandersetzung, ja Diffamierung über abwägende partielle Kritik und relativierendes Geltenlassen bis hin zu ausgleichenden Synthese-Versuchen, Synkretismen und vereinnahmenden Überformungen. Nicht selten gingen die frühneuzeitlichen Autoren mit der antik-philosophischen Tradition metonymisch um: Wollte man etwa seine Rechtgläubigkeit demonstrieren, so polemisierte man gegen den angeblich sittenlosen Epikur und beschimpfte Andersdenkende, namentlich die konfessionellen Gegner als Epikureer; wollte man sich von der Orthodoxie distanzieren, was bei direktem Vorgehen kirchliche Verfolgungsmaßnahmen und sogar den Tod auf dem Scheiterhaufen nach sich ziehen konnte, so kritisierte man gut maskiert die Rigorosität der stoischen Moral oder disqualifizierte die Stoiker als „Devote“ – jeder wußte dann, was in Wahrheit gemeint war. Im übrigen bestand ein beliebtes gelehrtes Spiel der humanistisch Gebildeten darin, das Für und Wider der verschiedenen philosophischen Schulen gegeneinander abzuwägen, sei es um Partei zu ergreifen, sei es um allseitig skeptische – und zugleich adelnde – Distanz zu wahren, wie dies schon Cicero vorgeführt hatte: Die „disputatio in utramque partem“ war seine skeptisch grundierte Methode. Ihr folgte noch Montaigne, obwohl er Cicero aus Abneigung gegen dessen rhetorisch aufgeladenen Stil „trop de vent“ bescheinigte. Vom Standpunkt der christlichen Lehre aus erschienen die aus der nicht-christlichen antiken Tradition stammenden philosophischen Lehren entweder wie der Epikureismus gar nicht oder wie die Stoa immerhin teilweise akzeptabel. Weil die nichtchristlichen Lehren seit Testaments als literaturgeschichtliches Problem, Heidelberg 2007, S. 49 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 40). Der Evangelist Lukas, ein griechischer Arzt, der mit Stoa und Kynismus vertraut gewesen sein dürfte, betont diese Züge an Jesus: „Der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Lk 9, 58); „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein“ (Lk 14, 26); sogar der Krieg in den Familien ist angesagt (Lk 12, 51 – 53); „das Begräbnis des Vaters soll man den Toten überlassen“ (Lk 9, 60 f.) und am besten „wie die Vögel unter dem Himmel“ leben (Lk 12, 22 ff.).

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der neuen Hochschätzung der antiken Tradition durch Renaissance und Humanismus in ganz neuer Weise herausforderten, gewann die Auseinandersetzung mit ihnen Aktualität. Dies umso mehr, als sich mit ihnen säkulare, nicht auf ein „Jenseits“ gerichtete Grundannahmen verbanden. Zusammen mit gesellschaftlichen Neuerungen bei der Herausbildung des Absolutismus, zusammen auch mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Fortschritt rationaler Methoden depotenzierten diese Grundannahmen allmählich die alte Glaubenswelt. Der Streit der philosophischen Schulen selbst war schon in der Antike vor der Ausbreitung des Christentums entbrannt. Insbesondere trat der Gegensatz von Epikureern und Stoikern hervor.52 Er sollte ein Dauerthema bis in die Neuzeit werden. Die Kirchenväter griffen die kategorialen Einstufungen sowie manche Argumentationsmuster und Urteile der vorchristlichen Antike auf, um sie aus christlicher Optik zu adaptieren oder zu verschärfen. Schließlich gedieh die Opposition von Epikureismus und Stoizismus zu einem stereotypen Vorstellungsmuster bis hin zu Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod – dem einzigen Werk, in dem der Gegensatz, der sonst nur in gelehrten oder religiös motivierten Traktaten abgehandelt wurde, eine literarisch bedeutende Gestaltung fand. Danton, der Protagonist, verkörpert ein sensualistisches Epikureertum, das Büchner auf die zeitgenössische, insbesondere von Heine provokativ verkündete „Emanzipation des Fleisches“ münzte. Sein Gegenspieler Robespierre ist das Schreckbild eines zum Tugend-Terrorismus entstellten Stoizismus, mit dem Büchner zugleich Konsequenzen einer abstrakten und deshalb unmenschlich werdenden Ideologisierung im Visier hatte. Nicht nur aktualisierend, sondern auch experimentierend treibt Büchner die epikureische wie die stoische Lebenshaltung bis zu aporetischen und zerstörerischen, ja selbstzerstörerischen Grenzwerten. Obwohl Epikureer und Stoiker nach dem Niedergang der griechischen Polis und dem Schwund ihrer gesellschaftlichen Integrationskraft das gemeinsame Ziel des individuellen Glücks (Eudämonie) und einer unabhängig machenden persönlichen Lebensgestaltung hatten, waren doch die Unterschiede markant. Stimmte die Lehre Epikurs (341 – 270 v. Chr.), niemand könne glücklich leben, ohne vernünftig, edel und gerecht zu leben, und die ebenfalls in seinem Lehrbrief an 52 Vgl. Robert D. Hicks: Stoic and Epicurean. London 1910. Reprint New York 1960.

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Menoikeus53 vermittelte Botschaft, daß der wahrhaft Weise im Bewußtsein innerer Freiheit der Vernunft folge, mit stoischen Grundsätzen noch überein, so zeigte sich eine deutliche Diskrepanz in einem anderen Bereich: Sowohl im Gegensatz zur platonisch-idealistischen Tradition54 als auch zur Stoa wertete Epikur die Sinnlichkeit und den sinnlichen Genuß nicht ab, denn „Lust“ (Bdom¶) erhob er zu einem hohen Wert. Schrankenlose und leere Genußsucht allerdings lehnte er ab, ebenso aber die dann besonders im kynischen Ursprungsbereich der Stoa – bei dem Sokrates-Schüler Antisthenes55 – ausgeprägte Rigorosität und Askese, die später noch oft die Stoa bestimmte. Am höchsten wertete Epikur die Selbstgenügsamkeit: die „Autarkie“ (aqt²qjeia) eines zurückgezogenen einfachen Lebens in Freiheit und im Kreise gleichgesinnter Freunde. Das ist wahre „Lust“. Im besonderen noch definierte er „Lust“ (Bdom¶) als Freiheit von Schmerz, so daß man eigentlich besser von ,Wohlbefinden‘ als von ,Lust‘ oder gar ,Wollust‘ sprechen sollte. Schon Cicero hatte dies festgestellt: „[…] Daher kann man erkennen, was ,Lust‘ ist: ohne Schmerzen sein“ – „Eoque intellegi potest, quanta voluptas sit, non dolere“ (De finibus I 17, 56). Bald aber verzerrte die Sinnenfeindschaft der Stoiker und die noch weitergehende des Christentums Epikurs Lehre und unterstellte ihm ein Plädoyer für ausschweifende Wollust, wozu die gängige Übersetzung des griechischen Begriffs Bdom¶ in den lateinischen Begriff „voluptas“ beitrug. Die Kirchenväter prangerten Epikurs angeblich verwerfliche Hingabe an die Lust an.56 Für Ambrosius etwa, den Bischof von Mailand (339 – 397 n. Chr.), der sich in seiner Schrift De officiis ministrorum 53 Überliefert bei Diogenes Laërtios X, 122 – 135. Epikur-Ausgaben: Hermann Usener: Epicurea. Leipzig 1887. Nachdr. Rom 1963. Epicurus. The Extant Remains. With short critical apparatus, translation and notes by Cyril Bailey, Oxford 1926. 2. Nachdruck Hildesheim/Zürich/New York 1989 (griech.engl.). Peter von der Mühll: Epicuri epistulae tres et ratae sententiae a Laertio Diogene servatae. Leipzig 1922. Nachdr. 1966. Griech.–deutsch: Epikur. Briefe, Sprche, Werkfragmente. Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz, 2. Auflage Stuttgart 1985; Epikur. Wege zum Glck, herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich 2003. 54 Vgl. Hans Joachim Krämer: Platonismus und hellenistische Philosophie. Berlin 1971. Der Schwerpunkt der Darlegungen liegt auf Epikur. 55 Vgl. Diogenes Laërtios VI, 1 – 19, besonders 14 – 15. 56 Grundlegend: Hermann Usener: Epicurea. Leipzig 1887; sowie der ausgezeichnete Artikel von Wolfgang Schmid: Artikel Epikur, in: Reallexikon fr Antike und Christentum, Bd. 5, 1962, Sp. 681 – 819 (mit umfassenden Literaturangaben).

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libri III von Ciceros De officiis, seinem am meisten stoisch geprägten Werk, inspirieren ließ,57 ist er geradezu ein Trunkenbold und Patron der Wollust: „magister … ebrius et voluptatis patronus“.58 Derartige Polemik, die teilweise auf stoisch-rigoristische Positionen zurückgeht (Horaz ironisierte sie, indem er sich „ein Schweinchen aus der Herde Epikurs“ nannte), gipfelte schließlich in der Wiederaufnahme des schon tradierten Schimpfnamens „Porcus“. Ein „Schwein“ ist Epikur im Psalmenkommentar des Augustinus, bei Isidor von Sevilla und bei Hieronymus. Das eigentliche Motiv dieser Diffamierung, die sich in der christlichen Tradition bis weit in die Neuzeit fortsetzte, war aber nicht moralischer, sondern religiöser Art. Denn Epikurs Lehre lief der christlichen im Wesentlichen zuwider. Er lehnte den Glauben an eine göttliche Vorsehung und an göttliches Eingreifen in die Welt ab, desgleichen den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und an ein Jenseits, in dem mit Göttern und Dämonen zu rechnen sei. Frei zu sein von der Gottes- und Dämonenfurcht, die später, nicht zuletzt im christlichen Teufelsglauben, noch einmal gewaltige Ausmaße annahm und Spätmittelalter und frühe Neuzeit – man denke nur an Luthers Teufelsfurcht – geradezu beherrschte, galt ihm als Voraussetzung für ein autonomes, von der Vernunft bestimmtes Dasein. Hier lagen die von den Kirchenschriftstellern auch immer wieder zum Ausdruck gebrachten wahren Gründe für die scharfe Ablehnung Epikurs, und dies umso mehr, als im 1. Jahrhundert v. Chr. Lukrez in seiner Lehrdichtung De rerum natura Epikurs Lehre wirkungsvoll ausgestaltet und dabei den Kampf gegen die traditionelle Religion in den Mittelpunkt gerückt hatte. Er kritisierte sie als Aberglauben, als Ursache vieler Übel und entwürdigender Abhängigkeitsgefühle. Schon einer der frühen Kirchenväter, Clemens von Alexandrien (etwa 150 – 215 n. Chr.), der in seinen Stromateis („Bunte Teppiche“) sonst die griechische Philosophie durchaus hochhält und den christlichen Glauben sogar durch den Logos der Philosophie vorbereitet sieht, lehnt Epikur ab: Er bezeichnet ihn als „Bahnbrecher der Gottlosigkeit“.59 Im lateinischen Westen setzte sich Lactanz (um 300 n. Chr.) 57 Vgl. Otto Hiltbrunner: Die Schrift De officiis ministrorum des hl. Ambrosius und ihr ciceronisches Vorbild, in: Gymnasium 71, 1964, S. 174 – 189 (mit Literatur-Liste). Vgl. auch die gute Übersicht bei Marcia Colish (wie Anm. 74), Bd. 2, S. 58 – 70 (mit ausführlichen Literaturangaben in Anm. 27 – 30). 58 Off. 1, 13. PL (Migne: Patrologia Latina) 16, 38 A. 59 Stromateis 1, 1.

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hauptsächlich mit dem großen Lehrgedicht des Lukrez auseinander und bekämpfte Epikur mit deutlichen Anleihen bei den Stoikern als den großen Zerstörer von Religion und Tradition60. Epikurs Bestreitung der unsterblichen Seele versucht er durch die Versicherung abzuqualifizieren, Epikur sei lasterhaft: „Verum ille fortasse inpunitatem vitiis suis spopondit: fuit enim turpissimae voluptatis assertor“,61 ja er ist für ihn ein „Erzpirat und Räuberhauptmann“.62 Augustinus schlug in die gleiche Kerbe, und so setzten sich die christliche Abwertung Epikurs und der Antiepikureismus mit ganz vereinzelten Ausnahmen bis zum Beginn der Neuzeit fort. Die kirchliche Frontstellung verband sich sogar mit der Bekämpfung von Häresien: Auf Ketzer wurde der Name Epikurs als Schimpfname angewendet. Die ,Wiederentdeckung‘ von Lukrez’ Werk De rerum natura, in dem Epikur eine begeisterte Würdigung erfährt, durch Poggio Bracciolini und Bartolomeo da Montepulciano im Jahre 1417 und die wenig später folgende lateinische Übersetzung der Vitae philosophorum des Diogenes Laërtios durch Ambrogio Traversari – das zehnte und letzte Buch enthält wichtige Originaltexte Epikurs und eine zustimmende Darstellung – leitete die Wende ein. Schon bald berufen sich, seit Lorenzo Vallas programmatischer Schrift De voluptate (1431), zahlreiche Autoren der Renaissance63 auf den wahren, bisher immer nur verleumdeten Epikur. Immer wieder kommen dabei die Stoiker als die Gegner mit ins Spiel, aber auch Plutarch, der doch andererseits wegen seiner Angriffe auf die Stoiker getadelt wird – so auch in einer Abhandlung des bedeutenden spanischen Autors Francisco de Quevédo. Sie fügt einer Übersetzung von Epiktets Encheiridion und des Pseudo-Phocylides Schriften über den Ursprung der Stoiker und eine Verteidigung Epikurs an: Epicteto y Phoclides en espaÇol con consonantes. Con el origin de los Estoicos, y su defensa contra Plutarco, y la defensa de Epicuro contra la comffln opini n (1635). Bereits zweihundert Jahre früher hatte Lorenzo Valla in seiner schon genannten Schrift De voluptate (1431) eine klare Stellung bezogen: Er lehnt die 60 Divinarum Institutionum libri VII 2, 8, 50.CSEL (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum) 19, 138, 13. 61 Inst. 3, 17, 35. CSEL 19, 234, 18. 62 Inst. 3, 17, 41. 63 De voluptate, 1431. Vgl. Eugenio Garin: Ricerche sull epicureismo del Quattrocento, in: Epicurea in memoriam Bignone, Genua 1959, S. 217 – 237. Vgl. auch: D. C. Allen: The Rehabilitation of Epicurus and his Theory of Pleasure in Early Renaissance, in: SPh 41, 1944, S. 1 – 15.

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stoische Position zugunsten der epikureischen ab. Heikel blieb aber bei jedem Bekenntnis zu Epikur dessen Verdammung durch das Christentum. Valla läßt daher einen christlichen Gesprächspartner in seinem Dialog die Überhöhung der epikureischen „Lust“ zu einer ,himmlischen‘ Lust und damit eine Spiritualisierung fordern.64 Auch andere Autoren, so Gassendi, versuchten in ähnlicher Weise mindestens ein Stück weit epikureische mit christlichen Vorstellungen zu versöhnen, wie man dies schon lange mit den stoischen gewohnt war. Epoche machte Epikurs Rehabilitierung in der 1647 in Lyon erschienenen Schrift De Vita et Moribus Epicuri des Petrus Gassendi (Pierre Gassend) und in seinem 1658 posthum erschienenen Werk Syntagma philosophicum. An der Schwelle zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts schließlich zog Pierre Bayle die Summe in dem gründlichen und ausführlichen Artikel Epicure seines europäisch wirkungsreichen Dictionnaire historique et critique, den Gottsched ins Deutsche übersetzte.65 Anschließend an Gassendi stellt er kritisch die traditionelle Diffamierung Epikurs dar. Zugleich analysiert er die stoische Vorurteilsbildung gegen Epikur und setzt die Stoiker den „dévots“ seiner eigenen Zeit gleich! 66 Diese trieben nicht zuletzt am Hofe Ludwigs XIV. ihr Unwesen. Dennoch lebte in der Aufklärung, zu deren Hauptanliegen auch die „Botschaft der Tugend“ gehörte, der Stoizismus intensiv fort. Für manche religionskritisch und emanzipatorisch gesinnten Aufklärer aber rückte Epikur, besonders der durch Lukrez vermittelte, zu einer geistigen Orientierungsinstanz auf. Ein markantes literarisches Beispiel für die Umkehrung des Kräfteverhältnisses in der Konfrontation von Stoizismus und Epikureismus ist Wieland mit seinem Roman Aristipp. Im Kampf gegen den Epikureismus bediente man sich der schon von der platonischen und der stoischen Tradition bereitgestellten Ge64 Aufschlußreich: Hans Joachim Krämer: Epikur und die hedonistische Tradition, in: Gymnasium 87 (1980), S. 294 – 326. 65 Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. Troisieme edition. A laquelle on a ajoûté la Vie de l’Auteur, & mis ses Additions & Corrections à leur place. Rotterdam MDCCXV [= 1715]. Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. Nachdruck Genf 1969, Bd. VI, S. 167 ff. Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wçrterbuch. Eine Auswahl. Übersetzt und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Darmstadt 2003. Vgl. Die Philosophie in Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique, hg. von Lothar Kreimendahl = Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Bd. 16, 2004. Hamburg 2004 (mit guter Forschungsübersicht). 66 S. 188 des Nachdrucks.

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genargumente, so der relativ kultivierten stoischen Epikur-Kritik in Ciceros Schrift De finibus und der von Plutarch – er war ApollonPriester in Delphi – um 100 n. Chr. scharf formulierten Kritik an Epikurs Ablehnung der Vorsehung und der Unsterblichkeit der Seele.67 In nicht weniger als drei antiepikureischen Schriften68 stellte der seit Beginn der Neuzeit vielgelesene Plutarch das Repertoire bereit, das sich in der Tradition der platonischen Akademie herausgebildet hatte. Die Stoa hingegen konnte trotz der grundlegenden Differenz zwischen ihrem auf Immanenz angelegten Monismus und dem auf ein Jenseits ausgerichteten christlichen Dualismus dem Christentum in manchem assimilierbar erscheinen, so in ihrer Sinnenfeindschaft und asketischen Moral, aber auch durch die Vorstellung einer, wenn auch letztlich anders gedachten, göttlichen Vorsehung. Schließlich lag der schon im frühen Christentum stark ausgeprägten Sozialethik die insbesondere von der römischen Stoa betonte sittliche Verpflichtung auf das Gemeinwesen69 nahe, im Gegensatz zu dem von Epikur favorisierten Rückzug in den „Garten“ nach der Devise „Lebe im Verborgenen“. Bereits Plutarch, der trotz mancher aus der Stoa übernommener Begriffe nicht vom stoischen, sondern vom platonischen Standpunkt aus schrieb und 67 Vgl. Plutarch’s Theological Writings and Early Christian Literature, ed. by Hans Dieter Betz. Leiden 1975. 68 Non posse suaviter vivi secundum Epicurum. Adversus Colotem. An recte dictum sit latenter esse vivendum. In: Plutarch’s Moralia in 15 [später 17] volumes. Bd. 14. With an English translation by B. Einarson and Phillip de Lacy. Cambridge, Mass., London 1967 (Loeb Classical Library). Vgl. auch die deutsche Übersetzung in: Plutarch: Moralische Schriften. Erstes Bändchen: Streitschriften wider die Epikureer. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Leipzig 1926 (Der Philosophischen Bibliothek Band 198). Zu Plutarchs Epikur-Kritik: Tiziano Dorandi: Gli scritti antiepicurei di Plutarco, in: Syzetesis. Studi sull’ epicureismo greco e latino offerti a Marcello Gigante, 2 Bde, Neapel 1983, S. 679 – 695 (Kommentierende Bibliographie). Jackson P. Hershbell: Plutarch and Epicureanism, in: ANRW II 36, 5, 1992, S. 3351 – 3383. Vgl. John Ferguson: Epicureanism under the Roman Empire, in: ANRW II 36, 4, 1990, S. 2257 – 2327. 69 Vgl. Franz Hampl: Stoische Staatsethik und frhes Rom, in: Historische Zeitschrift 184, 1957, S. 249 – 271. Arthur Bodson: La Morale sociale des derniers Stociens, Sn que, pict te et Marc Aur le. Paris 1967. Vgl. ferner: Margaret E. Reesor: The Political Theory of the Old and Middle Stoa. New York 1951. Eleuterio Elorduy: Die Sozialphilosophie der Stoa, in: Philologus Suppl. XXVIII, 3, 1936. Jürgen Sprute: Rechts- und Staatsphilosophie bei Cicero, in: Phronesis 28, 1983, S. 150 – 176. Andrew Erskine: The Hellenistic Stoa: Political Thought and Action. London 1990.

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auch gegen die Stoiker polemisierte,70 hatte einen Traktat gegen diese epikureische Losung verfaßt.71 Die urbanen römischen Vermittlungen zwischen Stoizismus und Epikureismus, wie sie vor allem Seneca in seinem Hauptwerk, in den Briefen an Lucilius bot, blieben bezeichnenderweise lange unwirksam – zu den Ausnahmen gehört Descartes.72 Und bis zum Beginn der humanistischen Rehabilitation Epikurs fast ganz vernachlässigt wurde in der sich verschärfenden weltanschaulichen Frontstellung, daß bereits Seneca – der Stoiker! – die klischeehaft verfälschende Festlegung Epikurs auf eine ausschweifende Lebensweise in seiner Schrift De vita beata 73 zurückgewiesen hatte.

Die Bedeutung stoischer Moral und Askese für das frühe Christentum und das Mittelalter. Seneca- und Epiktet-Rezeption. Aspekte einer heidnisch-christlichen Mischkultur Wesentlich anders als das strikt negative Urteil über Epikur war das Verhältnis des Christentums zur Stoa. Die von den Stoikern ausgehende Faszination reichte schon im frühen Christentum bis zu markanten Teilidentifikationen.74 Obwohl Tertullian (ca. 150 – 220 n. Chr.) in 70 In den Schriften De Stoicorum repugnantiis. Compendium argumenti Stoicos absurdiora poetis dicere. De communibus notitiis adversus Stoicos. In: Plutarch’s Moralia in 15 [später 17] volumes. Bd. 13/2. With an English translation bei H. F. Cherniss. Cambridge, Mass., London 1976 (Loeb Classical Library). Mit vorzüglichem Kommentar. Vgl. auch Max Pohlenz: Plutarchs Schriften gegen die Stoiker, in: Hermes 74, 1939, S. 1 – 33 (Kleine Schriften Bd. I). Jackson P. Hershbell: Plutarch and Stoicism, in: ANRW II 36, 5 (1992), S. 3336 – 3352, sowie Daniel Babut: Plutarque et le stocisme. Paris 1969. 71 An recte dictum sit latenter esse vivendum (EI JAKYS EIQGTAI TO KAHE BIYSAS). Vgl. Anm. 68. Eine kommentierte Edition und Übersetzung dieser kleinen Schrift erschien mit dem griechischen Titel und dem deutschen: Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Ulrich Berner, Reinhard Feldmeier, Bernhard Heininger und Rainer Hirsch-Luipold. Darmstadt 2000 (Reihe SAPERE). 72 Belege bei Michel Spanneut: Permanence du Stocisme de Znon Malraux, Gembloux 1973, S. 290. 73 Kap. XII. 74 Eine Übersicht bietet der 2. Band des Werks von Marcia L. Colish: The Stoic tradition from antiquity to the early Middle Ages. Vol. 1: Stoicism in classical Latin literature. Vol. 2: Stoicism in christian Latin thought through the sixth century. Leiden 1985. (Studies in the History of Christian Thought 34 – 35). Vgl. Michel Spanneut: Le stocisme des P res de l’ glise de Clment de Rome Clment

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seinem Hauptwerk, dem Apologeticum, in dem er angesichts der Verfolgungen das Christentum verteidigt, alle griechischen Philosophenschulen radikal abwertet und sie in prinzipiellen Gegensatz zum Christentum rückt („philosophi enim, non Christiani cognominantur“; 46, 5), nennt er Seneca „einen, der oft zu uns gehört“: „saepe noster“.75 Emphatisch stimmte Laktanz der stoischen Moral-Lehre und ihrem Leitbegriff Virtus zu: „Die Tugend allein, sagen die Stoiker, vermag das Leben glücklich zu machen. Nichts kann wahrer sein“.76 Augustinus bekennt in seinen Confessiones, er sei eine Zeit lang der stoischen Weltanschauung verfallen gewesen, insbesondere der nun vom Standpunkt des Christentums aus als irrig erkannten Vorstellung von einem göttlich belebten Kosmos.77 Vor allem gewann Seneca große Bedeutung schon während des Mittelalters78 in fast allen Ländern Europas aufgrund seiner in Florilegien verbreiteten stoischen Moralphilosophie. Dante nennt ihn geradezu „Seneca morale“ (Inferno IV 141) und schon im 12. Jahrhundert bezeichnete ihn Abaelard als größten Begründer der Sittlichkeit unter den Philosophen.79 Seit dem Humanismus steigerte

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d’Alexandrie. 2. Auflage Paris 1969. Johannes Stelzenberger: Die Beziehungen der frhchristlichen Sittenlehre zur Ethik der Stoa. München 1933. De anima 20, 1. Inst. III 27, 4. CSEL (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum)19, 261, 18 – 20. Conf. VII, 1, 1 – 2. CSEL 33/1, 141, 6 – 142, 11. Zur Rezeption Senecas im Mittelalter vgl. Dictionnaire de Spiritualit, Asctique et Mystique, Paris 1932 ff., Bd. XIV, Paris 1990, Artikel Sn que von Michel Spanneut, Sp. 570 – 598; Verfasser-Lexikon des Mittelalters, 2. Auflage, Bd. 8, Berlin/New York 1992, Artikel Seneca von Nikolaus Henkel, S. 1080 – 1099 (mit Editionen und Literaturangaben). Leighton D. Reynolds: The Medieval Tradition of Seneca’s Letters. Oxford 1965. Ders.: Medieval Tradition of Seneca’s Dialogues, in: Classical Quarterly 18, 1968, S. 355 – 372. Birger Munk Olsen: L’ tude des auteurs classiques latins aux XIe et XIIe si cles, 4 Bde, Paris 1982 – 1989, Bd. 2, 1985, S. 365 – 473. Klaus-Dieter Nothdurft: Studien zum Einfluß Senecas auf die Philosophie und Theologie des 12. Jahrhunderts, Leiden/Köln 1963 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Bd. 7) [dazu: Michel Spanneut in: RTh 31, 1964, S. 32 – 42]. Zur Auseinandersetzung mit Senecas Tugendlehre bei Johannes Buridan: James J. Walsh: Buridan and Seneca, in: Journal of the History of Ideas 27, 1966, S. 23 – 40. Zur spanischen SenecaRezeption: Karl Alfred Blüher: Seneca in Spanien. Untersuchungen zur Geschichte der Seneca-Rezeption in Spanien vom 13. bis 17. Jahrhundert. München 1969. Gérard Verbeke: The Presence of Stoicism in Medieval Thought, Washington D. C. 1983. Michael Lapidge: The stoic Inheritance, in: A History of 12th Century Western Philosophy, hg. von Peter Dronke, Cambridge 1988, S. 81 – 112. Abaelard, Epist. 8, in: PL 178, 297 B.

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sich diese Bedeutung aufgrund seiner integralen Texte, aus denen man aber auch weiterhin Florilegien zusammenstellte.80 Vom Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein konstatierte man immer wieder seine Nähe zur christlichen Botschaft,81 wozu ein in der Spätantike fingierter, wohl Ende des 4. Jahrhunderts entstandener und noch bis um 1500 für authentisch gehaltener Briefwechsel zwischen Seneca und dem Apostel Paulus beitrug:82 ein nur wenige Seiten umfassendes, armseliges Elaborat, in dem Seneca dem Paulus versichert, er habe eine „für das sittliche Leben wunderbare Ermahnung“ zu bieten, er bringe „ehrwürdige Gedanken“ zum Ausdruck, und ihm mehr Rhetorik nahelegt. Der Briefwechsel veranlaßte schon den Kirchenvater Hieronymus (etwa 350 – 420 n. Chr.) dazu, Seneca sogar unter die Heiligen zu versetzen.83 80 Paul Faider: tudes sur Sn que, Gent 1921, gibt S. 5 – 152 einen Überblick über die Bedeutung Senecas vom 1. bis zum 20. Jahrhundert, wobei die Zeit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert nur sehr knapp berücksichtigt wird. Winfried Trillitzsch: Seneca im literarischen Urteil der Antike. 2 Bde. Amsterdam 1971 (Darstellung und Sammlung der Zeugnisse. In Bd. 2, S. 251 – 265 Darstellung zu den Stationen der Seneca-Rezeption von der Antike bis zu Erasmus). 81 Hierzu: Arnaldo Momigliano: Note sulla leggenda del cristianesimo di Seneca, in: Rivista storica italiana 62, 1950, S. 325 – 344. Vgl. Peter Walter: Senecabild und Senecarezeption vom spten Mittelalter bis in die frhe Neuzeit, in: Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Alfons Fürst, Therese Fuhrer, Folker Siegert und Peter Walter, Tübingen 2006, S. 126 – 146 (SAPERE 11). Vgl. Jan. N. Sevenster: Paul and Seneca. Leiden 1961. Vgl. auch Anm. 80. Die ,Christianisierung‘ antiker Philosophen drückt sich schon in Werktiteln aus: The Christian Seneca von Joseph Hall, 1605, ins Französische übersetzt von Théodore Jaquemot als Le Sn que chrtien, Genf 1628. Socrate chrtien (von Guez de Balzac, Paris 1661). 82 Ausgaben: Epistolae Senecae ad Paulum et Pauli ad Senecam (quae vocantur), ed. Claude W. Barlow, Rom 1938 (Papers and Monographs of the American Academy in Rome, vol. 10; mit englischer Übersetzung), S. 139 – 149. Laura Bocciolini Palagi: Il carteggio apocrifo di Seneca e San Paolo. Firenze 1978 (mit Kommentar; verbesserter Nachdruck Florenz 1985. Biblioteca patristica). Deutsche Übersetzung: Wilhelm Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen, 5. Auflage, Bd. 2, Tübingen 1989, S. 44 – 50 (mit Literaturangaben). Wichtig für das Fortleben seit dem Mittelalter wurde die Ausgabe des Alkuin. In zahlreichen Handschriften sind die Briefe seit dem 9. Jahrhundert erhalten, wenn auch mit schlimmen Textverderbnissen. Petrus Cluniacensis: Tractatus adversus Petrobrusianos, PL 189, 737 C, Petrus Abaelardus: Introductio ad Theologiam I, 34 und Sermo XXIV: Expositio in epistolam Pauli ad Romanos I, 1, sowie Petrarcas Epistola ad Senecam zeugen von der Kenntnis dieses Briefwechsels, dessen Editio princeps von Erasmus stammt (Basel 1515). 83 Hieronymus: De viris illustribus, cap. 12: „quem [Senecam] non ponerem in catalogo sanctorum, nisi me illae epistolae provocarent quae leguntur a plurimis,

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Eine symptomatische, wenn auch nicht auf so breiter Überlieferung beruhende und so intensive Wirkungsgeschichte wie Seneca hatte Epiktet84 im patristischen Schrifttum und im Mittelalter, wiederum aufgrund der stoischen Morallehre. Sie hatte bei ihm eine kynisch gehärtete Form angenommen und entsprach der christlichen Asketik vor allem des mittelalterlichen Mönchtums. Durch die mit besonderer Entschiedenheit vorgetragene stoische Absage an alle äußeren Lebensgüter wurde Epiktet zur Berufungsinstanz. Im Zentrum seiner Darlegungen steht die „Dihaíresis“: die Unterscheidung zwischen den Adiáphora, den ,unwesentlichen‘ äußeren Lebensgütern, und einer geistigseelischen inneren Welt, in der die wesentlichen Werte liegen. Diese ,Unterscheidung‘ führte zu einer klaren ,Entscheidung‘. Auf ihr beruhte auch, wenngleich in metaphysisch begründeter Radikalisierung, die christliche Asketik und das Mönchtum. Und während sich Seneca, der als reichster Mann des römischen Imperiums im 90. Brief an Lucilius das Ideal der Eigentumslosigkeit verkündete, nur durch seinen stoischphilosophischen Tod als Paradigma eignete, konnte Epiktet, der Sklave gewesen war und wußte, wovon er sprach, wenn er in einer ebenso

Pauli ad Senecam et Senecae ad Paulum“ – „Ich würde ihn nicht in das Verzeichnis der Heiligen aufnehmen, wenn mich nicht jene vielgelesenen Briefe dazu veranlaßten: die des Paulus an Seneca und Senecas an Paulus“. 84 Editionen: Epictetus: The discourses as reported by Arrian, the Manual and Fragments. Ed. with an English translation by William Abbott Oldfather. 2 Bde, London/Cambridge, Mass. 1925 – 1928. 5. Auflage 1967 (griechisch-englisch). Epictetus: Entretiens, hg. von Joseph Souilhé. 4 Bde, Paris 1943 – 1965 (griechisch-französisch). Die maßgebende Edition: Epicteti Dissertationes ab Arriano digestae ad fidem cod. Bodleiani iterum recensuit Henricus Schenkl. Accedunt Fragmenta. Enchiridion ex rec. Schweighaeuseri Gnomologiorum Epicteteorum. Reliquae. Indices. – Ed. maior. – (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Leipzig 1916. Nachdruck Stuttgart 1965. Eine Pionierleistung auch für die Wirkungsgeschichte: Johannes Schweighäuser: Epicteteae philosophiae monumenta. 5 Bde, Leipzig: Weidmann 1799 – 1800. Nachdruck 5 Bde in 3 Bänden. Hildesheim 1977. Epiktet, Teles Musonius: Wege zum Glck. Auf der Grundlage der Übertragung von Wilhelm Capelle [Zürich 1948] neu übersetzt, mit Anmerkungen versehen und eingeleitet von Rainer Nickel. Zürich und München 1987. Epictetus: Encheiridion, ed. Gerard J. Boter. Berlin 2007 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). – Grundlegende Darstellung: Adolf Bonhoeffer: Epictet und die Stoa. Stuttgart 1890. Nachdruck Stuttgart 1968. Adolf Bonhoeffer: Die Ethik des Stoikers Epictet. Stuttgart 1894. Nachdruck Stuttgart 1968.

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programmatischen wie emphatischen Diatribe85 von der „Freiheit“ handelte,86 auch als Paradigma eines glaubwürdigen stoisch-asketischen Lebens dienen. Obwohl Augustinus Epiktets Schriften wohl nur indirekt kannte und ihn lediglich sporadisch erwähnt, trug eine dieser Erwähnungen in seinem Hauptwerk De civitate dei, einem Lieblingsbuch des ganzen Mittelalters, im Wortsinn zur Nobilitierung Epiktets bei: Augustinus beruft sich auf Epiktet mit den Worten „Ut docuit liber Epicteti nobilissimi stoici ex decretis Zenonis et Chrysippi, qui huius sectae primas habuerunt“.87 Epiktets Bedeutung für das mittelalterliche Mönchtum geht aus mehreren Zeugnissen hervor.88 Am Beginn steht ein wahrscheinlich noch aus der Spätphase des antiken Stoizismus stammender Traktat, der bezeichnenderweise unter dem Namen des Urvaters des Mönchtums, des Antonius firmierte.89 Derart christlich drapiert ging er in ein weitverbreitetes Werk für die geistliche Lektüre ein, in die Philokalia. So gewann er Autorität im griechisch-byzantinischen Mönchtum. Ebenfalls nur leicht verchristlicht diente eine Version von Epiktets Encheiridion (Handbuch) den Mönchen des Mittelalters zur geistlich-moralischen Erbauung: die dem Asketen Nilus von Ankyra 85 Diatribe (,Dissertatio‘) 4, 1. Zum Begriff ,Diatribe‘ vgl. den Artikel von Wilhelm Capelle und Henri-Irénée Marrou in: Reallexikon fr Antike und Christentum (RAC), Bd. 3, Stuttgart 1957, Sp. 990 – 1009. 86 Vgl. Joseph Moreau: pict te ou le secret de la libert. Paris 1964. Vgl. auch Hans Joachim Krämer: Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike, in: Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, hg. von Josef Simon. Freiburg/ München 1977, S. 239 – 270. Vgl. auch: Epiktet: Vom Kynismus, hg. und übersetzt mit einem Kommentar von Margarethe Billerbeck. Leiden 1978. 87 Civit. 9, 5; PL 41, 261. „Wie das Buch Epiktets, des edelsten Stoikers, gelehrt hat nach den Maßgaben Zenons und Chrysipps, die am Anfang dieser Schule standen“. 88 Zum Folgenden vgl. den Artikel Epiktet von Michel Spanneut in: Reallexikon fr Antike und Christentum (RAC), Bd. 5, 1962, Sp. 599 – 681 (mit ausführlichen Literaturangaben). 89 Die Vita Sancti Antonii, von Athanasios aus Alexandria um 370 n. Chr. verfaßt, ist eine legendenhafte Biographie in Form eines Briefes, der an die Mönche im Ausland gerichtet war. Sie sollte ihnen am Beispiel des koptischen Einsiedlers Antonius (gest. 357) darstellen, wie der Asket mit den Dämonen ringt, um schließlich zur Vollkommenheit zu gelangen. Adolf von Harnack schrieb, „daß kein Schriftwerk verdummender auf Ägypten, Westasien und Europa gewirkt hat“, und stellt fest, daß es „neben dem Reliquienkult die Hauptschuld an dem Einzug der Dämonen, der Mirakel und allen Spuks in die Kirche“ hat (Adolf Harnack: Das Leben Cyprians von Pontus. Die erste christliche Biographie, Leipzig 1913, S. 81, Anm. 2).

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zugeschriebene Version des Handbuchs ist in einer ganzen Reihe von mittelalterlichen Handschriften überliefert, ein Zeichen für ihre Beliebtheit. Das Gleiche gilt für eine stärker verchristlichte Version, die sogenannte ,christliche Paraphrase‘, die alles nicht mit der christlichen Orthodoxie Übereinstimmende eliminierte, Bibelzitate einflocht und mönchische Lebensformen zur Geltung brachte – wo Epiktet vom „Philosophen“ spricht, ist nun vom „Anachoreten“ die Rede, die „Freuden der Liebe“ werden zu „Dingen des Leibes“ neutralisiert und die „Frau“, die bei Epiktet immerhin noch vorkommt, wird gerne ausgelassen. Neben den mehr oder weniger christlich überformten Versionen des Encheiridions waren im Mittelalter Florilegien verbreitet, die einzelne markante Aussagen Epiktets sammelten. Ähnlich verfuhren die SenecaFlorilegien.90 Sogar im Gewand von Florilegien auftretende Spruchsammlungen und Anweisungen anderer Autoren wurden Seneca zugeschrieben. Dazu gehört die in über 600 Handschriften überlieferte, seit dem 10. Jahrhundert mit dem Namen Senecas etikettierte, außerordentlich wirkungsreiche kleine Schrift De quattuor virtutibus cardinalibus (,Formula honestae vitae‘),91 die in ihren Abschnitten über die Kardinaltugenden prudentia, magnanimitas, continentia und iustitia eine knappe Alltagsethik mit wörtlichen Seneca-Anleihen bietet. Daß sie ohne die asketische Härte der alten Stoa auskam und eine eher urbane Lebensklugheit empfahl, machte sie zu einem der meistgelesenen Bücher des späten Mittelalters. Von einem anderen Autor stammt die Sammlung der sogenannten Proverbia Senecae. 92 Schon im dritten oder vierten Jahrhundert n. Chr. entstanden die in karolingischer Zeit durch „breves sententiae“ erweiterten, im Mittelalter sogar als Schullektüre beliebten, 90 Zu den Seneca-Florilegien des Mittelalters: Birger Munk Olsen: Les classiques latins dans les floril ges mdivaux antrieurs au XIIIe si cle, in: Revue d’histoire des textes 9, 1979, S. 47 – 121; 10, 1980, S. 115 – 164. 91 Der Verfasser ist Martin, Erzbischof von Braga (Portugal), der in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts lebte. Ausgabe: Claude W. Barlow: Martini episcopi Bracarensis opera omnia, New Haven 1950, S. 236 – 250 (mit wertvoller Einleitung). Zu diesem ganzen Genre vgl. E. Matthews Sanford: The Use of Classical Latin Authors in the Libri Manuales, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 55, 1924, S. 190 – 248, sowie Günter Glauche: Schullektre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des Lektrekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt. München 1970. 92 Es handelt sich um Sprüche des römischen Mimendichters Publilius Syrus (1. Jahrhundert v. Chr.). Erst Erasmus erkannte, daß die Sammlung von diesem Autor stammt. Ausgabe: Wilhelm Meyer: Publilii Syri sententiae. Leipzig 1880.

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bis in die Renaissance hinein vielgelesenen und noch von Opitz aufgegriffenen Dicta Catonis 93 – der stoischen Exempelfigur Cato zugeschriebene Sprüche trivialen Inhalts und in schlichter Sprache, die meistens nur durch die Zuschreibung an Cato erinnern. Hauptsächlich auf diesem Niveau vermochten sich mehr oder weniger stoische Vorstellungen im Mittelalter weit zu verbreiten. Das Gefälle läßt sich auch daran erkennen, daß nicht die anspruchsvolleren, von dem Geschichtsschreiber und Epiktet-Schüler Arrian aufgezeichneten Gesprche (,Diatriben‘, ,dissertationes‘) Epiktets, sondern das knappe und einfach formulierte Handbuch (Encheiridion) mehr zur Geltung kam, und daß dieses auch nicht mehr auf dem Niveau kommentiert wurde, das in der Endphase der heidnischen griechischen Philosophie der Platoniker und bedeutende Aristoteles-Kommentator Simplikios (ca. 500 – 560 n. Chr.) mit seinem Kommentar zum Encheiridion erreicht hatte. Obwohl später die Humanisten erstmals die antiken und so auch die stoischen Texte durch philologische Editionen zugänglich machten, unter denen die großen Seneca-Ausgaben des Erasmus von Rotterdam (1515; eine zweite, wesentlich verbesserte Auflage erschien 1529) 94 und des Justus 93 Ausgaben: Marcus Boas: Disticha Catonis. Amsterdam 1952; John Wight Duff/ Arnold M. Duff: Minor Latin Poets, London 1935, S. 583 – 629 (lat.–engl.). Vgl. Marcus Boas: Die Epistola Catonis. Amsterdam 1934; Richard Hazelton: The Christianization of Cato. The ,Disticha Catonis‘ in the Light of Mediaeval Commentaries, in: Mediaeval Studies 19, 1957, S. 157 – 173; Fidel Rädle: ‘Disticha Catonis‘ – eine Schulfibel des Abendlandes, in: Altsprachlicher Unterricht 38, 6, 1995, S. 45 – 48. 94 Die Ausgabe von 1529 erfuhr im 16. Jahrhundert eine ganze Reihe von Neuauflagen: Basel 1537, 1541, Lyon 1555, Paris 1580. Zum ersten Mal trennte sie auch mehrere unechte Seneca-Schriften von den echten. So sonderte Erasmus aus dem mittelalterlichen Seneca-Corpus die Formula vitae honestae, De moribus und die sogen. Proverbia Senecae aus, vor allem aber erklärte er den überlieferten Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus für gefälscht. Dennoch druckte er diese apokryphen Schriften auch in seiner kritischen Edition ab. Folgenreich war auch die umfassende Würdigung von Senecas Werk und Persönlichkeit, die Erasmus seiner Ausgabe voranstellte. Den Ethiker Seneca schätzt er hoch, einschränkend fügt er aber hinzu, daß einige seiner stoischen Hauptlehren im Widerspruch zur „Christiana philosophia“ stehen, so seine Vorstellung von einer immanenten Gottheit, das Fehlen des Unsterblichkeitsglaubens und die stoische Lehre von der Gottgleichheit des Weisen. Und als entschiedener Bewunderer von Ciceros Stil lehnt er Senecas „grandiloquentia“ und „declamatoria affectatio“ ab – wie schon Quintilian in seiner berühmten, von einem klassizistischen Stilideal ausgehenden Seneca-Kritik in der Institutio oratoria (X, I, 128 – 130).

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Lipsius (1605) hervorragen, blieben für die Nachwirkung Senecas wie Epiktets derartige Florilegien weiterhin über Jahrhunderte wichtig. Beliebt waren nicht zuletzt Seneca-Florilegien unter christlichem Vorzeichen, so die anonym erschienene, von dem Jesuiten Johann Baptist Schellenberg (1586 – 1645) auf dem Höhepunkt des Neustoizismus zusammengestellte Blütenlese Seneca christianus id est Flores christiani ex L. Ann. Senecae Epistolis collecti (Augsburg 1637) – ein Bestseller bis ins 18. Jahrhundert, auch in deutscher Übersetzung.95 Für Epiktets Werke selbst fiel erst im Humanismus eine so bei Seneca nicht vorhandene sprachliche Barriere. Erst jetzt wurden sie aus dem griechischen Original ins Lateinische übersetzt.96 Von der Spätantike über das Mittelalter hinaus bis in die Zeit der Renaissance und des Barock, also bis zur großen frühneuzeitlichen, in einem eigenen ,Neustoizismus‘ sich entfaltenden Blüte der stoischen Ethik im 16. und 17. Jahrhundert läßt sich von einer heidnisch-christlichen Mischtradition sprechen. Sie prägte sich in einem breiten Spektrum unterschiedlicher, jeweils historisch bedingter Möglichkeiten aus. In der Phase des frühen Christentums hatten die Kirchenväter, die mit ihren Schriften bis ins 17. Jahrhundert hinein Autoritäten allerersten Ranges blieben,97 das vorchristliche antike Erbe, sei es platonisch, neuplatonisch oder stoisch, teils assimiliert, teils in den offenkundig nicht kompatiblen Teilen weggelassen, zurückgewiesen oder uminterpretiert. Sie lebten selbst im Fluidum einer auch schon für die nichtchristliche Spätantike charakteristischen synkretistischen Mischkultur, die in der hellenistisch-römischen Universalzivilisation vom Orient über Griechenland bis in den Westen reichte. Schon das Neue Testament 95 Vgl. Carlos Sommervogel: Biblioth que de la Compagnie de Jsus, 12 Bde, Brüssel/ Paris 1890 – 1932, Bd. 7, S. 741 f. 96 Unmittelbar vor der Eroberung Konstantinopels (1453) durch die Türken, die der griechisch-byzantinischen Welt einen entscheidenden Schlag versetzte, übersetzte Nicolaus Perotti (1450) Epiktets Handbuch, etwas später Angelo Poliziano, dessen Text 1497 im Druck erschien; im 16. Jahrhundert folgte die lateinische Übersetzung der Gesprche durch Jacob Schegkius (1554). 97 Bezeichnenderweise hatte Papst Leo der Große, die Schlüsselfigur für die Formierung der kirchlich organisierten Orthodoxie, unmittelbar nach der Fixierung der zentralen Dogmen im Credo die Statuten des Konzils von Chalzedon (451) als streng verpflichtend festgeschrieben und in diesen Statuten an erster Stelle die kanonische Geltung der Kirchenväter: „Canones, qui a sanctis Patribus usque ad hanc synodum tenuerunt, teneri justum diximus“ (Sancti Leonis Magni Romani Pontificis opera omnia. Tomus tertius, Paris 1865, S. 856 (PL 56).

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zeugt ja nicht nur von Spuren, sondern von fundamentalen Vorstellungsformen der antik-philosophischen Tradition, insbesondere gilt das bereits für Paulus, wie zahlreiche Forschungen nachgewiesen haben.98 Einer der berühmtesten Evangelientexte, der Beginn des wohl um 100 n. Chr. im griechischen Kleinasien entstandenen Johannes-Evangeliums, der vom göttlichen Logos als dem Grund von allem spricht, ist ohne die griechische Logos-Philosophie, die in der Stoa ihre entschiedenste Ausprägung fand, ebensowenig denkbar wie die im gleichen Evangelium Jesus selbst in den Mund gelegte universalistische Pneuma-Lehre ohne diejenige der Stoa.99 Sogar der aus der jüdischen Religion hervorgegangene Monotheismus, der Juden wie Christen in schwere Auseinandersetzungen mit dem im römischen Staatskult verankerten antiken Polytheismus verwickelte, konnte in mancherlei Weise mit der griechisch-philosophischen Tradition vereinbar erscheinen. Dies gilt nicht nur für den Platonismus, sondern auch für die Stoa. Weil die stoische Logoslehre auf ein alles bestimmendes Prinzip hinauslief, das mythologisierend als „Zeus“ bezeichnet wurde, konnte sie monotheistisch verstanden werden. Im Kapitel über Zenon und die grundlegenden Lehren der Stoa spricht Diogenes Laërtios vom „gemeinsamen Nomos, welcher der richtige Logos ist, der alles durchwaltet, identisch mit Zeus, dem Herrscher über die Ordnung des Seienden“.100 In dem einzigen Text 98 Max Pohlenz: Paulus und die Stoa, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 42, 1949, S. 69 – 104. Abraham J. Malherbe: Paul and the Thessalonians: The Philosophic Tradition of Pastoral Care. Philadelphia 1987. Ders.: Paul and the Popular Philosophers. Minneapolis 1989. Ders.: Hellenistic Moralists and the New Testament, in: Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt, hg. von Hildegard Temporini und Wolfgang Haase (ANRW) II 2. 16. 1, 1992, S. 268 – 333. Vgl. auch Abraham J. Malherbe: Moral Exhortation: A Greco-Roman Sourcebook. Ed. Wayne A. Meeks. Philadelphia 1986 (Library of Early Christianity 4). Troels Engberg-Pedersen: Paul and the Stoics. Edinburgh/Louisville 2000. Ders.: Stoicism in the Apostle Paul: A Philosophical Reading, in: Stoicism. Traditions and Transformations, Edited by Steven K. Strange. Cambridge 2004, S. 52 – 75. 99 Joh. 4, 24: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit (1m pme¼lati ja· !kghe¸ô) anbeten“. Vgl. SVF II 112, 31: b he¹r pmeOla moeq¹m ja· !¸diom– „Gott ist Pneuma, geistig und unsichtbar“. Vgl. Gérard Verbeke: L’volution de la doctrine du pneuma du stocisme St. Augustin. Paris 1945. 2. Auflage 1951. 100 b mºlor b joimºr, fspeq 1st· b aqh¹r kºcor, di± p²mtym 1qwºlemor b aqt¹r £m t` Di¸, jahgcelºmi to¼t\ t/r t_m emtym dioij¶seyr emti. Diogenes Laërtios VII 88 (SVF I, Nr. 162).

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der alten griechischen Stoa, der vollständig erhalten ist, im Zeushymnos des Kleanthes,101 zeichnet sich die monotheistische Lesart besonders deutlich ab. Obwohl solche Vorstellungen anders als der christliche Monotheismus in einem innerweltlichen, pantheistischen Denken aufgingen102 und das monistisch-pantheistische Denken der Stoa eine unaufhebbare Differenz zum Dualismus des Christentums bedeutete, spielte bei Seneca und noch deutlicher bei Epiktet gelegentlich die Vorstellung eines persönlichen Gottes herein. Zwar handelte es sich hier um eher punktuelle Affinitäten, aber sie ließen die Stoa manchen christlichen Schriftstellern doch bis zu einem gewissen Grade assimilierbar erscheinen. Eine besondere Rolle für viele spätere Vermittlungsversuche zwischen dem nichtchristlichen philosophischen Monotheismus der Antike und dem christlichen Monotheismus spielte das von Marcus Minucius Felix um 200 n. Chr. unter dem Titel Octavius verfaßte Streitgespräch zwischen einem Christen und einem Nichtchristen.103 Der christliche Verfasser, als bedeutender Anwalt ein Angehöriger der römischen Oberschicht, wollte die gebildeten Römer für das Christentum gewinnen, indem er die heidnischen Philosophen, unter ihnen auch die Stoiker (in Kap. 19, 10 – 11), als Verbündete darstellte und die Verwandtschaft des stoischen und des christlichen Gottesbegriffs hervorhob. Viele seiner Formulierungen stammen aus Ciceros Schrift De natura deorum, aus anderen Schriften Ciceros sowie von Seneca, insbesondere aus dem Traktat De providentia. Mit diesem Versuch, die Übereinstimmung des philosophischen und des christlichen Monotheismus nachzuweisen, trug Minucius Felix zur Akzeptanz des von den gebildeten Römern bisher verachteten Christentums erheblich bei – Tacitus hatte 101 SVF I, Nr. 537 (überliefert bei Stobaios Ecl. I 2, 12 p. 25, 3). Deutsche Übersetzung in Ueberwegs Grundriss (wie Anm. 1), S. 577 f. (mit Kommentar). 102 Besonders deutlich ist die Verbindung einer quasi monotheistischen Vorstellung mit einem monistisch-immanenten Konzept in einer prägnanten Formulierung Marc Aurels: „Denn es gibt eine Welt aus allem, und einen Gott durch alles und eine Substanz und ein Gesetz, den Logos, der allen geistigen Wesen gemeinsam ist“ – jºslor te c±q eXr 1n "p²mtym ja· he¹r eXr di’ "p²mtym ja· oqs¸a l¸a ja· mºlor eXr, kºcor joim¹r p²mtym t_m moeq_m f]ym (Selbstgesprche VII 9). 103 Vgl. die lateinisch-deutsche Ausgabe von Bernhard Kytzler: M. Minucius Felix: Octavius. München 1965 und Darmstadt 1993. Vgl. Carl Becker: Der ,Octavius‘ des Minucius Felix. Heidnische Philosophie und frhchristliche Apologetik. München 1967 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse. 2).

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es noch als einen aus dem Weg zu räumenden Aberglauben („superstitio exitiabilis“) verabscheut. Die Kirchenväter, so Laktanz und Hieronymus, schätzten dieses Werk, Augustinus zog es für seine Confessiones heran. Wirkungsgeschichtlich fungierte es als eine der frühen Weichenstellungen für stoisch-christliche Synthese-Versuche. Auf die ersten Ausgaben durch Humanisten des 16. Jahrhunderts folgten zahlreiche Editionen, auch aufgrund der eleganten und lebendigen Darstellungsweise. Wie sehr es gerade im Hinblick auf den Monotheismus den frühchristlichen Schriftstellern darauf ankam, auch Vorstellungen nichtchristlicher Philosophen, insbesondere der Stoiker zu assimilieren, zeigt eine Anweisung Augustins in seiner Schrift De doctrina christiana. Wie das Volk Israel bei seinem Auszug aus Ägypten Gold und Silber mitnahm, so müsse der Christ den Heiden ihre „äußerst nützlichen Moralvorstellungen (morum praecepta utilissima), ja in betreff der Verehrung des einen Gottes (deque ipso uno Deo colendo) […] einiges entwenden, um es in der Verkündigung des Evangeliums auf richtige Weise zu verwenden“.104

Neuplatonische Überformung stoischer Vorstellungen bei Boethius. Dessen tausendjährige Wirkung Das Denken des Göttlich-Einen, das alles aus sich hervorbringt und wieder in sich zurücknimmt, erreichte einen Höhepunkt im Neuplatonismus. Von Plotin (ca. 205 – 270 n. Chr.) begründet und von Proklos (ca. 410 – 485 n. Chr.) systematisiert, wurde er schließlich von PseudoDionysius Areopagita (5. Jh. n. Chr.) christlich formiert und immens wirkungsreich in die Mystik und in mystische Strömungen vermittelt. Er nahm wesentliche Momente der Stoa in sich auf,105 soweit sie mit der platonischen Tradition harmonisierbar erschienen – und mit der neuplatonischen Einschmelzung stoischer Vorstellungen war eine weitere Transformationsstufe eines Stoizismus erreicht, den das vom Neuplatonismus stark geprägte Christentum zu amalgamieren vermochte. Daß aber auch eine manchmal verwirrende Gemengelage aus Stoizismus und Neuplatonismus im frühen Christentum entstehen 104 De doctrina christiana II, XL 60. CSEL 80, 6, 6, 1963, S. 75 f.. 105 Willy Theiler: Plotin zwischen Platon und Stoa, in: Les Sources de Plotin (Entretiens sur l’Antiquité Classique V). Vandoeuvres-Genève 1957. Andreas Graeser: Plotinus and the Stoics. A preliminary study. Leiden 1972.

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konnte, bezeugt ein literarisches Werk, das im Mittelalter zu den am meisten rezipierten Texten gehörte, wie über 400 noch erhaltene Handschriften und sein großer Einfluß auf die mittelalterliche Bildung zeigen: die Schrift De consolatione philosophiae des Boethius (523/24). Sie überformt neuplatonisch die alte und später vor allem von Seneca gepflegte und spezifisch stoisch geprägte Form der literarischen consolatio. Zugleich schließt sie die stoisch-„philosophische“ Überwindung der Fortuna ein, weil, wie es in einer ganz von stoischen Argumenten bestimmten Partie heißt (II, 4), das wahre Glück von äußeren Gütern unabhängig ist. Obwohl Boethius paradoxerweise nichts mit der Stoa zu tun haben will (I, 3), empfiehlt die visionär personifizierte Gestalt der Philosophia, die ihm im Gefängnis erscheint, ganz stoisch schon im 1. Buch als Seelentherapie die Beseitigung des Schmerzes. Dafür gelte es die Ataraxie, d. h. die Freiheit von den Affekten zu erlangen. Das höchste Gut ist für Boethius allerdings nicht mehr wie in der Stoa der auf Vernunft gegründete autonome sittliche Wille, in dem sich die stoische Tugend – die Virtus – vollendet, sondern Gott. Im Gegensatz zu den trügerischen Gütern der Fortuna106 liegt bei ihm das wahre Glück, wie der erste Teil (Buch 1 – 3) ausführt. Doch bekennt sich Boethius immer wieder auch zu einem vernunftbestimmten Leben, und am Ende des vierten Buches erscheint, ganz nach der zum stoischen Musterbeispiel avancierten Fabel des Prodikos,107 Herkules als leuchtendes Vorbild der Virtus: Schon längst hatten die Stoiker die von Xenophon in seinen Erinnerungen an Sokrates erzählte und dann auch von Cicero weitergetragene Fabel des Sophisten Prodikos kanonisiert. In ihr entscheidet sich der größte Held der antiken Mythologie am Scheidewege zwischen Lust (hedoné) und Tugend (virtus) für die Tugend. Das Werk des Boethius, „the best seller for a thousand years or so“,108 verbreitete sich im Mittelalter auch mit zahlreichen Kommentaren. Den ersten schrieb Scottus Eriugena, ein besonders einflußreicher 106 Hierzu Pierre Courcelle: La consolation de Philosophie dans la tradition littraire. Teil II: Le personnage de Fortune et ses biens, Paris 1967, S. 103 – 158 (mit großer Bilddokumentation vor allem aus alten Handschriften). Vgl. auch das gut bebilderte und darstellende Werk von Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Gçttin des Glcks im Wandel der Zeiten. München/Berlin 1997 (mit Bibliographie). 107 Zur immensen Wirkungsgeschichte vgl. S. 297 – 302, 320 – 329. 108 Howard Rollin Patch: The Tradition of Boethius: A study of his importance in medieval culture, New York 1935, S. 1.

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stammt von Wilhelm von Conches (1080 – 1145). Mindestens so wichtig waren Übersetzungen, die bereits mit der frühesten Literatur der Volkssprachen entstanden.109 Bis in die Renaissance hinein wurden sie immer wieder von Königen und großen Dichtern als eine auszeichnende Herausforderung empfunden. In besonderem Maße galt dies für England. Angelsächsisch ist schon die älteste Übersetzung von König Alfred dem Großen (848 – 900), die oft paraphrasierend und über das Original hinausgehend die Untertanen christlich erbauen sollte. Ein Markstein war die mit Erläuterungen versehene Übersetzung von Chaucer (1340 – 1400). Bezeichnenderweise in der Zeit, in der sich der Neustoizismus formierte, übersetzte Königin Elisabeth (1533 – 1603), die Gegenspielerin der Maria Stuart, das Werk des Boethius fast wörtlich. Ebenso charakteristisch ist es, daß auch bedeutende niederländische Übersetzungen gerade erschienen, als der Neustoizismus seine Hochkonjunktur hatte: 1585, ein Jahr nach der Erstauflage des von Justus Lipsius verfaßten neustoischen Standardwerks De constantia und an dem Ort, an dem diese Leitfigur des europäischen Neustoizismus wirkte, in Leiden, veröffentlichte der niederländische Dichter Coornhert (1522 – 1590) seine neue Übersetzung der Consolatio. Er stand eine zeitlang als Staatssekretär von Holland im Dienst Wilhelms von Oranien und hatte eine vernunftbasierte Ethik aus stoischem Geist entworfen. Ein Gesamtüberblick über die immense Wirkungsgeschichte zeigt, daß das Werk des Boethius nicht nur in den Klöstern – Notker Labeo (ca. 950 – 1022) schuf in St. Gallen die erste deutsche Übersetzung von Rang – sondern auch an den Königshöfen hochgeschätzt wurde, daß es schon lange vor der Editio princeps des Originals (Savigliano 1471) eine europäische Verbreitung fand, daß schließlich in diesem Medium ein platonisch, neuplatonisch und stoisch imprägniertes und gerade in dieser Mischung auch christlich zu vermittelndes Denken eine besondere Attraktion gewann – umso mehr, als der auf einer ähnlichen Mischtradition basierende Augustinismus die bestmögliche Legitimation bot.110 Selbst in großen Bildprogrammen wirkte die christlich überformte Mischung von Stoizismus und Neuplatonismus fort: Die umfangreichen Bodenintarsien des Domes von Siena stellen Figuren be109 Hierzu: Ferdinand Sassen: Boethius – Lehrmeister des Mittelalters, in: Boethius, hg. von Manfred Fuhrmann und Joachim Gruber, Darmstadt 1984 (Wege der Forschung Bd. 483), S. 82 – 124. 110 Zur Bedeutung Augustins für Boethius selbst vgl. Raoul Carton: Le christianisme et l’augustinisme de Bo ce, in: Revue de Philosophie 30, 1930, S. 573 – 659.

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rühmter antiker Stoiker zusammen mit neuplatonisch konzipierten Bildkompositionen dar111 – buchstäblich unter dem „Dach“ der christlichen Kirche. Eine zeitübergreifende Debatte: ,Vorsehung‘ und schicksalhafte Determination in der Stoa und bei christlichen Autoren von der Antike bis in die Neuzeit Einen Anknüpfungspunkt besonderer Art bot für die christlichen Schriftsteller und die von ihnen ausgehende tausendjährige Tradition der von der Stoa entfaltete, auch von Boethius (IV, 6) intensiv behandelte Gedanke der Vorsehung (pqºmoia). Er hängt eng mit der für die Philosophie der Stoa grundlegenden Problematik des Determinismus zusammen.112 „Vorsehung“ war schon in der griechischen Stoa ein wichtiges Thema – Chrysipp verfaßte darüber eine eigene Abhandlung (peq· pqomo¸ar), ebenso Panaitios und Philon von Alexandria. Seine spätere Wirkungsgeschichte ging hauptsächlich von der lateinischen Überlieferung aus, besonders vom Panaitios-Referat in Ciceros Schrift De natura deorum (II 145 – 153) und von Senecas Traktat De providentia. Die stoische Vorstellung von einer Vorsehung hängt eng mit der naturphilosophisch verankerten stoischen Theorie vom alles regierenden und durchdringenden Logos zusammen. Da der Logos, der aufgrund seiner universell gültigen und durchgreifenden Gestaltungskraft vergöttlicht wurde, in einem konsequenten Ursache-Wirkungs-Zusam111 Vgl. hierzu den Beitrag von Klaus Mönig im vorliegenden Werk, S. XXX. 112 Vgl. SVF II, Nr. 1106 – 1186. Vgl. den Artikel Vorsehung II: Religionsgeschichtlich (griechisch und rçmisch) von Hildegard Cancik-Lindemaier, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 4. Auflage, Bd. 8, Sp. 1213 – 1214; den Artikel Vorsehung von Johannes Köhler im Historischen Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 11, Sp. 1206 – 1218. Zur Patristik: Silke-Petra Bergjan: Der frsorgende Gott. Der Begriff der PQOMOIA Gottes in der apologetischen Literatur der Alten Kirche. Berlin/New York 2002. Zu den wirkungsgeschichtlich wichtigsten antiken Quellentexten gehören Ciceros Schrift De fato und Alexanders von Aphrodisias gleichnamiger (Stoa-kritischer) Traktat. Vgl. Susanne Bobzien: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy. Oxford 1998. Dies.: The inadvertent conception and late birth of the free-will problem, in: Phronesis 43, 1998, S. 133 – 175. Einen Überblick bietet James Hankinson in: The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, hg. von Keimpe Algra, Jonathan Barnes und Malcolm Schofield, Cambridge 1999, Kap. 14 und 15. Dorothea Frede: Stoic Determinism, in: The Cambridge Companion to the Stoics, hg. von Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 179 – 205 (überarbeitete deutsche Fassung im vorliegenden Band).

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menhang von Anfang an alles zukünftige Geschehen schon in sich trägt und sich in der Ursachenkette, in der „series causarum“ entfaltet, wurde ihm Intentionalität zugeschrieben. Sofern sich eine positive Gottesvorstellung mit ihm verband, ergab sich daraus die Annahme einer „Vorsehung“ und sogar einer planvollen „Vorsorge“. Chrysipp, der produktivste Hauptvertreter der alten griechischen Stoa, hatte das Thema der Vorsehung noch auf die Natur und den in ihr wirkenden Logos bezogen. Den kosmischen, als Schicksal (Heimarmene) und Naturgesetz wirkenden Logos verband er mit dem Begriff der Vorsehung. Laut Stobaios, der wesentliche Aussagen aus den verlorenen Schriften der alten Stoa sammelte und insofern eine wichtige Überlieferungsinstanz ist, gab Chrysipp in seiner Schrift ber das Schicksal (peq· t/r eRlaql´mgr) folgende Definition: „Das Schicksal ist der Logos des Kosmos“, und zwar als „Logos der durch Vorsehung (pqºmoia) im Kosmos geordneten Verhältnisse“. Er ist ein „Logos, durch den das schon Entstandene entstanden ist, das gegenwärtig Entstehende entsteht und das in Zukunft Entstehende entstehen wird“.113 Analog formulierte Cicero in De divinatione,114 daß die Griechen das, was er als Fatum bezeichne, Heimarmene nennen, „d. h. die Ordnung und Aufeinanderfolge der Ursachen, indem eine Ursache, die ihrerseits mit einer Ursache zusammenhängt, etwas hervorbringt […] woraus erhellt, daß Fatum nicht das ist, was darunter in abergläubischer Weise, sondern in physikalischem Verständnis so genannt wird: die ewige Ursache der Dinge, aus der sowohl das Vergangene entstanden ist als auch das Gegenwärtige entsteht und dasjenige folgt, was in Zukunft sein wird“.115 Doch verschiebt sich der als physikalischer Kausalnexus aufgefaßte Schicksalsbegriff und der mit ihm gegebene Begriff der pqºmoia in die Richtung einer diesem innerweltlichen Fatum vorgeordneten göttlichen Vorsehung so weit, daß vom Hauptvertreter der mittleren Stoa, von Panaitios in seiner Schrift ber die Vorsehung (peq· pqomo¸ar) und dann von Seneca in dem Traktat De providentia im Kern schon das Theodizee-Problem aufgeworfen wird.116 Hier ist einer der markanten 113 SVF II, Nr. 913. 114 I 55, 125. SVF II, Nr. 125. 115 […] „id est ordinem seriemque causarum, cum causa causae nexa rem ex se gignat […] Ex quo intellegitur ut fatum sit non id quod superstitiose, sed id quod physice dicitur, causa aeterna rerum, cur et ea quae praeterierunt facta sint, et quae instant fiant, et quae sequentur futura sint“. 116 Zum Problem der stoischen Theodizee vgl. Dorothea Frede: Theodicy and Providential Care in Stoicism, in: Traditions of Theology. Studies in Hellenistic

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Fälle, in denen sich manche christlichen Schriftsteller, für welche die „Vorsehung“ ebenfalls ein großes Thema war, mit den Stoikern im Bunde gegen die Epikureer glaubten, die den Gedanken der Vorsehung strikt ablehnten. Beispielhaft wird aber auch erkennbar, wo der entscheidende Unterschied liegt: Während die Stoiker kaum mehr als eine welt-immanente „Vorsehung“ statuieren, schreibt die christliche Orthodoxie die Vorsehung einem transzendenten, personalen Gott zu, der nicht nur einfach ,voraussieht‘, was geschehen wird, sondern aus eigener freier Willensvollkommenheit disponiert, so daß sich die Kongruenz mit einem naturgesetzlichen Fatum nicht oder nur mit einem erheblichen Aufwand von Sophisterei ergibt. Augustinus, noch beeindruckt durch die Vorstellungen der Stoiker, die er referiert, läßt in seinem Hauptwerk De civitate dei 117 den Übergang in die christliche Anschauung erkennen. Thomas von Aquin setzte sich in mehreren Werken mit der stoischen Lehre vom Fatum auseinander, so in der Schrift Peri hermeneias,118 in der Summa Theologiae, in der er ausführt, daß alles der göttlichen Vorsehung unterworfen ist: das Zufällige, das im vordergründigen Erfahrungsbereich als solches wahrgenommen wird, und die höhere Ursache, das Fatum.119 Dennoch, so statuiert er in der Summa contra gentiles, schließe dies die Willensfreiheit nicht aus.120 Auch die Reformatoren führen den Diskurs über das stoische Fatum und die christliche Auffassung der

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Theology, its Background and Aftermath, hg. von Dorothea Frede & André Laks, Leiden 2002, S. 85 – 117. V 8. SVF II, Nr. 932. „[…] omnium conexionem seriemque causarum, qua fit omne quod fit, fati nomine appellant: non multum cum eis de verbi controversia laborandum atque certandum est, quandoquidem ipsum causarum ordinem et quandam conexionem Dei summi tribuunt voluntati et potestati, qui optime et veracissime creditur et cuncta scire, antequam fiant, et nihil inordinatum relinquere […]“ – „[…] den Zusammenhang von allem und die Abfolge der Ursachen, wodurch alles entsteht, was geschieht, bezeichnen sie als Fatum: man sollte sich mit ihnen nicht in der Kontroverse um dieses Wort abmühen und darüber streiten, denn in gewisser Weise schreiben sie die Ordnung der Ursachen und ihre Verbindung dem Willen und der Verfügungsmacht des höchsten Gottes zu, von dem geglaubt wird, daß er am besten und wahrhaftesten alles weiß, bevor es geschieht, und daß er nichts ungeordnet läßt […].“ Sancti Thomae de Aquino Opera omnia iussu Leonis XIII P. M. edita (= Editio Leonina), Bd. 1: In libros Peri hermeneias expositio, 1983, 1, 14. Editio Leonina, Bde. 4 – 12: Summa theologiae cum Supplemento et commentariis Caietani, 1888 – 1906, I q. 116 a I. Editio Leonina, Bde. 13 – 15: Summa contra Gentiles cum commentariis Ferrariensis, 1918 – 1930, 3, 73.

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Vorsehung fort. Zwingli zeigt sich in seiner Schrift Sermonis de providentia dei anamnema 121 (1530) bewandert in den stoischen Vorstellungen, denn er greift die stoische Lehre von der All-Natur auf und schreibt, Plinius „habe dasjenige als Kraft der Natur bezeichnet, was wir Gott nennen“, und zwar weil er den antiken Polytheismus verabscheute und an eine einzige göttliche Macht glaubte („Tum postremo C. Plinium, quod naturae potentiam esse dixit, quod deum vocemus. Abhorrebat enim doctissimus vir a deorum vulgo […] hinc fiebat, quod deos negaret esse, numen autem revera non negaret“).122 Ausführlich zitiert Zwingli die gegen die Annahme einer Vielzahl von Ursachen bei Platon und Aristoteles gerichtete stoische Position, die Seneca in einer der Epistulae morales ad Lucilium formuliert.123 Seneca unterscheidet zwischen der allein wirkungsmächtigen primären Ursache („causa efficiens“),124 die zugleich die generelle Ursache ist („nos de causa generali quaerimus“), und einer sekundären Ursachenvielfalt, die er unter dem Oberbegriff „causa […] superveniens“ ebenso abwertet wie ihre Pluralität: „Hae autem innumerabiles sunt“. Zwinglis Version lautet: „Weil aus Einem und in Einem alles ist, besteht, lebt, sich bewegt und wirkt, ist jenes Eine die alleinige und wahre Ursache der gesamten Dinge“; die Zweitursachen sind keine wirklichen Ursachen, „sondern Hände und Werkzeuge [Seneca hatte sich gegen den Demiurgenmythos in Platons Timaios gewandt], mit denen der ewige Geist arbeitet“; und nun schlägt er doch noch die Brücke zum christlichen Vorsehungsglauben mit der teleologisierenden Formulierung: „nichts geschieht zufällig und planlos […], weil jener gebietende Intellekt die Haare unseres Hauptes gezählt hat (Mt 10, 30)“.125 121 Sermonis de providentia dei anamnema. In: Corpus Reformatorum, Bd. 93/3 = Huldreich Zwinglis Smtliche Werke, Bd. VI, III. Teil, Zürich 1983 (mit aufschlußreichem Kommentar). Der Titel (,Erinnerung an die Predigt von der Vorsehung Gottes‘) erklärt sich aus dem Wunsch des Landgrafen Philipp, Zwingli möge die von ihm anläßlich des berühmten Marburger Gesprächs in der Marburger Schloßkirche am 29. September 1529 frei gehaltene Rede über die Vorsehung schriftlich herausbringen. 122 S. 97. Die Bezugsstelle bei Plinius, naturalis historia, II 14 f. 27. Vgl. naturalis historia XXXVII 205: „Salve, parens rerum omnium Natura“. 123 Epist. 65, 12 ff. Zwingli S. 107 ff. 124 Zur stoischen Kausalitätsvorstellung und zum Begriff der causa efficiens vgl. Michael Frede: The original notion of cause, in: Doubt and Dogmatism, hg. von Jonathan Barnes, Myles Burnyeat und Malcolm Schofield, Oxford 1980, S. 217 – 249. 125 Ebda. 22. 114.

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Entschieden kritisch dagegen argumentiert Melanchthon, der „praeceptor Germaniae“, der am markantesten das Bündnis von Reformation und christlichem Humanismus verkörperte, die protestantische Gelehrtenschule begründete und für Jahrhunderte auf das humanistische Schulwesen wirkte. Melanchthon übernahm gerade nicht Senecas Abwertung der Zweitursachen innerhalb des stoisch-monistischen Horizonts. Im Hinblick auf die pantheistische Immanenzlehre der Stoa deklarierte er vom Standpunkt christlich-dualistischer Orthodoxie die stoische Immanenz an sich schon zur Sphäre bloßer Zweitursachen: Die Stoiker wollten als die entschiedensten Verfechter der Vorsehung gelten. Aber sie legen Gott Fesseln an, welche die Vorsehung zum größten Teil unbrauchbar machen. Sie binden Gott nämlich an die Zweitursachen und denken, er könne nur so handeln oder bewegen, wie die Zweitursachen wirken. Damit machen sie Gott zugleich zur Ursache der guten und schlechten Dinge und Handlungen. Solcher Unfug ist zu verdammen und zu verabscheuen. Denn welchen Sinn hat eine Anrufung [im Gebet], wenn man meint, Gott könne nicht in die Zweitursachen eingreifen? 126

Ein charakteristischer Unterschied zwischen der christlichen und der stoischen Konzeption der Vorsehung zeichnet sich auch in der aus der jüdisch-christlichen Eschatologie kommenden radikalen Teleologisierung des Vorsehungsdiskurses ab. Die Stoa hatte im Rahmen ihres zyklischen Immanenz-Denkens und eines entsprechenden zyklischen Geschichtsbildes vornehmlich Binnen-Teleologien etwa im Sinne von Zweckmäßigkeiten eines regulativen Naturprozesses angenommen, die nicht sofort und im Einzelnen, sondern erst im übergeordneten geschichtlichen Geschehen und „im Ganzen“ erkennbar seien. Im christlichen Vorsehungsdiskurs wird daraus etwas ganz anderes: ,Gottes unerforschlicher Ratschluß‘, der auf ein heilsgeschichtlich begriffenes Eschaton zielt. Der schon bei den antiken Stoikern selbst problembeladenen und dann vollends seit Boethius von unklaren Grenzziehungen gekenn126 Philipp Melanchthon: Initia doctrinae phisicae (1549). In: Corpus Reformatorum, Bd. 13, hg. von Karl Gottlieb Bretschneider, Halle 1846 (Reprint New York/ London/Frankfurt a.M. 1963), Sp. 205 f.: „Stoici videri volebant acerrimi propugnatores providentiae. Sed hi vincula iniiciunt Deo, quae providentiam magna ex parte inutilem faciunt. Alligant enim Deum ad causas secundas, et fingunt eum aliter agere, aut movere non posse, nisi sicut cient causae secundae. Inde extruunt Deum pariter causam esse bonarum et malarum rerum et actionum. Hi furores damnandi et execrandi sunt. Qualis enim erit invocatio, si mens existimet Deum non posse impedire causas secundas?“

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zeichneten Diskussion über Schicksal, Gott und Vorsehung widmet Justus Lipsius in seinem europaweit ausstrahlenden Werk De constantia (1584) eine intensive Diskussion. Er ist sich bewußt, daß er sich hier an der „Charybdis“ der stoischen Philosophie, „an der viele ihre Geister gelassen haben“,127 aber auch in einem zentralen Spannungsfeld zwischen Stoa und Christentum befindet. Seine Darstellung ist nicht nur deshalb aufschlußreich, weil Lipsius die Leitfigur des Neustoizismus ist, sondern vor allem weil er hier die christliche Position von der stoischen klar abgrenzt. Da in der dialogischen Disposition dieser Schrift Lipsius selbst nur den Part des lernenden Zuhörers spielt, während sein Freund Langius die Rolle des Unterweisenden übernimmt, bleibt es allerdings unsicher, ob er hier seine eigene Meinung äußert. Langius selbst formuliert sein entscheidendes Resumée pluralisch in der „Wir“-Form, womit er die Christen generell meint. Ja, indem Langius Formulierungen verwendet wie „nach unserer Auffassung“, „wir aber sagen“, indem er also nicht argumentiert, sondern eher nur doxographisch verfährt, muß es dahingestellt bleiben, ob Lipsius hier die von den stoischen abweichenden christlichen Positionen vertritt – darunter sogar die Annahme von „Wundern“, die Gott gegen die Naturordnung wirkt. Der zentrale Passus markiert vier Divergenzen: – Die Stoiker unterwerfen auch Gott dem Fatum. Und wenn beim Homer der Jupiter selbst so sehr er auch wollte, seine Sarpedonen aus den Banden des Fatums nicht befreien konnte, so sagen wir dagegen, daß das Fatum Gott zu unterstehen hat, weil er nach unserer Auffassung aus freiem Willen alles geschaffen hat und erhält und wann immer es ihm beliebt, die verwirrten Scharen und Windungen des Fatums überschreiten und zerreißen kann. – Außerdem stellen sie eine von Ewigkeit her folgende Reihe natürlicher Ursachen auf. Wir aber sagen, daß die natürlichen Ursachen nicht immer aneinander hängen (denn Gott hat bisweilen in seinen Vorzeichen und Wundern ohne, ja sogar gegen die Natur gehandelt) und daß sie auch nicht von Ewigkeit her aufeinanderfolgen, denn die zweiten Ursachen sind nicht ewig, weil es sie wahrhaftig erst seit Erschaffung der Welt gibt. – Drittens haben sie wohl den Dingen auch die eigenständige Entwicklungsmöglichkeit genommen. Wir dagegen sagen, daß auch et-

127 Vgl. S. 157 der in Anm. 128 genannten Ausgabe.

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liche Dinge, nachdem es sich mit den zweiten Ursachen so verhält, so und anders geschehen oder nicht geschehen können. – Schließlich scheint es, daß die Stoiker dem freien Willen Gewalt angetan haben […] Es gibt zwar ein Fatum, aber es ist nur die erste Ursache, die die zweiten und mittleren Ursachen nicht wegnimmt […] Aber unter den zweiten Ursachen ist auch dein freier Wille […] 128 Diesem vierten und letzten Einwand, auf den schon Chrysipp eingeht und den Cicero in seinem Traktat De fato erörtert,129 läßt Lipsius noch einen geradezu sophistisch eleganten Vorschlag zur Problematik des Verhältnisses von Fatum und Vorsehung folgen: „Aber er [Gott] hat es nur gesehen und niemanden dazu gezwungen; er hat es gewußt, aber nicht festgesetzt; er hat es vorhergesagt, aber es niemandem vorgeschrieben“.130 Erst Spinoza bereinigte in seiner Ethik diese Problematik, indem er strikt entteleologisierend feststellte, es gebe keine „causae finales“,131 weil die – von ihm mit Gott gleichgesetzte und insofern als immanente Totalität verstandene – Natur (deus sive natura) im Gegensatz zu den Menschen, die „alles um eines Zweckes willen tun“ 128 Justus Lipsius: De constantia – Von der Standhaftigkeit. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann, Mainz 1998, S. 148 – 150. „Illi deum Fato subijciunt, nec Iupiter ipse apud Homerum, cum maxime vellet, Sarpedonem suum eripuit eius vinculis: at nos Fatum deo, quem liberrimum omnium rerum auctorem & actorem esse volumus & transscendere cum libuit ac rumpere implexa illa agmina & volumina Fati. Item illi ab aeterno fluentem seriem caussarum naturalium constituunt. nos nec naturalium caussarum semper, (deus enim prodigij aut miraculi caussa, saepe citra, imo contra naturam egit:) nec ab aeterno; quia secundae caussae non aeternae. Origo enim ijs certe cum mundo. Tertio, illi t¹ 1mdewºlemom sustulisse videntur e rebus: nos id reddimus, & quoties secundae caussae tales sunt, Contingens fortuitumque admittimus in eventis. Postremo, voluntati vim illi intulisse visi violentam. abest hoc a nobis, qui & Fatum ponimus, & in gratiam tamen reducimus cum arbitrij libertate. Ita enim Fortunae & Casus fallacem ventum fugimus, ut navim hanc ad Necessitatis scopulum non allidamus. Fatum est? sed prima nempe caussa. quae adeo secundas mediasque non tollit, ut non nisi (ordinatim quidem & ¢r 1st· t¹ pke?stom) per eas agat. At inter secundas, etiam Voluntas tua est […]“. 129 SVF II, Nr. 957, Nr. 958, Nr. 998. Cicero: De fato, cap. 30. 130 S. 150: „sed vidit, non coëgit; scivit, non sanxit; praedixit, non praescripsit“. 131 „[…] Omnes causas finales nihil, nisi humana esse figmenta“ (Spinoza: Opera/ Werke, Lateinisch und Deutsch, hg. von Konrad Blumenstock, 4 Bde, Bd. 2: Tractatus de Intellectus Emendatione, Ethica, Darmstadt 1967, S. 150).

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(„omnia propter finem agere“), keine Zwecke kenne. Nietzsche machte dies trotz all seiner Kritik an der Stoa, die vornehmlich deren Fixierung auf die „Moral“ galt, zu einem Angelpunkt seines Denkens in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts.

Augustinus und die Stoa im Medium des Frühhumanismus: Petrarcas Secretum Die frühchristlichen Schriftsteller, d. h. vor allem die Kirchenväter mit ihrem teils assimilierenden, teils kritisch ablehnenden Verhältnis zur Stoa, bestimmten für mehr als ein Jahrtausend sehr weitgehend die Rezeption und die Transformation der Stoa, den selektiven Umgang und die Auseinandersetzung mit ihr. Denn in einer seit der Aufklärung für das moderne Bewußtsein nur noch schwer nachzuvollziehenden Weise galt bis ins 17. Jahrhundert hinein das Prinzip der auf Tradition beruhenden Autorität. Und die Kirchenväter, die nicht umsonst „Väter“ genannt wurden, verkörperten in besonderer Weise solche Autorität, seit sich im Prozeß der Dogmatisierung und Institutionalisierung die kirchliche Orthodoxie ausgeformt hatte – sie bildeten selbst einen wesentlichen Bestandteil dieser Orthodoxie.132 Von besonderer Bedeutung war Augustinus: zuerst im Mittelalter und darüber hinaus von Petrarca bis zu Pascal. Die Intensität der Augustinus-Rezeption reicht von Spurenelementen in reformatorisch inspirierten Florilegien und massenhaft verbreiteter geistlicher Erbauungsliteratur bis zu problembewußter Kenntnis und eigener Profilbildung, wie bei Luther, Melanchthon und in den Dramen des Andreas Gryphius, der die stoisch-patristische Überlieferung in seine augustinisch-reformatorische Vorstellungswelt einbezog.133 Dabei wurden auch innertheologische und schließlich konfessionelle Differenzen im Medium der Stoa-Rezeption ausgetragen. Schon im Ausgang des Mittelalters und vollends dann seit dem Humanismus gewann allerdings das durch Editionen neuerschlossene und nach der ungefähr gleichzeitigen Erfindung des Buchdrucks sofort weit verbreitete Originalschrifttum der Antike schnell an Bedeutung, und dies umso mehr, als die Renaissance der 132 Vgl. Anm. 97. 133 Hierzu grundlegend: Hans-Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen. Köln/Graz 1966.

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Antike eine eigene Dignität und Autorität verlieh. Damit war eine neuartige Möglichkeit der Fundierung und Präzisierung, aber auch eine neuartige Konkurrenzsituation entstanden, die Spannungen erzeugte. Cicero vor allem in seinen späten Schriften, Seneca mit seinem Gesamtwerk und Epiktet sind nun voll präsente stoische Quellen. Im frühneuzeitlichen Säkularisierungsprozeß löste das in paradoxer Weise durch Rückgriff auf antike Traditionen bestärkte Neue die alten Glaubensvorstellungen nicht geradlinig ab. Es fand ein Übergang voller Verwerfungen und Überlagerungen statt, nicht selten verbanden sich, wie schon bisher, Bemühungen um Synthese mit Uminterpretationen, es gab artistisch inszenierte Ambivalenzen ebenso wie auf Trennschärfe bedachte orthodoxe Abgrenzungen, die meistens den schon in der Spätantike von den Kirchenvätern etablierten Argumentationsmustern folgten. In das Gesamtspektrum gehört aber auch immer wieder eine so bisher nicht erreichte Nähe zu der durch den Humanismus neu validierten antik-stoischen Ethik in ihrer authentischen Form. Daß es sich um kein homogenes und ungebrochen-lineares Geschehen handelt, läßt prototypisch schon an der Schwelle vom Spätmittelalter zur Frührenaissance Petrarcas „studium humanitatis“ erkennen.134 Es bezog intensiv die stoische Überlieferung ein, wie vor allem Petrarcas umfangreiche Abhandlung De remediis utriusque fortunae zeigt, die heute nur noch schwer genießbar ist, aber über Jahrhunderte am weitesten verbreitet war.135 Sie geht von Senecas fragmentarisch überliefertem 134 Hierzu grundlegend: Pierre de Nolhac: Ptrarque et l’humanisme. 2 Bde. Paris 1907. Nouvelle édition remaniée et augmentée, Paris 1965. Remigio Sabbadini: Le scoperte dei codici latini e greci ne’ secoli XIV e XV. Bd. 1. Firenze 1905. 135 Erstdruck und frühe Drucke in: Opera, Basel 1496; Venedig 1501, Venedig 1503, Basel 1554 (Nachdruck Ridgewood NI 1965); Basel 1581. Frühe Einzelausgaben und Übersetzungen: Lyon 1577, Bern 1595 u. ö. Erste italienische Übersetzung von R. Nannini, Venedig 1549. Erste deutsche, sehr bedeutend illustrierte Übersetzung von Peter Stahel (1. Teil) und Georg Spalatin (2. Teil): Franciscus Petrarcha. Von der Artzney bayder Glck, des guten und widerwertigen. Unnd wesz sich ain yeder inn Ge- / lck und unglck halten sol. Ausz dem Lateinischen in das Tetsch gezogen. Mit knstlichen fyguren / durch- / ausz, gantz lustig und schçn gezyeret. Gedruckt zu Augspurg durch Heynrich Steyner. MDXXXII. (Zahlreiche Nachdrucke, zuletzt: hg. und kommentiert von Manfred Lemmer, Hamburg 1984). Auswahlausgabe mit moderner deutscher Übersetzung: Francesco Petrarca: Heilmittel gegen Glck und Unglck. De remediis utriusque fortunae. Lateinisch-deutsche Ausgabe in Auswahl übersetzt und kommentiert von Rudolf Schottlaender. Herausgegeben von Eckhard Keßler (Humanistische Bibliothek. Reihe II: Texte. Band 18), München 1988. Vgl. die luzide Analyse von Marlene Meuer im vorliegenden Werk.

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Traktat De remediis fortuitorum aus und zeigt deutliche Spuren auch der auf das ganze Mittelalter ausstrahlenden Fortuna-Allegorie des Boethius. Schon wenige Jahrzehnte nach Petrarca, von 1396 bis 1399, verfaßte der Florentinische Kanzler Coluccio Salutati, ein hochgebildeter Humanist, die Schrift De fato et fortuna,136 in der die stoische Lehre vom Fatum mit der Gegenmacht der Fortuna systematisch und schon aus einem historischen Bewußtsein abgehandelt wird, unter Einbeziehung auch der epikureischen Gegenposition, der peripatetischen Lehre und des christlichen Providenz-Glaubens.137 Bereits für Petrarca spielten neben dem allgegenwärtigen Augustinus die für die stoische Überlieferung im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein maßgebenden, weil lateinisch schreibenden Autoren Cicero und Seneca eine herausragende Rolle.138 Auch für seine Epistolae familiares sind sie deshalb die prominentesten unter seinen fingierten Adressaten. In ,Briefen‘ an sie versucht er die Kluft zwischen der Antike und seiner eigenen Zeit zu überbrücken, indem er einen geistigen Austausch inszeniert. Generell aufschlußreich ist die Fülle der Zitate aus ihren Werken, die ihm nicht nur als gelehrte Garnierung dienen. Ihnen kommt begründende und legitimierende Funktion zu. Mit diesen stoischen Autoritäten der römischen Antike verquickt Petrarca als christliche Hauptautorität Augustinus teils wegen der Übereinstimmungen mit den vorchristlichen Stoikern, teils in deutlicher Wahrnehmung der Divergenzen, die er aber höchstens indirekt und so zur Sprache bringt, daß sich die christliche Lehre als Überbietung des stoischen Erbes ausnimmt. Ein Schlüsseltext für die Bedeutung der stoischen Ethik an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit ist Petrarcas postum erschienene Schrift Secretum,139 die er wahrscheinlich zwischen 1347 und 1353 136 Vgl. die mustergültige und mit einer großen, sehr gut fundierenden Einleitung versehene Ausgabe: Coluccio Salutati: De fato et fortuna. A cura di Concetta Bianca. Firenze 1985. Vgl. auch Berthold L. Ullman: The humanism of Coluccio Salutati. Padua 1963. 137 Vgl. besonders De fato et fortuna III, 5. S. 150 f. 138 Giuseppe Billanovich: Petrarca e Cicerone, in: Miscellanea Giovanni Mercati, IV, Città del Vaticano, Bibl. Apost. Vat., 1946. Ders.: Petrarca letterato. Rom 1947. Zu Seneca vgl. Aurelia Bobbio: Seneca e la formazione spirituale e culturale del Petrarca, in: La Bibliofilia 43, 1941, S. 224 – 291. 139 Im Folgenden zitiere ich (mit Einfügung eigener Übersetzungen) nach der Ausgabe: Francesco Petrarca: Secretum meum / Mein Geheimnis. LateinischDeutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gerhard Regn und Bernhard Huss. Mainz 2004. Diese Ausgabe führt die lateinisch-

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verfaßte. In der Form persönlicher Rechenschaft erinnert sie in Vielem an Augustins Confessiones. 140 Diese Rechenschaft ist zeitlich und zugleich inhaltlich als ein sich über drei Tage hinziehendes fiktives Gespräch zwischen F (= Franciscus = Francesco Petrarca) und A (= Augustinus) disponiert. A, ein abgespaltener Teil Petrarcas selbst, die Stimme der Innerlichkeit, setzt sich mit der durch F repräsentierten Stimme weltgebundenen Daseins auseinander. Um es mit einem Wort Augustins aus den Confessiones zu formulieren: Es handelt sich um einen Kampf „zwischen mir selbst und mir selbst“: „de me ipso adversus me ipsum“.141 Das Leitmotiv, das dieses Gespräch durchzieht, könnte nicht stoischer sein. Es gilt die Krankheiten der Seele zu heilen. Wie schon in der vorchristlich-antiken Stoa erscheinen als Hauptursache für die Krankheiten der Seele, ja als diese Krankheiten selbst die Affekte, die „Leidenschaften“. Durch Festigung der Vernunft, der „recta ratio“ der Stoiker, und durch das stoische Streben nach „Tugend“ (virtus) sollen sie therapiert werden bis die stoische Ataraxie – die „tranquillitas animi“ – erreicht ist und sich das wahre innere „Glück“ im Gegensatz zu dem trügerischen im Reich der Fortuna einstellt. Zwar spielen immer wieder neuplatonische Vorstellungen herein, vor allem die schon von Plotin geforderte Orientierung auf das Göttlich-„Eine“ (das 6m), das A der weltlichen Zerstreuung im „Vielen“ mahnend entgegensetzt. Trotz einer gewissen Verschiebung der Gewichte gegen Ende dieses Zwiegespräches dominieren aber von Anfang an bis zu den letzten Worten stoische Vorstellungen und Wertungen. Programmatisch berufen sich sogleich am Beginn des ersten Tags beide Gesprächspartner mehrmals auf die „Stoiker“. Indem A, das andere Ich von F, ihnen in seiner moralischen Ermahnung eine Schlüsselposition zuweist, demonstriert Petrarca, der Humanist, wie sehr er den Kirchenvater und sein eigenes augustinisch-mittelalterliches Erbe in der stoischen Vorstellungswelt verwurzelt sieht. „Denn wenn“, läßt er A sagen, „allein Tugend den Geist glücklich macht – und das haben Cicero und viele andere oft und mit den stärksten Gründen erwiesen –, italienischen Editionen an (S. 489 f.), enthält einen gründlichen Kommentar auf neuem Forschungsstand, ein eingehendes Nachwort sowie eine Bibliographie der Spezialliteratur, auf die hier deshalb summarisch hingewiesen sei. 140 Vgl. Pierre Courcelle: Ptrarque lecteur des Confessions, in: Rivista di cultura classica e medievale, Bd. 1, 1959, S. 26 – 43; Carlo Segre: ‘Il mio segreto‘ del Petrarca e le ‘Confessioni‘ di Sant’ Agostino, in: C.S.: Studi petrarcheschi, Firenze 1911, S. 1 – 127. 141 Conf. VIII 11, 27.

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dann ist es völlig unausweichlich, daß auch nichts außer dem Gegenteil der Tugend vom Glück abbringen kann […]“. Darauf entgegnet F in der typischen Rolle des noch zu Unterweisenden, der trotz gewisser Kenntnisse noch nicht zur vollkommenen Einsicht gelangt ist (dem gleichen, schon in der Antike beliebten Schema folgt später Lipsius in seinem Traktat De constantia): „Natürlich erinnere ich mich daran. Du bringst mich auf die Lehren der Stoiker, die den allgemein verbreiteten Ansichten fernstehen und der Wahrheit näher sind als dem praktischen Leben“142 – eine Anspielung auf Ciceros Schrift Paradoxa Stoicorum, in der die Lehren der Stoiker als im Wortsinn „paradox“ (parà dóxan: „entgegen der gängigen Meinung“) vorgestellt werden. Doch versichert F nach einer erneuten Mahnung von A: „Ich zweifle nicht, daß die Sätze der Stoiker den Irrtümern des Volkes vorzuziehen sind“.143 In einem so hohen Maße wissen sich A und F in der stoischen Tradition und in ihrer Bedeutung für die Lebensführung bewandert, daß A zu F, der die stoische Ruhe des Gemüts, die tranquillitas animi, noch nicht erreicht hat, sagen kann: Wenn sich jedoch einmal der Tumult in deinem Inneren gelegt hat, dann wird, glaub mir, der dich umgebende Lärm zwar deine Sinne treffen, nicht aber deinen Geist bewegen. Und um nicht längst Bekanntes deinen Ohren zuzumuten: Du hast zu diesem Thema einen Brief Senecas, der nicht ohne Nutzen ist [gemeint ist der 56. der Briefe an Lucilius], und hast dessen Schrift De tranquillitate animi, auch hast du zur Heilung dieser ganzen seelischen Krankheit das vorzügliche dritte Buch von Ciceros Tusculanae Disputationes, die er Brutus widmete.144

Daß Petrarca gerade den in der christlichen Welt mit besonderer Autorität ausgestatteten Kirchenvater stoische Rezepte empfehlen läßt, zeugt erstens von seinem Wissen, welche große Bedeutung die Stoa für 142 S. 34: „Nam si sola virtus animum felicitat, quod et a Marco Tullio et a multis sepe validissimis rationibus demonstratum est, consequentissimum est ut nichil quoque nisi virtutis oppositum a felicitate dimoveat […] Recordor equidem; ad stoicorum precepta me revocas, populorum opinionibus aversa et veritati propinquiora quam usui.“ 143 S. 34: „[…] stoicorum sententias publicis erroribus preferendas esse non dubito“. 144 S. 208 f.: „Quod si unquam intestinus tumultus tue mentis conquiesceret, fragor iste circumtonans, michi crede, sensus quidem pulsaret, sed animum non moveret. Ac ne nota pridem auribus tuis ingeram, Senece de hac re non inutilem epystolam habes et librum eiusdem De Tranquillitate animi; habes et de tota hac mentis egritudine tollenda librum M. Ciceronis egregium, quem ex tertie diei disputationibus in Tusculano suo habitis ad Brutum scripsit.“

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Augustinus hatte,145 zweitens von seiner Absicht, die eigene Hochschätzung der nichtchristlichen Autoren christlich zu legitimieren, drittens von dem schon auf ältere Tradition zurückgehenden und noch bis ins 17. Jahrhundert oft unternommenen Versuch, die nichtchristliche Antike mit der christlichen Lehrtradition in Einklang zu bringen. Zwar zitiert Petrarca zustimmend die Rezepte, welche die Stoa seit ihren griechischen Anfängen besonders im Hinblick auf die Affekttherapie empfohlen hatte. Aber er kennt aus seiner Cicero-Lektüre auch die ernstzunehmenden Einwände gegen die Auswüchse und Einseitigkeiten der Stoa. Er kennt auch die Regulative, vor allem aus der peripatetischen Philosophie. Die Kritiker der Stoa wandten sich gegen die rigorose Bekämpfung der Affekte und vollends gegen das stoische Ideal der Apathie vorzugsweise mit dem Argument, daß die Affekte von Natur aus vorhanden sind und die Stoiker deshalb, wie Cicero einmal pointiert feststellt, in Widerspruch zu ihrer eigenen Forderung des naturgemäßen Lebens („secundum naturam vivere“) geraten – eine Kritik, die bis in die Neuzeit ungezählte Male wiederholt wurde, so von Descartes in seinem Trait des passions, von Molière und dem Fabeldichter La Fontaine.146 Während die Stoiker strenger Observanz die Affekte radikal bekämpfen und das extreme Ideal der Apathie propagieren, setzen die Peripatetiker auf die Metriopatheia: auf die Mäßigung der Affekte zu einem Mittelwert hin, der sie weder strikt verneint noch ihnen freien Lauf läßt. Diese Strategie orientiert sich an der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, die als „Tugend“, d. h. als das zu erstrebende Beste ( !qet¶) immer den Mittelwert zwischen den Extremen definiert. Dem entsprechend und auch in Übereinstimmung mit der gemäßigten sogenannten mittleren Stoa, auf deren Hauptvertreter Panaitios sich Cicero bezog, läßt Petrarca seinen fiktiven Augustinus sagen: „Ich meine, man muß in jeder Lage einen Mittelweg anstreben“, und er wendet sich sogar gegen den sonst hochgehaltenen, aber doch 145 Hierzu Gérard Verbeke: Augustin et le stocisme, in: Recherches Augustiniennes, Bd. 1, Paris 1958, S. 67 – 89. Ragnar Holte: Batitude et sagesse: Saint Augustin et le probl me de la fin de l’homme dans la philosophie ancienne. Paris 1962. Charles Baguette: Le Stocisme dans la formation de saint Augustin (Univ. de Louvain Ph. Diss. 1968). Michel Spanneut: Le Stocisme et Saint Augustin, in: Forma Futuri: Studi in onore del Cardinale Michele Pellegrino, Torino 1975, S. 896 – 914 (mit Literatur-Übersicht). Marcia Colish (wie Anm. 74), Bd. 2, S. 142 – 238. 146 Vgl. die Belege bei Michel Spanneut: Permanence du stocisme de Znon Malraux, Gembloux 1973, S. 283 f.

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auch oft zur Härte der alten Stoa tendierenden Seneca, indem er direkt aus den Briefen an Lucilius zitiert:147 Deshalb fordere ich nicht von dir, dich an den Maßgaben jener zu orientieren, die sagen: „Für das Leben der Menschen reicht Wasser und Brot. Dafür ist niemand zu arm. Wer damit seine Bedürfnisse stillt, kann sich an Glück sogar mit Jupiter selbst messen […]“. Solche Sprüche klingen nämlich ebenso großartig wie sie den Ohren der Menschen seit jeher lästig und verhaßt sind. Um deiner Seelenkrankheit beizukommen, lehre ich dich deshalb nicht, deine Natur abzulegen, sondern sie zu beherrschen.148

Um die peripatetische Metriopatheia149 zu exemplifizieren, wählt Petrarca den Zorn-Affekt. Nachdem sich F über seine gelegentlichen Zorn-Anfälle ausgelassen hat, belehrt ihn A: Weil ich von solchen Sturmböen weder für dich noch für sonst jemanden einen Schiffbruch fürchte, kann ich es ohne weiteres akzeptieren, daß du dich hier mit der Mäßigung der Peripatetiker begnügst, falls du nicht die Vorschriften der Stoiker zu erfüllen vermagst, die meinen, die Krankheiten der Seele mit der Wurzel ausreißen zu müssen.150

Der Zorn galt den Stoikern so sehr als ein affektives Hauptübel,151 daß Seneca eine Schrift De ira verfaßte152 und Lactanz, der den stoischen Lehren am stärksten verpflichtete Kirchenvater, erhebliche Mühe hatte, in einer eigenen kleinen Schrift De ira dei 153 die im Alten Testament

147 Epist. Nr. 25, 4. 148 S. 144: „Mediocritatem sane in omni statu expetendam censeo. Non igitur ad illorum statuta te revoco, qui aiunt: ,Satis est vite hominum panis et aqua; nemo ad hec pauper est, intra que quisquis desiderium suum clausit, cum ipso Iove de felicitate contendit […]‘. Sunt enim ut magnifice sic auribus hominum importune pridem odioseque sententie. Itaque, ut infirmitati tue morem geram, exinanire naturam non doceo, sed frenare“. 149 Zu deren medizinisch-therapeutischem Aspekt vgl. Fritz Wehrli: Ethik und Medizin. Zur Vorgeschichte der aristotelischen Mesonlehre, in: Museum Helveticum 8, 1951, S. 36 – 62. 150 S. 164: „At quia nullum ex huiusce flatibus aut tibi aut alteri vereor naufragium, facile patiar, ut si stoicorum promissa non attingis, qui morbos animorum radicitus se vulsuros spondent, sis in hac re perypateticorum mitigatione contentus.“ 151 Vgl. Paul Rabbow: Antike Schriften ber Seelenheilung und Seelenleitung auf ihre Quellen untersucht. I: Die Therapie des Zorns. Leipzig-Berlin 1914. 152 Vgl. Janine Fillion-Lahille: Le De Ira de Sn que et la philosophie stocienne des passions. Paris 1984. 153 CSEL 27, 1. Vgl. die Ausgabe: Laktanz: Vom Zorne Gottes. Eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von H. Kraft und A. Wlosok, 4. Auflage

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zentrale Vorstellung vom zornigen Gott zu verteidigen. Petrarca kann nicht umhin, sein gelehrtes Wissen über die Stoa und namentlich über deren Lehre von den Affekten – den leitmotivisch hervorgehobenen „Krankheiten der Seele“ – zugleich mit dem psychagogischen Verfahren der Stoiker voll zur Geltung zu bringen. Exemplarisch zeigt sich Augustinus in der für den stoischen Psychotherapeuten seit der Antike festgeschriebenen Rolle des Leitenden und Mahnenden, der den noch von Affekten beunruhigten Adepten in freundschaftlich besorgter Zuwendung, d. h. mehr mit Zureden und praktischen Ratschlägen als mit abstrakten Argumenten auf die richtige Bahn der „Vernunft“ und damit zur stoischen „Ruhe des Gemüts“ zu bringen versucht. „Consilium“ ist ein von Seneca bevorzugtes und empfohlenes Verfahren.154 Augustinus leitet sein „consilium“ zum paradigmatischen Affekt des Zorns mit Worten ein, welche die schon in der antiken Stoa und dann in den mittelalterlichen Sentenzensammlungen, schließlich weit in den Humanismus hinein beliebte Methode zeigen, die stoische Lebenshaltung in Merksätzen einzuprägen: Sooft dir deine Lektüre nützliche Sätze bietet, von denen du deinen Geist angeregt oder gezügelt fühlst, sollst du dich nicht auf deine Geisteskraft verlassen, sondern sie dir tief ins Gedächtnis einprägen und sie dir mit großem Eifer vertraut machen: damit du wie erfahrene Ärzte, wo und wann auch immer eine Krankheit auftritt, die keinen Aufschub verträgt, die Heilmittel kennst, als wären sie in deinem Geist aufgezeichnet. Denn wie im menschlichen Körper, so gibt es auch in der Seele gewisse Leiden, die so schnell zum Tode führen, daß keine Hoffnung auf Rettung besteht, wenn die heilende Behandlung aufgeschoben wird.155 Darmstadt 1983 (Texte zur Forschung. Bd. 4). Die Auseinandersetzung mit den Stoikern in Kap. 5. Vgl. ferner Kap. 13. 154 Eine Schlüsselstelle in Senecas Epistulae ad Lucilium lautet (38, 1): „Am meisten bringt ein Gespräch voran, weil es in kleinen Abschnitten eindringt in die Seele: Vorträge, ausgearbeitet und vorgetragen, wenn eine Menge zuhört, bieten mehr Getön, weniger Vertrautheit. Die Philosophie ist ein guter Rat: einen guten Rat gibt niemand mit lauter Stimme“ („Philosophia bonum consilium est: consilium nemo clare dat“). Ähnlich heißt es in Epist. 48, 6: „Vis scire, quid philosophia promittat generi humano? Consilium“. 155 S. 210 f.: „Quotiens legenti salutares se se offerunt sententie, quibus vel excitari sentis animum vel frenari, noli viribus ingenii fidere, sed illas in memorie penetralibus absconde multoque studio tibi familiares effice; ut, quod experti solent medici, quocunque loco vel tempore dilationis impatiens morbus invaserit, habeas velut in animo conscripta remedia. Sunt enim quedam sicut in corporibus humanis sic in animis passiones, in quibus tam mortifera mora est ut, qui distulerit medelam, spem salutis abstulerit.“

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Obwohl A an der schon angeführten früheren Stelle gerade für seinen Gesprächspartner F vom Zorn keinen „Schiffbruch“ befürchtete, rechnet er nun zu den gefährlichsten, weil plötzlichen Emotionen den Zorn: „Zu diesen [Emotionen] gehört meiner Meinung nach an erster Stelle der Zorn. Nicht umsonst ordnen diejenigen, die die Seele in drei Teile eingeteilt haben, den Platz über ihm der Vernunft zu, wobei sie die Vernunft wie in einer Burg im Kopf ansiedeln, den Zorn in der Brust und die Begierde in der Gegend unter dem Zwerchfell“.156 Das Secretum ist nicht nur in seiner Grundkonzeption stoisch, sondern auch im Repertoire seiner Gleichnisse. Schon im Schrifttum der antiken Stoa kehren sie stereotyp wieder.157 Sie erhalten geradezu eine Kennungsfunktion. Dazu gehört eine ausgeprägte nautische Metaphorik, etwa der Vergleich der durch Affekte in Turbulenzen gerissenen Psyche mit einem Schiff, das von stürmischen Winden auf hoher See hin- und her geschleudert wird. Die zusätzlich gern verwendete Metapher des Steuermanns – des „gubernators“ – meint die in allen Stürmen der Affekte (und auch der wetterwendischen Fortuna) sich souverän behauptende ratio und die Willenskraft. Der kämpferischen Bemühung um die „Tugend“ gilt eine – Petrarcas Temperament nicht entsprechende, aber später von Justus Lipsius systematisch bevorzugte – militärische Metaphorik. Nicht zuletzt wählen die Stoiker im Hinblick auf ihr intensives therapeutisches Engagement eine dem Verfasser des Secretum umso sympathischere medizinische Terminologie. Diese geht von der sokratischen „Seelentherapie“ (heqape¸a xuw/r) aus und ist allen philosophischen Schulen der Antike einschließlich der epikureischen gemeinsam, doch erhält sie in der Stoa die größte Bedeutung. Schon von der Hauptinstanz der alten Stoa, von Chrysipp, ist eine Schrift ber die Heilung der Seele (heqapeutijºr) bezeugt. Der berühmte Arzt Galen berichtet von dieser Schrift Chrysipps und nennt sie ein „therapeutisches Büchlein“ (heqapeutij¹m bibk¸om) für die „Leiden der Seele“.158 Cicero erklärt in seinen ganz stoisch geprägten Gesprchen in Tusculum: „Est enim animi medicina philosophia“.159 Epiktet vergleicht 156 S. 212: „In quibus primum obtinere locum reor iram, cui non frustra rationis sedem superpositam esse diffiniunt hi, qui in tres partes animam diviserunt: rationem in capite velut in arce, iram in pectore, concupiscentiam subter precordia collocantes.“ 157 Zu diesem Thema vgl. Karl-Hermann Rolke: Bildhafte Vergleiche bei den Stoikern. Hildesheim 1975. 158 SVF III, Nr. 457. 159 Cicero: Tusculanae disputationes III 3, 6.

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seinen Hörsaal mit einer ärztlichen Ambulanz: mit einem Qatqe?om,160 Seneca nennt den Philosophen gerne einen Arzt (medicus) und läßt ihn heilsame Medizin verabreichen (medicina). Petrarca nahm in seinem Studium der stoischen Texte mit wachem Interesse auch solche stoischen Topoi wahr, um sie dann zu reinszenieren. Ein anderer, von ihm ebenso gern aufgegriffener Topos ist der Vergleich des Vernunftsitzes mit einer festen Burg, von der aus die Affekte entweder beherrscht oder, wenn sie wie ein feindliches Heer heranstürmen, zurückgeschlagen werden. Kaum hat A in der zitierten Stelle den Sitz der Vernunft mit einer „Burg“ verglichen, nimmt F das Stichwort auf und spricht von der „Burg des Kopfes“ und der „Vernunft, die dort wohnt“.161 Analog beruft er sich bald auf „die Festung der Vernunft“ („arcem rationis“),162 bald greift A wieder ein mit den Worten: „Jetzt aber, so sollst du wissen, wirst du zu jener Festung gerufen, in der allein du vor den Angriffen der Leidenschaften sicher sein kannst“,163 und noch eindringlicher gegen Ende des Werks: „Der Feind bedrängt dich von hinten und attackiert dich von vorn; die Mauern beben, in denen du belagert sitzt“.164 Es ist aufschlußreich, daß Petrarca die typisch stoische Suprematie der Vernunft, der Ratio, trotz der primär nicht auf Vernunft gegründeten, sondern transzendent in göttlichen Geboten verankerten Ethik des Christentums gerade durch den von ihm fingierten Kirchenvater Augustinus so entschieden vertreten läßt. Hier scheint eine von mehreren Bruchstellen zu liegen, an denen die Synthese von stoischer und christlicher Ethik ihre Grenze findet. Der versierte Cicero-Kenner Petrarca muß auch gewußt haben, daß die Vorstellung von der Burg, die gegen den Ansturm der Affekte schützt, auf die Stoiker selbst bezogen wurde: In Ciceros Traktat De divinatione (I 10) sagt einer der Gesprächspartner: „du verteidigst die Burg der Stoiker“ – „arcem Stoicorum defendis“. Mehr noch: An exponierter Stelle, in der Vorrede zum 1. Teil seiner in der Tradition Senecas stehenden und bis in die frühe Neuzeit hinein außerordentlich wirkungsreichen stoischen Schrift De remediis utriusque fortunae greift Epiktet: Diss. 3, 23, 30. S. 214 f.: „[…] capitis arcem et rationem […], qui illic inhabitat.“ S. 182. S. 338: „Nunc autem ad illam arcem te vocari noveris, in qua sola tutus esse potes ab incursibus passionum“ 164 S. 394: „hostis instat a tergo et in faciem insultat; parietes tremunt in quibus obsessus es.“ 160 161 162 163

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Petrarca nicht nur einfach diese Vorstellung auf; vielmehr geht aus dem Kontext hervor, welche identifikatorische Bedeutung sie für ihn selbst besitzt. Ähnlich wie er im Canzoniere (Rerum vulgarium fragmenta) mit dem Namen Laura beziehungsreich spielt, tut er dies hier mit seinem eigenen Namen und gibt zugleich zu erkennen, warum er seinen ursprünglichen Familiennamen Petracco (es sind noch andere, ähnliche Namensformen überliefert) in Petrarca umwandelte. Der zweite Teil des gewählten Namens enthält die „Burg“ – arx, arcis! Im Secretum nimmt sich Petrarca die typisch stoische Ermahnung (admonitio), die er durch seinen Seelenarzt Augustinus erfährt und die er auch immer wieder eigens thematisiert, zwar zu Herzen, sein Widerstand aber wächst, als Augustinus seinen beiden stärksten „Leidenschaften“ mit dem Appell an die stoische Vernunft beizukommen sucht: der Liebe und dem Verlangen nach Ruhm, der sich für Petrarca mit dem unstillbaren Drang zum Lesen und Schreiben von Büchern verbindet. Und schließlich endet das Gespräch mit innerer Notwendigkeit asymptotisch, als Augustinus die wiederum typisch stoische, aber zugleich auch christliche meditatio mortis bemüht, um alles, was den Menschen an das Irdische fesselt, als vergänglich zu entwerten. Denn Augustinus beteiligt sich an diesem Gespräch ja nur als imaginierter geistiger Gesprächspartner und wohnt mitsamt der „Wahrheit“, die ihn begleitet, schon „im Himmel“.165 Damit entrückt das stoische Ethos samt dem christlichen, sofern es wie von dem Gesprächspartner Augustinus zu einer unbedingten Forderung an das real zu führende Leben und an den notwendigerweise im Leben stehenden Menschen erhoben wird, ins Utopische. „Doch jetzt, während wir sprechen“, sagt F gegen Ende, „warten auf mich viele und große, freilich noch irdische Aufgaben“;166 und obwohl er den „Weg“, den A ihm gewiesen hat – den Weg zur stoischen „Tugend“, der zugleich an das christliche „itinerarium mentis in deum“ erinnert – durchaus anerkennt, muß er gestehen: „Aber ich kann mein Verlangen nicht zügeln“, nämlich das Verlangen, die irdischen Möglichkeiten wahrzunehmen. Und mit seinen letzten Worten bedauert er die Unmöglichkeit der stoischen tranquillitas animi wie die Unerreichbarkeit eines Weltzustands jenseits der Fortuna, an deren Bannung den Stoikern so sehr gelegen war: „Oh möchten sich mir […] 165 S. 396. 166 S. 398: „Sane nunc, dum loquimur, multa me magnaque, quamvis adhuc mortalia, negotia expectant“.

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die Wogen der Seele glätten, möchte doch Stille in der Welt herrschen und nicht Fortuna feindlich lärmen“.167 Erstaunlich und aufschlußreich ist es, daß Petrarca aus der Argumentation seiner Augustinus-Figur gerade das Zentrum der Augustinischen Theologie fast ganz ausspart. Augustinus preist schon im Vorwort zu De civitate dei als wichtigste christliche Tugend die Demut („virtus humilitatis“) gegenüber der „superbia“ der Heiden. Deren „Tugenden“, heißt es später, seien nur selbstbezüglich „aufgeblasene“ (inflatae) und der superbia zuzurechnende – also eigentlich „Laster“, vitia.168 Hier gibt es keine stoische Virtus mehr. Auch übergeht Petrarca fast ganz den problematischsten Teil der Augustinischen Theologie, die Gnadenlehre, die alle – durch die Erbsünde immer schon unterminierte – menschliche Leistung im Bereich der „Tugenden“ zugunsten der Gnade entwertet. Augustinus geht so weit, an die Stelle der menschlichen Freiheit das Schrecknis der Prädestination zu setzen. Diese läßt weniger an das Fatum der Stoiker denken als an eine aufgrund der Entscheidungsmacht eines persönlichen Gottes absolutistisch ausphantasierte Fortuna. Gerade die Gnadenlehre Augustins, die bereits im Kampf der alten Kirche gegen den Pelagianismus durch ein Konzil sanktioniert worden war,169 greift Luther später auf und Pascal macht sie zu einem Haupteinwand gegen das Autonomie- und Autarkie-Postulat der Stoiker. Die zugrundeliegende pessimistische Anthropologie, die mit Berufung auf die Erbsünde die Unfähigkeit des Menschen zur Tugend: das „non posse non peccare“ betont, rückt die Stoa ins Licht eines falschen und noch dazu hybriden Optimismus.170 Petrarca nennt 167 S. 398 f.: „Sed desiderium frenare non valeo […] O utinam […] subsidantque fluctus animi, sileat mundus et fortuna non obstrepat“ 168 civit. XIX 25: „Nam licet a quibusdam tunc verae et honestae putentur esse virtutes, cum ad se ipsas referuntur, nec propter aliud expetuntur; etiam tunc inflatae ac superbae sunt: et ideo non virtutes, sed vitia judicanda sunt“ (PL XLI, 656). 169 Das Konzil von Orange (Aurasiacum) entschied im Jahre 529 den Streit um die Gnadenlehre gegen den britischen Mönch Pelagius (gestorben etwa 420), der den Menschen für frei und imstande hielt, das Gute von sich aus zu tun. Die Kirche schloß sich Augustinus an, der den Menschen aufgrund des Sündenfalls und der daraus resultierenden Erbsünde diese Fähigkeit absprach. Nur aufgrund gnadenhafter Prädestination kann er nach Augustinus und der entsprechenden Konzilsentscheidung zum Guten finden. 170 Zum modernen Niedergang der christlichen Erbsündenanthropologie vgl. Anselm Schubert: Das Ende der Snde. Anthropologie und Erbsnde zwischen Reformation und Aufklrung. Göttingen 2002.

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im Zwiegespräch des Secretum zwar Augustins De civitate dei ausdrücklich als eine seinem alter ego F vertraute Lektüre,171 läßt seine AugustinusFigur aber nur beiläufig von Demut und Gnade sprechen. Als wüßte er nichts vom Übel der Erbsünde, das alles schon uranfänglich verdirbt und deshalb Gnade und Erlösung notwendig macht, fordert A die stoische virtus und appelliert an die autonome stoische „Vernunft“, welche die Affekte beherrschen soll. Mehr noch: Indem F am Ende zu verstehen gibt, daß er die „civitas dei“ zugunsten der „civitas terrena“ vorerst dahingestellt sein lassen will und außerdem das stoische Tugendideal als eine, wenn auch schöne Illusion erkennt, gewinnt er skeptische Distanz. Die fixierenden Diskurse weichen einer human einsichtsvollen, weil alles undogmatisch offen lassenden Lebenshaltung.

II Historisch-anthropologische Konturen des Neustoizismus. Justus Lipsius und die ,niederländische Bewegung‘ in Europa. Der Neustoizismus172 ist trotz seiner Eigendynamik so wenig wie die antike Stoa eindimensional geistesgeschichtlich und philosophischproblemgeschichtlich zu verstehen. Er bildete sich in einem komplexen 171 S. 372. 172 Vgl. Léontine Zanta: La Renaissance du Stocisme au XVIe si cle. Paris 1914 (Reprint Genf 1975). Gerhard Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius. 1954. Neudruck 1989. Das zentrale Kapitel dieses grundlegenden Werks ist hier auf S. 575 – 628 wieder abgedruckt. Die entsprechenden Kapitel bei Michel Spanneut: Permanence du Stocisme de Znon Malraux. Gembloux 1973. Julien Eymard d’Angers: Recherches sur le stocisme aux XVIe et XVIIe si cles. Hildesheim/New York 1976 (Sammlung früher erschienener Artikel). Günter Abel: Stoizismus und Frhe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin/New York 1978. Jacqueline Lagrée: Juste Lipse et la restauration du Stocisme. Paris 1994. Einen Überblick bieten auch neuere Tagungsbände: Juste Lipse (1547 – 1606). Colloque international en mars 1987, hg. von Aloïs Gerlo. Brüssel 1988 (darin der Forschungsbericht von Gerlo, S. 9 – 24); Juste Lipse (1547 – 1606) en son temps. Actes du colloque de Strasbourg 1994, hg. von Christian Mouchel. Paris 1996; The World of Justus Lipsius. A Contribution towards His Intellectual Biography. Proceedings of a Colloquium Held under the Auspices of the Belgian Historical Institute in Rome (Rome, 22 – 24 May 1997) = Bulletin de l’Institut historique de Rome 68, hg. von Marc Laureys. Brüssel/Rom 1998 (darin der Forschungsbericht von Rudolf De Smet, S. 15 – 42); Justus Lipsius, Europae lumen et columen. Proceedings of the In-

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Wirkungsgefüge heraus, das zu einer neuen Anthropologie führte, denn gleichzeitig erzielten die modernen Naturwissenschaften und die Medizin große Durchbrüche, ohne sich noch auf eine religiöse oder philosophische (etwa die immer noch dominante Aristotelische) Autorität zu stützen, ja im Widerspruch zu derartigen Autoritäten. Aus den durch Erfahrung, Experiment und rationaler Methode, nicht zuletzt durch die Anwendung neuerfundener Instrumente (Fernrohr, Mikroskop) zustandegekommenen Erkenntnissen und Entdeckungen entstand ein neues Selbstbewußtsein. Ähnlich wirkte die durch Renaissance und Humanismus nobilitierte antike Originalüberlieferung mit ihrer weltlicheren Geistesart. Infolge der Erfindung des Buchdrucks und der zahlreichen Universitätsgründungen wurde sie zu einem Maßstab des immer einflußreicheren neuen Gelehrtenstandes. Obwohl mystifizierende Strömungen wie der von Marsilio Ficino initiierte und neuplatonisch überformte Florentiner Platonismus und eine teilweise hermetisch vermittelte Naturphilosophie sich ebenfalls ausbreiteten, erhielt die Stoa, die von der Ratio – dem Logos – einer gleichermaßen naturhaft wie vernünftig organisierten Weltordnung ausging und ein autonom zu gestaltendes menschliches Dasein propagierte, im größeren geschichtlichen Zusammenhang ihre besondere mentalitätsbildende Bedeutung. Statt auf den heteronomen, aufgrund des Sündenfalls der Gnade und der Erlösung bedürftigen Menschen zielte sie auf Autonomie und Autarkie, insbesondere auf eine autonome Sittlichkeit (virtus) und menschliche Würde (dignitas). Programmatisch hatte Seneca in seinem Hauptwerk, in den Briefen an Lucilius, die Virtus dem rationalen Vermögen des Menschen zugeordnet und dies ausdrücklich als weiterzuvermittelnde stoische Lehre bezeichnet: „Schnell und mit sehr wenigen Worten kann Folgendes überliefert werden: ein einzigartiges Gut sei die virtus, keines existiere mit Sicherheit ohne die virtus, und die virtus selbst sei in unserem besseren Teil, dem rationalen, angesiedelt“ – „Cito hoc potest tradi et paucissimis verbis: unum bonum esse virtutem, nullum certe sine virtute et ipsam virtutem in parte nostri meliore, id est rationali, positam“.173 Die Stoa kultivierte nicht das Ideal demütiger Frömmigkeit, sondern das des Weisen, der seine Weisheit nicht von der Gottesfurcht („timor domini initium saternational Colloquium Leuven 17 – 19 September 1997, hg. von Gilbert Tournoy, Jeanine de Landtsheer, Jean Papy. Leuven 1999. 173 Seneca: Epist. 71, 32.

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pientiae“174) herleitet, sondern aus eigener rationaler Kraft anstrebt, um sie als höchste Form menschlicher Selbstvollendung zu erringen. Er erreicht sie nicht vorrangig in theoretischen Kenntnissen, sondern im konkreten Verhalten und im politischen Handeln. Solche Weisheit sollte die stoische Autarkie und die stoische „Beständigkeit“ (constantia) garantieren: eine existentielle Selbststabilisierung, wie sie, zahlreichen griechischen Vorgängern folgend, Seneca in seinem Traktat De constantia sapientis dargelegt hatte. Der Begründer des Neustoizismus im 16. Jahrhundert, Justus Lipsius (1547 – 1606), verlieh diesem Programm neue Aktualität durch seine über Generationen hinweg in mehr als achtzig Auflagen und Übersetzungen verbreitete Schrift De constantia libri duo, qui alloquium praecipue continent in publicis malis, Leiden 1584 (5. Auflage 1591; ultima editio castigata, Antwerpen 1599 u. ö.).175 Zu dem komplexen Geschehen, in dem der Neustoizismus seine Konturen gewann, gehört auch der politische Veränderungsprozeß. Nach den lockeren und uneinheitlichen, weitgehend noch vorstaatlichen Herrschaftsverhältnissen des Mittelalters bildete sich der frühneuzeitliche Staat heraus – eine durchorganisierte, Partikularstrukturen einebnende, auf Sozialdisziplinierung und Gewaltmonopol angelegte, schließlich zum Absolutismus überleitende Machtformation, die sich in der Reaktion auf die chaotischen Erschütterungen während der Zeit der europäischen Religionskriege aushärtete. Im gleichen Reaktionszusammenhang entstand der Neustoizismus. Er wollte die Menschen individuell härten und festigen. Sogar eine epochenübergreifende Gesetzlichkeit zeichnet sich ab. Sie macht die „Renaissance“ des Stoizismus vollends individualpsychologisch und sozialpsychologisch verständlich. Denn wie schon im ersten Jahrhundert v. Chr. die Bürgerkriegsgreuel der späten römischen Republik und im ersten Jahrhundert n. Chr. die cäsarische Willkürherrschaft eines Caligula, eines Claudius und Nero die soziale Ordnung zerrütteten, die Menschen extremer Unsicherheit aussetzten und sie der Orientierung beraubten, so auch die im Gefolge der Reformation ausgebrochenen Religionskriege. Im 16. Jahrhundert zogen sie zuerst Frankreich schwer in Mitleidenschaft. 174 Sprche Salomonis 9, 10; vgl. Hiob 28, 28: „die Furcht des Herrn, das ist Weisheit“. 175 Vgl. Ferdinand van der Haeghen: Bibliographie Lipsienne. Oeuvres de Juste Lipse. 3 Bde, Gent 1886 – 1888. Im Folgenden wird die Schrift trotz einiger Defizite in der Präsentation des lateinischen Textes nach der Ausgabe zitiert: Justus Lipsius: De constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch-Deutsch. bersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann. Mainz 1998.

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Im Dreißigjährigen Krieg verwüsteten sie Deutschland. Die Stoa bot zunächst individuell inneren Halt und Zuflucht. Die Leitfiguren des Neustoizismus, in Frankreich Du Vair, in den ebenfalls von schweren kriegerischen Auseinandersetzungen erschütterten Niederlanden Lipsius, brachten dies in ihren wichtigsten Schriften zum Ausdruck. Nachdem Kaiser Karl V. den burgundischen Herrschaftsbereich, zu dem damals die Niederlande zählten, bereits im Jahr 1551 der spanischen Linie des Hauses Habsburg zugeteilt hatte, betrieb sein Nachfolger Philipp II. eine rigorose Rekatholisierung der zu erheblichen Teilen protestantischen Niederlande. Er führte die Inquisition ein und beraubte die Niederländer ihrer alten Rechte und Freiheiten, um seine königliche Zentralgewalt voll auszubauen. Es kam zu schweren Unruhen. Als der von Philipp II. nach den Niederlanden entsandte Herzog Alba mit brutaler Härte vorging, durch Sondergerichte zahlreiche Bluturteile fällen ließ, auch gegen Provinzstatthalter, die sich den Protestanten gegenüber tolerant gezeigt hatten, brach 1568 der Freiheitskampf der Niederländer gegen Spanien aus, der stufenweise bis zur endgültigen Eigenstaatlichkeit der Niederlande im Westfälischen Frieden von 1648 führte. Zugleich kam es zu konfessionell bedingten inneren Wirren. Es waren gerade die Jahre, in denen sich auch in Frankreich die Lage bis zur Pariser ,Bluthochzeit‘ in der Bartholomäusnacht 1572 zuspitzte. Im gleichen Jahr entschloß sich Lipsius, dem niederländischen Chaos zu entfliehen – diesen Fluchtreflex verarbeitete er später stoisch in der Eingangspartie seiner Schrift De constantia. Constantia, eine seit Seneca kanonisierte stoische Tugend, zeigt sich hier zunächst durchaus konkret als ,Beständigkeit‘ im Ausharren und Ertragen vor Ort. Möglich wird dies aber nur demjenigen, der eine innere, seelische Beständigkeit ausbildet. Diesen Ansatz der ,Constantia‘ überformt Lipsius noch dialektisch, indem er gerade aus der immer wieder betonten extremen „Unbeständigkeit“ der äußeren Verhältnisse die Notwendigkeit herleitet, die innere „Beständigkeit“ zu erreichen.176 Er untermauert diese Argumentation durch Zitate aus seinem LieblingsAutor Seneca, der in den Briefen an Lucilius das extrovertierte und nur Unruhe erzeugende „Reisen“ als nutzlos darstellt.177 Das auf innere 176 De constantia, 1. Buch, 17. Kapitel: „Constantiam animo imprime, ex hac inconstanti & desulteriora levitate omnium rerum“ (S. 118): „Die Beständigkeit präge deinem Geist ein angesichts der unbeständigen und haltlosen Flüchtigkeit aller Dinge“. 177 Seneca: Epist. 28, 1 – 3; 104, 13 – 20.

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Autonomie und Autarkie konzentrierte Ethos der Stoa bot einen Rettungsanker in den fast ganz Europa aufrührenden politischen Stürmen. So erklärt sich der enorme europäische Erfolg der Schrift De constantia. Sie traf den Nerv der Zeit. In sozialer und politischer Hinsicht war das stoische Ethos allerdings mindestens ambivalent. Es konnte zu einer individualistischen Rückzugsmentalität führen, die sich auf bloße Selbstbewahrung konzentrierte und die Welt ihrem Lauf überließ oder im Absolutismus sogar systemstabilisierend wirkte. Doch war speziell die für die stoische Tradition maßgebende römische Stoa auch auf das Handeln (actio), nicht zuletzt auf politisch aktive Gestaltung ausgerichtet. Seneca betont, daß auf Worte die Taten folgen müssen, auf die Theorie die Praxis.178 Die stoische Zentraltugend, die virtus, meinte wie schon das von „vir“ abgeleitete Wort selbst sagt, auch männliche Tüchtigkeit und Tatkraft, und die stoische Grundsituation der „probatio“ zielte nicht bloß auf passive Bewährung im Hinnehmen von Schicksalsschlägen, sondern ebensosehr auf die Bewährung aktiver virtus. Mit beidem verbindet sich „fortitudo“.179 Die von Cicero in stoischen Kontexten nachdrücklich geforderte „dignitas“ war zwar zunächst als persönlich-humane „Würde“ definiert, aber auch als Lebenshaltung, die sich auf soziale Wirkung und Anerkennung bezog. Noch mehr gilt dies für die ebenfalls von Cicero betonte „honestas“.180 Schon Xenophon (etwa 430 – 355 v. Chr.) hatte in der stoisch kanonisierten Fabel des Prodikos, die er in seinen Memorabilien (Erinnerungen an Sokrates) erzählte, die durch stoische !qet¶ (virtus) zu erlangende til¶ (honor, honestas) als eine im Vaterland öffentlich zuerkannte „Ehre“ mit höchster Wertschätzung bedacht.181 178 Seneca: Epist. 108, 35: „[…] ut quae fuerint verba, sint opera“; 108, 38: „faciant quae dixerint“. Noch weitergehend Epist. 108, 37: „Non est loquendum, sed gubernandum“. 179 Vgl. Ciceros Definition der Fortitudo mit ausdrücklicher Berufung auf Chrysipp in: Tusc. disput. IV 24, 53 (= SVF III, Nr. 285). 180 Zur stoischen Fundierung dieses Begriffs mit ausdrücklicher Berufung auf den Begründer der Stoa, auf Zenon: Cicero, Acad. Pr. II 131 (= SVF I, Nr. 181) sowie Cicero, Acad. Post. I 35 (= SVF I, Nr. 188). Aufschlußreich auch die christliche Polemik gegen diesen weltlichen Wertbegriff der stoischen Ethik bei Augustinus, ebenfalls mit Hinweis auf Zenon und die „gesamte Stoa“ („tota illa porticus“): Contra Acad. III 7, 16 (= SVF I, Nr. 186). 181 Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Peter Jaerisch mit Literaturhinweisen von Rainer Nickel. Düsseldorf 2003 (Tusculum Studienausgaben). Die Fabel des Prodikos erzählt

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Schließlich reichten die stoischen Ideale der constantia und der disciplina aus dem individuellen Tugendkanon in den politischen und militärischen Wertekanon hinein. Constantia bedeutete nicht bloß persönliche Beständigkeit, sondern auch das Standhalten in öffentlichen Herausforderungen. Und disciplina war nicht nur die durch Selbstdisziplinierung zu erringende Affektkontrolle, sondern auch gesellschaftliche und militärische Disziplin. Niemand hat dies konsequenter und wirkungsreicher propagiert als Justus Lipsius in seinen aus kurzen Sentenzen und Weisungen zusammengestellten, den einschlägigen antiken Zitaten-Vorrat griffig mobilisierenden und auf praktische Anwendung in der zeitgenössischen Gegenwart konzentrierten Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, die europaweit zahlreiche Auflagen erlebten,182 und in seinem militärwissenschaftlichen Werk. Beides wurde für das moderne europäische Staatswesen, so für die Oranische Heeresreform und für Brandenburg-Preußen maßgebend, wie der Historiker Gerhard Oestreich nachgewiesen hat. In geistesgeschichtlicher Perspektivierung hatte bereits Wilhelm Dilthey in seinen Studien das Fortwirken der Stoa im Denken der Neuzeit als Ferment und zugleich als Ausdruck des beginnenden Säkularisierungsprozesses dargestellt. Ebenso aktuell aber blieb der Versuch, die stoische Moralphilosophie mit dem Christentum zu harmonisieren. Das gilt auch, obwohl in unterschiedlichem Maße, für die Hauptautoritäten des Neustoizismus: für Justus Lipsius und Du Vair. Justus Lipsius selbst betonte immer wieder, auch in seinen Briefen, es gehe ihm um die Übereinstimmung zwischen der „alten Philosophie“ der Stoa und der „christlichen Wahrheit“. Inwiefern solche Aussagen dem Selbstschutz vor religiösen Anschuldigungen dienen sollten oder schlicht Ausdruck einer auch sonst zu beobachtenden Anpassungsbereitschaft sind (Lipsius wurde sogar Hofhistoriograph Philipps II.), läßt sich schwer abschätzen. Für manche Ausgaben seiner Werke, besonders diejenigen, die in katholischen Ländern erschienen, mußte er ,gereinigte’ Fassungen herstellen. Aus welchen Gründen auch immer: Lipsius versuchte die Harmonisierung, indem er nach einer schon lange approbierten Methode vor allem Vorstellungen Senecas mit christlichen Glaubenslehren analogisierte. Xenophon in Buch II, 1 (S. 90 – 99). Darin sagt die als allegorische Figur dargestellte Areté abschließend zu Herakles, daß durch sie, die „Tugend“, ihre Freunde „in ihrem Vaterlande geehrt werden“ (t¸lioi d³ patq¸sim). 182 Vgl. die mit Übersetzung und Kommentar versehene Edition: Justus Lipsius: Politica. Six books of Politics or Political Instruction, ed. with translation and introduction by Jan Waszink. Assen 2004.

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Aber auch die Unterschiede markiert er, so etwa, wie schon dargelegt, hinsichtlich der Problematik von Fatum und Vorsehung. Neben Seneca, dessen Werk er zu einem Mittelpunkt seines humanistischen Interesses machte, gehören Cicero und Epiktet zu den stoischen Quellen in seinem 1584 erstmals erschienenen und bald europaweit verbreiteten Erfolgsbuch De constantia. Darin überträgt er das alte, besonders von Seneca gepflegte Genre der Konsolationsliteratur von der privaten auf die öffentlich-politische Sphäre. Ausdrücklich betont er dies als seine Neuerung: „Trost suchte ich angesichts öffentlicher Übel; wer vor mir?“ – „Solatia malis publicis quaesivi, quis ante me?“ Zu einem Markstein in der gesamten Geschichte des Stoizismus und zu einem Schlüsselwerk wurde De constantia aber, weil hier erstmals Hauptthemen der stoischen Philosophie in zusammenhängender Folge und mit einem aktuellen Geltungsanspruch vorgetragen wurden. In zwei weiteren großen Studien nennt Justus Lipsius die Stoa und das zentrale Paradigma Seneca als Hauptgegenstand schon im Titel: Manuductionis ad Stoicam philosophiam libri III: L. Annaeo Senecae aliisque scriptoribus illustrandis und Physiologiae Stoicorum libri III, L. Annaeo Senecae aliisque scriptoribus illustrandis. Beide Werke erschienen erstmals in Antwerpen1604.183 In der Manuductio stellt Lipsius umfassend, immer wieder auch um die Affinitäten zum Christentum bemüht, die stoische Morallehre dar, in der Physiologia sehr detailliert die naturphilosophischen Positionen der Stoa, deren monistisch-pantheistischen Grund er indessen christlich zu retuschieren sucht. Für seine Zeitgenossen etablierte er so ein Denk- und Werte-System, an dem Maß zu nehmen war. Dies umso mehr, als er mit seinen erstmals im Jahr 1589 erschienenen Politicorum sive civilis doctrinae libri sex und seinen militärwissenschaftlichen Werken schon einen öffentlichen, auf aktive Gestaltung des Staatswesens zielenden Anspruch erhoben hatte. Zwar spricht er in der Abhandlung De constantia bereits von den „öffentlichen Übeln“, aber angesichts dieser öffentlichen Übel („in publicis malis“) legt er hier doch noch eher auf individuelle Selbstrettung des von ihnen bedrohten Einzelnen Wert. Mit der stoischen Besiegung der Affekte, die der Selbststabilisierung und Unabhängigkeit – der „Autarkie“ – dienen soll, inszeniert er in den Anfangskapiteln des zweiten Buches sogar den Rückzug in den „Garten“ als eine dem „Philosophen und Weisen“ 183 Vgl. die immer noch maßgebende Edition: Justus Lipsius: Opera omnia, postremum ab ipso aucta et recensita: nunc primum copioso rerum indice illustrata. 4 Bde Wesel 1675.

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angemessene Möglichkeit. Diese mehr mit dem Namen Epikurs verbundene Rückzugsphilosophie war durchaus auch in Senecas Preis des kontemplativen Aufenthalts im „Garten“ und bei Cicero greifbar („Si hortum et bibliothecam habes, nil deerit“) und die Berufung auf sie lag umso näher, als der Freund Langius, der Dialogpartner in De constantia, ein berühmter Blumenzüchter war. Wie sehr sich dieses Vorstellungsmuster mit dem Namen des Lipsius verband, zeigt das Bild von Rubens,184 auf dem Lipsius in Gesellschaft stoisch Gleichgesinnter und mit einem auf den „Garten“ anspielenden Strauß von Tulpen zu sehen ist – den berühmten holländischen Tulpen. Bei Lipsius jedoch erscheint der gemeinsame Gang mit Langius in dessen Garten alsbald als Versuchung. Legte am Beginn des ersten Buches die Wahrnehmung „öffentlicher Übel“ die Flucht aus dem von Kämpfen zerrissenen Vaterland nahe, so erscheint am Beginn des zweiten Buches der Rückzug in den „Garten“ als Form der inneren Emigration, die sowenig wie die äußere Emigration eine Alternative im Sinne der Stoa bildet – nur zur Entspannung darf der „Garten“ gelegentlich dienen. Rückzug aus dem politischöffentlichen Leben in ein beschauliches Dasein ist nicht grundsätzlich als Lebensform zu bejahen. Später wandte sich Lipsius denn auch umso entschiedener der aktiven Gestaltung des Gemeinwesens zu. Dafür konnte er sich auf die römisch-stoische Tradition berufen. Schon Cicero hatte ja das stoische virtus-Ideal in diesem Sinne formiert und angesichts der katastrophalen Bürgerkriege in der Endphase der römischen Republik für ein entsprechendes Engagement im Gemeinwesen plädiert. Und obwohl bei Seneca, dem entschiedensten Vertreter des stoischen Wertesystems, die individuelle ,Seelsorge‘ überwiegt, setzte er doch auch diese typisch römisch-politische Richtung der Stoa fort. Eigentlich steht das Programm aktiver politischer Verantwortung und Gestaltung im Widerspruch zu der für die Stoa grundlegenden Lehre vom Fatum (Heimarmene). Ihr zufolge und auch in der von christlichen Autoritäten wie Augustinus weiter ausgebauten Konzeption der Vorsehung ist alles schicksalhaft vorherbestimmt. Diese schon in der römischen Antike, insbesondere in Ciceros Schrift De divinatione erörterte Schwierigkeit führte bis weit in die Moderne hinein zu der großen Debatte über die Möglichkeit des freien Willens und eines entsprechenden Handlungsspielraums trotz des fatalistisch-deterministischen Weltverständnisses. Dem weiteren stoischen Problem, wie das auf dem immanenten Kausalnexus beruhende Fatum mit einer übergeordneten 184 Hierzu der Beitrag von Klaus Mönig im vorliegenden Werk.

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Vorsehung in einen widerspruchsfreien, auch mit dem Christentum einigermaßen konformen Zusammenhang zu bringen sei, begegnet Lipsius mit der traditionellen, auch schon von Boethius (V, 1 ff.) verwendeten Auskunft, die Vorsehung sei „in Gott“, während das Fatum zwar von Gott herkomme, aber „in den Dingen“, also weltimmanent walte.185 Daß dies allerdings nicht der biblischen Lehre vom wunderbaren Eingreifen eines jenseitigen Gottes in das Weltgeschehen kompatibel ist, bringt er ausdrücklich zur Sprache.186 Insbesondere die politischen Schriften des Lipsius sind durch eine rationalisierende Grundtendenz bestimmt. Inwiefern sie sich der Orientierung an der stoischen Lehre vom alles bestimmenden Logos verdankt, läßt sich angesichts der übergreifenden neuzeitlichen Entwicklung hin zu einer durchrationalisierten Zivilisation schwer beurteilen. Mindestens war eine solche Philosophie geeignet, diese Entwicklung zu befördern und zu legitimieren, umso mehr, als sie mit entschiedenen Wertvorstellungen in Gestalt stoischer „Moral“ einen Anspruch auf Verbindlichkeit erhob. Diese Moral ist jedoch doppelgesichtig. Einerseits soll sie zur Sozialdisziplinierung der Menschen beitragen, bei Lipsius bis hin zur politischen und militärischen Disziplin – „disciplina“ ist schon ein stoisch-römisches Schlagwort bei Cicero, der den menschlichen Wert „in voluntate, studio, disciplina“ sieht (De fato V 11); andererseits arbeitet sie auf die Autonomie des Individuums hin, das unabhängig von allen Wirren, aber auch von allen Anforderungen der Zeit durch Selbstdisziplinierung für sich bestehen soll. Wie schillernd und ambivalent diese Berufung auf den Logos, auf die „recta ratio“ ist, zeigt nahezu die gesamte Geschichte der Stoa. Und wie das geschichtlich überaus wirksame Beispiel des Lipsius demonstriert, erhält der Stoizismus seine lebendige Physiognomie erst aus der jeweiligen historischen Situation. Hatte Justus Lipsius seinen Neustoizismus auf Seneca gegründet, so ging Guillaume du Vair (1556 – 1621), der sich mit seiner Schrift Trait de la Constance et Consolation s calamits publiques (1594) ganz offenkundig schon im Titel an Lipsius’ Bestseller De constantia anschloß, philologisch von Epiktet aus, dessen Encheiridion er auch übersetzte. Die eigentliche Motivation für seine Hinwendung zum Stoizismus lag wie für Lipsius in der Erfahrung der Religions- und Bürgerkriege. Zwar 185 De constantia, 1. Buch, 19. Kapitel (S. 140): „Itaque illa in deo est, & ei soli tribuitur: hoc in rebus, & ijs adscribitur“. 186 Vgl. das ausführliche Zitat S. 51.

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hatte Frankreich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine kulturelle Blüte erlebt. Die Renaissance erreichte von Italien her das Land in der Regierungszeit Franz’ I. Der führende Humanist Georges Budé (1467 – 1540) gründete das Collège de France und die Bibliothèque Nationale; großartige Schloßbauten entstanden, darunter der Louvre und Fontainebleau. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aber brachen die Religionskriege zwischen der katholischen Partei und den protestantischen, zunehmend calvinisierten Hugenotten aus. Die konfessionellen Kämpfe verbanden sich mit dem innenpolitischen Konflikt zwischen den adelig-ständischen Machtinteressen und den absolutistischen Tendenzen der Krone. In der Regierungszeit von Katharina von Medici (seit 1559) bildete die Bartholomäus-Nacht im Jahre 1572 einen blutigen Höhepunkt. Bei der Vermählung ihrer Tochter Margarete mit König Heinrich von Navarra ließ die Königin den Führer der Hugenotten und Tausende seiner Anhänger in der Nacht des hl. Bartholomäus (24. August) ermorden – die berüchtigte Pariser „Bluthochzeit“. Nach dem erneuten Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen den Religionsparteien unter Heinrich III. (1574 – 1589) gewährte dessen Nachfolger Heinrich IV. 1598 im Toleranz-Edikt von Nantes Religionsfreiheit und förderte den Wiederaufbau des vom Bürgerkrieg schwer getroffenen Landes. Es ist aufschlußreich, daß du Vairs stoisch inspirierte Werke187 gerade in den Jahrzehnten entstanden, in denen das Unheil voll hereinbrach. Und ebenso aufschlußreich ist es, daß sein Zeitgenosse Jean Bodin angesichts des vom Religionskrieg zerrissenen Landes in seinem vier Jahre nach der Bartholomäusnacht erschienenen Werk Les six livres de la Rpublique für die unbedingte Autorität eines souveränen Königtums plädiert, das nur der Moral und den Naturgesetzen verpflichtet ist. Das ist die auf die Neutralisierung der Religionsstreitigkeiten angelegte politische Antwort auf das Zeitgeschehen. Du Vairs neustoische Schriften geben die philosophische Antwort. Er fordert ein von raison und volonté gesteuertes Handeln. Als Geistlicher – er wurde sogar Bischof von Lisieux – christianisiert er allerdings die stoische Gedankenwelt entschieden im Sinne der Orthodoxie, und er spiritualisiert sie mit neuplatonischen Vorstellungen, vor allem in seinem Traktat De la Sainte Philosophie. In dieser Hinsicht geht er deutlich weiter als Lipsius, obwohl er sich in seinem Werk La philosophie morale des Stoiques (1585) 187 Vgl. Guillaume du Vair: Oeuvres. Paris 1641. Reprint in 2 Bänden, Genf 1970 (mit Korrekturen und Beigaben).

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ausgiebig auf Epiktet beruft und an dem stoischen Grundsatz festhält, recht leben heiße naturgemäß leben. Er fügt hinzu: dies bedeute, sich nicht von den „passions“ hinreißen zu lassen,188 sondern der „droite raison“ (der „recta ratio“ der Stoiker) zu folgen. Vor dem Hintergrund eines naturwidrigen Bruder- und Bürgerkriegs gewann die Losung „naturgemäß leben“ ebenso einen historisch-konkreten Appellcharakter wie die stoische Bekämpfung der Leidenschaften durch die Vernunft angesichts eines von vernunftwidrigem Fanatismus zerstörten Gemeinwesens. Du Vairs Schriften erreichten zahlreiche Auflagen und auch durch Übersetzungen fanden sie weite Verbreitung, vor allem in England. Zwar bildete sich in den Niederlanden und in Frankreich der Neustoizismus besonders intensiv aus, aber er verbreitete sich auch durch die anderen Länder Europas nicht nur in Übersetzungen und literarischen Werken. Der deutsche Humanist Kaspar Schoppe (Gaspar Scioppius, 1576 – 1649) systematisierte in seiner Schrift Elementa philosophiae stoicae moralis (Mainz 1606) die stoische Ethik, wobei er hauptsächlich Seneca zugrundelegte, in Spanien verfaßte der bedeutende Autor Francisco de Quevedo sogar mehrere stoische Traktate: La cuna y la sepultura para el conocimiento propio y desengaÇo de las cosas ajenas (1634) und Nombre, origen, intento, recomendaci n y descendencia de la dotrina estoica (1635).189 Auch mehrere englische Autoren publizierten neustoische 188 Zum Hintergrund und zum Kontext dieses Themas gehören die zeitgenössischen französischen Moralisten. Vgl. Anthony Levi: French Moralists. The Theory of the Passions 1585 to 1649. Oxford 1964. 189 In: Obras completas, ed. Felicidad Buendía, Madrid 1958, S. 1190 – 1226 und S. 970 – 991. Nur die Zeit bis 1612 behandelt die fundierte Darstellung von Arnold Rothe: Quevedo und Seneca. Untersuchungen zu den Frhschriften Quevedos. Genf/Paris 1965 (Kölner Romanistische Arbeiten, N.F. 31). Karl Alfred Blüher: Seneca in Spanien. Untersuchungen zur Geschichte der Seneca-Rezeption in Spanien vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. München 1969. Zu Quevedo als dem bedeutendsten Repräsentanten des spanischen Neustoizismus: S. 326 – 370. Blüher gibt einen umfassenden, sorgfältig belegten Überblick über alle Stationen der spanischen Seneca-Rezeption und bezieht auch wichtige Handschriften, frühe Drucke, Seneca-Übersetzungen, Seneca-Kommentare und SenecaBiographien sowie Epiktet mit ein, insbesondere das weitverbreitete Werk von Francisco Sanchez de las Brozas: Dotrina del estoico fil sopho Epicteto. Salamanca 1600 (Barcelona 1612, Pamplona 1612, Madrid 1614 und 1632; Ausgabe in: Opera omnia, 4 Bde, Genf 1766, Bd. III, S. 499 – 592). An Baltasar Graciáns Seneca-Rezeption (S. 371 – 447) demonstriert Blüher die – auch schon früher zu beobachtende – Umkodierung der ethischen Affektenlehre der Stoa in lebenstaktische Verhaltensregeln und in eine praktische Kunst der Lebensklug-

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Schriften, so der Bischof Joseph Hall, der Seneca entschieden christianisierte, und Thomas Gataker, der eine Abhandlung De disciplina Stoica (1652) seiner Ausgabe von Marc Aurels Selbstbetrachtungen beifügte; nicht zuletzt breitete sich der politische Lipsianismus in England aus.190 Ein zentrales Thema: Weisheit. Die stoische Idealfigur des Weisen von der Antike bis in die Neuzeit. Christlich-antistoische Kritik: Bidermanns ,Cenodoxus‘ als literarisches Paradigma Ein Zeitgenosse von Lipsius und Du Vair, Pierre Charron191 (1541 – 1603), hatte ebenfalls wesentlichen Anteil an der Hochkonjunktur des Neustoizismus, besonders natürlich in Frankreich, aber auch in Übersetzungen. Sein Erfolgsbuch Les trois livres de la sagesse erschien 1601 und erreichte bis 1672 neununddreißig Auflagen. Deutsch erschien es unter dem Titel Das Liecht der Weißheit (Ulm 1668) und sogar zwei Jahrhunderte nach der Erstausgabe unter dem Titel Drei Bcher von der Weisheit (Frankfurt 1801). Daß dieses Werk auf den Index gesetzt wurde, obwohl Charron Theologe war, verrät bereits, daß er sich relativ weit von der kirchlichen Orthodoxie unabhängig macht, um menschliche Autonomie, insbesondere auf den Gebieten der Moral und der „Weisheit“ zu fordern – Weisheit war seit der Antike und ganz besonders in der Stoa ein Leitbegriff. Schon in der stoischen Tradition, zuerst in der alten griechischen Stoa und dann in der römischen Stoa hat er eine große Spannweite.192 Sein historisches und wirkungsgeschichtliches Profil gewinnt der stoische Weisheitsdiskurs vor dem Hinterheit. Henry Ettinghausen: Francisco de Quevedo and the Neostoic movement. Oxford 1972. 190 Hierzu: Audrey Chew: Joseph Hall and Neo-Stoicism, in: Publications of modern Language Association 65, 1950, S. 1130 – 1145. Vgl. R. M. Wenley: Stoicism and its influence. London/Calcutta/Sidney 1925. Adriana A. McCrea: Constant Minds. Political Virtue and the Lipsian Paradigm in England. Toronto/Buffalo/ London 1997. Vgl. auch Robert C. Evans: Jonson, Lipsius and the Politics of Renaissance Stoicism. Durango, Colorado 1992. Im vorliegenden Werk ist die Abhandlung von Paul Goetsch über Shakespeare hinaus einschlägig. 191 Vgl. Pierre Charron: Les trois vrits (1595); Discours (1600); De la sagesse (1601, 1604). Reprint Paris 1986 (Corpus des oeuvres de philosophie en langue française). Vgl. auch: Pierre Charron: Toutes les oeuvres. Paris 1635. Nachdruck in zwei Bänden Genf 1970. 192 Vgl. die zahlreichen Zeugnisse in SVF III, Nr. 544 – 684.

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grund und in Konkurrenz mit anderen Weisheitskonzeptionen, die deshalb im folgenden kurz zu skizzieren sind.193 Platon orientiert seine Vorstellung von Weisheit am Reich der Ideen: am Guten und Schönen in seiner höchsten Form. Folglich kann vollkommene Weisheit nicht innerweltlich vom Menschen realisiert werden, sondern bleibt Gott vorbehalten – ein der christlichen Weisheitslehre sehr ähnliches Weisheitskonzept, wie zu sehen sein wird. Im Phaidros sagt Sokrates zu seinem Gesprächspartner, es sei etwas (unangemessen) Großes, selbst einen herausragenden Menschen wie Homer oder Solon einen Weisen zu nennen, denn dies, so meine er, komme eigentlich allein Gott zu (he` lºm\ pq´peim ; Phaidros 278 d); was die Menschen anbetreffe, so könne man sie allenfalls Philosophen, d. h. Weisheitsfreunde nennen. Die Philo-sophia schlägt kraft der durch den Eros ermöglichten Teilhabe (l´henir) lediglich eine Brücke zum Reich der Sophia. Während Sophia die (Gott vorbehaltene) Kenntnis der Ideen, der ontologischen Urverhältnisse (t_m !e· emtym) ist, kann Philosophia nur das Streben nach dieser Kenntnis sein (Platon, Def. 414 b). Aristoteles lehnte die platonische Lehre von der Teilhabe (l´henir) ab, da sie für ihn eine Überschreitung der Grenze (wyqislºr) darstellt. Daher nähert Aristoteles die Sophia der Philosophia an, und zwar beschränkt auf den innerweltlichen Bereich. Sie ist ein besonderes (,fachspezifisches‘) Wissen, das immerhin die ursächlichen Zusammenhänge kennt. Sophia im strengen Sinn ist sogar erst dasjenige Wissen, das die „ersten Ursachen und Anfänge“ kennt, die pq_tai aQt¸ai ja· !qwa¸.194 Dieses Wissen hebt die Weisen über die anderen Menschen hinaus. Ihre „Philosophie“ unterscheidet sich einerseits von der Art der „Theologie“, die Aristoteles als das vorwissenschaftliche Bemühen der

193 Zur riesigen Spezialliteratur müssen hier wenige Hinweise genügen: Hans Leisegang, Artikel Logos, in: RE XIII/1, 1926, Sp. 1035 – 1081; ders.: Artikel Sophia, in: RE III A/1, 1927, Sp. 1019 – 1039. Vor allem Ulrich Wilckens, Artikel Sophia, in: Theologisches Wçrterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) VII, 1966, S. 465 – 475 und S. 497 – 529; ebda der Artikel Sophia von Georg Fohrer, S. 476 – 496. Ursula Klima: Untersuchungen zu dem Begriff Sapientia von der republikanischen Zeit bis Tacitus. Bonn 1971. Hermann von Lips: Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament. Neukirchen 1990 (Umfangreiche Bibliographie, die sich sowohl auf das Alte Testament wie auf das Neue Testament bezieht). 194 Aristoteles, Metaphysik 1, 2 p 982 b 8 f.; vgl. 1, 1981 b 28; 1, 9 p 992 a 24 f..

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Mythologen versteht,195 andererseits von den Sophisten. Im Unterschied zu Platon ist Weisheit für Aristoteles eine rein theoretische, „dianoëtische“,196 keine praktische Tugend. Das stoische Weisheitsideal prägte sich am markantesten in Senecas Traktat De constantia sapientis aus197 und Diogenes Laërtios würdigte es umfassend: Er präsentierte alle Qualitäten des Weisen doxographisch.198 Über viele Jahrhunderte hinweg hatte dieses Weisheitskonzept schon in der Antike und auch in der Neuzeit die größte Breitenwirkung, weil die Stoiker es entschieden anthropologisch ausformten, indem sie das Ideal des „Weisen“ entwarfen. Weisheit, Sophia, ist für sie eine Grundtugend, die Theorie und Praxis in sich vereinigt, weil sie dem Logos entspricht, der die Einheit des Kosmos konstituiert. Der Weise stimmt mit diesem Logos geistig-erkenntnishaft überein und zugleich befindet er sich auch praktisch-ethisch mit der kosmischen Gesetzlichkeit, mit dem Logos in Übereinstimmung. Die Weisheit des Weisen ergibt sich aus der Kongruenz mit dem Logos des Weltganzen, in das er, der monistischen Immanenzlehre der Stoa zufolge, nicht bloß wie die anderen Wesen einbezogen ist: Der Logos des Weltganzen repräsentiert sich in ihm. Daher gewinnt der Weise in der stoischen Lehre eine Allheitskompetenz, er kann nicht irren, er hat alle Tugenden und kann im pantheistischen Horizont der Stoa sogar als „göttlich“ bezeichnet werden. Obwohl die Weisheit des stoischen Weisen einer di²hesir, einer auf den Logos bezogenen unveränderlichen Grundhaltung entspringt,199 ist die Vorstellung vom „Weisen“ letztlich ein stoischer Idealentwurf, der dem nach solcher Vollkommenheit Strebenden, dem pqojºptym, als Orientierung dienen soll. Erst Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft diesen oft mißverstandenen und zu Unrecht ridikülisierten Idealentwurf des stoischen Weisen zutreffend charakterisiert.200 Nur als Stimulans erhält dieser seine Bedeutung, als – wie auch immer utopisches – Vorbild in der ausgeprägt pädagogischen und psychagogischen Lehre der Stoa. 195 Vgl. Werner Jaeger: Die Theologie der frhen griechischen Denker, Stuttgart 1953, S. 13 f., Belege in Anm. 15. 196 Nikomachische Ethik VI 3 p 1139 b 17. 197 Hierzu: Wilhelm Ganss: Das Bild des Weisen bei Seneca. Diss. Freiburg (Schweiz) 1952. 198 Diogenes Laërtios VII 117 – 125 und passim. 199 Zur di²hesir besonders aufschlußreich sind die differenzierten Darlegungen Plutarchs in seiner Schrift De virtute morali, cap. 3 (= SVF III, Nr. 459). 200 Vgl. die Ausführungen zu Kant S. 113 f.

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Eine ganz andere Valenz kommt der Weisheit im hellenistischen Judentum und im Christentum zu, und daraus resultieren bis weit in die Neuzeit hinein charakteristische Spannungen zum stoischen Weisheitskonzept, immer wieder auch entschiedene Auseinandersetzungen und Gegenprofilierungen. Übereinstimmung herrscht nur in einer Hinsicht: Die Weisheit nimmt einen sehr hohen Rang ein. Während im Alten Testament die in der Tora vorliegende Jahweweisung Weisheit ist und sonst meistens eine eher lebenspraktische und schlicht auf Frömmigkeit, auf der „Furcht des Herrn“ beruhende ,Weisheit‘ dominiert,201 stellt das Sirachbuch202 die Weisheit als eine nahezu unzugängliche himmlische Person dar. Sie wird nur durch eine besondere himmlische Gnade geoffenbart. Ja, die Weisheit gehört zu Gott selbst, der sie „vor allem andern“ (pqot´qa p²mtym) geschaffen hat. Im Weisheitslied (Sir 24) berichtet sie selbst von ihrer Präexistenz. In der sogenannten Weisheit Salomonis, einem aus Ägypten stammenden jüdisch-hellenistischen Text, erscheint die Weisheit ebenfalls als himmlische Person, sie lebt nun sogar in einer ,Symbiose‘ mit Gott203 und wird dem Menschen, der erst durch sie zum Weisen wird, nur durch Offenbarung zuteil. Sie ist demnach unverfügbar, man kann um sie nur beten (7, 7; 9, 1 – 18) und sie kommt als Pneuma (7, 7: pmeOla sov¸ar) über den Menschen. Obwohl hier teilweise sogar stoische Vorstellungen einfließen, so die Pneumalehre, zeichnet sich doch auch schon der später für das Christentum maßgebende und deshalb häufig zu antistoischer Polemik veranlassende Unterschied zur stoischen Weisheitskonzeption ab: Die Weisheit ist nun nicht mehr primär eine menschliche, sondern eine göttliche Qualität. Sie stammt nicht mehr aus dem immanenten Logos des Naturzusammenhangs, sondern wird von einer transzendenten Gottheit hergeleitet, bei der sie ihren „jenseitigen“ Sitz 201 Vgl. den Artikel Weisheit von H. Irsigler in: Neues Bibel-Lexikon. Bd. III, hg. von Manfred Görg und Bernhard Lang, Düsseldorf/Zürich 2001, Sp. 1076 – 1086 (mit umfassendem Literaturverzeichnis). Vgl. auch Horst Dietrich Preuß: Einfhrung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur. Stuttgart 1987. Donn F. Morgan: Wisdom in the Old Testament Traditions. Oxford 1981. 202 Vgl. Eckhard J. Schnabel: Law and Wisdom from Ben Sira to Paul. A traditional historical enquiry into the relation of law, wisdom, and ethics. Tübingen 1985. Vgl. auch Hans Heinrich Schmid: Wesen und Geschichte der Weisheit. Eine Untersuchung zur altorientalischen und israelitischen Weisheitsliteratur. Berlin 1966. Johannes Marböck: Weisheit im Wandel. Untersuchungen zur Weisheitstheologie bei Ben Sira. Bonn 1971. 203 Sap. 8, 3 f.: sulb¸ysim heoO 5wousa.

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hat. Deshalb kann sie lediglich sekundär dem Menschen zuteilwerden. Von der christlichen Sakralisierung der Weisheit zeugt bis heute am eindruckvollsten, bezeichnenderweise im griechisch geprägten Ostrom, die Hagia Sophia als zentrales Heiligtum der einstigen Kaiserstadt Konstantinopel. Eine für den Diffusionsprozeß der Stoa und zugleich für den zeitgenössischen Synkretismus aufschlußreiche – durch die Rezeption im Christentum auch einflußreiche – Weisheitslehre bietet der jüdischhellenistische Religionsphilosoph Philon von Alexandria (1. Jahrhundert n. Chr.), die geistige Leitfigur der alexandrinischen Juden. Philon, der stark von der stoischen Tugend-, Affekten- und Logoslehre geprägt ist,204 unterhielt Beziehungen zum römischen Kaiserhof. Im Jahre 39/40 führte er als schon älterer Mann eine Gesandtschaft dorthin. Seine Lebenszeit fällt also zum großen Teil mit der unmittelbaren Vorgeschichte und dann der Lebenszeit von Jesus zusammen. Philon bezeichnete Griechisch als seine Muttersprache und konnte kein Hebräisch. Seinem Hauptwerk, einem großen Kommentar zur Genesis, in dem er die stoische Methode der Mythenallegorese übernahm, um die alttestamentliche Ethik mit der griechisch-philosophischen zu verschmelzen, konnte er die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta zugrundelegen. Seine Weisheitslehre entwickelt er, wiederum als Allegorese biblischer Texte, vor allem in einer Schrift, welche die Editionen mit dem lateinischen Titel De migratione Abrahami versehen.205 Er entspricht nicht dem Sinn des griechischen Original-Titels Peq· !poij¸ar (etwa: ,Über das Weggehen‘, d. h. den Abschied von allen weltlichen Bindungen). Philon entwirft darin das Bild des Weisen nach dem Muster der Stoa, wenn auch mystisch radikalisierend, und er exponiert zugleich das aus Platons Symposion stammende Motiv der durch den Eros vermittelten Weisheit. Wesentlich aber im Hinblick auf die Rezeption und Transformation der stoischen Weisheitslehre, auch auf die in der Spätantike einsetzende mächtige asketische Bewegung, in der 204 Vgl. Edmund Turowski: Die Widerspiegelung des stoischen Systems bei Philon von Alexandreia. Leipzig 1927. Harry Austryn Wolfson: Philo. Cambridge/Mass. 1. Auflage 1947, 4. revidierte Auflage 1968. Das Verhältnis zur griechischen, inklusive der stoischen Ethik in Bd. I, S. 164 – 321; zur Logos- und Weisheitslehre Bd. II, S. 253 – 282. Burton L. Mack: Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum. Göttingen 1973. Ders.: Weisheit und Allegorie bei Philo von Alexandrien, in: St Philo 5, 1978, S. 57 – 106. 205 Philo, with an English translation by F. H. Colson and G. H. Whitaker in ten volumes. London/Cambridge, Mass. 1958. Bd. IV, S. 132 – 267.

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sich Stoa und Christentum gemeinsam wiederfinden, ist der Grundgedanke einer von allem Leiblich-Weltlichen sich entfernenden „Tugend“, die gerade den Weisen auszeichnet. Abraham, der Prototyp des Weisen, erhält den platonisch-stoischen Befehl: „Verlasse […] die irdischen Wege […] fliehe aus dem Gefängnis, dem Leib, und von dessen Gefängniswärtern, den Genüssen und Begierden“.206 Indem er diesem Befehl folgt – und er folgt ihm auch als pqojºptym durch eigene Übung ( !sj¶sei) und Lernen (lah¶sei) – beginnt er seine Wanderung hin zum göttlichen Reich der Weisheit, der Sophia.207 Noch weiter entfernt sich die Gnosis mit ihrer Weisheitskonzeption vom stoischen Verständnis einer immanent wenn nicht zu erreichenden, so doch zu erstrebenden Weisheit: Sophia ist hier strikt überweltlich-göttlich, fällt dann aus ihrem himmlischen Ursprungsbereich heraus und muß deshalb von oben her aus der Welt, die sie gefangen hält, erlöst, d. h. aus jeder innerweltlichen Kontamination befreit werden. In ähnlicher Schärfe zeigt sich der Gegensatz zwischen dem innerweltlichen, auf die Autonomie und Autarkie des Weisen zielenden Weisheitskonzept der Stoiker und einer überweltlich ausgerichteten Weisheitslehre im Christentum. Der maßgebende Text ist der 1. Korintherbrief des Paulus.208 Er knüpft an Jesaja 29, 14 an („Ich will die Weisheit der Weisen zunichte machen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen“), um alle Weisheit der Welt radikal abzuwerten (1. Kor. 1, 20 ff.): „Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht? […] die Juden fordern Zeichen, und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit“, und Paulus fährt fort, indem er sich auf die Gabe einer göttlich inspirierten Weisheit beruft, die alle weltliche Weisheit disqualifiziert (1. Kor. 2, 12 ff.): „Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist aus Gott, so daß wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist. Und davon reden wir nicht mit Worten, wie sie

206 De Migratione Abrahami 9 (S. 136/137). 207 De Migratione Abrahami 28 (S. 148/149). 208 Vgl. Karl-Gustav Sandelin: Die Auseinandersetzung mit der Weisheit in 1. Korinther 15. Abo 1976. Gerhard Sellin: Hauptprobleme des Ersten Korintherbriefes, in: ANRW II 25.4, 1987, S. 2940 – 3044.

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menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt […]“. Laktanz erklärte in seinen zwischen 304 und 313 n. Chr. verfaßten Sieben Bchern gçttlicher Unterweisungen (Divinarum institutionum libri VII), die (griechische) Philosophie sei wertlos und durch die christliche Religion widerlegt. Sokrates, so argumentiert er im dritten Buch, das unter dem Titel De falsa sapientia (ber die falsche Weisheit) steht, sei mit dem Wissen gestorben, nichts zu wissen! Darauf folgt das vierte Buch unter dem Titel De vera sapientia et religione (ber die wahre Weisheit und Religion). Seine Quintessenz lautet: Gott hat die Wahrheit durch die Propheten und seinen Sohn geoffenbart – darin allein besteht die Weisheit. Dennoch sucht Laktanz in dieser ersten lateinischen Gesamtdarstellung der christlichen Religion noch die Nähe zu heidnischen Autoren, so zu Seneca, und er ist der erste, der Vergils vierte Ekloge christlich umdeutet.209 Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis für das Fortwirken wesentlicher Züge und Eigenschaften des stoischen Weisen ist die Schrift des Ambrosius De Iacob et beata vita. 210 Zwar verschiebt sie die Letztbegründung der stoischen Haltung vom weltimmanenten Logos auf Gottes Wort und Gottes Gnade; aber auf diesem neuen Fundament steht das Vorbild des stoischen Weisen als biblisches Exemplum in Gestalt Jacobs: Ataraxia und Apatheia zeichnen ihn aus, er verkörpert die Virtus, weiß sich von Fortuna unabhängig und erhebt sich souverän über die Adiaphora: die äußeren Verhältnisse; mit seiner Ratio weiß er die Affekte und Leidenschaften zu beherrschen – allerdings mit einer vom göttlichen Gesetz bestimmten, nicht etwa autonomen Ratio. Der wirkungsreichste Kirchenvater, Augustinus, der in seiner noch stark unter dem Einfluß der Stoa stehenden Frühschrift De vita beata ein entsprechendes Bild des „sapiens“ entwirft (Kap. 25), definiert Weisheit später im biblisch-religiösen Sinn und läßt Mystisches einfließen: Gott selbst ist „Weisheit“ („Deus sapientia“),211 und dies vor allem deshalb, weil er mit dem „Wort“, dem Logos gleichgesetzt wird. Daraus folgt, daß gültige menschliche Weisheit, die sapientia hominis, lediglich Teilhabe an der sapientia dei ist,212 ja sapientia besteht im Besitz der allein seligmachenden Wahrheit: „Wir begreifen die Weisheit in der Erkenntnis und in der Liebe dessen, was immer ist […], was Gott ist“ – 209 210 211 212

Inst. 7, 24, 11. De Iacob et beata vita, ed. Carolus Schenkl, CSEL 32, 2. PL 32, 870; PL 41, 225; PL 42, 1035. PL 42, 1048.

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„intelligimus sapientiam in cognitione et dilectione eius, quod semper est […], quod est Deus“;213 „Weisheit, das ist die Kontemplation der Wahrheit, welche den ganzen Menschen befriedet und gottähnlich werden läßt“ – „sapientia id est contemplatio veritatis, pacificans totum hominem et suscipiens similitudinem Dei“.214 So offenkundig sich schon Paulus im ersten Brief an die Korinther gegen die Weisheit der Welt und speziell die der Griechen, d. h. gegen den Anspruch der den Adressaten seines Briefes vertrauten griechischen Philosophie wendet, und so entschieden Augustinus eine ganz bei Gott liegende, von der göttlichen Offenbarung hergeleitete oder durch mystische Teilhabe an Gott zu gewinnende Weisheit preist, so klar wird auch der Grund der Frontstellung gegen die griechische Philosophie: Sie setzte auf autonome menschliche Erkenntnis und, besonders ausgeprägt in der Stoa, auf ein Ethos, das im Weisen als dem Inbegriff eines „weltlich“ in sich vollendeten, autarken Daseins sein Idealbild erhielt. Zu ähnlichen Spannungen wie das curiositas-Verdikt der Confessiones führte in der Neuzeit Augustins Trennung von göttlich legitimierter sapientia und weltlicher scientia (modern und säkular gesprochen: von ganzheitlichem Orientierungswissen und fachspezifischem Einzelwissen) sowie sein Unternehmen, scientia nicht nur in eine subalterne Stellung an sich, sondern noch in ein Subordinationsverhältnis zur sapientia zu bringen.215 Entsprechende Thesen formuliert Augustinus in mehreren Schriften. Er ordnet die Wissenschaften (scientiae) der Weisheit (sapientia) unter und läßt sie allenfalls als Hilfsmittel gelten. Wer sie beherrscht, ist gelehrt, doctus, nicht sapiens. Gelehrt soll man dabei allerdings durchaus sein, nicht zuletzt, um die Bibel im Original hebräisch und griechisch lesen zu können. Es handelt sich um die christliche Radikalisierung einer in der antiken Philosophie weitverbreiteten Verachtung der Wissenschaften im Namen einer höheren „Weisheit“, die das Wesentliche verspricht – so schon Heraklit216 – oder 213 PL 37, 1760. 214 De sermone Domini in monte, PL 34, 1234. Vgl. Henri-Irénée Marrou: Augustinus und das Ende der antiken Bildung, zuerst Paris 1938, deutsche Übersetzung nach der 4. Auflage von 1958, Paderborn 1981, S. 467 – 470. 215 Vgl. das klassische Werk von Étienne Gilson: Introduction l’tude de Saint Augustin. Paris 1982 (erstmals 1928), darin das Kapitel ,La Sagesse‘, S. 149 – 163. 216 Vgl. das von Clemens von Alexandria überlieferte Fragment (Strom. V 115, 1 = Diels-Kranz 22 B 32): „Eins, das allein Weise, will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus benannt werden“ (4m t¹ sov¹m loOmom k´ceshai oqj 1h´kei ja· 1h´kei Fgm¹r emola).

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doch die wesentlichen menschlichen Belange betrifft, wie Sokrates, Epikur und die Stoiker verkünden. Epikur verachtete die auf Wissen ausgerichtete ,Kultur‘217 und die Wissenschaft, soweit sie nicht die !taqan¸a fördert,218 die Stoiker zeigen, wenn man von dem Universalgelehrten Poseidonios absieht, kaum ein über ihre spezifischen Fragestellungen hinausreichendes Interesse an der Wissenschaft. Dominant blieb das Anliegen, die Einheit ihrer Philosophie zu wahren, was deren entschieden monistisch-naturphilosophischem Grundansatz entsprach. Schon in der griechischen Stoa beschränkt sich Weisheit nicht auf Erkenntnis und Einsicht. Der Weise zeichnet sich wesentlich auch durch ethische Qualitäten aus: durch die richtige Lebenshaltung und Lebensführung, durch Tugend. Der Weise ist unabhängig und (innerlich) frei, Fortuna vermag ihm nichts anzuhaben. Ebenfalls schon in der griechischen wie dann auch in der römischen Stoa bewährt er sich im praktischen Leben, ja ausdrücklich auch in der politischen und familiären Verantwortung. Diogenes Laërtios berichtet in seinen Ausführungen über Zenon, in denen er zugleich eine Gesamtübersicht über die stoischen Grundpositionen gibt, Chrysipp habe in seinem Buch über die Tugenden gesagt, „der tugendhafte Mann sei sowohl theoretisch gebildet wie auch fähig, den Anforderungen des praktischen Lebens zu entsprechen“.219 Zu den Anforderungen des praktischen Lebens, die der wahrhaft Weise erfülle, rechnete Chrysipp ausdrücklich auch die Übernahme politischer Verantwortung. „An der Staatsverwaltung“, heißt es bei Diogenes Laërtios, „wird sich ihrer [der Stoiker] Ansicht nach der Weise beteiligen, sofern kein Hinderungsgrund vorliegt, wie Chrysipp im ersten Buch über die Lebensformen sagt“, und auf den Begründer der stoischen Schule bezieht er sich, wenn er fortfährt: „Auch heiraten werde der Weise und Kinder zeugen, wie Zenon in seinem Staate sagt“,220 ja er sei „von Natur gesellig und für das tätige Leben geschaffen“.221 Cicero in De finibus (III 68) referiert: „[…] daß der Weise das Staatswesen führt und verwaltet, und, da er naturgemäß lebt, sich einer Gattin verbindet und von ihr Kinder will“ – „[…] ut sapiens velit gerere et administrare rem publicam atque, ut e natura vivat, uxorem adiungere et velle ex ea liberos“. Gerade Cicero, der 217 218 219 220 221

Usener: Epicurea, Fr. 163: paide¸am p÷sam veOce, vgl. Cicero: de finibus 1, 71 ff. Epikur: Epist. 1, 79; 2, 85. Diogenes Laërtios VII 125 – 126. Diogenes Laërtios VII 121. Diogenes Laërtios VII 123.

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neben Seneca auch in der Zeit des Neustoizismus eine Autorität allerersten Ranges war – allein seine für die stoische Überlieferung zentrale Schrift De officiis erschien im 16. Jahrhundert in mehr als dreihundert Ausgaben und Übersetzungen! – gerade Cicero verkündete das Ideal des stoischen Weisen als eine Einheit von rechtem Wissen und rechtem Handeln. In diesem Sinne formuliert er die berühmte „laudatio sapientiae“ am Ende des ersten Buches seiner Schrift De legibus. Der Weise, so heißt es dort, „fühlt, daß er zur bürgerlichen Gemeinschaft geboren ist“ – „se ad civilem societatem natum senserit“.222 Nicht ohne Eitelkeit betont Cicero, der große Redner, die eminente Bedeutung der Beredsamkeit für die politische Gestaltungskraft. In seiner Schrift De oratore führt er als „Weise“ auch große Staatsmänner wie Lykurg, Solon und Perikles, Cato und Scipio auf und fordert „was nicht zu trennen ist: die Weisheit sowohl im Reden wie im Handeln“ – „quae non potest esse seiuncta, faciendi dicendique sapientiam“. Auch in der Sammlung des Stobaios ist immer wieder zu lesen, daß der Weise aufgrund von Erfahrung und Lebensklugheit seine von den stoischen Tugenden bestimmten Fähigkeiten „politisch“ bewähre.223 Es ist bezeichnend, daß die Worte sovºr (der Weise) und spouda?or (der Tüchtige, auf das Staatswohl Bedachte) synonym verwendet werden. Gerade diese vom stoischen „Weisen“ gelebte Verbindung von Theorie und Praxis, eine Verbindung, die zur vollendeten humanitas gehört, war eine Botschaft, die seit der Renaissance Gehör fand. Charron bezeichnet dieses ethische Ideal des Weisen und der Weisheit mit seiner zentralen Vorstellung der „prudhomie“. Sie ist eine superiore, durch „volonté“ – voluntas ist ein stoischer Hauptbegriff 224 – und durch die mit der universellen ratio übereinstimmende individuelle „raison“ zu erreichende freie Selbstvollendung. Wie schon die antike Stoa in ihre Vorstellungen vom Weisen integriert er in sie alle Tugenden, die in der Natur des Menschen angelegt und von der „raison universelle“ vorgeschrieben sind – und zwar aller Religion vorgängig. Auch die von ihm hervorgehobenen Entsprechungen von Physischem und Moralischem legen eine eigenwertige Weltlichkeit der Ethik nahe. Senecas Schrift De constantia sapientis hatte die von Lipsius im Titel seines Traktats De constantia hervorgehobene stoische Tugend der constantia vorrangig als Tugend gerade des Weisen dargestellt. In der stoischen Tradition, wie sie vor 222 De legibus I, 62. 223 SVF III, Nr. 567, Nr. 611. 224 Vgl. André-J. Voelke: L’ide de volont dans le stocisme. Paris 1973.

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allem Cicero, Diogenes Laërtios und Stobaios referieren, ist es allerdings die Allheit der Tugenden und Fähigkeiten,225 die den Weisen zu einem uomo universale macht: ein Renaissance-Ideal, das bei Charron in spezifisch stoischer Ausformung weiterwirkt. Es verbindet sich auch mit einem stolzen Bewußtsein menschlicher Autarkie und Autonomie, die sich durch „constance“ gesichert weiß. Vor dem Hintergrund einer christlich geprägten Kultur, die den Menschen als prinzipiell sündig und deshalb der Gnade und der Erlösung bedürftig auf ein Jenseits hin formiert, wird der Weise zum Inbegriff menschlich-„weltlicher“ Vollendung, die in einen über die Stoa hinausreichenden kulturellen Zusammenhang gehört. In diesem kommt es auf die Autonomie des Menschen an: auf seine freie Würde, auch auf seine schöpferischen Fähigkeiten, die ihn nicht mehr lediglich als Geschöpf und schon gar nicht als Sündenknecht erscheinen lassen. Der in den Jahren 1484 und 1485 in Florenz mit Marsilio Ficino, Angelo Poliziano und Lorenzo de’ Medici befreundete Giovanni Pico della Mirandola formulierte, wenn auch mit viel neuplatonischem und naturphilosophischem Beiwerk, in seiner Schrift De hominis dignitate 226 dieses Renaissance-Ideal: „nichts erscheine der Bewunderung würdiger als der Mensch“ („nihil spectari homine admirabilius“);227 der mit dem Schöpfergott des platonischen Timaios zu vergleichende Gott der mosaischen Genesis habe den von ihm geschaffenen Menschen dazu aufgerufen, nicht in engen und starren Grenzen zu leben wie die anderen Wesen, sondern frei in universell offener Gestaltungsmöglichkeit sich selbst zu bestimmen, also autonom sein Dasein zu formen: „Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, 225 Vgl. Cicero: de finibus III 75: „Zu Recht sagt man, alles sei sein, der allein den [rechten] Gebrauch von allem zu machen weiß“ – „recte eius omnia dicentur, qui scit uti solus omnibus“; fragend Cicero, Acad. Pr. II 136: „alles sei überall Sache des Weisen?“ – „omnia, quae ubique essent, sapientis esse?“ im Zusammenhang eines Referats über die nach stoischer Lehre dem Weisen zukommende Allheit von Tugenden und Fähigkeiten. Im dritten Buch seiner Manuductio nimmt Justus Lipsius in einer langen Aufzählung die Allheitsprädikate des Weisen auf (Manuductio III, 3 – 22), mit deutlichen Anspielungen auf Ciceros für dieses Thema ebenfalls relevante Paradoxa Stoicorum. 226 Giovanni Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate – Rede ber die Wrde des Menschen. Lateinisch/Deutsch. Auf der Textgrundlage der Editio princeps herausgegeben und übersetzt von Gerd von der Gönna. Stuttgart 1997 (RUB Nr. 9658). Die Editio princeps erschien 1496, die Rede war aber schon 1486 entstanden. 227 S. 4/5.

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dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen“ („Tu nullis angustiis coercitus pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam [sc.: naturam] praefinies“);228 und dann folgt die berühmte Wendung: „[…] damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst“ („ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tu te formam effingas“).229 Pico integriert in seine Ausführungen zwar auch die stoische Moralphilosophie, vor allem das stoische Anliegen der Affektbändigung,230 aber er strebt dem Ideal eines auch philosophischen uomo universale zu und huldigt deshalb einem eklektizistischen Synkretismus, der alle philosophischen Schulen und geistigen Strömungen zu berücksichtigen versucht, statt sich auf eine einzige zu fixieren. Es sei „ein Zeichen von Engstirnigkeit, sich ausschließlich innerhalb der Mauern der Stoa oder der Akademie aufzuhalten“ („angustae est mentis intra unam se Porticum aut Academiam continuisse“).231 Ganz auf den „Weisen“ konzentriert sich dann das universalistische Konzept des Carolus Bovillus (Charles de Bouelles) in seinem Liber de sapiente von 1509, das die Grundgedanken von Picos Rede systematisch durchführt. Ernst Cassirer hat es die „in mancher Hinsicht charakteristischste Schöpfung der Renaissance-Philosophie“ genannt.232 Es integriert die stoische Verherrlichung des Weisen und nimmt insbesondere dessen schon in der antiken Stoa auffallende Allheitsprädikationen233 auf, um sie in eine universalistisch konzipierte humanitas zu integrieren, so daß der „Weise“ zum Muster des vollkommenen, weil allseitig gebildeten Individuums wird, nach dem die Renaissance strebte. Naturhafte Begabung, die Erkenntnis des Universums, welche die eigene Universalität im Sinne der Makrokosmos-MikrokosmosRelation mitbestimmt, und die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis vereinen 228 229 230 231 232

S. 8/9. S. 8/9. S. 16/17; S. 22/23. S. 50/51. Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig und Berlin 1927, 5. unveränderte Auflage Darmstadt 1963, Reprint 1977, S. 93. Im Anhang dieses Werks befindet sich die Edition des Liber de sapiente durch Raymond Klibansky. Nach ihr wird im Folgenden zitiert. 233 Vgl. SVF III, Nr. 544, Nr. 557, Nr. 589, Nr. 590. Besonders wichtig für die Renaissance sind die entsprechenden Ausführungen Ciceros: SVF III, Nr. 591, Nr. 599.

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sich in ihm.234 Von ihm läßt sich daher sagen: „Er führt die Schlüssel zur Welt und zu sich selbst“ – „claves gerit mundi et sui ipsius“.235 Er besitzt gleichermaßen die intellektuelle wie die moralische virtus:236 die intellektuelle aufgrund seiner ratio, die der stoischen Tradition entsprechend die ganze Natur durchwaltet und sich im Weisen am stärksten manifestiert; die moralische, weil er, ebenfalls nach stoischem Muster, die Leidenschaften energisch – „magna vi“ – beherrscht, sich von dem, was außer seiner Verfügungsgewalt liegt, nicht bezwingen, sich insbesondere von Fortuna nicht beeindrucken läßt und daher im „besten, nämlich im ruhigen und unangefochtenen Geisteszustand sich befindet“:237 im Zustand der tranquillitas animi. Die stoischen Züge des Weisen fügen sich hier in die schon von Cicero vorgeprägte und für die Renaissance zentrale Vorstellung der humanitas ein. Im „homo sapiens“ formt sich diese humanitas ideal aus – eine Kapitelüberschrift lautet: „Quod solus Sapiens sit veraciter Homo“.238 Zugleich ist der Sapiens, weil er das „wahre“, zur Vollkommenheit gelangte Menschsein und damit das Optimum des im Kosmos Möglichen repräsentiert, wie in der Stoa ein irdischer Gott. Cicero läßt in De divinatione (II 129) einen Gesprächspartner zum andern sagen: „Deine Stoiker meinen, daß niemand außer dem Weisen göttlich sein könne“ („Stoici autem tui negant quemquam nisi sapientem divinum esse posse“). Das Echo im Liber de sapiente lautet: „Vivit denique in terris ut Deus alter“.239 Hiermit verbindet sich das im engeren Sinn ,humanistische‘ Ideal: Die gottgewollte Vollendung des natürlichen Menschen, des homo naturalis, in Gestalt des Weisen ist der homo studiosus, der durch die ,Studien‘ gebildete Mensch.240 Daß Charron in seiner beinahe ein Jahrhundert nach Bovillus’ Liber de sapiente erschienenen Schrift sich so weitgehend dem stoischen Ideal der „Sagesse“ anschloß, macht noch deutlicher, in welchem Maße er sich vom theozentrischen Vorstellungsmuster entfernte und warum die Zensur sein Werk auf den Index setzte, trotz gewisser christlicher Brückenschläge. Im „Weisen“ kristallisierte sich anthropologisch die stoische Immanenzphilosophie, die prinzipiell „weltlich“ ist. Die 234 235 236 237 238 239 240

S. 319, 322. S. 405. S. 312. S. 321. S. 316. S. 318. S. 411.

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christliche Orientierung auf eine zum Absolutum erhobene Transzendenz unterscheidet sich davon fundamental. Für Christen ist nicht der Weise, sondern der Heilige das Vorbild. Da in der frühen Neuzeit nicht zuletzt aufgrund der zivilisatorischen Entwicklung (Charron zeigt sich insbesondere naturwissenschaftlich gut informiert) die aus diesem Unterschied resultierende Spannung zunahm, wurde der stoische Weise zu einem kontrovers traktierten Lieblingsthema, und dies nicht nur im 17. Jahrhundert, etwa bei Spinoza,241 sondern bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, so daß sich sogar noch Kant damit befaßte.242 In vielen Schriften diente der Weise entweder als (neu-)stoisch formierte Leitfigur eines modernen Autonomiedenkens oder als zum christlich-antistoischen Widerspruch herausfordernde Provokation, manchmal auch – so schon im Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam – als Zielscheibe skeptischen Spottes, den der als Idealbild notwendigerweise auch mit utopisch-perfektionistischen Zügen ausgestattete „Weise“ leicht auf sich ziehen konnte. Das Muster für solchen Spott bot Cicero in seiner Rede Pro Murena (Kap. 61), in der er rhetorisch-polemisch einem ProzeßGegner – einem jüngeren Cato! – dessen verengte und unmenschlichrigide Einstellung im Zerrbild eines versteinerten stoischen „Weisen“ vorhält. Diese situativ zu relativierende Eskapade, die allerdings auch eine Abgrenzung gegenüber Extremformen stoischer Ideologisierung erkennen läßt, entspricht nicht dem eigentlichen Sinn der stoischen Ideal-Vorstellung vom Weisen. Diese soll zum ethischen Fortschritt anspornen, ist also wesentlich funktional zu verstehen. Zugrundeliegt die für die ausgeprägt psychagogische und pädagogische Strategie der Stoa trotz mancher gegenteiliger Aussagen zentrale Annahme, daß der sittliche Fortschritt (pqojop¶) zum Besseren möglich sei. Ausführlich und für die Wirkungsgeschichte bis hin zu Kant maßgebend, zugleich in 241 Zu Spinozas Vorstellung des Weisen vgl. S. 103. 242 Zu Kant vgl. S. 113 – 115. Ein Beispiel für die von Kant neubelebte Diskussion ist das Buch von Carl Philipp Conz, dem Lehrer Hölderlins und Hegels am Tübinger Stift: Abhandlungen fr die Geschichte und das Eigenthmliche der spteren Stoischen Philosophie, nebst einem Versuche ber Christliche, Kantische und Stoische Moral von M. Carl Philipp Conz, Diakonus in Vaihingen an der Enz. Tübingen, bei Jakob Friedrich Heerbrand, 1794. (Reprint in der Reihe Aetas Kantiana, Brüssel 1970). Zum Weisen vgl. besonders S. 30 – 39. Im Anschluß an Kant betont Conz den zur „Progression“ stimulierenden utopischen Charakter des stoischen Weisen. S. 177 weist er auf „die vortrefliche Schilderung des Stoischen Systems im eilften Briefe des zweyten Bands der Reinholdischen Briefe über die Kantische Philosophie“.

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Abgrenzung von anderen Positionen, legt dies Seneca dar.243 Die „Fortschreitenden“ (pqojºptomter, procedentes oder proficientes) sollen vor allem durch Erziehung und Selbsterziehung diesen Weg gehen. Schon vor Seneca hatte ja der auch für die christliche Tradition wichtige Philon von Alexandrien in einer stoisierenden Schrift solchen Fortschritt geradezu als eine Wanderung dargestellt,244 die bei ihm allerdings der Mensch auf dem Weg zur – jenseitigen, bei Gott liegenden – vollendeten Weisheit selbst antritt, während der Weise sonst nur als gewissermaßen statuarisches Vorbild für die „Fortschreitenden“ dient. Auch am Ende von Spinozas Ethik befindet sich der nach Weisheit Strebende auf einem – beschwerlichen – „Weg“ (via). Wie sehr die Metapher vom „Weg“, der zur „Weisheit“ führt, auch zum festen neustoischen Repertoire gehört, geht schon aus Justus Lipsius’ Schrift De constantia hervor. Geradezu idealtypisch stellt sich der „adolescens“ Lipsius hier selbst als „Fortschreitenden“, als pqojºptym auf diesem Weg dar, auf dem ihn der ältere Freund und Lehrer Langius als nahezu vollendeter Weiser führt. Er spricht zuerst vom „Weg der Standhaftigkeit und Tugend“ („Constantiae & Virtutis via“), um ihn alsbald aufzufordern: „rüste dich mit mir als Führer, dich auf den Weg zu machen, der gerade zur Stärke und Standhaftigkeit führt“ – „viam hanc ini, quae recta ad firmitudinem & Constantiam ducit“; und er fährt fort: „Der Weg von dem ich spreche, ist der der Weisheit“ – „Via quam dico, Sapientia est“.245 Daß die „Weisheit“ in der Erlangung von Standhaftigkeit und Tugend liegt, macht vollkommen klar: Weisheit beschränkt sich nicht auf vollendete Einsicht, sie ist vor allem die im Sinne der Stoa richtige Lebenshaltung. Dagegen attackiert nicht nur in theoretischen Schriften, sondern auch in poetischen Werken der christlich motivierte Antistoizismus mit Vorliebe gerade dieses Ideal des Weisen. Ein theatralisch eindrucksvolles Zeugnis dafür ist das Drama Cenodoxus des in Ehingen an der Donau geborenen Jesuiten Jacob Bidermann (1578 – 1639). Es gelangte fast gleichzeitig mit Charrons so ganz anders orientierter Schrift an die Öffentlichkeit. Der Cenodoxus wurde 1602 in Augsburg uraufgeführt 243 Seneca: Epist. 75, 8 – 14, der hier über die alte Stoa hinausgeht. Vgl. Otto Luschnat: Das Problem des Fortschritts in der alten Stoa, in: Philologus 102, 1958, S. 178 – 214. 244 Vgl. S. 80 f. 245 Justus Lipsius: De Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann, Mainz 1998. 2. Buch, Viertes Kapitel, S. 194/195.

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und war über Jahrzehnte hinweg ein veritables Erfolgsstück. Es gehört zum Genre des Jesuiten-Dramas, dem im Schulbetrieb, an den katholischen Universitäten und an den Höfen große Bedeutung zukam, vor allem in Bayern und im großen europäischen Herrschaftsbereich der Habsburger. Von einer Münchener Aufführung im Jahr 1609 wird berichtet, daß zahlreiche Fürsten sich anschließend in die Ignatianischen Exerzitien begaben und der Darsteller des Cenodoxus in den Orden eintrat. Eine deutsche Übersetzung durch Joachim Meichel, einen Schüler Bidermanns, erschien 1635.246 Sie trug der großen Beliebtheit des Stücks Rechnung. Im Mittelpunkt steht der, wie es auf dem Frontispiz der deutschen Übersetzung heißt, „Cenodoxus / Der Doctor von Pariß“, „durch dessen schröckliches Exempel S. Bruno den Carthäuser Orden angefangen“. Zugrunde liegt dem Geschehen eine mittelalterliche Legende, die lange nach dem Tod Brunos entstand. Cenodoxus, dessen sprechender Name bereits auf „eitle Ruhmsucht“ (cenodoxia) weist, verfällt diesem schon in der alten Kirche den Hauptsünden zugerechneten Laster247 und damit der zu seiner ewigen Verdammung führenden Ursünde der superbia – im Drama selbst wird sie 246 Zitiert wird im Folgenden nach: Jakob Bidermann: Cenodoxus. Deutsche Übersetzung von Joachim Meichel (1635). Herausgegeben von Rolf Tarot. Stuttgart 2000 (RUB 8958). Diese Ausgabe bietet auch eine ausführliche Bibliographie, so daß hier auf Einzel-Hinweise verzichtet werden kann. Lateinischer Text: Jacob Bidermann: Cenodoxus, hg. von Rolf Tarot. Tübingen 1963 (Text nach der Ausgabe der Ludi theatrales von 1663). 247 Vgl. Isidor von Sevilla (etwa 570 – 636 n. Chr.): De officiis ecclesiasticis, Liber II, cap. 16, § 18: „multos […] ex eis (monachis) cenodoxiae morbus commaculat […]“. In seinen Sententiae erklärte dieser in der kirchlichen Tradition wirkungsreiche Bischof, daß „der Teufel den Mönch am meisten durch cenodoxia sich unterwirft“ („maxime per cenodoxiam subicit sibi diabolus monachum“, Liber III, cap. 22, § 8). PL 81 – 84. Schon vorher hatte Johannes Cassianus, Abt in Marseille (etwa 360 – 435 n. Chr.), in seiner ebenfalls zur ethischen Unterweisung des frühen Mönchtums verfaßten Schrift De institutis monachorum et de octo principalium vitiorum remediis (,Über die Lebensweise der Mönche und über die Heilmittel gegen die acht Hauptsünden‘) eine bündige lateinische Definition des griechischen Begriffs gegeben, Liber XI, cap. 1: „spiritum jemodon¸ar, quam nos vanam sive inanem gloriam possumus appellare […]“. CSEL 17, PL 49 – 50. (Manche Ausgaben zitieren den Titel: De institutis coenobiorum et de octo principalibus vitiis). – Bidermann überträgt das sündhafte Laster der cenodoxia vom Mönchstum auf den humanistischen Gelehrten, insbesondere den stoischen ,Weisen‘ und behält mit dem Begriff die schon in den kirchlichen Schriften vollzogene Einordnung in das Tugend-Laster-Schema bei, das auch ein Grundschema seines Werkes ist.

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immer wieder genannt, in Meichels deutscher Übersetzung teils sogar mit dem lateinischen Terminus, teils deutsch als „Hoffart“. Durchgehend schreibt Bidermann diese Form der superbia dem aktuellen Typus des stoisch geprägten humanistischen Gelehrten zu. Der „Doctor“, der sich mit seiner Weisheit und mit seiner zur Schau getragenen Tugend als würdige Persönlichkeit darstellt, ist selbst in einem trügerischen Selbstbewußtsein befangen: in einem falschen Schein, der sich dann auch sekundär auswirkt – als Heuchelei. Einen Subtext zu diesem auf die Stoa gemünzten Vorwurf der Heuchelei bildet die schon seit der Antike gängige und noch bis in die neuzeitliche Moralistik reichende Darstellung Senecas als eines großen Heuchlers. Cassius Dio (etwa 150 – 235 n. Chr.) hatte in seiner vielbenutzten Rçmischen Geschichte Seneca als klugen, aber korrupten Politiker, als niedrigen Schmeichler am Hofe Neros und vor allem als einen Mann vorgeführt, der im Gegensatz zu seinen philosophischen Ansichten – im 90. Brief an Lucilius verkündete er ja sogar das Ideal der Eigentumslosigkeit – unermeßlichen Reichtum anhäufte: kurz als Inbegriff des unmoralischen Moralisten, als klassischen Heuchler.248 Im Mittelalter und im Humanismus dominierte zwar der „moralische“ Seneca und auch weiterhin bleibt dies die Hauptwahrnehmung, in der Barockzeit aber griff man auch gerne die Vorstellung des falschen Scheins, der Heuchelei auf. Es galt die „Maske“ abzureißen.249 Bei Bidermann be248 Cassius Dio LXI, 10, 2 – 4. Hierzu Paul Faider: tudes sur Sn que, Gent 1921, S. 74 – 82. 249 Als Titelbild der Erstausgabe von La Rochefoucaulds (1613 – 1680) Sentences et Maximes erscheint eine Seneca-Büste, der ein Kind als Verkörperung der Wahrheitsliebe („L’Amour de la Vérité“) die Maske vom Gesicht und den Lorbeer vom Haupt nimmt. Zu dem Chevalier de Méré sagte La Rochefoucauld: „Je crois que, dans la morale, Sénèque était un hypocrite et qu’Épicure était un saint“ – „Ich glaube, daß auf dem Gebiet der Moral Seneca ein Heuchler war und daß Epikur ein Heiliger war“ (Entretien de La Rochefoucauld avec le Chevalier de Mr sur la Recherche du bonheur, in: La Rochefoucauld: Oeuvres compl tes, Édition établie par L. Martin-Chauffier, revue et augmentée par Jean Marchand, Édition de la Pléiade, Paris 1957, S. 706). Diese Feststellung steht im unmittelbaren Kontext einer Gesprächspartie über Tugend (vertu) und Laster (vice). Im religiösen Deutungshorizont eines Zeitgenossen erscheinen La Rochefoucaulds Sentences et Maximes insgesamt als Anti-Seneca und zugleich als Angriff auf die autonome „Weisheit“ und den „Weisen“: „C’est la découverte du faible de la sagesse humaine, et de la raison […] c’est un parfaitement beau commentaire du texte de saint Augustin qui dit que toutes les vertus des infidèles sont des vices; c’est un anti-Sénèque, qui abat l’orgueil du faux sage, que ce superbe philosophe élève à l’égal de Jupiter“ (a.a.O. S. 695).

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stimmt die Personifizierung der Heuchelei als ,Hypocrisis‘ das gesellschaftliche Verhalten des stoisch formierten Cenodoxus. Die stoischen Werte werden geradezu nummernhaft durchgenommen und als Pseudowerte entlarvt. Bidermann folgt in seinem durch die Opposition von Tugenden und Lastern durchstrukturierten Werk exakt der Vorgabe in Augustins Werk De civitate dei. Die „Tugenden“ der heidnischen Römer, so heißt es darin, wären bewundernswert, wenn sie einem frommen Sinn entsprängen; da sie aber aus selbstbezogener Geltungssucht hervorgingen, seien sie „nicht als Tugenden, sondern als Laster zu beurteilen“.250 Diese Vorgaben des Kirchenvaters projizierte Bidermann speziell auf die stoischen „Tugenden“ und verdächtigte damit den zeitgenössischen Neustoizismus des Neuheidentums. Er selbst hatte sich während seines Ingolstädter Philosophiestudiums für die Leitfigur dieses Neustoizismus, für Justus Lipsius begeistert, und arbeitete nun, nachdem er eine entsprechende geistliche ,Nachhilfe‘ erfahren hatte, diesen Sündenfall ab. Die „Hypocrisis“, die von sich selbst sagt: „Den Cenodoxum hab ich gefangen“ (I 2, V. 399), greift sogleich den ethischen Zentralbegriff der Stoa, die virtus auf: „Ja auch die Tugenten so gar / Zu meinem Handel helffen zwar. / Mit Tugenten wachs ich recht auff / Beyn Tugenden ich mich ernehr […]“ (I 2, V. 369 – 373), um dann fortzufahren: „Wann er den Leuten ist im Gsicht / Da ist er aller Tugent voll / Damit man jhn nur loben soll; / Ist aber niemand da um jhn? / So ist auch alle Tugent hin“ (I 2, V. 416 – 420). Wie in der Stoa ist „Tugend“ nicht bloß ein individuelles ethisches Ziel, sie wird darüberhinaus anderen als Weg zum rechten Leben gelehrt. Aber auch dies gerät ins Licht des falschen Scheins. In den Worten der Hypocrisis: „In dem ich lehre / recht zuleben / Lehr ich sie unrecht thun darneben“.251 Die stoische Oikeiosis (Ciceros lateinischer Terminus ist ,conciliatio‘), die vom Naturgesetz der Selbsterhaltung ausgehende Aneignung des Ichs und seines Umfelds, die auch der Identitätskonstitution dient, pervertiert zur moralisch verwerflichen, weil zur „Hoffart“ führenden Eigenliebe. Den Hintergrund hierfür bildet wiederum Augustins theologisches Hauptwerk De civitate dei, in dem der Weltstaat, die civitas terrena, auf der Selbstliebe, der Gottesstaat, die civitas dei, dagegen auf der Gottesliebe beruht. Fünfzehn Jahre später ging Franz von Sales in seinem mit der Stoa, insbesondere mit Epiktet befaßten Trait de l’amour 250 civit. XIX 25. Vgl. das lateinische Zitat in Anm. 168. 251 I, 2, V. 381 f.

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de Dieu (1616) ebenfalls von diesem Konzept in Augustins De civitate dei aus.252 Dem Weltstaat ist die superbia, die „Hoffart“ zugeordnet, dem Gottesstaat die humilitas, die „Demut“. Bidermann läßt in der 3. Szene des 2. Aktes die allegorische „Philautia die aigen Lieb“ auftreten. Indem gerade sie dem „Doctor“ die einzelnen stoischen Tugenden einflüstert, werden sie von vornherein desavouiert. Im Dialog mit Philautia verlautbart der Doctor, der Weise, der aus bloßer Ruhmsucht „stets in Büchern Tag und Nacht“ liest, daß es ihm um die von Cicero mit dem stoischen virtus-Ideal verbundene „honestas“ und „dignitas“ geht: um das öffentliche Ansehen. Die in der Stoa vielzitierte Fabel des Prodikos von Herkules am Scheidewege, wie sie Xenophon in seinen Erinnerungen an Sokrates überliefert, hatte Ehre und Ansehen ganz positiv als Folge der Areté gewertet. Jetzt aber kommt es zu einer christlichen Um- und Abwertung dieser Werte, wenn Cenodoxus sagt: „Wie grosse Würdigkeit allhie / Wie groß Ansehen / Herrlichkait / Hab ich erlangt sehr weit und brait. / Fürs rechte Leben halte ich / Daß meine Werck und Thaten mich / Versterben lassen nimmermehr / Diß ist allein das ich begehr“.253 Dem christlich-barocken Vergänglichkeitspathos ist alles Irdische nur „Eitelkeit“, vanitas: umso entschiedener soll sich der Mensch auf die Ewigkeit ausrichten, wo allein Unsterblichkeit zu erlangen ist. Deshalb erscheint das weltliche Unsterblichkeitsverlangen des Cenodoxus als wahnhafte Verfehlung des wahren Lebenssinns. Dann geraten typisch stoische „Tugenden“ im Einzelnen ins Visier. Cenodoxus rühmt sich der temperantia und der mit ihr zusammenhängenden Bedürfnislosigkeit, die zur Autarkie führt: „So leb ich auch gar mässigklich / Mit schlechtem [d.h.: mit Schlichtem] laß ich gnügen mich“;254 und damit man ja versteht, daß antik-heidnische, nicht christliche Tugendvorbilder im Spiel sind, läßt Bidermann seinen Protagonisten anfügen: „Man halt / der billigkeit gemeß / Ich sey der mässig Socrates“.255 Seneca hatte in seiner Schrift De constantia sapientis, also gerade im Zusammenhang des stoischen Weisheits-Diskurses, Sokrates zum Vorbild erhoben, und bekanntlich stilisierte Seneca seinen eigenen, von Nero erzwungenen Tod nach diesem Vorbild. Bidermann liefert die polemische Kontrafaktur in der alsbald folgenden Darstellung 252 Vgl. Amand Jagu: Utilisation du stocisme par FranÅois de Sales, in: Revue des Sciences Religieuses 38, 1964, S. 42 – 59. 253 I, 3, V. 500 – 507. 254 I, 3, V 533 – 535. 255 I, 3, V. 541 f.

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vom Tod des Cenodoxus. Sowenig wie die stoische Tugend der Geduld, die patientia, fehlt im Tugendkatalog der Philautia die von Seneca in seiner Schrift De constantia sapientis gerade auf den „Weisen“ bezogene und dann durch Lipsius’ Traktat De constantia zum neustoischen Hauptschlagwort erhobene constantia: „Was für gedult du pflegst zu tragen“ schmeichelt Philautia dem Cenodoxus, und fährt fort: „Dein dapfere bestendigkeit / In Angst und Widerwertigkeit?“.256 In der Literatur des Barock erhält die Krankheit oft eine wichtige Funktion. Sie soll den Menschen an die Hinfälligkeit des Irdischen erinnern und seinen Sinn auf die Ewigkeit lenken, nicht selten steht sie auch für eine innere, reinigende Krise, die eine moralische Wendung zum Besseren bewirkt. Dementsprechend sagt Bidermanns allegorisch als „Morbus“ verkörperte Krankheit, „sie werde vom SchutzEngel zum Doctor geschickt“ – so wörtlich die Regie-Anweisung, welche die zum Tode führende Krankheitszeit und die ihr geltende umfangreiche Partie des Dramas einleitet (III, 7). Doch bewirkt „Morbus“ hier gerade nicht die vom Schutzengel erhoffte religiöse Bekehrung oder moralische Besserung. Im Gegenteil, denn Cenodoxus reagiert falsch: wie ein Stoiker, ganz so wie Cicero in seinen stark stoisch geprägten Gesprchen in Tusculum die Bewältigung des Schmerzes dargestellt hatte: als eine große Aufgabe, in der sich die stoische virtus zu bewähren habe. Bidermann pervertiert diese moralische Aufgabe, indem er sie durch den Mund der Hypocrisis als bloß scheinhafte, auf die bewundernde Umwelt berechnete Inszenierung interpretiert: „Red den verborgnen schmertzen an / Und sprich: Ach schmertz, das sag ich dir / Zu Ritter wirstu nit an mir / Ob ich dich thue schon hoch empfinden / Kanst du mich doch nit überwinden / Du richtest nichts du scharpfer schmertz / Viel ritterlicher ist mein Hertz […] Dergleichen Reden solstu thon“.257 Cenodoxus folgt diesem Ratschlag, indem er alsbald große stoische Renommier-Reden hält. Darin spielt er den „Weisen“,258 der Krankheit und Tod nicht scheut. In zitathaftem Anklang an Senecas „bene autem mori est libenter mori“259 erklärt er, daß er sich „willigklich darein ergeben“ werde und zwar „geduldig alles ohne klagen“.260 „Starckmuet und Gedult“ – stoische magnanimitas und patientia – 256 257 258 259 260

III, 4, V. 300 – 304. IV, 3, V. 154 – 163. IV, 3, V. 220 – 222. Epist. 61, 2. IV, 3, V. 226 f.

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schreibt er sich zu.261 Die „Tugend“ habe ihn gelehrt „Für nichte schätzen / Angst und schmertzen […] gar den Tod / Durchauß nit scheuhen“262 – ein Echo auf Senecas Devise „contemne mortem“.263 Auf Senecas Traktat De brevitate vitae greift er zurück, wenn er feststellt „Kurtz ist mein Leben gewesen“,264 um dann in bester stoischer Manier zu verkünden, es komme nicht auf die Dauer des Lebens, sondern darauf an, daß es in Ausübung der Tugenden gelebt wurde, und seien es auch nur „wenig Jahr“.265 All das sei Ausdruck der „Hoffart“, der superbia, muß der Schutzengel gerade im Anschluß an diese zu einem stoischen Cento zusammengefügten Verlautbarungen bedauernd feststellen, denn: „Mit falscher Tugendt“266 habe Cenodoxus den Weg zur ewigen Verdammnis unumkehrbar beschritten. Bald darauf holt ihn der Teufel persönlich in die Hölle ab. Mit dieser christlichen Kontrafaktur des stoischen „Weisen“ kämpft Bidermann gegen die Hochkonjunktur des Stoizismus in seiner Zeit an. Historisch aufschlußreich ist auch die radikale Weltverneinung am Schluß des Stückes. Erschreckt durch das furchterregende Ende des „Doctors von Pariß“, dem er beigewohnt hat, verläßt der heilige Bruno mit seinen Gefährten die Welt und begibt sich mit ihnen in eine einsame Wildnis, wo er den Kartäuser-Orden begründet. Das Stück schließt mit seinen Worten: „Fahr hin / O Welt / mit Guet und Gelt / Fahr hin all Frewd auff dieser Welt“. Der Antistoizismus dieses TheaterExempels ist letztlich durch „weltliche“ Tendenzen des Neustoizismus bedingt und steht im Horizont einer reaktiv radikalisierten Weltabsage, die ihren literarischen Höhepunkt später im 17. Jahrhundert erreichte: in Grimmelshausens Simplicissimus, der mit einem emphatischen „Adieu Welt“ schließt. Grimmelshausen übernahm es aus dem Werk des spanischen Franziskaners und späteren Bischofs von Guadix, Antonio de Guevara (ca. 1480 – 1545), dessen Werk in ganz Europa außerordentlichen Erfolg hatte und gerade auch in den Jahren, in denen Bidermann seinen Cenodoxus verfaßte, mit neuen Ausgaben und sogar deutschen Übersetzungen präsent war.

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IV, 3, V. 95. IV, 3, V. 265 – 269. Epist. 78, 5. IV, 3, V. 295. Vgl. Seneca: Epist. 70. IV, 4, V. 371.

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Da Bidermann ganz die modernen Verweltlichungstendenzen im Sinn hat, denen er nur noch eine radikale Weltverneinung entgegenzusetzen weiß, geraten die genuin asketischen Tendenzen, die sich schon in der antiken Stoa und besonders in deren kynischer Ausprägung zeigten, aus dem Blickfeld. Es mutet geradezu wie eine Ironie in der Geschichte des Stoizismus an, daß er als „weltlicher“ Gegenpol einer christlichen Weltabsage fungiert, nachdem er doch mit der asketischeremitischen Bewegung des frühen Christentums so weit übereinstimmte, daß er mit Epiktet und Boethius sogar wesentliche Erbauungsbücher des mittelalterlichen Mönchtums beisteuerte. Es ist die religiöse Angst vor der machtvoll hereinbrechenden Moderne, die bei Bidermann zu einer Art von Stellvertreterkrieg gegen den Neustoizismus führt, der so durchgängig weltlich gar nicht ist: eine religiöse Angst, die schon hundert Jahre früher in der Historie von Dr. Johann Fausten – auch er ist ein „Doctor“ – von protestantischer Seite her durchgeschlagen hatte. Der Teufel holt beide Doktoren. Bidermanns Orden kam allerdings keineswegs ohne die Stoa aus. Einer der bedeutendsten neulateinischen Dichter, der am bayerischen Hof wirkende elsässische Jesuit Jacob Balde (1604 – 1648), dem noch Herder in seiner Terpsichore ein eindrucksvolles, von Goethe sehr gewürdigtes Denkmal mit vielen eigenen Übersetzungen schuf,267 verfaßte eine Reihe von Gedichten, in denen er programmatisch stoische Vorstellungen aufnahm.268 Schon Ignatius von Loyola griff in seiner Exerzitien-Ordnung, die er in den Exercitia spiritualia von 1522 formulierte, auf stoische Elemente der Seelenführung zurück,269 und im 17. Jahrhundert entstand eine große Exerzitienbewegung. Bidermanns Stück, das er zu einem theatralischen Exerzitium machte, gewann seine Popularität auch, weil er es in das vertraute Schema der Psychomachie einbettete. Nachdem der frühchristliche Schriftsteller Prudentius (348267 Abgedruckt in: Johann Gottfried Herder: Smmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. XXVII, Berlin 1881. 268 Vgl. Jacob Balde SJ. Opera Poetica Omnia, hg. von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. Frankfurt a. M. 1990, darin Lyricorum libri IV. Epodon liber unus sowie Sylvarum libri VII, beide 1643. 269 Vgl. Paul Rabbow: Seelenfhrung. Methodik der Exerzitien in der Antike. München 1954. Vgl. Ilsetraut Hadot: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie 13). Berlin 1969. Pierre Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique. Paris 1981 (deutsche Übersetzung: Philosophie als Lebensform. Geistige bungen in der Antike. Berlin 1991).

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ca. 405) die ,Psychomachie‘ erfunden hatte, war eine solche allegorische Darstellung des Kampfes zwischen personifizierten Tugenden und Lastern von den mittelalterlichen ,Moralitäten‘ bis in die ,Vice‘-Stücke der Shakespeare-Ära, also bis in Bidermanns Zeit beliebt. Nur wenige Jahre nach der Uraufführung des Cenodoxus widmete Joseph Hall diesem Thema sogar eine eigene Abhandlung: Characters of Virtues and Vices (London 1608). Mit ihrer einfachen Schwarz-Weiß-Malerei konnten nach diesem Schema angelegte Dramen bei einem erbauungsbereiten Publikum starke Effekte erzielen, und dies umso mehr, als die Laster nicht bloß als allegorische Figuren, sondern dämonisiert auftraten. Dies gilt in besonders expressiver Weise auch für bildliche Darstellungen wie etwa die Versuchung des heiligen Antonius auf Grünewalds Isenheimer Altar, wo die dämonisierten Laster-Figuren den heiligen Einsiedler bedrängen. Gerade dieses eingefahrene Schema, das die Tugenden auf der Folie des Gegenteils christlich interpretierte und propagierte, ließ es als dringliche Aufgabe erscheinen, die stoisch-weltliche Virtus mit ihrem Aufgebot von Einzeltugenden als gefährlich aktuelle Konkurrenz moralisch zu diskreditieren.

Stoische Prägungen der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert: Opitz, Fleming und Gryphius Von ganz anderem literarischem Zuschnitt waren die Dichtungen Paul Flemings und Andreas Gryphius’. Fleming (1609 – 1639), die größte lyrische Begabung des 17. Jahrhunderts – Leibniz würdigte ihn als deutschen Horaz – schrieb neben vielen eher seriellen Gelegenheitsgedichten, wie sie für die Barockzeit charakteristisch sind, eine ganze Reihe lateinischer und deutscher Gedichte von hohem Rang. Virtuos, zugleich mit lebendiger Prägnanz zog er verschiedene Register: in Liebesgedichten das affektiv besetzte petrarkistische der unglücklichen Liebe, dann das antipetrarkistische der erfüllten Liebe, in das er modifizierte stoische Vorstellungen einbezog, schließlich programmatisch stoische Gedichte. Fleming studierte in Leiden Medizin und befand sich damit an der Quelle des Neustoizismus; als Teilnehmer eines durch den großen Bericht des Olearius berühmten, sich über Jahre erstreckenden Reise-Abenteuers, das ihn über Rußland bis nach Persien an den Hof des Schahs führte, fand er Gelegenheit, stoische Haltungen in turbulenten, immer wieder sogar in lebensbedrohenden Situationen zu erproben. Als er aufgrund einer Lungenentzündung seinen frühen Tod

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voraussah, formte er die stoische meditatio mortis zu einem außerordentlichen poetischen Gebilde. Seine Sonette An sich und Grabschrift zeugen von einer künstlerischen Meisterschaft, die das barocke StilIdeal der argutia zur scharfsinnigen Konturierung der stoischen Lebenshaltung und Lebensführung, schließlich zur Pointierung der von einem selbstbewußten Lebensrückblick ausgehenden Todesbereitschaft einsetzt. Dabei gelingt es Fleming, auf dem knapp bemessenen Raum von Sonetten stoische Grundgedanken in äußerster Verdichtung als in sich geschlossenes Konzept zu formulieren. Ebenfalls der zeitgenössischen Vorliebe für stoische Denkmuster folgte, wenn auch nicht in so vollendeter Poesie, der von Fleming verehrte Martin Opitz (1597 – 1639), der mit seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) die epochemachende theoretische Grundlage für die deutsche Verskunst geschaffen hatte und sein dichterisches Engagement, das der Vorherrschaft der lateinischen Sprache in der Humanisten-Poesie entgegen wirken sollte, mit einem nationalpatriotischen Impetus verband. An die stoische Konsolationsliteratur, für die Seneca eine ganze Reihe von Beispielen bot, besonders aber an die von Lipsius und Du Vair „angesichts öffentlicher Übel“, d. h. der Kriegswirren verfaßten neustoischen Programmschriften anschließend schrieb er mitten im Dreißigjährigen Krieg sein episch weitausgreifendes Werk Trost-Getichte in Widerwertigkeit Deß Krieges (1633).270 Bereits 1623 hatte er das stoische Ideal der tranquillitas animi in seinem schon mit einem programmatischen Titel versehenen Gedicht Zlatna, Oder von Rhue [sic] des Gemtes gepriesen. Ein Echo gab Fleming mit seinem während der Reise durch Rußland verfaßten Nowgorod-Gedicht In grooß Neugart der Reußen. Wie schon Seneca verbinden Opitz und Fleming die Wunschvorstellung eines innerlich befriedeten Daseins, das weder störenden Affekten noch zerrüttenden Einwirkungen der Fortuna ausgeliefert ist, mit dem topischen Lob eines ins Idyllisch-Utopische stilisierten Landlebens. Es repräsentiert die vom Stoiker erst in einer ethischen Leistung und gegen eine bedrohliche Realität zu erringende Seelenverfassung als naturhaft gegebenes Geschenk. Stoisch besetzt ist auch Opitzens Übersetzung der Trojanerinnen des Seneca, einer Tragödie, die nach dem Vorbild der Troerinnen des Euripides das Elend des Krieges darstellt. Im Dreißigjährigen Krieg war solches Kriegselend bedrängende Gegenwart für Opitz wie für Fleming und Gryphius. Die Vorrede, die Opitz seiner Übersetzung beigab, er270 Hierzu Achim Aurnhammer im vorliegenden Werk.

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weitert die aristotelische Tragödientheorie um eine bemerkenswerte stoische Komponente. Die Wirkung, die Aristoteles in seiner Poetik der Tragödie zuschreibt, ist bekanntlich die Reinigung der Affekte Furcht und Mitleid (in anderer Lesart: von den Affekten Furcht und Mitleid). Nun war die Bändigung oder sogar Besiegung der Affekte, zu denen die schon seit der alten Stoa üblichen Affektkataloge ausdrücklich Furcht und Mitleid zählen,271 auch ein Hauptanliegen der Stoa. Hier knüpft Opitz in seiner Vorrede an, um ein stoisches Profil einzuarbeiten. Es komme darauf an, die „Verwirrungen des Gemütes“ zu „unterdrücken und dämpffen“. Die Tragödie führe das Reich der Fortuna, der „Zufälle“ vor, damit sich die Menschen „wider dieselbigen verwahren / daß sie jnen weiter nit schaden mögen als an eusserlichem Wesen / und an denen Sachen / die den Menschen eygentlich [prägnant: in seinem eigentlichen Wesen] nicht angehen“. Diese Unterscheidung zwischen der als wesentlich erachteten inneren Substanz des Menschen und den unwesentlichen äußeren Dingen (den Adiáphora) gehört zur Basis der stoischen Ethik. Besonders Epiktet hatte darauf insistiert. Dann bringt Opitz die stoische constantia ins Spiel: „Solche Beständigkeit aber wird uns durch Beschawung der Mißligkeit des Menschlichen Lebens in den Tragödien zu förderst eingepflantzet“. „Wer wird nit“, so fährt er fort, indem er noch die stoische magnanimitas hinzufügt, „Wer wird nit mit grösserem Gemüte als zuvor seines Vatterlandts Verterb und Schaden / den er nit verhüten mag [in der alten Bedeutung: kann] / ertragen / wann er die gewaltige Statt Troja / an welcher / wie die Meynung gewesen / die Götter selbst gebawet haben / siehet im Fewer stehen / und zu Staube und Asche werden?“272 Diese stoische Umkodierung steht zwar nicht im Widerspruch zur aristotelischen Tragödientheorie, verleiht ihr aber eine besondere Valenz. Grundsätzlich stimmt sie mit der aristotelischen These überein, die Tragödie könne eine positive Wirkung auf den Zuschauer ausüben, doch ist diese Wirkung anderer Art: Die Affekte sollen nicht durch ihre Erregung eine lustvolle Abfuhr, eine „Reinigung“ (Katharsis) erfahren, sondern sogleich „gedämpfft“ 271 Vgl. SVF III, Nr. 378, Nr. 381, Nr. 385, Nr. 394, Nr. 412; Kataloge von Unterarten der Hauptaffekte: Nr. 397, Nr. 401; Nr. 409 (Furcht, vºbor); Nr. 414 (Mitleid, 5keor, als Unterart des Schmerzes, k¼pg). 272 L. Annaei Senecae Trojanerinnen / Deutsch bersetzt und erklret durch Martinum Opitium. In: Martin Opitz: Weltliche Poemata 1644. Erster Teil, unter Mitwirkung von Christine Eisner herausgegeben von Erich Trunz, Tübingen 1967 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock, Herausgegeben von Erich Trunz, Bd. 2), dort die zitierten Stellen aus der Vorrede S. 314 f.

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werden. So soll die Tragödie den „Verwirrungen des Gemütes“ im Sinne der stoischen tranquillitas animi entgegenwirken. Vielleicht allerdings versucht Opitz mit einer bloß oberflächenhaft stoischen Einfärbung der aristotelischen Tragödientheorie die vielumstrittene zentrale Partie über die Katharsis genuin aristotelisch zu interpretieren, indem er mit der Dämpfung der Affekte nicht wie die Stoiker strenger Observanz auf die völlige Unterdrückung der Affekte, sondern auf die peripatetische Metriopathie zielt. In eine ganz andere Richtung gehen die Märtyrerdramen, die Andreas Gryphius (1616 – 1664) aus streng christlichem Geist gestaltete und doch mit stoischen Vorstellungen zu durchdringen wußte. Statt wie Bidermann mit seinem Cenodoxus die stoische Haltung als eine scheinhafte und verwerfliche, weil bloß aus Ehrsucht und vordergründig diesseitigem Interesse entspringende Tugendfarce darzustellen, inszeniert Gryphius in seinem Märtyrer-Drama Catharina von Georgien 273 ein Geschehen, in dem die Heldin ihre stoische Beständigkeit (constantia) überhaupt erst aus ihrem festen Jenseitsglauben gewinnt und sie somit ,echt‘ leben kann. Diese Glaubenshaltung befähigt sie, alle weltlich-diesseitigen Anfechtungen zu bestehen. Schon die antike Stoa beruft sich auf Exempelfiguren wie Mucius Scaevola und Regulus, um „stoische“ Tugendhaltung in einem märtyrerhaften Handlungszusammenhang zu präsentieren. Ihre stoische magnanimitas entspringt dem für sie höchsten Wert einer unerschütterlichen Vaterlandsliebe. Bei Gryphius liegt dieser höchste Wert im Glauben an Christus, er ist jenseitig verankert. Erst aus der Kraft des Glaubens und nicht wie in der Stoa aus einer innerweltlichen Tugendhaltung vermag sich Catharina von Georgien zu bewähren. Wie ihre constantia, so entspricht auch ihre probatio einem stoischen Ideal („bewährete Bestendigkeit“ lautet der Untertitel). Aber dieses Ideal ist nun christlich mediatisiert. Wahre stoische Haltung erscheint erst infolge einer in der Sphäre des Absoluten angesiedelten Letztbegründung vollkommen gesichert und plausibel. Damit widerspricht Gryphius, der wie so viele seiner Zeitgenossen in Leiden, im Zentrum des Neustoizismus studierte, denjenigen Tendenzen des Neustoizismus, die ins „Weltliche“ gingen, und vor allem verläßt er die für die Stoa seit ihren Anfängen fundamentale monistische Weltsicht, die gar kein Jenseits kennt. 273 Hierzu sowie zu dem Märtyrerdrama Papinian vgl. die fundierte Darstellung von Katharina Grätz im vorliegenden Werk.

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Die moderne Neubelebung des stoisch-pantheistischen Monismus als weltanschauliche Wende: Spinozas Ethik Es ist eine erstaunliche Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, daß Spinoza (1632 – 1677), der als Niederländer mit dem Neustoizismus wohlvertraut war, zur monistisch-pantheistischen Grundauffassung der Stoa zurückfand – in den gleichen Jahrzehnten, in denen Gryphius seine stoisierenden Märtyrerdramen christlich konzipierte, indem er die naturphilosophischen Fundamente der Stoa aufgab.274 Nicht eine an der Übernatur eines transzendenten Gottes orientierte und erst von dieser absoluten Instanz her ihre Verbindlichkeit beziehende Ethik, sondern ein mit der Formel „deus sive natura“ weltimmanent gerechtfertigtes Ethos bestimmt Spinozas Denken. Seine Verbindlichkeit verdankt es dem in der Gleichsetzung von Gott und Natur enthaltenen Totalitätsanspruch und der Gleichsetzung der „Natur“ mit dem Naturgesetz. Dementsprechend gewinnt in seiner Ethik die Ratio – statt des Glaubens – wieder die zentrale Bedeutung, die ihr die Stoa aufgrund des vom Logos durchwalteten naturgesetzlichen Weltzusammenhangs zugewiesen hatte.275 Im Übergang von der universellen Ratio der Natur zu der in diese eingebundenen speziellen Ratio des Menschen kommt dem menschlichen Vernunftvermögen eine regulative Funktion gegenüber den Affekten zu, weil es diesen gegenüber auf erkennende Distanz zu gehen vermag. Die stoische Ausschaltung der Affekte nimmt Spinoza

274 Vgl. Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Karel H. E. de Jong: Spinoza en de Stoa. Leiden 1939. Susan James: Spinoza the Stoic, in: The Rise of Modern Philosophy, ed. by Tom Sorell, Oxford 1993, S. 289 – 316. Andreas Graeser: Stoische Philosophie bei Spinoza, in: Revue Internationale de Philosophie 45, S. 336 – 346. Geneviève Lloyd: Spinoza and the Stoics. London 1996. Im vorliegenden Werk vgl. die Abhandlung von Hanna Klesssinger über Spinozas Stoizismus. Zu Spinoza insgesamt vgl. die Darstellung von Wolfgang Bartuschat, in: Ueberweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie: 17. Jahrhundert, Bd. 2, 2: Frankreich und die Niederlande, hg. von Jean-Pierre Schobinger, Basel 1993, S. 893 – 986 (mit Bibliographie, auch zur Wirkungsgeschichte). Martial Gueroult: Spinoza. 2 Bde. Paris 1968 – 1974 (Standardwerk der strukturalistischen, werkimmanenten Analyse). Texte zur Geschichte des Spinozismus, hg. von Norbert Altwicker, Darmstadt 1971. 275 Am klarsten formuliert ist diese Grundposition in SVF III, Nr. 4 (Diogenes Laërtios VII 87).

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entschieden, wenn auch mit erheblichen Modifikationen auf,276 um das Ziel der tranquillitas animi zu erreichen. Sein Terminus ist: mentis acquiescentia.277 Die Verkürzung des stoischen Gesamtkonzepts zur bloßen Morallehre, die in vielen christlichen Adaptionen stoischer Vorstellungen stattfindet, revidiert er, indem er wieder den ursprünglichen Begründungszusammenhang des übergreifenden naturphilosophisch-monistischen Konzepts zur Geltung bringt. Spinozas Ethik gipfelt am Ende nocheinmal im stoischen Ideal des Weisen, weil dieser den schweren Weg278 zur vollkommenen rationalen und intellektualen (d. h. über die ratio hinausgehenden, da auf einer scientia intuitiva beruhenden) Erfassung des Weltganzen durchschritten hat. Diese Figur des Weisen ist eigentlich das Wunschbild des Philosophen, der das in der Ethik entwickelte Programm erfüllt: ein auf Erkenntnis, ebenso sehr aber, wie in der Stoa, auf die richtige Lebenshaltung und Lebensführung zielendes ethisches Programm. Am meisten in die Zukunft allerdings wies die Reaktualisierung des stoischen Monismus und Pantheismus, weil er die christliche Abwertung der „diesseitigen“ Welt zugunsten einer jenseitigen ebenso aufhob wie die cartesianische Aufspaltung in ein für sich bestehendes, selbstgewiß denkendes Ich (res cogitans) und in eine körperlich für sich bestehende Substanz (res extensa). Spinoza setzt dagegen die eine, alles übergreifende und in sich begreifende „Natur“, die schon die Stoa als immanente Gottheit verstand.279 Eine der zentralen Formulierungen seiner Ethik 276 Zu Spinozas Lehre von den Affekten vgl. Gertrud Jung: Die Affektenlehre Spinozas, ihre Verflechtung mit dem System und ihre Verbindung mit der berlieferung, in: Kant-Studien 32, Berlin 1927, S. 85 – 150. Michael Schrijvers: Spinozas Affektenlehre. Bern/Stuttgart 1989. Vgl. auch David Bidney: The Psychology and Ethics of Spinoza. New Haven 1940. 2. Auflage New York 1962. Jon Wetlesen: A Reconstruction of basic Concepts in Spinoza’s social Psychology, in: Inquiry 12, Oslo 1969, S. 105 – 132. 277 Vgl. Donald Rutherford: Salvation as a state of mind: the place of ,acquiescentia‘ in Spinoza’s Ethics, in: British Journal for the History of Philosophy 7, S. 447 – 473. 278 Hierzu: Jon Wetlesen: The sage and the way. Spinoza’s ethics of freedom. Assen 1979. Vgl. auch Bernard Rousset: La perspective finale de l’ thique et le probl me de la cohrence du spinozisme. L’autonomie comme salut. Paris 1968. 279 Prägnant Seneca, De beneficiis IV 7: „quid enim aliud est natura quam deus et divina ratio toti mundo partibus eius inserta?“ – „was ist die Natur anderes als Gott und die göttliche ratio, die der ganzen Welt und ihren Teilen innewohnt?“ Vgl. auch SVF II, Nr. 945: tµm v¼sim ja· t¹m kºcom […] he¹m eWma¸ vasim– „die Natur und der Logos […] sei Gott, sagen sie“.

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lautet: „Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens“ – „Gott ist die immanente Ursache von allem, keineswegs eine transzendente“.280 Als die große Spinozismus-Debatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts losbrach und einen geistigen Gärungsprozeß veranlaßte, der noch weit in den deutschen Idealismus, ja noch bis zu Feuerbach fortwirkte, brachte Goethe in seinem Brief an Jacobi vom 9. Juni 1785 Spinozas Position treffend auf den Nenner: „Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf alles übrige ruht, woraus alles übrige fliest. Er beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott“.281 Eine weitere wesentliche Affinität Spinozas zu stoischen Grundanschauungen liegt im Problembereich des Determinismus, der aus der monistischen Gleichsetzung von Natur(-Gesetz) und Gott resultiert. Für die Stoa war ja das Schicksal (Heimarmene, Fatum) die Konsequenz aus der Vorstellung einer Allnatur, die von dem ihr innewohnenden Naturgesetz durchwaltet wird. Dieses ist ein universell gültiges und deshalb auch den Menschen schicksalhaft bestimmendes Gesetz. Spinoza setzt die aufgrund dieser Gesetzlichkeit gegebene Ordnung der Natur mit Gott gleich. Damit entspricht er ebenfalls dem stoischen Logos-Denken, das ein kosmo-logisches ist. Voll zum Tragen kommt es in Spinozas Tractatus theologico-politicus. Er wendet sich gegen den theologischen Anthropomorphismus einer Vorsehung, derzufolge Gott nach Zwecken und Absichten handelt. „Unter der Leitung Gottes“, schreibt Spinoza, „verstehe ich jene feste und unveränderliche Ordnung der Natur oder die Verkettung der Naturdinge. Schon oben habe ich es ausgesprochen und an anderer Stelle habe ich es bewiesen, daß die allgemeinen Gesetze der Natur, nach denen alles geschieht, nichts anderes sind als Gottes ewige Ratschlüsse, die stets ewige Wahrheit und Notwendigkeit in sich schließen. Ob wir nun sagen, alles geschieht nach Naturgesetzen oder alles wird nach Gottes Ratschluß und Leitung geordnet, läuft auf ein und dasselbe hinaus“.282 Demnach setzt die Gleichung „deus sive na280 Ethik, I. Teil, Lehrsatz 18. 281 Johann Wolfgang Goethe: Smtliche Werke, Briefe, Tagebcher und Gesprche. II. Abteilung: Briefe, Tagebcher und Gesprche, hg. von Karl Eibl u. a., Bd. 2 (29): Das erste Weimarer Jahrzehnt, hg. von Hartmut Reinhardt, Frankfurt 1997 (FA), S. 582 f. 282 „Per Dei directionem intelligo fixum illum et immutabilem naturae ordinem, sive rerum naturalium concatenationem: diximus enim supra et in alio loco jam ostendimus leges naturae universales, secundum quas omnia fiunt et determinantur, nihil esse nisi Dei aeterna decreta, quae semper aeternam veritatem et

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tura“ Gott nicht der Summe der Naturdinge gleich, sondern ihrem gesetzlichen Zusammenhang, ihrer „Verkettung“ („concatenatio“), welche die antike Stoa kausalgesetzlich – als „series causarum“ – verstand. Spinoza greift hier bis in den Wortlaut hinein auf antik-stoische Definitionen zurück, so mit der Vorstellung der Verkettung.283 Ganz dem stoischen Denkmuster entsprechend, leitet er aus der naturgesetzlichen Bestimmtheit alles Geschehens das Fatum und die notwendige Schicksalsergebenheit her. Diese ist ein wesentlicher Aspekt der stoischen Maxime „naturgemäß leben“ („secundum naturam vivere“). Schon die antike Stoa legte Wert darauf, den rational-naturgesetzlich begründeten Schicksalsbegriff von dem irrational-abergläubischen zu unterscheiden.284 Eine der Konsequenzen, die Spinoza zog, war seine scharfe Kritik des Wunderglaubens im Tractatus theologico-politicus. Feuerbach zog entschlossen die noch weitergehende Konsequenz, die schon in der monistischen und – das gilt sogar für die Pneumalehre – materialistischen Grundanschauung der Stoa lag, als er Spinozas Philosophie als „theologischen Materialismus“ bezeichnete285 und die Formel ,deus sive natura‘ durch die Formel ,aut deus aut natura‘ ersetzt wissen wollte. Wie sich Spinoza, der Bacons Idolen-Lehre und auch Hobbes kannte, im Spannungsfeld zwischen mehr oder weniger idealistischen und andererseits materialistischen Denkformen positionierte, geht aus einem Brief an einen Bekannten hervor, der ihm in einem Brief die Existenz von „Geistern“ nachzuweisen versucht hatte. Hier spricht necessitatem involvunt. Sive igitur dicamus omnia secundum leges naturae fieri, sive ex Dei decreto et directione ordinari, idem dicimus“. (Spinoza: Opera. Werke. Lateinisch und Deutsch. Erster Band: Tractatus theologico-politicus, hg. von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner, Darmstadt 1979, S. 104/105 (Caput III). 283 Vgl. SVF II, Nr. 1000: „Fatum, quod eRlaql´mgm Graeci vocant, ad hanc ferme sententiam Chrysippus, Stoicae princeps philosophiae, definit: ,Fatum est‘, inquit, ,sempiterna quaedam et indeclinabilis series rerum et catena volvens semetipsa sese et implicans per aeternos consequentiae ordines, ex quibus apta nexaque est‘“ – „Das Fatum, das die Griechen Heimarmene nennen, definiert Chrysipp, das Oberhaupt der stoischen Philosophie, fest in folgender Bestimmung: „Das Fatum“, sagt er, „ist eine ewige und unabänderliche Reihe und Kette der Dinge, die sich aus sich selbst fortsetzt und bis in alle Ewigkeit die Ordnungsmuster der Konsequenz einschließt, nach denen sie selbst gefügt und verknüpft ist“. (Referat des Gellius in seinen vielgelesenen Noctes Atticae VII 2). 284 Zentral: Cicero: De divinatione I 55, 125. Das Cicero-Zitat in Anm. 115 285 Vgl. Ludwig Feuerbach: Grundstze der Philosophie der Zukunft (1843), in: Ludwig Feuerbach: Werke in sechs Bnden, hg. von Erich Thies, Bd. 3: Kritiken und Abhandlungen II, Frankfurt 1975, S. 267 (§ 15).

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Spinoza, der 1656 aus der Synagoge und 1660 aus Amsterdam verbannt worden war und dessen Tractatus theologico-politicus 1674 verboten wurde, ganz ungeschützt: Die Autorität des Plato, Aristoteles und Sokrates gilt bei mir nicht viel. Ich hätte mich gewundert, wenn Sie Epikur, Demokrit, Lucretius oder einen Atomisten oder Anhänger des Atomismus angeführt hätten. Es wäre nicht wunderbar, wenn die Leute, die verborgene Qualitäten, absichtsvolle Arten, substantiale Formen und tausend andere Hirngespinste ersonnen haben, auch Gespenster und Schatten sich ausgedacht und alten Weibern Glauben geschenkt hätten, um die Autorität des Demokrit zu schwächen, auf dessen Ruhm sie so neidisch waren, daß sie alle seine Bücher, die er mit so viel Beifall herausgegeben hatte, verbrannten. Haben Sie Lust, diesen Glauben zu schenken, welche Gründe haben Sie dann, die Wunder der heiligen Jungfrau und aller Heiligen zu leugnen, die von so vielen hochberühmten Philosophen, Theologen und Historikern beschrieben sind, daß man auf hundert von diesen kaum einen von jenen anführen kann? 286

Im Hinblick darauf, daß Spinoza und der durch ihn vermittelte stoische Pantheismus eine Schlüsselrolle in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielte und im deutschen Idealismus intensiv rezipiert wurde, erscheint hier vor allem die Absage an den Idealismus aufschlußreich. Sein wegen der entschiedenen Immanenzlehre im strengen Sinn nicht idealistisch aufzufassender Pantheismus war dennoch idealistisch überformbar, nicht zuletzt aufgrund der Ambivalenz in der Gleichung „deus sive natura“ und der dominanten Orientierung am ganzheitlichen Denken – in seinem schon genannten Brief an Jacobi sprach Goethe davon, daß vor Spinozas Blick „alle einzelnen Dinge zu verschwinden scheinen“. Die radikalen – atheistischen und materialistischen – Konsequenzen standen bereits im Spinozismus-Streit des 18. Jahrhunderts zur Debatte und wurden schon in der antiken Stoa nur durch die an Hypostasierung grenzende Verwendung des Logos-Begriffs für das Naturgesetz vermieden. Im großen Zusammenhang der frühneuzeitlichen Stoa-Rezeption, so weit sie sich nicht auf den Bereich der stoischen Moral beschränkte, bildet Spinozas Stoizismus die Brücke von den pantheistischen Philosophen der Renaissance, besonders von Giordano Bruno, zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zu Lessing, Goethe, Hölderlin und Schelling – um nur die markantesten Autoren zu nennen, die nicht wie Schiller primär in der Tradition der stoischen Morallehre standen. 286 Spinoza: Briefwechsel, übersetzt und eingeleitet von Carl Gebhardt, Leipzig 1914, Brief 56 an Hugo Boxel, S. 231.

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III Überkreuzung epikureischer und stoischer Strömungen im 18. Jahrhundert. Revolutionäre und religionskritische Paradigmatisierung stoischer Leitfiguren Auf die große Renaissance des Stoizismus im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert folgen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zunächst noch mancherlei Nachzügler sowohl mit gelehrten Abhandlungen wie mit poetischen Texten. Dann beginnt ein neuer Aufschwung des Stoizismus. Er hat eine doppelte Motivation und Stoßrichtung: eine politischrevolutionäre und eine religionskritische. Im Vorfeld der Französischen Revolution und dann während der Revolution selbst werden die stoischen Tugendhelden Cato und Brutus zu Leitfiguren einer gegen die absolutistische Monarchie gerichteten republikanischen Selbstverständigung; ein vom rousseauistischen Naturkult mitbefeuerter Spinozismus und mit ihm Spinozas stoische Grundlagen entwickeln sich zum Medium eines energisch säkularisierenden Aufklärungsprozesses. Von den Autoren der antiken Stoa hat nun bezeichnenderweise Epiktet in zahlreichen Editionen von Madrid bis St. Petersburg ebenso wie Marc Aurel Hochkonjunktur. Epiktet war nicht wie Cicero ein nobilitätsfixierter Adeliger und nicht wie Seneca ein steinreicher Magnat in unmittelbarer, wenn auch schließlich tödlicher Nähe zu einem tyrannischen Kaiser. Er war, zunächst jedenfalls, ein rechtloser Sklave, in dessen stoischer Tugendbotschaft die Diatribe über die Freiheit im Umfang wie in der Aussagekraft einen hervorragenden Platz einnimmt. Am anderen Ende des sozialen Spektrums fand Marc Aurel, der Kaiser, ein doppeltes Interesse: einerseits als Paradigma eines „aufgeklärten“ Absolutismus mit philanthropischen Zügen, weshalb ihn Friedrich der Große als Vorbild wählte und weshalb man sich auf ihn auch berufen konnte, um für eine aufgeklärte, nicht auf die Person des Monarchen, sondern auf die Verantwortung für das Allgemeinwohl ausgerichtete Herrschaft zu plädieren; andererseits zogen Marc Aurels Selbstgesprche die Sympathie auf sich, weil sie mit ihrer subjektiv gefärbten Verinnerlichung, mit ihrer persönlich-privat anmutenden Aussageform, mit ihrem manchmal geradezu bekenntnishaften Duktus der sich im 18. Jahrhundert entfaltenden Kultur der Empfindsamkeit und den von ihr bevorzugten literarischen Formen besonders entsprachen. Gegenüber diesen Aktualisierungen der stoischen Tradition huldigte aber doch bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein die

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Kultur des Rokoko nicht der stoischen, sondern der epikureischen Lebenshaltung: einem manchmal ins Libertinistische gezogenen Epikureismus. Das barock-heroische Pathos weicht einer rokokohaft verspielten Sinnlichkeit, in der das Lustprinzip die Oberhand gewinnt. Vergnügen (plaisir), Freude und Glück (bonheur) werden nun zu literarischen und philosophischen Hauptthemen. In der Lyrik kultivieren die Anakreontiker bis in die 1760er Jahre hinein eine epikureisch inspirierte Poesie. Auch Malerei und Plastik zeugen von dieser Tendenz: Vergnügen und Lust finden ihre Repräsentation in frivolen Darstellungen. Nichts ist dieser kulturellen Strömung fremder als die stoische Botschaft der Askese und der Tugend. Der auf Provokation angelegte Zusammenstoß ereignet sich in der Mitte des Jahrhunderts: La Mettrie veröffentlicht im damals preußischen Köln 1747 eine „Schule der Lust“ ( cole de la Volupt) und 1750 in Potsdam einen Anti-Seneca (AntiSn que ou le Souverain Bien). Ihren literarischen Höhepunkt erreicht diese antagonistische Konstellation bei Wieland, zuerst in seiner heiteren, sofort auch vom jungen Goethe bewunderten Verserzählung Musarion oder die Philosophie der Grazien (1768). In ihr erfährt ein frauenfeindlicher Jüngling, der sich der „freudescheuen Zunft / Geschwollner Stoiker“ (mitgemeint ist natürlich die christliche Sinnenfeindschaft) angeschlossen hat, durch die reizende Musarion eine Erziehung des Herzens zu einer natürlichen Lebenshaltung. Schon überständig wirkte auf die Zeitgenossen Wielands letzter großer, Fragment gebliebener Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1800 – 1801), der das Thema reflexionsreich mit politisch-kulturellen Perspektiven verbindet. Komplexe Reaktionsverhältnisse und Überlagerungsphänomene kommen im 18. Jahrhundert dadurch zustande, daß es nicht nur eine „epikureisch“ aufgeklärte und höfisch-rokokohaft sich manifestierende Gegenbewegung gegen den stoischen Tugendrigorismus gibt, sondern auch eine weitgehend schichtenspezifisch zu verstehende bürgerliche „Tugendreaktion“ gegen die späthöfische Kultur. Sie bedient sich wiederum stoischer Muster und Vorstellungen. Das gilt schon für manche der bürgerlichen Trauerspiele, in denen bürgerliche Tugendhelden und -heldinnen gegen höfische Korruption in Stellung gebracht werden. Hier feiert die stoisch gefärbte „Moral“ als bürgerliche Sittenstrenge ihre Auferstehung, und noch mehr gilt dies für die bereits entschieden politisch – republikanisch und schließlich revolutionär – engagierte intellektuelle Elite des Bürgertums, das sich im 18. Jahrhundert herausbildete.

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Die republikanisch-stoischen Musterhelden Cato und Brutus wurden sowohl in literarischen wie in unmittelbar politischen Aktivitäten reaktualisiert. Joseph Addison und François Deschamps schrieben CatoDramen (1713 und 1715). Gottsched adaptierte sie für sein republikanisch-patriotisches Trauerspiel Sterbender Cato,287 das von 1732 bis 1757 in zehn Auflagen erschien, noch ohne politische Vorwärtsstrategie. Erst in der Zeit der Französischen Revolution kam es zu einem engagierten und manchmal agitatorischen Cato-Kult. Mit ihm verband sich der Lobpreis der Stoa und der Abscheu vor dem Epikureismus. Besonders aufschlußreich ist die Rede Robespierres am 7. Mai 1794 (im Revolutionskalender: 18 floréal, an 2). „Cato“, so rief Robespierre mit revolutionärer Emphase, und schloß noch Brutus ein, der mit seinen Mitverschworenen das tödliche Attentat auf Cäsar ausgeführt hatte, Cato schwankte nicht zwischen Epikur und Zenon. Brutus und seine berühmten Mitverschworenen, die seine Gefahren und seinen Ruhm teilten, gehörten ebenfalls zur erhabenen Schule der Stoiker, die so hohe Vorstellungen von der Würde des Menschen hatte, die so weit den Tugend-Enthusiasmus trieb und die nur den Heroismus übersteigerte: Der Stoizismus brachte die Nacheiferer von Brutus und Cato hervor bis in die schrecklichen Jahrhunderte hinein, die auf den Verlust der römischen Freiheit folgten; der Stoizismus rettete die Ehre der menschlichen Natur, die durch die Laster der Nachfolger Cäsars und vor allem durch die Duldsamkeit der Völker erniedrigt worden war.288

Darauf verurteilt Robespierre, auf Horaz anspielend, die [Schweine-] Herde Epikurs („le troupeau d’Épicure“). Um „gegen alle Tyrannen der Erde“ Krieg zu führen, ruft er nach einem neuen Cato („un nouveau Caton“). Eines Tages sollen „Cato und Cicero das Konklave des Papstes und der Kardinäle ersetzen“ („[avec] Caton et Cicéron remplacer au conclave le pape et les cardinaux“).289 In seinem flammenden Plädoyer für die stoische „Tugend“ ging Robespierre soweit, daß er unter den zahlreichen republikanischen Festtagen, mit denen die französischen 287 Hierzu der Beitrag von Barbara Beßlich im vorliegenden Werk. 288 „Caton ne balança point entre Épicure et Zénon. Brutus et les illustres conjurés qui partagèrent ses périls et sa gloire appartenaient aussi à cette secte sublime des Stoïciens, qui eut des idées si hautes de la dignité de l’homme, qui poussa si loin l’enthousiasme de la vertu, et qui n’outra que l’héroïsme: le stoïcisme enfanta des émules de Brutus et de Caton jusque dans les siècles affreux qui suivirent la perte de la liberté romaine; le stoïcisme sauva l’honneur de la nature humaine, dégradée par les vices des successeurs de César, et surtout par la patience des peuples“ (Oeuvres de Robespierre, éd. A. Vermorel, Paris 1866, S. 322). 289 S. 239 und 241.

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Revolutionäre die christlichen Festtage ablösen wollten, einen Festtag „Dem Stoizismus“ plante („Au Stoïcisme“)! 290 Hier ist die äußerste Grenze in dem fast zweitausendjährigen spannungsreichen Verhältnis zwischen Christentum und Stoizismus erreicht, die Grenze, an der sich eine radikale Säkularisierung gewaltsam durchsetzt, zugleich aber auch die Grenze, an der die stoische virtus pervertiert wurde. Denn nichts hätte der Stoa ferner gelegen als die von Robespierre geforderte Verbindung der „Tugend“ („vertu“) mit dem Terror („terreur“), mit der er in einer berühmt-berüchtigten Rede den revolutionären Terror zu rechtfertigen versuchte. Nicht weniger aufschlußreich ist es, daß die Opfer des Robespierreschen Terrors doch weiterhin Cato und Brutus als republikanische Vorbilder hochhielten, daß sie aber nicht den fanatischen Aktionismus übernahmen, in den sich Robespierre hineinsteigerte, sondern aus ihrer Opferrolle heraus ganz andere Valenzen der Stoa wahrnahmen, und zwar sowohl bei Seneca wie bei Epiktet und Marc Aurel: überlegene Resignation und eine stoische Ergebenheit in das Schicksal, in der sich die innere Unabhängigkeit des Weisen und des Helden zeige.291 Eine besondere Rolle spielte Plutarch.292 Doch nicht seine in einigen theoretischen Schriften formulierten philosophisch-kritischen Einwände gegen manche stoische Vorstellungen zählten, sondern seine seit der Renaissance auch durch bedeutende Editionen und Übersetzungen breit rezipierten Vergleichenden Lebensbeschreibungen (b¸oi paq²kkgkoi) – und darin nicht zuletzt die Biographie des stoisch-republikanischen Cäsar-Attentäters Brutus. Schillers Ruber, auf dem erst 1779 gegründeten Mannheimer Nationaltheater 1782 triumphal uraufgeführt und im Hinblick auf den despotisch regierenden württembergischen Herzog Carl Eugen mit dem Motto ,In tyrannos‘ versehen (wenig später bestrafte der Herzog den unbotmäßigen Zögling der Stuttgarter Karlsschule mit 14 Tagen Arrest und verbot ihm jede literarische Betätigung, am 22. 9. 1782 floh Schiller aus der Heimat), spielen wiederholt auf Plutarch an. Im „Römergesang“ (IV/5) bekennt sich Karl Moor zu dem Cäsar-Mörder Brutus – sogar das Motiv der Erscheinung von Cäsars 290 S. 335. 291 Wertvolle Hinweise und Belege bei Michel Spanneut: Permanence du stocisme, Gembloux 1973, S. 341. 292 Vgl. Rudolf Hirzel: Plutarch. Leipzig 1912. Konrat Ziegler: Artikel Plutarchos, in: RE 21.1 (1951), Sp. 636 – 962; als Buchausgabe: 2. Auflage Stuttgart 1964. Jackson P. Hershbell: Plutarch, in: Philosophen der Antike II, hg. von Friedo Ricken, Stuttgart 1996, S. 169 – 183.

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Geist vor der Schlacht von Philippi stammt aus Plutarchs Brutus-Biographie. Die Plutarch-Lektüre gehörte zu den Identifikationsmitteln engagierter Republikaner. Es ist bezeichnend, daß 1793, auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution, in Tübingen eine vierbändige Plutarch-Ausgabe erschien, die Hölderlin, der zu dieser Zeit mit Hegel im Tübinger Stift studierte und sich wie viele andere Stiftler für die Revolution begeisterte, sofort erwarb.293 In Paris bekannte die durch den jakobinischen Terror in den Tod getriebene Madame Roland noch angesichts der bevorstehenden Hinrichtung, Plutarch habe sie veranlaßt, Republikanerin zu werden.294 Und von Beethoven, der im gleichen Jahr 1770 wie Hölderlin (und Hegel) geboren ist und ebenfalls überzeugter Republikaner war, berichtet sein erster, mit ihm noch gut bekannter Biograph, daß er auf seinem Sterbebett „anfing mit stoischer Weisheit dem Tode entgegen zu sehen. Plutarch und andere der griechischen Lieblingsschriftsteller lagen um ihn herum und so kam er eines Tages (es mag der 7te oder 8te vor seinem Dahinscheiden gewesen seyn) wieder auf seinen vielbewunderten Luc. Brutus zu sprechen […]“.295

293 Das Verzeichnis von Hölderlins hinterlassenen Büchern enthält die Angabe: Plutarchi Opera. Tübingen MDCCXCIII. 4 Volumina. Darauf folgt noch eine zweite, griechische Plutarch-Ausgabe ohne nähere Kennzeichnungen: Plutarchs Werke, griechisch. Vgl. die Dokumentation in: Friedrich Hölderlin: Smtliche Werke und Briefe in drei Bnden, hg. von Jochen Schmidt. Bd. 3: Die Briefe an Hçlderlin. Dokumente, hg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Wolfgang Behschnitt, Frankfurt 1992, S. 693. 294 Hierzu Spanneut (wie Anm. 28), S. 341. 295 Zitiert nach der Erstausgabe: Biographie von Ludwig van Beethoven. Verfasst von Anton Schindler, Musikdirector und Professor der Tonkunst. Münster 1840 in der Aschendorff’schen Buchhandlung, S. 2 f. Beethovens Biograph verwechselt den Cäsarattentäter Marcus Junius Brutus mit Lucius Iunius Brutus, den Plutarch gleich am Anfang seiner dem anderen Brutus gewidmeten Lebensbeschreibung als dessen entfernten Vorfahren nennt. Der römischen Tradition zufolge vertrieb er den letzten König Roms, Tarquinius Superbus, und begründete die römische Republik. Er galt aber auch als unmenschlich hart, weil er seine beiden Söhne, die seine politischen Ziele durchkreuzten, hinrichten ließ. Plutarch schildert dagegen Marcus Iunius Brutus, der das Attentat auf Cäsar ausführte, auch als Vorbild edler Menschlichkeit.

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Kants Stoa-Kritik im zeitgenössischen Kontext. Seine Affinität zur stoischen Auffassung des ,Mitleids‘ und der ,Pflicht‘ In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts intensivierte sich die Aufnahme der Stoa, und dies auf einem denkerisch und künstlerisch bisher noch nicht erreichten Niveau: Kant, Goethe, Schiller, Hölderlin und Kleist bilden in der Begegnung mit der Stoa moralphilosophische, anthropologische und politische Anschauungen aus, die weiterführen. Ein Zeichen des sich wieder verstärkenden Interesses an der Stoa war schon die erstmals nach der Manuductio des Lipsius unternommene Gesamtdarstellung der stoischen Philosophie durch Dieterich Tiedemann: System der stoischen Philosophie in drei Bnden, Leipzig 1776. Auch Johann Jakob Brucker bot in seiner als philosophisches Standardwerk vielbenutzten Historia critica philosophiae ein umfangreiches Kapitel über die Stoa.296 Kant, der seinerseits einen ganzen Schub moralphilosophischer Schriften im vergleichenden Anschluß an seine eigene Beschäftigung mit der Moralphilosophie der Stoa auslöste,297 erörtert stoische Positionen in verschiedenen Werken:298 in der Kritik der reinen Vernunft, in der Kritik der praktischen Vernunft, in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, schließlich in der Metaphysik der Sitten. Vorzugsweise handelt er dabei natürlich die im Jahrhundert der Aufklärung aktuellen Themen ab. Die den Stoikern und Epikureern gemeinsame Ausrichtung auf das „Glück“ (Eudämonie) entsprach dem ausgeprägten Eudaimonismus des 18. Jahrhunderts. In diesem Horizont steht für Kant das in der Stoa wie in der Aufklärung zentrale Verhältnis von Vernunft und Moral („Tugend“). Insbesondere wirft er in der Kritik der praktischen Vernunft die Frage auf, ob die Stoiker zu Recht Tugend und Glück ineins gesetzt haben. Während die Epikureer, so führt er aus, das Glück für das höchste Gut – das summum bonum – halten und die Tugend nur als die Voraussetzung für dessen Erlangung ansehen, sei bei den Stoikern die Tugend an sich schon das höchste Gut und das Glück bestehe für sie im 296 Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae. 5 Bde. Leipzig 1742 – 1744. Bd. 1, Leipzig 1742, S. 893 – 981: De secta stoica. 297 Aufgeführt bei M. I. Seidler: The Role of Stoicism in Kant’s Moral Philosophy, Dissertation St. Louis University 1981, S. 2 – 5. 298 Vgl. Willi Schink: Kant und die stoische Ethik, in: Kant-Studien 18, 1913, S. 419 – 475, sowie die übergreifende Darstellung von Ulrike Santozki: Die Bedeutung antiker Theorien fr die Genese und Systematik von Kants Philosophie. Eine Analyse der drei Kritiken. Berlin, New York 2006.

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subjektiven Bewußtsein, diese Tugend zu besitzen.299 Beiden Konzepten gegenüber bestreitet Kant den Zusammenhang von Tugend und Glück.300 Ein anderer Einwand, den Kant speziell gegen die Stoiker erhebt: Die Stoiker vertrauen auf einen Tugendheroismus, der sich über die dem Menschen von der Natur gesetzten Grenzen hinwegsetze. Indirekt scheint sich Kant hier mit dem optimistischen Perfektibilitätsdenken der Aufklärung, aber auch mit einer anderen Form des aufklärerischen Optimismus auseinanderzusetzen: mit der Annahme einer ursprünglich guten Natur des Menschen, die ihn zur Vollkommenheit bestimme, wie auch die Stoiker annähmen. Dagegen geht der späte Kant gerade von einem spezifisch menschlichen Hang zum Bösen aus. Den kritischen Überlegungen in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (in der Anfangspartie des Zweiten Stcks) steht jedoch die Anerkennung der stoischen Bemühung um die „Tugend“ und des von der Vernunft gesteuerten Kampfes gegen die Affekte gegenüber. Dieser Kampf hat sich für ihn zwar nicht grundsätzlich gegen die natürlichen Neigungen, aber gegen die Unterordnung der Sittlichkeit unter sie zu richten. In der Kritik der reinen Vernunft hatte er eine noch strengere, der Stoa viel mehr zustimmende Position bezogen. Hier ist der stoische Weise auch für ihn ein Leitbild, ein in der Realität zwar nicht zu erreichendes, aber ein ideales, da es der „Idee“ der Weisheit entspreche; insofern gebe das Leitbild des Weisen doch ein „Richtmaß“. Das heißt, daß der Weise, obwohl er in der Realität nicht existiert, doch kein „Hirngespinst“ ist.301 Inwiefern dies der authentischen Position der alten Stoa entspricht, läßt sich nicht ohne weiteres entscheiden, denn zwar beschwören die Stoiker immer wieder den festen Typus des „Weisen“, aber indem sie ihm über alles menschlich reale Maß hinausgehende 299 Kritik der praktischen Vernunft. 1. Theil. 2. Buch. 2. Hauptstck: Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom hçchsten Gut. Akademie-Ausgabe, Bd. V, S. 111. 300 Vgl. Maximilian Forschner: Moralitt und Glckseligkeit in Kants Reflexionen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42, 1988, S. 351 – 370, hier 369 f. Terence H. Irwin: Kant’s Criticism of Eudaimonism, in: Aristotle, Kant, and the Stoics. Rethinking Happiness and Duty, hg. von Stephen Engstrom/Jennifer Whiting, Cambridge 1996, S. 63 – 101. Hermann Weidemann: Kants Kritik am Eudmonismus und die Platonische Ethik, in: Kant-Studien 92, 2001, S. 19 – 37. Beatrix Himmelmann: Kants Begriff des Glcks. Berlin/New York 2003. Vgl. auch den Beitrag von Christoph Horn im vorliegenden Werk. 301 Kritik der reinen Vernunft. Die transzendentale Dialektik. Zweites Buch. Drittes Hauptstck: Das Ideal der reinen Vernunft. A 569 f./B 597 f.

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Vollkommenheiten und Kompetenzen in einer schon in der Antike immer wieder als provozierend empfundenen Manier zuschreiben, fordern sie geradezu dazu heraus, ihn entweder als Ideal-Vorstellung zu verstehen oder – von einem realistischen Standpunkt aus – in Zweifel zu ziehen. Der Weise ist nicht, auch nicht bei Kant, der pqojºptym, der noch im unabschließbaren Prozeß geistiger und sittlicher Bemühung Fortschreitende, auf den die Stoa ihre erzieherischen Bemühungen richtet und dem im Neustoizismus Justus Lipsius mit seiner Schrift De constantia eine zentrale Rolle zuweist. Vielmehr dient der Weise, sofern er nicht wirklichkeitsnah in der Gestalt eines stoakonformen Lehrers redimensioniert ist, dem pqojºptym nur als ideales Modell. Es soll zur geistigen und sittlichen Selbstvervollkommnung anleiten. Es gab in der Stoa ja auch utopische Modelle aus der Mythologie, allen voran den stoischen Tugendhelden Herkules, wie ihn zuerst die Fabel des Prodikos präsentiert. Schon die antike Stoa hatte ihr Ideal des Weisen mit dem der Apatheia verbunden. Auch Kant thematisiert im Zuge seiner Ausführungen zum „Weisen“ diesen Zusammenhang in der Kritik der reinen Vernunft. 302 Oft wurde das stoische Ideal der Apatheia als Plädoyer für steinerne Gefühllosigkeit oder gar, dem modernen Wortgebrauch entsprechend, als Stumpfsinn mißverstanden. Keineswegs jedoch meint die stoische Apatheia – schon Seneca bescheinigte diesem Begriff eine irritierende Ambiguität303 – eine inhumane Unempfindlichkeit, auch nicht, wie Kant augenzwinkernd annimmt, ein vor Erregungen schützendes Phlegma (das er nicht gerne dem Weisen zumutet). Stoische Apatheia ist die Haltung dessen, der sich aufgrund weiterreichender Einsicht – eben sie macht den „Weisen“ aus – nicht durch einzelne schlimme Ereignisse überwältigen läßt und sich damit seelisch nicht der im Hellenismus zu einer übermächtigen Instanz erhobenen Tyche (Fortuna) ausliefert;304 der sich außerdem dank seiner Selbstbeherr302 Vgl. Marcia W. Baron: Sympathy and Coldness: Kant on the Stoic and the Sage, in: Proceedings of the VIIIth International Kant Congress, vol. 1, part 2, Milwaukee 1995, S. 691 – 702. 303 Seneca, Epist. 9, 2: „In Doppelsinn verfällt man notwendig, wenn wir !p²heia mit einem Wort rasch ausdrücken wollen […]“ („In ambiguitatem incidendum est, si exprimere !p²heiam uno verbo cito voluerimus […]“). 304 Diogenes Laërtios VII 117 (= SVF III, Nr. 448) – mit der klaren Unterscheidung zwischen der stoischen, auf einer ethischen Anstrengung beruhenden Apatheia, und der verächtlichen, die bloß auf menschliche Defizite zurückzuführen ist. – Speziell zur Unbesiegbarkeit durch Tyche, die den Weisen zum

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schung auch nicht durch Leidenschaften zerrütten läßt. Wer dies zu leisten vermag, ist „weise“ – und in der Tat ist die Apatheia Ergebnis einer ethischen Leistung, nicht eine schlicht vorhandene Befindlichkeit. In der Abhandlung Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (§ 75) kommt Kant noch einmal auf den Weisen und seine Apathie zu sprechen, und nun im Hinblick auf ein Thema, das schon in der Antike, auch in der Stoa selbst, lebhaft diskutiert wurde, das mehrere Kirchenväter kritisch aufgriffen, das Lipsius in seiner Schrift De constantia in engem Anschluß an Seneca traktierte und das im 18. Jahrhundert, ja noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein geradezu aktuell wurde: das Mitleid.305 Die Humanitätsbewegung im Verein mit der seit Rousseau in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich ausbreitenden Gefühlskultur hatte auch eine philanthropische Mitleidsmode zur Folge.306 Rousseau selbst erhob in seinem 1755 erschienenen Discours sur l’origine et les fondements de l’ingalit parmi les hommes das Mitleid (pitié) zur naturhaft gegebenen menschlichen Kardinaltugend.307 Mitleid als gerade !pah¶r macht: SVF I, Nr. 449: fti b sov¹r rp¹ t/r t¼wgr !¶ttgtºr 1sti ja· !do¼kytor ja· !j´qaior ja· !pah¶r.

305 Mitleid als unvernünftiger Affekt und bloße Schwäche schon bei Zenon (Diogenes Laërtios VII, 111 und 123), ja als Krankheit der Seele (SVF I, Nr. 213), Cicero: Tusculanae disputationes IV 26 (56), Seneca: De clementia II 4, 4 und 5 f. Lactanz, Inst. Div. III 23: „inter vitia et morbos misericordiam ponit“ [Zenon]; Lactanz, Epist. ad Pentad. 38: „Zeno Stoicorum magister, qui virtutem laudat, misericordiam […] tamquam morbum animi diiudicavit“.Lipsius: De constantia (wie Anm. 128), S. 85/89. 306 Vgl. hierzu: Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Bchner. München 1980. 307 „Ich glaube keinen Widerspruch fürchten zu müssen“, schreibt Rousseau, „wenn ich dem Menschen die einzige natürliche Tugend zuspreche, die der übertriebenste Verleumder der menschlichen Tugenden [gemeint ist Mandevilles The Fable of the Bees] anzuerkennen gezwungen ist. Ich spreche vom Mitleid […] es ist eine Tugend, die unter den Menschen umso verbreiteter und umso nützlicher ist, als sie bei ihnen dem Gebrauch jeglicher Reflexion vorhergeht“, und er fährt nach der Demonstration an Beispielen fort: „So ist die reine, jeder Reflexion vorausliegende Regung der Natur. So ist die Stärke des natürlichen Mitgefühls, das selbst die entartetsten Sitten Mühe haben zu zerstören“. Deshalb leitet Rousseau alle sozialen Tugenden aus dem Mitleid ab: „In der Tat, was sind die Freigebigkeit, die Klugheit, die Menschlichkeit, wenn nicht das auf die Schwachen, die Schuldigen oder das ganze Menschengeschlecht übertragene Mitleid? […] Es ist demnach gewiß, daß das Mitleid ein natürliches Gefühl ist, das in jedem Individuum die Gewalt der Eigenliebe mäßigt und zur wechselseitigen Erhaltung der gesamten Gattung beiträgt. Gerade das Mitleid bringt uns dazu, ohne Nachdenken denen zu Hilfe zu kommen, die wir leiden sehen“ – „Je ne crois pas avoir aucune contradiction à

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aufgrund affektiver Intensität kultivierte humane Qualität, als Tugend, die nicht wie die stoische virtus rational und sekundär formiert, sondern gefühlshaft und primär gegeben ist – das war der zeitgenössische Vorstellungshorizont, in dem Kant schrieb. Im 19. Jahrhundert machte Schopenhauer das Mitleid zum Fundament der Ethik308 und in der Zeit des sogenannten „Weltschmerzes“ wuchs sich die Mitleidskonjunktur ins Pathologische aus. Von bloßer Sentimentalität reichte sie bis zu einer schon in der christlichen Tradition vorhandenen Leidens- und Mitleidsmystik. Am intensivsten gestaltet und diagnostiziert Georg Büchner, der bekanntlich auch Arzt und medizinischer Forscher war, die pathologischen und mystischen Züge des Mitleids in seiner zu den Höhepunkten der Literatur gehörenden Erzählung Lenz. Die antike Stoa kämpfte programmatisch gegen die „Krankheiten der Seele“ an und suchte nach Therapien – deshalb interessierte sich ja auch der berühmte Arzt Galen, Leibarzt Marc Aurels und eine medizinische Autorität weit über die Antike hinaus, insbesondere für die stoische Affektenlehre. In seinen noch bis in die Neuzeit hinein vielcraindre, en accordant à l’homme la seule vertu naturelle qu’ait été forcé de reconnaître le détracteur le plus outré des vertus humaines. Je parle de la pitié […] vertu d’autant plus universelle et d’autant plus utile à l’homme, qu’elle précède en lui l’usage de toute réflexion [es folgen Beispiele] Tel est le pur mouvement de la nature, antérieur à toute réflexion; telle est la force de la pitié naturelle, que les moeurs les plus dépravées ont encore peine à détruire […] en effet, qu’est-ce que la générosité, la clémence, l’humanité, sinon la pitié appliquée aux faibles, aux coupables, ou à l’espèce humaine en général? […] Il est donc bien certain que la pitié est un sentiment naturel, qui, modérant dans chaque individu l’activité de l’amour de soi-même, concourt à la conservation mutuelle de toute l’espèce. C’est elle qui nous porte sans réflexion au secours de ceux que nous voyons souffrir“ ( Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’Origine de l’Ingalit parmi les Hommes, in: Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand, Hamburg 1971 u. ö. (Philosophische Bibliothek Bd. 243), S. 170/171 – 176/177). 308 Unter den vielen einschlägigen Feststellungen in Schopenhauers Werk sind die Paragraphen 18 und 19 seiner Schrift Grundlage der Moral hervorzuheben. Er begründet darin die „Wahrheit, daß das Mitleid, als die einzige nicht egoistische, auch die alleinige ächt moralische Triebfeder sei“, und fährt nach diesem einleitenden Satz des § 19 fort: „[…] Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten. Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig Keinen verletzen, Keinem wehe thun […] und alle seine Handlungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen“ (Arthur Schopenhauer: Smtliche Werke, hg. von Arthur Hübscher, 3. Auflage, Bd. 4: Schriften zur Naturphilosophie und Ethik, Wiesbaden 1972, S. 231, S. 236).

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gelesenen Schriften309 vermittelte er, wenn auch durchaus kritisch, die stoischen Lehrmeinungen aus Chrysipps Schrift ber die Affekte (peq· pah_m), die er ein „therapeutisches Büchlein“ nennt (heqapeutij¹m bibk¸om).310 Schon Aristoteles hatte den beiden eng verwandten Affekten Furcht (vºbor) und Mitleid (5keor) „wie auch allen derartigen krankhaften Zuständen“ ( ja· t_m toio¼tym pahgl²tym) beizukommen versucht: durch die von der Tragödie ausgehende Erschütterung, der er eine kathartische Wirkung zuschrieb. Die Stoa wählte einen ganz anderen Weg: den der rational gesteuerten und auf praktische Effizienz ausgerichteten Bändigung des Mitleidsgefühls. Hier setzt Kant zustimmend an, indem er die aufgeklärte und aufklärende „Vernunft“ zur Geltung bringt. In der stoischen Diskussion über das Mitleid konnte Kant vor allem auf Seneca zurückgreifen. Dessen Schrift De clementia stellte die stoische Haltung zum Mitleid gegen die auch schon zu seiner Zeit verbreiteten Vorwürfe inhumaner Hartherzigkeit klar. Seneca erläutert die grundsätzliche stoische Ablehnung der „misericordia“, des Mitleids, sofern es zu einer Fehlhaltung (vitium) der Seele, ja zu einer Seelenkrankheit (aegritudo animi) wird, die den Weisen ebensowenig befällt wie das andere Extrem, die Grausamkeit. Das Mitleid, das lediglich eine Ansteckung durch das Leiden anderer bleibt, schwäche den Menschen und behindere eine tätige und besonnene Hilfeleistung. Gerade sie aber zeichne den Weisen aus. Nur weil er nicht innerlich angegriffen und emotional verwirrt wird, weiß er sofort hilfreichen Rat zu schaffen („in expedito consilium habet“).311 Kant kennt diese Version der stoischen Mitleidslehre genau. Ganz anders als Nietzsche, der ein Jahrhundert später gegen die christliche Bejahung des Mitleids und Schopenhauers Mitleidskult eine extreme Gegenposition vertritt,312 anerkennt er sie, steuert aber noch eine wichtige Differenzierung bei, indem er dem gefühlshaften Mitleid wenigstens eine initiierende Funktion für die Hilfeleistung zugesteht. In § 75 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht betont er wie Seneca, daß 309 Vgl. vor allem De locis affectis und De placitis Hippocratis et Platonis. Die einschlägigen Partien in: SVF III, Nr. 457 – 480. Zu Galen vgl. S. 22. 310 SVF III, Nr. 457. 311 L. Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch, hg. von Manfred Rosenbach. 5. Bd.: De clementia, De beneficiis. ber die Milde. ber die Wohltaten, Darmstadt 1989 u. ö., S. 22/23 – 24/25 (II, 6). 312 Vgl. hierzu die Beiträge zu Schopenhauer und Nietzsche von Barbara Neymeyr im zweiten Band.

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die Vernunft statt des Affekts bestimmend sein müsse, billigt aber der „Weisheit der Natur“ in der Form des Affekts eine vorlufige, stimulierende Bedeutung zu. Dann aber tritt die Weisheit der Vernunft an die Stelle der Weisheit der Natur, die ihr nur die Bahn bereitet: Das Princip der Apathie: daß nämlich der Weise niemals im Affect, selbst nicht in dem des Mitleids mit den Übeln seines besten Freundes sein müsse, ist ein ganz richtiger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule; denn der Affect macht (mehr oder weniger) blind. – Daß gleichwohl die Natur in uns die Anlage dazu eingepflanzt hat, war Weisheit der Natur, um provisorisch, ehe die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen, nämlich den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen (sinnlichen) Anreizes, als einstweiliges Surrogat der Vernunft, zur Belebung beizufügen. Denn übrigens ist Affect, für sich allein betrachtet, jederzeit unklug; er macht sich selbst unfähig, seinen eigenen Zweck zu verfolgen, und es ist also unweise ihn in sich vorsätzlich entstehen zu lassen.313

Kant nahm auch die große Bedeutung wahr, welche die Stoa in ihrem ausgeprägt pädagogischen und psychagogischen Engagement markanten Beispielen zumaß. In erster Linie dürfte ihm das stoische Ur-Exempel des Herkules vor Augen gestanden haben, das bis ins 18. Jahrhundert zum festen Repertoire gehörte, doch hatte die Stoa auch eine ganze Reihe anderer Exempel-Figuren aufgestellt. Anschließend an den zitierten Passus aus der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht reflektiert Kant die motivierende und formierende Kraft solcher Beispiele im systematischen Zusammenhang der stoischen Affektenlehre und der Rolle der Vernunft in ihr:314 Seine Ausführungen zeugen von dem Bewußtsein, daß die stoische Psychagogie ähnlich wie die geistliche gerade mittels Exempelfiguren eine populäre Wirkungsstrategie verfolgte („Reden ans Volk“), aber auch eine Methode der Selbstermutigung entwickelte, für die Marc Aurels Selbstgesprche (T± eQr 2autºm) das bekannteste Beispiel bilden („Reden […] einsam an sich selbst“). Das stärkste Interesse an der Stoa nahm Kant, der Philosoph der Pflicht, aufgrund des vor allem in der römischen Stoa zentralen Begriffs der Pflicht, des „officium“. Auch hier handelt es sich nicht um eine bloß systematisch zu verstehende philosophische Reflexion. Sie steht im historischen Zusammenhang eines übergreifenden historischen und aktuellen Diskurses. Schon die von Lipsius ausgehende niederländische 313 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. AA VII, S. 253 f. 314 Ebda.

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Bewegung hatte Preußen ethisch, politisch und militärisch geprägt.315 Daher ist es auch nicht nur von rezeptionsgeschichtlicher Bedeutung, daß Kant besonders nach der Hauptschrift der stoischen Pflichtenlehre, nach Ciceros De officiis, griff und Christian Garves großen Kommentar zu diesem Werk heranzog.316 Er wußte sich mit diesem Interesse in einem preußisch-aktuellen Konsens, nicht zuletzt mit Friedrich dem Großen. Dieser bezeichnete sich selbst als „philosophe stoïcien“ und bekannte sich in einem Gedicht mit dem Titel Le Stocien geradezu programmatisch zur Stoa.317 Neben seinem Vorbild Marc Aurel, den er in seiner Ode sur la gloire als „L’exemple des humains, mon héros, mon modèle“ pries,318 hielt er, als die weltläufigere Version des stoischen Ethos, Ciceros De officiis hoch.319 Cicero hatte in dieser Schrift, seiner meistübersetzten, immer wieder kommentierten und mit Abstand wirkungsreichsten, die von ihm selbst ausdrücklich als Quelle genannte320 Abhandlung des Panaitios peq· toO jah¶jomtor (ber das Angemessene) herangezogen und nicht das strenge altstoische Ethos zum Tragen gebracht. Er überführte die abstrakten Tugenden, insbesondere die Kardinaltugenden Einsicht, Gerechtigkeit, Mut, Selbstbeherrschung, und die von ihnen abzuleitenden Pflichten in praktische Verhaltensregeln. Die Hauptaufmerksamkeit richtete Cicero auf den Nachweis, daß das „Sittliche“ (honestum) auch das Nützliche (utile) sei. Von den Kirchenvätern Ambrosius und Augustinus über Petrarca, Erasmus, Luther, Shaftesbury und Hume reicht die Reihe der großen Bewunderer von Ciceros Schrift bis zu Voltaire, Friedrich dem Großen, Kant und Schiller.321 Kant allerdings rückte gerade in seinem berühmten Preis der Pflicht, den er in der Kritik der praktischen Vernunft formulierte, ein Stück weit vom stoischen Autonomie-Ideal ab und griff dabei auf christliche Ein315 Vgl. hierzu die Abhandlung von Gerhard Oestreich im vorliegenden Werk. 316 Christian Garve: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Bchern von den Pflichten. Breslau 1783. Vgl. Manfred Kühn: Kant and Cicero, in: Kant und die Berliner Aufklrung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, hg. von Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Bd. III, Berlin, New York 2001, S. 270 – 285. 317 Oeuvres de Frdric le Grand, Berlin 1849, S. 181 – 189. 318 Posies diverses du roi de Prusse, Berlin 1760, Bd. I, S. 289. 319 Vgl. Eduard Zeller: Friedrich der Große als Philosoph. Berlin 1886. 320 Besonders aussagekräftig ist einer von Ciceros Briefen an Atticus (Epistulae ad Atticum 16, 11, 4). 321 Zu dieser speziellen wie zu Ciceros Wirkungsgeschichte generell vgl. Thaddäus Zielinski: Cicero im Wandel der Jahrhunderte. Leipzig 1897. 5. Auflage 1967.

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wände zurück, die schon in der alten Kirche und dann später immer wieder erhoben worden waren: vor allem auf den Einwand gegen die stoische Annahme, moralische Vollkommenheit sei möglich. Die Stoiker, so Kant, verkennen die dem Menschen gesetzten Grenzen. Statt aus dem Bewußtsein menschlicher Begrenztheit die Haltung der „Demut“ einzunehmen – sie wird trotz der Berufung auf das Evangelium philosophisch zur Konsequenz der „Selbsterkenntnis“ uminterpretiert – schmeicheln sie der menschlichen Eigenliebe mit Vorstellungen, die in die Sphäre des „Beliebten“ gehören. Kant entwirft seinen Pflichtbegriff zwar im Hinblick auf die stoisch geprägte Pflichtenlehre, aber ihn interessieren nun nicht mehr die einzelnen, ganz anwendungsbezogenen Pflichten, von denen Cicero schon im Titel seiner Schrift bezeichnenderweise pluralisch spricht. Kant geht es um eine eigentümlich abstrakt-prinzipielle „Pflicht“. Sie stellt ein „Gesetz“ dar, ohne doch damit die stoische Begründung der Ethik in einem alles übergreifenden und bestimmenden Natur-Gesetz zu meinen: Wenn dem also ist, so haben nicht allein Romanschreiber, oder empfindelnde Erzieher (ob sie gleich noch so sehr wider Empfindelei eifern), sondern bisweilen selbst Philosophen, ja die strengsten unter allen, die Stoiker, moralische Schwärmerei statt nüchterner, aber weiser Disciplin der Sitten eingeführt […] Pflicht! Du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüthe erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern blos ein Gesetz aufstellst […] welches ist der deiner würdige Ursprung […]? 322

Einen besonderen Akzent erhalten diese Ausführungen durch die sowohl auf die affektbejahenden ,Empfindler‘ wie auf die affektbekämpfenden Stoiker zielende Schwärmer-Kritik. Die „Schwärmer“ waren ein bevorzugtes Angriffsziel der am Maßstab der Rationalität orientierten Aufklärer. Neben Kant ist Wieland dafür ein prominentes Beispiel. Gewöhnlich richtete sich diese Schwärmerkritik gegen idealistische und mystisch-spiritualistische Strömungen. Daß Kant sie, scheinbar paradox, auch gegen die doch auf die recta ratio eingeschworenen Stoiker wendet, erklärt sich aus der von ihm als idealistisch verstandenen, weil über das Maß aufgeklärter Rationalität hinausgehenden Vollkommenheitsutopie der Stoiker. Insofern die stoische Vollkommenheitsvorstellung auf einem idealistisch-„schwärmerischen“ Über322 Kant, Akademie-Ausgabe Bd. V, S. 86.

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schuß beruht, verstößt das Vertrauen auf die vollendende Kraft der ratio selbst gegen rationale Einsicht.

Strukturbildende Aufnahme stoischer Grundgedanken in Werken Goethes, Schillers, Hölderlins und Kleists Die Bedeutung der Stoa für die großen deutschen Dichter der klassischromantischen Epoche ist von unterschiedlicher Art und Intensität. Wieland schrieb nach seiner Berufung zum Erzieher des 17jährigen späteren Herzogs Karl August das in der Tradition des Fürstenspiegels längst kanonisierte stoische Musterstück Die Wahl des Herkules, das in Weimar alsbald als Singspiel aufgeführt wurde. Später aber, vor allem in seiner graziösen, epikureisch inspirierten Verserzählung Musarion und in seinem Altersroman Aristipp relativierte er die stoische Lebenshaltung.323 Der junge Goethe wählte in seinem Gedicht Seefahrt (1776) das Muster der stoischen Virtus, die sich gegen alle Anfechtungen der Fortuna bewährt, mitsamt der stoischen Leitmetapher vom Standhalten im Seesturm, um sich selbst im Hinblick auf den Weimarer Neuanfang und die ihn dort erwartenden unbekannten Lebensaufgaben Mut zuzusprechen. Eine ganz ähnliche, ebenfalls stark an Seneca orientierte jugendliche Selbstermutigung gestaltete gut anderthalb Jahrzehnte später der junge Hölderlin in der vollkommen stoisch konzipierten Hymne Das Schicksal (1794). Wie der junge Goethe stand auch er, nach dem Abschluß seiner Studienjahre im Tübinger Stift und der Absage an den ihm bestimmten geistlichen Beruf, vor der Herausforderung einer ganz neuen Lebensbahn. Nach Schillers Vorbild, das für ihn zu dieser Zeit noch maßgebend war, aber auch angesichts einer viel ungewisseren und weniger verheißungsvollen Zukunft, als Goethe sie vor sich hatte, wählte er einen entschieden härteren, heroischeren Ton. Das stoische Fatum und das stoische Musterbild des Herkules, der den entsagungsvollen Weg der Virtus geht, bestimmen den Duktus der Hymne. Goethe, der zu der Zeit des Übergangs nach Weimar schon ein paar Jahre älter und bereits der berühmte Autor des Werther war, hatte einen viel glücklicheren Lebenshintergrund und erwartete mit großem Selbstbewußtsein, wie sein Gedicht deutlich erkennen läßt, allenfalls ein paar Turbulenzen auf einer im ganzen erfolgreichen Lebensfahrt. Unbeschadet solcher Unterschiede zeigen aber beide Gedichte, welche 323 Zu Wieland vgl. den Beitrag von Dieter Martin im zweiten Band.

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biographische Funktion stoische Vorstellungsmuster im Übergang von den Jugend- zu den Mannesjahren erhalten. Der alte Goethe griff im Helena-Akt des Faust II noch einmal auf stoisch geprägte Vorstellungen zurück, aber nun nicht mehr in einem individualpsychologischen und biographischen, sondern in einem weiten kulturgeschichtlichen Horizont. Helena als Muster würdevoller Selbstbeherrschung angesichts tödlicher Gefahren – Goethe orientierte sich hier an Senecas Troerinnen – zeigt stoische Gefaßtheit, firmitudo, dignitas, constantia und nicht zuletzt bewährt sie die magnitudo animi („ohne Furcht sterben“ – „sine metu mortis mori“) in Erwartung der ihr zunächst drohenden Hinrichtung. Ihre Gefolgschaft dagegen gerät in Panik. Während die Chorführerin Helenas Begleiterinnen als „Vom Augenblick abhängig, Spiel der Witterung, / Des Glücks und Unglücks“ (V. 9128 f.) bezeichnet und ihnen vorhält: „Keins von beiden wißt ihr je / Zu bestehn mit Gleichmut“ (V. 2129 f.), nennt sie Helena „hochsinnig“ (V. 9134). Geradezu systematisch hat Goethe hier stoische Leitvorstellungen eingewoben, direkt und e contrario. Autarkie, innere Unabhängigkeit als Voraussetzung würdevoll-souveränen Menschentums, wie es Helena repräsentiert, ist ein stoisch grundiertes Ideal – kontrastiv heißen die Chormädchen „vom Augenblick abhängig“. Topisch fixiert ist in der stoischen Überlieferung die Autarkie als Unabhängigkeit von Fortuna: von Glück und Unglück. „Wann wird es gelingen, zu verachten beides, Glück und Unglück?“ „Quando continget contemnere utramque fortunam“, lautet Senecas klassische Formulierung in einem der Briefe an Lucilius (71,37). Diese antike Tradition, die über Petrarcas Jahrhunderte lang in Europa verbreitete Schrift Von den Heilmitteln gegen Glck und Unglck (De remediis utriusque fortunae) bis in die Moderne reicht, griff der neuzeitliche Stoizismus auf. Goethe, der seit seiner Jugend mit der Philosophie der Stoa gut vertraut war, wie er in Dichtung und Wahrheit mehrmals feststellt, arbeitete dieses Vorstellungsmuster in die Charakterisierung seiner Helena-Figur ein,324 um alsbald zwei weitere stoische Zentralbegriffe hinzuzufügen: den „Gleichmut“ (aequa mens, Ataraxie) und die von constantia zeugende probatio. Daß die Chormädchen weder Glück noch Unglück mit „Gleichmut“ zu „bestehn“ vermögen, hebt das stoische Verhalten Helenas erst so recht ins Profil. Indem schließlich die Chorführerin 324 Im Folgenden nehme ich einige Ausführungen aus dem Buch auf: Jochen Schmidt: Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. 2. Auflage München 2001, S. 242 – 246.

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Helena „hochsinnig“ nennt, schreibt Goethe ihr die hier zu einer aristokratischen Haltung stilisierte „magnitudo animi“ zu, die sich fest mit dem Begriff der „Würde“ verband. Helenas gefaßte Abwehr des von der tödlichen Bedrohung ausgehenden Affektansturms schon in der ersten Szene des Helena-Akts zeigt, daß ihre „Würde“ von der stoischen Willenshaltung und Selbstbeherrschung bestimmt ist, die insbesondere zur römischen „dignitas“ gehört. „Würde“ ist ein Leitmotiv in der Helena-Handlung, mit dem Goethe zugleich auf Pico della Mirandolas Schrift De hominis dignitate und Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano zurückgriff. Aus seinen Tagebüchern geht hervor, daß er beide Traktate studierte. Das Leitmotiv der Würde verbindet sich eng mit den ebenfalls stoisch besetzten Begriffen der „Pflicht“ und des „Geziemenden“ – des „officium“ und des jah/jom, das als das „Angemessene“ auch das Sich-Ziemende ist. Goethe bezog die so deutlich hervortretenden stoischen Züge der Helena-Handlung mit einer doppelten Absicht in den kulturhistorischen Reflexionszusammenhang seines Dramas ein. Erstens stellte er die Verbindung zu Winckelmanns klassizistischem Stil-Ideal her. Denn für die ,klassische‘ Erscheinung Helenas, welche die ,Renaissance‘ der Antike repräsentiert, sah er Winckelmann als maßgebend an. Dieser hatte sein Stilideal, die „edle Einfalt und stille Größe“ der griechischen Bildwerke, im Rückgriff sowohl auf platonische wie auf stoische Vorstellungen näher erläutert. Um den Begriff der „Größe“ zu explizieren, spricht Winckelmann in unmittelbarem Anschluß an seine berühmte Formel von der „großen und gesetzten Seele“,325 die sich in den Plastiken der Griechen gerade bei affektiven Bedrohungen ausdrücke, und er fährt nach der Exemplifizierung an der Laokoongruppe fort: „Der Ausdruck einer so großen Seele gehet weit über die Bildung der schönen Natur“.326 Im Hinblick auf den Laokoon rühmt er die Balance zwischen dem „Schmertz des Cörpers und der Größe der Seele“.327 Daß er das Ideal der Seelengröße, der „magnanimitas“, als souveräne Fähigkeit zur Bändigung der Affekte auslegt und sogar von der „Stärcke des Geistes“ spricht, verrät vollends das auf die Überwindung der Affekte (Apatheia) 325 Winckelmanns 1755 erschienene Schrift Gedanken ber die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst wird zitiert nach der Ausgabe in dem Band Frhklassizismus, hg. von Helmut Pfotenhauer u. a. (Bibliothek der Kunstliteratur 2), Frankfurt am Main 1995, hier S. 30. 326 S. 31. 327 S. 31.

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und auf das Ideal der Gemütsruhe (Ataraxia) angelegte stoische Ethos. Winckelmann gibt somit seinem ästhetischen Kunstideal eine markante ethische Fundierung. Goethe reflektiert dies in seinem schon kulturgeschichtlichen Rückblick auf die Epoche der Klassik, indem er Helena als paradigmatische Erscheinung griechischer Schönheit zugleich entschieden ethisch im Sinne stoischer Haltung konzipiert. Zweitens erweitert Goethe den Horizont ins Allgemein-Kulturelle: Die Helena-Geschichte repräsentiert ja nicht nur den mit Winckelmann beginnenden Klassizismus und die „klassische“ Epoche um 1800. Diese ist nur Höhepunkt und Abschluß einer die ganze Neuzeit übergreifenden, schon mit der Renaissance beginnenden Wiedererweckung der klassischen Kultur der Antike. Helena begegnet Faust im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance. Indem Goethe ihr Auftreten so entschieden mit dem explizit und mehrmals formulierten Thema des Schicklichen, Sich-Geziemenden ( jah/jom),328 der Pflicht (officium) und der Würde (dignitas) verbindet, überführt er das stoische Ethos aus dem engeren ethischen Bereich in den einer höheren Kultur. Er war sich bewußt, daß die italienische Renaissance das Ideal einer solchen Kultur nach antiken Vorgaben, insbesondere denjenigen Ciceros, programmatisch verkündet und sowohl künstlerisch wie gesellschaftlich ausgeprägt hatte. Das stoische Ethos geht in der Helena-Handlung in eine menschlich und gesellschaftlich relevante, bis in das Reich des Schönen und der Kunst hineinreichende Haltung über. Goethe konzipierte seine Helena-Gestalt zugleich ästhetisch und ethisch als eine Figuration kultivierten Menschentums und aristokratischer Affektzügelung. Selbst in PhorkyasMephistos Worten: „Stehst du nun in deiner Großheit, deiner Schöne vor uns da […]“,329 kommt die Synthese von stoisch-ethischer Haltung („Großheit“, magnanimitas) und ästhetischer Vollendung zum Ausdruck. Obwohl Schiller die „ästhetische Erziehung“ des Menschen in einer eigenen Abhandlung thematisierte und obwohl er die Härte des Kantischen Pflichtbegriffs ein Stück weit aufheben wollte, übernimmt er das stoische Ethos in einer deutlich auf den moralischen Aspekt konzentrierten Form. Dies gilt sowohl für mehrere seiner theoretischen Abhandlungen wie für das Drama, das die für ihn generell zentrale Frei328 V. 8507, V. 8604 f., V. 8647 f.; in ausdrucksvoller Verdoppelung V. 8915 f.: „Doch es ziemet Königinnen, allen Menschen ziemt es wohl, / Sich zu fassen, zu ermannen, was auch drohend überrascht“. 329 V. 8917.

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heitsproblematik stoisch formiert: für Maria Stuart. Freiheit ist für Schiller wesentlich auch moralische Freiheit, was ganz der Stoa entspricht – man denke nur an Epiktets Diatribe über die Freiheit. Der Mensch beweist sie, indem er sich von allem Äußeren unabhängig macht, seine Triebnatur bändigt und durch die Kraft seines Willens die Affekte besiegt. Erst mit einem solchen Sieg verschafft er dem Ideal geistig-sittlicher Selbstbestimmung Geltung, nur so erweist er sich als autonom und „frei“. Wer dieses Ziel erreicht, hat „Würde“. „Autonomie“, so hatte Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erklärt, „ist […] der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“, und noch prägnanter spricht er von der „Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst giebt“.330 Schillers Version in der Schrift ber Anmut und Wrde lautet: „Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung“.331 Schillers Affinität zur Stoa332 beruht auf mehreren Grundelementen: erstens auf dem Ideal der Autonomie, das in der Aufklärung hohe Aktualität gewonnen hatte, zweitens auf der stark moralischen Tendenz der Stoa, die ja auf „Tugend“ (virtus) ausgerichtet war, drittens auf der damit verbundenen – bei Schiller, wie man weiß, sehr theoretischen – Sinnenfeindschaft. Daraus ergab sich auch die ebenfalls in der Stoa scharf ausgeprägte Betonung der Ratio und des Willens (voluntas) 333 – Schiller definierte den Menschen als „das Wesen, welches will“.334 Besonders zu statten kam seinem dramatischen Talent die von Seneca vertretene kämpferische und heroische Formierung des stoischen Ethos. Der seit der Fabel des Prodikos stoisch kanonisierte Tugendheld Herkules war auch für ihn eine Leitfigur. Als Dramatiker hielt er sich freilich nicht an die für die Stoa ebenfalls wesentliche Einsicht in die ihrerseits schon als vernünftig begriffene, weil vom Logos bestimmte Naturordnung, mit welcher der Mensch in Übereinstimmung leben soll. Nicht der stoische Weise ist für ihn maßgebend, sondern der im Kampf schwer leidende, aber dann doch über alle Anfechtungen siegende Mensch. Deshalb fehlt bei ihm auch die therapeutische Dimension der Stoa. Dem Dramatiker 330 AA Bd. 4, S. 436 und S. 434. 331 Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwçlf Bnden, hg. von Otto Dann u. a., Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt 1992, S. 378. 332 Hierzu die fundierte Darstellung von Barbara Neymeyr im zweiten Band. 333 Vgl. Anm. 224. 334 Friedrich Schiller (wie Anm. 331): ber das Erhabene, S. 822.

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konnte nicht daran gelegen sein, den insbesondere von den Affekten und Leidenschaften verursachten Leiden, den p²hg, mit therapeutischphilosophischer „Medizin“ beizukommen und ein „remedium“ zu finden. Ganz im Gegenteil arbeitete er darauf hin, das Leiden, das „Pathos“ im ursprünglichen Sinn, möglichst zu intensivieren, ja wie in Maria Stuart Affektexplosionen und extreme Leidenssituationen zu inszenieren, um damit Pathos im modernen Sinne des Wortes und eine dramatische Handlung zu generieren, die am Ende den Sieg über alles Äußere wie auch über die inneren Anfechtungen umso mehr verherrlichen sollte: einen Sieg, der den Triumph der geistig-sittlichen Freiheit, der „moralischen Kraft“ verkündet. In dieser Perspektive stehen auch mehrere theoretische Schriften Schillers, vor allem die Abhandlungen ber das Pathetische und ber das Erhabene. Hçlderlin reflektierte am intensivsten von allen Zeitgenossen die stoischen Vorstellungen in ihrem philosophischen Begründungszusammenhang. Das gilt zwar noch kaum für den Beginn seiner Stoa-Rezeption in der Hymne Das Schicksal, die dem kämpferisch-heroischen Duktus Schillers folgt, ihre Leitvorstellungen aus Senecas Traktat De providentia bezieht und bezeichnenderweise Herkules als exemplum virtutis beschwört.335 Alsbald aber bewegte sich Hölderlin auf einer ganz anderen Bahn. Aus dem Fundus der stoischen Tradition wurde für ihn das therapeutisch-meditative und konsolatorische Element maßgebend, das er aus Marc Aurels Selbstgesprchen aufnahm. Vor allem richtete er seine Aufmerksamkeit auf die naturphilosophische Grundlage der Stoa, für die sich Schiller nicht interessierte: auf ihren monistischen Pantheismus. Im Hyperion diente er ihm als Medium der Ablösung vom christlich-dualistischen Weltbild. Indem er diese Ablösung im Lebensund Bewußtseinsprozeß des Protagonisten Stufe um Stufe vorantrieb, vermittelte er sie in narrativer Prozessualität – ein Experiment, das noch nie stattgefunden hatte und es auch erlaubte, den Fortschritt, den die Stoa nur abstrakt dem pqojºptym (procedens) zuschrieb, als lebendigen Erfahrungs- und Bewußtseinsvorgang darzustellen. Ebenfalls neu in der Geschichte des Stoizismus war es, daß Hölderlin diesen Vorgang zugleich paradigmatisch als Geschehen der Moderne zum Ausdruck brachte und bereits geschichtlich reflektierte: als Säkularisierung. Der pantheistische Monismus des Hyperion entspricht dem Grundansatz der Stoa, aber er erscheint nun nicht mehr als schon vorhandener Ausgangspunkt, sondern als ein Ziel, das es angesichts der dualistischen 335 Vgl. im vorliegenden Werk S. 333 – 341.

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Aufspaltung in Diesseits und Jenseits, die das Christentum mit sich gebracht hatte, erst wieder neu zu erreichen galt. Zu dieser Neugewinnung der authentischen Stoa trug Hölderlins Spinoza-Studium wesentlich bei. Es stand im Kontext der großen Spinozismus-Debatte, die in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die Geister bewegte. Das Interesse am stoischen Pantheismus als einer dem säkularisierten Bewußtsein angemessenen Weltanschauung verdrängte gänzlich die bisher dominante, für Kant und Schiller sogar zentrale Fixierung auf die stoische Moral. Auch die psychotherapeutische Tendenz der Stoa, die sich schon früh entwickelt und dann bei Seneca und besonders bei Marc Aurel ausgeprägt hatte, nahm Hölderlin in seinen Roman auf. Der innere Zusammenhang mit dem pantheistischen Monismus bestand schon in der antiken Stoa darin, daß die Allnatur, die v¼sir t_m fkym, alles Leiden und sogar den Tod in einen vom Logos durchwalteten Kosmos sinnhaft einzubeziehen erlaubte. Dieses Sinngebungsmuster, mit dem sich Hölderlin vor allem an Marc Aurel orientierte, bestimmt sehr weitgehend den zweiten Band des Hyperion und die Ode Dichtermut. Hölderlin scheint aber auch den dunklen Grund, die tiefe Melancholie wahrgenommen zu haben, aus der solche psychotherapeutischen und konsolatorischen Strategien der Stoa erwachsen. Dem zweiten Band des Hyperion, in dem er sie voll entfaltet, stellte er als Motto folgende Worte als griechisches Zitat aus dem dipus auf Kolonos des Sophokles voran: „Nicht geboren zu sein, geht über alles. Wenn es aber geschah, dann ist es das bei weitem Zweitbeste, möglichst schnell dorthin zurückzukehren, woher man kam“. Kleist hat nur ein einziges seiner Werke stoisch durchformt: das Drama Prinz Friedrich von Homburg. Der Grund dafür lag keineswegs wie bei Hölderlin in der Bedeutung der stoischen Denkformen an sich und in ihrer philosophisch-weltanschaulichen Tragweite. Kleists Interesse an stoischen Vorstellungen konzentrierte sich vielmehr auf die tiefgreifende Prägung Brandenburg-Preußens durch den Neustoizismus der sogenannten ,Niederländischen Bewegung‘,336 die bis in seine Zeit hinein fortwirkte, und auf die Möglichkeit, daraus in der bedrängenden Situation Preußens während der Napoleonischen Kriege einen patriotischen Appell abzuleiten. Darüberhinaus allerdings gestaltete Kleist in dem nach stoischen Leitvorstellungen entworfenen Entwicklungsgang des Prinzen von Homburg kurz vor seinem Freitod eine vermächtnis336 Vgl. hierzu die Abhandlung von Gerhard Oestreich im vorliegenden Werk.

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hafte Selbstreflexion. In seinen früheren Werken hatte er immer wieder eine rousseauistisch unterlegte radikale Gesellschaftskritik zum Ausdruck gebracht; sie ging bis zu einer individualistischen, gelegentlich sogar an Anarchismus grenzenden Absage an Gesellschaft und Staat. Erst nach der für Preußen existenzbedrohenden Niederlage in der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Jahr 1806 und nachdem Kleist in engeren Kontakt zu den preußischen Reformern getreten war, kam es zu einer patriotischen Reidentifikation, deren überschießendes Produkt die Hermannsschlacht war. In seinem letzten Drama unternahm er es, einerseits die Gefahr einer individualistischen Verfehlung übergeordneter Verantwortung und andererseits die Erstarrung eines inhumanen staatlichen Systems in einer paradigmatischen Fiktion aufzuheben. Stoische Vorstellungen spielten dabei, auch wenn sich das Stück konzeptionell nicht auf sie reduzieren läßt, eine wesentliche Rolle. Kleist gestaltete den Weg des Prinzen hin zu einer stoischen Haltung als einen psychologisch angelegten Erfahrungs-Prozeß. Zu Beginn des Geschehens zeigt sich der Prinz noch jugendlich Ich-befangen, er setzt explizit und mit höchster Emphase auf Fortuna (besonders am Ende des ersten Akts), die im stoischen System seit jeher die Gegenmacht der ethischen Autonomie und Autarkie verkörpert. Nach dem vom Kriegsgericht verhängten Todesurteil gerät er in fassungslose Panik – ins Gegenteil der Ataraxie. Diese Panik steigert sich zum Äußersten, als er in das für ihn schon ausgehobene Grab schaut. Die gegen jedes preußische comme il faut verstoßende und deshalb noch lange, bis hin zu Bismarck, Anstoß erregende Todesfurcht-Szene ist im Hinblick auf die für die Stoa zentrale berwindung der Todesfurcht konzipiert: als Kontrast zur späteren Haltung des Prinzen. Diese kommt in der Monolog-Szene (IV, 3) zum Ausdruck, die mit den Worten des Prinzen beginnt: „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise […]“ (V. 1286) – eine geradezu klassische „meditatio mortis“. Sie zeugt von der Überwindung der Todesfurcht und signalisiert Schicksalsergebenheit, wenn auch eine erst resignativ-fatalistische. „Contemne mortem“ lautete Senecas Devise, und „sine metu mortis mori“ war die von ihm formulierte Aufgabe. Sehr genau scheint Kleist das dramatische und psychologische Konzept studiert zu haben, das Schiller in seiner Abhandlung ber das Pathetische entworfen hatte: zuerst müsse der Dichter seinem Helden „die ganze volle Ladung des Leidens geben“,337 bevor er dann den 337 Friedrich Schiller (wie Anm. 331), S. 423 f.

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„moralischen Widerstand gegen das Leiden“338 zur Geltung bringe. Nicht also die Haltung des schon vollendeten stoischen Weisen ist psychologisch überzeugend und dramatisch brauchbar, sondern der Weg, der zu einer solchen Haltung hinführt. Wie Maria Stuart angesichts der immer näherrückenden Hinrichtung quälende Angst empfindet und in schwere Anfechtungen gerät, bevor sie am Ende stoisch „erhaben“ dem Tod entgegensehen kann, so der Prinz von Homburg angesichts der ihm drohenden Hinrichtung. Ähnlich wie Schiller folgte Kleist auch dem über die bloße Überwindung der Todesfurcht hinausgehenden Programm Senecas: „libenter mori“. Beide, Schiller und Kleist, setzen hier allerdings einen neuen Akzent. Während das gelassene Akzeptieren des Todes bei Seneca wie in der Stoa überhaupt aus der Einsicht in das Naturgesetz und aus der konsolatorischen Erwägung herrührt, daß Sterben nichts anderes heiße als aus dem individuellen Dasein in die Allnatur zurückzukehren (Hölderlin gestaltete dieses authentisch stoische Konzept im Hyperion und in der Ode Dichtermut), nehmen Maria Stuart und der Prinz von Homburg den Tod schließlich bereitwillig an, Schillers Heldin, um frühere Schuld zu büßen, der Prinz, um das Gesetz anzuerkennen.

Schopenhauers und Nietzsches Auseinandersetzung mit der stoischen Moral. Ausblick auf das 20. Jahrhundert Nach dem poetischen Kulminationspunkt, den der Stoizismus auch im gesamteuropäischen Vergleich erst in den Werken Goethes, Schillers, Hölderlins und Kleists erreichte, kehrt das weitere 19. Jahrhundert, wenn man von Büchners dramatischer Konfrontation von Stoizismus und Epikureismus in Dantons Tod 339 absieht, zu theoretischen Erörterungen zurück. Erst gegen Ende des 19. und im 20. Jahrhundert findet wieder eine bisher wenig beachtete große literarische Rezeption stoischer Vorstellungen und Werke statt, und dies nun weitgefächert in einem internationalen Feld. Unter den theoretischen Auseinandersetzungen mit der Stoa im 19. Jahrhundert sind vor allem Schopenhauer und Nietzsche bemerkenswert,340 weil sie distanzierte Kritik und par338 S. 426. 339 Vgl. S. 27. 340 Vgl. die erstmals durchgreifenden Abhandlungen von Barbara Neymeyr im zweiten Band.

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tielle Anerkennung vor dem Horizont ihres eigenen Denkens formulieren. Schopenhauers ambivalentes Verhältnis zur Stoa ist beinahe durchgehend durch seine pessimistische Lebensauffassung bestimmt. Das Leiden und die Leidverfallenheit des Menschen stehen für ihn im Mittelpunkt. Deshalb wertet er zwar die stoische Anstrengung, das Leiden durch Vernunft zu bewältigen, im Prinzip positiv, aber wie schon Kant lehnt er die optimistische Verbindung von Tugend und Glück wie überhaupt den Eudämonismus ab: Es gibt für ihn kein Leben ohne Leiden. Besonders nahe liegt Schopenhauer die stoische Anerkennung des Fatums, doch gibt er der Hinnahme des Unvermeidlichen und Notwendigen eine eher dunkle, resignative Färbung, keine heroische. Denn die daraus resultierende Beruhigung, die er vor allem bei dem von Leiden schwer gezeichneten Epiktet würdigt, ist nicht so sehr eine positive tranquillitas animi als ein bloßes Quietiv. Daher spricht er im Hinblick auf den heroischen Gestus mancher Stoiker, nicht zuletzt Senecas, von „Maulhelden“. Auch der entschiedenen Abhärtungsstrategie der Stoiker kann er nichts abgewinnen: „Der Stoizismus der Gesinnung […] verstockt das Herz“.341 Schließlich kritisiert er die stoische Lehre von den Adiaphora als inkonsequent. Einerseits, so argumentiert er, werten die Stoiker die Adiaphora als das Unverfügbare, der geistig-sittlichen Selbstbestimmung Entzogene zum bloß Äußerlichen ab und behaupten dessen Gleichgültigkeit; andererseits akzeptieren sie es bereitwillig als Fatum. Die idealistische Überformung der Stoa, die bei Schiller so stark hervorgetreten war, nicht zuletzt das Vertrauen auf die moralische „Kraft“ und den „Willen“, weicht bei Schopenhauer, am Ende der vom Idealismus bestimmten Epoche, einer gegenläufigen Tendenz. Statt der moralischen Selbsterhöhung des Individuums ins Reich der Freiheit zu vertrauen, neigt Schopenhauer zur Selbstzurücknahme oder sogar zur Selbstauslöschung des nicht mehr geistregierten, sondern leibverfallenen Individuums. Die Aufhebung des „principium individuationis“ strebt er auf dem Hintergrund einer neuen, düsteren Anthropologie an, die nicht mehr idealistisch, sondern naturalistisch ausgerichtet ist, aber das Erbe des Idealismus noch insofern weiterträgt, als der naturhafte Bereich des Menschen eine prinzipiell negative Wertigkeit erhält. An die Stelle der Selbsterlösung tritt die Erlösung von sich selbst: Ihr Ziel ist das „Nichts“, mit dem Die Welt als Wille und Vorstellung endet. Aufschlußreich ist Schopenhauers antiidealistische und zugleich antistoische 341 Arthur Schopenhauer: Paralipomena § 170.

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Umkehrung des Willensbegriffs. Als „Willen“ definiert er nicht mehr die Triebkraft der geistigen und sittlichen Selbstbestimmung, durch die das Individuum seine Autonomie und Autarkie selbst noch in der Anerkennung des Fatums zu behaupten weiß, sondern das ,Es‘, das „will“ – eine Hexenküche blinder Triebe. Nietzsches ganz überwiegende Ablehnung der Stoa läßt ebenfalls einen antiidealistischen Impetus erkennen, so wenn er kritisiert, daß die Stoiker der Natur bloß ihr Ideal vorschreiben. Ihre volle Schärfe gewinnt Nietzsches Auseinandersetzung mit der Stoa allerdings erst aus seiner Generalattacke auf die „Moral“: auf den Bereich also, der zum Kernbestand der Stoa gehörte und der dem Christentum besonders wichtig war. In seinen Umwertungsschriften Jenseits von Gut und Bçse und Zur Genealogie der Moral greift Nietzsche mit den Mitteln psychologischer und historischer Entlarvung die Moral an, um zu demonstrieren, daß alle Moral bloß Ausdruck des Willens zur Macht sei – eines im schlimmsten Fall zur Perversion tendierenden Willens zur Macht, denn Nietzsche unterscheidet zwischen Herrenmoral und Sklavenmoral. Letztere schreibt er dem Christentum zu, weil sie lebensfeindlich zugunsten der Schwachen erfunden worden sei. Nietzsche steht im Bann des zeitgenössischen Epigonen- und Décadence-Syndroms, gegen das er reagiert, indem er das „Leben“, das er bis zum ,Dionysischen‘ steigert, ja geradezu mythologisiert, und den „Willen zur Macht“ als neue Werte setzt. Der Décadence rechnet er die traditionelle Moral zu, weil sie das Leben schwäche. Unter diesem Gesichtspunkt des Lebens und der unverstellten Natur kritisiert er auch die Stoa: Ihre Moral pervertiere die Natur. Dagegen gelte es das ganze Erlebnisspektrum zu bewahren. Gegen die stoische Bekämpfung der Affekte statuiert er, Leidenschaft sei besser als ein Stoizismus, der zu unnatürlicher Selbstkasteiung, ja zu seelischer Verarmung und Heuchelei führe. Hier greift Nietzsche einen Vorwurf auf, der sich in der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Stoa besonders gegen Seneca gerichtet hatte und den er bei den von ihm hochgeschätzten französischen Moralisten, so bei La Rochefoucauld finden konnte:342 den Vorwurf des falschen Scheins. Der zur Schau getragene stoische Gleichmut, so Nietzsche, sei nur eine Maske. Trotz all dieser kritischen Einwände weiß er aber gelegentlich doch auch die stoische Betonung des Willens und die asketische Disziplin zu schätzen, weil er die modern-dekadente Zivilisa342 Vgl. Anm. 249.

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tion als verweichlicht ablehnt und als ein besonderes Symptom der Décadence die Willensschwäche diagnostiziert. Die stoisch inspirierten literarischen Gestaltungen in der deutschen Dichtung um 1800 hatten den Begegnungen mit der Stoa, die bisher in zahlreichen theoretischen Abhandlungen meist begrifflich reduziert waren, eine lebendig motivierte Aussagekraft verliehen, auch eine ganz andere psychologische Tiefenstruktur und eine größere kulturelle Bedeutungsfülle. Dies gilt erst wieder für die Literatur des ausgehenden neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts bis zur Schwelle des 21. Jahrhunderts, und nun in einem weiten internationalen Spektrum von Autoren. Der vorletzte Beitrag des hier vorliegenden Werks343 erschließt erstmals dieses Spektrum sowie dessen historische und kulturelle Zusammenhänge, so daß er als abschließende Fortsetzung dieses Überblicks gelesen werden kann. Nur angedeutet sei hier deshalb, daß ˇ echovs intensiver Marc Aurel-Rezeption diese moderne Literatur mit C im Kontext einer psychologisch interessierten und resignativen Décadence beginnt, daß sie über Fernando Pessoas vielfältig gebrochene Stoiker-Romane und Marguerite de Yourcenars Hadrian-Roman zu den existentialistisch an der Stoa orientierten Erzählungen und Romanen von Camus und Hemingway reicht, dann weiter zu Hermann Lenz, der in einer ganzen Reihe von Werken auf dem Hintergrund der großen Katastrophen-Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wieder intensiv auf Marc Aurels Selbstgesprche zurückgreift, zu Günter Grass, dessen Roman çrtlich betubt sich unter dem schon im Titel erkennbaren Hauptgesichtspunkt kritisch mit Seneca auseinandersetzt, zu Durs Grünbeins skeptisch pointierten Seneca-Reflexen, schließlich bis zu Michel Houellebecqs Roman La Possibilit d’une le (2005), mit dem er gegen den flachen Konsum-Hedonismus, den Wellness-Wahn und die zwanghafte Sex-Fixierung der modischen Körperkultur eine ,Erziehung zum Stoiker‘ inszeniert, die sich in Brechungen und dialektischen Umschlägen vollzieht. Auf ähnlichen Erfahrungen der Gegenwartszivilisation beruht ein philosophisches Werk von Lawrence C. Becker. Unter dem programmatischen Titel A New Stoicism 344 rekonstruiert es anregend die stoischen Positionen der Antike, um von der OikeiosisLehre ausgehend für ein harmonisches Lebensmodell zu plädieren, in dem der „neue“ Stoiker die Integrität der mehrdimensionalen Persön343 Von Frank Pauly. 344 Lawrence C. Becker: A New Stoicism. Princeton 1998.

Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus

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lichkeit bewahrt und dies zur Grundlage eines ,glücklich‘ gelingenden Lebens macht.

Determinismus in der Stoa1 von Dorothea Frede Der Hintergrund Der Stoizismus ist für seine moralische Strenge und seinen Fatalismus bekannt. Dieser Ruf hat zu zwei stereotypischen Urteilen geführt. Zum einen: Ein Stoiker hat keine Gefühle, oder wenn er doch welche hat, dann unterdrückt er sie. Zum anderen: Der stoische Schicksalsglaube lässt dem Menschen lediglich die Möglichkeit, sich der vorbestimmten Ordnung zu fügen. Daraus wiederum wurde gefolgert: Wenn die Grundhaltung der stoischen Philosophie in Schicksalsergebenheit besteht, was könnte vernünftiger sein als sich emotionslos den unvermeidlichen Dekreten des Schicksals zu unterwerfen? Obwohl in der Antike Freunde wie auch Feinde der Stoiker von einem weit differenzierteren Verständnis dieser Philosophie ausgingen, war es die spezifische Form ihres Determinismus, die den bevorzugten Gegenstand der Kontroversen bildete. In deren Zentrum stand die Frage, was der Nutzen von Überlegungen und einem aktiven Engagement in menschlichen Belangen sein kann, wenn alles vom Schicksal vorherbestimmt ist. Während des gut fünfhundertjährigen Bestehens der Stoa ist diese Streitfrage über die Vereinbarkeit des Schicksals mit der menschlichen Verantwortung nie zur Ruhe gekommen. Wenn auch das lange und intensive intellektuelle Leben der stoischen Schule von sich aus gegen die Annahme sprechen sollte, dass ihre Philosophie auf fundamental unvereinbaren Prinzipien beruht, legen die unaufhörlichen Attacken und Gegenattacken nahe, dass die deterministische Konzeption der Stoiker eine gewissen Spannung in sich trägt. Was also ist der Kernpunkt dieses Determinismus und inwiefern lässt er sich mit der stoischen Forderung nach einer aktiven Lebensweise, mit sorgfältig ausgearbeiteten moralischen Prinzipien, vereinbaren? Seit 1

Dies ist die leicht überarbeitete deutsche Fassung meines Beitrages: Stoic Determinism, in: The Cambridge Companion to the Stoics, hg. von Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 179 – 205.

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Pioniere wie Pohlenz, Samburski, Sandbach, Long oder Rist die Feinheiten der stoischen Philosophie ins rechte Licht gerückt haben, hat die Debatte über den stoischen Kompatibilismus in der Sekundärliteratur erheblich an Intensität gewonnen. Eine allseits befriedigende Lösung wurde bis heute nicht gefunden. Angesichts der Komplexität dieser Diskussion kann unsere Darstellung nicht mehr als einen Überblick über die Grundprinzipien liefern, auf welchen der stoische Determinismus beruht, sowie einige Überlegungen zu ihrer Bewertung beisteuern. Damit die Diskussion nicht ausufert, können Veränderungen innerhalb der stoischen Lehre ebenso wenig berücksichtigt werden wie solche in der Einstellung ihrer damaligen Gegner. Wir begnügen uns daher mit der Rekonstruktion eines Bildes dieser Lehre, das so kohärent ist, wie es die Quellen eben zulassen.2 Wie die meisten ,Ismen‘ ist auch der Determinismus ein Spätling.3 Deterministische Vorstellungen unterschiedlicher Art haben Philosophen und Naturwissenschaftler der Antike freilich schon lange vor der Gründung der Stoa beschäftigt. Man fasst heute die wichtigsten Versionen unter den Titeln (1) ,physikalischer‘, (2) ,logischer‘, (3) ,ethischer‘ und (4) ,teleologischer‘ Determinismus zusammen. Sie beziehen sich auf (1) die Verbindung von Ursache und Wirkung, (2) das Verhältnis von Grund und Folge, (3) die Bedingungen menschlichen Handelns und (4) die Festlegung auf ein Ziel oder Ende. Für alle vier gibt es Belege in Aristoteles’ Schriften zur Naturphilosophie, zur Ethik und zur Logik. Und nicht nur das, Aristoteles reflektiert auch auf den inneren Zusammenhang zwischen den verschiedenen Spielarten und verwendet ein passendes Vokabular zur Kennzeichnung des Unterschiedes zwischen Bestimmtem (bqisl´mom) und Unbestimmtem 2

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Vgl. dazu die Monographie von Susanne Bobzien: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy. Oxford 1998. Sie vermittelt ein detailliertes Bild von der Geschichte und Komplexität der Problematik und erklärt die Gründe für die Meinungsverschiedenheiten in der Sekundärliteratur. Einen kürzeren Überblick bietet James Hankinson, in: The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, hg. von Keimpe Algra, Jonathan Barnes, & Malcolm Schofield, Cambridge 1999, Kap. 14 und 15. Der Artikel: Determinismus/Indeterminismus in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie Bd. 2 1972, hg. von Joachim Ritter, 150 – 55 verweist auf Verwendungen im Deutschen in der 2. Hälfte des 18. Jh. Im Oxford English Dictionary (19892) s.v. ,determinism’ findet sich ein Verweis auf Sir Walter Hamilton: Reid’s Works (1848), Anm. 87: „There are two schemes of Necessity – the Necessitation by efficient – the Necessitation by final causes. The first is brutal as blind Fate, the latter rational Determinism“.

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( !ºqistom).4 Gleichwohl scheint Aristoteles an eine allgemeine Determinierung all dessen, was in der Natur und im menschlichen Leben geschieht, nicht gedacht zu haben. Das mag uns auf den ersten Blick nicht nur angesichts seines ausgeklügelten Vier-Ursachen-Schemas seltsam erscheinen, sondern auch im Hinblick auf seine Beschäftigung mit den Bedingungen menschlichen Verhaltens und sein Beharren auf der Notwendigkeit als Vorbedingung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Eine kurze Zusammenfassung des aristotelischen Begriffs der Ursache ist geeignet, die Besonderheit der entsprechenden stoischen Konzeption hervorzuheben, welche ihre Vertreter zu Protagonisten in der Auseinandersetzung über Probleme des Determinismus in der Spätantike machen sollte. Aristoteles war nun aber keineswegs der erste Philosoph, der sich Gedanken über die Frage gemacht hat, die im Zentrum der Problematik des Determinismus steht: ob es Gesetzmäßigkeiten gibt, welche die Natur der Dinge – einschließlich der Menschennatur – so festlegen, dass entsprechende Ereignisse mit Notwendigkeit eintreten. So nennt z. B. Cicero eine stattliche Reihe von früheren Vertretern eines ,Necessitarismus‘.5 Wenngleich diese Liste nicht über jeden Zweifel erhaben ist, so war doch die Frage nach der Notwendigkeit von Ereignissen von früh an Gegenstand unterschiedlicher Überlegungen. Neben traditionellen Vorstellungen von göttlichen Schicksalsmächten, wie etwa dem Wirken der Moiren, gaben auch die rationalistischen kosmologischen Modelle verschiedener Vorsokratiker Anlass zu dieser Fragestellung. Nachdem Parmenides die Möglichkeit von Werden und Veränderung rundheraus bestritten hatte, weil nichts aus Nichts kommen und nichts zu Nichts werden kann, sahen sich die Naturphilosophen in die Pflicht genommen, Erklärungen für alle Vorgänge in der Natur zu liefern. Diese Philosophen reagierten in unterschiedlicher Weise auf die parmenideische Herausforderung; ihre anspruchsvollsten 4

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Vgl. Physik II 5 196b28 f. Vgl. dazu Hermann Bonitz: Index Aristotelicus, Berlin 1870, Nachdruck Darmstadt 1970 s.v. bq¸feim und !ºqistor oder %peiqor. Die lateinischen Entsprechungen, „determinatio“, „indeterminatio“ und Verwandtes, wurden in der Spätantike zum Standardvokabular. Cicero: De fato 39: „Manche vertraten die Auffassung, dass alles in dem Sinn dem Schicksal gemäß eintritt, dass dieses Schicksal mit Notwendigkeit wirkt; diese Auffassung vertraten Demokrit, Heraklit, Empedokles und Aristoteles.“ Einen kurzen Überblick über die Geschichte des Determinismus bietet Susanne Bobzien (wie Anm. 2), S. 2 – 6. Zur Vorgeschichte des Fatalismus im frühen Griechentum vgl. Verf.: Fatalism and Future Truth, in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy 6, 1990, S. 195 – 227, bes. S. 195 – 199.

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Theorien beschränkten sich jedoch nicht auf allgemeine Erklärungen der Natur der Dinge, sondern beanspruchten auch eine gewisse Notwendigkeit für die Zusammenhänge in der Natur. Wenn hier Aristoteles und nicht Platon als Antagonist der Stoiker präsentiert wird, so liegt dies daran, dass Aristoteles manche ihrer Voraussetzungen über die Natur des Kosmos teilt. Da die Grundzüge der aristotelischen Philosophie bekannter sind als die der stoischen, dürfte ein Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden hilfreich sein. Zunächst die Übereinstimmungen: (1) Aristoteles hält, wie die Stoiker, das Universum für begrenzt und stellt die Erde in den Mittelpunkt. (2) Die Stoiker teilen die aristotelische Überzeugung, dass die Natur auf einem Kontinuum von Materie, Raum und Zeit beruht, und schließen die Möglichkeit eines Vakuums aus. (3) Wie Aristoteles vertreten die Stoiker den Begriff einer ,zweiseitigen Möglichkeit‘ und ,Kontingenz‘ in dem Sinne, dass bestimmte Sachverhalte weder notwendig noch unmöglich sind. (4) Aristoteles und die Stoiker gehen von dem Prinzip aus, dass es keine Veränderung ohne Ursache gibt und dass gleiche Umstände immer gleiche Wirkungen haben. Dass Aristoteles die letzte Annahme wirklich teilt, wird oft bezweifelt. Eine kurze Überprüfung der Frage, in welchem Sinn er als Kausal-Determinist gelten kann, empfiehlt sich deswegen, weil dabei wichtige Divergenzen zu den Stoikern zutage treten. Aristoteles nimmt bekanntlich vier Arten von Ursachen an: Materie, Form, Bewegungsursache und Zweckursache. Dieses Erklärungsschema wendet er in allen Bereichen seiner Philosophie an: in der Physik ebenso wie in der Logik, Ethik und in der Metaphysik.6 Wenn man Aristoteles trotz seines umfassenden Schemas von Ursachen gewöhnlich nicht zu den Deterministen rechnet, so gibt es dafür im Wesentlichen vier Gründe: • Da die Substanz und die Bedingungen der Substantialität im Zentrum seiner Metaphysik und Naturphilosophie stehen, zielt sein Erklä6

Das Problem des ,logischen Determinismus’, vor allem die Frage in welchem Sinn Wahrheitswerte von Zukunftsaussagen das Eintreten der entsprechenden Ereignisse notwendig machen, kann hier beiseite bleiben. Aufgeworfen haben dürften es die Dialektiker der Megarischen Schule. Es beschäftigte nicht nur Aristoteles, wie das berühmte Kapitel 9 von De interpretatione zeigt, sondern spielte auch in der Stoa eine wichtige Rolle. Vgl. Susanne Bobzien (wie Anm. 2), S. 59 – 86 und Verf. (wie Anm. 5). Zur Literatur über De interpretatione 9 vgl. Verf.: Logik, Sprache und die Offenheit der Zukunft in der Antike. Bemerkungen zu zwei neuen Forschungsbeitrgen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52, 1998, S. 80 – 100.

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rungsschema nicht auf die Ursachen von Ereignissen und ihre Verbindungen, sondern auf die Charakteristiken von Substanzen, d. h. auf ihre Eigenschaften und spezifischen Verhaltensweisen. • Aristoteles’ Ursachen-Schema ist genau das, was sein Name sagt: Es ist ein bloßes Schema. Materie, Form, Bewegungsursache und Zweckursache verschiedenartiger Gegenstände und Vorgänge haben keine gemeinsame Natur. Es besteht vielmehr bloß ein analoges Verhältnis.7 • Für Aristoteles erreicht jeder Prozess mit seinem t´kor seinen natürlichen Schlusspunkt. Obwohl er die Möglichkeit nicht ausschließt, dass dieses natürliche Ergebnis seinerseits wieder als Faktor in einem weiteren Kausalnexus wirken kann, liegt ihm doch der Gedanke an eine endlose Kausalkette fern. • Die Unterscheidung zwischen Dingen, die zu einem bestimmten Kausalnexus gehören, und solchen, die das nicht tun, gestattet Aristoteles eine Differenzierung zwischen regulären und irregulären Prozessergebnissen. Die Kriterien für Irregularität sind klar definiert: Zufälliges (t± !p¹ t¼wgr) und Spontanes (t± !p¹ t’aqtol²tou) beruhen auf einer Überschneidung unterschiedlicher Kausalzusammenhänge mit verschiedenen Zielen oder Absichten. Nur was notwendigerweise oder ,meistens‘ eintritt, kann Gegenstand von Wissenschaft sein. Es gibt daher keine Erklärung für zufällige Überlappungen.8 Diese Liste liefert eine hinreichende Basis für den Nachweis, dass die aristotelische und die stoische Konzeption von Natur und Kausalität grundsätzlich verschieden sind: • Im Zentrum der stoischen Philosophie stehen nicht Substanzen, ihre Eigenschaften und Aktivitäten, sondern die physische Beschaffenheit von Körpern und ihre Wechselwirkungen. • Statt des analogen Kausalschemas nehmen sie zwei alles durchdringende Prinzipien in der Natur an. In allen Dingen herrscht ein göttliches aktives Vernunftprinzip, welches sein passives Gegenstück 7

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Zur Frage der Angemessenheit der Bezeichnung ,Ursache’ für die aristotelischen aitai vgl. Richard Sorabji: Necessity, Cause, and Blame, London 1980, Kap. 2 und 3. Zum Einfluss des stoischen Kausalvorstellung auf die Entwicklung der causa efficiens vgl. Michael Frede: The original notion of cause, in: Doubt and Dogmatism, hg. von Jonathan Barnes, Myles Burnyeat, & Malcolm Schofield, Oxford 1980, S. 217 – 249. Vgl. dazu Verf.: Accidental Causes in Aristotle, in: Synthese 92, 1992, S. 39 – 62.

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durchdringt und gemeinsam mit ihm Gestalt und Konsistenz der Dinge im Weltall bedingt.9 Dieser göttliche Geist wirkt daher zugleich als Form, t´kor, Materie und Bewegungsursache.10 In Anlehnung an die herrschenden religiösen Vorstellungen identifizieren die Stoiker das aktive Prinzip mit Zeus, das passive mit Hera als der unentbehrlichen Gefährtin des aktiven Elements. Beide Elemente sind physikalische Körper; das aktive Vernunftprinzip ist eine Mischung von Luft und Feuer (pmeOla). Das passive Element hat keine positiven Attribute, wird jedoch mit den traditionell als inaktiv geltenden Elementen Wasser und Erde assoziiert. • Angesichts der inneren Einheit dieser beiden Prinzipien beschränken sich teleologische Erklärungen nicht auf die Ziel- oder Endpunkte einzelner Prozesse. Alles, was geschieht, ist vielmehr Teil eines allumfassenden kausalen Netzwerkes. • Da das Universum keine unkoordinierten Ereignisketten enthält, gibt es auch keine irregulären Ereignisse, d. h. solche, die nicht in den betreffenden Kontext gehören. Obwohl die Stoiker den Unterschied zwischen regelmäßigen und seltenen Ereignissen nicht bestreiten, gehören letztere ebenso zur Natur wie erstere. Zufall und Akzidenz beruhen daher nur auf menschlichem Unwissen: Auch was uns als ein bizarres Zusammentreffen erscheinen mag, ist Teil der Ordnung der Natur. Einheit und Vielheit im stoischen Universum Die einheitliche Natur der aktiven und der passiven Kraft in der kosmischen Ordnung erklärt, warum es bei den Stoikern, anders als bei Platon und Aristoteles, keine Trennung zwischen der sublunaren und der supralunaren Welt gibt. Die Himmelsbewegungen werden durch die gleichen Prinzipien bestimmt wie die Prozesse auf Erden: Die Gesamtnatur wird durch die göttliche Vernunft verwaltet, und daher herrscht eine globale teleologische Determinierung, welche die Stoiker 9 Vgl. Alexander von Aphrodisias: De fato 191,32 – 192,5: „Sie [die Stoiker] sagen, dass das Universum, welches eines ist und alles Seiende enthält und durch die Natur bestimmt wird, welche belebt, vernünftig und rational ist, alles Ewige in einer kohärenten und fortschreitenden Ordnung verwaltet.“ 10 Vgl. dazu Keimpe Algra: Stoic Theology, in: Brad Inwood (wie Anm. 1), Kap. 6; Michael White: Stoic Natural Philosophy, in: Brad Inwood (wie Anm. 1), Kap. 5.

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mit dem Schicksal gleichsetzten.11 Die Allmacht des aktiven Prinzips erklärt zudem die Annahme einer alles verbindenden sulp²heia innerhalb der Natur, einer inneren Verbindung zwischen scheinbar ganz disparaten Ereignissen. Weissagung durch Beobachtung und Deutung göttlicher Zeichen gilt daher im Stoizismus nicht als Aberglaube, sondern als eine Wissenschaft. Genaue Beobachtungen versprechen die Erkenntnis sicherer Anzeichen (sgle?a) für die natürlichen Zusammenhänge, selbst wenn die menschliche Vernunft die Ursachen nicht voll zu erfassen vermag, welche der beobachtbaren Ordnung der Dinge zugrunde liegen. Daraus erklärt sich, warum die Stoiker nicht nur die traditionellen Formen der Wahrsagung unterstützten, sondern wesentlich dazu beitrugen, dass die Astrologie sich als respektable Wissenschaft in der griechischen und römischen Welt etablieren konnte.12 Dieser vergleichende Überblick legt nahe, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Aristoteles und den Stoikern im Umfang ihres teleologischen Prinzips besteht. Für die Stoiker gibt es eine all-umfassende Weltordnung mit einer universellen Koordination aller Dinge. Bei Aristoteles sind alle Ursachen, einschließlich des t´kor, auf ihren ,lokalen‘ Kontext beschränkt. Es gibt keine notwendige Verbindung oder Koordination zwischen sämtlichen Vorgängen im Universum. Bevor man sich jedoch mit dem Kontrast zwischen einer lokal beschränkten Teleologie auf Seiten des Aristoteles und einer global gültigen auf Seiten der Stoiker zufrieden gibt und den globalen Anspruch bei den Stoikern für die Spannungen innerhalb ihres Systems verantwortlich macht, sind gewisse feinere Unterscheidungen zu berücksichtigen, die nicht ohne weiteres zu dem Bild eines undifferenzierten stoischen ,Globalismus‘ passen wollen. 11 Zur allumfassenden Macht des Schicksals, seiner Gleichsetzung mit Vernunft und Gott, vgl. Alexander von Aphrodisias: De Fato 192, 25 – 28: „Vom Schicksal selbst, von der Natur und der Vernunft, die alles lenkt, sagen sie, sie sei Gott …“ (tµm d³ eRlaql´mgm aqtµm ja· tµm v¼sim ja· t¹m kºcom ja¢’ dm dioije?tai t¹ p÷m, he¹m eWma¸ vasim). Angesichts der Tatsache, dass die Stoiker eRlaql´mg, ihre Standardbezeichnung für das Schicksal, etymologisch von eUqy = „fügen“ ableiteten, ist kein Unterschied zwischen Fatalismus und Kausaldeterminismus anzunehmen. Vgl. auch Susanne Bobzien (wie Anm. 2), S. 45 – 50. 12 Vgl. Anthony Long: Astrology: Arguments pro and contra, in: Science and Speculation, hg. von Jonathan Barnes, Myles Burnyeat, Jacques Brunschwig, & M. Schofield, Cambridge 1982, S. 165 – 192. Zur Astrologie im Allgemeinen vgl. Timothy Barton: Ancient Astrology. London 1994.

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Das Zutrauen zu einer all-umfassenden Einheit in der Natur hinderte die Stoiker nämlich nicht daran, auf die Besonderheiten einzelner Ereignisse einzugehen oder die Natur einzelner Gegenstände und ihre Bedingungen zu untersuchen. Denn anders als man zunächst erwarten würde, beruht das stoische Ideal eines ,Lebens in Einklang mit der Natur‘13 nicht auf einer romantischen pantheistischen Überzeugung ,alles ist eines und alles ist gut‘. Sie betrachteten die Kenntnis der Grundzüge der Wirklichkeit und der Regeln, auf denen sie beruhen, zwar als eine notwendige, nicht aber als eine hinreichende Bedingung für ein angemessenes Verhalten im Leben. Zur Gewinnung einer angemessenen Einstellung zu all dem, was von Natur aus geschieht, setzten sie vielmehr ein detailliertes Studium der Natur aller Dinge voraus. Denn da die Menschen über Vernunft verfügen, können sie sich ein Verständnis der vernunftbestimmten Ordnung der Dinge zumindest partiell erarbeiten, auf der kosmischen wie auch auf der individuellen Ebene.14 Diese Überlegungen erklären, warum die Stoiker – ihren einheitlichen kosmologischen Prinzipien zum Trotz – in ihrer Analyse der Ursachen feinere Unterscheidungen vornahmen. Obwohl jedes Individuum und jeder einzelne Vorgang Teil der göttlichen Gesamtordnung sind, spielen die verschiedenen Faktoren doch eine unterschiedliche Rolle im kausalen Netzwerk. Da die Menschen nicht allwissend sind und bestenfalls einen Teil der göttlichen Ordnung kennen können, ist ein angemessenes Verständnis der unterschiedlichen Faktoren unabdingbar, um sich gewissermaßen regional im Kosmos zu orientieren. Die Vielfalt innerhalb der kosmischen Einheit erklärt darüber hinaus, warum die Stoiker Unterschiede zwischen den kausalen Faktoren herausstellten, die für den Zustand verschiedenartiger Dinge verantwortlich sind, und zudem auf einer gewissen Autonomie für Einzelwesen bestanden. Zwar waren die Stoiker Pantheisten in dem Sinn, dass alles durch das göttliche pneuma durchdrungen wird; dieser Pantheismus ist jedoch nicht mit einem Panpsychismus gleichzusetzen: Das göttliche pneuma tritt nicht überall in der gleichen Form auf und ver13 Vgl. Diogenes Laërtius: Vitae philosophorum VII 87 – 88. Über die Bedeutung dieser Maxime herrscht unter Fachleuten noch immer keine allgemeine Übereinstimmung, vgl. Brad Inwood: Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985; Maximilian Forschner: ber das Handeln in Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998, und ders.: Die stoische Theorie der Oikeiosis [in diesem Band]. 14 Vgl. Cicero: De finibus bonorum et malorum II 34; III 73.

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leiht daher auch nicht allen Dingen Leben, Bewusstsein oder gar Vernunft. Auch im Stoizismus gibt es eine scala naturae: In leblosen Dingen wie Steinen oder Wasser bedingt das göttliche pneuma deren inneren Zusammenhalt mitsamt ihren Eigenschaften (6neir). Pflanzen verdanken ihrem pneuma die Fähigkeit, sich selbst zu erhalten (v¼sir), Tiere ihre Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit (xuw¶). In den Menschen ist nicht nur pneuma von der Art enthalten, welches alle Lebensfunktionen steuert, sondern auch das pneuma in seiner reinsten Form, nämlich in der Form von Vernunft (di²moia). Als beherrschendes Prinzip (Bcelomijºm) bestimmt das rationale pneuma alle menschlichen Handlungen.15 In komplexen Organismen ist folglich eine Vielfalt ,pneumatischer‘ Kräfte am Werk, welche die physiologischen ebenso wie die mentalen Funktionen steuern. Aufgrund der relativen Stabilität seines inneren pneumatischen Zustandes ist jedes Individuum eine Art Mikrokosmos innerhalb des makrokosmischen Kausalgefüges. Daher haben Individuen auch eine gewisse Autonomie. Auf Menschen bezogen bedeutet das: Die innere Verfassung, vor allem aber die Vernunft bestimmt, wie die Person sich zu ihrer Umwelt verhält. Daher haben die Stoiker gute Gründe, zwischen der inneren Verfassung und den äußeren Umständen im Leben einer Person zu unterscheiden, trotz der alles durchdringenden kosmischen Kräfte, welche als Ursachen für das Entstehen, die Erhaltung und das Vergehen aller Dinge wirken. Wie diese Überlegungen zeigen, lässt sich innerhalb des stoischen Systems eine umfassende Einheit durchaus mit Pluralität vereinbaren. Wie sich die innere Autonomie des Individuums mit der stoischen Vorstellung einer durchgehenden Determinierung verträgt, wird sich noch zeigen. Aus der Tatsache, dass die Stoiker Individuen eine gewisse Unabhängigkeit und Autonomie zubilligen, erklärt sich übrigens auch ihr Interesse an der Natur von Oberflächen und Begrenzungen: Die Begrenzung jedes Individuums ist eine Funktion des Gleichgewichts im inneren pneuma, welche das Individuum zugleich zusammenhält und von seiner Umwelt abgrenzt. Es scheint daher ein Fehler, den Oberflächen den Status realer Dinge abzusprechen und sie zu bloßen Kon-

15 Vgl. Philo von Alexandria: Legum allegoriae II, 22 1, 95,8 (Stoicorum Veterum Fragmenta, ed. Ioannes ab Arnim, 4 Bde. Leipzig 1902 – 1904, Nachdruck Stuttgart 1964, Bd. 2, Frg. 458). Zur Bedeutung dieser Theorie vgl. Keimpe Algra in: Brad Inwood (wie Anm. 1) Kap. 6.

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strukten des menschlichen Geistes zu machen.16 Wenn die Stoiker die Grenzen nicht als Körper, sondern als deren Eigenschaften ansehen, so tun sie das, um Paradoxa der zenonischen Art zu vermeiden.

Der stoische Ursachen-Begriff: vorläufige Klärung Die Notwendigkeit, die Einheit auf der kosmischen Ebene mit der Vielheit der innerkosmischen natürlichen Faktoren zu vereinbaren, vor allem was die menschliche Natur angeht, erklärt die Differenzierung innerhalb der kausalen Faktoren, auf welche die Stoiker sich zur Verteidigung der Kompatibilität von Determinismus und Willensfreiheit beriefen. Daher ist zunächst eine kurze Klärung des stoischen Ursachenbegriffes erforderlich. Dies ist deswegen ein besonders schwieriges Unterfangen, weil die Erklärungen in unseren Quellen in signifikanter Weise voneinander abweichen. So gehen manche Quellen von einer strikten Einheit des stoischen Ursachenbegriffs aus. Seneca etwa besteht darauf, dass Ursachen für die Stoa eine Einheit darstellen, Epistulae morales ad Lucilium 65,12: „Wenn wir nach der Ursache suchen, so meinen wir die Vernunft, die es bewirkt, und diese ist Gott.“17 Andere Quellen sprechen hingegen von einem ,Schwarm von Ursachen‘18 und unterstellen den Stoikern, dass sie die unliebsamen Konsequenzen ihrer deterministischen Konzeption durch verwirrende Differenzierungen zu vernebeln suchten. Es ist daher notwendig, die unterschiedlichen Arten von Kausalfaktoren, welche die Stoiker voraussetzen, sowohl voneinander zu unterscheiden wie auch ihre Verbindung zu erklären. Die Unterscheidung von Ursachen und ursächlichen Faktoren bei den 16 Anders Anthony Long & David Sedley: Hellenistic Philosophy, Berkeley 1987, S. 301 und Michael White: Stoic Natural Philosophy, in: Brad Inwood (wie Anm. 1), S. 124 – 152, bes. S. 148 – 151. 17 „quaerimus, quid sit causa? ratio scilicet faciens, id deus est.“ Vgl. auch Aetius: Placita I 11,5: „Die Stoiker meinen, alle Ursachen seien körperlich; sie sind nämlich pme¼lata.“ 18 Alexander von Aphrodisias: De fato 192,18: „Sie zählen einen ganzen Schwarm von Ursachen (sl/mor aQti_m) auf, die einen nennen sie vorausgehend (pqojataqjtij²), die anderen Mitursachen (suma¸tia), ,erhaltend’ (2jtij²), ,zusammenhaltend’ (sumejtij²), und noch andere.“ Alexander hielt es nicht für nötig, auf die Details einzugehen, weil die eigentliche Schwierigkeit bestehen bleibt, dass sich unter gleichen Umständen mit Notwendigkeit immer gleiche Resultate ergeben. Sein Katalog zielt daher weder auf Vollständigkeit noch auf Genauigkeit.

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Stoikern ist in der Tat schwer verständlich, wenn man die verschiedenen Ebenen und Aspekte ihrer Theorie nicht auseinander hält. Auf der kosmischen Ebene gibt es tatsächlich nur eine einzige Ursache, nämlich den aktiven göttlichen Geist oder das pneuma. Auf der inner-kosmischen Ebene sind verschiedenartige Faktoren innerhalb eines kausalen Netzes am Werk. Eine genaue Rekonstruktion der Arten von Ursachen und ihrer Funktionen wird noch zusätzlich dadurch erschwert, dass unsere Quellen aus verschiedenen Zeiten stammen und sich manchmal auf unterschiedliche Versionen der stoischen Theorie zu beziehen scheinen.19 Doch trotz aller Verschiedenheit in den Details ergibt sich insgesamt eine Zweiteilung der Ursachen. Wie die Metapher von einer ,Kette‘ oder einem ,Netz‘ von Ursachen nahe legt, unterschieden die Stoiker zwischen Hauptgliedern innerhalb der Kausalverknüpfungen und anderen Faktoren, die bei ihrer Verkettung mitwirken. Eine solche Dichotomie zwischen den Hauptursachen und äußeren Ursachen schreibt z. B. Cicero in seinem Traktat De fato Chrysipp zu: „Von den Ursachen sind manche primär (principales) und vollkommen (perfectae), andere wirken als Hilfsursachen (adiuvantes) und aus der Nähe (proximae). Wenn wir daher sagen, dass alles dem Schicksal gemäß aufgrund von vorangehenden Ursachen geschieht, so wollen wir das nicht so verstanden sehen, als geschehe es durch vollkommene und primäre Ursachen, sondern durch nahe und Hilfsursachen.“ (De fato 41). Diese scheinbar so ordentliche Zweiteilung ist jedoch nicht unproblematisch.20 Zunächst ist es unklar, ob die Kombination der Bezeichnungen ,primär‘ und ,vollkommen‘ bzw. die von ,hilfs-‘, und ,nahe‘ erläuternden Charakter haben oder ob damit jeweils auf weitere Differenzierungen verwiesen wird. Ferner: Da nicht sicher ist, welche griechischen Ausdrücke Cicero mit seinen lateinischen Bezeichnungen wiedergibt, besteht auch keine Sicherheit, ob sich die Rolle der ,vorangehenden‘ (antecedentes) Ursachen auf die von Hilfsursachen (adiu19 Vgl. Michael Frede (wie Anm. 7), Susanne Bobzien (wie Anm. 2), Kap. 14 und James Hankinson: Stoicism and Medicine, in: Brad Inwood (wie Anm. 1), Kap. 11. 20 Vgl. Adrianus Kleywegt: Fate, free will, and the text of Cicero, in: Mnemosyne 26 (1973), S. 342 – 9. Die eigenwillige Deutung von Woldemar Görler: ,Hauptursachen’ bei Chrysipp und Cicero? Philologische Marginalien zu einem vieldiskutierten Gleichnis (De fato 41 – 44), in: Rheinisches Museum für Philologie 130, 1987, S. 254 – 274, hat zwar wenig Zustimmung gefunden, verdeutlicht jedoch die Problematik dieser Ursacheneinteilung.

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vantes) beschränken soll. Ciceros Text gibt Anlass, das zu bezweifeln, da er den „causae antecedentes“ in De fato zunächst eine weit wichtigere Rolle als in seiner Schlusszusammenfassung zuweist, welche eine Art Kompromiss zwischen den streitenden Parteien über den Begriff des Schicksals herstellt. Anfangs wirft Cicero Chrysipp nämlich vor, zu behaupten, die „causae antecedentes“ seien für das allgemeine Prinzip der sulp²heia innerhalb der Natur verantwortlich. In dieser Funktion legten sie auch die moralische Verfassung der Menschen in der Weise fest, dass sie ihre Handlungen notwendig machen (De fato 7 – 9). Cicero selbst verwehrt sich gegen eine derartige Vorherbestimmung mit Nachdruck: „Wenn es natürliche vorangehende Ursachen (causae naturales et antecedentes) dafür gibt, dass Menschen bestimmte Neigungen haben, so heißt das doch nicht, dass es natürliche vorangehende Ursachen für unseren Willen und unser Bestreben gibt […]. Denn auch wenn intelligente und dumme Menschen als solche aufgrund von vorangehenden Ursachen geboren werden […], folgt daraus noch nicht, dass durch Primärursachen determiniert und vorherbestimmt ist, dass sie sitzen, laufen oder was auch immer tun“ (De fato 9). Eine ähnlich wichtige Rolle schreibt Cicero den ,vorangehenden Ursachen‘ sowohl in seiner Verteidigung der epikureischen Position gegen den Determinismus der Stoiker (De fato 23) wie auch in seinem Bericht über die Kritik des Karneades am stoischen Determinismus (De fato 31) zu. Die Unsicherheiten bezüglich der Bedeutung und Mächtigkeit von Ursachen bei den Stoikern spiegeln sich auch im Bericht des Clemens von Alexandria wider: „Manche der Ursachen sind vorangehend (pqojataqjtij²), manche sind zusammenhaltend (sumejtij²), manche sind unterstützend (s¼meqca), manche sind notwendige Bedingungen (¨m oqj %meu).“ (Stromateis, VIII 9.25.1) Es ist nun nicht unmittelbar klar, wie Clemens‘ Kausalunterscheidungen zu der Ciceronischen Einteilung in De fato 41 passen, und auch nicht, welche Beziehung zwischen den ,vorangehenden‘ Ursachen, den ,unterstützenden‘ Ursachen und den notwendigen Bedingungen besteht. Ferner bleibt dunkel, ob Clemens die vorangehende oder aber die mysteriöse ,zusammenhaltende‘ Ursache für die Primärursache hält. Eine gewisse Ordnung lässt sich herstellen, wenn man die wichtigste Einschränkungsklausel in der stoischen Theorie berücksichtigt, die zwischen Ursachen im eigentlichen Sinn und bloß mitwirkenden Faktoren unterscheidet. „Die Stoiker nehmen als die Ursache das an, was tätig ist (id quod facit)“, stellt Seneca (Epist. 65,4) fest und wirft seinerseits Platon und Aristoteles vor, sie führten einen ,Schwarm von

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Ursachen‘ (turba causarum) ein, da sie nicht nur entfernte Ursachen, sondern auch bloß notwendige Bedingungen wie Zeit und Ort anerkennten. Diese Bemerkung liefert einen wichtigen Hinweis, der mit anderen Berichten über die stoische Ursachenlehre übereinstimmt. Eine Ursache ist für sie nur ein Kçrper, der aktiv einen Prozess bewirkt oder für einen bestimmten Zustand verantwortlich ist. Diese Einschränkung erklärt zugleich eine Besonderheit in der stoischen Theorie, die zunächst verwirrend erscheint, nämlich ihre eigentümliche Behandlung von Ursache (aUtiom) und Effekt ( !pot´kesla).21 Das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung stellten die Stoiker wie folgt dar: Der Effekt ist für sie nicht der affizierte Körper selbst, sondern nur eine Veränderung oder ein veränderter Zustand an diesem Körper. Wirkungen werden daher als ,unkörperliche Zustände‘ definiert. So berichtet Sextus Empiricus: „Ein Körper, z. B. ein Messer, wird die Ursache für einen Körper, das Fleisch, für ein unkörperliches Prädikat ( jatgcºqgla), nämlich des Geschnittenwerdens. Oder auch: Ein Körper, Feuer, wird die Ursache für einen anderen Körper, das Holz, für das Prädikat, verbrannt zu werden.“ (Adversus Mathematicos. IX 2.11). Lässt man die Frage beiseite, warum die Stoiker Veränderungen und Effekte mit ,Prädikaten‘ assoziieren, so ist doch soviel deutlich: Solche unkörperlichen Effekte können nicht ihrerseits wiederum als Ursachen für Veränderungen an anderen Körpern auftreten.22 Das Schicksal, die ewige Kausalordnung im Universum, erklären die Stoiker daher nicht als Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen. Vielmehr sprechen sie nur von einer Verknüpfung von Ursachen, d. h. einer Verknüpfung von Körpern, die aufeinander wirken. Dies erklärt, warum der Ausdruck ,Effekt‘ – !pot´kesla – in der stoischen Definition des Schicksals gar nicht auftritt. Das Schicksal wird immer nur als eine Aneinanderreihung von Ursachen definiert: Es gibt eine ewige Verkettung von Ursachen, in der eine Ursache die nächste hervorruft (causa causam serens). Berücksichtigt man jedoch auch den durchgängigen Zusammenhang 21 Obwohl uns diese Unterscheidung wie ein natürlicher Bestandteil jeder Sprache erscheinen dürfte, verdankt sie sich in Wirklichkeit den Stoikern, d. h. einer relativ späten Philosophenschule des Hellenismus. Vgl. dazu Michael Frede in: Jonathan Barnes et al. (wie Anm. 7). 22 Zu diesem Punkt vgl. Anthony Long & David Sedley (wie Anm. 16), I 340. Da der Effekt entweder in einem Prozess oder in einer statischen Qualitätsveränderung bestehen kann, führt Susanne Bobzien (wie Anm. 2) zur Bezeichnung beider Arten von Effekt den Ausdruck ,occurent’ (,Vorkommen’) ein.

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zwischen allen Dingen im Universum, so ist das Schicksal nicht als eine lineare Kausalverknüpfung zu denken, sondern als ein Netzwerk von Ursachen. Die Unterscheidung zwischen körperlicher Ursache und unkörperlichem Effekt sowie die Beschränkung von Ursachen auf Körper sind nicht allein deswegen bemerkenswert, weil sie für eine Differenziertheit der stoischen Kausaltheorie sprechen. Vielmehr machen sie auch begreiflich, dass bloß unterstützende Faktoren und notwendige Bedingungen nicht als Ursachen angesehen werden, wenn sie keine aktiv mitwirkenden Körper sind. Diese Differenzierung wurde allerdings nicht mehr beachtet, nachdem die stoische Terminologie von Ursache und Effekt Teil des allgemeinen Wortschatzes geworden war, wie die Berichte bei Clemens, Sextus und anderen nahelegen.23 Es bleibt jedoch zu fragen, in welcher Weise diese Unterscheidung Licht auf die Funktionen der unterschiedlichen Faktoren wirft und damit die Unklarheiten beseitigt, was die ,Mächtigkeit‘ der Ursachen angeht. Eine gewisse Ordnung ergibt sich aus dem bei Alexander von Aphrodisias angeführten ,Schwarm von Ursachen‘,24 wenn man sich auf die besondere Natur bestimmter Ursachen besinnt. So stellen die ,Mitursachen‘ (suma¸tia) eine besondere Unterart der ,Hauptursachen‘ dar: In manchen Fällen reicht ein Körper allein nicht aus, um die betreffende Veränderung zu bewirken, so etwa wenn zwei Ochsen für das Ziehen eines Wagens erforderlich sind. In diesem Fall ist keiner von beiden die Hauptursache. Der ,Schwarm‘ lässt sich noch weiter reduzieren, wenn man dem Ursprung der Bezeichnung sumejtijµ aQt¸a nachgeht. Der Ausdruck sumejtij¶ – zu übersetzen mit ,zusammenhaltende‘ oder ,erhaltende Ursache‘ – verweist auf die pneumatische Konsistenz des fraglichen Körpers, d. h. auf die Spannung seines inneren Pneumas.25 Im Fall von ,Mitursachen‘ gibt es keine einheitliche innere Spannung; beide Körper entfalten ihre Tätigkeit nicht aufgrund einer gemeinsamen ,zusammenhaltenden‘ Kraft.26

23 Der Bericht bei Clemens (Stromateis VIII IX 98.7 ff) ist ein gutes Beispiel für die terminologische Verwirrung: Die Stoiker selbst würden notwendige Bedingungen wie Ort und Zeit nicht zu den Ursachen gerechnet haben. 24 Vgl. oben Anm. 18. 25 Dazu Michael Frede (wie Anm. 7), S. 244. 26 Ob die Unterscheidung zwischen ,hektischen’ und ,synektischen’ Ursachen wirklich von den Stoikern stammt, wie Alexander von Aphrodisias behauptet, ist unklar. Da von ,hektisch’ im Zusammenhang mit der stoischen Ursachen-

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Diese Überlegungen lassen auch ein gewisses Licht auf Ciceros Unterscheidung (die sich auch in anderen Quellen findet) zwischen ,vollkommenen‘ und ,primären‘ Ursachen verständlicher werden: Die Unterscheidung ist sinnvoll, wenn vollkommene Ursachen solche sind, die keine weiteren Faktoren für ihre Tätigkeit brauchen – wie im Fall der Ausstrahlung von Wärme durch die Sonne –, während andere primäre, nicht vollkommene Ursachen auf weitere mitwirkende Faktoren angewiesen sind.27 Eine ähnlich harmlose Erklärung mag für die Unterscheidung zwischen ,nahen‘ (proximae) und ,helfenden‘ (adiuvantes) Ursachen gelten. Die Bedingung der Nähe soll die Einbeziehung allzu entfernter Faktoren ausschließen, wie auch Seneca sie an konkurrierenden Theorien kritisiert. Nicht alles, was einem Ereignis vorangeht, ist eine ,vorangehende Ursache‘, also eine „causa antecedens“. Noch auch ist umgekehrt alles, was vorhergeht, eine bloße Hilfsursache oder ein auslösender Faktor, wie sich noch zeigen wird. Es scheint also gute Gründe für die Differenzierung bei Cicero zu geben. Wir können uns daher wieder unserer eigentlichen Frage zuwenden: In welcher Weise rechtfertigt die Differenzierung zwischen verschiedenen Ursachen die Behauptung der Stoiker, ihr universaler Determinismus sei sowohl mit Kontingenz wie auch mit menschlicher Autonomie vereinbar? Keine der bisher erwähnten Unterscheidungen scheint geeignet, diese zentrale Schwierigkeit zu lösen. Denn trotz des ätherisch anmutenden Begriffs ,unkörperlicher Effekte‘ erscheint der kausale Mechanismus doch so rigide wie zuvor. Wenn das Ergebnis jeder Entwicklung von vornherein unweigerlich durch seine Ursachen und die weiteren Umstände festgelegt ist, dann kann es für die Stoiker nur eine lineare Zukunft geben und keine, die einem vielfach verzweigten Baum gleicht. Zur besseren Einschätzung des Spielraums innerhalb des engen Kausalgefüges empfiehlt sich eine genaue Prüfung, wie dieses Netzwerk der stoischen Theorie zufolge zusammengewebt wird. Dazu bietet sich lehre sonst nirgends die Rede ist, mag es sich um eine boshafte Zutat Alexanders zur Vermehrung des ,Schwarms von Ursachen’ handeln. 27 Susanne Bobzien (wie Anm. 2) bestreitet, dass Chrysipp eine systematische Taxonomie der Ursachen ausgearbeitet hat, und schlägt vor, dass die Unterscheidung zwischen Hilfs- und Hauptfunktionen nur die causae antecedentes betrifft. Wenn die traditionelle Meinung nach Bobziens Meinung Chrysipp übermäßig viel aufhalst, so ist sie selbst allzu vorsichtig. So kann man sich aus guten Gründen fragen, was sonst in den vielen Büchern gestanden haben kann, die Chrysipp den Schriftenverzeichnissen nach verfasst hat.

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eine Analyse der Kontroverse in Ciceros De fato über die Mächtigkeit an, welche die Stoiker der Primärursache und der „causa antecedens“ zuschreiben. Aus der Art des Zusammenwirkens zwischen diesen beiden Arten von Ursachen sollte deutlich werden, in welchem Sinn ihre unterschiedlichen Funktionen Raum für menschliche Autonomie lassen. Die Lösung des Problems wird aber wiederum durch die Unsicherheit über die Terminologie in den griechischen Quellen erschwert. Manche von ihnen bezeichnen die vorangehenden Ursachen als pqojataqjtij² – ein Ausdruck, der eine Beschränkung auf das bloße Auslösen eines Prozesses anzudeuten scheint. Andere Quellen verwenden dagegen pqogco¼lema d. h. ,führend‘ – ein Ausdruck, der nahe legt, dass die vorangehende Ursache nicht nur der auslösende, sondern der bestimmende Faktor im Kausalgefüge ist. Daher bleibt die Frage bestehen, wie der Unterschied zwischen der vorangehenden und der primären Ursache zu verstehen ist.28 Gleich ob manche der Quellen eine Verwirrung über die Bedeutung der Begriffe oder aber eine bewusste Verzerrung enthalten, dürfte soviel doch klar sein: In den Augen der Stoiker sollte die Unterscheidung zwischen den ,vorangehenden‘ oder ,äußeren‘ Ursachen einerseits und den ,primären‘ oder ,inneren‘ Ursachen andererseits gewährleisten, dass die Menschen in einer Weise Teil des Kausalgefüges sind, die ihnen noch Raum für persönliche Verantwortung lässt. Die stoische Rechtfertigung besteht darin, nicht die äußeren Faktoren, sondern nur die inneren als die eigentlichen Ursachen menschlichen Verhaltens zu präsentieren. Obwohl wir keine Kontrolle über die Weise haben, in der unsere Umgebung auf uns einwirkt, ist unser Verhalten doch ,in unserer Hand‘, weil es von unserer inneren Verfassung bestimmt wird. Clemens erklärt dieses Zusammenwirken wie folgt: Der Anblick physischer Schönheit ruft in einem zügellosen Menschen ( !jºkastor) Liebesregungen hervor. Der schöne Anblick ist die vorangehende Ursache. Die Reaktion des Betroffenen liegt deswegen ,in seiner Hand‘, weil seine Entflammbarkeit Teil seiner inneren Verfassung ist und nicht erst durch den äußeren Eindruck hervorgerufen wird. Aus diesem Grund stellt die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Ursachen den Kernpunkt in der Debatte über die Kohärenz der stoischen Theorie dar. Es 28 Dass das pqojataqjtijºm als ein Auslöser, nicht aber als Hauptursache dienen soll, bestätigt Plutarch (De Stoicorum repugnantiis 1056b-d: pqojataqjtijºm aUtiom !shem´steqºm 1sti toO aqtotekoOr), der diesen Schritt bei Chrysipp als eine Inkonsistenz tadelt, weil er die Macht des Schicksals einschränkt.

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gilt daher, soweit die Quellenlage das zulässt, zu prüfen, was die stoische Behauptung rechtfertigt, dass die Menschheit trotz einer allumfassenden Schicksalsordnung, die auch die menschliche Persönlichkeit mit einschließt, selbst für ihre Handlungen verantwortlich ist.

Kausalität, Kompatibilität und was ,in unserer Hand‘ ist Weder ihre Freunde noch ihre Gegner haben je bestritten, dass die Stoiker Kompatibilisten in dem Sinne sein wollten, dass sie von der Vereinbarkeit menschlicher Verantwortung mit einem allgemeinen physikalischen und teleologischen Determinismus ausgingen. Ihre Kritiker bestritten jedoch die Haltbarkeit ihrer Begründung angesichts der Tatsache, dass sie an dem Prinzip festhielten, wonach alles durch das Fatum vorherbestimmt ist. Dieses Faktum ist bis heute ein entscheidendes Hindernis dafür, die stoische Position auf verständliche Weise zu rekonstruieren.29 Worin aber besteht die kompatibilistische Lösung? Es ist klar, dass die Stoiker menschliche Handlungen nicht aus dem allgemeinen Kausalnexus herausnehmen wollen: Sie sind ebenso Teil des kausalen Netzwerks wie alles andere. Was, genau, bedeutet das aber? Wie schon zuvor angedeutet, bestimmt das pneuma die innere Verfassung jedes Menschen, einschließlich seiner Verstandesfähigkeit und seines Charakters. Überdies werden die Menschen durch die äußeren Eindrücke und deren Einwirkung auf ihren inneren Zustand beeinflusst. Da es keine Veränderung ohne Ursache gibt, gilt zudem, dass der Mensch sich in jedem Einzelfall, wenn genau die gleichen inneren und äußeren Umstände vorliegen, gleich verhalten wird. Sollte das Resultat unter scheinbar gleichen Umständen verschieden ausfallen, so muss das auf einem verborgenen Unterschied in den inneren oder äußeren Faktoren beruhen. Diese Invarianz stellt nun in den Augen der Gegner der Stoiker eine entscheidende Schwäche in ihrer Position dar. Wieder und wieder warfen sie ihnen vor, dass angesichts der Determiniertheit des inneren Zustandes die äußeren Einwirkungen eine Art Mechanismus auslösen, die der betreffenden Person keinerlei Spielraum lässt. Ist diese Kritik berechtigt? Wie Cicero andeutet, wollten die Stoiker die Rolle der vorausgehenden Ursache begrenzen. Sie bestanden daher darauf, dass 29 Vgl. Ricardo Salles: Compatibilism: Stoic and Modern, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 83, 2001, S. 1 – 23.

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die „causa antecedens“ zwar den jeweiligen Prozess auslöst, darüber hinaus aber nicht weiter daran beteiligt ist. Dies ist in der Tat ein plausibler Schachzug. Denn unser inneres Pneuma, das unsere Persönlichkeit ausmacht, ist als solches unabhängig von den äußeren Umständen. Wie das stoische Erklärungs-Modell für die Begrenzung äußerer Ursachen zeigt, gilt diese Begrenzung nicht nur für Menschen, sondern auch für Unbelebtes. Cicero formuliert es wie folgt: „Dann aber wendet er [Chrysipp] sich seinem Zylinder und Kreisel zu: Diese können sich nicht ohne einen Impuls in Bewegung setzen; haben sie diesen erfahren, sagt er, dann rollt der Zylinder und der Kreisel dreht sich aufgrund seiner eigenen Natur (suapte natura)“ (De fato 42).30 Obwohl Cicero wie auch Gellius dieser Theorie und ihrer Exemplifizierung erhebliche Sympathie entgegenbrachten, hielten doch die meisten Gegner der Stoiker diese Verteidigung einer kompatibilistischen Lösung für einen Fehlschlag.31 Vor allem Alexander von Aphrodisias widmet sich in seinem Traktat ber das Schicksal eingehend dem Nachweis, dass die stoische Position inkohärent ist.32 Zwar geht er auf das Beispiel des Zylinders nicht näher ein, hält aber schon den Umstand, dass diese Erklärung für rationale wie nicht-rationale Gegenstände gelten soll, für ein entscheidendes Manko. Seine negative Haltung ist auch durchaus begreiflich. Auch aus unserer heutigen Sicht muss der Vergleich mit dem rollenden Zylinder ganz ungeeignet erscheinen, die Unabhängigkeit eines Gegenstandes von vorangehenden Ursachen zu rechtfertigen. Denn statt den Eindruck zu entkräften, dass die Stoiker die Menschen wie Figuren auf einem göttlichen Schachbrett behandeln, die keine Macht über ihre Züge haben, scheint der Vergleich ihn vielmehr zu bestärken. Ist nicht der Anstoß das entscheidende Moment in dem nachfolgenden Prozess? Nachdem der Zylinder einmal in Bewegung versetzt wurde, liegt es doch nicht mehr ,bei ihm‘ zu rollen oder nicht zu rollen. Die Anwendung auf den Menschen lässt die Schwäche dieses Modells noch deutlicher werden. Wenn ich jemandem einen Stoß gebe, so dass er hinfällt und sich ein Bein bricht, wird kein Gericht die Erklärung anerkennen, meine Handlung sei lediglich die vorangehende oder ,nahe‘ Ursache des Unfalls gewesen. Kein noch so geschickter Anwalt wird mit dem Plädoyer durchkommen, die 30 Vgl. Aulus Gellius: Noctes Atticae VII 2.1 – 25; XIX 1,15 – 20. 31 Vgl. Plutarchs Kritik an dem Versuch, den Einfluss der causa antecedens abzuschwächen in: Stoic. repugn., Kap. 47. 32 Bes. De fato 179, 12 – 17.

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Hauptursache des Schadens liege in der Haltung und inneren Konsistenz des Opfers. Zwar mag es eine Auseinandersetzung darüber geben, ob mein Stoß wirklich ein Stoß und kein bloßer Stups war, ob die Knochen des Opfers ungewöhnlich spröde sind usw. Dass ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass nach Eintreten der auslösenden Ursache die Konsequenzen nicht ,in der Hand‘ des Opfers lagen. Es muss daher prima facie verwundern, dass die Stoiker ihre Strategie während der Jahrhunderte dauernden Auseinandersetzung nicht änderten, sondern an ihrem Modell festhielten. Wenn sie nicht aus törichtem Starrsinn auf ihrer Erklärung beharrten, so müssen sie gemeint haben, dass ihr Vergleich mit dem Zylinder trotz der determinierenden äußeren und inneren Umstände – recht verstanden – durchaus erklären kann, inwiefern das Verhalten der Menschen ,in seiner Hand‘ liegt. Gibt es also eine positivere Auslegung dieses Modells, welche die Position der Stoiker verständlich macht? Wenn wir einmal unsere Abneigung dagegen überwunden haben, mit rollenden Zylindern und rotierenden Kreiseln verglichen zu werden, ist leicht einzusehen, dass der Kernpunkt des Modells nicht in der Unvermeidlichkeit des Zusammenwirkens von inneren und äußeren Faktoren, sondern in der inneren Natur des Gegenstandes selbst liegt. Diese Tatsache kommt in dem Beispiel des Stoßes nicht zum Vorschein, weil es das Opfer wie ein totes Objekt und nicht wie einen Menschen behandelt. Im Fall von Menschen besteht die innere Natur nicht in ihrer ,Stoßbarkeit‘, sondern in ihrer vernünftigen Verfassung und in ihrem Charakter. Man muss das Beispiel also abändern, um festzustellen, inwiefern das Modell vom Zylinder auf Menschen angewandt werden kann. Wenn ich jemandem Bestechungsgeld anbiete, zwinge ich damit die Person in einer bestimmten Weise zu handeln? Außer in pathologischen Fällen würden wir bestreiten, dass hier irgendeine Notwendigkeit vorliegt. Es liegt bei der Person, ob sie das Geld annimmt und auf die Bedingungen eingeht. Das gilt selbst in dem Fall, dass der Betreffende allgemein als bestechlich gilt, so dass man sagt, er könne Geld einfach nicht widerstehen. Auch wenn derartige Reaktionen vorhersagbar sind, sind Menschen nämlich keine Automaten. Wie schwach auch ihr Charakter sein mag, fassen sie doch jeweils einen Entschluss – und handeln so in Übereinstimmung mit ihrer inneren Natur. Zwar hätte der Betreffende die Tat nicht begangen, wenn ihm kein Geld geboten worden wäre. Dennoch ist dieses Angebot nur die auslösende und nicht die Hauptursache seiner Handlung.

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Dass dies der springende Punkt in Chrysipps Erklärung ist, bestätigt Ciceros nachfolgende Erläuterung: „So wie derjenige, der den Zylinder anstößt, seine Bewegung auslöst, ihm aber nicht die Fähigkeit zum Rollen verleiht, so hinterlässt auch der äußere Eindruck, nachdem er einmal eingetreten ist, seine Wirkung – und gewissermaßen seinen Abdruck – in der Seele. Die Zustimmung (assensio) dazu wird aber in unserer Macht liegen. Nach dem Anstoß von außen wird sie des Weiteren durch ihre eigene Macht und Natur (suapte vi et natura) in Gang gehalten, genau wie der Zylinder“ (De fato 43). Cicero geht nun nicht näher auf den inneren Mechanismus ein, der es dem Menschen erlaubt, sich der Zustimmung zu enthalten.33 Wir wissen aber aus anderen Quellen, dass eben dies der springende Punkt in der stoischen Psychologie ist. Diese Quellen verwandten große Sorgfalt auf die Erklärung des psychischen Mechanismus, der es rationalen Wesen ermöglicht, den Eindrücken von außen zu widerstehen.34 Eine eingehende Erörterung der stoischen Psychologie und ihres physikalischen Hintergrundes verbietet sich hier. Der Hinweis muss genügen, dass die äußeren Eindrücke auf die Seele komplex sein können. Beim Handeln bestehen sie sowohl in dem Eindruck von der individuellen Situation wie auch von der ihr gemäßen Handlung. Es liegt aber am Urteilsvermögen der betroffenen Person, ob sie diesen beiden Eindrücken ihre Zustimmung gibt oder versagt. Ist die Zustimmung einmal erfolgt, dann folgt notwendig der Handlungsimpuls. Es ist nun leicht einzusehen, aus welchen Gründen die Stoiker trotz der Komplexität der inneren Prozesse, die zum Handeln führen, an dem Prinzip festhalten, dass dieselbe Person unter den gleichen Umständen immer auf die gleiche Weise handelt. Treffen die gleichen Eindrücke von außen auf die gleiche innere Verfassung, dann wird die Person diesen Eindrücken immer ihre Zustimmung geben. Für Abweichungen müsste es besondere Gründe geben, es müsste also eine andere Kausalkonstellation vorliegen. Diese Überlegungen zeigen, dass die stoische Position nicht so simpel ist, wie das Modell vom rollenden Zylinder auf den ersten Blick 33 Vgl. dazu James Hankinson, in: Brad Inwood (wie Anm. 1), S. 304 – 5. 34 Epiktet: Dissertationes I 1.7 – 12. Zur stoischen Psychologie und ihren Bezügen zu den Prinzipien der Ethik vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik: ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. Stuttgart 1981; Brad Inwood (wie Anm. 13), Anthony Long, in: Keimpe Algra (wie Anm. 2), Kap. 17.

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suggeriert. Das Beharren darauf, dass sich auch die Menschen – ebenso wie alles andere im Universum – unter den gleichen Umständen immer auf die gleiche Weise verhalten, schließt nicht aus, dass ihre Entscheidungen in ihrer Hand liegen. Diese Überzeugung trifft sich durchaus mit unseren eigenen Annahmen über die Verlässlichkeit und Konsistenz menschlichen Verhaltens. So führen wir im Alltag ungewöhnliches Verhalten etwa auf einen jähen Stimmungsumschwung oder eine Veränderung des Gesundheitszustandes zurück. Solche Entschuldigungen sind nicht dazu gedacht, unsere Verantwortlichkeit für unsere Handlungen zu bestreiten. Sie sollen lediglich anzeigen, dass unsere innere Natur normalerweise nicht so ist, wie unser exzentrisches Verhalten es nahe legen könnte. Verantwortlichkeit ist folglich nicht an die Bedingung geknüpft, dass wir in jedem Augenblick auch anders handeln könnten. Verantwortlichkeit beruht vielmehr auf der Bedingung, dass die Menschen in der Lage sind, ihre Entscheidungen selbst zu treffen.35 Dass es bestimmte Verhaltensmuster gibt, vermindert nicht unsere Verantwortlichkeit; es bringt lediglich etwas zum Vorschein, mit dem wir ohnehin zu rechnen haben: Dass unsere Persönlichkeit im Wesentlichen festgelegt ist. Damit ist die Möglichkeit von Verbesserungen keineswegs ausgeschlossen. Vielmehr können Erfahrungen die innere Verfassung von Menschen dahingehend beeinflussen, dass sie übereilte Reaktionen auf unmittelbare Eindrücke zu vermeiden lernen. Die Ermahnungen/Bestrafungen und Belobigungen/Belohnungen durch die Umgebung sind also keineswegs wirkungslos: Sie können vielmehr eine anhaltende Wirkung auf die innere Natur einer Person ausüben. Führen diese Überlegungen nicht allzu weit von der stoischen Position ab? Das tun sie nicht. Es gibt vielmehr gute Gründe für die Annahme, dass es ihnen ähnlich wie uns um die Formung der inneren Natur des Menschen ging. So war es eine der zentralen Fragestellungen der stoischen Ethik und Psychologie, wie die richtige Verfassung zu erreichen ist, die den Menschen dazu befähigt, die Dekrete der Vernunft zu erfassen und ihnen Folge zu leisten. Im Zentrum stand daher nicht allein die Frage nach der richtigen geistigen und moralischen Erziehung in dem der Vernunft fähigen Lebensalter, sondern auch die nach der Entwicklung des Individuums ,von der Wiege an‘.36 Denn ist 35 Vgl. dazu Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit: ber die Entdeckung des eigenen Willens. München 2001. 36 Vgl. Brad Inwood (wie Anm. 13), Kap. 6: Moral Evolution; Jacques Brunschwig: The Cradle argument in Epicureanism and Stoicism, in: The Norms of

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die innere Verfassung einmal festgelegt, lässt sich die Persönlichkeit nur noch schwer ändern. Diese Art von ,ethischem Determinismus‘ hat wichtige Konsequenzen. Ihr zufolge gilt die Beurteilung des moralischen Verhaltens weniger dem, was ein Mensch in einer bestimmten Lage tut, als vielmehr der inneren Disposition, die für dieses Tun verantwortlich ist. Aus dieser stoischen Konzeption ergibt sich, dass das Verhalten eines Menschen vorhersehbar und -sagbar ist, jedenfalls für ein allwissendes Wesen, welches alle Besonderheiten von Charakter und Denkweise des Betreffenden kennt. Das schließt jedoch einen gewissen Grad von Autonomie ebenso wenig aus wie die Verantwortlichkeit im vollen Sinn. Es fragt sich daher, ob die Polemik gegen den stoischen Kompatibilismus lediglich auf einem Missverständnis ihrer Rechtfertigungsgründe beruht. Wenn ja, beruht dieses Missverständnis auf dem allzu simplen Modell des rollenden Zylinders, welches einem besseren Verständnis im Weg stand und nach wie vor steht? So einfach liegen die Dinge nicht. Auch ein besseres Beispiel würde den Stoikern nichts genützt haben. Denn auch diejenigen unter ihren Kritikern, die mit der Komplexität des psychologischen Mechanismus vertraut waren, hielten es für inakzeptabel, dass das Ergebnis jeden Zusammenwirkens von inneren und äußeren Ursachen unweigerlich feststehen soll. Diese Tatsache bestritten die Stoiker auch gar nicht. Sie sahen darin aber keine Veranlassung, sich von ihren deterministischen Konsequenzen zu distanzieren. Wie gesagt, spiegelt ihr Zylinder-Modell eines ihrer wichtigsten Anliegen wider: dass es die innere Natur des Betreffenden ist, die sein Handeln bestimmt. Dies könnte zunächst wie eine Binsenwahrheit erscheinen. Schon eine kurze Überlegung zeigt aber, dass dies keineswegs für alle Fälle gilt. Vielmehr dürfte oft die causa antecedens die Primärursache sein. Wenn jemand beispielsweise dem Zylinder nicht nur einen Stoß gibt, sondern ihn damit zugleich verformt, so ist er nicht mehr fähig zu rollen. Damit hätten sich vielmehr zugleich seine Natur und Gestalt verändert. Eine entsprechende Wirkung kann die causa antecedens auch auf den Menschen ausüben: Ein äußerer Eindruck kann so stark sein, dass er die innere Verfassung verändert. Die Möglichkeit einer solch rigiden Determinierung durch die causa antecedens erklärt vermutlich, warum Cicero in seinem Beispiel vom Zylinder und dem Menschen die Vorursachen als ,nahe‘ und Nature. Studies in Hellenistic Ethics, hg. von Malcolm Schofield & Gisela Striker, Cambridge 1986, S. 113 – 144.

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als ,Hilfsursache‘, die Natur des Gegenstandes hingegen als Hauptursache bezeichnet. Diese Spezifikation soll anzeigen, dass die betreffenden Bedingungen nicht in allen Fällen erfüllt sind, sondern von Fall zu Fall verschieden sein können. Die Einschränkung auf eine ,Hilfsursache‘ zeugt auch nicht davon, dass Cicero die Funktion der vorangehenden Ursache mit der eines bloß mitwirkenden Faktors (s¼meqcom) verwechselt. Im Fall des Anstoßes des Zylinders und des äußeren Eindrucks auf den Menschen ist der auslösende Faktor zwar eine reguläre Ursache; sein Einfluss auf die resultierende Handlung bzw. den Prozess beschränkt sich jedoch auf die Aktualisierung der Hauptursache.37 Ciceros kurze Zusammenfassung der Position Chrysipps mag allzu komprimiert sein, als dass sie der Subtilität von dessen moralpsychologischer Theorie gerecht werden könnte. Aber selbst Ciceros knappe Darstellung lässt erkennen, dass die Art von schicksalhafter Notwendigkeit, von der Chrysipp den Menschen befreit sehen möchte, lediglich äußere Zwangsursachen betrifft, die nichts mehr dem Individuum überlassen. Aus diesem Grund bestreitet Chrysipp, dass „alles aus vollständigen und Hauptursachen so eintritt, dass auch der Impuls nicht in unserer Macht steht, weil wir keinen Einfluss auf diese Ursachen haben“ (De fato 41). Eine klare Dichotomie, die in allen Fällen gleich ist, scheint es also nicht zu geben: Im einen Fall wirkt die causa antecedens als Hauptursache, im anderen fungiert sie nur als auslösender Faktor.38 Ferner dürfte die Funktion der causa antecedens je nach der Diskussionsebene unterschiedlich sein: Auf der kosmischen Ebene steht die causa antecedens für die Ordnung des Schicksals, während ihre Wirkmächtigkeit in einzelnen Vorgängen auf die jeweiligen Bedingungen 37 Die begrenzte Wirkmächtigkeit der causa antecedens im Fall von menschlichen Handlungen mag erklären, warum Cicero (wie vermutlich seine Quelle) in De fato 41 – 42 verschiedene Synonyme verwendet und von vorangestellten („praepositae“ oder „antepositae causae“) Ursachen spricht. Anthony Long & David Sedley (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 343 behandeln daher die causa antecedens als eine Gattungs-Bezeichnung. 38 Daher stimme ich Susanne Bobziens (1999) Argumentation zu, dass nicht alle vorangehenden Ursachen die gleiche Funktion haben. Galen trifft in seiner Schrift über ,erhaltende Ursachen’ eine klare Unterscheidung zwischen vorangehenden und auslösenden Ursachen. Leider ist dieses Werk nur im Arabischen erhalten, sodass über die Terminologie keine Gewissheit besteht; ohnehin ist unsicher, ob sich die späteren Ärzteschulen über die Bedeutung der stoischen Begrifflichkeit noch im Klaren waren, wie Galens Kritik am Unverständnis seiner Kollegen bestätigt, was die ursprüngliche Bedeutung der Unterscheidung von Ursachen bei den Stoikern angeht (IX. 458,8 – 14).

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beschränkt ist. Die Hypothese, dass die Mächtigkeit der causa antecedens innerhalb des stoischen Systems nicht einheitlich ist, würde erklären, warum Cicero im ersten, allgemeinen Teil von De fato die causa antecedens mit dem Schicksal gleichsetzt. Wie schon früher erwähnt, greift er als erstes die Konzeption eines kausalen Zusammenhangs (sulp²heia) innerhalb der Gesamtnatur an, weil die causae antecedentes als allumfassende notwendige Ursachen keinen Raum für individuelle Autonomie lassen. Sie legen nicht nur die menschliche Persönlichkeit und deren Neigungen fest (De fato 7), sondern fungieren angeblich auch als Hauptursachen bei einzelnen menschlichen Handlungen. Gegen eine derartige Kausaldeterminierung wendet Cicero ein: „Gleichwohl folgt nicht, dass deswegen auch schon durch Hauptursachen determiniert und festgelegt ist, dass die Personen sitzen, spazieren gehen oder was sonst auch immer tun.“39 Angesichts der unterschiedlichen Diskussionsebenen dürften daher die Schwankungen in Ciceros Zuschreibung der ,Mächtigkeit‘ der causae antecedentes weder seiner allzu hastigen Zusammenstellung der Argumente, noch auch der Tatsache geschuldet sein, dass er in den verschiedenen Teilen seiner Schrift unterschiedlichen stoischen Quellen folgt.40 Vielmehr beruhen die Unterschiede auf der jeweiligen Perspektive. Wenn es Chrysipp um das Gesamtbild geht, betont er, dass nichts außerhalb der allgemeinen Kausalordnung des Schicksals liegt und nichts eintreten kann, was nicht von vornherein durch diese Ordnung festgelegt ist (De fato 19). In diesem Fall bezieht er die causa antecedens auf die Steuerung der Gesamtnatur, welche zufällige Ereignisse ausschließt. Geht es hingegen um die Erklärung von Einzelereignissen, ändert sich die Perspektive, und es zeigt sich, dass 39 Zur Frage, in welcher Weise äußere Faktoren als Hauptursachen fungieren vgl. David Sedley: Chrysippus on Psychophysical Causality, in: Passions and Perceptions, hg. von Jacques Brunschwig & Martha Nussbaum, Cambridge 1993, S. 313 – 331. 40 Die scheinbare Unvereinbarkeit der beiden Perspektiven mag Ciceros ursprünglichem Plan geschuldet sein, die Argumente für und gegen die stoische Auffassung getrennt zu behandeln, eine Konzeption, die er zugunsten einer einheitlichen Erörterung aufgab, nachdem er sich aus politischen Gründen entschlossen hatte, die Schrift dem Konsul Hirtius zu widmen. Dies würde erklären, warum er Chrysipp zumeist als uneingeschränkten Necessitaristen behandelt (bes. De fato 7 – 11; 20 – 22; 28; 34 – 37), ihm in seiner Zusammenfassung jedoch eine mittlere Position zubilligt (39: „Er [Chrysipp] neigt denen zu, die die Bewegungen unserer Seele von der Notwendigkeit befreien wollen.“ „sed adplicat se ad eos potius qui neccessitate motus animorum liberatos volunt.“).

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,Schicksal‘ keine uniforme Verkettung von notwendigen causae antecedentes, sondern ein Netzwerk ist, welches ganz unterschiedliche Elemente mit unterschiedlichen Funktionen und Mächtigkeiten umfasst. Dass eine solche Differenzierung angezeigt ist, bestätigt indirekt auch die eingehende Diskussion über die Funktion der vorhergehenden Ursache in Alexander von Aphrodisias’ De fato. Denn Alexander versichert mit Nachdruck und wiederholt, dass der stoische Begriff der ,Vorursache‘ mit Kontingenz und menschlicher Verantwortlichkeit unvereinbar ist. Bei seiner Rekonstruktion einer aristotelischen Konzeption des Schicksals macht Alexander daraus nachgerade den Kernpunkt, in dem sich die stoische Position von der aristotelischen unterscheidet (De fato Kap. 2 – 6; bes. 168, 24 – 169,20). Daher lässt er es sich angelegen sein, den Unterschied zwischen nötigenden und nicht-nötigenden Vorursachen herauszustellen, und bestreitet, dass alles, was geschieht, aus einer Vorursache im Sinne einer Hauptursache hervorgeht.41 Verglichen mit Cicero ist Alexander den Stoikern gegenüber insofern weit weniger konziliant, als er ihnen unterstellt, dass die causa antecedens durchweg als dominante Ursache aufzufassen ist.42 Er bestreitet also, dass für die Stoiker irgend etwas ,in unserer Hand‘ liegen kann. Falls seine Auffassung nicht auf einer stoischen Quelle beruht, die weniger flexibel war als die Position Chrysipps,43 sind Zweifel angebracht, ob er seine Argumente gegen die stoische Position bona fide formuliert. Ähnlich wie Cicero verwendet er nämlich eine Menge unterschiedlicher Ausdrücke zur Bezeichnung der ,vorangehenden‘ Ursachen, was auf eine stärkere Differenziertheit hindeutet, als er zugeben will.44 Ferner spielt Alexander mit den verschiedenen Zeitstufen von pqogco¼lemom in einer Weise, die auf eine Unterscheidung zwischen ,führenden‘ und bloß zeitlich vorangehenden Ursachen hinweist: 41 Vgl. De fato 173,14 – 21. 42 Vgl. Alexanders Kombination von pqogco¼lemom und juq¸yr in 174,28. 43 Vgl. Robert Sharples, Alexander of Aphrodisias On Fate, London 1983, S. 142 – 146. 44 Außer pqogco¼lemom finden sich pqojatabebkgl´mai aQt¸ai (169,16; 178,8: 179,13 et pass.), pqoupaqwoOsai aQt¸ai (178,9) sowie 5nyhem Bl÷r peqist÷sim aQt¸air (180,5 – 6). Der Ausdruck pqojataqjtij¶ findet sich bei Alexander nur in seiner Aufzählung des angeblich unnötig komplizierten Schwarms von Ursachen (192,18 – 21). Zu diesen Unterscheidungen vgl. Robert Sharples (wie Anm. 42), S. 132 – 133, und Andreas Zierl: Alexander von Aphrodisias, ber das Schicksal. Berlin 1995.

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„[…] diejenigen, die behaupten, dass alles, was ist oder wird, dies mit Notwendigkeit aufgrund bestimmter vorangehender (pqogcgsal´moir) und Hauptursachen (pqogcoul´moir) tun, so dass alles, was geschieht, sich aufgrund einer vorausgegangenen (pqojatabebkgl´mom) Ursache ereignet, aufgrund derer es mit Notwendigkeit der Fall ist oder eintritt.“ Des Weiteren behandelt Alexander in seinen auf eine reductio ad absurdum angelegten Argumenten sämtliche zeitlichen Vorursachen als Hauptursachen (pqogcoul´mg, Kap. 25). Alexander macht daher mit dem Beispiel vom rollenden Zylinder kurzen Prozess (179,17; 185,18) und lässt das Argument zugunsten einer Autonomie der inneren Natur bestimmter Dinge nicht gelten (Kap. 13 – 15). Auch bestreitet er, dass die Bedingung der ,Zustimmung‘ auf Seiten des Menschen irgendeinen Unterschied mache: Die Zustimmung der Vernunft bedeute keine Lockerung des kausalen Netzwerkes, weil der stoische Begriff des Schicksals voraussetze, dass die Menschen – so wie alle anderen Dinge – ihren Eindrücken nachgeben (eUjeim) müssen. Bisher hat sich die Diskussion auf die stoische Verteidigung von Verantwortlichkeit und dessen, was ,in unserer Hand‘ ist, konzentriert. Von ,Freiheit‘ war dabei nicht die Rede. Das liegt nicht allein daran, dass das Wort 1keuheq¸a zunächst ausschließlich einen politischen Sinn hatte und in den Debatten über das Schicksal erst spät auftrat, wie Bobzien darlegt.45 Hinzu kommt, dass ,Freiheit‘ ein Begriff ist, der einer genauen Definition bedarf, wenn damit nicht bloß das Freisein von äußerem Zwang oder Gewalt gemeint sein soll. In einem ethischen Diskurs kann ,Freiheit‘ nicht die Abwesenheit von jeder Art von äußerem Einfluss bedeuten, weil ein solches Vakuum gar nicht existiert. Auch kann Freiheit nicht das Fehlen jeder inneren Konditionierung voraussetzen, denn es gibt keine Menschen ohne Eigenschaften, ohne Meinungen und Absichten, die ihre Entscheidungen beeinflussen. Angesichts dieser Unsicherheiten mit dem Wort ,Freiheit‘ waren die Griechen vielleicht gut beraten, wenn sie in der Debatte über die Verantwortlichkeit dem Ausdruck ,in unserer Hand‘ den Vorzug gaben.

45 Susanne Bobzien (wie Anm. 2), S. 276 – 290; S. 338 – 341 und dies.: The inadvertent conception and late birth of the free-will problem, in: Phronesis 43, 1998, S. 133 – 175.

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Individuelle Verantwortlichkeit oder schicksalsergebene Resignation? Wenn die Stoiker eine Theorie der menschlichen Verantwortlichkeit zu verteidigen suchten, welche auch bei modernen Deterministen Anklang finden kann, was ist dann an ihrer Theorie so anstößig, dass sie für Jahrhunderte immer wieder Gegenstand heftiger Polemik war? Schließlich war doch auch Aristoteles überzeugt davon, dass die erworbenen inneren Dispositionen das Verhalten von Menschen in der Weise bestimmen, dass es nahezu unmöglich ist, sich seinem Charakter zuwider zu verhalten. Ist der Widerstand gegen die Theorie der Stoiker nur ihrer ,fatalen‘ Terminologie und dem missverständlichen Beispiel vom rollenden Zylinder geschuldet? Anders als Aristoteles und moderne Deterministen haben die Stoiker es jedoch noch mit einer weiteren Schwierigkeit zu tun. Das Problem besteht darin, dass ihrer Theorie zufolge Menschen nicht allein unter den gleichen Umständen immer gleich handeln, sondern dass die betreffenden Kausalkonstellationen teleologisch vorbestimmt sind. Wenn alles im Universum nicht nur Kausalgesetzen folgt, die für alle Ewigkeit feststehen, sondern auch alle Dinge und Ereignisse von der göttlichen Vernunft als sinnvoll gewollt sind, so erscheint der Versuch, eine Verantwortlichkeit der Menschen durch die Berufung auf die Unabhängigkeit ihrer inneren Verfassung zu rechtfertigen, zum Scheitern verurteilt zu sein. Denn die globale Teleologie hat zur Folge, dass es nicht ,bei uns‘ steht, wer wir sind! Falls jemand sich als Taugenichts erweist und in allen Lebenslagen entsprechend verhält, kann man ihm dies wirklich zur Last legen, wenn die göttliche Vorsehung ihm diese Verfassung zugewiesen hat? Die Frage ist also, wie die Stoiker angesichts einer unveränderlich festgelegten Weltordnung eine persönliche Verantwortung rechtfertigen können. Selbst wenn die meisten unter uns vielleicht ,Kausalisten‘ in dem Sinn sind, dass sie es für plausibel halten, dass Menschen unter genau gleichen Umständen immer das Gleiche tun werden, so halten wir doch diese Tatsache nicht notwendigerweise für eine gute Sache, noch sehen wir darin das Walten einer wohlwollenden Allvernunft. Beim Umgang mit dieser Problematik muss man sich nochmals vor Augen halten, wie sich die Stoiker das Wirken der göttlichen Vorsehung vorstellen. Obwohl sie das allgegenwärtige rationale Prinzip mit Zeus gleichsetzen und ihm eine Reihe höchst ehrenvoller Epitheta beilegen, ist diese göttliche aktive Kraft doch keine transzendente Macht. Sie ist keine Gottheit, die über oder außerhalb der Natur steht

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und die Schöpfung nach einem vorher festgelegten Plan ordnet. Das göttliche Element ist vielmehr in der Natur enthalten. Der Taugenichts kann sich daher nicht darauf berufen, dass seine Rolle schon seit aller Ewigkeit im ,Textbuch des Schicksals‘ gestanden hat. Es gibt keinen präexistenten göttlichen Plan oder heimliche Dekrete des Schicksals, die jedem Ding ihren Platz und ihre Rolle zuweisen. Vielmehr ist in jedem Gegenstand in der Welt ein gewisser Anteil des göttlichen Elements enthalten, welcher sein Verhalten bestimmt. Dieser Anteil am pneuma stellt für den Betreffenden aber kein fremdes Element dar. Das göttliche Element in uns ist vielmehr unsere Persönlichkeit, so wie die Gestalt des Zylinders seine Natur ist und seine ,Rollfähigkeit‘ konstituiert. Bei den Menschen ist dieses göttliche Element für alles verantwortlich, was geschieht, sowohl auf der physiologischen als auch auf der psychologischen Ebene. Wenn die Menschen gegenüber anderen Teilen des Kosmos eine privilegierte Position haben, so haben sie diese, weil sie das göttliche Element in seiner reinsten, rationalen Form besitzen. Es liegt jedoch bei uns, unsere Vernunft durch eine Lebensführung zu vervollkommnen, die der Vernunft des stoischen Weisen so nah wie möglich kommt. Mit anderen Worten, jeder von uns ist in dem Maße ,göttlich‘, wie es unsere Einstellung und unsere Lebensweise manifestieren. Sieht man einmal von der Seltsamkeit des Gedankens ab, dass in allen von uns etwas Göttliches am Werk sein soll, so ist doch die Tatsache altbekannt, dass in uns vieles vorgegeben ist, während anderes von unserer Kontrolle abhängt. So liegen etwa unsere Begabungen nicht ,bei uns‘, wohl aber der Gebrauch, den wir von ihnen machen. Es mag uns mit gewissem Neid erfüllen, wenn jemand sich als Genie entpuppt und die Fähigkeit hat, ungewöhnliche Kunstwerke zu schaffen oder Lösungen für Probleme zu finden, nach denen andere vergeblich suchen. Wenn potentielle Genies jedoch nicht das Beste aus ihren Fähigkeiten machen, dann werfen wir ihnen ihre Nachlässigkeit vor. Dass es ihnen ,einfach nicht liegt‘ sich anzustrengen, mag in gewissem Sinn zutreffen; gleichwohl betrachtet man solche Erklärungen als schlechte Entschuldigung.46 Denn wir gehen davon aus, dass in allen normalen Fällen die Fähigkeit zu aktivem Engagement vorhanden ist und dass es daher ,in unserer Hand‘ liegt, von unseren Talenten Gebrauch zu machen. Unser Versagen und unsere Erfolge, soweit sie von uns ab46 So schon Aristoteles: Ethica Nicomachea III, 7 1114a 3 – 10.

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hängen und nicht von außen behindert oder uns aufgezwungen werden, sind die Manifestationen unserer inneren Natur. Die Gleichsetzung des göttlichen pneumas mit menschlichen Talenten und moralischen Dispositionen erklärt auch, warum das sogenannte ,Untätigkeitsargument‘, der !qc¹r kºcor, kein treffender Einwand gegen den stoischen Fatalismus ist.47 Wir wissen nicht mit Sicherheit, von wem es stammt. So mag es bereits zum Arsenal der megarischen Paradoxologen gehört haben, war also ursprünglich gar nicht gegen die Stoiker gerichtet. Wie es auch immer um die Vorgeschichte des !qc¹r kºcor bestellt sein mag, die Stoiker sahen sich alsbald mit dem Einwand konfrontiert, dass die Annahme eines allgemeinen Determinismus den Menschen jede Motivation nimmt, Anstrengungen auf sich zu nehmen. Das Argument lautet wie folgt: „Wenn es dir vom Schicksal bestimmt ist, dass du von dieser Krankheit genesen wirst, so wirst du genesen, gleich ob du einen Arzt konsultierst oder nicht. […] Aus welchem Grund solltest du also einen Arzt konsultieren, wenn feststeht, dass du genesen oder nicht genesen wirst?“ (De fato 28). Die Stoiker konterten diese Herausforderung mit der Erklärung, dass die meisten Ereignisse von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängen, so dass diese vom Schicksal ,mitbestimmt‘, confatalia sind, während ihre Erfüllung bei uns liegt.48 Sehen wir von der ungewohnten Ausdrucksweise dieser Erklärung ab, so erweist sie sich doch bei näherem Hinsehen als kein wirklicher Ausweg. Denn sie besagt nicht mehr, als dass alle Kausalverknüpfungen in notwendigen und hinreichenden Bedingungen bestehen. Denn welche Ereignisse sollten nicht an bestimmte Vorbedingungen geknüpft sein? Selbst wenn sich ein Unterschied zwischen absolut- und nur bedingt notwendigen Ereignissen konstruieren lässt,49 würde sich aus der stoischen Schicksalslehre ergeben, dass die Bedingungen erfüllt sein werden. Bei allem, was nicht eintritt, ist das Nichteintreten gleichfalls in dem Sinn vom Schicksal 47 Im Unterschied zu Cicero (De fato 28) und Origenes (Contra Celsum II 20, 342.62 – 71), die das ,faule Argument’ ( !qc¹r kºcor, ignava ratio) als ein Sophisma behandeln, betrachtet Alexander von Aphrodisias es als einen zutreffenden Einwand gegen den Determinismus (De fato 186,31 – 187,8; 191, 13 – 26). 48 Der Begriff der ,confatalia’ sollte nicht mit dem der ,Mitursachen’ (s. o.) verwechselt werden, also von Ursachen, die nur gemeinsam wirken können. 49 Cicero verweist dazu auf den Unterschied zwischen der absoluten Notwendigkeit, dass alle Menschen sterben werden, und der bedingten Notwendigkeit, wann und unter welchen Umständen dies geschieht (De fato 30).

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bestimmt, dass die erforderlichen Bedingungen unerfüllt bleiben. Was die Stoiker von den modernen Deterministen trennt, wäre lediglich ihre Eigenart, die Kausalkonstellationen als ,Schicksal‘ zu bezeichnen und ihnen eine göttliche Natur zuzuschreiben. Gewiss dürfte der solcherart auf universellen kausalen Determinismus reduzierte stoische Fatalismus auch für nüchterne Philosophen akzeptabel erscheinen. Gleichwohl ist unübersehbar, dass der Versuch, die stoische Theorie durch eine Reduktion des göttlichen aktiven Elementes auf einen ,Ehrentitel‘ als harmlos zu erweisen, einen wesentlichen Gesichtspunkt ihrer Theorie übergeht. Diese Reduktion berücksichtigt das bereits genannte kosmische teleologische Prinzip nicht hinreichend, auf dem die Koordination aller Ereignisse in der Welt beruht. Was dieses Prinzip zu dem Gesamtbild beiträgt, ist daher noch kurz näher auszuleuchten. In der anfänglichen Gegenüberstellung des stoischen und des aristotelischen Modells wurde festgestellt, dass die Zukunft für die Stoiker linear ist, weil ihre Theorie wirkliche Alternativen zu dem ausschließt, was tatsächlich eintreten wird. Solche Alternativen scheiden von vornherein aus, weil es keine Faktoren im Universum gibt, welche eine vorgegebene Kausalreihe unterbrechen könnten. Diese teleologische Verknüpfung aller Dinge miteinander ist in unserem bisherigen Versuch, menschliche Verantwortlichkeit im Stoizismus als möglich zu erweisen, weitgehend vernachlässigt worden. Denn die hier skizzierte Erklärung, wie vorausgehende und primäre Ursachen zusammenwirken, hat Individuen wie autonome Wesen behandelt. Solch eine Isolierung des Individuums vermittelst der Berufung auf seine ,eigene Natur‘ ist jedoch von den eigenen Voraussetzungen der Stoiker her als künstlich zu bezeichnen. So wie der Zylinder ist auch der Mensch Teil der umfassenden göttlichen Organisation. Ob ein Zylinder rollen wird, ob und in welchem Umfang die Menschen Gebrauch von ihren Talenten machen werden, steht seit aller Ewigkeit fest, wenn gilt, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben.50 Ferner: Auch wenn jemand um eines erstrebenswerten Zieles willen höchste Anstrengungen unternimmt, hätte 50 Die Tatsache, dass es eine feste Ordnung gibt, ist der Grund für die immer wieder erhobene Polemik gegen die stoische Annahme einer natürlichen Ursachenverknüpfung und einer feststehenden Weltordnung, selbst wenn die Opponenten die stoische Unterscheidung zwischen unmittelbaren Wirkursachen und bloß notwendigen Bedingungen anerkennen (vgl. Cicero: De fato 32 – 37).

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es doch keinen anderen Ausgang als den tatsächlich eintretenden geben können. Denn alle Faktoren, die ,mitverantwortlich‘ für Erfolg oder Misserfolg sind, bilden gleichfalls Teile des kausalen Netzwerkes. Folglich ist zu fragen, was die kausale Isolierung zur ,Rettung‘ der menschlichen Verantwortlichkeit rechtfertigt. Ist sie in Wahrheit nur ein Trick, wie viele ihrer Gegner den Stoikern vorwerfen? Es scheint, hier geht es um mehr. Die Notwendigkeit, Menschen als autonome Wesen zu behandeln, beruht für die Stoiker auch auf der menschlichen Unkenntnis der Weltordnung als ganzer. Eben weil wir nicht wissen, was uns die Zukunft bringt, müssen wir unser Möglichstes tun. In jedem Einzelfall kann das, was wir tun, die entscheidende Bedingung sein oder auch nicht.51 Wir können aber nichts Besseres tun, als jeweils nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, auch wenn wir keine Gewissheit darüber haben, ob unsere Handlungen zu dem gewünschten Ergebnis führen. Man kann sich damit als stärkeres oder schwächeres Glied im kausalen Netzwerk erweisen. Diese Art von Unwissen ist auch kein Zustand, der sich überwinden ließe. Sicheres Wissen, ob eine bestimmte Handlung zum Erfolg führt, müsste u. U. den gesamten Weltzustand umfassen.52 Nur wenn wir über diese Art von Allwissenheit verfügten, könnten wir vorhersagen, ob einer bestimmten Handlung vom Schicksal der Erfolg oder Misserfolg bestimmt ist. Wie schon verschiedentlich hervorgehoben wurde, haben die Stoiker weder angenommen, dass die Menschen über ein derartiges Wissen verfügen, noch dass es einen transzendenten göttlichen Geist gibt, der sich aller Dinge annimmt. Die gesamte Weisheit der Welt steckt in der Welt selbst. Wenn die Stoiker gleichwohl an eine göttliche Vorsehung glauben, so ist das die Konsequenz aus ihrem optimistischen Glauben an eine allumfassende Kausalordnung, in der es vernünftig zugeht, so dass sie dem Besten dient. Das Netzwerk von Ursachen ist in ihren Augen in dem Sinn vernünftig, dass es eine bessere Ordnung nicht geben kann. 51 Auch Alexander von Aphrodisias kennt die Berufung auf menschliches Nichtwissen, sieht darin aber nur eine schlechte Entschuldigung (De fato 193, 25 – 30). 52 Der Komplexität des Kausalgefüges wegen lehnt Susanne Bobzien es ab, von Kausalgesetzen im Sinne eines feststehenden allgemeinen Musters von Ereignisabläufen zu sprechen (wie Anm. 2), S. 173; 224. Das mag freilich ein allzu puristischer Umgang mit der Sprache sein, da die Stoiker selbst die Forderung nach ,Theoremen’ und einer entsprechenden Forschung erheben (vgl. Cicero: De fato 11 – 13).

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Aus diesem Grund glauben sie auch an die ewige Wiederkehr aller Dinge und Ereignisse innerhalb jeder Weltperiode. Das komplizierte kausale Netzwerk entfaltet sich immer nach dem gleichen Muster, nicht, weil es auf einem göttlichen Plan im Himmel beruht, sondern weil es den einzigen vernünftigen Weg darstellt, den die Dinge nehmen können. Innerhalb dieser allgemeinen Ordnung sind auch Faktoren enthalten, die individuelle Absichten und Hoffnungen zunichte machen. Viele Menschen führen ein Leben, welches arm, kurz, traurig und brutal erscheint. Obwohl die Stoiker sich dieser Tatsache bewusst waren, änderte das nichts an ihrem Vertrauen, dass die umfassende Ökonomie des Kosmos dem Besten aller seiner Bewohner dient.53 Wüssten die Menschen mehr über das kausale Netzwerk, dessen Teil sie selbst sind, so würden sie den Grund für scheinbar sinnlose persönliche Tragödien verstehen. Ein derartiger ,kosmischer Optimismus‘ mag nicht nach jedermanns Geschmack sein. Eben dieser Aspekt war es jedoch, der die stoische Lehre für Generationen von Anhängern attraktiv machte, für die das Vertrauen in eine allumfassende göttliche Ordnung die beste Erklärung darstellte, wie die Welt funktioniert. Sie sahen darin eine plausiblere Theorie als in der rein mechanistischen Erklärung der Atomisten oder in der ,partiellen Teleologie‘ der Platoniker und Peripatetiker, – ganz zu schweigen vom Quietismus der Skeptiker, die gar keinen Versuch machen, die Welt verstehen zu wollen. Bis zu welchem Grad ist also das eingangs skizzierte stereotype Bild von den Stoikern gerechtfertigt, welches ihren moralischen Rigorismus und die Unterdrückung aller Emotionen auf ihre Resignation gegenüber den Verfügungen eines allumfassenden Schicksals zurückführt? Ziel dieser Darstellung war der Nachweis, dass die Stoiker nicht nur weit von jeder Resignation entfernt sind, sondern überdies gute Gründe für die Empfehlung eines aktiven Engagements in weltlichen Angelegenheiten hatten. Wenn sie menschliche Leidenschaften als eine Behinderung ansahen, so liegt das nicht an Resignation gegenüber den Anordnungen des Schicksals. Vielmehr waren sie der Ansicht, dass die Leidenschaften sich störend auf unsere Fähigkeiten auswirken, so vernünftig wie möglich mit den Gegebenheiten umzugehen und unseren Einsichten über das zu folgen, was uns als der beste, vernünftigste Weg 53 Zum Problem der stoischen Theodizee vgl. Verf.: Theodicy and Providential Care in Stoicism, in: Traditions of Theology. Studies in Hellenistic Theology, its Background and Aftermath, hg. von Dorothea Frede & André Laks, Leiden 2002, S. 85 – 117.

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erscheint – selbst wenn es eine Erfolgsgarantie nicht gibt. Der stoische Determinismus hat also gerade nicht Resignation zur Folge, sondern ein sorgfältiges Studium unserer Fähigkeiten und Grenzen.

Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung von Maximilian Forschner Die stoische Theorie der Oikeiosis hat im Rahmen der stoischen Ethik die systematische Funktion, zwischen dem Menschen als Naturwesen und dem Menschen als Vernunftwesen, zwischen seinem vormoralischen Streben und seinem vernünftigen Handeln zu vermitteln. Sie versucht auf methodisch verschlungene Weise in apriorischer und empirischer Argumentation, aus der unpervertierten Natur des Menschen, ihren natürlichen Bestrebungen und ihrer natürlichen Entwicklung das Endziel des menschlichen Lebens als eines Daseins in sittlicher Konstanz und vernünftiger Selbständigkeit darzutun. Hauptgegner dieses Lehrstücks sind nicht nur Epikurs hedonistischer Naturalismus, sondern auch (kynische und skeptische) Formen von Moralismus bzw. Immoralismus, die den Menschen seiner Natur und den natürlichen Gütern völlig entfremden. Das griechische Wort oQje_ysir ist ein nominalisiertes Verbum. Das ihm entsprechende Adjektiv oQjeioD r ist abgeleitet von oWjor, dem Wort für Haus, und bedeutet ganz allgemein „zum Haus“ bzw. „zum Hauswesen gehörig“. Es bezieht sich auf Personen, die zum Hauswesen gehören oder durch Verwandtschaft oder Freundschaft mit ihm eng verbunden sind. Es bezieht sich ferner auf lebendes und totes Inventar. Den Gegensatz zu oQjeioD r bildet gemeinhin das Wort !kk|tqior, das Wort für das, „was einem anderen gehört“, in einem weiteren Sinn für das, „was einem fremd ist“. Das Verbum oQjeioOm bedeutet in Bezug auf Sachen „sich aneignen“, in Bezug auf Personen aktiv „auf seine Seite bringen“, „befreunden“ „mit sich befreunden“, passiv „mit jemandem vertraut und befreundet (gemacht) sein“. Unter oQje_ysir versteht die Stoa terminologisch einen Akt, durch den die Natur ein Lebewesen sich selbst geneigt macht und sein Streben auf Selbst- und Arterhaltung ausrichtet, auch einen Prozeß, durch den ein Lebewesen schrittweise seiner selbst inne und dadurch mit sich selbst vertraut, sich selbst freund, mit sich selbst eins und einig wird. Die Schwierigkeit einer Übersetzung des Terminus oQje_ysir ist jedem Hellenismusforscher geläufig. Der moderne Ausdruck, der seinem Inhalt (auf den Menschen bezogen) wohl am nächsten kommt, ist per-

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sonale Identität, genauer: der Prozeß, durch den wir denkend, strebend und handelnd (qualitative) Identität suchen und ein Bewußtsein oder Gefühl persönlicher Identität erreichen. Die wichtigsten Quellen für unsere Rekonstruktion der Lehre sind Cicero, De finibus bonorum et malorum III, 16 – 18; 20 – 21; 62 – 68, Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berhmter Philosophen, Buch VII, 85 – 86 sowie die Ethische Elementarlehre des Hierokles.1 Verstreute Stücke und Hinweise bei Seneca, Plutarch, Epiktet, und Stobaeus ergänzen das Bild. Cicero bietet die philosophisch genaueste und informativste Darstellung, Seneca bringt an verschiedenen Stellen seiner Epistulae morales den Ziel- und Leitgedanken personaler Identität, der Einheit und Stimmigkeit des Lebens und des mit sich selbst Einigseins des Lebens am prägnantesten zum Ausdruck. „Wenn es Dir gut geht und Du Dich für würdig erachtest, eines Tages der Deine zu werden, dann freue ich mich“ („Si vales et te dignum putas, qui aliquando fias tuus, gaudeo“). Mit diesen Worten beginnt die 20. Epistula Senecas ad Lucilium. Ein unschätzbares Gut ist es, so Seneca in Ep. 75, 18, sich selbst zueigen zu werden („Inaestimabile bonum est suum fieri“). Der Vollkommene, so Ep. 120, 10, ist stets derselbe und in jedem Akt sich selbst gleich („idem erat semper et in omni actu par sibi“). Die Aufgabe und Leistung der Weisheit bestehe darin, so Ep. 20, das Leben nach einer einzigen Regel zu führen (Ep. 20, 3: „Unam semel, ad quam vivas, regulam prende et ad hanc omnem vitam tuam exaequa“), stets dasselbe zu wollen und dasselbe nicht zu wollen (Ep. 20, 5: „semper idem velle atque idem nolle“); und dies, daß einem etwas immer gefalle, sei nur möglich, wenn es das Rechte ist (Ebd.: „non potest enim cuiquam idem semper placere nisi rectum“). Die Ep. 120 schließt mit den Worten: „So erweist sich denn am meisten ein Mensch als töricht: Er tritt als ein solcher auf und wieder als ein anderer und, was ich für das schlimmste halte, er ist sich selbst ungleich. Halte es für etwas Großes, als ein Mensch zu leben. Ausser dem Weisen aber lebt niemand als einer; wir übrigen sind vielgestaltig“ („Sic maxime coarguitur animus imprudens: alius prodit atque alius et, quo turpius nihil iudico, impar sibi est. Magnam rem puta unum hominem agere. Praeter sapientem autem nemo unum agit, ceteri multiformes sumus“). Seneca sieht also die Vollkommenheit des Menschen darin, daß man „einer“ ist und „mit sich selbst einig, sich selbst freund“ ist. 1

Hg. von Hans von Arnim: Berl. Klass. Texte, Heft 4, Berlin 1906.

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Der Kerngedanke der stoischen Oikeiosislehre besteht darin, daß die Natur alle Lebewesen mit Selbstliebe und einem Muster instinktiver Verhaltensimpulse ausgestattet hat, die der Selbst- und Arterhaltung dienen. Über die Selbstliebe der Lebewesen liebt und erhält die göttliche Allnatur sich selbst. Die stoische Oikeiosislehre berücksichtigt dabei den Gedanken der gestuften Entwicklung eines Lebewesens. Sie betont einmal, daß jeder Stufe des Lebens eine eigene seiner spezifischen Natur gemäße Verfassung und ein Muster des passenden Verhaltens entspricht. Sie betont in bezug auf den Menschen zum anderen, daß die jeweils spätere und höhere Stufe entsprechend ihrer Verfassung in Bewußtsein und Verhalten die voraufgehenden integriert und integrieren muß, soll die qualitative Einheit des Menschen mit sich selbst gesichert sein. Bei den bloßen Sinnenwesen leistet alles die Natur über Instinkte und instinktgebundene Erfahrung. Die menschliche Selbstliebe, die ihr entsprechenden Einstellungen und das ihr gemäße Verhalten ist neben naturalen Ausrichtungen und Impulsen an Erfahrung und Gewöhnung, an Erziehung und selbständige Vernunftleistungen gebunden. Die von der Allnatur geleistete Oikeiosis bezieht sich beim Menschen in prädisponierender Weise auf ein vernünftiges und freies Ichbewußtsein. „Ein jedes Lebensalter“, so Seneca, „hat seine eigene Verfassung … Jeweils anders ist die Stufe des Kleinkindes, des Knaben, des jungen Mannes, des Greises: Ich bin gleichwohl derselbe, der ich als Kleinkind gewesen bin und als Knabe und als junger Mann. So ist, obgleich jede Stufe eine andere Verfassung besitzt, das Einssein mit ihrer Verfassung ein und dasselbe. Denn nicht den Knaben oder den Jüngling oder den Greis, sondern mich vertraut die Natur mir an“ („Unicuique aetati sua constitutio est, … Alia est aetas infantis, pueri, adulescentis, senis: ego tamen idem sum qui et infans fui et puer et adulescens. Sic, quamvis alia atque alia cuique constitutio sit, conciliatio constitutionis suae eadem est. Non enim puerum mihi aut iuvenem aut senem, sed me natura commendat“, Ep. 121, 16 u. 17). Den Ausgang nimmt die Oikeiosis-Lehre nach übereinstimmendem Zeugnis der Quellen mit einer komplexen These über den primären Impuls (pq¾tg bql¶) eines neugeborenen Lebewesens. Hier verdient nicht so sehr die systematisch etwas ungeordnete Darstellung Senecas (in Ep. 121), sondern der entsprechende Passus bei Diogenes Laertius im ganzen zitiert zu werden: „Den ersten Impuls – sagen sie – habe das Lebwesen auf das Bewahren seiner selbst gerichtet, da Natur es von Anfang an sich selbst zugehörig (und geneigt) gemacht hat, wie Chrysipp im ersten Buch

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˜ m sagt: ,Das erste Zueigene ist jedem Lebewesen seines Werkes Peq· teky seine eigene Verfassung und das Bewußtsein dieser Verfassung; denn es war nicht wahrscheinlich, weder, daß Natur das Lebewesen einem anderen zugehörig, noch, daß sie es weder einem anderen noch sich selbst zu eigen gemacht hat. Es folgt also, daß Natur, nachdem sie das Lebewesen gebildet, es auch sich selbst zueigen (und geneigt) gemacht hat. So kommt es denn auch, daß es das Schädigende flieht und das Zugehörige liebend verfolgt’“ (DL VII, 85). Mit dem ersten Impuls ist einmal ein zeitlich erstes, damit ursprüngliches, nicht erworbenes, durch Einflüsse weder veredeltes noch pervertiertes Aussein-auf-etwas angesprochen. Dieses sog. Wiegenargument diente im Hellenismus zum Beleg von Äußerungen einer intakten Natur. Reine Natur genoß seit der Sophistik und der Blüte der hippokratischen Medizin gegenüber brüchigen politischen Ordnungen und relativierten kulturellen Traditionen eindeutig den Vorzug eines Orientierungsmaßstabs bei der Frage nach dem richtigen, d. h. glückbringenden menschlichen Leben. „Erster“ Impuls meint aber auch: logisch oder sachlich erster, d. h. leitender Impuls: Das gesamte nichtpervertierte Strebens- und Verhaltensrepertoire eines Lebewesens läßt sich interpretieren als eine Manifestation ein und desselben Prinzips. Der Inhalt dieses Prinzips wird mit tgqe?m 2autº bzw. „se conservare“ angegeben: sich selbst erhalten und bewahren wollen. Was mit dem Selbst (2autº) gemeint ist, verdeutlichen die Zusätze: B artoO s¼stasir und B ta¼tgr suma¸shgsir ; Systasis (lat.: constitutio) heißt wörtlich: Zusammenstand und Verbindung von Elementen zu einem konkreten Ding, näherhin dann auch Bauplan und Verfassung des Dinges. Und die Formulierung B ta¼tgr suma¸shgsir macht klar, daß das lebende (Sinnen-)Wesen ein Selbst ist, daß also zur Verfassung des konkreten Ding-Seins das Bewußtsein und das Erleben der eigenen Existenz und Verfassung gehört, in welch rudimentärer und undifferenzierter Form auch immer. Ein unpervertiertes Lebewesen sein heißt also für die Stoa: auf die Erhaltung seines artspezifisch und individuell geprägten konkreten Daseins und das ungestörte Erleben dieses Daseins aus sein. Diese These versteht sie als einzig erfolgreiche Erklärungshypothese des empirischen Befundes, für den der Blick auf menschliche Neugeborene und der vergleichende Blick ins Tierreich das Anschauungsmaterial liefern. Sie versteht sie aber auch – und dafür bietet der eben zitierte Diogenes-Text einen deutlichen Beleg – als Ergebnis eines metaphysischen Arguments. Dem Prozeß intransitiver Oikeiosis auf

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Seiten des Lebewesens, durch den dieses seiner selbst inne und mit sich einig und vertraut wird, durch den schrittweise ein bestimmtes Selbst mit bestimmter Form der Selbst- und Welterfahrung entsteht, liegt ein Prozeß transitiver Oikeiosis voraus und zugrunde, durch den die göttliche Allnatur allererst die Voraussetzungen hierfür stiftet: Sie macht das Lebewesen vom Augenblick der Geburt an sich selbst geneigt und zugehörig und stattet es mit Verhaltensdispositionen aus, die der Selbstund Arterhaltung dienen. Die Vernunft der göttlichen Natur kann die Lebewesen, die sie bildet, gar nicht anders einrichten als so, daß sie sich selbst zueigen und geneigt sind; alles andere wäre mit ihr selbst unvereinbar. Lebewesen haben eine Beziehung zu sich selbst. Die Beziehung zu sich selbst ist durch suma_s¢gsir (lat.: sensus sui) bzw. sume_dgsir gestiftet. Alle Wahrnehmung (aisthesis) ist auch Selbstwahrnehmung (synaisthesis); und alles Wissen ist auch Wissen um sich selbst. In der Wahrnehmung von etwas ist nach stoischem Verständnis die Wahrnehmung von Eigenem und Fremdem, die Wahrnehmung des eigenen Bestandes und des ihm Dienlichen und Schädlichen enthalten. Das angeborene Verhaltensrepertoire von Sinnenwesen zeigt, daß sie das Eigene zu erhalten und das Fremde zu meiden suchen. Und Oikeiosis auf der Ebene der Vernunftfähigkeit ist wesentlich ein Prozeß des Innewerdens und Anerkennens von Vorhandenem als zu sich gehörig oder sich fremd bzw. abstoßend gegenüberstehend, ein Prozeß, in dem ein Selbst von bestimmter Art sich konstituiert, das sich in diesem Selbstsein und dieser Eigenart annimmt und gegenüber Fremden, Bedrohlichem und Destruktivem abgrenzt und zu schützen versucht.2 Oikeiosis setzt denn auch nach übereinstimmender Auskunft aller Quellen ein mit der Aisthesis und der Synaisthesis, der Selbstwahrnehmung und Empfindung, d. h. dem affekt- und impulsbesetzten Erleben des Wahrnehmens. Ursprünglich, so sagt uns Seneca (Ep. 121.5, 11 – 12), ist diese Selbsterkenntnis kein präzises Verständnis dessen, worin die eigene natürliche Konstitution besteht, sondern nur ein Bewußtsein des eigenen Seins: grob, summarisch und dunkel, aber gleichwohl bei allen Sinnenwesen vom Augenblick der Geburt in kontinuierlicher Form vorhanden (vgl. auch Hierokles, col. 4, 44). Daß Tiere und Kleinkinder über kein Bewußtsein der eigenen Existenz und damit kein Selbst verfügen, das sich in Form von Sätzen darstellen kann 2

Vgl. hierzu v. a. G. B. Kerferd: The Search for Personal Identity in Stoic Thought, Bulletin of the John Rylands Library 55, 1972, S. 177 – 196.

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und daß die Form propositionalen Selbstbewußtseins von entschieden anderer Art ist als das Innesein seiner selbst allein durch Wahrnehmung und assoziative Erinnerung, war gerade der stoischen Anthropologie klar und hochbedeutsam. Gleichwohl wird die Frage „Ob ein Tier sich selbst wahrnimmt?“ (Hierokles 1. Kap.) mit einem eindeutigen Ja beantwortet und durch eine komplexe physikalische bzw. physiologische Theorie seelischer Prozesse in allen Sinnenwesen abgestützt. Die Selbstwahrnehmung beginnt nach stoischer Lehre unmittelbar mit der Geburt und liefert das erste Zueigene (pq_tom oQje?om), dem die diesem angemessenen Dinge (die pq_ta jat± v¼sim) korrespondieren: der eigene Leib und das seinem artspezifisch- und individuell verfaßten Leben Bekömmliche und Förderliche. Es ist nicht wahr, daß ein Lebewesen zuerst die äußere Welt erfaßt. Aisthesis ist als Wahrnehmung und Empfindung ihrer Struktur nach immer schon zweipolig, nach außen und ineins damit nach innen gerichtet, und zunächst dominiert in allem Wahrnehmen die Zentrierung nach innen. Tiere und Säuglinge nehmen zuerst den Stand und die Teile ihres eigenen Organismus wahr und erleben Bestimmungen äußerer Dinge primär als Bestimmungen des eigenen Lebens, ehe sie sie auch zu Bestimmungen von Dingen einer äußeren Welt distanzieren. Alle animalische Wahrnehmung ist nach stoischer Ansicht zuerst und dominant Selbstwahrnehmung, Erfahrung der eigenen Zustände. Und die unmittelbare Erfahrung der eigenen Zustände bleibt für sie auch in aller späteren Erfassung äußerer Dinge als solcher grundlegend; aller Weltwahrnehmung ist die Selbstwahrnehmung vorgängig und immanent (vgl. Hierokles, col.6, l – 3; Seneca Ep. 121, 12: „… talis ad omnia animalia constitutionis suae sensus est. Necesse est enim id sentiant per quod alia sentiunt.“).3 Die Anwendung dieses Gedankens findet in einem sprechenden Beispiel bei Hierokles seine Illustration (col. 7, 5 – 15): Kleine Kinder geraten in äußerste Erregung und Angst, wenn man sie in abgedunkelte und geräuschlose Räume schließt. Der Ausfall von elementaren Wahrnehmungen, so die überzeugende stoische Erklärung, ist für sie gleichbedeutend mit der Vorstellung unmittelbar drohender Zerstörung ihrer Existenz (vamtas¸am !maiq¶seyr aqt_m kalb²mei). Sie unterscheiden noch nicht genau zwischen Selbst und Welt, sie können sich noch nicht zureichend durch Gedanken der Fortdauer ihres Daseins versichern. 3

Vgl. Kerferd a.a.O., S. 187 f.

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Dieses Beispiel steht bei Hierokles bereits im Kontext der Beantwortung der zweiten wesentlichen Frage auf der ersten Stufe der Oikeiosis: „Ob das Tier, das sich selbst wahrnimmt, sich seiner erfreut und sich selbst zugehörig und geneigt ist?“ (col. 6). Auch diese Frage wird eindeutig bejaht. Die bei allem Lebendigen feststellbare naturale Tendenz zur Selbsterhaltung setzt bei tierischen Wesen, die ihre eigene Existenz und Verfassung wahrnehmen und aufgrund von Wahrnehmung etwas erstreben, voraus, daß das Wahrgenommene als etwas Gutes und Erfreuliches, ja als das ureigene und grundlegende Gute erfahren wird. Der zitierte Text bei Diogenes Laertius betont die metaphysische Basis dieser naturwüchsigen Liebe des eigenen Daseins und Soseins bei allem Lebendigen: Der Gedanke einer vernünftigen und fürsorglich schaffenden göttlichen Natur ist unvereinbar mit dem Gedanken, daß Lebewesen sich selbst gegenüber feindlich, fremd oder gleichgültig geboren werden. Die Natur, so ergänzt Seneca diesen Gedanken, zieht auf, was sie gebiert, sie wirft es nicht weg („Producit fetus suos natura, non abicit“, Ep. 121, 18). Ciceros Darstellung der stoischen Oikeiosislehre setzt in De finibus ohne diese Teleologie4 mit dem fundamentalen Faktum ein, daß ein Lebewesen „sobald es geboren ist… sich sich selbst verbunden fühlt und mit der Aufgabe betraut sieht, sich und seinen Status zu erhalten und das, was seinen Status erhält, liebend zu ergreifen, seinen Untergang aber fremd und abstoßend findet und ebenso jene Dinge, die den Untergang herbeizuführen scheinen“ (De fin. III, 16). Die Tendenz zur Selbsterhaltung, die sich bei Lebewesen vom Augenblick der Geburt an in allen Äußerungen und Verhaltensweisen bekundet, gründet für die Stoa in einer fundamentalen Liebe alles Lebendigen zum eigenen Dasein in seiner naturwüchsigen Eigenart. Bei keinem Lebewesen, so Seneca, findet man eine naturale Geringschätzung seiner selbst, nicht einmal eine Vernachlässigung (Ep. 121, 24: „Sed in nullo deprendes vilitatem sui, ne negligentiam quidem“). Diese naturale Selbstliebe galt nicht allen philosophischen Richtungen als grundlegend. Der Hedonismus eines Epikur etwa war der Meinung, daß alle Zuneigung des Lebens zu etwas und alles Auslangen nach etwas durch eine vorgängige Erfahrung von Lust bedingt und durch den Wunsch und die Erwartung weiterer Lust oder der Ver4

Der naturphilosophisch-theologische Hintergrund der stoischen OikeiosisLehre wird von Cicero in De natura deorum II voll entfaltet.

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meidung von Schmerz motiviert sein muß. Nicht Liebe zum eigenen Dasein und Sosein, sondern das Erleben von Lust (und das Vermeiden von Schmerz, vgl. Seneca Ep. 121, 7) sei das fraglose Prinzip allen Strebens und Verhaltens. Die Stoa hatte tiefe Bedenken gegen diese These; sie lassen sich in zwei Gedankenstränge bündeln: (a) Hedone, Lust als grundlegendes Strebens- und Verhaltensprinzip wäre destruktiv für das Selbstverständnis des Menschen als eines sittlichen Wesens. (b) Hedone als universales Verhaltensprinzip erkläre nicht die Fakten. Was das Argument (a) betrifft, so ist zu bedenken, daß Sittlichkeit für alle Ethiken der Antike in das umfassende Ziel der 1udailom_a integriert war. Die stoischen Einwände gegen den Hedonismus richten sich nicht nur darauf, daß der Hedonismus solche (teils radikalen Altruismus bekundende) Phänomene wie Tapferkeit, Treue, Freundschaft etc. kaum adäquat zu interpretieren in der Lage wäre. Sie bestreiten auch, daß ein nach hedonistischem Prinzip geführtes Leben auf menschliche Weise mit sich selbst einig und damit glücklich sein könne. Für die Begründung des Arguments (b) verwies die Stoa offensichtlich auf ein reiches Beobachtungsmaterial von spontanen Verhaltensweisen von Tieren und neugeborenen Menschen, die zweckmäßig zum Überleben des Individuums und der Art sind, ohne daß plausiblerweise irgendwelche vorgängigen Lusterfahrungen und Lusterwartungen anzusetzen wären. Bestimmend war aber wohl auch der nüchterne Gedanke, daß für die immense Anstrengung alles Lebendigen zur Selbst- und Arterhaltung nach allen Erfahrungen des Lebens der Gesichtspunkt einer positiven Lust/Unlustbilanz wenig erklärt. In diesen Kontext ist vermutlich auch die Wahl des Terminus ‘oikeiosis’ zu einem Grundbegriff der Ethik zu stellen. ‘Oikeion’ meint ursprünglich, wie gesagt, das, was zum eigenen Hauswesen gehört, die Personen und Sachen, insbesondere eine durch Blutbande gestiftete Zugehörigkeit. Die Zuneigung im Sinn wechselseitiger Identifikation mit Handlungen und Geschick des anderen im Rahmen des Hauswesens und entsprechend die Sorge für Erhaltung und Wohlleben aller Glieder dieser Einheit sind selbstverständlich und lassen sich weder im menschlichen noch, analog, im tierischen Bereich sinnvollerweise aus dem Lustprinzip ableiten. Jedermann weiß, daß man für seine Angehörigen sorgt wie für sich selbst, ja oft mehr als dies, ohne daß dabei der Blick auf die eigene Lustbilanz leitend wäre. Dem Römer Cicero erscheinen derartige Gedanken wohl zureichend. Diogenes Laertius’ Quelle schreibt möglicherweise vor einem

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anderen Hintergrund. Ihre starke Gewichtung der naturtheologischen Argumentation wendet sich wohl gegen ein vielleicht vom Pythagoreismus oder von Platon inspiriertes Daseinsverständnis, das eine göttliche Dimension des Kosmos und des menschlichen Lebens zwar anerkennt, aber dem Leben in seiner naturwüchsigen Form sich entfremdet fühlt oder Gleichgültigkeit zeigt. Ihm hält die Stoa entgegen, daß, was aus dem naturhaften Antrieb von einem Lebewesen geliebt und erstrebt wird, wertvoll ist und seinen Wert behält, auch wenn sich im Verlauf der naturgemäßen Entwicklung eines Lebewesens die Schätzung dessen modifiziert, was es zuerst über alles geliebt und erstrebt hat. Denn in jenen Dingen, die ein (unpervertiertes) Lebewesen spontan um ihrer selbst willen schätzt, manifestiert sich die Liebe, mit der die göttliche Natur sich in all ihren Gebilden des Lebens selbst bejaht und erhält. Man mag in dem Gedanken, daß wertvoll ist, was naturwüchsig erstrebt wird, eine eklatante Form von Naturalismus sehen, zumal wenn der Gedanke ohne theologisch-metaphysische Stütze auftritt. Gleichwohl hat die Stoa (zurecht, wie ich meine) in ihm eine der Grundlagen gesehen, ohne deren Anerkennung keine Verständigung in sittlichen Fragen möglich ist. Wer ernsthaft der Meinung ist – so das Argument – es sei grundsätzlich vielleicht besser nicht zu leben als zu leben, oder, es sei, ceteris paribus, gleichgültig, ob man als Mensch oder als ein Tier einer anderen Species lebt, der teilt nicht den gemeinsamen Rahmen, innerhalb dessen über Fragen menschlicher Lebensführung sinnvoll diskutiert werden kann.5 In diesem Sinn liefert der primäre Impuls als Einrichtung der Natur, nach der alle Lebewesen vom Zeitpunkt ihrer Geburt an sich verhalten, den Ausgangspunkt der stoischen Ethik.6 Hätten menschliche Wesen keine Sprachfähigkeit, dann bliebe Selbsterhaltung und mit zunehmender Reifung auch Arterhaltung ihr einzig natürliches Strebensziel. Sammeln von (artspezifischer) Nahrung, Schutz vor Witterung und Feinden, Partnersuche, das Zeugen und Aufziehen von Nachkommenschaft sind die Tätigkeiten, die ein Lebewesen als jat± v¼sim, als naturgemäß lebt und erlebt. Aber ist derartiges Tun nicht auch naturgemäß, und damit sinnvoll, ja gar verbindlich für menschliches Leben? 5 6

Vgl. dazu Verf.: ber die stoische Begrndung des Guten und Wertvollen, in: Methexis XVII, 2004, S. 55 – 69. Vgl. zum Folgenden auch Anthony A. Long: Hellenistic Philosophy, London 1974, S. 184 – 199.

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Die stoische Antwort auf diese Frage ist komplex. Sie findet sich in konzentrierter Form in Cicero, De finibus III, 20 – 21: „Wir wollen also weitergehen, da wir diese Prinzipien der Natur (principia naturae) hinter uns gelassen haben; was folgt, muß mit ihnen kongruieren. Es folgt aber diese erste Einteilung: Die Stoiker sagen …, daß jenes schätzenswert (aestimabile) ist, was entweder selbst der Natur entsprechend ist (quod aut ipsum secundum naturam sit) oder etwas derartiges hervorbringt (aut tale quid efficiat). Deswegen ist es wert gewählt zu werden (selectione dignum), weil es ein der Schätzung würdiges Gewicht hat, was sie ‘axia’ nennen, während sein Gegenteil nicht schätzenswert ist (inaestimabile). Wir haben also als grundlegende Prinzipien festgelegt, daß jene Dinge, die naturgemäß sind, ihrer selbst wegen zu nehmen sind (ipsa propter se sumenda) und ihr Gegenteil zu verwerfen (reicienda). Die erste angemessene Leistung eines Lebewesens (primum officium) – so übersetze ich das jah/jom – ist demnach, sich in seiner natürlichen Verfassung zu erhalten (ut se conservet in naturae statu); daraus ergibt sich die zweite, daß es die Dinge sich aneignet und hält, die seiner Natur gemäß sind, und die gegenteiligen Dinge sich fernhält; wenn dann das Verfahren der rationalen Auswahl (selectio) und Abwahl (reiectio) von Dingen gefunden und erfaßt ist, folgt als drittes die verantwortliche Wahl (cum officio selectio); dann folgt diese in Beständigkeit (ea perpetua), schließlich in einer Höchstform der Konstanz und der Übereinstimmung mit der Natur (tum ad extremum constans consentaneaque naturae). In diesem Zustand nun beginnt das, was wahrhaft gut genannt zu werden verdient, (im Menschen) anwesend zu sein und erkannt zu werden. Denn die erste Verbundenheit (prima conciliatio) des Menschen geht auf das, was der Natur gemäß ist (quae sunt secundum naturam). Sobald er aber Sensibilität für Vernunfttätigkeit (intelligentia) oder vielmehr eine authentische Erkenntnis von ihr (notio) gewonnen hat – was die Griechen 5mmoia nennen –, und er die Ordnung und sozusagen den Zusammenklang der Dinge, die (von ihm) getan werden, sieht (viditque rerum agendarum ordinem et, ut ita dicam, concordiam), schätzt er sie viel mehr als alles, was er zuerst geliebt hat, und kommt so durch intuitive Erkenntnis und vergleichendes Überdenken zum Ergebnis, daß darin das höchste Gut des Menschen liegt, das für sich Lob verdient und uneingeschränkt zu erstreben ist, daß es in dem liegt, was die Stoiker homologia nennen, wir aber, wenn es recht ist, convenientia nennen wollen – da also darin jenes Gute liegt, auf das alles zu beziehen ist, die sittlich guten Taten und das sittlich Gute selbst (honeste facta ipsumque honestum), das allein zu den wahrhaft guten Dingen gerechnet wird, so ist dieses, obgleich es später entsteht, doch allein aufgrund seiner eigenen Kraft und Würde absolut zu erstreben (expetendum). Von jenen Dingen aber, die zuerst naturgemäß sind, ist nichts um seiner selbst willen absolut zu erstreben … Es ist dieses gleichwohl naturgemäß und fordert uns ungleich mehr zu seiner Erlangung auf als alles Frühere.“

Diese Cicero-Passage enthält in äußerst konzentrierter doxographischer Form das stoische Konzept personaler Identität. Identität, so

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die implizite Ausgangsthese, erreicht der Mensch nur durch naturgemäße Einstellung und Verhaltensweise zu sich selbst und der Welt. Dem Menschen ist wie allen Lebewesen ein Muster von Einstellungen und Verhaltensweisen vorgezeichnet. Mit diesem Muster wird er schrittweise durch Selbsterfahrung vertraut. Dieses Muster ändert sich beim Menschen mit der gestuften Entwicklung seiner Vernunftfähigkeit. Dinge, die ihm in einem frühen Entwicklungsstadium angemessen sind, verlieren diesen Charakter der Angemessenheit nicht, aber ihre Stellung im Gesamtgefüge der Selbstliebe verändert sich mit der Entwicklung des Selbst hin zu einer vernünftigen Persönlichkeit. Jetzt gilt, was Seneca in den Satz kleidet: „Der Mensch ist sich aufgrund des Teils teuer, durch den er Mensch ist“ („ea enim parte sibi carus est homo qua homo est“, Ep. 121, 14). Bleibt das erste Naturgemäße nach Abschluß der Entwicklung der Vernunftfähigkeit unbedingtes Strebensziel, dann ist Uneinigkeit mit sich und der Welt die Folge, dann sind nach stoischer Lehre Einssein der Person mit sich selbst und damit Glückseligkeit nicht zu erreichen. Das Erstaunliche am stoischen Konzept des Erwerbs praktischer personaler Identität dürfte darin zu sehen sein, daß die naturgemäße Einstellungsänderung zu den Gütern des Lebens als Resultat eines Nachdenkens über die eigenen Stadien und Leistungen des Lebens sozusagen in einem Umschlag von selbst sich ergeben soll. Um den Kerngedanken in kantianischer Begrifflichkeit zu verdeutlichen: Auf der Stufe eines zur Vollendung sich steigernden (durch philosophische Erkenntnis der Weltordnung geleiteten), an Sitte, Recht und geltender Moral orientierten Verhaltens entsteht durch Prozesse der sume_dgsir, durch Akte nunmehr gedanklicher Erfassung und Durchdringung dessen, was man ist und tut, die Einstellung der Sittlichkeit, d. h. ein Selbstverständnis, in dem der Mensch sich selbst in uneingeschränkter Weise nur noch als vernünftiges Subjekt und moralische Person liebt und erhalten will. Das Paradoxon der stoischen Ethik, insbesondere vor dem Hintergrund einer christlich geprägten Daseinsinterpretation, besteht genau in dem Gedanken, daß die natürliche Selbstliebe des mündig gewordenen Menschen in der bedingungslosen Liebe zum eigenen Vernünftigsein, nur in ihr und in ihr vollendet ihre Erfüllung findet. Die sinnliche Seite des Menschen verliert demgegenüber jedes Eigenleben und Eigengewicht, sie wird in ihrer emotionalen und appetitiven Dimension vollständig in die Vernunft der Person integriert, in ihrer unkontrollierbar animalischen bzw. physiologischen Dimension zwar nicht ignoriert,

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aber zum bloßen Natur-Sein veräußerlicht. Und dies besagt, daß die Stoa den Gedanken der qualitativen Identität der Person im Sinne ihrer Einheitlichkeit, Selbständigkeit, Beständigkeit und bruchlosen Selbstaffirmation so denkt, daß das subjektiv Intendierte und Bejahte in keiner Weise mehr auf das Entgegenkommen des objektiv unverfügbar Gegebenen und unvorhersehbar Widerfahrenden angewiesen ist. Identität ist Sache allein des richtigen (selbstverständlich noch auf Natur und Geschichte bezogenen) Denkens und Wollens und des begleitenden Gefühls. Alles der Person angenehm oder schmerzhaft Vorgegebene und lediglich Widerfahrende wird hingenommen in einer gelassenen Distanz, die sich dem Bewußtsein verdankt, daß in allem nicht von uns Verfügbaren die göttliche Weltvernunft wirkt, die der eigenen endlichen Vernunft wesensgleich ist, und in die hinein wir uns auch wieder auflösen werden. Blickt man auf Ciceros Darstellung der stoischen Oikeiosislehre im einzelnen, dann markiert die Fähigkeit der selectio den Übergang vom Tier zum Menschen. Mit „selectio“ und „reiectio“ übersetzt Cicero die stoischen Termini 1jkoc¶ und !pejkoc¶. Bei ihnen zeigt noch der Wortlaut an, daß ein Wählen und Verwerfen von Dingen angesprochen ist, das durch den Logos, die Sprachfähigkeit bestimmt wird. Die Stufen und Phasen sich vollendender Selbstfindung und Selbstaneignung folgen dem Schema einer gleichsam natürlichen Entwicklung der Betätigung der Wahlfähigkeit und des korrespondierenden Fortgangs des mit ihr verbundenen Innewerdens und Zueignens von Eigenschaften der Person, die im rationalen Wählen im Spiel sind. (a) Im Wählen und Abwählen konkreter Dinge und Handlungen werden wir einer gewissen Unabhängigkeit von Naturzwängen und anderen Personen inne und eignen uns diese Eigenschaft der Freiheit und Autarkie als wesentlich zu unserem Selbst gehörig zu. (b) Im Wählen und Abwählen konkreter Dinge oder Handlungen wählen wir uns selbst und werden gewahr, als wie beschaffenes wir unser Leben führen und erleben möchten. Das sprachlich artikulierbare Selbstverständnis bekundet sich ja in den Prämissen unserer praktischen Entscheidungen und wird in diesen und nirgendwo sonst konkret. Erste Akte des Wählens beziehen sich auf vergleichsweise Geringfügiges, sind bei Heranwachsenden stark tentativ und noch nicht strengen Rechtfertigungszumutungen von Seiten anderer ausgesetzt. Das Mündigwerden ist gekennzeichnet durch den Erwerb von Fähigkeit und die Tendenz, insbesondere gewichtigere Entscheidungen so zu treffen, daß sie sich gegenüber Mitgliedern der eigenen Lebensge-

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meinschaften (der Familie, der Stadt, den verschiedenen Gesellschaften, denen man sich zugehörig weiß) mit guten Gründen verteidigen lassen. Dies gehört zur Natur des Menschen als eines rationalen und sozialen Lebewesens: Der Mensch findet seine Identität als ein Subjekt, das sein Leben nach eigener Wahl durch Überlegung und Entschluß führt, nur im Rahmen einer Meinungs-, Handlungs- und Erlebnisgemeinschaft, in die er hineinwächst und von der er im Maß der Graduierung seiner Selbständigkeit auch argumentativ in Anspruch genommen wird. Die Rechtfertigung des Wählens bezieht sich zunächst auf einen gemeinsamen Fundus von Wertungen und Normen, die einem Menschen in Religion und Kunst, in Sitte und Recht und den von ihnen getragenen Institutionen einer Polis oder Stammesgemeinschaft gegeben sind. Wir befinden uns hier auf der Stufe der Entwicklung, die Cicero mit der äußerst kurzen Formel „cum officio selectio“ beschreibt. Officium steht für das stoische jah/jom. Jah¶jomta sind Handlungen, die als intersubjektiv zugängliches Verhalten der Natur des Menschen im Blick auf die Stufe seiner Entwicklung und seine Stellung im sozialen Ordnungsgefüge gemäß sind, die ihm zukommen, die zu ihm passen, die sich für ihn gehören. Eine der gut überlieferten Definitionen für das mit jah/jom Gemeinte unterstreicht den Aspekt erfolgreicher Rechtfertigung derartiger Handlungen: „Angemessenes Verhalten ist aber, was so getan ist, daß es, als Tat, eine wohl begründete Rechtfertigung für sich hat“.7 Der Ausdruck „officium“ weckt die Konnotationen von politisch-gesellschaftlichen Rollen und Ämtern und den mit ihnen verbundenen Aufgaben, Befugnissen und Verpflichtungen. Der Ausdruck eukocor !pokocislºr bzw. „probabilis ratio“ erinnert an das (von Aristoteles entwickelte) topisch-dialektische Verfahren der Begründung von Handlungen unter Bezugnahme auf den Traditions- und Erfahrungsbestand eines sensus communis in praktischen Angelegenheiten:8 5mdona, „probabilia“ sind Dinge, die allen oder den meisten oder den Experten richtig erscheinen, als bloße Expertenmeinung aber nicht dem allgemeinen Erfahrungsbestand zuwiderlaufen. 7 8

Cicero, De fin. III, 58 : „Est autem officium, quod ita factum est, ut eius facti probabilis ratio reddi possit“; DL VII, 107 : Jah/jºm vasim eWmai d pqawh³m eukocom Uswei !pokocislºm. Vgl. dazu ausführlich Verf.: Dialektik und Ethik. Zu Begriff und Methode der praktischen Philosophie bei Aristoteles, in: Gewißheit und Gewissen, hg. von Wilhelm Baumgartner, Würzburg 1987, S. 41 – 62.

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Die nächsten Etappen einer naturgemäßen Entwicklung des Menschen hin zu einer Person mit vollendeter Identität beinhalten offensichtlich eine Steigerung des „seligere cum officio“ in mehrfacher Hinsicht. Zunächst wird verantwortliches Handeln durch wiederholtes Tun zum Ausdruck einer dauerhaften, alles Verhalten bestimmenden Disposition: „cum officio selectio perpetua“. Eine Person kann freilich durchgängig ihrer politisch-sozialen Verantwortlichkeit gemäß sich verhalten, ohne daß die Regelsysteme, denen sie folgt und denen gemäß sie sich verantwortlich weiß, dieselben bleiben. Um mit Aristoteles zu sprechen: Ein guter Bürger sein definiert sich relativ zum Typus der Polisordnung und impliziert andere Eigenschaften in einer Demokratie als etwa in einer Erbaristokratie; und diese Bezugssysteme können in einem Erwachsenenleben bekanntlich mehrfach sich ändern. Vollendete Konstanz angemessenen und verantwortbaren Verhaltens gewinnt eine Person nach stoischer Überzeugung deshalb nur, wenn sie die bestehenden Sitten und Gesetze, die Befugnisregeln und Verpflichtungsansprüche einer politisch-sozialen Ordnung einem Maßstab kritischer Prüfung und praktischer Orientierung unterwirft, der zeit- und ortinvariante universale Dignität und Verbindlichkeit besitzt. Dies ist ihr der Maßstab der Natur, wobei v}sir, natura sowohl die spezifische Natur des Menschen als auch ihre Stellung im Rahmen der göttlichen Allnatur meint. Jetzt ist die Stufe erreicht, die Cicero mit der Wendung „ad extremum constans consentaneaque naturae“ beschreibt. In ihr erst beginnt im Verhalten und Erleben des Menschen dazusein und erkannt zu werden, was wahrhaft gut genannt zu werden verdient: blokoc¸a, sittliche Identität, die sich als vollständige theoretische, emotive und praktische Übereinstimmung mit sich selbst im Gleichklang mit der Allnatur erweist. Das Vernünftigsein wird nun als etwas erfahren und erstrebt, was dem Menschen in einer profunderen Weise eigen und naturgemäß ist als alles, was ihm als endlichem Sinnenwesen einer bestimmten Art mit einer erst keimhaften und noch unselbständigen Vernunft eigen und naturgemäß war. Letzteres sinkt in den Rang des nur bedingt Guten oder sogar des Gleichgültigen herab. Nun hat diese selbstbezogene uneingeschränkte Vernunftliebe im Menschen zu Beginn und bis zum Status des vollendet Weisen eine eigenartige Struktur: Einerseits bezieht der Mensch sich in ihr auf etwas, was er erfährt, was actualiter in ihm bereits gegeben und realisiert ist und im Vollzug als das Ureigenste, als das für ihn absolut Gute erfahren, bejaht und reflexiv als sein summum bonum verstanden wird. Ande-

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rerseits bezieht sich seine Selbstliebe in ihrer Liebe zum eigenen Vernünftigsein auf etwas, was als noch keineswegs vollständig erreichtes und realisiertes Ziel gesehen, ja, was als möglicherweise oder tatsächlich teilweise verfehlt erfahren und von eigenen nichtvernünftigen Wünschen und Handlungen konterkariert wird. Es ist diese Struktur der Oikeiosis, die Selbsterfahrung und Selbstliebe von Vernunft als Faktum und als Ziel, das in eigenem Tun bereits realisiert und gleichwohl noch im Kampf gegen sich selbst zu erringen ist, es ist diese Struktur der Oikeiosis, die die Vernunft im Menschen zum Gewissen macht, zum Zeugen, Ankläger, Anwalt und Richter über die eigene Stellung und die eigenen Schritte in Richtung des Ziels vollkommenen Vernünftigseins.9 In Ciceros Darstellung der Oikeiosislehre in De finibus kommt diese Struktur auf sprachlich unscheinbare, aber doch signifikante Weise zum Ausdruck. Er verwendet an entscheidender Stelle in der Formel „vidit rerum agendarum ordinem et concordiam“ das Gerundiv als Verbaladjektiv. Als solches ersetzt es im Lateinischen das fehlende Partizip Passiv Präsens; daran orientiert sich die ursprüngliche und primäre Bedeutung. Der Satz besagt also zunächst: „Er sieht die Ordnung und den Einklang der Dinge, die von ihm getan werden“. Und das heißt im Kontext: Die uneingeschränkte Liebe zum eigenen Vernünftigsein ist gebunden an die (beglückende) Erfahrung tatsächlichen eigenen Vernünftigseins im Handeln. Sodann hat das Gerundiv in dieser Form auch einen prospektiv-finalen Sinn, etwa die Bedeutung des verpflichtenden „Müssens“, und der Satz besagt demgemäß also auch: „Er sieht die Ordnung und den Einklang der Dinge, die es zu tun gilt“. Ähnlich drückt sich Cicero übrigens auch im Abschluß-Passus der OikeiosisLehre aus, der von der Liebe zur gesamten Menschheit handelt: Er beschreibt die Selbstentfaltung des Logos in der Ausweitung der Sympathie vom Selbst über Familie und Staat bis zur Menschheit als Prozeß einer natürlichen, über Erfahrung vermittelten Aneignung und zugleich als sittliche Aufgabe.10 9 Vgl. dazu ausführlicher Verf.: Stoische Oikeiosislehre und mittelalterliche Theorie des Gewissens, in: Was ist das fr den Menschen Gute? Menschliche Natur und Gterlehre – What is Good for a Human Being? Human Nature and Values, hg. von Jan Szaif und Matthias Lutz-Bachmann, Berlin – New York 2004, S. 126 – 150. 10 De fin. III, 63: „Ex hoc nascitur ut etiam communis hominum inter homines naturalis sit commendatio, ut oporteat ab homine ob id ipsum, quod homo sit, non alienum videri“.

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Identität wird von demjenigen, der sich auf dem Weg zur Weisheit befindet, aber noch nicht vollendet weise ist (vom pqojºptym), als noch nicht erreichtes Ziel erfahren. Das Ziel des Menschen, das die stoische Ethik in Ansatz bringt und über die Oikeiosislehre zu begründen versucht, ist jedenfalls ein Leben in völligem Einklang mit sich selbst und zugleich mit der Natur. Es ist angesichts der hochabstrakten Formulierungen keineswegs überraschend, daß die stoische Zielformel menschlichen Lebens: blokocoul´myr f/m bzw. blokocoul´myr t,˜ v¼sei f/m kontrovers interpretiert wird. Die einen sehen in ihrer Formalität Kants Moralprinzip der Einstimmigkeit der Zwecksetzungen vorweggenommen, die anderen legen die Betonung auf den teleotheologischen Sinn einer bewußten und willentlichen Übereinstimmung mit der göttlichen Allnatur, wieder andere sehen in ihr lediglich den Ausdruck eines angeblich gesamthellenistischen Grundgedankens, nämlich eine Einheit mit sich selbst durch Reduktion der Wünsche auf das Maß des Könnens zu bewerkstelligen. Ich meine, die Wahrheit liegt in einer Verbindung der genannten Interpretationen. (a) Fraglos versucht die Stoa, Identität auf asketischem Weg zu erreichen: durch Zurücknahme der Strebensziele oder eine Änderung des Strebensmodus, bezogen auf jene Sachverhalte in der Welt, die nicht uneingeschränkt in unserer Hand sind. Konsistenz aller Lebensvollzüge, Selbständigkeit und Bejahung des eigenen Daseins werden definiert und für erreichbar erklärt in Termini eines uneingeschränkten Selbstbesitzes des Geistes. Dafür bietet Epiktet die sprechendsten Belege: „Von den Dingen, die existieren, sind die einen in unserer Hand, die anderen nicht. In unserer Hand ist unser Meinen, unser Streben als Appetenz und Aversion … Nicht in unserer Hand hingegen ist der Leib, der Besitz, Meinungen (der anderen), Ämter, mit einem Wort, alles, was nicht unser eigenes Werk ist. Und das, was in unserer Hand ist, ist von Natur das Freie, Ungezwungene, Unbehinderte; das, was nicht in unserer Hand ist, ist das Schwache, Sklavische, Gezwungene, uns Fremde (allotria)“ (Epiktet, Encheiridion, Kap. 1). „Nimm also deine Aversion gegenüber all den Dingen zurück, die nicht in deiner Hand sind und verlagere sie auf das, was in deiner Hand und naturwidrig ist. Dein Erreichenwollen aber konzentriere völlig auf das, was da ist… Gebrauche also nur dein appetentes und aversives Streben (lºmom d³ t¹ bql÷m ja· !voql÷m wq_), allerdings auf leichte, gegenüber Erfolg und Mißerfolg reservierte und ungebundene Weise (leh’ rpenaiq¶seyr ja· !meil´myr)“ (ebd. Kap. 2). „Wenn du nur von dem, was in deiner Hand ist, glaubst, daß es dir gehört (t¹ s¹m eWmai), von dem aber, was nicht in

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deiner Hand ist, daß es, wie es ja tatsächlich sich verhält, dir fremd ist ( !kkºtqiom), dann wird dich niemals jemand zu etwas zwingen, niemals jemand dich behindern, du wirst niemandem etwas vorwerfen, niemals etwas unwillentlich tun, niemand wird dir schaden, denn nichts Schädliches wird dich berühren“ (ebd. Kap. l). (b) Es scheint mir zum zweiten unbestreitbar, daß Kants Konzept der Autonomie als Prinzip der Sittlichkeit durch den stoischen Kerngedanken der absoluten Liebe zum „ordo rerum agendarum“ vorbereitet wurde: Es ist die „aus einer Regel“ bzw. aus konsistenten Grundsätzen resultierende Ordnung und damit Vernunftqualität unseres Handelns ( jah’ 6ma kºcom f/m), die uns uneingeschränkt eigen und zugehörig ist und bedingungslose Zuneigung verdient. Und das Vernünftigsein läßt sich formaliter nicht anders bestimmen denn als Homologie, d. h. als Übereinstimmung aller unserer Zwecksetzungen unter sich und als Transzendierung der Partikularität des eigenen Denkens und Willens hin zu einem normativen Status des Gleichklangs aller Vernunftwesen. (c) Schließlich ist aber auch offenkundig, daß die Stoa diesen Stand der Übereinstimmung im Unterschied zu Kant als Einigsein mit der göttlichen Allnatur und ihrer Selbstbekundung in den spontanen, unpervertierten Neigungen der menschlichen Natur verstanden wissen will. Das Wiegenargument, der vergleichende Blick ins Tierreich, die Suche nach einem consensus omnium in Wert- und Verpflichtungsurteilen, nicht zuletzt auch ein introspektiv gerichtetes Gedankenexperiment sollen Auskunft geben über das, was unserer unpervertierten menschlichen Natur eigen ist und zu den unserer Natur gemäßen Dingen (t± jat± v¼sim) gehört. Das Experiment besteht in der Vorstellung einer isolierten Wahlsituation, die uns unter Ceteris paribusBedingungen eine Wahl zwischen Gegensatzpaaren zumutet, z. B. zwischen Lebendigsein-Totsein, Gesundsein-Kranksein, SchönseinHäßlichsein, Wohlhabendsein-Armsein, Wissendsein-Unwissendsein, Angesehensein-Verachtetsein etc. In den spontanen Vorzugswertungen dokumentiert sich für die Stoa das, was die Universalnatur an Strebenszielen verfügt hat, die der menschlichen Natur angemessen sind (aqt¹r c²q l’ b he¹r 1po¸gsem toOtom 1jkejtijºm Epiktet, Diss 2.6.9 = SVF III, 191). Die Stoa begründet auf derart intuitionistische Weise eine Lehre menschlicher Güter, die sich weitgehend deckt mit dem, was

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die Antike ebenso wie der Common sense von heute zu den Gütern des menschlichen Lebens rechnet.11 Aber dieselbe Vernunft, die diese Dinge als dem Menschen gemäß und wertvoll erkennt und sich zunehmend in ihrer rationalen Wahl bewährt, erkennt mit sich steigernder Konsequenz auch, daß im Verfolgen und Erreichen dieser Dinge nicht das Ziel des menschlichen Lebens beschlossen sein kann: Sie sind uns ja nicht absolut eigen und gehen uns alle auch wieder verloren. Uns eigen ist nur unser Vernünftigsein. Die Einheit und Einigkeit eines vernünftigen menschlichen Lebens mit sich selbst kann deshalb nur aus einer Einstellung zu den menschlichen Lebensgütern resultieren, die sie als Strebensziele in der Welt zwar anerkennt und verfolgt, aber zugleich auch in völliger Gleichgültigkeit auf sich beruhen lassen kann. Sie sind dem Vernünftigsein äußerlich, sie sind gewissermaßen nur das Material, das die Vernunft gebraucht, in dem menschliche Vernunft auf Zeit sich gestaltend betätigt. Diese Adiaphorie zu den sogenannten außermoralischen Lebensgütern sieht die Stoa möglich und plausibel nur im Rahmen einer gedanklichen, willentlichen und emotionalen Übereinstimmung mit der göttlichen Allnatur, die als vernünftiges Prinzip der Weltgestaltung alles uns Unverfügbare sinnvoll ordnet. Identität des Lebens eines endlichen vernunftfähigen Lebewesens ist also möglich nur als völlig rationaler, gegenüber allen anderen Vernunftwesen verteidigbarer Umgang mit den artspezifischen Lebensgütern unter der Prämisse uneingeschränkter Selbstliebe der Vernunft. Und diese Selbstliebe schließt ein, daß sie sich als Abkömmling der göttlichen Vernunft dieser zugehörig weiß und alle nicht selbst verfügbaren welthaften Ergebnisse des eigenen Vernünftigseins ebenso gelassen wie vertrauensvoll der göttlichen Weltverwaltung anheimstellt. Wir sind heute an den Gedanken gewöhnt, daß der Prozeß personaler Identitätsfindung mit einer Abgrenzung unseres Selbst von seiner Umgebung verbunden ist. Das stoische Konzept sieht den Verlauf komplexer. Für die Stoiker stellt er sowohl eine zunehmende Ein- und Abgrenzung als auch eine progressive Ausdehnung des Selbst dar. Die Eingrenzung verbindet sich mit der schrittweise vermittelten Selbsterkenntnis, mit dem Gewahrwerden dessen, was allein uns absolut eigen und in unserer Hand ist: unser vernünftiges Denken und Wollen. 11 Vgl. Verf.: ber die stoische Begrndung des Guten und Wertvollen, a.a.O., S. 60 – 66.

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Die Ausdehnung ist verbunden mit dem fortschreitenden Erfassen von uns Wesensverwandtem in der Welt. Davon betroffen sind zunächst unsere engen Angehörigen, dann mit sich ausweitenden Kreisen der Wahrnehmung und des Denkens Stadt, Vaterland und die gesamte Menschheit, schließlich auch die Götter und das vernünftige Prinzip der Weltordnung, die göttliche physis. Der Mechanismus der Oikeiosis greift über Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Indem die Person immer weitere Kreise um sich selbst zentriert wahrnimmt und versteht, faßt sie nicht nur Zuneigung zu anderen und trägt Sorge um sie, sondern integriert sie sich selbst, eignet sie sich an, macht sie im Denken, Fühlen und Wollen zum Bestand des eigenen Selbst. Der Prozeß derart expansiver Identitätsfindung gründet im Erfassen einer gemeinsamen Natur. Diese wird mit der Vernunft gleichgesetzt, die für die Stoa nicht nur das leitende Prinzip in der individuellen Seele des Menschen, sondern auch das universale aktive Prinzip ist, welches das gesamte Universum durchdringt und gestaltet. Das Ergebnis gelingender Oikeiosis ist für die Stoa das Erleben der Welt als einer einzigen Kosmopolis, in der der Einzelne sich als Glied eines durch und durch vernünftigen Ganzen weiß und fühlt.12 In diesem Sinn konnte Cicero vom stoischen Weisen sagen: „numquam privatum esse sapientem“ (Tusc. Disp. IV, 51). Die stoische Oikeiosislehre wird wegweisend für die mittelalterliche und die neuzeitliche Theorie des natürlichen Gesetzes. Zum Beleg mögen abschließend zwei der wichtigsten, weil traditionbildenden Autoren dieser Theorie genannt sein: Thomas von Aquin und Hugo Grotius. Thomas übernimmt von der Stoa den Gedanken, daß jedes Seiende mit einer naturhaften Hinneigung zu seinem Dasein in artgemäßer Vollkommenheit und den diesem angemessenen Akten geboren wird (Summa contra Gentiles III, c. 129). Mit der bestimmten Wesensnatur seien (nach dem göttlichen Welt- und Schöpfungsplan, der lex aeterna) dem Ding natürliche Neigungen zu den seinem Wesen gemäßen Tätigkeiten gegeben. Natürliches Gesetz (lex naturalis) in einem weiten Sinn meint dann die in den konstanten Wesensformen der Dinge ein12 Vgl. dazu ausführlicher Verf.: Philosophie und Politik: Dions philosophische Botschaft im Borysthenitikos, in: Dion von Prusa. Menschliche Gemeinschaft und Gçttliche Ordnung. Die Borysthenes-Rede, hg. von Heinz-Günther Nesselrath, Balbina Bäbler, Maximilian Forschner, Albert de Jong, Darmstadt 2003, S. 128 – 156.

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geschlossene Ausrichtung auf artspezifische Funktionen und Ziele. Praktische Gesetze seien freilich Produkte von Vernunft. Essentiell finden sich nach Thomas (praktische) Gesetze deshalb in Vernunftwesen, die Regeln des Verhaltens selbst aufstellen, damit andere oder sie selbst sich an ihnen ausrichten; in Form unmittelbarer Teilhabe finden sich Gesetze in jenen Vernunftwesen, die Gesetze verstehen und befolgen können. Im Vergleich zu dieser Form von Teilhabe nur noch analog könne von einer participatio an Gesetzen die Rede sein, wo Wesen sich ohne Verstand und Reflexion instinktiv und allein durch natürliche Neigung gesetzmäßig verhalten. Auf dem Weg der Oikeiosis, des schrittweise bejahenden Innewerdens der eigenen Natur und ihrer Tendenzen gelange der Mensch naturwüchsig zur Einsicht in die unverbrüchlichen Normen, die sein Handeln zur Realisierung seiner Daseinsziele zu leiten haben. Die Ziele der natürlichen Neigungen (zur Selbsterhaltung, zur Arterhaltung und Gemeinschaft, zur Erkenntnis) machen für Thomas den Inhalt der lex naturalis im eigentlichen Sinne aus; denn Vernunft erfasse sie ganz natürlich und spontan als etwas Gutes, das es handelnd zu verfolgen und zu sichern gilt (vgl. S. theol. III, qu. 94 a. 2 co.). Bis in die Formulierungen hinein übernimmt Thomas das Konzept eines alle Menschen verpflichtenden Naturgesetzes, das die Stoa auf der Basis ihrer Oikeiosislehre entwickelt hat. Die vernünftige Interpretation der „inclinationes naturales“ liefert für Thomas dem Menschen den Inhalt dessen, was ihm zu tun natürlicherweise zukommt. Und wie in der Stoa gibt die Übereinstimmung mit der göttlichen Vernunft die Orientierung für Ausmaß und Modus des Erstrebens zeitlicher Dinge vor. Hugo Grotius beruft sich in seiner Begründung des natürlichen Rechts und Unrechts an erster Stelle auf die Stoiker (und die stoische Oikeiosislehre).13 Die Stoiker hätten gegen den skeptischen Einwand des Karneades dargelegt, daß der Mensch von Natur nicht egozentrisch nur auf seinen persönlichen Nutzen bedacht sei, sondern einen „geselligen Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maß seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft mit seinesgleichen“ besitze.14 Auch Tiere und Kinder mäßigten ihre Egozentrik und zeigten so etwas wie Mitleid und 13 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis libri tres, Paris 1625; Drei Bcher vom Recht des Krieges und des Friedens, übers. von Walter Schätzel, Tübingen 1950, Vorrede 6, dt. S. 32. 14 Ebd. Vorrede 6.

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eine Neigung, anderen wohlzutun.15 Bei Tieren und Kindern sei dies eine Sache des Instinktes. Der Mensch hingegen verbinde, wenn er in ein reiferes Alter trete, mit einem starken geselligen Trieb, für den er allein vor allen Geschöpfen das besondere Mittel der Sprache besitze, auch die Fähigkeit, allgemeine Regeln zu fassen und danach zu handeln. Diese der menschlichen Vernunft entsprechende Sorge für die Gemeinschaft sei die Quelle all dessen, was man mit dem Namen Recht bezeichne.16 Es wäre eine eigene Aufgabe, zu zeigen, wie das stoische Konzept der Selbstliebe der Vernunft und ihrer materialen Orientierung an den „inclinationes naturales“ des Menschen die Basis aller nichthedonistischen philosophischen Ethiken bis herauf zu Kant bildet und in welchem Ausmaß die stoische Oikeiosislehre noch die Autoren der europäischen Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert hinein inspiriert.17 Klar ist jedenfalls, daß sie etwa Kants Idee der Selbstliebe der Vernunft, Rousseaus Konzept der Stadien der moralischen Entwicklung des Menschen und John Stuart Mills Gedanken des Gefühls der Einheit der Menschen entscheidend beeinflußt hat.

Postscriptum Die neueste Monographie zur stoischen Oikeiosislehre (Robert Bees: Die Oikeiosislehre der Stoa, Würzburg 2004) versucht den Nachweis, daß nur die von der Allnatur veranstaltete, die transitive Form der Oikeiosis genuin stoisch ist und daß die zweite, auf die Entwicklung des Menschen bezogene, die intransitive Form der Oikeiosis auf einem so gut wie einmütigen Mißverständnis der Interpreten beruht. Die Stoa kenne nur eine transitive Form der Oikeiosis. Ihr Subjekt sei in keiner Weise der Mensch, sondern ausschließlich die (All)natur (vgl. S. 14). Die Allnatur leiste über die Oikeiosis ihre Selbsterhaltung (vgl. S. 166 ff.; 172; 237). Die Menschen seien wie die übrigen Lebewesen dabei vorgestellt als Werkzeuge bzw. Marionetten des Gottes (SVF II 740; vgl. S. 220). Sie folgten einem „kosmischen Zwang“ (vgl. S. 186; 213; 15 Vorrede 7, dt. S. 32. 16 Vorrede 8, dt. S. 33. 17 Vgl. dazu Verf.: ber natrliche Neigungen und den Selbsthaß der Vernunft. Die Stoa als Inspirationsquelle der Aufklrung, in: ders.: ber das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998, S. 50 – 68.

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229). Der Unterschied zwischen Mensch und Tier sei „lediglich ein gradueller“, indem dem Menschen im Unterschied zum Tier Einsicht und Einstimmung in das Wirken der Natur zugestanden sei (S. 225). Dem Menschen bleibe nichts anderes als „die vernunftgemäße Bestätigung des Triebs“. Der willentliche Vollzug des naturalen Impulses mache aus einer (instinktiven) Oikeiosishandlung eine sittliche Handlung (vgl. S. 230; 285). Dementsprechend könne das Telos des Menschen auch nicht im Sinne einer Loslösung vom Trieb der Natur, sondern nur im Sinne einer Bestätigung des Naturtriebs und seiner Ziele (vgl. S. 14) bzw. eines „Ineinander von Trieben und Vernunft“ (S. 277) verstanden werden. Ich halte dieses Verständnis der stoischen Oikeioislehre für einseitig, wenn nicht für falsch. Der in den Texten bezeugte und von einem Großteil der Interpreten in Ansatz gebrachte „Bruch“ in der Entwicklung des Menschen vom bloßen Naturwesen hin zu einer vernünftigen Persönlichkeit besteht nicht, wie Bees (mitunter) zu unterstellen scheint, in einer Loslösung von den Inhalten natürlicher, durch transitive Oikeiosis gestifteter Impulse und Bestrebungen, sondern in einer radikalen Änderung des Strebensmodus: Die Ziele des Tätigseins in der Welt, die nicht uneingeschränkt in unserer Hand sind, werden im Zustand des Vernünftigseins nicht mehr absolut, sondern nur noch reserviert erstrebt. Und dies deshalb, weil die vernünftige Persönlichkeit dessen inne wird und kognitiv ebenso wie appetitiv realisiert, daß uns nur unser Vernünftigsein absolut eigen ist. Und der Weg zum Vernünftigsein läßt sich nicht ausschließlich über die transitive Figur der Oikeiosis im Sinne einer (von Bees nicht eindeutig ins Spiel gebrachten) naturalen Prädisposition zur Vernunft verstehen, sondern muß, wie dies aus Cicero De fin. III deutlich wird, auch als intransitiver Prozess des „Sich (absolut) mit dem befreunden, was uns wahrhaft eigen ist“ verstanden werden. Das stoische Konzept vernünftiger Wahl der Handlungsziele (DL VII, 108) und der plausiblen Rechtfertigung (probabilis ratio, eukocor !pokocislºr) der naturgemäßen Handlungen (Cicero, De fin. III, 18; DL VII, 107) und die stoische Bestimmung der Rolle der Vernunft als „Gestalter des Triebs (tewm¸tgr t/r bql/r DL VII, 86) scheint mir von Bees völlig unterbestimmt zu sein, wenn er hier lediglich von einer „Ergänzung des Triebs durch die Vernunft“ spricht (S. 280) und meint, „daß die Wahl recht eigentlich eine Zustimmung zu den Trieben ist“ (S. 275 f.; vgl. 261). Immerhin sieht er, daß die markante Definition des kathekon als einer Handlung, die sich nach ihrem Vollzug rechtfertigen läßt (De fin. III, 18; DL VII, 107), seiner Inter-

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pretation Schwierigkeiten bereiten dürfte (vgl. S. 278 Fn 242). Oikeiosis meint für Bees lediglich Instinkt, Naturzwang, Naturmechanismus, biologische, ja genetische, auf Selbst- und Arterhaltung bezogene Überlebensprogrammierung aller Lebewesen. Oikeiosis-Handlungen seien (beim Menschen wie beim Tier) reine Instinkthandlungen. Man müsse „Oikeiosis-Handlungen und das dem Telos eigene sittliche Handeln auseinanderhalten“ (S. 265). Jene Stellen, in denen explizit vom jakºm als einem oQje?om und von einer oQje¸ysir zum jakºm oder zur !qet¶ die Rede ist (SVF III 229a = Galen PHP V, p. 318.17 f. De Lacy; Poseidonios F 169.20 f. EK; SVF I 356 = Sext. Emp. Adv. Math. 7.12; Musonius p. 9.8 f. eqenir ja· oQje¸ysir v¼sei pq¹r !qet¶m ; vgl. Cicero De fin. 2.45 ff., 109 ff.), werden als unorthodox bzw. als lockere Redeweise abgetan (vgl. S. 289 Fn 269). Und wenn Cicero, Zenon referierend, davon spricht, daß das sittliche Leben das Ziel sei und daß dies aus der „conciliatio naturae“ hergeleitet sei (Acad. Priora II, 131 = SVF I, 181), so möchte Bees dies so verstanden wissen, daß die Oikeiosis beim Menschen nur dadurch und in dem Sinne Ausgangspunkt für die Erreichung des Telos sei und sein könne, daß der Vernünftige den natürlichen Trieben zustimmt (vgl. S. 279 – 281). Der entscheidende Fehler in Bees Oikeiosis-Verständnis scheint mir darin zu liegen, daß er (entgegen dem eindeutigen sprachlichen Hinweis) neben den „primae conciliationes naturae“ (Cicero, De fin. III, 22) von der Stoa keine weiteren conciliationes mehr in Ansatz gebracht sehen möchte.

Philosophie als Psychotherapie Die griechisch-römische Consolationsliteratur von Bernhard Zimmermann I. Aber mögen die Alten auch alles bereits gefunden haben, so wird doch folgendes immer neu sein: die Anwendung und wissenschaftliche Aufarbeitung dessen, was von anderen bereits entdeckt wurde, sowie die Anordnung (der einzelnen Argumente). /…/ Heilmittel für die Seele wurden bereits von den Alten gefunden; wie man sie jedoch einsetzen soll und wann, das herauszufinden ist allein unsere Aufgabe. In der Tat: viel haben die, die vor uns lebten, zustande gebracht, aber bis zur Neige haben sie es nicht ausgeschöpft.

Mit diesen Worten umreißt Seneca im 64. Brief an Lucilius (8 f.) 1 die Lage, in der sich jeder Philosoph, ja jeder Mensch befindet, der einem anderen in einer wirklich oder auch nur vermeintlich ausweglosen oder verzweifelten Lage, vor allem nach dem Verlust eines lieben Menschen, Trost zusprechen will oder muß. Die möglichen Tröstungen, die man an einen einzelnen oder eine Gruppe richten kann, sind selbst bei aller scholastischen Lust an Unterteilungen und Ableitungen, die die Rhetorik entwickelte,2 beschränkt. Vor allem laufen die tröstenden Worte stets Gefahr, abgedroschen zu klingen, als bloße rhetorische, popularphilosophische Versatzstücke zu erscheinen. „Ich weiß, daß das, was ich noch anfügen will, abgedroschen ist. Aber trotzdem möchte ich es nicht deshalb auslassen, weil es bereits von allen gesagt worden ist“ schreibt 1

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Im folgenden als Epist. abgekürzt: „Sed etiam si omnia a veteribus inventa sunt, hoc semper novum erit, usus et inventorum ab aliis scientia ac dispositio. /…/ Animi remedia inventa sunt ab antiquis; qomodo autem admoveantur aut quando nostri operis est quaerere. Multum egerunt qui ante nos fuerunt, sed non peregerunt.“ Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser. Man vgl. den Überblick über die Trostgründe bei Horst-Theodor Johann: Trauer und Trost. Eine quellen- und strukturanalytische Untersuchung der philosophischen Trostschriften ber den Tod, München 1968, S. 5 – 7.

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Seneca.3 Ein tröstender Zuspruch kann, wenn er nicht im persönlichen Gespräch, sondern schriftlich vorgebracht wird, distanziert, rhetorisch, formal und nicht ernst gemeint wirken und geradezu zum Gegenteil des Bezweckten führen, zur Verhärtung dessen, den man trösten will. Er kann bewirken, daß der, dem Trost gespendet werden soll, sich den gutgemeinten Worten verschließt. Cicero, selbst ein routinierter consolator in der Krise der römischen Republik in den Jahren 46 – 44 v. Chr., gesteht seinem Freund Atticus resigniert ein, daß all die von den Philosophen entwickelten Trostgründe einen wirklich verzweifelten Menschen wie ihn nach dem Tod seiner innig geliebten Tochter Tullia nicht helfen. Im März 45 (ad Atticum XII 13, 1) schreibt er über Brutus’ Kondolenzschreiben: „Brutus’ Brief ist voller Verstand und mit Freundschaft geschrieben, trotzdem hat er mich in Tränen ausbrechen lassen.“4 Und kurze Zeit später erwähnt er Brutus’ Kondolenzschreiben noch einmal (ad Atticum XII 14, 4): „Über Brutus’ Brief an mich habe ich Dir schon geschrieben: voller Verstand verfaßt, aber ohne daß es mir hätte helfen können“.5 Trost – so Cicero refrainartig in den Briefen des Frühjahr 45 – könnte nur der persönliche Umgang, das persönliche Gespräch mit dem Freund bringen (z. B. ad Atticum XII 16, 1).6 Kehren wir nochmals zu Senecas 64. Lucilius-Brief zurück, der in typisch senecanischer brevitas die Besonderheiten der philosophischrhetorischen Trostschriften herausstreicht: Da die einzelnen Trostgründe begrenzt sind, wird man alles in der älteren Literatur vorfinden. Die Kunst des philosophischen Psychotherapeuten besteht darin, die Anwendungsmöglichkeiten der Topoi, den richtigen Zeitpunkt, wann welches Argument und welche Methode eingesetzt werden muß, und die Reihenfolge der einzelnen Trostgründe auf der Basis der profunden Kenntnis der älteren Literatur zu bestimmen.7 Dabei ist – ganz im Sinne 3 4 5 6

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Epist. 63, 12: „Scio pertritum iam hoc esse quod adiecturus sum, non ideo tamen praetermittam quia ab omnibus dictum est.“ „Bruti litterae scriptae et prudenter et amice multas mihi tamen lacrimas attulerunt.“ „De Bruti ad me litteris scripsi ad te antea. Prudenter scriptae, sed nihil quod me adiuvaret.“ „Te tuis negotiis relictis nolo ad me venire; ego potius accedam, si diutius impediere. Etsi discessissem quidem e conspectu tuo, nisi me plane nihil ulla res adiuvaret. Quod si esset aliquod levamen, id esset in te uno, et cum primum ab aliquo poterit esse, a te erit.“ Der Consolator folgt also ganz der rhetorischen Grundregel: Quis quid ubi quibus auxiliis cur quomodo quando.

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der Affektenlehre des 2. Buchs der aristotelischen Rhetorik – genau der Adressat zu beachten: seine Herkunft und sein Status, sein Geschlecht und seine Bildung sowie sein Alter. Senecas Aussage, man finde alles Wesentliche bereits bei den Alten, wird durch einen kurzen Blick in die griechische Literatur der archaischen und klassischen Zeit bestätigt. Vor dem Hintergrund der Trostliteratur der vorhellenistischen Literatur läßt sich die Besonderheit der Konsolationstheorie und -literatur der hellenistischen und römischen Zeit klarer darstellen.8

II. Eine tröstende, mit Tadel (xºcor) verbundene Selbstanrede findet sich bereits zu Beginn der griechischen Literatur, in Homers Odyssee (XX 18 – 20). Angesichts des unverschämten, ihn entehrenden Treibens der Freier am Königshof in Ithaka dämpft Odysseus den aufflammenden Zorn; er bringt sein bellendes Herz (XX 13 jqad¸g d´ oR 5mdom qk²jtei) zum Verstummen: Er schlug an die Brust und tadelte sein Herz mit folgenden Worten: ,Halt aus, mein Herz. Schon Hündischeres hast du einst ertragen, an dem Tag, als der ungestüme Kyklop mir die wackeren Gefährten fraß. Du aber hieltest es aus, bis deine Intelligenz dich aus der Höhle hinausbrachte, obwohl du doch meintest, es nicht zu überleben.‘9

Die Erinnerung an eine noch entwürdigendere, noch ausweglosere Situation, die Odysseus überstanden hat, soll auch dieses Mal den Helden das Ertragen der Erniedrigungen möglich machen. Es liegt – in den Termini technici der Consolationsliteratur späterer Zeiten – ein exemplum constantiae in Verbindung mit einem exemplum miseriae vor: standhaft und unerschütterlich zu bleiben, indem man sich eine noch schlimmere Situation vor Augen stellt. In der hellenistischen Philosophie werden sich diese Trostgründe zu umfangreichen Katalogen auswachsen. Wichtiger ist allerdings, daß in diesen Versen die 8 9

Vgl. auch den kurzen Überblick bei Traudel Stork: Nil igitur mors est ad nos. Der Schlußteil des dritten Lukrezbuches und sein Verhltnis zur Konsolationsliteratur, Bonn 1970, S. 9 – 22. t´tkahi d¶% jqad¸g7ja· j¼mteqom %kko pot’ 5tkgr% / Elati t`% fte loi l´mor %swetor Eshie J¼jkyx / Qvh¸lour 2t²qour7 s» d’ 1tºklar% evqa se l/tir / 1n²cac’ 1n %mtqoio azºlemom ham´eshai.

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Vernunft, die vernünftige Erwägung – anachronistisch könnte man durchaus den platonischen Begriff des Hegemonikon verwenden – die Emotionen, die Wut und Verzweiflung, dämpft.10 In einem textkritisch nicht einfachen Fragment des Archilochos werden Eigentrost und Selbstparänese weiterentwickelt (Fr. 128 West).11 Das poetische Ich ermuntert sein Herz (hulºr), das in ausweglosem Leid von Panik ergriffen ist,12 auszuhalten und den Kampf aufzunehmen. Es folgt, von der aktuellen Situation ausgehend, die allgemeine Ermahnung, weder im Sieg noch in der Niederlage das rechte Maß zu verlieren, sich zwar an Erfreulichem zu freuen, im Unglück aber nicht die Ruhe zu verlieren,13 sondern stets zu berücksichtigen, welcher Fluß, welcher Rhythmus die Menschheit gefangen halte. Das individuelle Schicksal wird also vor dem Hintergrund der condicio humana erklärt. Der ständige Wechsel von Glück und Unglück im menschlichen Leben, die ,Kontingenzerfahrung‘, führt zur Erkenntnis, immer das rechte Maß wahren und in Schmerz wie Freude seine Affekte kontrollieren zu müssen. Ein später Nachhall unter parodistischen Vorzeichen findet sich in Catulls 8. Gedicht.14 Die konsolatorische Eigentherapie, die in der Odyssee und bei Archilochos vorliegt, beschreibt Cicero – mit Odysseus als exemplum – in Tusculanen II 51 f.: Die Vernunft soll dem untergeordneten Teil wie ein gerechter Vater den Söhnen Befehle geben; „mit einem bloßem Wink wird sie durchsetzen, was sie will, ohne Anstrengung, ohne Mühe; sie wird sich selbst aufrichten, aufmuntern, rüsten, wappnen, um 10 Vgl. Joseph Russo: A commentary on Homer’s Odyssey, Vol. III, Oxford 1992, S. 109 (zu V. 18 – 24); R.B. Rutherford: Homer, Odyssey, books XIX and XX, Cambridge 1992, S. 205: „Odysseus draws strength from his past experiences and successes“. 11 Iambi et elegi Graeci ante Alexandrum cantati, ed. Martin L. West, Vol. I, Oxford 1971: hul´% h¼l’% !lgw²moisi j¶desim juj¾leme% / †!madeu duslem_m† d’ !k´neo pqosbak½m 1mamt¸om / st´qmom †1mdojoisim 1whq_m pkgs¸om jatastahe·r / !svak´yr7 ja· l¶te mij´ym !lv²dgm !c²kkeo% / lgd³ mijghe·r 1m oUjyi jatapes½m ad¼qeo% / !kk± waqto?s¸m te wa?qe ja· jajo?sim !sw²ka / lµ k¸gm% c¸mysje d’ oXor Nusl¹r !mhq¾pour 5wei. 12 Zu juj²y in diesem Sinne vgl. Homer: Ilias XI 129 und öfter. 13 !sw²kky, gebildet aus swok¶ (Ruhe, Muße) mit a-privativum. 14 Vor allem in V.11 („sed obstinata mente perfer, obdura“) und im Schlußvers („at tu, Catulle, destinatus obdura“) klingt nach der Erinnerung an die schönen und schlechten Tage die Konsolationstopik nach, wie wir sie bei Homer und Archilochos vorfinden; der zeitgenössische Rezipient von Catulls Hinkiamben hörte sicherlich auch die Konsolationstopoi der hellenistischen Philosophie mit.

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dem Schmerz wie einem Feind entgegenzutreten. Was sind dies für Waffen? Anspannung, Bestärkung und das innere Selbstgespräch: ,Hüte dich, etwas Unehrenhaftes, Schlaffes, Unmännliches zu tun!‘15 Eine Fundgrube konsolatorischer Topoi sind die euripideischen Tragödien, die spätere Konsolatoren gerne als Steinbruch für ihre Schriften ausplünderten. So zitiert Poseidonios gegen Chrysipps16 Auffassung fünf Verse aus dem 1. Phrixos des Euripides, die Cicero in Tusculanen III 67 übersetzt,17 als Beleg dafür, daß dauerndes Leid den Menschen gegen neue Leiden immun mache (Fr. 818c TrGF):18 Wenn mein Unglück an diesem Tag begonnen hätte und ich nicht schon lange auf der See der Leiden segelte, wäre es natürlich, wenn ich mich ungestüm sträubte wie ein junges Pferd, dem man eben den Zügel abgelegt hat. Jetzt aber bin ich abgestumpft und ans Unglück gewöhnt.19

In einem ebenfalls von Poseidonios zitierten und von Cicero, Tusculanen III 29, übersetzten Euripides-Fragment (964 TrGF) meint man, die stoische praemeditatio futurorum malorum in Verbindung mit einem Katalog möglicher Konsolationsanlässe zu hören20 – die vollständige Liste gibt Cicero in Tusculanen III 81 –,21 und in Fr. 965 TrGF wird dazu aufgefordert, sich der Notwendigkeit zu fügen.22

15 „nutu, quod volet, conficiet, nullo labore, nulla molestia; eriget ipse se, suscitabit, instruet, armabit, ut tamquam hosti sic obsistat dolori. quae sunt ista arma? Contentio, confirmatio sermoque intumus, cum ipse secum: ,cave turpe quicquam, languidum, non virile.‘“ 16 Auf Chrysipp geht vermutlich die stoische Praxis zurück, philosophische Theoreme mit Dichterworten zu unterstreichen. 17 „Si mihi nunc tristis primum inluxisset dies / Nec tam aerumnoso navigassem salo, / Esset dolendi causa, ut iniecto eculei / Freno repente tactu exagitantur novo; / Sed iam subactus miseriis optorpui.“ Zur consuetudo laborum vgl. auch Cicero: Tusc. II 38 ff. 18 Tragicorum Graecorum fragmenta (TrGF), ed. Richard Kannicht, Vol. 5. 2, Göttingen 2004. 19 Übersetzung Gustav Adolf Seeck: Euripides, Fragmente, Der Kyklop, Rhesos (Sämtliche Tragödien und Fragmente Bd. VI), München 1981, S. 367). 20 „Ich aber lernte von einem klugen Mann und verlegte mein Denken auf Sorgen und Unglücksfälle, und ich stattete mich aus mit Verbannung aus der Heimat, unzeitigem Tod und anderen Pfaden des Unglücks; denn wenn mir wirklich etwas von dem zustieße, was ich mir in Gedanken vorgestellt hatte, sollte mir nichts Neues geschehen können und mir besondere Schmerzen zufügen.“ (Übersetzung Seeck, s. o. Anm. 19, S. 411). 21 „Sunt enim certa, quae de paupertate certa, quae de vita inhonorata et ingloria dici soleant; seperatim certae scholae sunt de exilio, de interitu patriae, de

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Auf psychotherapeutische Dialoge, wie man sie in Senecas Briefen oder seiner Schrift De remediis fortuitorum wiederfinden wird, trifft man in Euripides’ Alkestis: die sich für ihren Mann opfernde Alkestis tröstet Admet mit dem Argument „Die Zeit lindert den Schmerz; wer gestorben ist, ist nichts“ (360). Der Chorführer verweist den verzweifelten Admet nach dem Tod seiner Frau auf die condicio humana (416 – 419): Admet, du mußt dieses Unglück ertragen: Denn du bist nicht der erste noch der letzte Mensch, der eine gute Frau verloren hat. Wisse, daß uns allen bestimmt ist zu sterben.

Admet reagiert auf den tröstenden Zuspruch mit dem Hinweis, daß ihn die Plötzlichkeit, mit der das Unglück über ihn hereingebrochen sei, aus der Fassung bringe. In einem emotional aufgewühlten Wechselgesang werden nochmals die Trostgründe durchgespielt (889 ff.): das Schicksal ist nicht zu bezwingen, auch Schmerz und Trauer müssen ihre Grenzen haben, du hast nicht als erster eine Frau verloren. Als positives Exempel für constantia im Unglück angesichts einer mors immatura führt der Chor einen Verwandten an, der seinen einzigen Sohn verlor und trotzdem Fassung bewahrte (911 ff.), verweist darauf, daß Admet auf der Höhe des Glücks ohne Erfahrung im Leid (927 !peiqºjajor) das Schicksal ereilt habe, und beschließt seinen Trost mit einem nochmaligen Hinweis auf die condicio humana (930 – 934 t¸ m´om ; „Was ist dir Neues widerfahren, was vor dir nicht schon viele andere durchlitten haben?“). Als letzter consolator Admets betätigt sich Herakles (1076 – 1086) – die Verse 1079 f. und 1085 der Alkestis wurden wiederum von Chrysipp zitiert: Her. Übertreibe nicht, sondern trage es mit Anstand. Ad. Es ist leichter zu trösten als durchzuhalten, wenn man ein Leid erfahren hat. Her. Was hast du denn einen Vorteil davon,23 wenn du immer klagen willst? Ad. Keinen, das ist mir auch selbst klar, aber trotzdem treibt mich ein Verlangen dazu. servitute, de debilitate, de caecitate, de omni casu, in quo nomen poni solet calamitatis. Haec Graeci in singulas scholas et in singulos libros dispertiunt.“ 22 „Wer sich aber dem Zwang der Notwendigkeit fügt, der ist weise in menschlichen Dingen und versteht sich auf das Göttliche.“ 23 Im Griechischen steht der spätere stoische terminus technicus pqojºpteim. Der Prokopton (pqojºptym) ist der Mensch, der Fortschritte auf dem Weg zur Weisheit macht.

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/…/ Her. Zeit wird das Leid lindern, jetzt aber ist es noch frisch.

Die Auswahl an Texten der archaischen und klassischen Zeit verdeutlicht eindrucksvoll die Präsenz konsolatorischer Praxis in der griechischen Literatur als Widerspiegelung des lebensweltlichen Umgangs mit Trauer und Trost. Die Trostgründe späterer consolationes finden sich bereits komplett in den frühen Zeugnissen. Selbst theoretische Reflexionen lassen sich lange vor der hellenistischen Philosophie nachweisen. Es gilt, die der sozialen Stellung, dem Alter und Geschlecht des consolandus gemäßen Argumente vorzubringen; Thukydides im Epitaphios, in der an das Kollektiv gerichteten Trostrede des Perikles, nimmt eine Untergliederung der Adressaten in das gesamte Volk sowie die Eltern, Kinder, Brüder und Frauen der Gefallenen vor (II 35 ff.). Die Affekte können rational bezwungen oder eingedämmt werden – entweder auf dem Weg allgemeiner theologisch-popularphilosophischer Erwägungen oder durch den Hinweis auf exempla sowohl miseriarum als auch constantiae. Daß gerade die euripideischen Tragödien zahlreiche Reflexe konsolatorischer Praxis aufweisen, läßt sich aus dem Einfluß der zeitgenössischen Rhetorik erklären, in der intensiv die affektauslösenden wie -beseitigenden Wirkungen des Logos, der Rede, diskutiert wurde. In der Helena (8) schreibt Gorgias, der Logos, obwohl mit einem unscheinbaren Körper ausgestattet, sei trotzdem als gewaltiger Herrscher in der Lage, Furcht zu beenden und Trauer zu beseitigen und Freude zu bewirken und Mitleid wachsen zu lassen. Den Rezipienten überkomme, wenn er eine kunstvolle Rede höre, Schauder voller Furcht, Mitleid unter Tränen und Sehnsucht voller Leid. Das heißt: eine mit den Mitteln der sophistischen Rhetorik gestaltete Rede übt eine unmittelbare Wirkung auf die menschlichen Affekte aus; sie hat in Gorgias’ Theorie eine magische oder medizinische Wirkung. Wie Medizin Säfte aus dem Körper treibt, so ist der Logos imstande, zu betrüben und zu erfreuen, Angst und Zuversicht einzuflößen.24 Der Logos spricht nicht die Ratio des Menschen an, sondern das Unbewußte, die Affekte 24 Vgl. dazu Fritz Wehrli: Ethik und Medizin. Zur Vorgeschichte der aristotelischen Mesonlehre, in: Museum Helveticum 8, 1951, S. 50 – 62. Zu den magischen Wurzeln vgl. Pedro Lain-Entraldo: Die platonische Rationalisierung der Besprechung (EPYIDG) und die Erfindung der Psychotherapie durch das Wort, in: Hermes 86, 1958, S. 298 – 323.

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(xuw/r "qlat¶lata, „Fehlleistungen der Seele“) und die unreflektierten Vorstellungen und Vorurteile (dºngr !pat¶lata). Gorgias’ Zeitgenosse Antiphon25 soll nach einem späten Zeugnis ein psychologisches Handbuch der Trauervermeidung (t´wmg !kup¸ar) verfaßt haben. In einem Haus in Korinth habe er Menschen mit psychischen Problemen Gesprächstherapie angeboten, Diagnostik betrieben und Rat gegeben. Werbung habe er mit dem Titel mgpemhe?r !jqo²seir getrieben, „Vorlesungen, die die Sorgen vergessen machen“. Das Adjektiv ist ein deutlicher Hinweis auf die Droge, die Helena in Homers Odyssee IV 221 einnimmt, um ihre Sorgen zu vergessen.

III. Aus diesen Entwicklungslinien der Consolatio, den popularphilosophischen und lebensweltlichen Trostgründen und der sophistischen Logos- und Affekttheorie, die dezidiert irrationale und manipulierbare Kräfte im Menschen voraussetzt, läßt sich die peripatetische Jonsolationsliteratur erklären, vor allem Krantors nicht erhaltenes, viel zitiertes Werk Peq· p´mhour, ein Bestseller der antiken Trostliteratur.26 Cicero, Lucullus 135, zitiert die Anweisung des Panaitios an Tubero, er solle Krantors Büchlein auswendig lernen, in dem den Emotionen (permotiones) eine natürliche Ursache zugebilligt und das rechte Maß im Umgang mit ihnen (mediocritas, letqiop²heia) vertreten werde.27 Die aristotelisch-peripatetische Auffassung von Trauerarbeit setzt nach dem im 2. Buch der aristotelischen Rhetorik entwickelten Schema voraus, daß Logoi – ganz in Gorgias’ Sinne – einen Zugang zum Irrationalen haben und positive wie negative Folgen zeitigen können. Im Gegensatz dazu kennt die Stoa aufgrund ihrer Auffassung vom Menschen als Vernunftwesen – jedenfalls nach den vorhandenen Zeugnissen und Testimonien – keine Affekte und Bestrebungen, Handlungsimpulse (bqla¸), die ohne die Vernunft, ohne den Logos, zustande kommen. Affekte sind nach der stoischen Lehre nicht irrationale, dem Logos 25 87 A 6 in: Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von Hermann Diels und Walther Kranz 2. Bd., Berlin 61952, S. 336 f. 26 Vgl. Diogenes Laertios IV 27. 27 „Mediocritates illi probabant et in omni permotione naturalem volebant esse quendam modum. Legimus omnes Crantoris veteris Academici de luctu; est enim non magnus verum aureolus et ut Tuberoni Panaetius praecipit ad verbum ediscendus libellus.“

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entzogene Impulse, sondern eine „Perversion der Vernunft selbst“, eine „Selbstverkehrung des Logos bzw. des Hegemonikon“.28 Im Pathos, „im Affekt verändert und entäußert sich die Vernunft selbst zu einer naturalen Bewegung, die von Vernunft selbst nicht mehr gesteuert oder zurückgenommen werden kann. Der Mensch pervertiert sein Wesen, d.h. er verhält sich so, als ob er nicht Mensch wäre.“29 Alle Affekte, das Tetrachordon Lust, Begierde, Trauer und Angst, sind Krankheiten der Vernunft. Sie gehören dem Bereich der Dinge an, die nichts zum Glück des Menschen beitragen, zu den Adiaphora. Für den Menschen relevant werden sie dadurch, daß man aufgrund eines Denkfehlers Stellung zu ihnen bezieht und eine Beziehung zu ihnen herstellt, also ,Angst vor etwas‘ oder ,Lust auf etwas‘ hat.30 Adressat der stoischen Seelenführung ist der pqojºptym, der, „der auf dem Weg zur Weisheit Fortschritte macht“, da der Weise affektfrei ist.31 Ziel ist es, den Menschen durch rationale Argumentation und Tadel, durch die Widerlegung falscher Meinungen und die Aufzählung positiver Beispiele, die sich im Leid durch constantia animi auszeichneten, von seiner selbstverschuldeten Affekthörigkeit zu heilen und zur Freiheit von Affekten ( !p²heia) zu bringen.32 Die Ursache für Trauer, vor allem für die affektierte Zurschaustellung von Trauer, sieht Chrysipp in dem Irrglauben des Menschen, daß es sich zu trauern gehöre, da die pietas es verlange.33 Es versteht sich von selbst, daß die orthodox stoische Haltung, der häufig der Vorwurf der Härte und Unmenschlichkeit entgegenschlug, in der konsolatorischen Praxis höchstens als Ideal dem Trauernden vor Augen gestellt, niemand aber ernsthaft als Ausweg aus Leid angeraten werden kann.34 So schreibt Seneca, um nur ein Beispiel zu zitieren (Epist. 63, 1), in der popularphilosophischen, ganz und gar unstoischen 28 Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, Darmstadt 21995, S. 122. Vgl. auch die Beiträge in dem Sammelband Zur Ethik der lteren Stoa, hg. von Barbara Guckes, Göttingen 2004. 29 Forschner (wie Anm. 28), S. 123. 30 Forschner (wie Anm. 28), S. 136. 31 Vgl. z. B. Cicero: Lucullus 135: Für den Weisen gilt: „praeter honestum nihil est in bonis“. 32 Man vgl. die in Stoicorum veterum fragmenta (SVF), ed. Ioannes ab Arnim, Vol. III, Leipzig 1903 (Stuttgart 1964), S. 108 – 110, zusammengestellten Belege. 33 Vgl. Cicero: Tusc. III 61; Seneca: Epist. 63, 2; 99, 16 f.; consolatio ad Marciam 7, 2; de tranquillitate animi 15, 6). 34 Vgl. Seneca: Epist. 63, 1; consolatio ad Polybium 18, 5; ad Marciam 4, 1. Vgl. Anna Lydia Motto: Seneca on the perfection of the soul, in: The Classical Journal 51, 1956, S. 275 – 278.

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Tradition stehend, die dem maßvollen Trauern heilende Wirkung zuschreibt:35 Ich trage schwer daran, daß Flaccus, dein Freund, gestorben ist; daß du allerdings mehr trauerst, als angemessen ist, das will ich nicht. Daß du gar keine Trauer empfindest, das wage ich kaum zu fordern, auch wenn ich weiß, daß es besser wäre. Aber wer wird außer dem, der sich schon weit über das Schicksal erhoben hat, diese psychische Stärke (firmitas animi) besitzen?

Angesichts der Erschütterungen, die Menschen in seiner ganzen Existenz treffen, solle man – so der pragmatische Cicero – nicht auf die Herkunft der Theoreme achten, sondern nur darauf, was in der jeweiligen Lage nütze; denn „alius alio modo movetur“.36 Cicero selbst hat nach dem Zeugnis seiner Tusculanen III 76 alle möglichen Trostgründe in eine einzige Consolatio zusammengeworfen, um seine außer Kontrolle geratene Psyche zu beruhigen („erat enim in tumore animus“).

IV. In Tusculanen III 77 gibt Cicero dem künftigen consolator, der die philosophia als medicina animi gemäß dem programmatischen Proömium (III 1) ausüben will, die Gliederung (dispositio) vor, die man bei einer Consolatio einhalten muß: Es wird also bei Trostschriften das erste Heilmittel darin bestehen aufzuzeigen, daß es kein Übel sei oder nur ein ganz kleines, das zweite, sowohl über die allgemeine Situation des Menschen als auch über den speziellen Fall zu sprechen, wenn es denn etwas gibt, was man über das Leben des Trauernden ausführen könnte, das dritte schließlich, daß es größte Dummheit sei, sich ohne Sinn in Trauer aufzureiben, obwohl man doch einsieht, daß es nichts nütze.

35 Vgl. Johann (wie Anm. 2), S. 44. Vgl. vor allem Hans-Herwarth Studnik: Die consolatio mortis in Senecas Briefen, Diss. Köln 1958. 36 Ähnlich praxisorientiert geht Plutarch in seinen psychotherapeutischen Schriften vor (De cohibenda ira, De garrulitate; De curiositate, De vitioso pudore, De laude ipsius). „Plutarch hat sich um die beste Therapieform bemüht. Die Stellung von mentaler und praktischer Therapie und das Verhältnis der praktischen Formen zueinander änderte sich von Schrift zu Schrift“ (Heinz Gerd Innenkamp: Plutarchs Schriften ber die Heilung der Seele, Göttingen 1971, S. 145).

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Ein Blick in die zahlreichen Kondolenz- und Trostschreiben Ciceros der Jahre 46 und 45 macht deutlich, daß Cicero dieses Schema – mit leichten Variationen und auf den Adressaten abgestimmt – konsequent durchhält. Aus der Vielzahl von Briefen sei das Schreiben an Decimus Titius (Frühjahr 46) vorgestellt (ad familiares V 16). Titius hatte im Bürgerkrieg beide Söhne, die auf Seiten des Pompeius kämpften, verloren; das Thema ist also de immatura morte. Die Eröffnung ist topisch: Cicero als consolator ist genauso des Trostes bedürftig wie der consolandus. Trotzdem nimmt er das officium consolandi auf sich, das darin besteht, den Schmerz entweder zu lindern (peripatetische Metriopathie) oder gar ganz zu beseitigen (stoische Apathie). Nach einer Praeteritio der üblicherweise vorgebrachten Trostgründe („consolationes pervulgatae“) führt er als eigentlich tröstendes Argument an, daß angesichts der verworrenen politischen Situation diejenigen als am glücklichsten zu preisen seien, die gar keine Kinder hätten, etwas weniger glücklich immerhin die, die sie rechtzeitig vor dem Zusammenbruch verloren hätten. Nach der schlagwortartigen Auflistung der mit der condicio humana zusammenhängenden Argumente folgt eine kurze Hinwendung an den Adressaten: Die Sehnsucht nach den Söhnen und der Kummer angesichts der eigenen Einsamkeit ließen sich nicht so leicht auslöschen; was jedoch das Schicksal der Söhne nach ihrem Tod angehe, darüber brauche sich Titius nicht zu grämen. Es folgen die bekannten Argumente de morte, an die sich nochmals die Glückseligpreisung derer anschließt, die in der derzeitigen politischen Lage rechtzeitig gestorben sind. Der Brief schließt mit dem Tadel des Adressaten: Der selbstbezogene Schmerz, die Wehleidigkeit passe gar nicht zur gravitas, constantia und sapientia des Titius. Deshalb solle er nicht abwarten, bis die Zeit den Schmerz lindere, sondern durch die eigene Vernunft vorwegnehmen, was die Zeit über kurz oder lang ohnehin erledige. Aus jeder Zeile des Briefes spürt man das Unbehagen des consolator, der sich, wie die beiden praeteritiones unterstreichen, vollkommen der Floskelhaftigkeit seiner Argumente gegen die Trauer bewußt ist. Die Trostgründe stoischer wie peripatetischer Provenienz werden abgespult und in diesem wie in anderen Schreiben dieser Jahre durch die Einbettung der Argumente in die politische Situation ergänzt: Besser ist es, tot zu sein, als dieses Chaos erleben zu müssen. Das politische Argument tritt an die Stelle der historischen oder mythologischen Exempla für die glückliche mors immatura wie z. B. der Geschichte von Kleobis und Biton.

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Die Wirkungslosigkeit derartiger Trostschreiben mußte Cicero ein Jahr später am eigenen Leibe nach dem Tod seiner Tochter Tullia erleben. Erhalten ist die Consolatio des Servius Sulpicius (ad familiares IV 5) an Cicero, der zwar auch die Topoi der Konsolationspraxis durchspielt, aber Ciceros scholastischen Ton vermeidet und in der Erörterung der condicio humana einen autobiographischen Abschnitt einfügt: Als er kürzlich von Aigina nach Megara gesegelt sei, habe ihm der Anblick der daniederliegenden, einst blühenden Städte drastisch vor Augen geführt, wie undankbar wir Menschlein seien, wenn wir unser kleines Unglück angesichts der Trümmer einstiger Größe bejammerten. Es nimmt nicht Wunder, daß diesem Brief eine große Nachwirkung zuteil wurde, bei Lord Byron (Child Harold II 3, IV 44), Jean Paul (Titan), Laurence Sterne (Tristam ShandyV 3) und Montaigne (Penses I 20).37 Der Erfolg bleibt aus: Cicero (ad Atticum XII 14, 3) kann in all den konsolatorischen Schriften und Briefen seiner Bekannten keinen Trost finden. In seiner selbstgewählten Isolation in Asturia – in ad Atticum XII 15 ist der dichte und rauhe Wald bildlicher Ausdruck seiner seelischen Verfassung – findet er Trost allein in der Literatur, mit der er Zwiegespräch hält (XII 15 „in ea mihi omnis sermo est cum litteris“), und in seinem manischen Schreibzwang, zuerst in der an sich gerichteten Consolatio, als deren Erfinder er sich stolz hinstellt, und dann im Projekt der enzyklopädischen Darstellung der griechischen Philosophie in römischem Gewande.38 Er schreibt sich den Schmerz von der Seele. Ovid in den Tristien und Epistulae ex Ponto wird dieses Motiv breit ausführen. In seiner Autobiographie in Tristien IV 10 nimmt die Muse die Stelle ein, die bei Cicero die Philosophie innehat.39 Die Atticus-Briefe der folgenden Monate durchzieht als idée fixe das Tempelchen (fanum), das er als eine der Zeit entzogene (ad Atticum XII 19) Erinnerungsstätte seiner Tochter errichten will und dessen Planung allein ihm Trost verschafft. Sich seines unphilosophischen Vorhabens vollkommen bewußt, durchforstet Cicero die griechischrömische Literatur nach sein Vorhaben stützenden Belegen (ad Atticum XII 18, 1); aber er kann nicht ausschließen, daß die Durchführung des 37 Vgl. Rudolf Kassel: Untersuchungen zur griechischen und rçmischen Konsolationsliteratur, München 1958, S. 98 – 103. 38 ad Atticum XIII 26, 2 „Equidem credibile non est quantum scribam, quin etiam noctibus, nihil enim somni.“ 39 Dies wird besonders deutlich durch die hymnischen Passagen in Cicero: Tusc. V 2, 5 und Ovid: Tristien IV 10, 117 – 122. Vgl. besonders „o vitae philosophia dux“ (Cicero) mit „tu dux et comes es“ (Ovid).

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Bauvorhabens die Wunde wieder aufreißen könnte (ad Atticum XII 18, 1). Weder seine dignitas noch auctoritas als Consular, an die ihn Sulpicius und andere erinnern, noch die praecepta sapientiae können ihn von der Trauer ablenken: Er ist erledigt; die schwärende Wunde, die seine Isolierung und seine politische, von ihm stets verdrängte Ohnmacht ihm geschlagen hatte und die nach der Konsolationsterminologie nie wirklich geheilt, sondern immer frisch (recens) geblieben war, ist durch den neuen Schlag um so tiefer aufgebrochen.40 Kein einziges remedium doloris wirkt: So wird die Erinnerung an die Tote, die nach Attalos, Senecas Lehrer, ein ckuj¼pijqom, eine Mischung von Süßem und Bitterem, ist,41 zur Qual; die Erinnerung an die mit der Tochter verbrachte Zeit, an die Gespräche mit ihr, die nach Seneca trostbringend sind (Epist. 99, 23 f.), führen genau zum Gegenteil.42 Verzweifelt beharrt er darauf, Schmerz empfinden zu dürfen,43 und stellt resigniert fest, daß für ihn die praecepta sapientiae kein Hilfe darstellen (ad Atticum XII 46), sondern eher das Gegenteil bei ihm bewirkt haben. Denn er wäre wohl besser gegen die Schicksalsschläge gewappnet, wenn er nicht die Theorie der philosophischen Consolatio so gut beherrschte.44 Nur die Zeit, nicht die ratio wird diesen Schmerz lindern. Während Cicero bei der praktischen Bewährung (probatio) seiner philosophischen Überzeugungen scheitert, zeigt Seneca in Tacitus’ Schilderung (Annalen XV 60 – 64), wie ein stoischer Philosoph sich angesichts des nahen, erzwungenen Todes verhält.45

40 ad Atticum XII 23, 1: „Occidimus, occidimus, Attice, iam pridem nos quidem, sed nunc fatemur, postea quam unum quo tenebamur amisimus.“ 41 Seneca, Epist. 99, 19: „inest quiddam dulce tristitiae“; Epist. 63, 5 – 7. 42 ad Atticum XII, 18, 1: „Dum recordationes fugio quae quasi morsu quodam dolorem efficiunt, refugio ad te admonendum.“ 43 ad Atticum XII 28, 2 „maerorem minui, dolorem nec potui nec, si possem, vellem.“ 44 ad Atticum XII 46: „Quid ergo? inquies, nihil litterae? In hac quidem re vereor ne etiam contra; nam essem fortasse durior. Exculto enim animo nihil agreste, nihil inhumanum est.“ 45 Vgl. dazu meinen Beitrag „Der Tod des Philosophen Seneca“ in diesem Band.

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V. Die pagane Konsolationstheorie und -praxis übte eine enorme Wirkung auf spätantike christliche Autoren aus.46 Die Briefe und Predigten des Ambrosius47 und vor allem des Hieronymus, des Cicero Christianus, belegen die Bedeutung konsolatorischer Praxis in der Seelsorge. Wie ein stoischer Philosoph versteht sich der Seelsorger Hieronymus als Seelenarzt, der den Schmerz des Trauernden lindert48 und deshalb nicht selbst vom Affekt der Trauer überwältigt werden sollte, obwohl dies kaum menschenmöglich ist.49 Wie Cicero läßt auch ihn bisweilen die Trauer die von den Rednern zur Verfügung gestellten Trostgründe, selbst den den rhetorischen Vorschriften entsprechenden Aufbau eines tröstenden Briefes vergessen.50 Hieronymus akzeptiert wie Seneca die heilende Wirkung der Tränen, solange die Wunde noch frisch ist (recens vulnus),51 zumal auch Jesus Lazarus, den er liebte, beweinte.52 Es muß jedoch das rechte Maß (modus) beachtet werden, übermäßiges Klagen und Schreien ziemt sich nicht,53 zumal die Trauer nicht so sehr 46 Vgl. Charles Favez: La consolation latine chrtienne, Paris 1937; Forschungsüberblick bei Peter von Moos: Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur ber den Tod und zum Problem der christlichen Trauer, Bd. 1, München 1971, S. 17 – 32. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, wenn die griechische Konsolationsliteratur einbezogen würde; vgl. dazu Jane F. Mitchell: Consolatory lettres in Basil and Gregory Nazianzen, in: Hermes 96, 1968, S. 299 – 318. 47 Zu Ambrosius’ konsolatorischer Praxis vgl. Yves-Marie Duval: Formes profanes et formes bibliques dans les oraisons funbres de Saint Ambroise, in: Christianisme et formes littraires de l’antiquit tardive en occident, Vandœuvres – Genève 1977, S. 235 – 291. Ambrosius’ Leichenreden, besonders De excessu fratris, übten einen enormen Einfluß auf die mittelalterliche Trostliteratur aus; vgl. von Moos (wie Anm. 46), Bd. 1, S. 47. 48 Epist. 50, 15: „Verum quid ago medens dolori …“ 49 Epist. 39, 2: „Non est optimus consolator quem proprii vincunt gemitus, cuius visceribus emollitis fracta in lacrimis verba desudant.“ 50 Epist. 60, 5 in der Form des Selbsttadels, einer Anrede seiner Seele: „Quid agimus, anima? Quo vertimus, quid primum adsumimus? Quid tacemus? Exciderunt tibi praecepta rhetorum et occupata luctu, oppressa lacrimis, praepedita singultibus dicendi ordinem non tenes!“ 51 Epist. 39, 5. 52 Epist. 39, 2: „Confiteor affectus meos, totus hic liber fletibus scribitur. Flevit Iesus Lazarum quia amabat eum.“ 53 Epist. 39, 5: „ignoscimus matris lacrimis, sed modum quaerimus in dolore.“ 39,6: „Detestandae sunt istae lacrimae plenae sacrilegio, incredulitate plenissimae, quae non habent modum, quae usque ad vicina mortis accedunt. Ululas et

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dem Verstorbenen gelte, vielmehr Selbstmitleid sei (Epist. 60, 7), und die Begräbnisriten nicht dem Toten, sondern eher dem Trost der Hinterbliebenen dienten (Epist. 66, 5). Doch da Zeit ohnehin den Schmerz lindere, sei es vernunftgemäßer, gleich von ihm zu lassen.54 Ganz der rhetorischen Theorie entsprechend, gilt es, für jeden individuellen Trauerfall die passenden Tröstungen, die sich in der Heiligen Schrift, aber auch bei den paganen Autoren finden, zusammenzustellen.55 Die Trostgründe Ciceros und Senecas sind bei Hieronymus ohne Ausnahme vorhanden:56 Reflexionen über die immatura mors (Epist. 39, 2), über die Nichtigkeit des Todes (Epist. 39, 3), die nicht mit philosophischen Theoremen, sondern mit dem Hinweis auf Matthaeus 9, 24 bewiesen wird, nach dem der Tod nur ein sanfter Schlaf ist (Epist. 60, 2),57 über die Rolle der Zeit und Vernunft (Epist. 39, 5; 60, 15; 66, 1), über die condicio humana (Epist. 39, 3; 60, 16;58 79, 10), über die Sinnlosigkeit aufwendiger Bestattungen (Epist. 39, 4; 66, 5) und über die Erinnerung als ein ambivalentes Mittel der Trauerbewältigung (Epist. 39, 5). Der Trost kann wie bei den paganen Autoren mit Tadel (obiurgatio) verbunden sein, wenn sich der Trauernde allzu sehr gehen läßt (Epist. 39, 3; 79, 8). Wie die stoischen Philosophen sieht auch Hieronymus das probate Mittel gegen Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen in der praemeditatio mortis (Epist. 60, 14; 79, 8) und in Exempla, die den Trauernden in seinem Schmerz aufrichten. Gerade in der tröstenden Funktion von Vorbildern, sieht man, daß nicht eine Imitatio der paganen Trostliteratur, sondern eine interpretatio christiana oder gar superatio der paganen Topoi vorliegt. Die paganen Exempla (illi), die Philosophen Zenon und Kleombrotos sowie das

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exclamitas, et quasi quibusdam facibus accensa, quantum in te es, tui semper homicida es.“ Vgl. 108, 29. Epist. 39, 5: „attamen, quod tempus mitigandum est, cur ratione non vincitur?“ Epist. 66, 1: „vulnus pectoris tui quod tempore et ratione curatum est.“ Epist. 75, 1: „Nunc mihi, fili Oceane, volenti et ultro adpetenti, debitum munus inponis, quo pro novitate virtutum, veterem materiam novam faciam. In illis enim vel parentis adfectus, vel maeror avunculi, vel desiderium mariti temperandum fuit; et pro diversitate personarum, diversa de Scripturis adhibenda medicina.“ Epist. 60, 5: „legimus Crantorem, cuius volumen ad confovendum dolorem suum secutus est Cicero, Platonis, Diogenis, Clitomachi, Carneadis, Posidonii ad sedandos lectus opuscula percurrimus.“ Ebenso findet sich der fictus interlocutor, dessen Einwände widerlegt werden. Vgl. Seneca: Epist. 99. Die als Beispiele angeführten einst mächtigen Städte, die heute darniederliegen, verweisen auf den Sulpicius-Brief (Cicero: ad familiares IV 5).

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Musterbeispiel der constantia animi, Cato,59 sind obsolet geworden und werden durch biblische Gestalten und christliche Märtyrer als Vorbilder ersetzt (Epist. 39, 3; 60, 5 f.; 77, 3). Der Verstorbene selbst wird für den trauernden Angehörigen zum exemplum (Epist. 39, 1; 60, 8; 75, 4; 77, 3 f.);60 er hat alle Eigenschaften des stoischen Weisen, da er dem Weltlichen entsagte (Epist. 39, 3),61 sich jeden Tag Rechenschaft über sein Leben gab (Epist. 79, 4) und den Tod gelassen ertrug (Epist. 60, 13). Doch im Gegensatz zur stoischen Lehre kann jeder gläubige Christ den Zustand völliger Gelassenheit, völligen Seelenfrieden finden, da er die Gewißheit hat, daß das Leben eine Wanderung (peregrinatio) in die ewige Glückseligkeit und der Tod den Durchgang darstellt (Epist. 39, 2 f.; 60, 13).62 Eine christliche, stark stoisch geprägte probatio schildert Augustinus im 9. Buch der Confessiones, in einer eindrucksvollen Selbstanalyse seines psychischen Zustandes nach dem Tod der geliebten Mutter. Er wird von einer übergroßen Traurigkeit übermannt (IX 12, 29 „premebam oculos eius, et confluebat in praecordia mea maestitudo ingens et transfluebat in lacrimas“), doch sein animus, sein Hegemonikon behält die Oberhand und trocknet die Augen („ibidemque oculi mei violento animi imperio resorbebant“), da für einen Christen sich Klagen und Seufzen nicht zieme, da seiner Mutter kein Leid widerfuhr. Augustinus analysiert seinen Schmerz und stellt fest, daß seine Trauer selbstbezogen ist, da die „consuetudo simul vivendi dulcissima et carissima“ jäh zerrissen und die Wunde noch zu frisch (vulnus recens) sei (IX 12, 30). Die Erinnerung an die letzten Gespräche mit Monnica verschafft ihm Trost. Immer wieder muß er sich wegen seiner Schwachheit anklagen und die Trauerwallungen bezwingen; das Hegemonikon, die Vernunft, setzt sich nur mit Mühe durch (IX 12, 31 „rursusque impetu suo ferebatur non usque ad eruptionem lacrimarum nec usque ad vultus mutationem, sed ego sciebam quid corde premerem“). Hinzu kommt der Schmerz, 59 Vgl. Seneca: De constantia sapientis 2. 60 Die meist ausführlichen laudes mortui sind nach dem Schema der paganen Biographien oder Nachrufe aufgebaut, nach denen sich die virtus eines Menschen in den natürlichen Anlagen und seinen Taten äußert. Vgl. Wilhelm Kierdorf: Laudatio funebris. Interpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der rçmischen Leichenrede, Meisenheim am Glan 1980. 61 Mit ihrem Eintritt ins Kloster läßt Blesilla alle Adiaphora hinter sich. 62 Das Motiv der peregrinatio verweist auf das stoische Paradigma Odysseus und auf den stoischen Prokopton, der sich auf dem Weg zur Vollkommenheit befindet.

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daß er die condicio humana nicht akzeptieren kann. Die Stelle des philosophischen consolator in der Rolle des Arztes der paganen Literatur nimmt bei dem Christen Augustinus Gott ein (IX 12, 32 „toto die graviter in occulto maestus eram et mente turbata rogabam te, ut poteram, quo sanares dolorem meum, nec faciebas, credo, commendans memoriae meae vel hoc uno documento omnis consuetudinis vinculum etiam adversus mentem, quae non fallaci verbo pascitur“; IX 13, 35 „exaudi me per medicinam vulnerorum nostrorum quae pependit in ligno“; X 3, 4 „medice meus intime“). Doch Gott hilft nicht, um Augustinus die Fesseln der Gewohnheit vor Augen zu führen. Auch ein Bad bringt keine Hilfe, der Schmerz läßt sich nicht wegschwitzen („neque enim exudavit de corde meo maeroris amaritudo“). Erst die Erinnerung an Ambrosius’ Verse „Deus, creator omnium /…/ Mentesque fessas allevet / Luctusque solvat anxios“ löst die Last der Trauer, läßt in der Erinnerung an die Mutter, im ckuj¼pijqom der recordatio, die Tränen fließen, nur vor Gott, nicht vor den Augen eines Menschen, der voller Arroganz sein Weinen als unchristliche Schwäche ausgelegt hätte („non cuiusquam hominis superbe interpretantis ploratum meum“). All die Topoi der ciceronianischen und senecanischen Trostschriften sind in diese Seiten eingewoben, um die Ablösung der paganen Trauerbewältigung durch das Christentum zu zeigen: Die tranquillitas animi wird jedem zuteil, der wie Augustinus zu Gott gefunden hat. Überspitzt könnte man sagen: die rigide, stoische Auffassung von consolatio – in der Erkenntnis der Wahrheit kann man Trauer nur als Verwirrung und Krankheit des Geistes ansehen – findet ihre Verwirklichung nicht in der paganen, sondern der christlichen Theorie und Praxis. Der wichtigste Vermittler zwischen paganer und neuplatonischchristlicher Konsolationsliteratur für das gesamte Mittelalter und noch darüber hinaus ist Boethius mit seiner 524 n. Chr. im Gefängnis vor seiner Hinrichtung verfaßten Consolatio Philosophiae. 63 Sie läßt die verschiedenen Traditionen64 der antiken Trostschriften erkennen. Wie dem eingekerkerten Sokrates in Platons Kriton (50a6 ff.) die personifi63 Einen erläuternden Überblick über den Inhalt bietet Olof Gigon: Boethius. Trost der Philosophie, Zürich 1973, S. XVIII – LXI. 64 Man sollte den Begriff ,Quellen’ vermeiden, da sich nirgendwo in der Schrift zeigen läßt, daß gerade ein bestimmter Passus eines Prätextes „die genaue und einzige Quelle und Vorlage für einen Abschnitt der Consolatio darstellt.“ ( Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius de consolatione Philosophiae, Berlin – New York 2006 [2., erweiterte Auflage], S. 40 – 42).

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zierten Gesetze erscheinen, zeigt sich Boethius die Philosophie.65 Sie vertreibt die ebenfalls auftretenden „Bühnenhürchen“ (I 1, 7 „scaenicas meretriculas“) 66 vom Lager des sich in einer tiefen Depression (I 2, 5 „lethargum“) 67 befindenden Boethius, der sich nach dem Tod sehnt (I c. 1, 11 f., 20). In der Eingangsszene kommen besonders deutlich die Traditionsüberlagerungen zum Vorschein: Die Erwartung der Hinrichtung im Kerker stellt Boethius in eine Reihe mit Sokrates, der mit Hilfe der Philosophie „in ungerechtem Tod den Sieg errang“ (I 3, 9), und Seneca.68 Wie Hercules am Scheideweg in der durch Xenophons Memorabilien (II 1, 21 – 34) überlieferten Geschichte des Prodikos muß er sich zwischen zwei um ihn buhlenden Personifikationen entscheiden, den Musen und der Philosophie.69 Die am Anfang des Werks stehende Elegie weist unüberhörbar auf den primus inventor der Exildichtung, auf Ovid,70 der in Tomi am Schwarzen Meer Trost und Erleichterung allein in der Dichtung findet.71 Vor allem in Tristien IV 10, 117 f., in einer im Hymnenstil gehaltenen Anrufung der Musen, nimmt die 65 Das Erscheinen der Philosophie ist in der Topik göttlicher Epiphanien geschildert; vgl. Gruber (wie Anm. 54), S. 62 – 70. 66 Vgl. Gruber (wie Anm. 54), S. 72 zur Haltung der christlichen Autoren dem Schauspielwesen (spectacula) gegenüber. 67 Vgl. Gruber (wie Anm. 54), S. 97. 68 In I 3, 9 werden als Exempla Leute wie Canius, der unter Caligula hingerichtet wurde, Seneca und Soranus, der wie Seneca von Nero zum Selbstmord gezwungen wurde, genannt. „Boethius vergleicht sich also mit Männern, die fälschlich einer Verschwörung gegen den Kaiser angeklagt wurden.“ (Gruber [wie Anm. 54], S. 113). 69 Zu Hercules und Odysseus als stoischen mythologischen Paradigma neben dem historischen jüngeren Cato vgl. Seneca: De constantia sapientis 2, 1: „nullam enim sapientem nec iniuriam accipere nec contumeliam posse, Catonem autem certius exemplar sapientis viri nobis deos inmortales dedisse quam Ulixem et Herculem prioribus saeculis.“ Prodikos’ Allegorie wurde bereits von Kleanthes stoisch in Beschlag genommen; vgl. Cicero: De finibus II 21, 69. 70 Vgl. Ovid: Tristien IV 1, 5 – 20; IV 10, 111 f. Vgl. dazu Bernhard Zimmermann: Poeta exul. Zur Bewltigung des Exils in der griechisch-rçmischen und deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Seminari Romani 6, 2003, S. 87 – 104. 71 Vgl. I 1, 3 „exsilii nostri solitudines“. Das Exil-Motiv klingt immer wieder an: I 3, 9 „Anaxagorae fugam“; I 5, 2 ff. „exsulem … exsiliium … procul a patria … ius exsulare“; I 6, 18; II 3, 12 („an tu in hanc vitae scenam nunc primum subitus hospesque venisti“) zeigt den philosophisch-religiösen Hintergrund des Exilgedankens: die Welt, als theatrum mundi betrachtet, ist der Verbannungsort des Menschen, der in seine wahre Heimat zurückstreben muß; vgl. zu diesem Gedanken Cicero: Tusc. III 82; weitere Belege bei Gruber (wie Anm. 54), S. 188.

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tröstende Dichtung die Rolle ein, die für den Philosophen – man vergleiche nur den Hymnos kletikos an die Philosophie in Ciceros De finibus V 2, 5 – nur die Philosophie haben kann: „… gratia Musa, tibi: nam tu solacia praebes / tu curae requies, tu medicina venis.“ Boethius schlägt damit zwei zentrale Motive der paganen Trostschriften an: die Tröstungen de exilio72 und de morte.73 Indem die personifizierte Philosophie, die Boethius wie eine Göttin erscheint und die „süßtönenden, verderblichen Sirenen“ (I 1, 11 „Sirenes usque ad exitum dulces“) 74 vom Lager des Kranken verscheucht75 und ihm Heilung von den Verwirrungen seiner Seele und Geistes verheißt (I 1, 14 „perturbationes mentis“),76 klingt deutlich die seit Platon geläufige Auffassung von Philosophie als medizinische Seelenheilung77 an, die in der Stoa vor allem durch Chrysipp gepflegt wurde:78 Der Arzt (I 1) diagnostiziert das 72 Vgl. dazu Peter Meinel: Seneca ber seine Verbannung. Trostschrift an die Mutter Helvia mit einem Exkurs: Ducunt volentem fata, nolentem trahunt, Bonn 1972. 73 Wichtigster Quellentext für aegritudines animi und deren Tröstung in scholastischer Form ist Senecas Schrift De remediis fortuitorum, die in systematischer Form alle möglichen Trostgründe gegen die Einwände eines fictus interlocutor vorbringt, der auf seinem Recht auf Trauer pocht. Als mögliche Gründe für Trauer (Tod und Verlusterfahrungen) werden widerlegt: II. „morieris“, III. „decollaberis“, „peregre morieris“, IV. „iuvenis morieris“, V. „insepultus iacebis“. – VII. „male de te opinantur homines“ – VIII. „exulabis“ – IX. „dolor imminet“ – X. „paupertas mihi grave est“ – „non sum potens“ – XI. „pecuniam perdidi“ – XII. „oculos perdidi“ – XIII. „amisi liberos“ – XIV. „naufragium feci“ – „in latrones incidi“ – XV. „inimicos graves habeo“ – „amicum perdidi“ – XVI. „uxorem bonam amisi“. Die Authetizität der kurzen Schrift ist umstritten, neuerdings scheint das Pendel wieder hin zur Zuschreibung an Seneca auszuschlagen; vgl. Robert J. Newman: Rediscoring the De remediis fortuitorum, in: American Journal of Philology 109, 1988, S. 92 – 107. 74 Nach Homer: Odyssee XII 188 versprechen die Sirenen allen Vorbeifahrenden, die sie hören, mehr Wissen; dies kann aber nur die Philosophie leisten; zur allegorischen, christlichen Umdeutung des Sirenengesangs vgl. die Stellen bei Gruber (wie Anm. 54), S. 76 f. 75 Dichtung wird aber nicht generell verbannt, sondern nur die unphilosophische Musenkunst; die poetischen Einlagen in der Consolatio Philosophiae sind leichtere Heilmittel (I, 5, 12; III 1, 1), die die Seele des Kranken für die wahre Heilung durch die Lehren der Philosophie empfänglich machen soll. 76 Vgl. zu perturbatio die Definition bei Cicero: Tusc. III 7: „motus concitati animi“; weitere Stellen bei Gruber (wie Anm. 54), S. 81. 77 Vgl. dazu Anm. 24. 78 Aus Ciceros Tusculanen läßt sich ein vergleichbarer therapeutischer Ablauf, der wohl auf Chrysipp (vgl. SVF III 470) zurückgeht, rekonstruieren: 1. Tadel des Trauernden (obiurgatio), vgl. Tusc. III 62; 2. Lobpreis von Vorbildern (exempla), Tusc. IV 40; 3. Betrachtung der menschlichen Natur und ihrer

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Krankheitsbild zunächst grob (I 2) und führt in einem intensiven therapeutischen Gespräch (I 2 – 5) 79 auf die genaue Diagnose hin. Zunächst bedarf es ganz nach Chrysipps Auffassung80 vorbereitender, leichterer Heilmittel, da der Kranke noch im Aufruhr der Affekte gefangen ist (I 1, 12 „Sed quoniam plurimus tibi affectuum tumultus incubuit diversumque te dolor ira maeror distrahunt, uti nunc mentis es, nondum te validiora remedia contingunt“), bevor der Patient für die Radikalkur reif ist (III 1). Um das Endziel, die Schau der wahren Glückseligkeit im neuplatonischen Sinne zu erlangen, muß der Kranke in einen Zustand versetzt werden, der ihn überhaupt zur Theoria81 befähigt. Die Methoden, die die Philosophie zu ihrer Therapie einsetzt, sind aus Cicero und Seneca bekannt und stoisch geprägt:82 Der Daniederliegende wird mit barschen Worten aufgerüttelt (I 3, 3 Schocktherapie der obiurgatio), auf Vorbilder, an denen er sich orientieren soll,83 und auf die Philosophie als feste Burg und sicheren Hafen hingewiesen (I 3, 11 – 13), deren Wall gegen die Dummheit der Welt und alle Schicksalsschläge schützt (I c. 4, 1 – 5: „Quisquis conposito serenus aevo / Fatum sub pedibus egit superbum / Fortunamque tuens utramque rectus / Invictum potuit tenere vultum“).84 Solange die Affekte noch in Wallung sind (I 5, 12 tumor), ist keine Heilung möglich. Zuerst müssen die Küm-

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Grenzen, Tusc. III 59; 4. Notwendigkeit, das Unabänderliche gefaßt zu ertragen, Tusc. III 34, 52. Vgl. vor allem I 4, 1: „Wenn du die Hilfe eines Arztes erwartest, mußt du deine Wunde aufdecken.“ („Si operam medicantis exspectas, oportet vulnus detegas“). SVF III 484 = Cicero: Tusc. IV 63 „vetat Chyrsippus ad recentes quasi tumores animi remedium adhibere“; zu tumor (I 5, 12, griechisch oUdgsir ; vgl. Platon: Timaios 70c) vgl. außerdem Cicero: Tusc. III 19; Seneca: De ira I 20, 1; vgl. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 71992, S. 150 f. Die Philosophie trägt auf ihrem Gewand ein P und ein H für pqajtij¶ und heyqgtij¶; vgl. zur Unterscheidung Aristoteles: Metaphysik 993b 20; weitere Stellen bei Gruber (wie Anm. 54), S. 68 – 70. Boethius bezeichnet zwar die Stoiker wie die Epikureer als „philosophischen Pöbel“ (I 3, 7 „Epicureum vulgus ac Stoicum“), bedient sich aber in gut römisch-eklektischer Manier trotzdem der Topoi der Stoa, die er für seine Argumentation benötigt. Die Exempla (I 3, 9) sind vorwiegend stoisch: Seneca und Soranus; Odysseus und Hercules als typisch stoische Exempla erscheinen in IV c. 3 und IV c. 7. Vgl. auch II 2: in einer Prosopopoiie wird als Gegenspielerin der Philosophie Fortuna eingeführt, die wie im 1. Buch Boethius zum zweiten Mal in die Rolle von Hercules am Scheideweg bringt. Zur rota fortunae (II 2, 9) vgl. die Stellen bei Gruber (wie Anm. 54), S. 180 f.

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mernisse der Seele (I 6, 17 aegritudines) als Fehlmeinungen und die äußeren Güter in ihrer Scheinhaftigkeit durchschaut werden, die nichts zum Glück und Seelenfrieden beitragen, also, stoisch gesprochen, !di²voqa sind (I 6, 17 ff.; II 4, 22 ff; II 5; II 6). Denn der wahre Herrscher ist allein der Weise (III c. 5; IV c. 2).85 Die Beispiele zeigen in aller Deutlichkeit, daß sich die Trostgründe in der Consolatio Philosophiae von ihrer Herkunft aus bestimmten philosophischen Schulen stark gelöst haben. Zwar lehnt Boethius die Stoiker (wie die Epikureer) strikt ab (I 3, 7),86 trotzdem übernimmt er ohne Bedenken stoische Lehrsätze an anderen Stellen.87 Aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen, werden sie zu rhetorischen Versatzstücken, die in jedem neuen Zusammenhang, sei er stoisch-neuplatonisch geprägt wie bei Boethius oder christlich wie bei Hieronymus und Augustinus, eingesetzt werden können. Peter von Moos führt in seiner monumentalen Abhandlung eindrucksvoll vor Augen, wie die mittelalterliche Praxis diese Tradition aufnahm und zu einer Trostsystematik und Trosttopik weiterentwickelte.88

85 Zu diesem stoischen Paradox vgl. Seneca: Thyestes 336 – 403 (ebenfalls eine lyrische Partie). 86 Vgl. Gruber (wie Anm. 54), S. 110. 87 Dies ist allerdings kein spätantikes oder mittelalterliches Phänomen: Bereits in der Plutarch zugeschriebenen Consolatio ad Apollonium liegt ein philosophischer Synkretismus vor, in dem stoische Gedanken stärker in den Vordergrund treten, da die Stoiker, wie Cicero: Tusc. III 81 f. bezeugt, einen weitreichenden Einfluß auf die konsolatorische Praxis ausübten. Vgl. Kassel (wie Anm. 37), S. 49 f.; Jean Hani: Plutarque. Consolation  Apollonios, Paris 1972, S. 54 – 58; vgl. auch den Überblick von Jean Hani: La consolation antique, in: Revue des études anciennes 75, 1973, S. 103 – 110. 88 von Moos (wie Anm. 46); vgl. vor allem den Überblick in Bd. 3, S. 5 – 14.

Stoische Naturphilosophie und ihre Psychologisierung: Feuer als Prinzip des Schaffens und Zerstörens von der Antike bis zu Goethe und Hölderlin von Jochen Schmidt Die stoische Naturphilosophie geht von einer Kosmologie aus, die theologische, psychologische und geschichtsphilosophische Dimensionen hat. Alle drei betrifft die ins Archaische zurückreichende FeuerLehre, die zum Grundbestand stoischer Vorstellungen gehört. Erstmals nannte Heraklit das Feuer ein alldurchwaltendes Weltprinzip, das in periodischem Rhythmus aufflammt und wieder erlischt.1 Die Stoa gewann daraus eine – so bei Heraklit noch nicht sicher feststellbare, aber von den Stoikern ihm später zugeschriebene – zyklische Geschichtsvorstellung. Ihr zufolge wechselt die Auflösung der alten Weltordnung durch einen Weltbrand, die Ekpyrosis, zyklisch mit der Entstehung einer neuen, aber analogen Weltordnung: mit einer Palingenesie2, die ebenfalls durch das Feuer zustandekommt. In der Moderne fand dieses Geschichtsbild seinen pointierten Ausdruck in Nietzsches „Ring der ewigen Wiederkunft“. Rückblickend schrieb Nietzsche im Ecce homo: „Die Lehre von der ,ewigen Wiederkehr‘, das heißt vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustras kçnnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. 1 2

Diels/Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker (künftig: DK) 22 B 30. Stoicorum Veterum Fragmenta (künftig: SVF), collegit Ioannes ab Arnim. Vol. IIV. Stuttgart 1978 – 1979 (Neudruck der Erstausgabe von 1903 – 1905 und des von Maximilian Adler zusammengestellten Index in Bd. 4 von 1924). II, Nr. 613; Nr. 627. Ciceros Referat in De natura deorum II 118: „[…] daß zuletzt die ganze Welt in Feuer aufgehe […], so daß nichts außer dem Feuer übrig bleibe, von dem und von Gott belebt eine Neuherstellung der Welt geschehe und dieselbe Ordnung entstehe“ – „[…] ut ad extremum omnis mundus ignesceret […] ita relinqui nihil praeter ignem, a quo rursum animante ac deo renovatio mundi fieret atque idem ornatus oreretur“.Vgl. A. A. Long: The Stoics on world-conflagration and everlasting recurrence, in: Southern Journal of Philosophy 23, 1985, Suppl. S. 13 – 37.

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Zum mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon“.3 Sie hat mehr als nur Spuren davon, denn in einer ganzen Reihe von Zeugnissen verbindet sich die stoische Feuerlehre mit einer entschieden zyklischen Geschichtsvorstellung. Manche Stoiker behaupten sogar, die Wiederkehr des Gleichen finde nicht bloß numerisch, sondern individuell-identisch statt4, so daß Sokrates, unerfreulicherweise aber auch Xanthippe immer von Neuem wiederkehre.5 Einigermaßen beruhigend scheint es, daß dies nach den seriösesten Berechnungen der antiken Angaben, die auch das zyklisch wiederkehrende große Weltenjahr aus Platons Timaios einbeziehen6, nur im Abstand von jeweils 10800 Jahren geschieht.7 Nur alle 10800 Jahre also würde Hegel in seiner teleologisch okkupierten Geschichtsphilosophie leugnen, daß die Stoiker die Lehre vom zyklisch wiederkehrenden Weltbrand vertreten haben, und nur alle 10800 Jahre würde ihn Eduard Zeller in seiner großartigen Geschichte der griechischen Philosophie, die soeben – wie schon vor 10800 Jahren – in einer neuen Auflage erschienen ist, zu Recht in einer Fußnote dafür tadeln. Weniger anfällig sind die anderen mit der Feuerlehre verbundenen Theoreme. Ich umreiße zunächst den stoischen Horizont, um mich dann der weithin unbekannten modernen Rezeption und Transformation der stoischen Feuerlehre, insbesondere bei Goethe und Hölderlin zuzuwenden. Wie Heraklits Vorstellungen sind diejenigen der stoischen Naturphilosophie pantheistisch. „Aus allem Eins und aus Einem Alles“, lautet ein von Aristoteles überlieferter Ausspruch Heraklits8 ; ein anderer, es sei weise, dem Logos gemäß zu sagen, „alles sei eins“.9 Aus diesem pantheistischen Weltverständnis statuiert Heraklit einen anfangslosen, transzendenzlosen, ewigen Kosmos, der von einer feurigen Urkraft durchwirkt werde: „Diesen Kosmos“, sagt er, „schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern er war immer, er ist und wird sein ewig lebendiges Feuer (pOq !e¸fyom), periodisch aufflammend 3 4 5 6 7 8 9

Friedrich Nietzsche: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1980, Bd. 6, S. 313. SVF II, Nr. 624; Nr. 625. SVF II, Nr. 626. Platon: Timaios 39d. DK 22 A 13. DK 22 B 10. DK 22 B 50.

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und periodisch erlöschend“.10 Dieses Feuer ist, wie dann bei den Stoikern, eine elementare Urkraft und zugleich mit dem Logos identisch, der den Kosmos regiert.11 Weil der Logos alles durchwaltet, kann Heraklit, obwohl er die Mehrheit der Menschen für dumm hält, in einem anderen Fragment erklären: „Gemeinsam ist allen das Denken“.12 Auch dies übernehmen die Stoiker.13 Alles sehen sie vom Logos bestimmt, der auf die Natur bezogen das Naturgesetz ist, auf den Menschen bezogen das diesem Naturgesetz gemäße Denken. In diesem pantheistischen Horizont setzen manche Stoiker Gott und Welt ausdrücklich ineins, wobei der göttliche Logos eine Art von Weltseele wird.14 Heraklit hatte den pantheistischen Vorbehalt gegen jedes Sprechen von einer bestimmten, ber der Welt waltenden obersten Gottheit pointiert, indem er derartiges Sprechen als ein nur metaphorisches, uneigentliches mit den Worten kennzeichnete: „Eins, das allein Weise, will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus benannt werden“.15 Dieser Maßgabe entspricht der berühmte Zeushymnos des Stoikers 10 DK 22 B 30. Zur quellenkritischen Analyse und zur Darstellung der Forschungsprobleme im hier relevanten Themenkreis, insbesondere zur Feuerlehre vgl. Heraclitus. The cosmic fragments, ed. with an introduction and commentary by G. S. Kirk, 2. Auflage Cambridge 1962, S. 307 – 338. Ferner: Miroslav Markovich: Artikel Herakleitos, in: Realencyclopdie der classischen Altertumswissenschaften (RE), Suppl. X, 1965, Sp. 246 – 320, besonders Sp. 293 – 308. Vgl. auch Karl Reinhardt: Heraklits Lehre vom Feuer, in: K. R.: Vermchtnis der Antike, 2. Auflage Göttingen 1962, S. 41 ff. (hierzu die kritischen Einwände von Kirk und Markovich). 11 DK 22 B 72. 12 DK 22 B 13. 13 Das kaum lösbare Problem, ob und inwiefern die Stoiker die Heraklit-Überlieferung selbst schon in ihrem Sinne mitbestimmt haben, bleibt hier unberücksichtigt. 14 Nach Platon, Timaios 41d (tµm toO pamt¹r xuw¶m – „die Seele des Alls“). Für die Wirkungsgeschichte wichtig die Wiedergabe der stoischen Lehre von der Weltseele bei Cicero, De natura deorum I 37: „[…] Geist und Seele der Allnatur“ – „totius naturae menti atque animo“; Cicero, Academica I 29: „ diese Wirkungskraft, sagen sie, sei die Seele der Welt und sei Geist und vollkommene Weisheit, die sie Gott nennen“ – „quam vim animum esse dicunt mundi eandemque esse mentem sapientiamque perfectam, quam deum appellant“; Cicero, Timaeus 42: „die ganze Seele der Allnatur“ – „omnem animum universae naturae“ (wörtliche Übersetzung aus Platons Timaios). Vgl. Willem J. Verdenius: Der Logosbegriff bei Heraklit und Parmenides, in: Phronesis 11, 1966, S. 81 ff., und Phronesis 12, 1967, S. 99 ff. Martha C. Nussbaum: Xuw¶ in Heraclitus, in: Phronesis 17, 1972, S. 1 ff., S. 153 ff. 15 DK 22 B 32.

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Kleanthes16, der auch auf Heraklits ewig lebendiges Feuer anspielt. Immer wieder betonen die Stoiker, daß Gott nichts anderes als das Weltganze und der dieses Weltganze durchwaltende Logos und zugleich Nomos ist. Vor allem als naturgesetzlicher und insofern auch schicksalhafter Nomos kann er mit dem Namen des Zeus benannt werden17, der als Weltherrscher alles Geschehen bestimmt und lenkt. Zu welch kühnen Spekulationen die Feuerlehre im Rahmen der stoischen Kosmologie führte, zeigen spätere allegorische Auslegungen. Da Herkules, der mythologische Hauptrepräsentant der stoischen virtus, seinen Tod im Feuer des Scheiterhaufens auf dem Oeta fand und von dort zum Himmel auffuhr, sah man ihn, den Sohn des Zeus, als göttlichen Logos, der die Welt durchdringt und dann in der Ekpyrosis zum ursprünglichen Feuer zurückkehrt.18 Das Eine und Ganze differenziert sich nach der im Kosmos waltenden Gesetzlichkeit in einer geordneten Fülle von Einzelgestalten aus. Diesen Vorgang nennen die Stoiker „Diakosmesis“. Sie ist das Werk des gestaltbildenden Feuers, des pOq tewmijºm, das als Lebensenergie die Materie durchdringt, belebt und formt. Die Stoiker verstehen das Feuer nicht bloß als eines der vier Elemente, sondern als das energetische Prinzip alles Daseins. Ihm kommt eine universell wirkende und steuernde Kraft zu, die gleichermaßen zu schaffen und zu zerstören vermag. Schon der Begründer der Stoa, Zenon, unterscheidet ein schöpferisches und lebenerhaltendes Feuer (das pOq tewmijºm) und ein zerstörerisches Feuer (pOq %tewmom).19 In der belebten Gestaltenfülle der konkreten Welt bleibt das Urfeuer verborgen präsent und zugleich – durch Vermischung mit den anderen Elementen – gebunden, am Ende einer Weltzeit aber bricht es zerstörerisch durch und verzehrt alles in einer Ekpyrosis, die manche Stoiker zugleich als Katharsis auffassen.20 Darauf beginnt dann wieder ein neuer kosmischer Zyklus21, der in gesetzlich 16 SVF I, Nr. 537. 17 SVF I, Nr. 537. 18 Seneca: De beneficiis 4,7,1; 8,1. Ausführliche Allegorese bei dem im 1. Jahrhundert n. Chr. lebenden Stoiker Cornutus, Theologiae graecae compendium, cap. 31; vgl. Wilfred L. Knox: Some hellenistic elements in primitive Christianity, London 1944, S. 39; Marcel Simon: Hercule et le Christianisme, Paris 1955, S. 95 – 105. 19 SVF I, Nr. 120. 20 SVF II, Nr. 598; Nr. 630. 21 SVF I, Nr. 98; Nr. 107 (Zenon); SVF I, Nr. 497; Nr. 512 (Kleanthes). SVF II, Nr. 596 – 632.

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festgelegten Perioden stattfindet, da sich die Ekpyrosis ihrerseits nach einem bestimmten Zeitrhythmus immer von neuem ereignet.22 Gelegentlich läßt sich schon eine gewisse Psychologisierung erkennen, wenn die Stoiker das Feuer mit dem Pneuma und der Seele gleichsetzen23, sei es die Weltseele, die sie in Platons Timaios fanden24, oder die Menschenseele. Daraus konnte sich die Vorstellung entwickeln, daß die Einzelwesen von der Sehnsucht nach einem entgrenzenden, jede Individualität auflösenden Übergang in die Allseele erfaßt werden. Nach einigen antiken Vorläufern machte Goethe dies zur Grundkonzeption seines bedeutendsten pantheistischen Gedichts, dem er die heraklitische Überschrift Eins und Alles gab.25 Und in dem Divan-Gedicht Selige Sehnsucht26 spielte er nicht nur „östlich“ auf Hafis und „westlich“ auf Petrarca an, sondern auch auf die ihm schon früh vertraute Feuerlehre und sogar auf die Ekpyrosis: „Das Lebend’ge will ich preisen / Das nach Flammentod sich sehnet“, heißt es in der ersten Strophe, und die letzte beschwört das „Stirb und werde“, das dem zyklischen Gesamtprozeß entspricht. Schon manche stoischen Zeugnisse der Antike bieten ja den Begriff „Palingenesie“.27 Goethe und Hölderlin rezipierten die stoische Feuerlehre intensiv im Medium des zeitgenössischen Pantheismus, den Heine später zu Recht „die verborgene Religion Deutschlands“ seit dem 18. Jahrhundert nannte.28 Eine zentrale Instanz dieses Pantheismus war für Goethe und Hölderlin der vom stoischen Denken geprägte Spinoza29, aber 22 23 24 25 26 27 28

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SVF I, Nr. 98; Nr. 497; SVF II, Nr. 596, Nr. 597. SVF II, Nr. 601; Nr. 773; Nr. 774; Nr. 785. Platon: Timaios 34a-35a, 41d. Johann Wolfgang Goethe: Smtliche Werke. Briefe, Tagebcher und Gesprche. Vierzig Bände. I. Abteilung: Smtliche Werke. Bd. 2: Gedichte 1800 – 1832, hg. von Karl Eibl, Frankfurt 1988, S. 494 f. Goethe: Smtliche Werke (wie Anm. 25). Bd. 3/1: West-çstlicher Divan, hg. von Hendrik Birus, Frankfurt 1994, S. 24 f. Vgl. Anm. 2. Heinrich Heine: Smtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb. Dritter Band, hg. von Karl Pörnbacher, München 1971: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 571. „Denn Deutschland“, schreibt Heine vor diesem Diktum, „ist der gedeihlichste Boden des Pantheismus; dieser ist die Religion unserer größten Denker, unserer besten Künstler […]“. Schon Goethes Rede Zum Shakespears Tag (1771) nimmt wesentliche Vorstellungen aus Spinozas Ethik auf, spätere Studien sind in Notizen dokumentiert, die unter dem Herausgeber-Titel Aus der Zeit der Spinoza-Studien Goethes 1784 – 85 veröffentlicht wurden; in Dichtung und Wahrheit (Vierter Teil, Anfang des sechzehnten Buches) äußert sich Goethe ausführlich über seine Beschäfti-

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beide kannten auch die antike Überlieferung, nicht zuletzt aus dem Kompendium des Diogenes Laërtios. Nicht nur in den früheren Jahrhunderten allerdings, in denen noch weitgehend das „Graeca non leguntur“ galt, dominiert die lateinische Tradition mit ihren beiden Hauptvertretern Cicero und Seneca, die im Bildungswesen omnipräsent waren. Speziell für die Feuerlehre war und blieb Ciceros Schrift De natura deorum ein grundlegender Text. Hölderlin hörte in seiner Tübinger Studienzeit sogar eine Vorlesung über sie.30 Ausführlich und detailliert faßt Cicero das Wesentliche aus den von ihm benutzten griechischen Quellen zusammen, besonders aus dem immer wieder ausdrücklich als Gewährsmann genannten Kleanthes.31 Die hermetischnaturphilosophische Tradition transportierte die Feuerlehre von Paracelsus bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Daneben aber gab es eine unmittelbar an der Stoa, vor allem an Ciceros Darstellung orientierte Rezeption der stoischen Feuerlehre. Von den Lehr-Autoritäten ist hier Thomasius mit einer Schrift zu nennen, die er speziell der stoischen Theorie vom Weltbrand widmete. Sie erschien in Leipzig 1676 mit dem Titel Exercitatio de Stoica mundi exustione. Auch in verbreiteten Lektüren aus dem Bereich der sogenannten Physikotheologie gewinnt die stoische Feuerlehre neue Bedeutung. Dieser zunächst unmodern anmutende Rückgriff erklärt sich aus dem großen allgemeinen Interesse des 18. Jahrhunderts an der Kosmologie, das noch bis in Fausts Makrokosmos-Vision hineinreicht. Das Allheitsprinzip des Feuers wird nun entschieden dynamisiert und geradezu mit dem Begriff des „Lebens“ besetzt. Barthold Hinrich Brockes nahm unter die Gedichte, die er in seiner vielrezipierten, über Jahrzehnte hinweg erscheinenden Sammlung Irdisches Vergngen in Gott (1721 – 1748) veröffentlichte, ein vielstrophiges Poem mit dem Titel Das Feuer auf, in dem er sich an Ciceros Ausführungen in der Schrift De natura deorum hält. In der zweiten Strophe heißt es, das „Leben-Feur“ erfülle alles mit Leben, Bewegung und Geist. Man spürt, so Brockes, „daß das Leben, ja ein allgemeiner gung mit Spinoza und dessen Wirkung auf ihn. Für Hölderlin war seit seinen frühen Notizen Zu Jakobis Briefen ber die Lehre des Spinoza (1790/91) Spinoza eine zentrale weltanschauliche Instanz. 30 Hölderlin: Smtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Bd. 7: Dokumente, hg. von Adolf Beck. Erster Teil (7,1): Briefe an Hçlderlin, Dokumente 1770 – 1793, Stuttgart 1968, S. 414, Nr. 73: Aufzählung der besuchten Vorlesungen anlässlich von Hölderlins Magisterium 1790, darunter: „Dn. Prof. Flatt, Ciceronem de natura Deorum“. 31 Cicero: De natura deorum II 40/41.

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Geist, / Drin wir alle sind und schweben, / Aus der Sonnen Cörpern fleußt: / Daß ein männliches Feuer quillet, / Welches alle Ding’ erfüllet, / Alles schmückt, erwärmt, ernährt / Wodurch alles wird und währt“. Das stoische pOq tewmijºm ist hier ganz als dynamisches Prinzip aufgefaßt. Aber auch die gegenteilige, zerstörerische Qualität des Feuers bringt Brockes zur Geltung, indem er sie in den zyklischen Zusammenhang von Werden und Vergehen einordnet. „Aller Cörper Tod und Leben“, so Brockes in der zweiten Strophe seines Feuer-Poems, in der er nahezu wörtlich aus Ciceros De natura deorum (II 40/41) übersetzt32, Aller Cörper Tod und Leben, Schön – und schrecklichs Element! Nichtes kann dir wiederstreben, Alles wird von dir getrennt, Alles wird durch dich erhalten, Du verneuerst die Gestalten, Du beleb’st, erwärmst, ernährst, Du verstöhr’st, zertheilst, verzehrst.

Die Genie-Zeit intensiviert diese elementare Dynamik. Vergebens sucht man in den Kommentaren der Faust-Ausgaben Hinweise auf die von Heraklit entworfene und dann von der Stoa weiterentwickelte Feuerlehre, obwohl Goethe sie in der Erdgeist-Szene erstmals mit visionärer Emphase so ausgestaltet, daß sie geradezu wie in einem Palimpsest durchscheint. Nachdem Faust in seiner ersten Vision den Makrokosmos erschaut, aber eben nur erschaut hat und sich enttäuscht mit den Worten abwandte: „Welch Schauspiel! Aber ach! Ein Schauspiel nur!“, kann er den Erdgeist unmittelbar erfahren, wenn auch nicht ertragen, weil er ihm in Feuersgestalt erscheint. Wies das Zeichen des Makrokosmos Faust in die Sphäre der Kontemplation, so reißt ihn dasjenige des Erdgeists in die Sphäre lebendiger Aktion: „In Lebensfluten, im Tatensturm“ wall ich auf und ab (V. 501), sagt der Erdgeist. Goethe verbindet in der für ihn typischen eklektizistischen Manier das traditionelle Bild der WeberNatur, der natura textor, mit einer pantheistisch aufgeladenen AllEinheitsvorstellung und zugleich mit der alles Werden und Vergehen bewirkenden feurigen Elementarkraft. In einer Regie-Anweisung (nach V. 481) hebt er zweimal die Feuernatur des Erdgeists hervor: „Es zuckt 32 Barthold Hinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergngen in Gott. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1738. Mit einem Nachwort von Dietrich Bode. Stuttgart 1965, S. 484.

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eine rötliche Flamme, der Geist erscheint in der Flamme“. Am Anfang der viel später entstandenen Szene Wald und Hçhle, in einem der wichtigsten Monologe der gesamten Faust-Tragödie, erinnert sich Faust an seine einstige Vision des Erdgeists mit folgenden Worten (V. 3217 – 3219): Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet.

In der zentralen Partie der Erdgeist-Szene identifiziert sich der zu Faust sprechende Erdgeist selbst nicht weniger als dreimal mit dem „Leben“ einer pantheistisch konzipierten und anaphorisch betonten All-Einheit, und dieses „Leben“ nennt der Feuergeist auf dem Gipfelpunkt einer dreistufigen Klimax durchaus prägnant „Ein glhend Leben“: In Lebensfluten, im Tatensturm Wall ich auf und ab, Webe hin und her! Geburt und Grab, Ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, Ein glhend Leben, So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Wie in der Naturphilosophie Heraklits und der Stoa liegt trotz der sich im Wechsel des Werdens und Vergehens vollziehenden All-Einheit, die sowohl „Geburt“ wie „Grab“ als Einheit der Gegensätze umspannt, der Hauptakzent auf dem schöpferischen Wirken der feurigen Urkraft. Das stimmt mit der schon für Zenon bezeugten wichtigsten stoischen Definition überein, derzufolge das „gestaltende Feuer“ den allgemeinen Prozeß des Werdens wie die Entstehung jedes einzelnen Wesens bestimmt.33 Und das der Diakosmesis entsprechende lebendige „Kleid“ der pantheistischen Gott-Natur ist die natura naturata, die vom feurigen Lebensprinzip der natura naturans „gewirkt“ wird. Soweit Goethes Rezeption der stoischen Feuerlehre. Am intensivsten und oft geradezu strukturbildend nahm Hölderlin die stoische Philosophie auf. Bevor ich auf die im Spätwerk auffallende Bedeutung der Feuerlehre eingehe, skizziere ich die früheren Phasen seiner Stoa-Rezeption. Am Beginn steht die noch ganz von Schillers 33 SVF I, Nr. 120; II, Nr. 1027 u. ö.

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Einfluß bestimmte Hymne Das Schicksal (1793/94) 34, in deren Zentrum Herakles als das seit der Fabel des Prodikos approbierte Paradigma des stoischen Tugendhelden erscheint. Einige Jahre später folgt die vor allem durch die Lektüre Marc Aurels vermittelte Rezeption der mittleren Stoa. Ihre dichterischen Haupt-Zeugnisse sind der Hyperion (1797/99) und die Ode Dichtermut.35 Damit verläßt Hölderlin das harte altstoische Konzept der asketischen apátheia und der heroischen probatio zugunsten einer von der harmonischen Verwandtschaft alles Lebendigen getragenen sympatheia. Sie vermag vor jeder fundamentalen Irritation zu bewahren und erübrigt auch heroische Bewährungsproben. Marc Aurel tröstet sich in seinen Selbstbetrachtungen mit dem von Poseidonios stammenden harmonistischen Axiom: „Alles ist verwandt“ (p²mta c±q blocem/36). Das Echo am Beginn von Hölderlins stoischer Ode Dichtermut lautet: „Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen […]?“ Und sowohl im Hyperion als auch in der Ode begründet Hölderlin die stoische Überwindung der Todesfurcht, indem er wie Marc Aurel den Tod als bloßen „Wandel“: als letabok¶ im naturhaften Allzusammenhang versteht. Geradezu eine Huldigung an Marc Aurel, dessen Schrift eQr 2autºm Hölderlin selbst besaß, ist ein Epigramm aus dem Jahre 1799, dem er die (akzentlose) griechische Überschrift pqor eautom gab.37 Der stoischen Feuerlehre, die ihm schließlich ein ganz anderes, apokalyptisches Szenario bereitstellte, näherte sich Hölderlin im Zusammenhang der stoisch-pantheistischen Äthervorstellung. Ihre psychologische Version besagt, die innere Verwandtschaft der Menschenseele mit der Weltseele des Äthers erzeuge im Einzelnen die Sehnsucht, aus der Individuation ins All überzugehen. In Hölderlins HexameterHymne An den ther38 (1797) sowie in einem entsprechenden ÄtherHymnus im Hyperion39 gestaltet sich dieser Übergang des Einzelnen ins Ganze noch nicht als „feuriges“ Auffliegen, sondern vollkommen harmonisch, später aber wird die vom gleichen Grundgedanken bestimmte 34 Friedrich Hölderlin. Smtliche Werke und Briefe in drei Bnden, hg. von Jochen Schmidt. Bd. 1: Gedichte, Frankfurt 1992, S. 157 – 160. Vgl. meine Ausführungen zu Hölderlins Schicksalshymne im vorliegenden Werk, S. 333 – 341. 35 S. 303 f. Vgl. Bd. 2 des vorliegenden Werks, S. 951 – 958. 36 Marc Aurel VI 37. 37 Hölderlin (wie Anm. 34), S. 221. 38 S. 182 – 184. 39 Hölderlin (wie Anm. 34), Bd. 2: Hyperion, Empedokles, Aufstze, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt 1994, S. 59.

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radikalere Vorstellung der Ekpyrosis immer wichtiger. Bis zum endgültigen Ausbruch des Wahnsinns gerät die Ekpyrosis mehr und mehr zur Metapher eines zerstörerischen Entgrenzungsdrangs, ja geradezu eines Todesverlangens. Empedokles spricht seine Bereitschaft zum Tod in den Flammen des Ätna mit folgenden Worten aus40 : O du! mir wohlbekannt, du zauberische Furchtbare Flamme! wie so stille wohnst Du da und dort, wie scheuest du dich selbst Und fliehest dich, du Seele des Lebendigen! Mir birgst du dich, gebundner Geist, nicht länger, Mir wirst du helle, denn ich fürcht es nicht. Denn sterben will ja ich. Mein Recht ist dies.

Auf dem Hintergrund der stoischen Naturphilosophie erhalten diese Verse bis in die einzelnen Formulierungen hinein ihre präzise Bedeutung. Nach stoischer Anschauung ist das Feuer als innerstes Lebensprinzip in allen Wesen verborgen, gewissermaßen als deren „Seele“ oder „Geist“. Erst im Augenblick des Todes bricht es zerstörerisch durch: in der Ekpyrosis. Deshalb kann Empedokles zunächst sagen, daß die Flamme „da und dort“, das heißt in den einzelnen Wesen, „stille wohnt“, solange diese nämlich im lebendigen Dasein verweilen. So lange ist sie auch „gebundner Geist“. Im Todesverlangen des Empedokles aber drängt der Geist aus dem Gebundnen – um eine spätere Prägung Hölderlins zu zitieren – ins „Ungebundne“. Aus der Verborgenheit im einzelnen Wesen bricht dann das Feuer durch. Naturphilosophisch gesprochen: Es löst sich aus der Vermittlung und Verbundenheit mit den anderen Elementen, in der es ein lebenspendendes Prinzip war. In der Ekpyrosis wird es nun unmittelbar, ungebunden, tödlich. Nicht bloß auf den Untergang von Individuen, vorzugsweise solcher von tragisch-heroischer Wesensart, wandte Hölderlin diese Vorstellung der Ekpyrosis an; in mehreren Dichtungen bezog er sie auch auf den Untergang einer ganzen Kultur. Das erste prägnante Beispiel dafür bietet die um 1799 entstandene Ode Gesang des Deutschen in einer Strophe, die den Untergang der griechischen Welt als elementares Schicksal darstellt41: O heilger Wald! o Attika! traf Er doch Mit seinem furchtbarn Strahle dich auch, so bald, 40 Hölderlin, Bd. 2, S. 399, V. 51 – 57. 41 Hölderlin, Bd. 1 (wie Anm. 34), S. 225, V. 33 – 36.

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Und eilten sie, die dich belebt, die Flammen entbunden zum Äther über?

Die letzten beiden Verse spielen exakt auf die Ekpyrosis und ihren stoisch-naturphilosophischen Kontext an: Das „belebende“ Prinzip, das Feuer, das im Dasein gebunden war, wird am Ende „entbunden“. Es sprengt die infolge der Diakosmesis ausgestalteten Formen des Lebens – hier der griechischen Kultur – und geht in den Allbereich des „Äthers“ über. Vollends unverständlich wäre der emphatische Erinnerungsruf „O heilger Wald! o Attika!“ ohne die Wahrnehmung der stoischen Naturphilosophie. Ihr zufolge durchdringt das energetische Elementarfeuer die Materie, die es zum Leben erweckt. Hyle, das griechische Wort für „Stoff“, „Materie“, heißt zugleich und sogar primär „Wald“. Indem Hölderlin, absichtsvoll paradox, von den Flammen spricht, die den „Wald“ belebt haben, meint er die schöpferische Belebung der Hyle in der großen Zeit der griechischen Kultur. Und auch indem er dann die Ekpyrosis auf das Ende dieser Kultur überträgt, folgt er der stoischen Lehre: Immer am Ende einer Periode verfällt ja die Welt der Ekpyrosis. Zum ersten Mal läßt diese Odenstrophe das geschichtliche Deutungsmuster erkennen, das später zahlreiche Gedichte Hölderlins bestimmt. In ihnen verschmilzt die Ekpyrosis immer wieder mit der seit der Renaissance neuplatonisch formierten Vorstellung von einem entgrenzenden „furor heroicus“42 und „furor poeticus“. Voll ausgeführt hat Hölderlin die zu solch tödlichem furor psychologisch metaphorisierte Ekpyrosis nur in der letzten Fassung der Ode Stimme des Volks.43 Deshalb ist diese Ode ein Schlüsseltext auch für den Zugang zu einer Reihe anderer Gedichte, in denen die Ekpyrosis änigmatisch-abbreviaturenhaft erscheint. Sie erhält so die für das Spätwerk der Jahre 1802 und 1803 typische Eigenart der esoterischen Chiffre. Die Grundvorstellung der Ode ist die dem „furor“ entsprechende Tendenz, „ins All zurück die kürzeste Bahn“ (V. 13) zu gehen, und zwar „selbstvergessen“ (V. 9), d. h. unter Aufgabe der eigenen Individualität und Identität. Zuerst zeigt sich diese Tendenz am heroisch-großen Einzelnen. Dessen Inbegriff ist der Strom, den „das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu“ reißt (V. 17). Aber nicht nur den 42 Der prominenteste Text: Giordano Bruno: De gl’ heroici furori (1585). Der platonisch-idealistisch überformte Pantheismus dieses Werks war auch für Schellings Frühschrift Bruno oder ber das gçttliche und natrliche Prinzip der Dinge von Bedeutung. Vgl. ferner: Marsilio Ficino: De divino furore. 43 In: Hölderlin: Gedichte (wie Anm. 34), S. 311 – 313.

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großen Einzelnen ergreift der tödlich entgrenzende Drang: „Das Ungebundne reizet und Völker auch / Ergreift die Todeslust und kühne / Städte […]“ (V. 18 – 20). Paradigma ist die lykische Stadt Xanthos am gleichnamigen Fluß. Die Geschichte dieser Stadt, die während der Belagerung durch die Römer in Flammen aufging, kannte Hölderlin aus Plutarchs Vergleichenden Lebenslufen (Brutus, 30 f.). Als ihre Stadt zu brennen anfing, so berichtet Plutarch, habe die Einwohner „plötzlich eine unbeschreiblich stürmische Raserei“ gepackt, „die man am ehesten mit einem Todesverlangen vergleichen könnte, […] nicht nur Männer und Weiber, nein auch kleine Kinder sprangen mit Geschrei und Jauchzen in das Feuer“. Hölderlin nimmt diese Schilderung genau auf (V. 57 – 59): „Geschrei / Entstand und Jauchzen. Drauf in die Flamme warf / Sich Mann und Weib […].“ Das Schlüsselwort der gesamten Ode, „Todeslust“ (V. 19), geht auf Plutarchs Ausdruck „Todesverlangen“ (5qyr ham²tou) zurück. Der von der „Todeslust“ bestimmten Ekpyrosis der Stadt Xanthos folgt die Erinnerung an eine frühere Ekpyrosis der gleichen Stadt, von der sowohl Plutarch als auch schon Herodot erzählen. Diese Erinnerung erhält im Gedicht die Funktion, die Periodizität, welche der Ekpyrosis in der Stoa zukommt, als schicksalhaft determiniertes und sich daher wiederholendes Geschehen darzustellen. Vollends durch Einbeziehung der Ätherlehre macht Hölderlin den stoischen Fundus deutlich (V. 62 – 68): […] Die Väter auch Da sie ergriffen waren, einst […] Entzündeten, ergreifend des Stromes Rohr, Daß sie das Freie fänden, die Stadt. Und Haus Und Tempel nahm, zum heilgen Äther Fliegend, und Menschen hinweg die Flamme.

Die Ekpyrosis der Stadt Xanthos erhält paradigmatischen Charakter: „gleich den größeren“ Griechen-Städten, so heißt es, sei sie „durch ein Schicksal […] hinweggekommen“ (V. 42 – 44). So steht Xanthos für das geschichtliche Schicksal der griechischen Welt insgesamt, und in allen späteren Gedichten, die vom Untergang der Städte handeln, verhält es sich ebenso. Bisher war die Rede von der Ekpyrosis des großen Einzelnen, dessen markantestes Paradigma Empedokles ist, und von der Ekpyrosis einer ganzen Kultur. Zum Weltgesetz steigert sich die Ekpyrosis in

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Hölderlins letzter Hymne Mnemosyne.44 Sie beginnt mit den Versen: „Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet / Die Frücht und auf der Erde geprüfet und ein Gesetz ist / Daß alles hineingeht, Schlangen gleich, / Prophetisch, träumend auf / Den Hügeln des Himmels“ (V. 1 – 5). Und wie bereits in der Ode Stimme des Volks ist die Ekpyrosis Metapher des selbstzerstörerischen Drangs ins Grenzenlose. Alsbald heißt es: „Und immer / Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht“ (V. 18). Durch die ganze Hymne hindurch entfaltet sich die esoterische Systematik dieses trotz bewahrender Gegenreflexe unaufhaltsamen Untergangsgeschehens. Nachdem die Stadt als Ort geschützten Wohnens und Bleibens, als Heimstätte irdisch gesicherter Existenz beschworen wurde, erscheint am Ende der Untergang Mnemosynes, der Mutter der Musen, und der Untergang ihrer Stadt Eleutherä als Zeichen für den Verlust einer existentiellen Identität, die in haltgewährender Erinnerung, in Mnemosyne, und der durch sie gestifteten Kultur gründete. Ich schließe mit einer allgemeineren Überlegung zur neuzeitlichen Rezeption der heraklitisch-stoischen Feuerlehre. Im kulturellen Prozeß nimmt sie immer mehr esoterische Züge an. Es scheint, als werde sie in dem Maße, in dem ihr kosmologischer Erklärungswert schwindet, frei für Metaphorisierungen und Transformationen, die dem psychischen Kosmos gelten. Schon Heraklit nannte ihn grenzenlos.45 Die Analogie zum kosmischen Entgrenzungsgeschehen der Ekpyrosis lag nahe und die Dynamik des furor heroicus und des furor poeticus entsprach dem. Dem Funktionswandel vom naturphilosophischen Konzept hin zur poetischesoterischen Chiffre war es schon förderlich, daß die Feuerlehre besonders in der hermetischen Tradition fortlebte. In Hölderlins Spätwerk erreicht die Esoterik ihren Höhepunkt. Explizit reflektierte den inzwischen esoterischen Charakter der stoischen Feuerlehre der alte Goethe, indem er sie programmatisch mit dem Siegel eines exklusiven Geheimwissens versah. Das Divan-Gedicht Selige Sehnsucht beginnt mit den Versen: Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebend’ge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. 44 In: Hölderlin: Gedichte (wie Anm. 34), S. 364. Zur detaillierten Analyse des Gedichts und insbesondere zur Ekpyrosis vgl. den Kommentar S. 1035 – 1052. 45 Der bei Diogenes Laërtios überlieferte (IX 7) Ausspruch Heraklits lautet (DK 22 B 45): „Der Seele Grenzen könntest du nicht ausfinden, auch wenn du jeglichen Weg gingest; so unermeßlich ist ihr Logos.“

Die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau von Sebastian Kaufmann Die Lehre vom natürlichen Gesetz (mºlor v¼seyr, lex naturalis) gehört vielleicht nicht zu den populärsten, mit Sicherheit aber zu den wirkungsmächtigsten Elementen der stoischen Philosophie. Nicht nur was entscheidende terminologische Weichenstellungen betrifft, stellt sie den eigentlichen Beginn der europäischen Naturrechtskonzeption dar, die sich fortan wie ein roter Faden durch das Rechtsdenken aller Epochen hindurchzieht und – der Infragestellung durch den Rechtspositivismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Trotz –1 noch unser heutiges politisches Denken und Rechtsverständnis maßgeblich prägt. Ja, gerade wenn man von diesem ausgeht, zeigt sich die zukunftsweisende Bedeutung der stoischen Lehre. So verweist vor allem die Idee allgemeiner Menschenrechte, welche in den Rechts- und Staatstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts systematisch entfaltet wurde, anschließend allmählich eine Positivierung erfuhr und in die Verfassungswirklichkeit überging,2 auf naturrechtliche Gedanken zurück, wie sie bereits in der um 300 v. Chr. begründeten griechischen Stoa formuliert worden sind.3 1

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Zur Kontroverse zwischen Naturrechtsdenken und Rechtspositivismus in der jüngeren Rechtsgeschichte vgl. Naturrecht oder Rechtspositivismus? hg. von Werner Maihofer. Darmstadt 1962; Wolf Rosenbaum: Naturrecht und positives Recht. Neuwied/Darmstadt 1972. Man denke an die Virginia Bill of Rights von 1776, an die Erklärung der französischen Nationalversammlung von 1789, an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 oder auch an das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949. Jürgen Blänsdorf: Das Naturrecht in der Verfassung – Von Ciceros Staatstheorie zum modernen Naturrechtsdenken, in: Lateinische Literatur, heute wirkend, Bd.2, hg. von Hans-Joachim Glücklich. Göttingen 1987, S. 30 – 56, dort S. 39, meint sogar, „daß die Kodifikation naturrechtlicher Elemente im Bonner Grundgesetz den Höhepunkt naturrechtlichen Denkens darstellt.“ Allgemein dazu vgl. den Sammelband Menschenrechte und europische Identitt. Die antiken Grundlagen, hg. von Klaus Martin Girardet und Ulrich Nortmann. Stuttgart 2005.

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Zwar sind die altstoischen Schulhäupter Zenon (ca. 335 – 262 v. Chr.), Kleanthes (ca. 331 – 232 v. Chr.) und Chrysipp (ca. 280 – 205 v. Chr.) nicht überhaupt die ersten, die über Natur und Recht sowie den Zusammenhang beider Bereiche nachdenken; vielmehr greifen sie dazu bereits ältere Ansätze auf, die ihrerseits bis in die Vorsokratik zurückreichen. Dennoch können, aus je verschiedenen Gründen, weder die Vorsokratiker4 noch die Sophisten5, weder Sokrates6 (469 – 399 v. Chr.) oder Platon7 (427 – 347 v. Chr.) noch Aristoteles8 (384 – 322 v. Chr.) im selben Maße wie die Stoiker als Begründer des Naturrechtsdenkens gelten. Erst in der Stoa findet sich die genuine Vorstellung, die bis in die Neuzeit hinein den Grundgehalt der Naturrechtsidee ausmacht: die Vorstellung einer überpositiven, in der Natur (des Menschen) gründenden rechtlich-sittlichen Norm, die (1) als unbedingter Bewertungsmaßstab für jede mögliche positive Rechtsordnung fungiert, indem sie definiert, was überhaupt (ge)recht ist, und dabei (2) zugleich universale Gültigkeit besitzt, insofern sie für alle Menschen aufgrund ihrer Gleichheit als Vernunftwesen einsehbar und verbindlich ist.9 Auch wenn der Hauptakzent der Stoiker auf dem vom Natur- als 4

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Ein frühestes, vorsokratisches Naturrechtsdenken in „der Lehre von der kosmischen Ordnung (Anaximander) und dem göttlichen Gesetz (Heraklit)“ erblickt Erik Wolf: Naturrecht. Abriß der Wort-, Begriffs- und Problemgeschichte, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 6, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Darmstadt 1984, Sp. 560 – 563. Daß die Sophisten die Urheber des („existentiellen“) Naturrechtsdenkens sind, meint Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen 1962, S. 11 – 18. Zur These, Sokrates sei der Gründer des Naturrechts, vgl. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1956, S. 124 – 170. Bei Platon wird der Anfang des Naturrechtsdenkens gesehen von Ada Neschke-Hentschke: Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts. Essai zur Archologie der Menschenrechte, in: Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon, hg. von Enno Rudolph. Darmstadt 1996, S. 55 – 73. Aristoteles wird zum ,Vater des Naturrechts‘ deklariert von Michel Villey: Rckkehr zur Rechtsphilosophie, in: Das neue Cicerobild, hg. von Karl Büchner. Darmstadt 1971, S. 259 – 303. Zur allgemeinen Definition des Naturrechts siehe Otfried Höffe: Das Naturrecht angesichts der Herausforderung durch den Rechtspositivismus, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedchtnisschrift fr Ren Marcic, hg. von Dorothea MayerMaly und Peter M. Simons. Berlin 1983, S. 303 – 335, dort S. 305: „Das Naturrecht – so die erste These – behauptet, daß es überpositive Grundsätze gibt, die jeder menschlichen Verfügung entzogen sind. Sie sind deshalb – so die zweite These – vorgängig zu jeder gegebenen Rechtsordnung gültig und stellen für diese einen allgemein und unbedingt geltenden Maßstab dar.“ Damit ist der

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Vernunftgesetz gebotenen tugendhaften Leben liegt, also auf der moralischen Pflicht des einzelnen und nicht auf seinem subjektiven Recht,10 kommt im Zusammenhang hiermit doch zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie der Gedanke einer wesentlichen Würde aller Menschen auf, der in gewissem Grade bereits die moderne Menschenrechtsvorstellung antizipiert. Nicht von ungefähr bildet die von den älteren Stoikern ausgearbeitete Theorie der Oikeiosis, die mit ihrer Lehre vom Naturgesetz unauflösbar verbunden ist, auch den Anknüpfungspunkt, von dem aus dann zu Beginn der Neuzeit – von Hugo Grotius (1583 – 1645) – der Begriff natürlicher Individualrechte des Menschen entwickelt wird.11 Maßgeblich weiter tradiert wurde die stoische Naturrechtslehre durch Cicero (106 – 43 v. Chr.),12 was Hans von Arnim dazu veranlaßte, in seiner Fragmentsammlung Stoicorum Veterum Fragmenta ganze Passagen aus Ciceros Schriften, vor allem aus dem ersten Buch von De legibus abzudrucken, um die Ansichten der frühen Stoiker über Recht und Gesetz wiederzugeben. Doch dieses Verfahren erweist sich als fragwürdig, da es Ciceros Eigenständigkeit übersieht: Er ist zwar eindeutig von altstoischem Gedankengut geprägt, wiederholt und systematisiert dieses aber nicht lediglich, sondern geht zugleich in signifikanter Weise universale Charakter des Naturrechts im Sinne seiner gleichen Gültigkeit für alle Menschen angesprochen. Das Naturrecht erweist sich so als aus der allgemeinen Natur des Menschen abgeleitet, wie auch aus der nächsten Bestimmung des Naturrechts als Vernunftrecht hervorgeht, insofern hier die Natur des Menschen als Vernunft-Natur vorausgesetzt wird: „Das Naturrecht bezeichnet jene Grundsätze – so die dritte These –, die sich mit Hilfe der natürlichen Vernunft einsehen lassen. […] Weil es sich um das Recht handelt, insofern es von der Vernunft erkannt wird, heißt es auch Vernunftrecht […].“ (S. 306) 10 Vgl. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte (wie Anm. 6), S. 188 f.: „Die vormodernen Naturgesetzdoktrinen lehrten die Pflichten des Menschen. Wenn sie seinen Rechten überhaupt irgendwelche Beachtung schenkten, dann faßten sie sie als wesentlich von seinen Pflichten abgeleitet auf. Wie oft bemerkt worden ist, wurden im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts die Rechte viel mehr betont, als es jemals zuvor getan worden war. Man kann von einer Verlagerung des Nachdrucks von den natürlichen Pflichten auf die natürlichen Rechte sprechen.“ 11 Vgl. unten, S. 280 f. 12 Vgl. Gerard Watson: The Natural Law and Stoicism, in: Problems in Stoicism, hg. von Anthony Arthur Long. London 1971, S. 216 – 238, dort S. 217 f., der konstatiert, „that for later ages the Stoics were particularly associated with natural law mainly because of one man, Cicero.“ Allerdings übergeht Watson – wie viele andere auch – die wesentlichen Unterschiede zwischen Ciceros Naturrechtslehre und derjenigen der frühen Stoa.

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darüber hinaus, indem er versucht, aus dem noch weitgehend allgemein und inhaltsleer bleibenden Naturgesetz der Stoiker konkrete Normen abzuleiten, nach denen das politische Gemeinwesen zu regieren ist. Mit diesem Versuch einer Positivierung des Naturrechts zieht Cicero Konsequenzen aus der stoischen Lehre vom natürlichen Gesetz, zu denen die Stoiker selbst noch nicht gelangen, da sie letztlich dabei stehen bleiben, das an der Maßstabsnorm des Naturrechts gemessene konkrete Recht bloß negativ zu bewerten und zu verwerfen. Dagegen erscheint Ciceros Konzeption insofern problematisch, als er das Naturrecht in konservativer Absicht ausschließlich mit der überkommenen Rechtsordnung der römischen Republik identifiziert. Erst bei den christlichen Naturrechtsdenkern finden sich dann auch Ansätze zu einer ,Historisierung‘ des Naturrechts. Bevor dies aber im einzelnen herausgestellt werden soll, skizziere ich zunächst die Vorgeschichte der Naturrechtsidee von den Vorsokratikern bis Aristoteles, um auf dieser Folie die Neuartigkeit der stoischen Gedanken hervorzuheben. Den Abschluß meiner Ausführungen bildet ein Ausblick auf die Rezeption und Transformation der stoisch-ciceronischen Naturrechtslehre von den römischen Juristen der Kaiserzeit bis Rousseau.

I. Zur Vorgeschichte des Naturrechtsdenkens – von den Vorsokratikern bis Aristoteles Das Rechts- und Gesetzesdenken der vorsokratischen Philosophie des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. ist durch eine enge Verknüpfung mit der Reflexion über die ganze Natur, den Kosmos, bestimmt. So begreift etwa Anaximander (ca. 610 – 545 v. Chr.) in seinem berühmten Satz über das Apeiron das Werden und Vergehen aller natürlichen Dinge nach dem rechtlichen Muster von Schuld und Vergeltung, Unrecht und Strafe.13 Von besonderer Bedeutung in diesem Kontext ist Heraklits (ca. 540 – 480 v. Chr.) Lehre vom göttlichen Logos als dem alles durchwaltenden, immanenten Grundprinzip des Kosmos.14 Die Weltordnung erscheint bei ihm als von einem einheitlichen Gesetz beherrscht; Physis und Nomos werden miteinander gleichgesetzt. Ein13 Siehe Anaximander: DK 12 B 1 (Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch von Hermann Diels, hg. von Walther Kranz, 3 Bände. Zürich 61951 f.). 14 Zu Heraklits Logos-Philosophie allgemein vgl. Wolfgang H. Pleger: Der Logos der Dinge. Eine Studie zu Heraklit. Frankfurt a.M. 1987.

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deutig nimmt Heraklit damit eine spezifisch stoische Gedankenfigur vorweg. Gleichwohl bestehen auch gravierende Differenzen zur stoischen Naturrechtslehre. Sie betreffen das Verhältnis der menschlichen Gesetze zum göttlichen Gesetz, das Heraklit wie folgt bestimmt: ˜ num\ ˜ p²mtym, fjyspeq mºl\ pºkir, n»m mº\ k´comtar Qswuq¸feshai wqµ t\ ja· pok» Qswuqot´qyr. tq´vomtai c±q p²mter oR !mhq¾peioi mºloi rp¹ 2m¹r toO he¸ou· jqate? c±q tosoOtom bjºsom 1h´kei ja· 1naqje? p÷si ja· peqic¸metai. Wenn man mit Verstand reden will, muß man sich stark machen mit dem allen Gemeinsamen wie eine Polis mit dem Nomos und noch viel stärker. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem einen, göttlichen; denn dieses gebietet, soweit es nur will, und reicht aus für alles und ist sogar noch darüber.15

Heraklit leitet hier die in der Polis geltenden, menschlichen mºloi von dem einen göttlichen Nomos ab, der offenkundig mit dem Logos identisch ist. Dieser gilt ihm somit nicht nur im Sinne des ewig lebendigen Feuers als kosmogonisches Urelement16 oder als höhere Einheit des Gegensätzlich-Widerstreitenden17, sondern zugleich als Ursprung der überkommenen politischen Ordnung, die insofern göttlichnatürlich begründet erscheint. Dem entspricht auch Heraklits Forderung, die Bürgerschaft solle um ihren Nomos kämpfen wie um ihre Stadtmauer.18 Auch wenn Heraklits grundsätzliche Identifikation von Physis und Nomos später eine paradigmatische Leitfunktion für das naturrechtliche Denken der Stoiker erhält, schließt seine Zurückführung aller menschlichen Gesetze auf den einen göttlichen Nomos jedoch die – wesenhaft zu jeder Naturrechtslehre gehörende – Reflexion auf die Möglichkeit eines Konflikts zwischen natürlichem und gesetztem Recht noch völlig aus. Vor dem Hintergrund einer diametralen Entgegensetzung von Physis und Nomos gerät diese Möglichkeit erstmals innerhalb der Sophistik in den Blick.19 Entsprechend der von den Sophisten im weiteren Verlauf des 5. Jh.v.Chr. vollzogenen ,anthropologischen Wende‘ – weg von der göttlichen All-Natur, hin zur individuellen Natur des Menschen – 15 16 17 18 19

Heraklit: DK 22 B 114. Siehe Heraklit: DK 22 B 30, 31. Siehe Heraklit: DK 22 B 51. Siehe Heraklit: DK 22 B 44. Dazu grundlegend Felix Heinimann: Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts. Darmstadt 51987.

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wurde zunehmend zwischen den von Menschen gemachten Gesetzen und der Natur des einzelnen (im weitesten Sinn) unterschieden. Grundsätzlich lassen sich hierbei drei Positionen voneinander abgrenzen.20 Die erste Richtung repräsentiert Protagoras (ca. 485 – 415 v. Chr.), dessen homo-mensura-Satz den relativistischen Standpunkt der Sophisten insgesamt gut zum Ausdruck bringt: „p²mtym wqgl²tym l´tqom 1st·m %mhqypor, t_m l³m emtym ¢r 5stim, t_m d³ oqj emtym ¢r oqj 5stim“ – „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß (wie) sie nicht sind.“21 Entscheidend ist aber, daß Protagoras, obwohl er von diesem Standpunkt aus auch die unbedingte Geltung der überlieferten mºloi in Frage stellt,22 schließlich doch an der Notwendigkeit des Lebens in der Polis sowie an der Möglichkeit einer guten und gerechten Gesetzgebung festhält.23 Dem steht die Ansicht der Sophisten Hippias (ca. 460 – 400 v. Chr.) und Antiphon (ca. 480 – 411 v. Chr.) gegenüber; sie relativieren die mºloi noch stärker, indem sie diese zu Vereinbarungen erklären, die gänzlich der gesetzgeberischen Willkür entspringen. Anders als Protagoras setzt Antiphon den mºloi auf dieser Grundlage bereits die Natur schlechthin entgegen. Während er rät, die Gesetze zwar in der Öffentlichkeit gutzuheißen und zu befolgen, empfiehlt er zugleich, sich doch, sobald man nur unbemerkt ist, von ihnen freizumachen und auf die Stimme der Natur zu hören: dijaios¼mg owm t± t/r pºkeyr mºlila, 1m Ø #m pokite¼gta¸ tir, lµ paqaba¸meim. wq`t’ #m owm %mhqypor l²kista 2aut` nulveqºmtyr dijaios¼m,, eQ let± l³m laqt¼qym to»r mºlour lec²kour %coi, lomo¼lemor

20 Zu dieser Einteilung vgl. Jochen Martin: Zur Entstehung der Sophistik, in: Saeculum 27, 1976, S. 144 – 164, dort S. 160 f.; in ähnlicher Weise gruppiert die Sophisten auch Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (wie Anm. 5), S. 12 – 18. 21 Protagoras: DK 80 B 1. 22 Siehe Platon: Theaitet 172a (Platons Werke werden zitiert nach der Ausgabe von Gunther Eigler. Darmstadt 42005). An dieser Stelle referiert Sokrates die Ansicht des Protagoras: „[…] jak± l³m aQswq± ja· d¸jaia ja· %dija ja· fsia ja· l¶, oXa #m 2j²stg pºkir oQghe?sa h/tai mºlila art0, taOta ja· eWmai t0 !kghe¸ô 2j²st,, ja· 1m to¼toir l³m oqd³m sov¾teqom oute Qdi¾tgm Qdi¾tou oute pºkim pºkeyr eWmai.“ – „[…] das Schöne und Schlechte, das Gerechte und Ungerechte, das Fromme und Unfromme, was in diesen Dingen eine Polis für Meinung faßt und dann feststellt als gesetzmäßig, das ist es nun auch für jede in Wahrheit, und in diesen Dingen ist um nichts weiser weder ein einzelner als der andere, noch eine Polis als die andere.“ 23 Siehe Platon: Protagoras 322e-323a.

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d³ laqt¼qym t± t/r v¼seyr· t± l³m c±q t_m mºlym 1p¸heta, t± d³ t/r v¼seyr !macja?a· ja· t± l³m t_m mºlym blokocgh´mta oq v¼mt’ 1st¸m, t± d³ t/r v¼seyr v¼mta oqw blokocgh´mta. t± owm mºlila paqaba¸mym 1±m k²h, to»r blokoc¶samtar ja· aQsw¼mgr ja· fgl¸ar !p¶kkajtai· lµ kah½m d’ ou·

Gerechtigkeit besteht darin, die gesetzlichen Vorschriften der Polis, in der man Bürger ist, nicht zu übertreten. Es wird also ein Mensch für sich am meisten Nutzen bei der Anwendung der Gerechtigkeit haben, wenn er vor Zeugen die Gesetze hoch hält, allein und ohne Zeugen dagegen die Gebote der Natur; denn die der Gesetze sind willkürlich, die der Natur dagegen notwendig; und die der Gesetze sind vereinbart, nicht gewachsen, die der Natur dagegen gewachsen, nicht vereinbart. Wer also die gesetzlichen Vorschriften übertritt, ist, wenn es ihren Vereinbarern verborgen bleibt, von Schande und Strafe verschont; bleibt es ihnen nicht verborgen, so nicht.24

Obwohl hier strikt zwischen Gesetzes- und Naturgeboten differenziert wird, vertritt Antiphon doch eher eine rechtspositivistische als eine naturrechtliche Position. Für ihn gibt es keine feststehenden Normen jenseits der persönlichen „Natur“ und ihres Nutzenkalküls, angesichts dessen alles zu rechtfertigen ist, was nicht zum eigenen Nachteil führt. Mit dieser eklatant egoistischen Sichtweise nähert sich Antiphon im Grunde schon jener dritten, aristokratischen Spielart des sophistischen Rechtsdenkens an, wie sie von Gorgias (ca. 480 – 375 v. Chr.), Kallikles und Thrasymachos (5. Jh.v.Chr.) repräsentiert wird. Sie argumentieren gegen eine allgemeine Verbindlichkeit der bestehenden mºloi, indem sie diese entweder als Werk der Schwachen (Gorgias/Kallikles25) oder der Starken (Thrasymachos26) entlarven, die jeweils ihren Vorteil dabei suchen. Relativiert Thrasymachos lediglich die Geltung der Gesetze, wenn er sie als Ausdruck partikularer Herrschaftsinteressen interpretiert, so verfolgen Kallikles und Gorgias dagegen eine geradezu umstürzlerische Intention: Der Beliebigkeit menschlicher Gesetze, welche die vielen Schwachen in demokratisch regierten Poleis zu ihrem Schutz 24 Antiphon: DK 87 B 44. Walther Eckstein: Das antike Naturrecht in sozialphilosophischer Bedeutung. Wien/Leipzig 1926, S. 32 – 40, deutet das Fragment als Ausdruck eines utilitaristischen Naturrechts. Dagegen scheint mir die Brücke vom Utilitarismus zum Naturrecht nicht so leicht zu schlagen: Der persönliche Nutzen einer Handlung, dem Antiphon eine ausschlaggebende Bedeutung beimißt, ist gerade kein naturrechtlicher Aspekt, so daß man hier weit eher von einem utilitaristischen Rechtsegoismus sprechen kann. Vgl. auch die ausführliche Interpretation bei Klaus Friedrich Hoffmann: Das Recht im Denken der Sophistik. Stuttgart/Leipzig 1997, S. 186 – 208. 25 Siehe Platon: Gorgias 483b-c. 26 Siehe Platon: Politeia 338e.

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erlassen haben, stellen sie das natürliche Recht des Stärkeren gegenüber, der aufgrund seiner Überlegenheit zur Herrschaft bestimmt sei.27 Der mºlor v¼seyr, wie ihn diese Sophisten denken, hat mit dem, was seit der Stoa unter dem Natur-Gesetz verstanden wird, allenfalls den Namen gemein. Gegen den Relativismus und Subjektivismus des sophistischen (Rechts-)Denkens wenden sich nun zwar Sokrates und Platon; von Sokrates als dem „Urheber der gesamten Tradition der Naturrechtslehren“ bzw. von einer „sokratisch-platonisch-stoische[n] Naturrechtslehre“28 kann indes lediglich in sehr eingeschränktem Sinn gesprochen werden. Wenn Sokrates den mºloi seiner Polis als dem, „was die Bürger […] gemeinsam beschlossen und schriftlich niedergelegt haben darüber, was man tun und wovon man sich fernhalten muß“29, eine solche Achtung entgegenbringt, daß er es schließlich sogar für nötig hält, ihnen auch dann zu folgen, wenn sie Unrecht enthalten, so bestimmt er die Gerechtigkeit (dijaios¼mg) des einzelnen – im Prinzip wie der Sophist Antiphon, nur unter anderem Vorzeichen – primär als Gehorsam gegenüber den positiven Gesetzen.30 Von dieser Auffassung setzt sich die stoische Gerechtigkeitskonzeption, die gerade am überpositiven Naturgesetz der Vernunft orientiert ist, deutlich ab. Auf der anderen Seite kann in Sokrates allerdings insofern tatsächlich ein Vorläufer des stoischen Naturrechtsdenkens gesehen werden, als er die Quelle sittlichen Handelns ins Innere des Menschen verlegt und dieses selbst mit der ,Gesundheit der Seele‘ in Verbindung bringt. Das Daimonion des Sokrates, die göttliche Stimme in seinem Inneren,31 weist so bereits auf die Konzeption des Gewissens (conscientia) voraus, wie sie später dann in Ciceros Bearbeitung der altstoischen Natur-

27 Siehe Platon: Gorgias 483d, wo Kallikles im Anschluß an Gorgias die Meinung vertritt: „B d´ ce, oWlai, v¼sir aqtµ !pova¸mei aw, fti d¸jaiºm 1stim t¹m !le¸my toO we¸qomor pk´om 5weim ja· t¹m dumat¾teqom toO !dumatyt´qou.“ – „Die Natur selbst aber, denke ich, beweist dagegen, daß es gerecht ist, daß der Edlere mehr habe als der Schlechtere und der Tüchtigere als der Untüchtige.“ 28 Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte (wie Anm. 6), S. 123 u. 151. 29 Xenophon: Erinnerungen an Sokrates IV, 4, 13 (hg. von Peter Jaerisch. München 1962). 30 In diesem Zusammenhang vgl. auch Sokrates’ Argumentation gegen eine mögliche Flucht aus Athen angesichts seiner Verurteilung zum Tode (Platon: Kriton 48c). 31 Siehe Platon: Apologie 31c-e, 37e-38a.

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rechtslehre32 und darüber hinaus auch in der jüngeren Stoa, vor allem bei Seneca,33 eine wichtige Rolle spielt. Mit seiner Frage nach der perfekten Polisordnung geht Platon zwar deutlich über seinen Lehrer Sokrates hinaus, doch denkt er noch nicht im universalen Sinne naturrechtlich – was seine eminente Bedeutung für die Entwicklung des Naturrechtsdenkens keineswegs schmälert: Entfaltet er doch vor allem in seinem Hauptwerk, der Politeia, auf der Basis seiner Ideenlehre zum erstenmal in umfassender Weise die Frage, was Recht überhaupt ist und wie es mit der Vernunft-Natur des Menschen zusammenhängt. Doch während diese Frage gleichsam die stoische Problemstellung antizipiert, fällt die Antwort ganz anders aus als in der Stoa. Denn Platon bestimmt das Recht im Sinne der Gerechtigkeit nicht im Hinblick auf die menschliche Gleichheit, sondern als hierarchisches Ordnungsprinzip, das Ungleichheit festschreibt.34 Gerechtigkeit bedeutet für ihn dabei primär das richtige Verhältnis zwischen den unterschiedenen Seelenteilen (Vernunft, Mut, Begehren) im Einzelmenschen, das er zum Modell für das richtige Verhältnis zwischen den entsprechenden drei Menschengruppen (Philosophenherrscher, Wächter, Bauern/Handwerker) innerhalb der Polis macht. Gerecht ist es demnach, daß jeder Seelenteil bzw. jedes Polisglied das ,Seine‘ tut. In bezug auf den internen Kräftehaushalt der einzelnen Seele heißt das: OqjoOm t` l³m kocistij` %qweim pqos¶jei, sov` emti ja· 5womti tµm rp³q "p²sgr t/r xuw/r pqol¶heiam, t` d³ huloeide? rpgjº\ eWmai ja· null²w\ to¼tou […]. Ja· to¼ty dµ ovty tqav´mte ja· ¢r !kgh_r t± art_m lahºmte ja· paideuh´mte pqost¶seshom toO 1pihulgtijoO […].

Nun gebührt doch dem vernünftigen Teil zu herrschen, weil er weise ist und für die gesamte Seele Vorsorge hat, dem mutvollen Teil aber, diesem folgsam zu sein und ihm verbündet […]. Und diese beiden nun, so auferzogen und in Wahrheit in dem Ihrigen unterwiesen und gebildet, müssen dann dem begehrenden Teil vorstehen […].35 32 Vgl. unten, S. 267. 33 Siehe Seneca: Epistulae morales 41, 2 (Senecas Werke werden zitiert nach der Ausgabe von Manfred Rosenbach. Darmstadt 51999): „[…] sacer intra nos spiritus sedet, malorum bonorumque nostrorum observator et custos: hic prout a nobis tractatus est, ita nos ipse tractat.“ – “ […] ein heiliger Geist wohnt in uns, unserer schlechten und guten [Taten] Beobachter und Wächter: wie er von uns behandelt wird, so behandelt er uns.“ 34 Vgl. Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfngen bei den Griechen bis auf unsere Zeit, Band 1: Die Griechen, Teilband 2: Von Platon bis zum Hellenismus. Stuttgart/Weimar 2001, S. 36 f. 35 Platon: Politeia 441e-442a.

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Diese Hierarchie der Seelenteile als gerechte Ordnung im einzelnen Menschen ist nun zwar keineswegs eine solche, die sich immer schon von selbst einstellt und feststeht, d. h. nicht in Unordnung geraten kann, sondern zeigt lediglich ein Verhältnis an, das bestehen soll. Gleichwohl ist es für Platon die natürliche, von der Physis vorgegebene Ordnung; sie ist diejenige, die der Natur der Seele entspricht. Physis in diesem Sinn ist also ein normativer Begriff, der sich ebenfalls auf die polisbezogene Gerechtigkeit anwenden läßt: Auch sie wird von Platon als ,natürliche Gerechtigkeit‘ (t¹ v¼sei d¸jaiom) gefaßt.36 In Analogie zum naturgemäßen Herrschaftsverhältnis der Seelenkräfte im einzelnen beschreibt Platon die gute, wohlgeordnete Polis als Gemeinschaft, in welcher alle Mitglieder in harmonischem Zusammenwirken jeweils das ,Ihre‘ tun: „wqglatistijoO, 1pijouqijoO, vukajijoO c´mour oQjeiopqac¸a, 2j²stou to¼tym t¹ artoO pq²ttomtor 1m pºkei, toqmamt¸om 1je¸mou dijaios¼mg t’ #m eUg ja· tµm pºkim dija¸am paq´woi“ – „Der erwerbenden, beschützenden und beratenden Klasse Geschäftstreue, daß nämlich jede von diesen das Ihrige verrichtet in der Polis, würde das Gegenteil [der Ungerechtigkeit], also Gerechtigkeit sein und die Polis gerecht machen.“37 Signifikant ist dabei, daß und wie Platon von einer natürlichen Ungleichheit der Menschen untereinander – in Parallele zu den verschiedenen Seelenteilen – ausgeht. Nach seiner Vorstellung ist der vernünftige Teil bei den meisten von Natur aus so schwach, daß diese sich bedingungslos den wenigen Weisen unterwerfen müssen, um selbst der gerechten Herrschaft der Vernunft zu unterstehen, was eine ständische Gliederung der Gesellschaft notwendig erscheinen läßt. Für jeden gibt es in ihr die seiner Natur zukommende Stellung, in der zu verharren und deren spezifische Aufgaben für die Polisgemeinschaft zu erfüllen die für die naturgemäße Ordnung konstitutive Gerechtigkeit (dijaios¼mg) erfordert.38 Indem Platon die so beschaffene Polisordnung als ein Idealgebilde entwirft,39 von dem aus er die bestehenden Polisverfassungen einer Kritik unterzieht,40 unter36 Siehe Platon: Politeia 501b; vgl. dazu auch Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen 2006, S. 83. 37 Platon: Politeia 434c. 38 Siehe Platon: Politeia 415c. 39 Siehe Platon: Politeia 592a-b. 40 Siehe Platon: Politeia 544a-545c. Dazu Dorothea Frede: Die ungerechten Verfassungen und die ihnen entsprechenden Menschen, in: Platon. Politeia (Klassiker Auslegen 7), hg. von Otfried Höffe. Berlin 1997, S. 251 – 270.

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scheidet er also zwischen einem politischen Recht, das der Natur entspricht, und einem solchen, das ihr zuwiderläuft und mithin eigentlich gar kein Recht ist. Der formalen Struktur nach handelt es sich bei dieser Unterscheidung um eine für das spätere Naturrechtsdenken fundamentale Differenz, wie sie so zuvor noch nicht gedacht worden ist. Insbesondere die konstituierende und korrigierende Funktion des Naturrechts in bezug auf das positive Recht erscheint hier bereits vorgebildet.41 Inhaltlich steht die von Platon konzipierte Natur-Gerechtigkeit als Organisationsprinzip einer ,Drei-Klassen-Gesellschaft‘ jedoch in deutlichem Widerspruch zu dem erst in der Stoa aufkommenden naturrechtlichen Grundpostulat der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen als Vernunftwesen. Ähnliches trifft auf Aristoteles zu, auch wenn dieser die von ihm entworfene naturgemäße Rechtsordnung des politischen Gemeinwesens – scheinbar ganz anders als Platon – explizit auf die Gleichheit der Bürger bezieht. Eine etwas nähere Betrachtung seines Rechtsverständnisses zeigt indes, daß und weshalb auch Aristoteles nicht als Begründer des Naturrechts gelten kann. Gemäß seiner Auffassung handelt es sich beim Menschen um ein von Natur aus auf die Polis bezogenes Wesen (f`om pokitijºm),42 wobei Natur hier im teleologischen Sinn als Ziel und Vollendungszustand zu verstehen ist. Nur in der Polis, so die anthropologische Voraussetzung, kann der Mensch seinen höchsten und eigentlichen Daseinszweck erreichen: das glückliche, gute Leben (ew f/m) in einer Gemeinschaft von freien Bürgern, die alle gleichen Anteil am Herrschen und Beherrschtwerden haben.43 Von hier aus ist auch das Polis-Recht zu verstehen, das die Beziehungen zwischen den Bürgern regeln soll.44 In einer vieldiskutierten Passage der Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles zwischen dem natürlichen Recht, das notwendig in jeder Polis gilt, und dem gesetzlichen Recht, das Resultat willkürlicher Festlegung ist: 41 Vgl. Ada Neschke-Hentschke: Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts (wie Anm. 7), S. 64: „Das Naturrechtsdenken, das Plato damit in die Welt gesetzt hat, besteht also darin, für die politische Ordnung ein von sich aus, ein von Natur her bestehendes Ordnungsprinzip zum Vorbild zu nehmen und dieses zum metapositiven Ziel einer positiven Gesetzgebung zu erheben, mit anderen Worten, die menschliche Ordnung an der natürlichen Ordnung, das ,von Natur Rechte‘ genannt, zu orientieren.“ 42 Siehe Aristoteles: Politik I, 2, 1153a 1 – 2. 43 Siehe Aristoteles: Politik III, 6, 1279a 9 – 22. 44 Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 10, 1134a 26 – 30.

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ToO d³ pokitijoO dija¸ou t¹ l³m vusijºm 1sti t¹ d³ molijºm, vusij¹m l³m t¹ pamtawoO tµm aqtµm 5wom d¼malim, ja· oq t` doje?m C l¶, molij¹m d³ d 1n !qw/r l³m oqd³m diav´qei ovtyr C %kkyr […].

Das politische Recht zerfällt in das natrliche und in das gesetzliche. Natürlich ist jenes, das überall [in jeder Polis] die nämliche Geltung hat, unabhängig davon, ob es den Menschen gut scheint oder nicht; gesetzlich jenes, dessen Inhalt ursprünglich indifferent ist […].45

Ohne auf sämtliche Schwierigkeiten einzugehen, die sich aus dem hier und im weiteren von Aristoteles Gesagten ergeben mögen, sei an dieser Stelle nur festgehalten, daß das vusij¹m d¸jaiom offenkundig die Polisdefinition selbst tangiert. Und da Aristoteles die Polis als auf das NaturTelos des Gemeinwohls und -glücks bezogene Gemeinschaft zwischen Freien und Gleichen bestimmt, ist deren natürliches Recht wesentlich ein Gleichheits-Recht, d. h. ein Recht, das die Gleichheit (Qsºtgr) der freien Polisbürger gewährleistet. Dies wird auch aus Aristoteles’ Definition der Gerechtigkeit deutlich. Sie entscheidet nach ihm darüber, was „rechtmäßig“ (d¸jaior) ist,46 und zwar tut sie dies als eine genuin sozialethische Kategorie, die über Platons ,individualpsychologisch‘ fundierten und ,herrschaftssoziologisch‘ gewendeten, aber auch über Sokrates’ an den Gesetzen orientierten Gerechtigkeitsbegriff hinausgeht und bereits auf den egalitären der Stoa vorausweist, indem sie (als „besondere“ im Unterschied zur „allgemeinen“ Gerechtigkeit) als Garantin der Gleichheit der Polisbürger gefaßt wird.47 45 Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 10, 1134b 18 – 22 (griechischer Text zitiert nach der Ausgabe von Ingram Bywater. Oxford 1894 ff.; deutscher Text zitiert nach der Ausgabe von Eugen Rolfes und Günther Bien. Hamburg 1995); siehe auch Rhetorik I, 13, 1373b 4 – 24 sowie Magna Moralia I, 33, 1194b 28 – 1195a 7. Zur unterschiedlichen Deutung des „natürlichen Rechts“ bei Aristoteles siehe Michel Villey: Deux conceptions du droit naturel dans l’antiquit, in: Revue historique de droit français et étranger 31, 1953, S. 475 – 497; Hans Kelsen: Die Grundlage der Naturrechtslehre, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 13, 1964, S. 1 – 37, bes. S. 1 – 26; Joachim Ritter: ,Naturrecht‘ bei Aristoteles, in: J.R.: Metaphysik und Politik. Frankfurt a.M. 1977, S. 133 – 179; Klaus Martin Girardet: ,Naturrecht‘ bei Aristoteles und Cicero (De legibus): Ein Vergleich, in: Cicero’s Knowledge of the Peripatos, hg. von William W. Fortenbaugh und Peter Steinmetz. New Brunswick/New Jersey 1989, S. 114 – 132, dort S. 118 – 122; Heinz-Gerd Schmitz: Von der Wandelbarkeit natrlichen Rechts. berlegungen zur Aristotelischen Praktik, in: Philosophisches Jahrbuch 107, 2000, S. 116 – 132. 46 Aristoteles: Politik I, 2, 1253a, 38. 47 Zur Definition der Gerechtigkeit als allgemeine – gesetzliche – und besondere – gleichheitliche – Gerechtigkeit siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 2,

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Doch weshalb muß dann trotzdem gesagt werden, daß auch Aristoteles’ Lehre vom natürlichen Recht keine Naturrechtslehre im eigentlichen Sinn darstellt? Die Antwort darauf liegt bereits in dem stark eingeschränkten Begriff des Polisbürgers, den Aristoteles bei all seinen Überlegungen vor Augen hat.48 Freiheit und Gleichheit, damit auch die Teilhabe am natürlichen Recht der Polis, kommen nicht allen Menschen zu, die in ihr leben, sondern nur einer bestimmten Klasse: denjenigen volljährigen Männern, die aus der Polis stammen und begütert genug sind, um sich ganz den Polisangelegenheiten widmen zu können. Frauen, Kinder und vor allem Sklaven bleiben davon ausgeschlossen, weshalb auch zwischen ihnen und den freien Bürgern, denen sie (zu)gehören, rechtliche Verhältnisse lediglich in übertragener Bedeutung bestehen.49 Insbesondere die von Aristoteles vertretene These des ,Sklaven von Natur‘ (v¼sei do¼koi) steht dem Gedanken eines aus dem menschlichen Vernunft-Wesen resultierenden, allgemeingültigen Naturrechts diametral entgegen und wird denn auch von der stoischen Naturrechtslehre entschieden abgelehnt. Indem Aristoteles einigen Menschen die Fähigkeit zum Gebrauch der Vernunft abspricht und daraus schlußfolgert, sie seien von Natur aus zu lebendigen Werkzeugen bestimmt,50 geht er letztlich wie Platon von einer natürlichen Ungleichheit der Menschen aus. Dies führt jedoch angesichts seiner Definition des Menschen als eines auf das Polis-Leben ausgerichteten Vernunftwesens zu dem offenkundigen Selbstwiderspruch, daß einige Menschen eben keine (vollwertigen) Menschen sind.

II. Die altstoische Lehre vom Vernunft-Gesetz der Natur als Begründung eines universalen Naturrechts Die genuine Begründung des Naturrechtsdenkens in der Philosophie der frühen Stoa knüpft an die soeben skizzierte Tradition des Rechtsund Gesetzesdenkens in der älteren griechischen Philosophie an. Dabei 1129a-31b; vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (wie Anm. 36), S. 115 – 120. 48 In der Forschung wird sonst oft darauf hingewiesen, daß Aristoteles die für das Naturrechtsdenken konstitutive Entgegensetzung zwischen natürlichem und positivem Recht gar nicht kenne, jenes vielmehr als einen Teil von diesem begreife und außerdem das natürliche Recht für veränderlich halte. 49 Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 10, 1134b 9 – 16. 50 Siehe Aristoteles: Politik I, 5, 1254b 16 – 23.

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kombinieren die Stoiker gewissermaßen die Lehren Platons und Aristoteles’ mit denen der Vorsokratiker, vor allem Heraklits,51 aber auch mit denen der Sophisten.52 Im einzelnen ist es die platonisch-aristotelische Konzeption eines von Natur Rechten, die sie, inhaltlich entscheidend modifiziert, mit der monistisch-pantheistischen Logosphilosophie Heraklits und zugleich mit der sophistischen Relativierung der geltenden Gesetze verbinden. Die stoische Moral- und Rechtsphilosophie erfährt dadurch eine kosmologische Fundierung, wie sie die klassische griechische Philosophie nicht mehr kannte. Anders als für Heraklit gelten die menschlichen mºloi den Stoikern allerdings nicht mehr generell als Ausfluß des einen göttlichen Nomos; vielmehr unterscheiden sie gerade scharf zwischen dem Weltgesetz und den menschlichen Gesetzen, modern gesprochen: zwischen natürlichem und positivem Recht. Hinzu kommt, daß die Stoiker zum erstenmal innerhalb der Geschichte der abendländischen Philosophie nicht nur polis- bzw. bürgerbezogen, sondern dezidiert menschheitsbezogen über Recht und Gerechtigkeit philosophieren, so daß ein in jeder Hinsicht universales Naturrecht erst von ihnen begründet werden konnte. Dieser universale Ausgriff stoischen Denkens hat auch sozialgeschichtliche Gründe: Läßt sich die Polisphilosophie des Aristoteles noch als ein Versuch lesen, die zeitgenössische Krise der Polis durch deren theoretische Nobilitierung zu überwinden, so ist die um 300 v. Chr., also etwa zwei Jahrzehnte nach Aristoteles’ Tod (322 v. Chr.), von Zenon begründete Stoa schon vollends vom Niedergang der griechischen Poliswelt und der Etablierung der hellenistischen Großreiche in der Nachfolge Alexanders des Großen (356 – 323 v. Chr.) geprägt, was zusätzlich eine Öffnung des Blicks über die engen Grenzen der Polis hinaus bewirkte.53 51 Dazu Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. Darmstadt 21995, S. 22 f. 52 Vgl. Walther Eckstein: Das antike Naturrecht in sozialphilosophischer Beleuchtung (wie Anm. 24), S. 103 f. 53 Reimar Müller: Die Staatsauffassung der frhen Stoa, in: R.M.: Polis und Res publica. Studien zum antiken Gesellschafts- und Geschichtsdenken. Weimar 1987, S. 284, deutet das Naturrechtsdenken der Stoiker auch aus dem zeitgenössischen Bedürfnis nach fester Orientierung: „Es handelt sich um eine Reaktion auf den Zerfall gültiger Normen der Polisgesellschaft und um den Versuch, Normen zu gewinnen, die über den Rahmen einer Polis bzw. der Gesamtheit der griechischen Poleis hinaus gültig sind.“

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Mit ihrer Lehre vom kosmischen Naturgesetz lösen die Stoiker nun zwar die alte sophistische Antithese zwischen Physis und Nomos auf, indem sie beide Begriffe wieder, wie einst schon Heraklit, synonym verwenden.54 Der Nomos verliert so seine primär politische Bedeutung, die er auch bei Platon und Aristoteles noch hatte, und avanciert erneut zum kosmologischen Grundprinzip. Zugleich aber wird die kritische Haltung der Sophisten gegenüber den menschlichen mºloi von den Stoikern grundsätzlich bewahrt, indem sie diese als bloß relative h´seir weiterhin der Physis entgegensetzen.55 Allerdings fungiert deren Nomos selbst bei ihnen jetzt ausdrücklich als schlechthin – zu jeder Zeit und an jedem Ort – feststehende Norm, an der sich das menschliche Verhalten orientieren muß, um als gut und gerecht beurteilt werden zu können. Bereits Zenon spricht in dieser Weise vom göttlichen Weltgesetz, welches das Rechte befiehlt und das Unrechte verbietet.56 Er stellt es sich weiterhin als naturimmanente Vernunft vor, als kºcor speqlatijºr, der als „im Stoff enthaltene[r] Logos die Konstitutionsfaktoren aller Dinge und die Ursachen alles […] Geschehens in sich“57 trägt. Dies zeigt schon, daß und wie in der Philosophie der Stoa Kosmologie und Ethik unauflöslich miteinander verbunden sind und somit ein NaturRecht begründen: Aus dem Naturgesetz der göttlichen Allvernunft ergeben sich unmittelbar auch die sittlichen Gebote, denen das Handeln des Menschen untersteht und welche allein bestimmen, was ,recht‘ ist. Im Zeushymnus des Kleanthes findet dies seinen Ausdruck, indem Zeus hier als „Herrscher der Natur“ (v¼seyr !qwgcºr) apostrophiert wird, der alles nach dem Nomos lenkt (V. 2) und gemäß dem Logos einrichtet (V. 12); der Mensch dagegen erscheint als das einzige sterbliche Wesen, 54 In dieser stoischen Gleichung Nomos = Physis sieht Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Wrde. Frankfurt a.M. 21980, S. 26, den eigentlichen Auftakt des abendländischen Naturrechtsdenkens: „Physis war nun nicht mehr Gegensatz, sondern Synonym für Nomos – als den rechten, den universal fundierten. Dadurch gelang erst die dauernde, keineswegs mühelose Verbindung der Begriffe Natur und Recht zur Parole Naturrecht, es gelang zum erstenmal das Pathos Naturrecht.“ 55 Siehe dazu auch Chrysipp: SVF III, 308; Diogenes Laertius VII, 128: „v¼sei te t¹ d¸jaiom eWmai ja· lµ h´sei, ¢r ja· t¹m mºlom t¹m aqh¹m kºcom […].“ – „Das Recht besteht […] von Natur und nicht durch menschliche Satzung, wie auch das Gesetz und die rechte Vernunft […].“ 56 Siehe Zenon: SVF I, 162; Cicero: De natura deorum I, 36: „Zeno […] naturalem legem divinam esse censet eamque vim obtinere recta imperantem prohibentemque contraria.“ 57 Paul Barth und Albert Goedeckemeyer: Die Stoa. Stuttgart 61946, S. 19.

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das an diesem Logos Anteil hat, jedoch zugleich durch „Torheit“ (%moia) das göttliche Gesetz mißachten, auf den Abweg des Bösen geraten und Unrecht tun kann (V. 18 ff.).58 Am deutlichsten wird die Universalisierung des derart mit der Physis und dem Logos identifizierten Nomos, der gleichzeitig als Maßstab für das Gute und Rechte fungiert, bei Chrysipp, welcher dementsprechend auch den ganzen Kosmos als eine einzige große Polis bezeichnet hat. Deren Nomos, das die ,Megalopolis‘ bzw. ,Kosmopolis‘ durchwaltende Gesetz, begreift er dabei als Singularetantum – es ist nur ein einziges Gesetz,59 das er den vielen verschiedenen Gesetzen, die sich die Menschen selbst gegeben haben, gegenüberstellt und als den wahren Bewertungsmaßstab für diese faßt, sofern ausschließlich durch es festgelegt wird, was gut und (ge)recht ist. Dies geht insbesondere aus der bei dem römischen Juristen Marcian überlieferten Eröffnungspassage von Chrysipps Werk über den Nomos hervor, in welcher der Stoiker auf Pindars Hymnus an den mºlor basike¼r anspielt, um den hohen Rang des Nomos zu betonen: b mºlor p²mtym 1st· basike»r he¸ym te ja· !mhqyp¸mym pqacl²tym·de? d³ aqt¹m pqost²tgm te eWmai t_m jak_m ja· t_m aQswq_m ja· %qwomta ja· Bcelºma, ja· jat± toOto jamºma te eWmai dija¸ym ja· !d¸jym ja· t_m v¼sei pokitij_m f`ym pqostajtij¹m l³m ¨m poigt´om, !pacoqeutij¹m d³ ¨m oq poigt´om.

Der Nomos ist König über alles, über göttliche und menschliche Dinge. Er muß die Autorität sein, die bestimmt, was sittlich schön und schlecht ist, muß Herr und Führer sein für die von Natur zur politischen Gemeinschaft veranlagten Wesen und demzufolge die Richtschnur abgeben für das, was gerecht und ungerecht ist, indem er befiehlt, was getan werden soll, und verbietet, was nicht getan werden darf.60

Was das Gute und Rechte ist, folgt demnach also nicht aus den von Menschen erlassenen unterschiedlichen Gesetzen, sondern aus dem natürlichen, immer und überall gleich geltenden Gesetz, das auch Chrysipp mit der Vernunft des höchsten Gottes verbindet.61 Hans 58 Siehe Kleanthes: SVF I, 537; Stobaeus: Eclogae I 1, 12 p. 25, 3. 59 Siehe Chrysipp: SVF III, 323; Philo: De Josepho Vol. II Mang. p. 46: „B l³m c±q lecakºpokir fde b jºslor 1st· ja· liø wq/tai pokite¸ô ja· mºl\ 2m¸.“ – „Der Kosmos ist die Polis im Großen und verfügt über eine einzige Verfassung und einen einzigen Nomos.“ 60 Chrysipp, SVF III, 314; Marcian: Institutiones I. 61 Siehe Chrysipp: SVF III, 326; Plutarch: De Stoicorum repugnantiis cp. 9 p. 1035c: „oq c²q 1stim erqe?m t/r dijaios¼mgr %kkgm !qw¶m, oqd’ %kkgm c´mesim, C

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Welzel hat darauf aufmerksam gemacht, daß hier die Wurzel der für die christliche Naturrechtslehre des Mittelalters grundlegenden Unterscheidung zwischen lex aeterna, lex naturalis und lex humana liegt.62 Allerdings muß dazu bemerkt werden, daß für die Stoiker dasjenige, was christliche Naturrechtstheoretiker wie Augustinus oder Thomas von Aquin als lex aeterna und lex naturalis deutlich gegeneinander abgrenzen, gerade zusammenfällt: Das ewig-göttliche Gesetz gilt den Stoikern, ihrem pantheistischen Monismus entsprechend, als schlechthin mit dem Gesetz der Natur identisch. Streng zu unterscheiden ist dieses lediglich von den menschlichen Gesetzen, welche von sich aus noch gar keine echte Verbindlichkeit besitzen und allererst durch die Orientierung an dem einen, unveränderlichen Nomos zu gerechten und damit rechtmäßigen Gesetzen werden können, ansonsten aber sämtlich nur ,Zusätze‘ zu diesem bleiben.63 Doch was genau gebietet das Natur-Gesetz nach stoischer Vorstellung den Menschen eigentlich? Da die Stoiker als Naturrechtsdenker nicht grundsätzlich zwischen Recht und Moral unterscheiden, jenes vielmehr aus dieser ableiten, fungiert das Gesetz der Natur zunächst als Norm für das sittliche Handeln des einzelnen. Was zwischen den Menschen als Recht und Gerechtigkeit gilt, bestimmt sich maßgeblich von hier aus. Bevor zu zeigen ist, daß und wie dieser individualethische Ansatz in seiner spezifischen Ausprägung die stoische Naturrechtslehre letztlich auch in die Aporie führt oder doch zumindest inkonsequent erscheinen läßt, ist er selbst noch näher zu charakterisieren. Die erste Frage lautet also, was das Natur-Gesetz dem einzelnen Menschen vorschreibt. Darauf gibt der Zeushymnus des Kleanthes einen entscheidenden Hinweis. Denn wenn hier die Abweichung vom göttlichen Nomos ( !josl¸a), in der das sittlich Schlechte besteht, als bloßer „Unverstand“ qualifiziert wird, dann folgt daraus ex negativo, daß die Befolgung jenes Gesetzes – und mit ihr das sittlich Gute – durch die rechte Vernunft (aqh¹r kºcor) bedingt ist. Tugend und Wissen werden hier also in sokratischer Weise enggeführt: Der Tor ist nicht eigentlich ,böse‘, ihm fehlt vielmehr nur die rechte Vernunft, er verfehlt sein tµm 1j toO Di¹r ja· tµm 1j t/r joim/r v¼seyr“ – „Man kann für die Gerechtigkeit kein anderes Prinzip und keinen anderen Ursprung finden als den aus Zeus und der allgemeinen Natur.“ 62 Vgl. Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (wie Anm. 5), S. 39. 63 Siehe Chrysipp: SVF III, 323; Philo: De Josepho Vol. II Mang. p. 46.

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eigenes Wesen.64 Zugrunde liegt dem die stoische Anthropologie mit ihrer fundamentalen Annahme der menschlichen Sonderstellung im Kosmos, der zufolge er als einziges endliches Wesen am Logos des göttlichen Weltgesetzes partizipiert. So bestimmen die Stoiker die Natur des Menschen als eine Doppel-Natur, die Animalisches und Göttliches in sich vereinigt, wobei die Hierarchie zwischen den beiden Naturen klar ist: Der individuelle Logos des Menschen hat über seine animalische Natur zu herrschen. Konkret heißt das, daß sämtliche Triebe und Leidenschaften der Vernunft unterworfen werden müssen. Ideal des sittlichen Handelns ist demnach der (stoische) Weise, der seinen Logos voll ausgebildet hat „und damit sein Leben dem großen Gesetz unterordnet, das den ganzen Kosmos durchwaltet wie ihn selbst.“65 Er steht dem Toren gegenüber, welcher, wie es bei Kleanthes weiter heißt, zwar auch das Gute erstrebt, es jedoch verkennt, indem er es mit äußeren Dingen wie Ruhm, Gewinn oder gar sinnlicher Lust verwechselt (V. 24 – 33).66 Damit bleibt dem Toren auch das wahre Glück verwehrt, welches allein der Weise zu erlangen vermag. Denn dieses besteht nach stoischer Auffassung wesentlich in einer freien, selbstbestimmten Existenz unter der Leitung der Vernunft, die den Menschen vor unheilvoller Abhängigkeit von seinen Trieben bewahrt. Das Daseinsziel der Eudaimonia, als welches sich folglich das vom Naturgesetz Gebotene erweist, wird von Zenon entsprechend als ein Leben in Übereinstimmung – mit dem Logos – (blokocoul´myr f/m) 67 definiert und von Kleanthes und Chrysipp später als ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur (blokocoul´myr t0 v¼sei f/m) 68 präzisiert, indem sie die ältere Telosformel dahingehend erweitern, daß sie deren nur etymologischen 64 Vgl. Ernst Neustadt: Der Zeushymnos des Kleanthes, in: Hermes 66, 1931, S. 387 – 401, dort S. 391: „In breiter Ausmalung […] schildert der Dichter das Treiben der Schlechten, die sich der Weltvernunft entziehn, die Wurzel des Übels Triebverblendung, %moia, seine Wirkung !josl¸a, der Mensch taumelt von Begierde zum Genuß und verschmachtet im Genuß nach Begierde, er hört auf, das zu sein, was er seiner Herkunft nach ist, ein fkou l¸lgla, denn der Kosmos ist der Inbegriff fest in sich ruhender Autarkie.“ 65 Albin Lesky: Zum Gesetzesbegriff der Stoa, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 2, 1950, S. 586 – 599, dort S. 595. 66 Vgl. Ernst Neustadt: Der Zeushymnos des Kleanthes (wie Anm. 64), S. 395: „[…] sie alle werden unglücklich, die vom Trieb besessen sind, heiße er Geltungstrieb, Gewinnsucht, Sinnlichkeit, der Trieb jagt sie weiter und weiter, und sie finden das Gegenteil von dem ,Guten‘, das sie suchten – Befriedigung.“ 67 Siehe Zenon: SVF I, 179; Stobaeus: Eclogae II p. 75, 11 W. 68 Siehe Chrysipp: SVF III, 5; Commenta Lucani lib. II 380 p. 73 Us.

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Bezug auf den Logos (blo-kocou-l´myr) durch den – bei ihnen – gleichbedeutenden Physis-Begriff noch ausdrücklich anzeigen.69 Auch die Stoiker denken mithin telos-orientiert wie Aristoteles, und Parallelen zu Platons Lehre von der relationalen Harmonie der Seelenvermögen unter Leitung der Vernunft sind dabei ebenfalls offenkundig. Was allerdings die stoische Anthropologie und Ethik von derjenigen Platons und Aristoteles’ fundamental unterscheidet, ist ihre Ausrichtung auf die allgemeine Menschennatur, die eben ausdrücklich alle Menschen mit einschließt und keine feststehenden (intellektuellen) Unterschiede zwischen ihnen kennt. Der Logos, in Übereinstimmung mit welchem es zu leben gilt, kommt dem Menschen als solchen zu, jeder hat nach stoischer Auffassung die Fähigkeit, dieses Ziel zu erreichen, auch wenn es – vor allem aufgrund der Macht verderblicher Außeneinflüsse – nur sehr wenige sind, die tatsächlich so weit kommen, so daß Weise und Toren einander gegenüberstehen. Gegen Aristoteles heißt es in diesem Sinn sehr deutlich von stoischer Seite, daß kein Mensch von Natur Sklave sei.70 Chrysipp leitet dies aus der Aufgabe ab, die ihm zufolge jedem Menschen gerade durch die Natur auferlegt ist: sich zum vernunftgemäßen Leben zu erheben und sich in eins damit dem göttlichen Gesetz der Allnatur zu fügen.71 Alle Menschen sind demnach ausnahmslos von Natur aus zu der inneren Freiheit bestimmt, wie sie die Existenz des Weisen charakterisiert, der sich allein der Vernunft unterstellt. Diese innere, einzig wahre Freiheit kann auch mit äußerlicher Unfreiheit einhergehen, während umgekehrt der Tor als der Böse, Schlechte selbst dann, wenn er äußerlich in Freiheit lebt, ein

69 Vgl. dazu Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen 6 1984, S. 117: „Tatsächlich war der Gedankengehalt, den Zenon in das eine Wort blokocoul´myr hineingelegt hatte, fast zu schwer, um von ihm getragen zu werden. Das Wort war im Sprachgebrauch abgeschliffen. Der gewöhnliche Grieche verstand es einfach als ,übereinstimmend‘, und einen Zusammenhang mit Logos fühlte er kaum.“ Vgl. auch Maximilian Forschner: Die stoische Ethik (wie Anm. 51), S. 164 f. 70 Siehe Chrysipp: SVF III, 352; Philo: De septenario p. 283 Vol. II Mang.: „%mhqypor c±q 1j v¼seyr doOkor oqde¸r.“ 71 Siehe Chrysipp: SVF III, 4; Diogenes Laertius VII, 89: „v¼sim d³ Wq¼sippor l³m 1najo¼ei, Ø !joko¼hyr de? f/m t¶m te joimµm ja· Qd¸yr tµm !mhqyp¸mgm.“ – „Unter der Natur aber, der gemäß man Leben muß, versteht Chrysipp sowohl die allgemeine wie auch die eigentümliche menschliche Natur.“

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Gefangener (seiner Triebe, Begierden, Leidenschaften) ist.72 Bis in die jüngere Stoa hinein, vor allem bei Seneca73 (ca. 4 v.Chr.–65 n. Chr.) und Epiktet74 (ca. 50 – 140), der selbst ein freigelassener Sklave war, bleiben diese Gedanken wirksam. Hier wird zwar ebenso wenig wie in der älteren Stoa die konkrete Abschaffung der Sklaverei selbst gefordert, aber immer wieder eine philanthropische Haltung gegenüber den Sklaven angemahnt, die ebenso Menschen göttlichen Ursprungs seien wie alle anderen auch. Mit dieser Annahme einer prinzipiellen Gleichheit aller Menschen, die in ihrer Artnatur als Vernunftwesen mit derselben Fähigkeit und Bestimmung zur Ausbildung der Vernunftanlage gründet, weitet sich nun auch die stoische Individualethik zur Sozialethik, gewinnt das göttliche Naturgesetz eine spezifische Bedeutung für den Umgang der Menschen miteinander. Insbesondere geht damit die stoische Vorstellung von der Welt als der Polis im Großen, der durch das eine Vernunftgesetz regierten Kosmopolis, einher. Als universale Rechtsgemeinschaft kennt diese keine nationalen Grenzen, sie unterscheidet nicht etwa zwischen Griechen und ,Barbaren‘, sondern erstreckt sich auf alle Menschen (und Götter) 75, insofern sie Anteil an der einen Weltvernunft haben. Nach Ansicht der Stoiker ist der Mensch dabei von Natur aus auf eine solche Gemeinschaft der Vernunftwesen bezogen und angewiesen, indem er nur in ihr sittlich tätig sein und so das Ziel des logos-gemäßen Lebens erreichen kann. Dem entspricht auch, daß 72 Siehe Chrysipp: SVF III, 355; Diogenes Laertius VII, 121; eingehend dazu Andrew Erskine: The Hellenistic Stoa: political thought and action. London 1990, S. 43 – 63. 73 Siehe Seneca: De beneficiis III, 28, 4: „Servum tu quemquam vocas libidinis et gulae servus et adulterae, immo adulterarum commune mancipium?“ – „Einen Sklaven nennst du jemanden, du, der Wollust und der Kehle Sklave und deiner Buhlerin, nein, deiner Buhlerinnen gemeinsames Eigentum?“ 74 Siehe Epiktet: Encheiridion 14 (hg. von Rainer Nickel. Düsseldorf 2006): „nstir owm 1ke¼heqor eWmai bo¼ketai, l¶te hek´ty ti l¶te veuc´ty ti t_m 1p’ %kkoir· eQ d³ l¶, douke¼eim !m²cjg.“ – „Wer aber frei sein will, der darf weder erstreben noch meiden, was in der Macht eines anderen steht. Sonst wird er zwangsläufig zum Sklaven.“ 75 Siehe Cicero: De finibus III, 64 (hg. von Olof Gigon und Laila StraumeZimmermann. München/Zürich 1988): „mundum autem censet regi numine deorum, eumque esse quasi communem urbem et civitatem hominum et deorum, et unum quemque nostrum eius mundi esse partem […].“ – „Von der Welt lehren sie [die Stoiker], daß sie durch die Götter verwaltet wird und daß sie sozusagen die gemeinsame Stadt und den gemeinsamen Staat der Menschen und Götter darstellt; jeder von uns ist ein Teil dieser Welt […].“

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die Stoa den Menschen nicht mehr wie Aristoteles ausschließlich als ein auf die freie griechische Polis bezogenes Wesen (f`om pokitijºm), sondern als ein auf Gemeinschaft im weitesten Sinn bezogenes Wesen (f`om joimymijºm) bestimmt.76 Dies ergibt sich vor allem aus der stoischen Oikeiosislehre, welche die sittliche Bestimmung des Menschen aus seiner ursprünglichen sinnlichen Disposition abzuleiten sucht.77 Dabei unterscheidet die Stoa zwei fundamentale Momente innerhalb der natürlichen Grundausstattung des Menschen: den Selbsterhaltungs-78 und den Sozialtrieb79. Diese naturalen Triebe hat der Mensch zwar noch mit anderen animalischen Wesen gemein, sie machen noch nicht seine eigentliche Natur aus. Allerdings sind sie beim Menschen von vornherein durch die vorhandene Vernunftanlage bestimmt, auf die Entfaltung des Logos ausgerichtet, welche nach Meinung der Stoiker ab dem 7. Lebensjahr allmählich beginnt, wenn sie zunächst auch nur zu gewissen ,Vorgriffen‘ (pqok¶xeir) in bezug auf das der animalischen Natur Zuträgliche und für sie ,Gute‘ führt. Im weiteren Verlauf der menschlichen Entwicklung richtet sich die Oikeiosis jedoch – idealerweise – zunehmend auf den Logos als die spezifische Natur des Menschen selbst, und sein Streben wendet sich der Vernunft sowie dem ihr Gemäßen, dem sittlich Guten, zu.80 Dementsprechend erfährt dann auch der natürliche menschliche Gemeinschaftstrieb eine logos-gemäße Modifikation, die ihn über den Sozialtrieb der Tiere deutlich hinaushebt. In konzentrischen Kreisen weitet sich sonach die auf die Mitmenschen bezogene Oikeiosis von der Liebe zur eigenen Nachkommenschaft allmählich über die sonstigen Angehörigen bis schließlich auf die gesamte Menschheit aus, und zwar nicht etwa nur aufgrund der biologischen Gemeinsamkeit der Lebensweise, durch welche der Sophist Antiphon etwa noch die Gleichheit der

76 Siehe Chrysipp: SVF III, 346; Origenes: Contra Celsum VIII 50 Vol. II p. 265, 22 Kö. 77 Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik (wie Anm. 51), S. 142. 78 Siehe Chrysipp: SVF III, 178; Diogenes Laertius VII, 85 f. 79 Siehe Cicero: De finibus III, 62 – 64. 80 Siehe Chrysipp: SVF III, 178; Diogenes Laertius VII 85: „toO d³ kºcou to?r kocijo?r jat± tekeiot´qam pqostas¸am dedol´mou t¹ jat± kºcom f/m aqh_r c¸meshai to¼toir jat± v¼sim. tewm¸tgr c±q oxtor 1pic¸metai t/r bql/r.“ – „Da

aber den Vernünftigen die Vernunft zu vollkommener Führung verliehen sei, so sei das vernunftgemäße Leben die richtige Entwicklung des naturgemäßen Lebens; denn die Vernunft wird zur eigentlichen Bildnerin des Triebs.“

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Menschen begründen wollte,81 sondern aufgrund der allen gemeinsamen Vernunft, welche auf die gleiche göttliche Abkunft und innere Würde eines jeden verweist. Bei Cicero schlägt sich dies später in der emphatischen Forderung nieder, daß überhaupt kein Mensch dem anderen fremd erscheinen dürfe, allein schon darum, weil er ebenfalls ein Mensch ist.82 Die Oikeiosis im Sinne dieser natürlichen Wohlgeneigtheit zwischen allen Menschen bildet nun auch die Grundlage für die soziale Tugend der Gerechtigkeit. Die stoische dijaios¼mg geht also nicht etwa aus einer nachträglichen menschlichen Vereinbarung hervor, sie ist, anders als etwa für den Hedoniker Epikur oder den Skeptiker Karneades, kein Produkt von Nützlichkeitserwägungen, um dem grenzenlosen Egoismus der Einzelindividuen Einhalt zu gebieten, sondern gehört zu der am göttlichen Logos partizipierenden Vernunft-Natur des Menschen, die von sich aus schon „die Verfangenheit der Subjekte in partikularisierende Egozentrik auf ein gemeinsames Gesetz ( joim¹r mºlor) hin transzendiert“83. Gerecht-Sein bedeutet für die Stoiker eine Pflicht ( jah/jom), die unabhängig von den menschlichen Gesetzen besteht, weil sie aus dem Vernunftgesetz selbst folgt. Als Tugend ( !qet¶) kommt die Gerechtigkeit demnach aber in vollem Umfang allein dem Weisen zu, dem Menschen also, dessen Logos ,aufrecht‘ und ,gesund‘ ist. Doch was verstehen die Stoiker näherhin unter Gerechtigkeit? Nach der bei Plutarch überlieferten Tugendlehre Zenons84 bildet sie eine von vier verschiedenen Tugendarten, die allerdings dergestalt zusammengehören, daß sie je nur gemeinsam vorkommen und so in Wahrheit eine einzige Tugend bilden. Als Unterarten des 81 Siehe Antiphon: DK 87 B44: „[…] 1pe· v¼sei p²mta p²mter blo¸yr pev¼jalem ja· b²qbaqoi ja· >kkgmer eWmai. […] !mapm´ol´m te c±q eQr t¹m !´qa ûpamter jat± t¹ stºla ja· jat± t±r N?mar ja· 1sh¸olem w´qsim ûpamter …“ – „[…] denn von Natur sind wir alle in allen Beziehungen gleich geschaffen, Barbaren wie Hellenen. […] Atmen wir doch alle insgesamt durch Mund und Nase in die Luft aus und essen wir doch alle mit Hilfe der Hände? …“ 82 Siehe Cicero: De finibus III, 63: „ex hoc nascitur ut etiam communis hominum inter homines naturalis sit commendatio, ut oporteat hominem ab homine ob id ipsum, quod homo sit, non alienum videri.“ – „Daraus ergibt sich auch, daß es eine natürliche Vertrautheit aller Menschen untereinander gibt, derart, daß ein Mensch gerade darum, weil er ein Mensch ist, dem anderen Menschen nicht fremd zu sein scheint.“ 83 Maximilian Forschner: Die stoische Ethik (wie Anm. 51), S. 159. 84 Zenon: SVF I, 200; Plutarch: De Stoicorum repugnantiis cp. 7 p. 1034c.

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prinzipiellen Wissens „über die göttlichen und menschlichen Dinge“85 handelt es sich bei den vier Tugenden (1) um das generelle praktische Wissen (vqºmgsir) über das Gute und Schlechte, (2) um den Mut ( !mdqe¸a) als Wissen über das, was es in der Befolgung des ewigen Gesetzes zu ertragen gilt, (3) um die Besonnenheit (syvqos¼mg) als Wissen über das, was dazu gewählt werden muß, und (4) um die Gerechtigkeit (dijaios¼mg) als Wissen über das, was jedem als das Seine zukommen zu lassen ist. Als leitender Gesichtspunkt dieser Gerechtigkeit, der maßgeblich für die Bestimmung des ihr eigentümlichen Gehalts sei, wird hierbei besonders der Sinn für Gleichheit (Qsºtgr) angesprochen.86 Damit rückt die altstoische Definition der Gerechtigkeit in die Nähe derjenigen von Aristoteles, der diese Tugend ebenfalls – gegen Platon – als genuin soziale bestimmt und auf die Gleichheit der Polisbürger bezieht. Während jedoch Aristoteles unter Gerechtigkeit neben der Wahrung der bürgerlichen Gleichheit auch noch im überkommenen (sophistisch-sokratischen) Sinn ,allgemein‘ die Befolgung der jeweiligen Polis-Gesetze versteht, entfällt diese Bedeutung bei den Stoikern völlig. Von sich aus und unter allen Umständen gebührt nach ihnen den positiven, von Menschen gemachten Gesetzen keinerlei Gehorsam mehr. Absolute Gültigkeit hat für sie ausschließlich der eine Nomos, welcher mit der göttlichen Vernunft identisch ist. Ihm entspricht aber auch und gerade die stoische Gerechtigkeit, indem sie jedem das Gleiche zukommen läßt, d. h. Recht und Würde aller berücksichtigt. Auch damit setzt sich aber die Gerechtigkeitskonzeption der älteren Stoa noch von der aristotelischen ab: Der im stoischen Sinn Gerechte achtet nicht nur die Gleichheit vollwertiger Polisbürger, sondern die aller Menschen als Bürger der Kosmopolis, an welcher ein Sklave durch seine Vernunft prinzipiell denselben Anteil hat wie ein Freier. Allerdings tut sich eine tiefe Kluft zwischen der metaphysischkosmologisch begründeten Idee der Gleichheit und der real-gesellschaftlichen Ungleichheit der Menschen auf. Denn die Kosmopolis ist keine wirklich existierende politische Gemeinschaft, sondern bildet gleichsam eine zweite Heimat des Menschen, die neben dem konkreten Gemeinwesen besteht, in das er hineingeboren wurde, und nicht etwa

85 Zenon: SVF II, 35 f.; Aetius: Placita I. Prooem. 2 (DG p. 273, 11). 86 Siehe Chrysipp: SVF III, 295; Diogenes Laertius VII, 126.

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mit diesem identisch ist.87 So wird der Mensch aber zum Bewohner zweier Welten, deren Gesetze differieren können und meistens auch tatsächlich differieren. Nur im ideellen Bereich der Kosmopolis gilt unbedingt gleiches Recht für alle, in der sozialen Wirklichkeit der einzelnen politischen Gemeinwesen muß das deshalb noch lange nicht so sein. Zwar wird die vom Natur-Vernunft-Gesetz der Kosmopolis abweichende Realität von den Stoikern als schlecht und ungerecht gebrandmarkt. So betrachten sie diejenigen menschlichen Gesetze, die dem einen, allgemeinen Gesetz der Natur widersprechen, als unverbindlich, und sie betonen in pessimistischer Perspektive gelegentlich sogar, daß dies grundsätzlich für alle irdischen Verfassungen und Gesetze gelte.88 Gleichwohl – und dies markiert deutlich ihre Grenze – zeigt die altstoische Naturrechtslehre kein nachdrückliches Bemühen, selbst alternative positive Gesetze aus dem Natur-Gesetz abzuleiten und so wahres, ,richtiges‘ Recht zu kodifizieren, das sie dem faktisch geltenden ,falschen‘ Recht entgegenstellen könnte. Auch wenn sie die konkreten politischen Bedingungen am allgemeinen ethischen Maßstab der vom natürlichen Gesetz gebotenen Gerechtigkeit mißt und negativ bewertet, hält sie es letztlich nicht für unbedingt erforderlich, bestehende Unrechtsverhältnisse aktiv umzugestalten. Im Vordergrund steht statt dessen das Ziel des Weisen, als einzelner gut zu handeln, dem Vernunftgesetz der Natur Folge zu leisten. Dies ist gerade auch im Rückzug aus dem politischen Leben in die Philosophie bzw. in den ,spirituellen‘ Bereich der Kosmopolis als Gemeinschaft der Götter und Menschen möglich, wo man in tugendhafter Gesinnung selbst denjenigen Menschen als (potentiell) Freien und Gleichen zu begegnen vermag, die in der politisch-sozialen Realität nicht über diesen Status verfügen.89 87 Vgl. die Formulierung Senecas in De otio IV, 1: „Duas res publicas animo complectamur: alteram magnam et vere publicam qua dii atque homines continentur, in qua non ad hunc angulum respicimus aut ad illum, sed terminos civitatis nostrae cum sole metimur; alteram, cui nos ascripsit condicio nascendi […].“ – „Zwei politische Gemeinwesen wollen wir uns im Geiste vorstellen: das eine groß und wirklich allgemein, das Götter und Menschen umfasst, darin wir nicht auf diesen Winkel achten oder jenen, sondern dessen Grenzen wir mit der Sonne ausmessen; das andere, dem uns als Bürger zugeordnet hat die Bedingung der Geburt […].“ 88 Siehe Chrysipp: SVF III, 323; Philo: De Josepho Vol. II Mang. p. 46. 89 Vgl. auch die Einschätzung von Albrecht Dihle: Der Begriff des Nomos in der griechischen Philosophie, in: Nomos und Gesetz. Ursprnge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, hg. von Okko Behrends und Wolfgang Sellert. Göttingen 1995, S. 117 – 134, dort S. 129: „Zwar waren die Stoiker davon über-

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Doch kultivieren die frühen Stoiker keine völlig apolitische Haltung; ihr Verhältnis zur politischen Praxis erweist sich vielmehr als ambivalent: Obwohl die konkrete ,Polis‘, die man nun angesichts der veränderten politischen Lage allgemein definiert als „pk/hor !mhq¾pym 1m taqt` jatoijo¼mtym rp¹ mºlou dioijo¼lemom“ – „eine Menge von auf demselben Territorium wohnenden Menschen, die von einem Gesetz beherrscht wird“90, eine deutliche Abwertung gegenüber der abstrakten Kosmopolis erfährt, erwägen die Stoiker doch eine Anteilnahme des von ihnen zum Ideal erhobenen Weisen an der realen Politik. Zumindest ansatzweise gelangen sie damit auch bereits zu der Forderung nach einer Konkretisierung bzw. Verwirklichung des Naturrechts. So etwa, wenn Chrysipp den Weisen zum einzigen Menschen erklärt, der im eigentlichen Sinn zur Königsherrschaft befähigt sei: „oq lºmom d³ 1keuh´qour eWmai to»r sovo¼r, !kk± ja· basik´ar, t/r basike¸ar ousgr !qw/r !mupeuh¼mou, Ftir peq· lºmour #m to»r sovo»r susta¸g“ – „Doch nicht nur frei seien die Weisen, sondern auch Könige, denn das Königtum sei eine Herrschaft, die niemandem Rechenschaft schuldig sei, und das könne allein bei den Weisen der Fall sein“91. Auch wenn diese Aussage im Sinne eines ,eigentlichen‘, nicht politisch gemeinten Königtums gedeutet werden kann, steht dahinter doch zugleich die – später von Cicero aufgenommene und zu einem Grundsatz seiner Naturrechtslehre erhobene – Überzeugung, daß nur der Weise aufgrund seiner vollkommenen Einsicht in das göttliche Naturgesetz zum Gesetzgeber für die anderen Menschen berufen ist, während all jene, denen diese Einsicht fehlt, umgekehrt eine äußere Autorität brauchen, die ihnen vorschreibt, was zu tun und zu lassen ist.92 Es handelt sich mithin nicht etwa um ein bedingungsloses Plädoyer für die Monarchie – schließlich kann es ja durchaus vorkommen, daß jemand auf dem Thron sitzt, der kein Weiser und folglich auch als König ungeeignet ist –; vielmehr läßt sich aus Chrysipps Überlegung gerade ein Appell an den Alleinherrscher ableiten, sich als gerechter Weiser zu bewähren, da er nur so den aus dem Naturgesetz folgenden ethischen Ansprüchen Gezeugt, daß der Mensch ein soziales Wesen sei, und sie erhoben sehr strenge sozialethische Forderungen. Indessen war für sie nicht das Wohl das Gemeinwesens, sondern die Eudaimonie des Einzelnen das erklärte Ziel des sittlichen Handelns […].“ 90 Chrysipp: SVF III, 329; Dio Chrysostomus: Orationes XXXVI § 20 (Vol. II p. 6, 13). 91 Chrysipp: SVF III, 617; Diogenes Laertius VII, 122. 92 Vgl. Max Pohlenz: Die Stoa (wie Anm. 69), S. 134.

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nüge zu leisten vermag, die seine Herrschaft erst als rechtmäßige erweisen. Die in Aussicht gestellte Anteilnahme des stoischen Weisen am politischen Leben beschränkt sich nun zwar nicht auf seine mögliche Herrschaft als König oder auf seine Tätigkeit auch als Berater eines philosophisch beeinflußbaren Königs.93 Abgesehen von diesem Idealfall kann und soll sich der Weise nach Auffassung der frühen Stoiker in jedem Gemeinwesen, unabhängig von dessen bestimmter Verfassung, gemäß seiner Vernunfteinsicht an der Regierung beteiligen, sofern diese Möglichkeit für ihn besteht, etwa durch Vermittlung von Freunden in hohen Positionen.94 Wird es dem Weisen aber nicht so leicht gemacht, wohltätigen Einfluß auf die Regierung und Gesetzgebung zu nehmen, hält er sich einfach ganz von der Politik fern und zieht sich ins kontemplative Leben zurück, gemäß dem bereits Zenon zugeschriebenen Diktum: „pokiteus´shai vas· t¹m sov¹m #m l¶ ti jyk¼,“ – „Der Weise wird politisch tätig sein, sofern nichts im Wege steht“.95 Offenbar hängt das vor allem auch – ein fatalistischer Zirkel – von der Qualität der bestehenden Gesetze ab, also von ihrer Angemessenheit an den einen und wahren Nomos, dem sich der Weise allein verpflichtet fühlt. So muß das Gemeinwesen, in welchem er sich politisch betätigen wird, schon eine gewisse Tendenz zum Guten, zur Übereinstimmung mit der Verfassung der Kosmopolis erkennen lassen.96 Weichen die in ihm geltenden Gesetze hingegen zu sehr von jener göttlichen Norm ab, die vorschreibt, was zu tun und was zu meiden ist, handelt es sich mithin um ungerechte Gesetze, bestimmt durch Habgier (pkeomen¸a) und Mißtrauen der Menschen gegeneinander (B pq¹r !kk¶kour !pist¸a),97 so sieht sich der stoische Weise gerade nicht aufgerufen, etwas daran zu ändern, sondern vielmehr darin bestärkt, innerhalb der rein metaphy93 Vgl. dazu auch Reimar Müller: Die Staatsauffassung der frhen Stoa (wie Anm. 53), S. 288: „Wenn es bei aller grundsätzlichen Differenz eine Affinität [der frühen Stoiker] zur Monarchie gegeben hat, mochte diese darin begründet sein, daß man an diese Staatsform, die die politische Realität der hellenistischen Welt weitgehend bestimmte, gewisse Hoffnungen knüpfte, stoische Ideale zu realisieren, wenn sich einzelne Monarchen aufgeschlossen und ,entwicklungsfähig‘ zeigten.“ 94 Siehe Chrysipp: SVF III, 686; Stobaeus: Eclogae II 7 p. 109,10 – 110,4. 95 Chrysipp: SVF III, 697; Diogenes Laertius VII 121. Vgl. auch Zenon: SVF I, 271; Seneca: De otio III, 2. 96 Siehe Chrysipp: SVF III, 611; Stobaeus: Eclogae II 94, 7 W. 97 Siehe Chrysipp: SVF III, 323; Philo: De Josepho Vol. II Mang. p. 46.

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sischen Gemeinschaft der menschlichen und göttlichen Vernunftwesen gleichsam auf eigene Faust ein tugendhaftes, gerechtes Dasein zu führen. In der jüngeren Stoa ist es Seneca, der diesen Gedanken aufgreift. So betont er etwa in seiner Schrift De otio, der Weise halte sich mit gutem Recht von der Politik fern, „si res publica corruptior est quam ut adiuvari possit“ – „wenn das Gemeinwesen zu verkommen ist, als daß man ihm helfen könnte“98. Seneca beruft sich dafür auf die Unterscheidung zwischen dem konkreten Vaterland und der Kosmopolis, der man auch als unpolitischer Mensch zu dienen vermag,99 und hält mit Blick auf die altstoischen Schulhäupter, die selbst nicht politisch tätig waren, in apologetischer Intention fest: Nos certe sumus qui dicimus et Zenonem et Chrysippum maiora egisse quam si duxissent exercitus, gessissent honores, leges tulissent: quas non uni civitati, sed toti humano generi tulerunt. Wir jedenfalls sind es, die behaupten, Zenon und Chrysippos haben Bedeutenderes geleistet, als wenn sie Heere kommandiert, Ämter ausgeübt, Gesetze beantragt hätten: Gesetze haben sie nicht für ein Gemeinwesen allein, sondern für das ganze Menschengeschlecht gegeben.100

Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß die von den frühen Stoikern entfaltete Naturrechtslehre keineswegs frei von Inkonsequenzen ist. Einerseits erfährt der kosmologisch ausgeweitete Nomos in ihr zwar eine solch entschiedene Aufwertung, daß er zur unbedingten Maßstabsnorm für alle menschlichen Gesetze avanciert, die aus ihm erst ihre Legitimation gewinnen oder an ihm gemessen als unrechtmäßig erscheinen.101 Damit wird zum erstenmal in der Geschichte der abendländischen Philosophie die Idee eines überpositiven, unveränderlichen Rechts begründet, das aus der Natur – sowohl im Sinne einer göttlichen Allvernunft als auch im Sinne der an dieser partizipierenden allgemeinmenschlichen Vernunftnatur – resultiert und insofern auch universal, d. h. unterschiedslos für alle Menschen gilt. Andererseits erfüllen diese naturrechtlichen Gedanken jedoch so gut wie keine konstitutive oder korrektive Funktion in bezug auf die positiven Rechtsordnungen ein98 99 100 101

Seneca: De otio III, 3. Siehe Seneca: De otio IV, 2. Seneca: De otio VI, 4. Vgl. auch Albin Lesky: Zum Gesetzesbegriff der Stoa (wie Anm. 65), S. 594: „Für den Stoiker steht die eine, unveränderliche Norm der ,aufrechten Vernunft‘ fest, an ihr wird alles gemessen und Gesetze, die solchen Maßstab nicht ertragen, verdienen diesen Namen nicht und verfallen der Verwerfung.“

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zelner Gemeinwesen. So wird etwa durch die Argumente, mit welchen die Stoiker auf eine an sich durchaus innovative Weise die natürliche Gleichheit und Freiheit aller Menschen begründen, die Sklaverei selbst als gesellschaftlich-rechtliche Institution doch gar nicht in Frage gestellt, da die Begriffe ,Sklaverei‘ und ,Freiheit‘ von ihnen in einem mehr metaphorischen, nämlich ethischen Sinn verwendet werden: Demnach kommt es darauf an, ob man innerlich ein Sklave oder ein Freier ist, die äußeren Lebensumstände erscheinen dagegen gleichgültig. Aus demselben Grund – dem stoischen Hang zur ,Innerlichkeit‘ – führt überhaupt die grundsätzlich kritische Haltung der Stoa gegenüber solchen politischen Gemeinwesen, deren Gesetze ungerecht sind, zu keiner dringlichen Forderung nach Verbesserung; anstatt sich um die Realisierung des allgemeinen Naturgesetzes zu bemühen, konzentriert sich der stoische Weise lieber auf sein privates sittliches Handeln.102 Das ändert sich allerdings bei Cicero, der die stoische Naturrechtslehre nicht nur einer systematischen Darstellung unterzieht, sondern zugleich zur Basis einer konkreten Ordnung macht.

III. Ciceros römische Konkretisierung des stoischen Naturgesetzes Cicero ist zwar kein Stoiker im engeren Sinn, sondern ein Eklektiker, der sich an den unterschiedlichsten philosophischen Strömungen orientiert, um jeweils das herauszugreifen, was ihm plausibel und nützlich erscheint. So knüpft er nicht nur an die Stoa an, sondern daneben auch an Platon und die Akademie, an Aristoteles und die peripatetische Schule. Gleichwohl ist der altstoische Einfluß auf seine Rechtsphilosophie, die er vornehmlich im ersten Buch von De legibus vorträgt, nicht zu verkennen – mag er nun direkt auf die älteren Stoiker Zenon und Chrysipp zurückgehen oder über die mittleren Stoiker Panaitios (ca. 185 – 110 v. Chr.) und Poseidonios (ca. 135 – 50 v. Chr.) bzw. über den stoisch geprägten Akademiker Antiochos von Askalon (ca. 120 – 68 v. Chr.) vermittelt sein.103 Fest steht allerdings, daß Cicero mit seiner 102 In diesem Sinn hat es seine Richtigkeit, wenn Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ius naturae im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 25, feststellt: „Die Stoa lieferte alle Voraussetzungen für eine Naturrechtslehre, aber entwickelte kein Naturrecht im eigentlichen Sinn.“ 103 Aus welchen Quellen sich Ciceros Naturrechtslehre im ersten Buch von De legibus speist, ist umstritten. Vgl. dazu Karl Büchner: Sinn und Entstehung von De

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Naturrechtslehre ganz andere Absichten verfolgt als die frühen Stoiker. Gehen diese letztlich über ihren individualethischen Ansatz nicht hinaus, wonach das Gesetz der Natur vor allem das sittliche Handeln des einzelnen – innerhalb des bloß ideellen Vernunftreichs der Kosmopolis – betrifft, so ist der Römer Cicero von vornherein auf die politischpraktische Tätigkeit ausgerichtet. Insofern steht er der mittelstoischen Lehre von Panaitios und Poseidonios näher, die ihrerseits bereits eine Aufwertung des b¸or pqajtijºr gegenüber dem b¸or heyqgtijºr vollzogen hatten und so die stoische Philosophie für ihr römisches Publikum attraktiv machen konnten. Cicero entwickelt seine Lehre vom natürlichen Gesetz denn auch nicht nur als Philosoph, sondern zumal als Politiker, der in der Krise der römischen Republik im 1. Jh.v.Chr. ein konservatives Reformprogramm vertritt. Seine philosophischen Reflexionen über das, was (von Natur aus) Recht ist, sollen der Bewältigung der Krise dienen, den Bestand der aristokratisch geprägten Res publica sichern und die überkommene Sitte der Vorfahren (mos maiorum) wiederherstellen. Es ist sein Ziel, die in Frage gestellte Rechtsordnung der altrömischen Republik als natürliche Ordnung im ewigen Naturgesetz zu fundieren und damit vor allem zu legitimieren. Schon durch diese politische Intention ist es also bedingt, daß Cicero, im Unterschied zu den frühen Stoikern, positive Einzelnormen aus dem überpositiven Gesetz der Natur abzuleiten und so das Naturrecht zu konkretisieren sucht. Hinzu kommt, daß der stoische Naturrechtsgedanke durch Ciceros Bearbeitung in Begriffen des römischen Rechts gefaßt wird, was wiederum sein späteres Eingehen in die sich entwickelnde Rechtswissenschaft der Römer ermöglicht. Auch damit wird die von den Stoikern übernommene Naturrechtslehre deutlich modifiziert; es ändern sich die Kategorien, in denen das (natürliche) Gesetz bzw. Recht gedacht wird. Die umfassenderen griechischen Begriffe mºlor und d¸jaiom werden durch die engeren römischen Rechtsbegriffe lex und ius wiedergegeben. Da es sich hierbei um einen folgenreichen Schritt handelt, sei die Bedeutung dieser Begriffe, wie sie sich bis zu Ciceros Zeit herausgebildet hat, kurz umrissen.104 Während der Ausdruck ius (,Recht‘) in der legibus, in: Atti del I congresso internazionale di studi Ciceroniani II. Rom 1961, S. 81 – 90; Peter Leberecht Schmidt: Die Abfassungszeit von Ciceros Schrift ber die Gesetze. Rom 1969, S. 167 – 179; Richard Horsley: The Law of Nature in Philo and Cicero, in: Harvard Theological Review 71, 1978, S. 35 – 59. 104 Zum folgenden vgl. Franz Wieacker: Rçmische Rechtsgeschichte. München 1988, § 13, Ius und lex, S. 267 – 285.

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römischen Frühzeit noch nicht das objektiv geltende Recht meint, sondern zunächst nur die ,Erlaubtheit‘ eines einseitigen Zugriffs auf Personen oder Sachen, insofern dieser von der Gemeinschaft als richtig eingeschätzt und somit – gegebenenfalls auch durch eine richterliche Entscheidungsinstanz – anerkannt wird, bezeichnet lex (,Gesetz‘) ursprünglich die von einer gesellschaftlichen Autorität sprachlich artikulierte rechtliche Festsetzung, die sich an einen spezifischen Adressaten richtet und vorerst noch ganz auf den durch sie zu regelnden Einzelfall beschränkt bleibt. Wie sich das ius allmählich aber zum Ganzen einer Rechtsordnung mitsamt den darin begründeten subjektiven Rechtsansprüchen der Bürger ausformt, setzt auch im Falle der lex zunehmend eine Verallgemeinerung ein; das von den Magistraten gesetzte Recht (lex publica) zielt mehr und mehr auf die Schaffung einer allgemeinverbindlichen Normenordnung ab und beeinflußt so das geltende ius civile, indem es neben der Bestätigung von älterem, ungeschriebenem ius auch Veränderungen daran vornimmt. In diese Richtung einer Verbindung der zuvor strukturell verschiedenen Rechtsbegriffe ius und lex wirken zunächst vor allem die sogenannten Zwölftafelgesetze, die lange schlechthin als Ursprung des ius civile angesehen werden. Eine weitere Rechtsschicht bildet sodann das prätorische Edikt als ius honorarium; auch die jährliche Rechtsweisung des Prätors kann in das ius civile eingreifen bzw. unter Umständen davon abweichen und stellt mithin ebenfalls eine mögliche Rechtsquelle dar. Neben dem kodifizierten Recht in Gesetzesform (leges) gehören darüber hinaus aber bis in Ciceros Gegenwart hinein weiterhin auch ungeschriebene Verhaltensregeln, die von den Vorfahren überlieferten mores, zum geltenden ius. Vor dem Hintergrund dieser diffusen und dynamischen Situation des römischen Rechts zur Zeit der späten Republik ist nun Ciceros Rechtsphilosophie zu sehen; zugleich steht sie im Kontext der Herausbildung einer juristischen Fachwissenschaft, welche erstmals die vorfindliche Rechtsmaterie nach verschiedenen Hinsichten zu systematisieren und in Definitionen und abstrakten Regeln zu fassen beginnt – zu nennen sind hier vor allem Quintus Mucius Scaevola (ca. 170 – 87 v. Chr.), der Ciceros juristischer Lehrer war, und Servius Sulpicius Rufus (ca. 106 – 43 v. Chr.).105 Doch Ciceros rechtsphilosophische Absicht in der Eingangspartie von De legibus übertrifft das juristische Erkenntnisinteresse seiner Zeitgenossen noch an Allgemeinheit, indem 105 Vgl. dazu ebenfalls Franz Wieacker: Rçmische Rechtsgeschichte (wie Anm. 104), § 37, Die Juristen der ausgehenden Republik, S. 595 – 617.

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es ihm nicht nur um eine zusammenhängende wissenschaftliche Darstellung des ius civile geht, wie sie etwa Scaevola maßgeblich in 18 Büchern geliefert hat, sondern um die grundsätzliche – naturrechtliche – Frage, worin die Natur, das Wesen des Rechts selbst bestehe. Dies hat aber zur Folge, daß Cicero die von ihm vorgefundenen römischen Rechtsbegriffe wiederum semantisch modifiziert; seine Rechtslehre ist als Naturrechtslehre primär nicht deskriptiv, sondern präskriptiv – was freilich nicht ausschließt, daß sich am Ende doch im wesentlichen die reale, überkommene Rechtsordnung angesichts ihrer aktuellen Bedrohung durch die politische Krise zugleich als die ideale, naturgemäße erweist, wie sie auch in Zukunft wieder verbindlich sein soll. Wie sieht nun Ciceros Umbildung der römischen Rechtsbegriffe durch die Anwendung auf die stoische Naturrechtslehre genauer aus? Zunächst einmal betrifft sie den Begriff des ius civile selbst. Gleich zu Beginn des ersten Buchs von De legibus fordert Atticus seinen Freund Cicero auf, sich über das ius civile zu erklären, worauf dieser ausweichend, ja sogar ablehnend reagiert, indem er die übliche Behandlungsweise des ius civile durch die Rechtsberater seiner Zeit (iuris consulti) kritisiert, die zwar Großes versprochen hätten, jedoch in Kleinigkeiten stecken geblieben seien.106 Denn während das ius civile, wie Cicero meint, dem Wortsinn nach bereits das prinzipielle Recht eines Gemeinwesens, das ius civitatis, bezeichnet,107 wird von der zeitgenössischen römischen Jurisprudenz darunter lediglich das Teilgebiet des Zivilrechts verstanden, welches Cicero als ein „Dachrinnenund Hauswände-Recht“108 der Lächerlichkeit preisgibt. Wenn er selbst nun eine Schrift De legibus verfaßt, dann geht es ihm dagegen primär um das ius als den Inbegriff solcher Gesetze, nach denen alle civitates regiert werden müssen, um politisch stabil und dem Gemeinwohl dienlich zu sein.109 Der umfassende Gesetzescodex, auf den sein Dialog abzielt,110

106 Siehe Cicero: De legibus I, 13 f. (hg. von Rainer Nickel. München/Zürich 3 2004). 107 Dazu vgl. Klaus Martin Girardet: Die Ordnung der Welt. Ein Beitrag zur philosophischen und politischen Interpretation von Ciceros Schrift de legibus. Wiesbaden 1983, S. 42 f. 108 Cicero: De legibus I, 14. 109 Siehe Cicero: De legibus I, 37: „ad res publicas firmandas et ad stabilienda iura sanandosque populos omnis nostra pergit oratio.“ – „All unser Reden zielt auf die Festigung der res publicae, die Sicherung der Rechtsnormen und das Wohl der Völker.“

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beschränkt sich gemäß dieser Programmatik also keineswegs auf das Recht nur des römischen Volkes, sondern soll zugleich „allgemeine, universal für alle Staaten und Staatsformen geltende Gesetze“111 beinhalten, die deshalb als die „besten Gesetze“ (optimae leges) 112 zu erlassen sind. Entsprechend betont Marcus gegenüber seinem Freund Atticus im zweiten Buch: „Non enim populo Romano, sed omnibus bonis firmisque populis leges damus.“ – „Denn wir schaffen nicht nur für das römische Volk, sondern für alle zivilisierten Völker Gesetze.“113 Dabei hat Cicero natürlich die Weltherrschaft Roms, das Imperium Romanum, vor Augen. Sein Reformprogramm betrifft mithin neben der römischen Res publica auch die übrigen, von Rom abhängigen Gemeinwesen, in denen die von ihm gesuchten Gesetze ebenfalls in Kraft treten sollen.114 Diesem legislatorischen Ziel entspricht also der spezifische Stellenwert, den die eigentliche Naturrechtslehre in Ciceros Gesetzesschrift einnimmt. Sie bildet keinen theoretischen Selbstzweck, sondern erfüllt eine fundierende Funktion für die praktische Aufgabe einer optimalen, universalen Gesetzgebung: Um die konkreten optimae leges zu ermitteln, die überall ,richtiges‘ Recht setzen sollen, muß zuvor die Frage beantwortet werden, worin das Recht in Wahrheit denn überhaupt besteht, was Recht seinem Wesen nach eigentlich ist. Ciceros Naturrechtslehre nimmt ihren Ausgang damit bei der Frage nach der Natur des Rechts (natura iuris), die zugleich mit der Frage nach dem Ursprung bzw. der Quelle der „besten Gesetze“ und des ganzen Rechts (fons legum et iuris) 115 verbunden ist. Als diese Rechtsquelle schließt Cicero 110 Vgl. auch Ada Hentschke: Zur historischen und literarischen Bedeutung von Ciceros Schrift de legibus, in: Philologus 115, 1971, S. 118 – 130, dort S. 123: „Gegenstand des Gesprächs soll ein aus philosophischen Grundlagen geschaffenes Werk konkreter Gesetze sein, welche alle Gebiete umfassen, die gesetzlicher Regelung zugänglich sind.“ 111 Jürgen Blänsdorf: Das Naturrecht in der Verfassung (wie Anm. 2), S. 43. Mißverständlich ist freilich die anachronistische Verwendung der Begriffe „Staat“ und „Staatsform“ in bezug auf das, was Cicero als res publica oder civitas bezeichnet. Vgl. dazu die bündigen Grundsatzüberlegungen bei Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (wie Anm. 36), S. 4 – 6. 112 Siehe Cicero: De legibus I, 15. 113 Cicero: De legibus II, 35. 114 Vgl. unten, S. 270; Anm. 152. 115 Cicero: De legibus I, 16. Cicero unterscheidet in der Formel fons legum et iuris deshalb zwischen leges und ius, weil das ius im römischen Recht, wie es Cicero

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nun aber – entgegen der gängigen römischen Auffassung – von vornherein das Zwölftafelgesetz und das prätorische Edikt aus; statt dessen will er das Recht „ex intima philosophia“ – „aus dem Innern der Philosophie“116 ableiten. Wie sich zeigt, liegt eben hierin sein naturrechtlicher Ansatz, denn die Ableitung des Rechts aus dem Inneren der Philosophie bedeutet nichts anderes als seine Ableitung aus der Natur im bekannten stoischen Doppelsinn: als allumfassende Natur und als Natur des Menschen. Im Ausgang davon formuliert Cicero das Programm für seine Schrift De legibus: natura enim iuris explicanda nobis est, eaque ab hominis repetenda natura, considerandae leges, quibus civitates regi debeant; tum haec tractanda, quae conposita sunt et descripta iura et iussa populorum, in quibus ne nostri quidem populi latebunt, quae vocantur iura civilia. Wir müssen nämlich das Wesen des Rechts klären und dieses aus dem Wesen des Menschen herleiten; ferner haben wir über die Gesetze nachzudenken, von denen die Gemeinwesen regiert werden müssen; dann sind die in schriftlicher Form vorliegenden rechtlichen Bestimmungen und Volksbeschlüsse zu behandeln, wobei das sogenannte Zivilrecht auch unseres Volkes zur Sprache gebracht wird.117

Das gesuchte ius civitatis ergibt sich nach dieser Voraussetzung also erst aus der vorgängigen philosophischen Erkenntnis des Wesens des Rechts im Sinne eines in der menschlichen Natur begründeten Naturrechts. Schließlich soll dann auch dasjenige abgehandelt werden, was die iuris consulti unter dem ius civile verstehen. Von Anfang an ist damit auf eine Konkretisierung des Naturrechts abgezielt; primär geht es Cicero um die positiven Normen, die sich aus der natürlichen Rechtsquelle ergeben. Im Hinblick auf das von ihm entworfene Programm ist allerdings anzumerken, daß es sich bei dem Text von De legibus um einen Torso handelt. Fragmentarisch erhalten sind lediglich drei Bücher: Das erste Buch enthält die Naturrechtstheorie, anschließend beginnt die Formulierung der einzelnen optimae leges; im zweiten Buch werden entsprechend die Gesetze de religione118 und im dritten Buch die Gesetze de magistratibus119 abgehandelt. Wie jedoch aus einem bei Mac-

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vor Augen steht, außer durch die Gesetze auch noch durch ungeschriebene Verhaltensregeln (mores) konstituiert wird. So weist Cicero denn etwa auch in I, 20 ausdrücklich auf die mores hin, die nicht schriftlich festgelegt werden müssen. Cicero: De legibus I, 17. Cicero: De legibus I, 17. Cicero: De legibus II, 17. Cicero: De legibus II, 69.

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robius überlieferten Fragment hervorgeht, gab es ursprünglich mindestens fünf Bücher;120 wie viele es im ganzen tatsächlich waren, läßt sich allenfalls vermuten.121 Ciceros Lehre vom allgemeinen Wesen des Rechts, das sich aus der All-Natur und der des Menschen ergeben soll, orientiert sich nun ganz offenkundig an der griechischen Stoa, genauer: an deren Identifikation von Nomos, Physis und Logos. Indem Cicero dabei den griechischen Nomos-Begriff in einer für das gesamte weitere abendländische Naturrechtsdenken maßgeblichen Weise durch die lateinische lex übersetzt, verwendet er diesen Ausdruck in einer zu seiner Zeit höchst ungebräuchlichen Weise. Denn im römischen Recht, wie Cicero selbst einräumt, gilt als lex bisher ausschließlich solches, „was in schriftlicher Form bestimmt, was es will, indem es entweder befiehlt oder verbietet“.122 Dagegen wendet Cicero den Begriff buchstäblich ins Prinzipielle, indem er das (ungeschriebene) Gesetz in eindeutig stoischer Tradition zum Singularetantum macht und es so als fons legum et iuris bestimmt. Näherhin definiert er es als die „ratio summa, insita in natura, quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria“ – „die höchste Vernunft, die der Natur immanent ist und gebietet, was getan werden soll, und das Gegenteil verbietet“123. Wie für die frühen Stoiker ist dabei auch für Cicero diese gesetzliche Allvernunft etwas Göttliches: Leiteten Kleanthes und Chrysipp ihren Nomos von Zeus her, so Cicero seine lex von Jupiter.124 Und ebenfalls der Stoa folgend, bestimmt auch er den Menschen als einziges endliches Wesen, das an dieser göttlichen Vernunft, die sich in der summa lex der Natur manifestiert, Anteil hat – obzwar nur unter der wiederum aus dem stoischen Naturrechtsdenken bekannten Bedingung, daß der Mensch seine zunächst und zumeist unterentwickelte Vernunftanlage voll ausgebildet hat und insofern ein 120 Siehe Macrobius: Saturnalia VI, 4, 8. 121 Da das Macrobius-Fragment den Hinweis enthält, die Sonne habe gerade den Zenit überschritten, das Gespräch jedoch wie Platons Nomoi-Dialog einen ganzen Tag dauern soll (vgl. De legibus I, 15 sowie II, 69), läßt sich mindestens noch ein sechstes Buch annehmen. Zum möglichen Inhalt der nicht erhaltenen Bücher vgl. die Einleitung von Georges de Plinval, in: Cicron. Trait des lois. Paris 31968, S. LIII-LVI. 122 Cicero: De legibus I, 19. 123 Cicero: De legibus I, 18. 124 Siehe Cicero: De legibus II, 10: „Quam ob rem lex vera atque princeps, apta ad iubendum et ad vetandum, ratio est recta summi Iovis.“ – „Deshalb ist das wahre und ursprüngliche Gesetz, das zum Gebieten und Verbieten geeignet ist, die rechte Vernunft des höchsten Jupiter.“

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Weiser (sapiens) bzw. ein Kluger (prudens) ist.125 Aufgrund dieser Doppeldeutigkeit von Natur und Vernunft unterscheidet Cicero zwischen zwei Formen der summa lex als Ursprung des Rechts, die freilich eng aufeinander bezogen, ja im Grunde sogar identisch sind: (1) lex als göttliche, der Allnatur immanente Vernunft und (2) als entfaltete und gefestigte menschliche Vernunft – „ratio in homine confirmata et confecta“126. Dieses mit der objektiven Naturvernunft sowie mit der durch die ratio geprägten natura hominis identische höchste Gesetz, das insofern (auch wenn Cicero den Ausdruck selbst hier nicht benutzt127) mit Fug als lex naturalis bzw. lex naturae bezeichnet werden kann, wird nun weiter als vor aller Zeit entstandenes, jeglichen schriftlich fixierten leges vorgeordnetes Gesetz charakterisiert, das schon galt, noch lange bevor irgendeine bestimmte civitas gegründet war.128 Die lex naturae erweist sich so zugleich als ewiges Gesetz: als lex aeterna bzw. – in Ciceros eigener Terminologie – als lex sempiterna.129 Wenn Cicero im Anschluß an die Stoa sagt, das Naturgesetz der Vernunft befiehlt, was zu tun ist, und verbietet das Gegenteil, dann heißt das: Das Gesetz befiehlt das Rechte und verbietet das Unrechte.130 Damit ist zwar in formaler Hinsicht die lex naturae/sempiterna als fons iuris aufgewiesen, allerdings ist damit noch nicht gesagt, was Recht im materialen Sinn überhaupt bedeutet. Die avisierte Bestimmung der natura iuris steht also noch immer aus, ebenso aber auch ihre Ableitung aus der natura hominis. Um beides einzulösen, entwickelt Cicero im weiteren (I, 21 – 35) eine auf der Oikeiosislehre basierende Anthropologie, die davon ausgeht, daß zur natürlichen Grundausstattung des 125 Siehe Cicero: De legibus I, 22: „Quid est autem, non dicam in homine, sed in omni caelo atque terra, ratione divinius? Quae quom adolevit atque perfecta est, nominatur rite sapientia.“ – „Was aber ist, nicht nur im Menschen, sondern überall im Himmel und auf Erden, göttlicher als die Vernunft? Sie wird, wenn sie ausgereift und vollendet ist, zu Recht Weisheit genannt.“ I 18: „Itaque arbitrantur prudentiam esse legem, cuius ea vis sit, ut recte facere iubeat, vetet delinquere […].“ – „Deshalb meinen sie [die Stoiker] auch, daß die Klugheit das Gesetz ist, dessen Wirkung darin besteht, das Rechttun zu gebieten und das Unrechttun zu verbieten […].“ 126 Cicero: De legibus I, 18. 127 Dagegen findet sich der Ausdruck lex naturae/naturalis in De re publica I, 27, in De natura deorum I, 36 und in De officiis III, 31. 128 Siehe Cicero: De legibus I, 19; ähnlich auch die berühmte „Rede des Laelius“ in De re publica III, 33. 129 Siehe Cicero: De legibus II, 10. 130 Siehe Cicero: De legibus I, 19.

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Menschen als einem gottähnlichen Vernunftwesen erste, noch unentwickelte Begriffe ( joima· 5mmoiai – innatae notiones) vom Göttlichen und damit auch von Gesetz, Recht und Tugend gehören, die sich wie von selbst ausbilden und vervollkommnen, sofern dies nicht durch äußere Einflüsse verhindert wird. Als Resultat dieser Überlegungen ergibt sich, daß sowohl die Auffassung des Rechts wie auch die Bildung von Rechtsgemeinschaften durch die menschliche Natur bedingt sind. In diesem Sinne hält Cicero fest: „nos ad iustitiam esse natos, neque opinione, sed natura constitutum esse ius“ – „zur Gerechtigkeit sind wir geboren, und das Recht ist nicht in subjektiver Meinung, sondern in der Natur begründet.“131 Zur weiteren Erhärtung dieser These wird nun auch die stoische Vorstellung der grundsätzlichen Gleichheit (aequalitas) der Menschen untereinander aufgegriffen; wie schon bei den frühen Stoikern ist es auch hier die allen gemeinsame Vernunftbegabung bzw. -veranlagung, die das ausschlaggebende Kriterium der Gleichheit ausmacht: Alle intellektuellen – und damit auch moralischen – Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen basieren nach dieser Ansicht lediglich auf einer unterschiedlichen Ausbildung der ursprünglich jedem in gleicher Weise zukommenden Lernfähigkeit.132 Aus der Gleichheit aller Menschen folgt zwar auch der gleiche menschliche Hang zum Schlechten, insofern die Vernunft zumeist eben nicht ausgebildet wird und die Menschen statt in ihr in der Lust (voluptas) ihr Glück suchen,133 aber ebenso geht aus jener Gleichheit auch eine übereinstimmende Tendenz zum Guten hervor, wie Cicero sie in den ähnlichen Wertvorstellungen verschiedener Völker (consensus omnium) erkennt: „Quae autem natio non comitatem, non benignitatem, non gratum animum et beneficii memorem diligit?“ – „Aber welches Volk liebt nicht Nachgiebigkeit, Güte, Liebenswürdigkeit und Dankbarkeit?“134 Allerdings zeugt nicht nur die allgemeine Wertschätzung dieser Tugenden von der Gleichheit der Menschen, sondern diese Tugenden betreffen auch selbst wieder die Gleichheit. Sie alle sind nichts anderes als spezifische Ausformungen der grundlegenden Sozialtugend der Gerechtigkeit (iustitia), die nach der Definition aus De re publica darin besteht, „parcere omnibus, consulere generi hominum, suum cuique reddere“ – „alle zu schonen, um das Menschengeschlecht besorgt zu 131 132 133 134

Cicero: De legibus I, 28. Siehe Cicero: De legibus I, 29 f. Siehe Cicero: De legibus I, 31. Cicero: De legibus I, 32.

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sein, jedem das Seine zurückzugeben“135. So nimmt Cicero die altstoische Bestimmung der Gerechtigkeit als naturgemäße Achtung vor der prinzipiellen Gleichheit der anderen Menschen auf, um seine These von der Begründetheit des Rechts in der Natur des Menschen zu beweisen. Was resultiert daraus aber für die Wesensbestimmung des Rechts überhaupt? Deutlich wird aus Ciceros bisherigen Ausführungen eine enge Verbindung von Recht und Ethik, wie sie ebenfalls bereits bei den älteren Stoikern begegnete: Recht, wie er es im Ausgang vom Vernunftgesetz der Allnatur und der menschlichen Natur seinem Wesen nach versteht, ist auf das sittlich Gute überhaupt und insbesondere auf die soziale Tugend der Gerechtigkeit bezogen.136 Genauer gesagt: Das gesuchte Wesen des Rechts (natura iuris) beruht selbst in der Sittlichkeit bzw. in der Gerechtigkeit.137 Das geht auch aus späteren Stellen von De legibus hervor, so etwa wenn es heißt: „unam esse hominum inter ipsos vivendi parem communemque rationem“ – „es gibt nur eine einzige, gleiche und gemeinsame Regel für das Leben der Menschen untereinander“138. Denn offenkundig ist damit die – primär in der Menschenliebe sich manifestierende –139 Gerechtigkeit gemeint, wie auch der weitere Hinweis nahelegt, daß nämlich „omnes inter se naturali quadam indulgentia et benivolentia, tum etiam societate iuris contineri“ – „alle untereinander durch eine Art von natürlicher Rücksicht und Wohlwollen und dann auch durch die Gemeinschaft des Rechts verbunden sind“140. Was Recht ,wesenhaft‘ ist, folgt demnach also nicht etwa erst aus den faktischen menschlichen Satzungen, sondern ur135 Cicero: De re publica III, 24 (hg. von Karl Büchner. München 51993). 136 Dies macht ihm Michel Villey: Rckkehr zur Rechtsphilosophie (wie Anm. 8), S. 277 f. zum Vorwurf, wenn er von der „widerwärtigen Verwechslung zwischen Recht und Moral“ spricht, durch die Cicero gewissermaßen die Urschuld trage an der falschen „modernen Auffassung des ,Naturrechts‘“, wonach dieses „[e]in moralisches und vernunftgemäßes Gesetz“ darstelle. 137 Offensichtlich meint dies auch Stephan Podes: Die Krise der spten rçmischen Republik und Ciceros Rechtsphilosophie (de legibus). Bedingung der Mçglichkeit zur Alternative?, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 77 (1991), S. 84 – 94, dort S. 89, wenn er sagt, daß bei Cicero das mit dem Recht identifizierte „GutSein im Sinne des formalen Kriteriums der ,Übereinstimmung mit der Natur‘ materialiter mit dem Begriff der Gerechtigkeit aufgefüllt“ wird. 138 Cicero: De legibus I, 35. 139 In De legibus I, 43 bezeichnet Cicero sogar die natürliche Neigung zur Menschenliebe als „Grundlage des Rechts“ (fundamentum iuris). 140 Cicero: De legibus I, 35.

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sprünglich aus der – überpositiven – Moral: Recht ist für Cicero eben, was ,rechtens‘, was gerecht ist, und dies wiederum ergibt sich aus dem, was die natürliche Liebe des Menschen zu seinen Mitmenschen, die ihm gleich sind, fordert. Eine utilitaristische Erklärung des Rechts bzw. der Gerechtigkeit aus dem bloßen Nutzen, der daraus für das Zusammenleben der Menschen erwächst, ist hierdurch von vornherein ausgeschlossen.141 Damit hat Cicero eine Ableitungskette konstruiert, die bei der summa lex der Natur-Vernunft beginnt und über die Wohlgeneigtheit zwischen allen Menschen sowie in eins damit über die Tugend (der Gerechtigkeit) zur menschlichen Rechtsgemeinschaft der civitas führt; dies läßt deutlich genug erkennen, inwiefern für Cicero das ius, dessen allgemeines Wesen die Gerechtigkeit darstellt, in der göttlichen lex naturae gründet142 und insofern ein ius naturae ist. Gerade die Rückbindung des Rechts an die Gerechtigkeit (als natura iuris), seine ethische Fundierung, zeigt dabei jedoch gleichzeitig, daß und weshalb nach Cicero nicht schon alle möglichen positiven Normen aus der Quelle des höchsten Gesetzes entspringen und damit der Natur des Rechts entsprechen. Denn die Engführung des Rechtbegriffs mit dem des sittlich Guten, wie sie aus der Wesensbestimmung des Rechts durch die Gerechtigkeit resultiert, bedeutet umgekehrt schließlich auch eine gewisse Entkopplung des Rechts von bloßen Akten der Gesetzgebung bzw. Jurisdiktion. In diesem Sinn betont Cicero denn auch, daß die eigent141 Siehe Cicero: De legibus I, 40 – 42. 142 Das übergeht Klaus Martin Girardet: Die Ordnung der Welt (wie Anm. 107), S. 49, wenn er behauptet: „Cicero spricht in I 16 nur vom Weg zum fons legum et iuris. Die Quelle selbst nennt er noch nicht beim Namen. Denn wenn er sagt, nach Erklärung dessen (his explicatis), was die natura dem Menschen mitgegeben und aufgegeben habe, könne man die Quelle finden, so besagt dies, daß die Philosophie (Anthropologie) gleichsam der Weg ist, der zur Quelle führt. Es besagt also nicht, daß die Philosophie (oder implizit Naturrecht und Naturgesetz) die Quelle der ,optimalen‘ Rechtsnormen sei.“ Dem ist entgegenzuhalten, daß Cicero durchaus in stoischer Tradition Natur, Vernunft und Gesetz identifiziert, keineswegs hingegen, wie Girardet weiter folgert, die Natur als das Primäre vom Gesetz als dem Sekundären unterscheidet. Dies ist vielmehr nur der Fall bei der – guten – lex scripta, die jedoch von der summa lex, die mit der natura und ratio identisch ist, als Konkretum vom Abstraktum unterschieden werden muß, was Girardet ja selbst einräumt. Zur Kritik an der in dieser Hinsicht widersprüchlichen Interpretation Girardets vgl. Stephan Podes: Die Krise der spten rçmischen Republik und Ciceros Rechtsphilosophie (wie Anm. 137), S. 86 f.

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liche Strafe für begangenes Unrecht weniger durch die Rechtssprechung als vielmehr durch die Natur selbst verhängt werde, indem der Schuldige „mit Gewissensangst und mit der Qual der bösen Tat“143 selbst schon gestraft sei. Diese Verschiebung des Rechtsbegriffs vom Juristischen ins Ethische, d. h. zugleich: ins Innere des Menschen, impliziert eine entschiedene Absage gegenüber jeder Art von Rechtspositivismus. Cicero bringt die zentrale Vorstellung der Unabhängigkeit des natürlichen Rechts von allen willkürlichen Satzungen pointiert zum Ausdruck, indem er sie anhand historischer Beispiele illustriert: Iam vero illud stultissimum, existimare omnia iusta esse, quae scita sint in populorum institutis aut legibus. Etiamne si quae leges sint tyrannorum? Si triginta illi Athenienses delectarentur tyrannicis legibus, num idcirco eae leges iustae haberentur? Nihilo credo magis illa, quam interrex noster tullit, ut dictator, quem vellet civium vel indicta causa inpune posset occidere. Est enim unum ius, quo devincta est hominum societas et quod lex constituit una, quae lex est recta ratio imperandi atque prohibendi. Quam qui ignorat, is est iniustus, sive est illa scripta uspiam sive nusquam. Es ist aber ganz töricht, zu glauben, all das sei gerecht, was durch Einrichtungen oder durch Gesetze der Völker festgesetzt ist. Etwa auch dann, wenn es sich um Gesetze von Tyrannen handelt? Wenn jene Dreißig in Athen Gesetze hätten erlassen wollen, würde man dann, selbst wenn alle Athener an den tyrannischen Gesetzen Gefallen gefunden hätten, etwa diese Gesetze für gerecht halten? Ich glaube ebenso wenig wie jenes Gesetz, das unser Zwischenkönig beantragte, daß der Diktator jeden beliebigen Bürger sogar ohne Verhör töten lassen könne. Denn es gibt nur ein einziges Recht, das für die menschliche Gemeinschaft verbindlich ist und das in dem einen Gesetz gründet, das in der rechten Vernunft des Gebietens und Verbietens besteht. Wer dieses nicht kennt, ist ungerecht, sei es irgendwo aufgeschrieben oder nicht.144

Scharf wird hier zwischen gerechten und ungerechten positiven Gesetzen unterschieden, wobei das Unterscheidungskriterium der Bezug zu dem einen Gesetz der recta ratio ist. Sind die gerechten, im höchsten Gesetz der Natur fundierten Gesetze allgemeinverbindlich, so handelt es sich hingegen bei den ungerechten, nicht im Naturgesetz gründenden Gesetzen um unverbindliche leges, die – im strengen Wortsinn – gar kein ius zum Inhalt haben, da dessen allgemeines Wesen nach Cicero ja gerade in der Gerechtigkeit beruht. Dieselbe (moralische) Bedeutung hat denn auch der Unterschied zwischen „gutem Gesetz“ (lex bona) und „schlechtem Gesetz“ (lex mala), wie ihn Cicero im folgenden 143 Cicero: De legibus I, 40. 144 Cicero: De legibus I, 42.

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macht.145 Und wie er sich weigert, positives ,Recht‘, das der lex naturae bzw. der natura iuris widerspricht, überhaupt als Recht zu bezeichnen, spricht er schließlich auch dem schlechten, ungerechten Gesetz die Berechtigung ab, den Namen lex überhaupt zu führen.146 Deutlich wird, inwiefern Cicero einerseits zwar die stoische Naturrechtslehre aufgreift, andererseits aber auch über sie hinausgeht. Mit den frühen Stoikern teilt er die Ansicht, daß das Recht im ewigen Gesetz der Natur und nicht in den willkürlichen Satzungen der Menschen begründet ist. Anders als sie nimmt er jedoch an, daß es möglich und vor allem notwendig ist, konkrete Gesetze zu schaffen, die dem allgemeinen Naturgesetz vollkommen entsprechen, die als gute, gerechte Gesetze das natürliche Recht kodifizieren. In diesem Sinn zielt Ciceros Rechtsphilosophie in De legibus auf eine Positivierung des Naturrechts ab, wie sie der älteren Stoa, der sämtliche positive Gesetze tendenziell nur als ungenügende, schlechte Zusätze zum göttlichen Nomos galten, fremd bleiben mußte. Dieser gewandelten, ,rechtsoptimistischen‘ Auffassung Ciceros entspricht nun aber auch die Rolle, die er dem Weisen in der berühmten laudatio sapientiae am Ende des ersten Buches zuschreibt. Bleibt die Haltung der altstoischen Philosophen zum politischen Leben durchaus ambivalent, so daß nach Zenons und Chrysipps Diktum der Weise nur dann politisch tätig sein wird, wenn ihn nichts davon abhält, steht für Cicero dagegen unumstößlich fest, daß der Weise zum Leben in der politischen Gemeinschaft verpflichtet ist,147 und zwar in der konkreten civitas, die seine Heimat bildet, „pro qua mori et cui nos totos dedere et in qua nostra omnia ponere et quasi consecrare debemus“ – „für die wir sterben, der wir uns ganz widmen und für die wir alle unsere Fähigkeiten einsetzen und ihr gleichsam opfern müssen.“148 Die spezifische Aufgabe dieses Weisen, der insofern theoretische und praktische Existenz miteinander verbindet, besteht darin, die Menschen zur Tugend anzuleiten, gute Gesetze zu erlassen und zu sichern, die Bösen zu bestrafen, die Guten zu beschützen usw.149 145 Siehe Cicero: De legibus I, 44: „Atqui nos legem bonam a mala nulla alia nisi naturae norma dividere possumus.“ – „Doch wir können ein gutes Gesetz von einem schlechten nur nach dem Maßstab der Natur unterscheiden.“ 146 Siehe Cicero: De legibus II, 11. 147 Vgl. Ciceros Bemerkung, daß der Weise „se ad civilem societatem natum senserit“ – „fühlt, daß er zur bürgerlichen Gemeinschaft geboren ist“ (De legibus I, 62). 148 Cicero: De legibus II, 5. 149 Siehe Cicero: De legibus I, 62.

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Mit einem Wort: Der Weise – und er allein – ist dazu berufen, als Gesetzgeber der civitas vorzustehen. Cicero begründet dies ähnlich wie die älteren Stoiker ihr Ideal des weisen Monarchen, nämlich durch die Einsicht, die der Weise aufgrund seiner vollkommen entfalteten Vernunft in das göttliche Naturgesetz habe.150 Allerdings handelt es sich bei der Gesetzgebung durch den Weisen für Cicero nicht nur um ein Ideal, von dem man angesichts der schlechten Realität auch beliebig wieder abrücken oder das man durch Konzessionen schrittweise zurücknehmen kann, sondern um eine Forderung, die es unter allen Umständen zu verwirklichen gilt. Die positiven Gesetze, die der Weise kraft seiner voll entwickelten Vernunft zu schaffen vermag, leiten sich, so Ciceros Grundannahme, unmittelbar aus dem ewigen, uranfänglichen Gesetz Jupiters her, wenden dieses selbst auf einzelne Fälle an, konkretisieren es also, ohne substantiell von ihm verschieden zu sein. Daher erheben diese positiven Gesetze auch den Anspruch, im Grunde ebenso unveränderlich und unaufhebbar zu sein wie jenes göttliche Gesetz. Cicero selbst geht es in De legibus darum, als weiser Nomothet solche konkreten Gesetze zu formulieren, die eigentlich immer und überall gelten, weil sie natürliches Recht enthalten, d. h. – dem Wesenskriterium der Gerechtigkeit entsprechend – „zum Wohlergehen der Bürger und zur Erhaltung der Gemeinwesen und zum Leben der Menschen in Ruhe und Glück“151 beitragen. Während Cicero also in der Definition des Naturgesetzes als göttlich-menschlicher Vernunft, die das Rechte befiehlt und das Gegenteil verbietet, nicht von der Auffassung der älteren Stoa abweicht, bestimmt er doch das Verhältnis dieses göttlichen Gesetzes zu den menschlichen Gesetzen ganz anders als sie, indem er es unter dem Gesichtspunkt der Übereinstimmung betrachtet. Von daher gilt ihm aber auch die durch jenes Weltgesetz beherrschte allumfassende Kosmopolis nicht mehr, wie den frühen Stoikern, als bloß metaphysische Einheit aller Vernunftwesen, die den einzelnen Gemeinwesen unverbunden gegenübersteht. Vielmehr soll die Kosmopolis bei Cicero durch die postulierte Konkretisierung des einen Naturgesetzes ausdrücklich auch als die societas legis aller Menschen realisiert werden. Die positiven Gesetze, die in den beiden letzten erhaltenen Büchern von De legibus formuliert werden, erheben als im göttlichen Naturgesetz fundierte Gesetze also nicht nur den Anspruch auf ewige, sondern ebenso auf 150 Siehe Cicero: De legibus II, 8. 151 Cicero: De legibus II, 11.

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universale Gültigkeit. Da sie aus der allgemeinen Natur (des Menschen) abgeleitet sind, bildet das Recht, das diese Gesetze zum Inhalt haben, notwendig zugleich das für alle Menschen geltende natürliche Recht.152 Betrachtet man nun aber den Codex positiver Einzelgesetze, die Cicero anschließend aus seinem Vernunftgesetz der Natur bzw. von der natura iuris ableitet, so fällt auf, daß diese sich als weitgehend identisch erweisen mit den Sakral- und Magistratsgesetzen der altrömischen Republik, welche Cicero ja bereits in seiner Schrift De re publica als die bestmögliche Verfassungsordnung aufgewiesen hatte. Die von ihm vorgenommene Konkretisierung des stoischen Naturrechts führt auf diese Weise letztlich zur Legitimierung der in der Spätzeit der Republik bereits in ihren Grundfesten erschütterten Gesetze und Sitten der Vorfahren. Angesichts des um deren Erhalt bemühten politischen Ziels des Reformers Cicero wird so deutlich, inwiefern seine Rechtsphilosophie als Basis des nachfolgenden Gesetzescodex auch eine ideologische Funktion erfüllt. Die Affirmation des Bestehenden, der sie dient, läßt seine Naturrechtslehre damit schließlich nicht minder fragwürdig erscheinen als die der älteren Stoa, wenn auch aus anderem Grund. Nimmt diese die Hauptaufgabe jedes Naturrechtsdenkens – die Begründung bzw. Berichtigung des positiven Rechts durch das Naturrecht – gar nicht ernsthaft in Angriff, um statt dessen „bei einer hohen, aber inhaltlich nicht gefüllten und daher für konkrete Verfassungsaufgaben unbrauchbaren Idee“153 stehen zu bleiben, so wird umgekehrt an Ciceros Versuch einer Ableitung von positiven Einzelnormen aus dem allgemeinen Weltgesetz die Gefahr deutlich, die darin liegt, das Na152 Im Zusammenhang mit dem eingangs entworfenen Programm, die Gesetze zu ermitteln, nach denen nicht nur die römische Res publica, sondern alle civitates regiert werden sollen, ist daraus ganz klar auch eine Rechtfertigung der römischen Weltherrschaft abzulesen, da durch sie in Ciceros Augen das im ewigen Naturgesetz gründende Recht unter den Völkern verbreitet werden kann. Für Cicero ist die stoische Kosmopolis also offenbar mit dem Imperium Romanum identisch – vorausgesetzt freilich, daß es jene Aufgabe auch wirklich erfüllt. Eben damit handelt es sich aber nicht nur um eine Legitimation der Weltherrschaft Roms, sondern vielmehr zugleich um eine nachdrückliche Ermahnung dazu, diese im angezeigten Sinn gerecht auszuüben, ein iustum imperium zu errichten, wie es in der Gegenwart Ciceros nicht mehr bzw. noch nicht vorhanden sei. Zu Ciceros Kritik an der zeitgenössischen Herrschaftspraxis der Römer sowie zum – „hegemonialen“ – Sinn der universalistischen Tendenz seines gesetzgeberisch-reformpolitischen Vorhabens vgl. Klaus Martin Girardet: Die Ordnung der Welt (wie Anm. 107), S. 11 – 16 und S. 144 – 164. 153 Jürgen Blänsdorf: Das Naturrecht in der Verfassung (wie Anm. 2), S. 44.

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turrecht einfach mit der eigenen Rechtsordnung gleichzusetzen. Cicero schießt also gleichsam über das Ziel hinaus, wenn er – in dieser Hinsicht formal dem Vorbild Platons folgend – meint, daß es nur eine bestimmte positive Rechtsordnung gibt, die bis ins Detail hinein mit der natürlichen identisch ist. Selbst wenn er sich hiermit aber teilweise tatsächlich „gegen die kritizistische Funktion zugunsten der affirmativen Funktion des Naturrechts“154 entscheiden mag, wäre es dennoch zu einseitig, Cicero gänzlich auf letztere festzulegen. Gerade in seiner nachdrücklichen Forderung nach einer politischen Realisierung der auf der Gleichheit aller Menschen basierenden Gerechtigkeit liegt vielmehr auch ein durchaus kritisches Potential seiner Naturrechtskonzeption, deren ahistorische Denkweise allerdings im weiteren Traditionsprozeß aufgegeben wird. IV. Zur Rezeption und Transformation des stoisch-ciceronischen Naturrechtsdenkens von den klassischen römischen Juristen bis Rousseau Zunächst wirkt die von Cicero vermittelte stoische Naturrechtslehre in die klassische römische Jurisprudenz der Kaiserzeit hinein. Dabei spielt die kosmopolitische Dimension des Naturrechts eine wichtige Rolle, indem das ius naturae/naturale mit dem ,Völkerrecht‘, dem ius gentium,155 das sich neben dem ius civile als Reflexionsgegenstand der Juristen etabliert, in Verbindung gebracht wird. Aus der Beobachtung, daß es bei verschiedenen Völkern gleiche Rechtsgrundsätze gibt, wird gefolgert, dieses ius gentium habe – im Gegensatz zu dem von Volk zu Volk differierenden ius civile – seinen Ursprung in der Natur; bei Gaius (ca. 110 – 180), der ein Jahrhundert nach Cicero natura und ratio asso154 Stephan Podes: Die Krise der spten rçmischen Republik und Ciceros Rechtsphilosophie (wie Anm 137), S. 92. Zu dieser Tendenz als Gefahr eines jeden Naturrechtsdenkens, nicht bloß des antiken bzw. ciceronischen, siehe Franz Wieacker: Zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion. Köln/Opladen 1965, S. 24 f. Wieacker warnt hier vor jedem Naturrechtsdenken, das durch Festlegung auf eine bestimmte Rechtsmaterie „Ansprüche auf eine unbedingte dogmatische Autorität“ erhebt. Statt dessen plädiert er für ein Verständnis des Naturrechts als eines „rechtskritisches Organ[s]“, welches „wie das Daimonion des Sokrates eher warnen als gebieten“ soll. 155 Zum folgenden vgl. Wolfgang Waldstein: Naturrecht bei den klassischen rçmischen Juristen, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen (wie Anm. 9), S. 239 – 253; Max Kaser: Ius gentium. Köln u. a. 1993.

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ziiert, heißt es dementsprechend, dieses Recht sei durch die natürliche Vernunft unter allen Völkern verbreitet.156 Ulpian (ca. 170 – 223) dehnt das ius naturale im ersten Fragment der Digesten noch weiter aus. Es sei nicht nur das natürliche Recht aller Völker, sondern jenes Recht, „quod natura omnia animalia docuit: nam ius istud non humani generis proprium, sed omnium animalium“ – „das die Natur alle Lebewesen gelehrt hat; denn dieses Recht ist nicht allein dem Menschengeschlecht eigen, sondern allen Lebewesen“,157 womit allerdings gerade der stoisch-ciceronische Gedanke der spezifischen Würde des Menschen als Vernunftwesen aufgegeben wird. Ferner gehen ius naturale und ius gentium auch in der Ansicht der klassischen Juristen bezüglich der Sklaverei auseinander. Während diese zwar zum ius gentium gezählt wird, da es sie bei allen den Römern bekannten Völkern gibt, gilt sie gemäß der stoischen Auffassung, die hier übernommen wird, als dem Naturrecht widersprechend. In diesem Sinn betont Ulpian etwa: „quae res a iure gentium originem sumpsit, utpote cum iure naturali omnes liberi nascerentur […].“ – „Diese Einrichtung [die Sklaverei] entstammt dem Völkergemeinrecht, da nach Naturrecht ja alle Menschen frei geboren wurden […].“158 Schon daraus, daß die contra naturam bei den Völkern eingeführte Sklaverei von den Juristen einfach hingenommen wird und in ihren Augen kein echter Konflikt zwischen dem ius naturale und dem ius gentium besteht, wird deutlich, wie kraftlos das naturrechtliche Gleichheitspostulat auch bei ihnen noch bleibt. Als besonders folgenreich erweist sich die Rezeption der stoischen und speziell der ciceronischen Lehre vom natürlichen Gesetz in der Patristik; von hier aus verläuft die weitere Traditionslinie über die Scholastik bis schließlich zur Rechtsphilosophie der Neuzeit. Die zentralen Begriffe, in denen im Anschluß an die früheren Kirchenväter Augustinus (354 – 430) das Naturrecht denkt, sind Ciceros Übersetzungen der altstoischen Termini, auch wenn sie bei Augustinus eine aufgrund der neuen, christlichen Ausgangssituation veränderte Bedeutung erhalten. So definiert Augustinus die lex aeterna als „ratio divina vel voluntas Dei ordinem naturalem conservari iubens, perturbari vetans“ – „die göttliche Vernunft oder der Wille Gottes, der gebietet, die 156 Siehe Gaius: Institutionen 1, 1 (hg. von Ulrich Manthe. Darmstadt 2004). 157 Ulpian: Digesten 1, 1, 1, 3 (hg. von Okko Behrends u. a. Heidelberg 1995). 158 Ulpian: Digesten 1, 1, 4; vgl. auch Digesten 50, 17, 32: „quod ad ius naturale attinet, omnes homines aequales sunt“ – „was das natürliche Recht betrifft, sind alle Menschen gleich“.

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natürliche Ordnung zu erhalten, und verbietet, sie durcheinander zu bringen“159. Er unterscheidet sie damit zunächst in einer den pantheistisch denkenden Stoikern und Cicero fremden Weise von der natürlichen Ordnung, dem ordo naturalis bzw. der lex naturae/naturalis. Auch steht der Mensch zu dieser in einem anderen Bezug als in der Stoa und bei Cicero, insofern die ratio des Menschen nach Augustinus keineswegs selbständig an der Vernunft Gottes partizipiert, sondern dazu auf eine göttliche Gnadengabe angewiesen ist. Allerdings vermag so auch der Ansicht des Kirchenvaters zufolge der Mensch die lex aeterna und ihre incommutabiles regulae zu erkennen, da ihm das Gesetz der Natur wie ein Bild durch das Siegel der lex aeterna in das Wachs seines Herzens und Geistes eingedrückt sei.160 Hierzu kann sich Augustinus auf die Stelle aus dem zweiten Paulusbrief an die Römer berufen (2, 14 f.), wo es heißt, daß Gott allen Menschen – auch den Heiden – das Gesetz gegeben habe.161 Inhaltlich identifiziert wird dies dem Menschen eingeprägte Naturrecht von Augustinus wie bereits von den älteren Kirchenvätern mit der Goldenen Regel aus Mt 7, 12 und Lk 6, 31 sowie den Normen des Dekalogs – ethischen Grundeinsichten des Menschen, welche sich auch auf das Recht auswirken, das schließlich durch die lex humana gesetzt wird. Diese steht der göttlichen lex aeterna als lex temporalis gegenüber, als veränderliches positives Recht, das gleichwohl der lex aeterna und mit ihr der lex naturalis zu entsprechen, also echtes Recht zu sein vermag. Mit dieser Vorstellung unterscheidet sich Augustinus erheblich von Cicero, der ja davon ausging, daß positives Recht, das diesen Namen aufgrund seiner Übereinstimmung mit dem Wesenskriterium der iustitia als natura iuris auch wirklich verdient, ebenso unveränderlich wie das höchste Gesetz selbst sei. Dagegen sucht Augustinus zu zeigen, inwiefern auch die Gerechtigkeit eines Gesetzes von den jeweiligen äußeren Umständen abhängt und durch eine Veränderung dieser aus einem gerechten Gesetz ein 159 Augustinus: Contra Faustum XXII, 27 (hg. von Joseph Zycha. Prag u. a. 1891). Die späterhin zum fundamentalen Streitgegenstand gewordene Alternative zwischen Intellektualismus und Voluntarismus scheint in der Wendung „ratio divina vel voluntas Dei“ noch in der Einheit eines Sowohl-als-auch aufgehoben. 160 Vgl. Klaus Martin Girardet: Naturrecht und Naturgesetz: Eine gerade Linie von Cicero zu Augustinus?, in: Rheinisches Museum für Philologie 138, 1995, S. 266 – 298, dort S. 281 f. 161 In dieser Gedankenfigur lebt auf spezifisch christliche Weise die stoisch-ciceronische Idee der naturrechtlichen Gleichheit aller Menschen fort.

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ungerechtes werden kann, ohne daß sich die Auffassung von Gerechtigkeit dadurch wandeln würde.162 Damit gelangt Augustinus zu einer Anerkennung der Veränderlichkeit und Dynamik des konkreten, obzwar überpositiv begründeten Rechts, wie sie Cicero fremd bleiben mußte. Jede Konkretisierung des natürlichen Gesetzes, so Augustinus’ wichtige Einsicht, unterliegt bestimmten, je anderen historischen Bedingungen, die seine absolut adäquate Umsetzung unmöglich machen. In produktiver Weise eignet sich Thomas von Aquin (1225 – 1274) diese Gedanken an. Wie Augustinus unterscheidet auch er zwischen lex aeterna, lex naturalis und lex humana, verknüpft dabei jedoch zugleich die stoisch-augustinische mit der aristotelischen Denktradition. Das zeigt sich schon, wenn Thomas das natürliche Gesetz als die Form bestimmt, in der das ewige Gesetz dem Menschen zugänglich ist,163 allerdings nicht im augustinischen Sinne als eingeprägtes Abbild, sondern in Form von „allgemeinen Regeln“ (regulae generalis),164 die erst noch der Präzisierung durch eine spezifisch handlungsbezogene Vernunft bedürfen.165 Oberstes Prinzip der solchermaßen bestimmten lex naturalis ist für Thomas der praktische Vernunftgrundsatz, das Gute zu tun und das Böse zu meiden,166 der als solcher freilich noch offen läßt, was inhaltlich als das Gute oder Böse zu gelten hat. Dies ergibt sich aber aus der Natur des Menschen, welcher schon – Analogien zur stoischen Oikeiosislehre werden sichtbar – eine bestimmte „,Neigung‘ zum ,Gesollten‘“167 inhärent ist: So gehören zu ihr Grundstrebungen, in162 Als illustratives Beispiel führt Augustinus das Recht eines Volkes an, seine Magistrate selbst zu wählen, welches gerecht sei, solange das Volk bene moderatus ist, ungerecht aber, sobald das Volk verkommen und korrupt sei. Vgl. Augustinus: De libero arbitrio 1, 6, 14 f. (hg. von Johannes Brachtendorf. Paderborn u. a. 2006). 163 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 91, 2 (hg. von Otto Hermann Pesch. Heidelberg u. a. 1977): „[…] lex naturalis nihil aliud est quam participatio legis aeterna in rationali creatura.“ – „[…] das natürliche Gesetz ist nichts anderes als eine Teilhabe am ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf.“ 164 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 91, 3. 165 Vgl. dazu Ludger Honnefelder: Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklrungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. von Jürgen Miethke und Klaus Schreiner. Sigmaringen 1994, S. 197 – 213, dort S. 203 f. 166 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 94, 2: „Hoc est ergo primum praeceptis legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum.“ – „Dies ist also das erste Gebot des Gesetzes: Das Gute ist zu tun und zu erstreben, das Bçse ist zu meiden.“ 167 Wolfgang Kluxen: Lex naturalis bei Thomas von Aquin. Wiesbaden 2001, S. 34.

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clinationes naturales, wie die – mit allen Lebewesen geteilte – Neigung zur Selbst- und Arterhaltung, aber auch die genuin menschliche Neigung zur Erkenntnis der Wahrheit und zum gesellschaftlichen Leben: Et secundum hoc, ad legem naturalem pertinent ea quae ad hujusmodi inclinationem spectant: utpote quod homo ignorantiam vitet, quod alios non offendat cum quibus debet conversari, et cetera hujusmodi quae ad hoc spectant. Und demzufolge umgreift das natürliche Gesetz alles, was auf diese Naturneigung Bezug hat: daß der Mensch z. B. die Unwissenheit überwinde, daß er andere, mit denen er zusammenleben muß, nicht verletze, und was sonst noch damit zusammenhängt.168

Auch diese inclinationes stecken aber nur einen allgemeinen naturgesetzlichen Rahmen für das Handeln des Menschen ab, der jeweils noch durch die fortschreitende Erkenntnis der praktischen Vernunft ausgefüllt werden muß, indem konkretere ethisch-moralische Forderungen aus den oberen Prinzipien der lex naturalis abgeleitet werden, z. B. das Gebot, niemanden zu töten, aus dem Gebot, niemandem etwas Böses zuzufügen.169 Die erforderliche Konkretisierung der naturgesetzlichen Normen durch die praktische Vernunft geschieht Thomas zufolge nun aber nicht nur durch solch notwendige Schlußfolgerungen (conclusiones), sondern ebenfalls durch kontingente Zusatzbestimmungen (determinationes), die sich nicht, wie jene, unmittelbar aus der lex naturalis ergeben, obwohl sie ihr durchaus auch entsprechen müssen.170 Als Konsequenz für Thomas’ Konzeption des Verhältnisses zwischen dem Naturgesetz bzw. Naturrecht und dem positiven Recht der lex humana ergibt sich daraus, daß die menschlichen Gesetze, insofern sie gut bzw. gerecht sind, sich zwar aus dem natürlichen Gesetz herleiten, mit ihm übereinstimmen, dabei jedoch zugleich in gewissen Grenzen wandelbar 168 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 94, 2. 169 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 95, 2: „sicut hoc est ,non esse occidendum‘, ut conclusio quaedam derivari potest ab eo quod est ,nulli esse malum faciendum‘.“ – „So kann z. B. das Verbot: ,Du sollst nicht töten‘ als Folgesatz hergeleitet werden aus dem Grundsatz ,Du darfst niemandem ein Leid antun‘.“ 170 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 95, 2: „Sed sciendum est quod a lege naturali dupliciter potest aliquid derivari: uno modo, sicut conclusiones ex principiis; alio modo, sicut determinationes quaedam aliquorum communium.“ – „Man muß aber wissen, daß etwas in doppelter Weise sich vom natürlichen Gesetz herleiten kann: einmal wie die Folgesätze aus den Grundsätzen; ein anderes Mal wie nähere Bestimmungen allgemeiner Sätze.“

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sind. Auch Thomas geht es also mit seiner Leges-Lehre, die auf diese Weise zwei konkurrierende Denkmodelle zur Synthese bringt, um das, was sich jeweils im Hier und Jetzt als das von Natur aus Rechte erweist. Obwohl das christliche Denken a priori universal ausgerichtet ist, indem es von einer ursprünglichen Gleichheit aller Menschen ausgeht, die in ihrer spezifischen Würde als Geschöpfe und Ebenbilder Gottes begründet ist, ergeben sich angesichts der historischen Realität der Spätantike und des Mittelalters daraus doch auch Probleme, wie sie die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre in der Form nicht kannte. So stellt sich für die Christen zum einen beispielsweise die Frage, inwiefern unter jener Voraussetzung die faktische rechtliche Ungleichheit der Menschen innerhalb der politischen Ordnung zu begründen und zu rechtfertigen ist – etwa als Resultat des Sündenfalls. Zum anderen erscheint das Verhältnis von Christen und Heiden prekär: Gilt das natürliche Recht wirklich – wie es im zweiten Römerbrief des Apostels Paulus heißt – gleichermaßen für Getaufte wie für Ungetaufte? Sowohl bei Augustinus als auch bei Thomas finden sich im Kontext dieser Problemstellungen Aussagen, die einigermaßen irritierend wirken: Augustinus spricht sich nach anfänglichem Zögern offen für die Verfolgung Un- bzw. Andersgläubiger aus,171 und Thomas legitimiert das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Herren und Sklaven, auch wenn er dabei – im Unterschied zu Aristoteles – auf das Menschsein des Sklaven hinweist.172 Vor diesem Hintergrund ist die innovative Leistung der spanischen Spätscholastik zu sehen; sie bereitet schon den Übergang zur neuzeitlichen Naturrechtslehre vor, die wieder stärker an die stoischen Grundlagen anknüpft, indem sie die naturrechtliche Gleichheit der Menschen nicht mehr aus der anthropologischen Wesensbestimmung als imago dei ableitet, sondern sich dafür auf die allen gemeinsame Vernunftnatur beruft. In diesem Sinn betont bereits Francisco de Vitoria (ca. 1483 – 1546), der Begründer der Schule von Salamanca, angesichts der Entdeckung der Neuen Welt und der brutalen Unterwerfung ihrer Bewohner, daß die unbedingt verbindlichen Gesetze der Naturordnung nicht nur für Christen gelten, sondern dezidiert für alle Menschen, also 171 Siehe beispielsweise Augustinus: Epistulae 93, 5, 16 (hg. von Klaus-Detlev Daur. Turnhout 2005), wo Augustinus die Glaubensverbreitung durch Zwang rechtfertigt. 172 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologiae II-II 57, 4 (hg. von Arthur F. Utz. Heidelberg u. a. 1953).

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auch für die indianischen Heiden bzw. ,Barbaren‘, welche ebenso befähigt seien, die Inhalte der lex naturalis zu erkennen. Argumente der Stoa aufgreifend, folgert Vitoria dies aus der Voraussetzung einer allgemeinen Menschennatur, die in der spezifischen Vernünftigkeit beruht, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet und die ihn zu einem geselligen Leben mit seinesgleichen, ja, zu einer grundsätzlichen Verbundenheit mit allen anderen Menschen prädisponiert.173 Indem Vitoria auf diese – letztlich säkularisierende – Weise alle Menschen als Vernunftwesen naturrechtlich gleichstellt, vermag er aber das Naturrecht zum Fundament eines globalen Völkerrechts zu machen, von dem aus sich die Illegitimität der zeitgenössischen Kolonialisierungspraxis aufzeigen läßt. Der entsprechende Gedankengang in Vitorias berühmter Relectio de Indis setzt, nach einer allgemeinen Herleitung des Wesens politischer Herrschaft, bei der auch den Indios zukommenden prinzipiellen, glaubensunabhängigen Gemeinschafts- und Rechtsfähigkeit an, um von hier aus ebenfalls ihre Eigentums- und Herrschaftsfähigkeit zu begründen, kraft welcher sie den spanischen Eroberern einen eigenständigen Rechtsstatus entgegensetzen können, den diese zu berücksichtigen haben.174 Damit begründet Vitoria auf der Basis des stoischen Naturrechtsgedankens erstmals ein Völkerrecht als genuin subjektives Recht, insofern es ein natürliches Recht der Völker darstellt, das nicht nur im Sinne eines objektiv verpflichtenden Kanons von Normen, sondern eines auf jedes Volk bezogenen Anrechts auf Selbstbestimmung

173 Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de potestate civili 6 (Vitorias Werke werden zitiert nach der Ausgabe von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stüben. Stuttgart u. a. 1995 – 97). Zwar beruft sich Vitoria auch auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen, fokussiert diese aber primär auf seine Vernunftnatur; vgl. dazu auch Rolf Grawert: Francisco de Vitoria. Naturrecht – Herrschaftsordnung – Vçlkerrecht, in: Der Staat 39, 2000, S. 110 – 125, dort S. 117. 174 Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de Indis I, 1, 15. Auf die Frage, ob die amerikanischen ,Barbaren‘ überhaupt eine rechtmäßige Herrschaft (dominium) ausgeübt haben, antwort Vitoria in I, 1, 16: „[…] quod sine dubio barbari erant et publice et privatim ita veri domini sicut Christiani nec hoc titulo potuerunt spoliari aut principes aut privati rebus suis, quod non essent veri domini.“ – „daß die Barbaren ohne Zweifel sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich ebenso wie die Christen echte Herren waren und mit dem Rechtsgrund, daß sie keine echten Herren seien, weder Herrscher noch Privatleute ihrer Güter beraubt werden können.“

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zu verstehen ist.175 Der Weg zu subjektiven Menschenrechten erscheint von hier aus nicht mehr weit.176 Darüber hinaus kann der Spanier – noch vor Hugo Grotius – auch insofern als ,Vater des Völkerrechts‘ gelten, als er im Ausgang von seinen naturrechtlichen Prämissen eine weltumspannende Rechtsordnung einfordert, die der Freiheit und Gleichheit aller Menschen bzw. Völker Rechnung trägt. Im Rückgriff auf Ciceros Konkretisierung der stoischen Kosmopolis-Idee bestimmt Vitoria den ganzen Erdkreis als eine universale, alle Menschen und Völker miteinander verbindende Rechtsgemeinschaft: „Habet enim totus orbis, qui aliquo modo est una res publica, potestatem ferendi leges aequas et convenientes omnibus […].“ – „Es hat nämlich die ganze Welt, die in gewisser Weise ein einziges Gemeinwesen bildet, die Vollmacht, Gesetze zu erlassen, die gerecht und angemessen für alle sind […].“177 Ausgehend von der Vorstellung einer solch universalen Gemeinschaft zwischen allen – christlichen wie nichtchristlichen – Völkern über die Einheit der Christenheit hinaus, die auch die Folgerung einschließt, daß weder Papst noch Kaiser als die Herren der Welt gelten können,178 formuliert Vitoria nun konkrete naturrechtliche Regeln für das Zusammenleben der Völker, wobei er sich auf die römisch-rechtliche Engführung von ius naturale und ius gentium beruft179 und zen175 Eingehender zu diesem Paradigmenwechsel vom objektiven zum subjektiven Recht bei Vitoria vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (wie Anm. 36), S. 353 – 356. 176 Was allerdings nicht etwa heißen soll, Vitoria selbst begründe solche bereits. Vgl. dazu Rolf Grawert: Francisco de Vitoria (wie Anm. 173), S. 123 f.: „Doch gibt er [Vitoria] auch keinen Anlaß, auf Individualrechte zu schließen, die sich gegen das politische Gemeinwesen richten könnten. Was bleibt, ist also die wertungsabstinente Anerkennung aller Völker beziehungsweise Gemeinwesen als grundsätzlich gleichberechtigte Völkerrechtssubjekte […].“ 177 Francisco de Vitoria: Relectio de potestate civili 21. 178 Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de Indis I, 2, 2 – 8. 179 Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de Indis I, 3, 1: „Hispani habent ius peregrinandi in illas provincias et illic degendi, sine aliquo tamen nocumento barbarorum, nec possunt ab illis prohiberi. Probatur primo ex iure gentium, quod vel est ius naturale vel derivatur ex iure naturali (Inst. De iure naturali et gentium): Quod naturalis ratio inter omnes gentes constituit, vocatur ius gentium. Apud omnes enim nationes habetur inhumanum sine aliqua speciali causa hospites et peregrinos male accipere, e contrario autem humanum / et officiosum / se bene habere erga hospites.“ – „Die Spanier haben das Recht, in jene Provinzen zu reisen und sich dort aufzuhalten – freilich nur, wenn dies nicht mit irgendeinem Schaden fr die Barbaren einhergeht. Sie kçnnen von den Barbaren nicht daran gehindert werden. Der Schluß wird erstens mit dem Völkerrecht bewiesen, das entweder natürliches

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trale Grundsätze des späteren Völkerrechts vorwegnimmt, so etwa die Reise-, Aufenthalts- und Handelsfreiheit180 zwischen den Völkern sowie die Freiheit der Meere181, nicht zuletzt aber ebenfalls die Missionsfreiheit, d. h. das Recht auf eine – friedliche – Verbreitung des Christentums182. Auch der niederländische Humanist Hugo Grotius (1583 – 1645), mit dem das neuzeitliche Naturrechtsdenken beginnt, nimmt das Naturrecht vom Völkerrecht aus in den Blick. Sein Hauptinteresse liegt dabei jedoch – den Zeitumständen des Dreißigjährigen Krieges entsprechend – auf dem Kriegsrecht. Als den Ausgangspunkt seiner Fragestellung nach dem ius naturae et gentium nennt er so in seinem Hauptwerk, den 1625 in Paris erschienenen De jure belli ac pacis libri tres, die von ihm beobachtete „entartete Kriegsführung, deren sich selbst rohe Völker geschämt hätten“183. Dieser recht-losen Kriegsführung seiner Gegenwart will er ein Kriegsrecht entgegenstellen, das auf den „ewigen und für alle Zeiten geltenden Gesetzen“184 der Natur beruht. Das Kriegsrecht gehört für Grotius also zum Völkerrecht, das als „Band der menschlichen Gesellschaft“ (vinculum societatis humanae) 185 seinerseits auf dem Naturrecht basiert – wenigstens zum Teil, denn ebenso wie das innerstaatliche Recht (ius civile) besteht nach Grotius, der hiermit die thomistische Figur des ,Zusatzrechts‘ aufnimmt, das zwischenstaatliche Recht (ius gentium) zur anderen Hälfte auch aus willkürlichem Recht (ius voluntarium), das durch Übereinkunft der Menschen zustande gekommen ist.186 Das Naturrecht selbst aber begründet er gegen utilitaristische Positionen wie etwa die des Skeptikers Karneades im ausdrücklichen Bezug auf Cicero und die Stoa durch die anthropologische Voraussetzung eines „gesellige[n] Trieb[es] zu einer ruhigen und nach dem Maß seiner [des Menschen] Einsicht geordneten

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Recht ist oder aus dem natürlichen Recht hergeleitet wird (Inst. De iuri naturali et gentium). Was die natrliche Vernunft unter allen Vçlkern festgesetzt hat, heißt Vçlkerrecht. Bei allen Nationen gilt es nämlich als unmenschlich, Fremde und Reisende ohne besonderen Grund schlecht zu behandeln, andererseits aber als menschlich und pflichtmäßig, sich gegenüber Fremden gut zu verhalten.“ Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de Indis I, 3, 2. Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de Indis I, 3, 1. Siehe Francisco de Vitoria, Relectio de Indis I, 3, 8. Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 27 (hg. von Walter Schätzel. Tübingen 1950). Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 26. Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 17; II, 8, 26. Siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 16 f.

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Gemeinschaft mit seinesgleichen“187. Dieser appetitus societatis geht dabei über den bloßen altruistischen Instinkt, den auch manche Tiere aufweisen, deutlich hinaus, indem er sich beim Erwachsenen mit der „Fähigkeit, allgemeine Regeln zu fassen und danach zu handeln“188, d. h. mit der praktisch-moralischen Vernunft verbindet. Bis ins einzelne hinein der stoischen Lehre von der Oikeiosis folgend, unterscheidet Grotius im weiteren die ersten Triebe der Natur – wie den Trieb zur Selbsterhaltung – und die ihnen entsprechenden ersten Pflichten von den späteren, sittlichen Prinzipien der Vernunft, denen freilich der Vorrang gebühre.189 Als Beispiele für solche naturrechtlichen, der „Sorge für die Gemeinschaft“ entsprechenden allgemeinen Vernunftregeln werden angeführt: fremdes Gut nicht zu berühren, Versprechen zu halten, verursachten Schaden zu ersetzen, Verbrechen zu bestrafen.190 Indem Grotius nun aus den natürlichen Pflichten im Umkehrschluß auch Rechte ableitet, begründet er also – im Ausgang vom altstoischen Oikeiosis-Theorem – erstmals ausdrücklich die Idee von natürlichen Individualrechten,191 die als Keimzelle der späteren Grund- und Menschenrechtsvorstellung gelten kann.192 So folgert er etwa aus dem ursprünglichen Trieb und der entsprechenden Pflicht des Menschen zur Selbsterhaltung zunächst das subjektive Recht auf „das Leben, die Glieder und die Freiheit“193, das jeder Mensch von Natur aus besitzt und das ihn auch zur Verteidigung seines Lebens sowie des dafür Nötigen berechtigt. Allerdings geht Grotius davon aus, daß die natürlichen Rechte des Individuums – die er dann auch auf die Völker überträgt – nur im vorstaatlichen Naturzustand194 in vollem Umfang gelten, durch 187 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 6. Allgemein zur Stoa-Rezeption bei Grotius vgl. Grotiana. New Series 22/23 (2001/2002): Grotius and the Stoa. 188 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 7. 189 Siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis I, 2, 1; vgl. dazu auch Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (wie Anm. 5), S. 125 f. 190 Siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 8. 191 Siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis I, 1, 4 f. 192 Vgl. Christian Gellinek: Staat und Vçlkerrecht bei Hugo Grotius, in: Staat bei Hugo Grotius, hg. von Norbert Konegen und Peter Nitschke. Baden-Baden 2005, S. 67 – 78, dort S. 73 und 75. 193 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis I, 2, 1 (5). 194 Die Theorie eines naturrechtlichen Naturzustandes hat – wie das Naturrechtsdenken selbst – ihre Wurzeln in der Stoa. Hier ist es Seneca, der in seinem 90. Brief an Lucilius Vorstellungen des Naturrechts mit seiner auf den mittleren Stoiker Poseidonios – und schließlich auf Hesiod – zurückgehenden Kon-

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die Schließung eines Gesellschaftsvertrags jedoch zwangsläufig eingeschränkt werden. So muß beispielsweise nach Grotius der Mensch sein natürliches Recht zum Widerstand (teilweise) aufgeben, wenn er in den Staat eintritt, da andernfalls „nur eine ungeordnete Masse wie bei den Cyklopen“195 zustande kommen würde. Thomas Hobbes (1588 – 1679) nimmt zwar viele dieser Aspekte auf, schlägt dabei jedoch eine ganz andere Denkrichtung ein, deren Resultate zu dem, was seit der Stoa unter Naturrecht verstanden wird, streckenweise in diametralem Gegensatz stehen. Vor allem kritisiert er die anthropologische Annahme eines appetitus societatis, wie Grotius sie im Rekurs auf die Stoa seiner Naturrechtslehre zugrundelegt, um dagegen aus dem Trieb zur Selbsterhaltung (self-preservation) zunächst zu schließen, daß „die Menschen am Zusammenleben kein Vergnügen empfinden, sondern im Gegenteil großen Verdruß, wenn es keine Macht gibt, die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern“196. Er begründet dies damit, daß sie in diesem Fall in einem vorstaatlichen Naturzustand leben, der sich – im Gegensatz zu dem von Grotius als Zustand friedlicher Einfachheit beschriebenen –197 als permanenter latenter Kriegszustand erweist. Hobbes wendet nun auch auf den Trieb zur Selbsterhaltung die grotianische Konzeption des subjektiven (Natur-)Rechts an, das er als right of nature bezeichnet und terminologisch vom law of nature unterscheidet: Während jenes „Recht“ ausschließlich die natürliche Freiheit (liberty) bedeutet, die jeden einzelnen im Naturzustand dazu befähigt und berechtigt, sein eigenes Leben mit allen möglichen Mitteln zu erhalten, versteht er unter diesem „Gesetz“ dagegen die korrelierende Verpflichtung (obligation), eben dies zu tun. Da zeption einer glücklichen Urzeit verknüpft. Auch im Mittelalter spielt die Gedankenfigur eines Naturzustandes eine gewisse Rolle für das Naturrechtsdenken, indem dieser mit dem paradiesischen Zustand vor dem Sündenfall identifiziert wird, in dem das sog. primäre Naturrecht im Unterschied zum postlapsarischen sekundären Naturrecht gilt. In der Neuzeit gehört der Rekurs auf einen Naturzustand zu jeder Naturrechtstheorie. Grotius’ Konzeption des Naturzustands knüpft besonders an die antike Vorstellung an: Unter Berufung auf Tacitus und Macrobius beschreibt er den ursprünglichen Zustand der Menschen vor der Gründung von Staaten als eine glückliche, einfache Lebensweise ohne Privateigentum, geprägt von gegenseitiger Liebe der Menschen zueinander; siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis II, 2, 2. 195 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis I, 4, 2. Eingehend dazu Manfred Walther: Das Widerstandsrecht bei Grotius, in: Staat bei Hugo Grotius (wie Anm. 192), S. 49 – 65. 196 Thomas Hobbes: Leviathan I, 13 (hg. von Iring Fetscher. Frankfurt a.M. 1994). 197 Siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis II, 2, 2.

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nun aber das right of nature im natürlichen Kriegszustand „a Right to every thing; even to one anothers body“ – „ein Recht auf alles, selbst auf den Körper eines anderen“198 darstellt, so daß jeder ständig in Todesfurcht leben muß, tritt das law of nature dem right of nature entgegen, um es durch die Vernunftregel, den Frieden zu suchen und einzuhalten („to seek Peace, and follow it“), zu begrenzen. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, als würde Hobbes auf diese Weise nach dem stoischen Modell das Naturgesetz aus dem Wechselspiel von Naturneigungen und Vernunft ableiten,199 handelt es sich in Wirklichkeit doch mehr um ein an die Traditionslinie des positivistischen Rechtsutilitarismus anknüpfendes Verfahren, das sich lediglich der stoisch-naturrechtlichen Terminologie bedient. Denn letztlich sind das hobbesianische right of nature und law of nature doch nur zwei Seiten einer Medaille, wobei das den Naturzustand des bellum omnium contra omnes beendende und zur Staatsgründung führende Vernunftgesetz des Friedens, das das Recht auf alles, auch zum Töten der anderen, einschränkt, keinem altruistischen Impuls, sondern ebenfalls einem egoistischen Kalkül entspringt.200 Es geht schließlich nur darum, aus der Rechtsantinomie des Naturzustandes, in dem sich aus dem Recht auf alles ein Rechts auf nichts ergibt,201 herauszukommen, was nach Hobbes erst ein Vertrag möglich macht, durch den sich alle zu absolutem Gehorsam gegenüber dem Souverän verpflichten. Besonders wichtig ist deshalb für Samuel Pufendorf (1632 – 1694), den wohl bedeutendsten Naturrechtsdenker des 17. Jahrhunderts, die Abgrenzung gegen die von ihm explizit als „epikureisch“ verurteilte Theorie Hobbes’. Dazu beruft sich Pufendorf wieder auf die naturrechtliche Position der Stoa,202 deren römische Repräsentanten – Seneca, Epiktet und Marc Aurel, aber natürlich auch Cicero – er in seinem 198 Thomas Hobbes: Leviathan I, 14. 199 Vgl. Kari Saastamoinen: Pufendorf and the Stoic model of natural law, in: Grotiana 22/23, 2001/2002, S. 257 – 270, dort S. 260: „This position did not prevent Hobbes from utilizing the Stoic idea of deducing natural law from the interplay of natural aspirations and reason.“ 200 Vgl. auch Ada Neschke-Hentschke: Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts (wie Anm. 7), S. 65 – 68. 201 Dazu vgl. Peter Schröder: Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht. Eine vergleichende Studie zu Thomas Hobbes und Christian Thomasius. Berlin 2001, S. 41 f. 202 Siehe Samuel Pufendorf: Eris scandica, qua adversus libros de jure naturali et gentium objecta diluuntur; darin: Epistula ad Amicos suos per Germaniam sowie Specimen Controversarium I, 6 (hg. von Fiammetta Palladini. Berlin 2002, S. 91 und 127).

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Hauptwerk De jure naturae et gentium (1688) ausgiebig zitiert.203 Allerdings gibt es trotz dieser Selbstcharakterisierung Pufendorfs, der sich als stoisch inspirierter Naturrechtler versteht, auch Unterschiede zur stoischen Lehre, die nicht ganz unerheblich sind. Zwar geht Pufendorf, um das Naturrecht zu begründen, zunächst vom anthropologischen Prinzip der Selbstliebe bzw. des Selbsterhaltungstriebs (amor sui / conservatio sui) aus, also von der ersten Bestimmung der Oikeiosis.204 Doch dies war ja auch Hobbes’ Ausgangspunkt. Deswegen führt Pufendorf eine weitere anthropologische Bestimmung ein, die sich so bei Hobbes nicht findet: die Schwäche des Menschen, verstanden als seine Unfähigkeit, ohne die Hilfe anderer Menschen zu (über)leben. Diese Eigenschaft wird nun von Pufendorf mit dem zentralen Terminus imbecillitas bezeichnet205 und zur argumentativen Grundlage für den bei ihm in naturrechtlicher Hinsicht bedeutsamsten Wesensaspekt der menschlichen Natur gemacht, nämlich für die spezifische Geselligkeit des Menschen, die socialitas, die er Hobbes’ These vom puren Egoismus der Menschen im Naturzustand entgegenstellt und als stoisches Prinzip präsentiert. Gleichwohl unterscheidet sich die pufendorfische socialitas, die sich korrelativ aus dem Zusammenspiel von amor sui und imbecillitas ergibt, auf charakteristische Weise vom Gemeinschaftstrieb der Stoiker, der vielmehr, wie der grotianische appetitus societatis, eine naturale Disposition des Menschen bedeutet, aus der sich durch die Entwicklung der Vernunft schließlich direkt allgemeine Regeln des Naturrechts herleiten lassen.206 Für Pufendorf folgt dagegen erst daraus, daß der Mensch sich 203 Kari Saastamoinen: Pufendorf and the Stoic model of natural law (wie Anm. 199), S. 257, zählt „over three hundred references to Stoic authors“. 204 Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium II, 3, 14 (lateinischer Text zitiert nach der Ausgabe von Frank Böhling. Berlin 1998; deutscher Text zitiert nach der Ausgabe von Friedrich Knoch. Frankfurt a.M. 1711, Nachdruck von 1998): „Id igitur primo homo habet commune cum omnibus animantibus, queis sensus sui inest, ut seipsum quam maxime amet, seipsum studeat omnibus modis conservare, quae bona sibi videntur nitatur adquirere, mala repellere.“ – „So hat nun der Mensch anfänglich dieses mit allen Thieren / die eine Empfindung haben / gemein / daß er nichts so sehr liebe / als sich selbst / sich auff alle Art und Weise zu erhalten suche / was ihm gut zu seyn bedüncket / denselbigen nachstrebe / und hingegen alles schädliche von sich abwende.“ 205 Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium II, 3, 15. 206 Vgl. dazu Michael Kempe: Geselligkeit im Widerstreit. Zur Pufendorf-Kontroverse um die socialitas als Grundprinzip des Naturrechts in der Disputationsliteratur in Deutschland um 1700, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12, 2004, S. 57 – 70, dort S. 61 f.

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aufgrund seiner Schwäche und Bedürftigkeit alleine nicht zu erhalten vermag, „nach dem Rechte der gesunden Vernunft“207 die Notwendigkeit, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen, ihnen friedlich und freundlich zu begegnen, keinen zu berauben, niemandem Gewalt anzutun usw. Als obersten Grundsatz des natürlichen Rechts formuliert Pufendorf die Regel der socialitas daher so: „colendam & servandam esse socialitatem“ – „Jeder muß die Gemeinschaft nach Kräften schützen und fördern“208. Indem er dergestalt Selbsterhaltung und Geselligkeit miteinander verbindet, argumentiert Pufendorf mithin gegen Hobbes für eine Koinzidenz von Eigennutz und Gemeinwohl. Allerdings begründet diese Argumentation noch kein Naturrecht im stoischen Sinn, sondern liefert vorerst selbst nur eine utilitaristische Rechtsbegründung. Dennoch steht Pufendorf der stoischen Naturrechtslehre näher, als man in der neueren Forschung gemeinhin annimmt.209 Der Grund hierfür liegt darin, daß er in seiner – freilich nicht gerade um Kohärenz bemühten – eklektischen „,Patchwork‘-Anthropologie“210 ganz unterschiedliche Traditionsbestände miteinander kombiniert: So hebt er von Anfang an nicht nur auf den Selbsterhaltungstrieb, die Schwäche und sogar die Verdorbenheit211, sondern ebenfalls auf die eigentümliche Würde der Menschen ab, die sich aus ihrer Existenzweise als entia moralia ergibt. Demnach eignet der menschlichen Natur nicht zuletzt eine besondere Fähigkeit zur Vervollkommnung; dazu gehören die genuin menschlichen Eigenschaften Vernunft, Sittlichkeit und Freiheit, die unauflöslich miteinander verbunden sind, sich gegenseitig bedingen212 und nur in der Gemeinschaft angemessen ausgebildet werden können.213 Dementsprechend stellt sich 207 Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium II, 3, 15. 208 Samuel Pufendorf: De officio hominis et civis I, 3, 7 (hg. von Gerald Hartung. Berlin 1997). 209 Vgl. Fiammetta Palladini: Pufendorf and Stoicism, in: Grotiana 22/23, 2001/ 2002, S. 245 – 256; Kari Saastamoinen: Pufendorf and the Stoic model of natural law (wie Anm. 199). 210 Michael Kempe: Geselligkeit im Widerstreit (wie Anm. 206), S. 60. 211 Pufendorf geht – im Gegensatz zur protestantischen Naturrechtstheorie seiner Zeit – von der Natur des Menschen nach dem Sndenfall aus. Dies löste in den 1670er Jahren eine regelrechte Pufendorf-Kontroverse aus, in welcher der Leipziger Theologe Valentin Alberti (1635 – 1697) als Pufendorfs Hauptgegner aus dem Lager der lutherischen Orthodoxie auftrat. 212 Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium I, 1, 3. 213 Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium II, 3, 16: „Imo eo magis cujusvis hominis praestantia & perfectio exsplendescit, quo plura ab eodem in

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Pufendorf auch den Naturzustand nicht, wie Hobbes, als ungeselligen Zustand vor, sondern lediglich als Zustand vorstaatlicher Gemeinschaft ohne Herrschaft und positive Gesetze, in dem gleichwohl das Naturrecht der socialitas gilt, aus dem schon bestimmte Pflichten und Rechte fließen, die unterschiedslos für alle Menschen gelten, da diese als vernunftbegabte Wesen von Natur aus gleich sind.214 Da dieses Recht im obrigkeitslosen Naturzustand allerdings nicht gesichert ist, vielmehr (aufgrund des menschlichen Hangs zum Bösen) durchaus die Gefahr besteht, daß die Menschen ihre natürliche Pflicht zur vernunftmäßigen Existenz und damit zur ,Geselligkeit‘ nicht erfüllen, sich statt dessen von ihren Begierden leiten lassen und so die Rechte der anderen verletzen,215 bedarf es nun auch nach Pufendorf einer Überführung des Naturzustandes in den bürgerlichen bzw. staatlichen Zustand, und zwar durch die – mehrstufige –216 Schließung eines verbindlichen Gesellschafts- und Unterwerfungs-Vertrages, der die einzelnen Menschen zu einer persona moralis composita vereinigt. Oberster Zweck des Staates ist es für Pufendorf also, Rechtssicherheit zu schaffen, den Bürgern ein friedliches Zusammenleben gemäß dem Grundprinzip der socialitas zu garantieren,217 indem eine positive Gesetzesordnung entsteht, die – auf je eigene Weise – das natürliche Recht konkretisiert. Deshalb sei es aber unmöglich, daß die Untertanen wie bei Hobbes durch ihre Unterwerfung unter den souveränen Herrscher ihre Freiheit völlig aufgeben.218 Sie müssen sich ihm vielmehr nur insofern unterwerfen, als seine Herrschaft die Vertragsbedingungen erfüllt: also auf naturrechtlicher Basis dem Gemeinwohl dient und damit zustimmungsfähig, legitim ist. Auch im absolutistisch regierten Staat, wie ihn Pufendorf als Ideal vor Augen hat, behalten folglich im Gegensatz zum hobbesianischen Modell

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caeterum commodum proficiscuntur […].“ – „Ja eben dadurch eußert sich ihre [der Menschen] Fürtrefflichkeit und Vollkommenheit um so viel deutlicher / je mehrers sie an den Tag legen / wie auff so mancherley Art und Weise sie einander dienen und Nutze seyn können […].“ Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium I, 1, 7 und II, 2, 2. Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium II, 2, 3. Zu dem insgesamt dreistufigen Prozeß, der nach Pufendorf schließlich zur Gründung des Staates führt, vgl. Notker Hammerstein: Samuel Pufendorf, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik – Politik – Naturrecht, hg. von Michael Stolleis. München 21987, S. 172 – 196, dort S. 181 f. Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium VII, 2, 13. Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium VII, 8, 2.

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die Untertanen ihren Status als Rechtssubjekte mit einem unveräußerlichen Anrecht auf Vertragserfüllung vonseiten des Monarchen.219 Seinen kritischen Höhepunkt erreicht das neuzeitliche Naturrechtsdenken bei Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778),220 der noch stärker als seine Vorgänger an die antiken, zuerst von den Stoikern formulierten Theoreme der naturrechtlichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen anknüpft (auch wenn er sie ganz anders begründet) und von hier aus zu dem grundlegenden, zukunftsweisenden Postulat der Volkssouveränität gelangt sowie in eins damit die unmittelbare theoretische Grundlage für die Menschenrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts schafft. So geht Rousseaus Naturrechtstheorie, wie er sie in seinem „philosophischste[n] Werk“221, dem Discours sur l’origine et les fondements de l’ingalit parmi les hommes (1755), entfaltet, direkt von der Preisfrage der Akademie von Dijon aus, wo der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen liege und ob sie durch das natürliche Gesetz (loi naturelle) begründet sei.222 Um die letztere Teilfrage zu verneinen, setzt Rousseau wie alle neuzeitlichen Naturrechtsdenker vor ihm beim Naturzustand an, da das natürliche Recht oder Gesetz seiner Ansicht nach nur aus der darin sich manifestierenden Natur des Menschen entspringen kann. Anders als Hobbes oder Pufendorf begreift Rousseau diesen Naturzustand aber nicht im teleologischen Sinn als vorstaatlichen Zustand, dessen Defizienz ein Gesellschafts-/Unterwerfungsvertrag mit innerer Notwendigkeit überwindet, sondern als einen Zustand, der nur durch äußere Zufälle zum Ausgangspunkt zivilisatorischer Entwicklung geworden ist, bei dem es also unter Umständen auch hätte bleiben können – und vor allem: in den sich der gegenwärtige Mensch, der homme civilisé, sogar zurückzusehnen vermag.223 219 Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium VII, 8, 4. Pufendorf unterscheidet hier zwischen zwei Fällen der Pflichtverletzung der Obrigkeit gegenüber den Untertanen: zum einen durch Nichtwahrnehmung der Schutzfunktion gegenüber allen, zum anderen gegenüber einzelnen Bürgern. 220 Zum Verhältnis zwischen den früheren neuzeitlichen Naturrechtstheoretikern und Rousseau vgl. Egon Reiche: Rousseau und das Naturrecht. Berlin 1935. 221 Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte (wie Anm. 6), S. 275. 222 Vgl. dagegen Maximilian Forschner: Rousseau. München 1977, S. 21 f., der meint, Rousseau blende die von der Akademie gemeinte Naturrechtsproblematik aus, indem er sie gänzlich in das Gebiet der Geschichtsphilosophie überführe. 223 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit (hg. von Heinrich Meier. Paderborn 52001; Seitenzählung der Pléiaden-Ausgabe), Exorde, S. 133: „Il y a, je le sens, un âge auquel l’homme individuel voudroit s’arrester; Tu chercheras

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Dem korrespondiert die radikale Kritik am aktuellen, zivilisierten Zustand der Menschheit, wie Rousseau sie artikuliert. Er wirft den konkreten Rechtsordnungen seiner Gegenwart vor, der natürlichen Ordnung diametral zu widersprechen, weil in ihnen politische Ungleichheit herrscht: „En considérant la société humaine d’un regard tranquile et desintéressé, elle ne semble montrer d’abord que la violence des hommes puissans et l’oppression des foibles“ – „Wenn man die menschliche Gesellschaft mit ruhigem und uneigennützigem Blick betrachtet, scheint sie zunächst nur die Gewalttätigkeit der mächtigen Menschen und die Unterdrückung der Schwachen zu zeigen“.224 Um dagegen das aus der Natur des Menschen sich ergebende Naturrecht näher zu bestimmen, modifiziert auch Rousseau die stoische Oikeiosislehre, indem er zwei vorrationale Prinzipien der menschlichen Seele konstatiert, aus deren Verbindung alle weiteren Regeln des Nal’âge auquel tu desirerois que ton Espece se fût arrêtée.“ – „Es gibt, ich fühle es, ein Alter, bei dem der individuelle Mensch gerne stehenbleiben würde; du wirst das Alter suchen, von dem du wünschtest, deine Art wäre bei ihm stehen geblieben.“ Insgesamt weist Rousseaus Naturzustandskonzeption, die sich innerhalb der Neuzeit noch am ehesten mit derjenigen von Grotius vergleichen läßt, erstaunliche Parallelen zu der stoischen Naturzustandstheorie auf, die Seneca im 90. Brief an Lucilius im Anschluß an Poseidonios entwickelt. Dies führte schon zu Rousseaus Lebzeiten und kurz nach seinem Tod zu diversen Plagiatvorwürfen – etwa von Dom Cajot oder Diderot. Noch 1955 behauptet Kurt Weigand in seiner Einleitung zu den beiden Discours, „Rousseau habe bloß den Seneca ausgeschrieben“ und insbesondere „Senecas 90. Brief an Lucilius [sei] als ein[…] Aufriß des zweiten Discours an[zu]sehn“ ( Jean-Jacques Rousseau: ber Kunst und Wissenschaft; ber die Ungleichheit unter den Menschen. Mit Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von Kurt Weigand. Hamburg 1955, S. LXVI). Freilich werden dabei signifikante Unterschiede zwischen Seneca und Rousseau übersehen. Beiden gemeinsam ist zwar, daß sie den Naturzustand als eine glückliche, weil naturgemäße, einfache und robuste Lebensweise beschreiben, die noch kein Eigentum kennt und damit auch noch nicht von der Eigensucht der Menschen geprägt ist. Allerdings bestehen auch gravierende Differenzen zwischen beiden Konzeptionen, etwa was die Bewertung der Rolle der Vernunft/Philosophie betrifft: Von Seneca als Telos der Menschheitsentwicklung gepriesen, stellt sie in Rousseaus Augen vielmehr die Wurzel allen Übels dar. Auch herrscht in Senecas Naturzustand bereits eine Art politischer Gemeinschaft mit fester Herrschaftshierarchie, die auf einer geistigen Ungleichheit der Menschen beruht, während Rousseau gerade die Isoliertheit des natürlichen Menschen betont, den von seinen Artgenossen, abgesehen von natürlichen Unterschieden des Alters usw., nichts abhebt. Zum genaueren Vergleich der beiden Texte vgl. Peter Bosshard: Die Beziehungen zwischen Rousseaus zweitem Discours und dem 90. Brief von Seneca. Zürich 1967. 224 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Préface, S. 127.

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turrechts fließen sollen, nämlich das Prinzip der Selbstliebe (amour de soi) und das Prinzip des Mitleids (pitié). Damit stellt sich Rousseau aber nicht nur eindeutig gegen Hobbes, der das Eigeninteresse bzw. den Trieb zur Selbsterhaltung zur alleinigen Quelle des ,Naturrechts‘ und deshalb den Naturzustand zum Kriegszustand erklärt hatte, sondern bemerkenswerterweise auch gegen Grotius’ Begriff des appetitus societatis sowie gegen Pufendorfs Theorie der socialitas – damit letztlich aber auch gegen das stoische Konzept einer natürlichen Geselligkeit des Menschen. Ausdrücklich bemerkt Rousseau, es sei gar nicht notwendig, das Soziabilitätsprinzip einzuführen, um das Naturrecht zu begründen.225 Denn das mit der Selbstliebe verbundene und sie zugleich einschränkende Mitleid stellt bloß den natürlichen Widerwillen dar, „irgendein empfindendes Wesen, und hauptsächlich unsere Mitmenschen, umkommen oder leiden zu sehen“226, was allerdings noch gar keine Disposition zur Gemeinschaft einschließt: Der homme naturel führt vielmehr eine solitäre Existenz. Weder die Schwäche noch die Vernunftbestimmung des Menschen machen ihn in Rousseaus Augen zu einem von Natur aus auf die Gesellschaft bezogenen Wesen, und zwar deshalb nicht, weil der Mensch im rousseauschen Naturzustand weder schwach noch vernunftbestimmt ist.227 Gerade auch mit dieser These wandelt Rousseau die traditionelle Naturrechtsidee signifikant ab, indem er das (ursprüngliche) Naturrecht überhaupt nicht mehr als Vernunftrecht begreift,228 obzwar er dem natürlichen Menschen doch eine spezifische „Freiheit“ (liberté) und „Geistigkeit seiner Seele“ 225 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Préface, S. 126. 226 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Préface, 126. Zu Rousseaus Mitleidskonzeption vgl. Lore Hühn: Das Mit-Leid. Zur Grundlegung der Moralphilosophie bei J.J. Rousseau und Arthur Schopenhauer, in: Ethik und sthetik des Mitleids, hg. von Nina Gülcher und Irmela von der Lühe. Freiburg 2007, S. 113 – 133. 227 Zur Stärke des natürlichen Menschen siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, 136, zu seiner Vernunftlosigkeit siehe Première Partie, S. 143. 228 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 156 f.: „Quoi qu’il puisse appartenir à Socrate, et aux Esprits de sa trempe, d’acquerir de la vertu par raison, il y a longtemps que le Genre-humain ne seroit plus, si sa conservation n’eût dépendu que des raisonnements de ceux qui le composent.“ – „Obschon es Sokrates und den Geistern seines Schlages zukommen mag, Tugend durch Vernunft zu erlangen – das Menschengeschlecht wäre längst nicht mehr, wenn seine Erhaltung nur von den Vernunfterwägungen derer abhängig gewesen wäre, aus denen es sich zusammensetzt.“

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(spiritualité de son ame) zuspricht sowie die „Fähigkeit, sich zu vervollkommnen“ (faculté de se perfectionner bzw. perfectibilité).229 Jedenfalls ist die naturrechtliche Pflicht zum Mitleid für Rousseau nicht ausschließlich auf den Menschen als vernünftiges Wesen bezogen, sondern erstreckt sich – hier greift Rousseau auf Ulpian zurück – ebenfalls auf die Tiere, welche als empfindende, leidensfähige Wesen „auch am Naturrecht teilhaben müssen“230, wie sie umgekehrt selbst schon ihrerseits Ansätze zur Mitleidsfähigkeit zeigen.231 Es liegt in der Konsequenz dieser Konzeption, daß das aller Reflexion vorausliegende Mitleid hier zur naturrechtlichen Kardinaltugend avanciert und mithin den Platz einnimmt, den üblicherweise die Gerechtigkeit ( justice) besetzt, die jedem das Seine zukommen läßt, was jedoch nach Rousseau im Naturzustand, in dem noch niemand etwas als das ,Seine‘ beansprucht, schlichtweg keinen Sinn macht.232 Aus dem Mitleid entspringt nun nicht nur in Verbindung mit dem Prinzip der Selbstliebe der oberste Naturrechtsgrundsatz: „Fais ton bien avec le moindre mal d’autrui qu’il est possible“ – „Sorge fr dein Wohl mit dem geringstmçglichen Schaden fr andere“233 ; vielmehr rühren daraus auch alle weiteren, gesellschaftlichen Tugenden her wie Großmut (générosité), Milde (clémence) und Menschlichkeit (humanité). Indem Rousseau das Mitleid ferner auf eine unmittelbare Identifikation mit dem anderen Menschen zurückführt,234 bringt er es in engen Zusammenhang mit der (moralischen) Gleichheit, die ihm zufolge im Naturzustand unter den Menschen herrscht. Anders als die von der Stoa ausgehende bisherige Tradition des Naturrechtsdenkens leitet er diese Gleichheit allerdings nicht aus der allen Menschen in gleicher Weise zukommenden Vernunftdisposition ab, die es so bei ihm ja gar nicht gibt; vielmehr bezieht er sie wesenhaft auf die natürliche menschliche Freiheit. Entsprechend situiert Rousseau den Zusammenbruch des Naturrechts dort, wo es beim Übergang vom Natur- in den bürgerlichen Zustand von dem neu entstehenden Eigentums- bzw. bürgerlichen Recht verdrängt wird, mit dem sich zugleich die moralische Gleichheit der Menschen in politische Ungleichheit und ihre ursprüngliche Freiheit in Knechtschaft (servitu229 230 231 232 233 234

Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 142. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Préface, S. 126. Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 154. Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Seconde Partie, S. 173. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 156. Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 155.

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de) verwandelt.235 Signifikanterweise koinzidiert damit bei Rousseau gerade die Entwicklung der Vernunft, die seines Erachtens durch einen fatalen, mit dem Zivilisationsprozeß verbundenen Anstieg der Leidenschaften und Bedürfnisse bedingt ist: „Nous ne cherchons à connoître, que parce que nous desirons de jouïr […]“ – „Wir suchen nur zu erkennen, weil wir zu genießen begehren […]“236. Obgleich damit augenscheinlich die stoische Engführung von Tugend und Vernunft radikal negiert wird, leben hier doch auf eigentümliche Weise die stoischen Gedankenfiguren der Autarkie und Ataraxie fort: Weil der Mensch im Naturzustand frei von künstlichen Begierden ist, ruht er völlig in sich selbst und entspricht so dem Gesetz der Natur, kennt keine Laster und Bösartigkeit.237 Dagegen mutiert nun die ursprünglich mit dem Mitleid verbundene Selbstliebe (amour de soi) mit der Entwicklung der Vernunft allmählich zur Eigenliebe (amour propre), insofern die natürliche Einschränkung durch das Mitleid wegfällt: C’est la raison qui engendre l’amour propre, et c’est la reflexion qui le fortifie; C’est elle qui replie l’homme sur lui même; c’est elle qui le separe de tout ce qui le gêne et l’afflige: C’est la Philosophie qui l’isole; c’est par elle qu’il dit en secret, à l’aspect d’un homme souffrant, peris si tu veux, je suis en sureté. Die Vernunft erzeugt die Eigenliebe und die Reflexion verstärkt sie; sie läßt den Menschen sich auf sich selbst zurückziehen; sie trennt ihn von allem, was ihm lästig ist und ihn betrübt. Die Philosophie isoliert ihn; ihretwegen sagt er beim Anblick eines leidenden Menschen insgeheim: Stirb, wenn du willst, ich bin in Sicherheit.238

Rousseau zeichnet hiermit eine Art von ,Dialektik der Aufklärung‘239 nach: Die Ausbildung und Vervollkommnung der Vernunft macht den 235 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 162. 236 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 143. 237 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 152; siehe auch Seconde Partie, S. 192, wo es über den homme sauvage heißt: „[…] il ne veut que vivre et rester oisif, et l’ataraxie même du Stoïcien n’approche pas de sa profonde indifference pour tout autre objet.“ – „[…] er will nur leben und müßig bleiben; und selbst die Ataraxie des Stoikers reicht nicht an seine tiefe Gleichgültigkeit jedem anderen Objekt gegenüber heran.“ 238 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 156. 239 Dazu vgl. Rüdiger Bubner: Rousseau, Hegel und die Dialektik der Aufklrung, in: Aufklrung und Gegenaufklrung in der europischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Jochen Schmidt. Darmstadt 1989, S. 404 – 420, dort v. a. S. 404 – 408.

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Menschen böse, indem er soziabel wird.240 Doch die so beschriebene, politisch schließlich im absoluten Despotismus mündende Entwicklung241 stellt Rousseau sich nicht ohne Alternative vor: Es ist die in seinem späteren Werk Contrat social (1762) beschriebene demokratische Gesellschaftsordnung, die wirklich zum Wohl aller ihrer Bürger (bonheur commun) existiert, in der alle frei und gleich sind, keiner über dem Gesetz steht und das Volk selbst der Souverän ist. Als historische Vorbilder dafür werden Rom und Sparta genannt,242 und die „Republik Genf“, welcher der Discours sur l’ingalit gewidmet ist, liefert ein Beispiel dafür, daß solche guten Gemeinwesen noch in der Gegenwart und damit auch in Zukunft wieder möglich sind. Freilich gilt in ihnen nicht mehr das unmittelbare Naturrecht des Naturzustands, zu dem kein Weg zurückführt. Der Prozeß der Zivilisation enthüllt sich als irreversibel. Aber zugleich erscheint er ambivalent: Er birgt nicht nur negative, sondern auch positive Möglichkeiten in sich. Denn da Rousseau den Naturzustand keineswegs bloß als den (hypothetischen) Anfang der Menschheitsgeschichte betrachtet, vielmehr davon ausgeht, daß er auch im bürgerlichen Zustand noch, obzwar in überformter Weise fortbesteht,243 ist so etwas wie eine ,Wiedererrichtung‘ des Naturrechts „auf anderen Grundlagen“ möglich,244 und zwar gerade durch den rechten Gebrauch der Vernunft, deren Mißbrauch zunächst zur ,Erstickung der Natur‘ und zur Depravation des bürgerlichen Zustands führt. Dadurch tritt ein neues Vernunftrecht an die vakant gewordene Stelle des alten Naturrechts, das dieses ersetzt, indem es wie die rousseausche volonté générale alle Mitglieder der Gesellschaft in gleicher Weise bindet und so „dem natürlichen Gesetz am nächsten komm[t]“245. Nachdem Rousseau 240 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 162. 241 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Seconde Partie, S. 190 f. 242 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Dédicace, S. 113 und S. 119. 243 Vgl. dazu auch Günter Figal: Die Rekonstruktion der menschlichen Natur. Zum Begriff des Naturzustandes in Rousseaus Zweitem Discours, in: Neue Hefte für Philosophie 29, 1989: Rousseau und die Folgen, S. 24 – 38. 244 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Préface, S. 126. 245 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Dédicace, S. 111; siehe auch Seconde Partie, S. 186, wo Rousseau ebenfalls die Demokratie als die dem Naturzustand ähnlichste Regierungsform bezeichnet. Dies spricht eindeutig gegen die von Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte (wie Anm. 6), S. 286, aufgestellte These, wonach sich Rousseau angesichts seiner Naturzustandskonzeption beim Durchdenken der Naturrechtslehre „vor die Notwendigkeit gestellt [sah], sie vollständig fallen zu lassen“, und es gar für „absurd [hielt], auf

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aus seiner geschichtsphilosophisch geprägten Perspektive auf den Naturzustand zuerst mit der Tradition des ,rationalistischen‘ Naturrechtsdenkens gebrochen hat, kehrt er anschließend also auf modifizierte Weise wieder zu ihr zurück: Das Recht der Vernunft, das er postuliert, ist zwar nicht identisch mit dem Recht der Natur, restituiert es aber unter den Bedingungen der Zivilisation.

ihn [den Naturzustand] zurückzugehen, um in ihm die Norm für den Menschen zu finden“. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Der Naturzustand gibt zwar nicht das Ziel, wohl aber den Maßstab für das neue Recht der Vernunft vor.

II. Mythologische und historische Paradigmata

Herakles als Ideal stoischer Virtus Antike Tradition und neuzeitliche Inszenierung von der Renaissance bis 1800. von Jochen Schmidt Die Herakles-Figur erfuhr eine bunte Fülle von Ausfabulierungen und Ausdeutungen1: Das Spektrum reicht vom urtümlichen, übermenschlich starken Helden, der seine Kraft durch die berühmten zwölf Taten2 und zahlreiche, gelegentlich burlesk ausgestaltete Liebesabenteuer beweist, bis zum Sportler-Idol, zum Herrscherideal und zum stoischen Tugendhelden, zum Kulturbringer, Friedensstifter und Menschheitsbeglücker. Als Sohn des höchsten Gottes erhält er schließlich Qualitäten einer Erlöser- und Heilandsfigur, und nach einem standhaft ertragenen Martyrium tritt er sogar eine Himmelfahrt an. Erst über Jahrhunderte hinweg bildete sich in der Antike dieses Spektrum heraus, so daß die später von den Mythographen3 präsentierte Gesamtübersicht über den 1

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Zum Mythos: Ludwig Preller/Carl Robert, Griechische Mythologie. 4. Aufl. Bd. 2,2, S. 422 – 675. Otto Gruppe: Art. Herakles, in: RE, Suppl. 3, 1918, S. 1015 – 90F. Prinz: Art. Herakles, in: RE Suppl. 14, 1974, S. 137 – 96. Zur frühchristlichen Adaptation und Auseinandersetzung: Abraham J. Malherbe, Art. Herakles, in: Reallexikon fr Antike und Christentum, Bd. 14, 1988, Sp. 559 – 583. Umfassende Bibliographie, auch zu zahlreichen literarischen und künstlerischen Darstellungen: Ralph Kray/Stephan Oettermann: Herakles/Hercules II. Medienhistorischer Aufriß. Repertorium zur intermedialen Stoff- und Motivgeschichte. Basel/Frankfurt 1994. Vgl. Frank Brommer: Herakles. Die zwçlf Taten des Helden in antiker Kunst und Literatur. Köln/Münster, 4. Aufl. Darmstadt 1979; ferner: Frank Brommer: Herakles II. Die unkanonischen Taten des Helden. Darmstadt 1984. Die für den Traditionsprozeß bis in die Neuzeit wichtigsten antiken Mythographen sind Apollodorus und Diodorus Siculus. Apollodorus: The Library. With an English Translation by Sir James George Frazer, in two Volumes (The Loeb Classical Library), Cambridge/Mass. u. London 1921 u. ö.. Vol. I, S. 175 – 273. Diese Ausgabe enthält die Geschichte des Herakles von der Geburt über die kanonischen zwölf Taten und zahlreiche andere Abenteuer bis zu seiner Himmelfahrt als kontinuierliche Erzählung. Ein detaillierter Anmerkungsapparat nennt die anderen Quellen zu den jeweiligen Taten und Abenteuern. – Diodorus of Sicily. In twelve Volumes. With an English Translation

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Herakles-Mythos das Ergebnis eines Anreicherungsprozesses ist, der die Gestalt des Herakles schließlich als überdeterminiert, wenn nicht sogar inkonsistent erscheinen läßt. Die mythographische Überlieferung verdeckt oft die enorme, auch durch Lokalsagen ausdifferenzierte räumliche Spannweite der HeraklesSagen4 und den historischen Prozeß. Dieser ist keineswegs als ,Arbeit am Mythos‘ aufzufassen. Er resultiert aus einer fortlaufenden, oftmals transformierenden oder substituierenden Anpassung an die politischen Zustände, an die zivilisatorischen, mentalitätbestimmenden und religiösen Befindlichkeiten und Bedürfnisse. Je nach Epoche und Verwendungsbereich wandelt sich die Funktion der Herakles-Figur: vom archaischen Krafthelden und Adelsheros über den Kultur- und Zivilisationsstifter in der Poliskultur und im römischen Urbanisierungsprozeß5 bis zur Identifikationsfigur der Herrscher im hellenistischen und römischen Kaiserkult wie auch im neuzeitlichen Absolutismus; von dem im pädagogischen und philosophischen Schulbetrieb in Antike und Neuzeit formierten Vorbild des Tugendhelden über seine entsprechende erzieherische Vereinnahmung in den antiken und neuzeitlichen Fürstenspiegeln bis hin zur mythologisch-allegorischen Figuration von philosophischen und moralischen Postulaten. Die allegorischen Ausdeutungen des Mythos erstrecken sich sogar auf jede der zwölf Taten des Herakles und auf jedes der von ihm besiegten Ungeheuer. In solchen Allegorisierungen, die Antike, Mittelalter und Neuzeit in reichem Maße kennen, drückt sich der Bedarf an spezifischer Verwendung und kultureller Anpassung oft geradezu gewaltsam aus. Zugleich stellt die in der Antike bereits entschieden nach Funktionen und Bereichen aus-

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by Francis R. Walton. (The Loeb Classical Library, Cambridge/Mass. u. London 1967 u. ö.). Das Register in dieser Ausgabe erschließt s.v. Heracles thematisch genau die über verschiedene Bände verteilten Aussagen. Hierzu und zu den zahlreichen, oft mit den Mythen verbundenen Kultstätten: Gruppe (wie Anm. 1), Sp. 910 – 1000. Zum römischen Herkules-Kult und den Kultstätten vgl. besonders das historisch fundierte, auch die politische Leitbildfunktion einbeziehende Werk von Stefan Ritter: Hercules in der rçmischen Kunst von den Anfngen bis Augustus. Heidelberg 1995. Eine durch bildliche Zeugnisse und eine geographische Karte vervollständigte Übersicht über die zahlreichen nach Herakles benannten Städte, von Spanien bis nach Kleinasien und zur Krim, von Heraklion bis Herculaneum, bietet der reichhaltige Ausstellungskatalog: Herakles – Herkules, hg. von Raimund Wünsche, Staatliche Antikensammlungen München, 2003, S. 335 – 343 (Andrea Schmölder-Veit). In den Anm. die Quellen und die Spezialliteratur zu den auf Herakles bezogenen Gründungsmythen.

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differenzierte Herakles-Mythologie für die Neuzeit ein Repertoire von Paradigmen bereit, das man nur noch auszuschöpfen und zu aktualisieren brauchte. Es ermöglichte den legitimierenden Rückgriff auf eine insgesamt als mustergültig begriffene Antike, hatte den Vorteil bildhafter Prägnanz und erlaubte ,moderne’ Transformationen. Die Formierung des Herakles zur stoischen Leitfigur, eine Facette nur im weiten Spektrum des Mythos, läßt sich bis in die Zeit vor der Begründung der stoischen Schule durch Zenon zurückverfolgen: bis in die Zeit der Sophistik und Sokratik im späten fünften Jahrhundert v. Chr. Antisthenes (ca. 445 – 365 v. Chr.), der zunächst zu den Schülern des Gorgias und später zum Kreis des Sokrates gehörte, war nach dem Bericht des Diogenes Laërtius der „geistige Urheber der so überaus mannhaften Sekte der Stoiker“.6 Bevor Diogenes Laërtius die stoische Schule darstellt, schließt er seine Mitteilungen über Antisthenes mit folgenden Worten: „[…] so wollen wir jetzt die von Antisthenes ausgehenden Kyniker und Stoiker zur Übersicht bringen“.7 Schon Antisthenes propagierte die dann für die Stoa maßgebende Lehre, die Tugend ( !qet¶/virtus) setze die Bezwingung der Lust (Bdom¶/voluptas) voraus, und es komme auf ein einfaches, bedürfnisloses Leben an, das durch Willenskraft und Handlungsbereitschaft bestimmt sei und deshalb auch Mühen auf sich nehme. In diesem bereits wesentlich kynischen und stoischen Programm erhalten nicht weniger als drei Schriften des Antisthenes über Herakles ihren Platz. Alle drei führt Diogenes Laërtius mit genauer Angabe der Titel auf.8 Die Paradigmatisierung des Herakles im Sinne der Wertungen, die sich dann später die stoische Schule zu eigen machte, ist hier schon festzustellen.

Die Fabel des Prodikos von der Antike bis zu Petrarca Die Fabel des Sophisten Prodikos, der im fünften Jahrhundert v. Chr. lebte, etwa 150 Jahre vor Begründung der stoischen Schule durch Zenon, vollzog diese Paradigmatisierung des Herakles in bildhaft ausgeprägter Weise und war deshalb besonders wirkungsreich. Auch diese 6 7 8

Diogenes Laërtius VI 14. Diogenes Laërtius VI 19. Diogenes Laërtius VI 16: Der grçßere Herakles oder Von der Kraft (gGqajk/r b le¸fym C peq· Qsw¼or); VI 18: Herakles oder Midas (gGqajk/r C L¸dar), Herakles oder ber Einsicht und Kraft ((gGqajk/r C peq· vqom¶seyr C Qsw¼or).

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Fabel war keine Erfindung aus dem Zusammenhang stoischen Denkens, vielmehr ursprünglich ein Produkt des sophistisch-rhetorischen Lehrbetriebs.9 Wegen des moralischen Plädoyers für die „Tugend“, die statt der „Lust“ in der entscheidenden Lebensphase – im Übergang zum Mannesalter – bestimmend werden soll, eignete sie sich gerade in erzieherischer Hinsicht, und daß dieses Plädoyer auf den größten Helden, auf Herakles projiziert wurde, verlieh ihm die Qualität des Vorbilds.10 Schon Bakchylides, Pindar und Euripides idealisierten und humanisierten Herakles, der ursprünglich keineswegs im engeren Sinn „tugendhafte“ Züge trug.11 Bei den Stoikern und den Kynikern erreichte die Idealisierung ihren Höhepunkt. Das Tugend-Modell des Antisthenes und der Prodikos-Fabel adaptierten die Stoiker, weil es mit einem ihrer ethischen Hauptanliegen übereinstimmte: mit dem Sieg über die Affekte durch Vernunft, Tugend und Willensstärke. Nachdem Xenophon in seinen Erinnerungen an Sokrates die Fabel des Prodikos erzählt hatte12, konnte sie in den europäischen Traditionsprozeß eingehen, dessen Höhepunkte in der Renaissance und im 18. Jahrhundert lagen, weil in diesen beiden Epochen die Antike allgemein das Kulturmuster bestimmte. Auch bildeten gerade 9 Hierzu Johannes Alpers: Hercules in bivio. Diss. Göttingen 1912, S.37 ff. 10 Zur Vorbild-Funktion des Herakles vgl. Wilhelm Derichs: Herakles, Vorbild des Herrschers in der Antike. Diss. masch. Köln 1950; Rainer Vollkommer: Herakles – Die Geburt eines Vorbildes und sein Fortbestehen bis in die Neuzeit, in : Idea 6, 1987, S. 7 – 29; Hans Kloft: Herakles als Vorbild. Zur politischen Funktion eines griechischen Mythos in Rom, in: Herakles/Herkules I. Metamorphosen des Heros in ihrer medialen Vielfalt, hg. von Ralph Kray/Stephan Oettermann, Basel/Frankfurt 1994, S. 25 – 46. 11 Hierzu die vorzügliche Überblicksdarstellung von Karl Galinsky: The Herakles theme. The adaptations of the hero in literature from Homer to the twentieth century. Oxford 1972, S. 23 – 39, S. 58 – 66. Vgl. auch Bernd Effe: Held und Literatur. Der Funktionswandel des Herakles-Mythos in der griechischen Literatur, in: Poetica 12, 1980, S. 145 – 166. 12 II 1,21 – 34. In: Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Ed. Peter Jaerisch, München 1962, S. 90 – 99. Vgl. Olof Gigon: Kommentar zum zweiten Buch von Xenophons Memorabilien (Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 7), Basel 1956. Franz Riedl: Der Sophist Prodikus und die Wanderung seines „Herkules am Scheideweg“ durch die rçmische und deutsche Literatur, in: Jahresbericht des Staatsgymnasiums zu Laibach 1907/08, Laibach 1908, S. 3 – 46 (Kap. I: Prodikus; Kap. II: In der römischen Literatur; Kap. III: Bei den kirchlichen Schriftstellern; Kap. IV: In der deutschen Literatur. Anm. 33 und 41: In der griechischen Literatur). Vgl. auch die lateinisch geschriebene, außerordentlich informationsreiche Dissertation von Alpers (wie Anm. 9).

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der Renaissance-Humanismus und die mächtige Aufklärungsströmung des 18. Jahrhunderts ein besonderes pädagogisches Interesse aus. Die Fabel des Prodikos bot sich diesem pädagogischen Interesse als modellhafte Figuration an. Denn es ist der jugendliche Herakles, der im Übergang zum Mannesalter zwischen zwei verschiedenen Lebenswegen zu wählen hat: zwischen dem leichten Weg eines von sinnlichen Genüssen und von Annehmlichkeiten aller Art bestimmten Daseins (Bdom¶/voluptas13) und dem schweren Weg eines von Arbeit, Leistung und Verantwortung für die Menschheit geprägten Daseins ( !qet¶/virtus). Hier standen zugleich allgemeinere Lebenshaltungen zur Debatte, die später angesichts eines in der hellenistisch-römischen Zivilisation sich immer mehr ausbreitenden Hedonismus und einer in der Zeit des europäischen Absolutismus oftmals dem Luxus frönenden höfischen Gesellschaft Gegenpositionen provozierten. Wohl diente zum spezielleren pädagogischen Zweck die Prodikos-Fabel ad usum delphini, aber sie fand ihren Widerhall auch im öffentlichen Raum der gesellschaftlichen Lebensformen. Schon Xenophons Rahmung der Fabel durch eine Diskussion zwischen Sokrates, der für die virtus plädiert, und Aristipp, der die Genuß-Philosophie der Kyrenaiker vertritt, weist auf einen weiteren Zusammenhang. Die Entscheidung zwischen den zwei Wegen, dem Weg einer auf Arbeit und Leistung beruhenden Tugend und dem des Genusses (oft moralisch abwertend: dem des Lasters), war in ganz allgemeiner Form schon in Hesiods Werken und Tagen vorgezeichnet (V. 287). Ausdrücklich weist Xenophon darauf hin.14 Erst der „weise Prodikos“ aber habe in seiner „Schrift über Herakles“ diese Entscheidungssituation auf Herakles übertragen. Diese Übertragung begründete das wirkungsreiche Modell. Daß die Parabel des Prodikos von Herakles am Scheidewege schon sehr schnell bekannt wurde, zeigt Xenophons Bemerkung, Prodikos habe seine Schrift über Herakles „sehr vielen“ (pke¸stoir) vorgetragen. Es handelte sich um eine beliebte ,Nummer‘ im sophistischen Lehrbetrieb, und dies blieb auch im Bewußtsein der Neuzeit. Im 13 Cicero setzt den griechischen Terminus Bdom¶ mit voluptas gleich und sagt, dies sei das allgemeine Verständnis: „Alle nennen die angenehme Empfindung, die den Sinn erheitert, griechisch Bdom¶, lateinisch voluptas“ – „omnes iucundum motum, quo sensus hilaretur, Graece Bdom¶m, Latine voluptatem vocant“ (De finibus bonorum et malorum II 8). 14 Xenophon (wie Anm. 12) II 1, 20. Vgl. die Zusammenstellung der Aussagen über den Müßiggang bei Martin L. West: Hesiod. Works and Days, Oxford 1978, S. 229.

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Jahre 1711 meldete Addisons europaweit verbreitete und über Jahrzehnte hinweg immer wieder neu aufgelegte Zeitschrift The Spectator in einem Artikel über die Fabeln (Mythen), unter den „Allegorical Fables“ sei die Prodikos-Fabel von Herkules am Scheidewege schon in der Antike allbekannt gewesen. Die Darstellung von „Hercules meeting with Pleasure and Virtue“ habe „a kind Reception in all the Market Towns“ erfahren.15 Xenophon selbst vermag denn auch die allbekannte Fabel, wie er sagt, „aus der Erinnerung“ zu erzählen. Daß diese, wie Xenophon andeutet, notwendigerweise nur ungefähre Erinnerung auch stark durch seine eigenen Interessen gefärbt, wenn nicht sogar geleitet ist, läßt sich aus mehreren Merkmalen seiner Darstellung der ProdikosFabel erschließen. Dies ist bis weit in die Neuzeit hinein umso mehr von Belang, als wir die Fabel des Prodikos nicht in authentischer Form, sondern ausschließlich in Xenophons Erzählung besitzen. In diesem Medium und in der Kurzversion, die Cicero in seiner Schrift De officiis bot, wurde sie meistens rezipiert. Schon vor dem Florentiner Erstdruck (1516) der in der Folgezeit für das europäische Bildungswesen kanonischen Erinnerungen an Sokrates ((Apolmglome¼lata Syjq²tour, seit dem 19. Jahrhundert auch oft Memorabilien genannt), griff Petrarca als erster Humanist die Fabel des Prodikos auf, mit ausdrücklicher Berufung auf Ciceros De officiis – Petrarca konnte kein Griechisch, und Xenophon war noch nicht ins Lateinische übersetzt, so daß Cicero der einzige Gewährsmann für ihn war, und von diesem wußte er auch, daß Xenophon die Fabel erzählt hatte. An zwei Stellen seiner Schrift De vita solitaria geht Petrarca auf die Fabel ein.16 Die erste ist nicht nur interessant, weil sie sich auf die Entscheidungssituation vor dem Übergang zum Mannesalter bezieht. 15 The Spectator, N8 183, Saturday, September 29, S. 61. Vgl. auch Addisons andere ‘Moralische Wochenschrift’ The Tatler vom Jahrgang 1709, Nr. 97. Es war die für die Aufklärung charakteristische „Botschaft der Tugend“ (vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklrung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968), die der Fabel des Prodikos von der Wahl des Herkules zwischen Tugend und Laster im 18. Jahrhundert zu einer neuen Konjunktur verhalf. 16 Nachweis von Theodor E. Mommsen: Petrarch and the Story of the choice of Hercules, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, XVI, 1953, S. 178 – 192. Mommsen korrigiert damit Erwin Panofsky, Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Leipzig/Berlin 1930, der schreibt, daß es „vor der Mitte des 15. Jahrhunderts keine Darstellung des ,Hercules am Scheidewege‘ gegeben hat, und daß auch die Literatur das Thema erst um 1400 wiederaufgegriffen zu haben scheint“ (S.155).

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Bei der Nennung der Überlieferungsautoritäten beschwört Petrarca indirekt die größte moralische Autorität überhaupt: Sokrates. Er spricht von Xenophon als einem „auctor Socraticus“, indem er als Exempel für die zunächst nur allgemein dargestellte Entscheidungssituation in der „adolescentia“ die Wahl des Herkules mit folgenden Worten anführt: „Quod initio pubertatis fecisse Herculem auctor Xenophon ille Socraticus testis est et Cicero“.17 An einer zweiten Stelle seiner Schrift De vita solitaria läßt Petrarca die Entscheidung des Herkules zwischen voluptas und virtus an einem Scheidewege stattfinden: „in bivio“.18 Zwar unterscheidet schon Xenophon zwischen zwei verschiedenen Lebens„Wegen“, mit dem „bivium“ aber, dem sich gabelnden Weg, der dadurch zum „Scheideweg“ wird, greift Petrarca auf eine in Antike und Mittelalter weit verbreitete Vorstellung zurück, die man mit dem pythagoreisch-allegorischen Zeichen Y chiffrierte. Es signalisiert ebenfalls die im Übergang zum Mannesalter stattfindende Entscheidung zwischen voluptas und virtus. Dieses allegorische Zeichen nehmen nichtchristliche wie christliche Autoren der Spätantike auf, das Mittelalter verwendet es weiter19 und bis weit in die Neuzeit hinein erscheint es als allgemeines Sinnbild des „homo viator in bivio“, nicht selten – besonders seit der humanistischen Wiederbelebung der antiken Tradition – in Verbindung mit der Fabel des Prodikos von Herkules am Scheidewege. Die Fabel des Prodikos, die auch in der antik-stoischen Adaption ein Ethos exemplifizierte, das über die ,moralischen‘ Aspekte hinaus auf die Entscheidung für eine Lebenshaltung zielte, verengte sich im christlichen Traditionsprozeß bis in die Neuzeit hinein oft auf eine durch das christliche Sündenbewußtsein mitbestimmte Entscheidung zwischen Gut und Böse. Die ausgeprägte christliche Sinnenfeindschaft wertete voluptas als ganz und gar verwerflich. Die virtus verengte sich immer wieder auf das moralisch-asketisch „Gute“, während sie nicht nur als römischer Begriff allgemein, sondern auch in der stoischen Tradition oft mehr meinte: männliche Tatkraft, wie sie sich in den zwölf Taten des 17 Francesco Petrarca: De vita solitaria, hg. von Marco Noce. Mailand 1992. 1. Buch, 4. Kapitel (Beginn). Vgl. die deutsche Übersetzung: Francesco Petrarca: Das einsame Leben, hg. und mit einem Vorwort versehen von Franz Josef Wetz. Aus dem Lateinischen übersetzt von Friederike Hausmann. Stuttgart 2004, S. 82. 18 De vita solitaria 2, 9, 4. 19 Hierzu Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. München 1970.

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Herakles vorbildhaft zeigte, die Bereitschaft, im Dienste der Menschheit Außerordentliches zu leisten, die Fähigkeit, sich in größten Schwierigkeiten und Gefahren, in Not und Kampf zu bewähren. Das alles ist virtus – weit entfernt von der Reduktion auf eine im engeren Sinn ,moralische‘ Tugend. Xenophons Darstellung der Prodikos-Fabel ist durch seine Interessen und historischen Erfahrungen bestimmt: vor allem durch sein erzieherisches Engagement, durch seine Sympathie für adelige Lebensformen und sein Idealbild eines gerechten und starken Monarchen. Nach der Entartung und der Agonie der athenischen Demokratie verfaßte er mehrere Werke in diesem Sinne, darunter sein Alterswerk Die Erziehung des Kyros ( J¼qou paide¸a), das die hohe Herrscherqualität des persischen Reichsgründers hervorhebt. Dieser erste, immens folgenreiche Erziehungsroman Europas fand noch in Wielands Vorrede zu seinem Agathon gerade im Hinblick darauf Beachtung, daß es sich speziell um ein Muster für Monarchen handelt. Ähnliche Tendenzen fließen in die Erinnerungen an Sokrates ein. Mit Absicht kontextualisiert Xenophon darin auch seine Erzählung der Prodikos-Fabel mit Ausführungen, die der Erziehung des Herrschers gelten.20 Diese funktionale Einbindung der Prodikos-Fabel gehört zu ihrem Wirkungszusammenhang in der Neuzeit.

20 Xenophon (wie Anm. 12) II 1,1 – 20. Zum historischen Hintergrund für Herakles als Modell des Herrschers gehört die schon seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. bezeugte Berufung der makedonischen Könige auf ihre Abstammung von Herakles, auf ihr „Heraklidentum“; später, bei Philipp II. von Makedonien ist dies bereits in Münzprägungen und Städtegründungen greifbar, für seinen Sohn, Alexander den Großen, ist die herrscherliche Identifikation mit Herakles sowohl auf massenhaften Münzprägungen wie auch von einer figürlichen Darstellung her bezeugt: Nach antiker Überlieferung führte Alexander auf seinen Feldzügen eine bronzene Herakles-Statuette mit sich, die von dem berühmten Bildhauer Lysipp verfertigt worden sein soll. Er selbst wurde später immer wieder mit den Attributen des Herakles dargestellt. Zur Erziehung des Kyros: Bernhard Zimmermann: Roman und Enkomion – Xenophons ,Erziehung des Kyros’, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, N.F. 15, 1989, S. 97 – 105.

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Herakles als Figuration herrscherlicher virtus und als Vorbild in der europäischen Adelskultur Die höfische Kultur des Absolutismus bezog die Herakles-Figur zwar kaum direkt auf die Fabel des Prodikos, aber doch auf die in ihr am deutlichsten geforderte virtus, die nun eine weitere Funktion erhielt. Wie schon die hellenistischen Herrscher und dann eine Reihe von römischen Kaisern den übermenschlich starken, am Ende seines Lebens durch die Apotheose21 verherrlichten Herakles in den Dienst des Herrscherkults stellten und zur Selbstinszenierung benutzten22, so wußten sich auch die absolutistischen Fürsten und Könige im neuzeitlichen Europa dieses Repertoires zur öffentlichen Selbsterhöhung zu versichern. In zahlreichen Schlössern und Residenzen entstanden große Fest-Räume, in denen die Herrscher den Mythos des größten antiken Helden, seine Kraft, seine Taten und seine – immer den Deckenfresken vorbehaltene – Apotheose künstlerisch gestalten ließen, um ihren eigenen Anspruch zur Schau zu stellen. Als Identifikationsfigur diente Herkules schon manchen der sich aus den Stadtrepubliken der italienischen Renaissance herausbildenden absolutistischen Herrscherhäuser: Mehrere Herzöge aus dem Geschlecht der Este zu Ferrara trugen den Namen ,Ercole‘. In Ferrara erschien 1475 die Schrift Le fatiche d’Ercole (Die Arbeiten des Herkules) des Pietro Andrea de’ Bassi, die er dem dort regierenden Fürsten Ercole I widmete. Nachdem schon vorher in Italien Herkules zum idealen Ritter stilisiert worden war, macht Bassi ihn zum vorbildlichen Renaissance-Fürsten, um so dem Fürsten von Este zu huldigen. 21 Kanonisch waren seit der Antike Aufzählungen von großen Männern, denen aufgrund ihrer Verdienste für die Menschheit eine Apotheose (deificatio) zuteil wurde. In Ciceros Schrift De natura deorum (II 24,62) nennt bezeichnenderweise der Stoiker Balbus als herausragende Beispiele: Herkules, Castor und Pollux, Äskulap, Liber (Dionysos-Bacchus) und Romulus. 22 Hierzu: Ernst Kornemann: Zur Geschichte der antiken Herrscherkulte, in: Klio 1, 1901, S. 51 – 146. Arthur Darby Nock: Notes on ruler cult I-IV, in: IHS 48, 1928, S. 21 – 43; auch in: Nock: Essays on religion and the ancient world, Oxford 2 1986, S. 134 – 159; vgl. auch Simon R. F. Price: Rituals and power. The Roman imperial cult in Asia Minor. Cambridge 1984; Jules Tondriau/Lucien Cerfaux: Le culte des souverains dans la civilisation grco-romaine. Tournai 1957. Olga Palagia: Imitation of Herakles in Ruler Portraiture. A Survey, from Alexander to Maximinus Daza, in: Boreas 9, 1986, S. 137 – 151; Stefan Ritter: Hercules in der rçmischen Kunst. Von den Anfngen bis Augustus. Heidelberg 1995; Ulrich Huttner: Die politische Rolle der Heraklesgestalt im griechischen Herrschertum. Stuttgart 1997.

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Die literarischen Zeugnisse verbinden nicht nur, aber vor allem die Mediceer mit Herakles.23 Der wirkungsreiche Humanist Cristoforo Landino, seit 1467 Kanzler der Florentiner Signoria, beschreibt in seinen um 1470 verfaßten Disputationes Camaldulenses eine – wohl fiktive – Zusammenkunft, die einige Jahre zuvor im Kloster zu Camaldoli angeblich stattgefunden haben soll. In einem Kreis bedeutender Florentiner Humanisten, unter ihnen auch Marsilio Ficino, der erste PlatonHerausgeber, der selbst solche Zusammenkünfte nach dem Muster von Platons Symposion veranstaltete, läßt Landino den späteren MediceerFürsten Lorenzo il Magnifico selbst auftreten und eine Lobrede auf Herkules als Vorbild halten. Da die Teilnehmer die erstmals von Aristoteles aufgeworfene24 Frage diskutieren, ob die vita contemplativa oder die vita activa vorzuziehen sei – die Synthese beider Lebensformen war ein Lieblingsthema der Humanisten25 und ist auch ein altes stoisches Thema26 –, versucht Lorenzo beides im Muster des stoischen Tugendhelden zu verbinden.27 Landino stellt schon am Beginn seiner

23 Hierzu: Marlis von Hessert: Zum Bedeutungswandel der Herkules-Figur in Florenz. Von den Anfngen der Republik bis zum Prinzipat Cosimos I. Köln/Weimar/Wien 1991, S. 48 – 50. 24 Aristoteles: Nikomachische Ethik X, 7 – 8 (1177 a 12 – 1178 b 34). Vgl. Trond Berg Eriksen: Bios theoretikos: Notes on Aristoteles’ Ethica Nicomachea X, 6 – 8, Oslo 1976; Dorothea Frede: Der ,bermensch‘ in der politischen Philosophie des Aristoteles. Zum Verhltnis von ,bios theoretikos‘ und ,bios praktikos‘, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1998, S. 259 – 284. Vgl. das bedeutende Werk von Alberto Grilli: Vita contemplativa. Il problema della vita contemplativa nel mondo greco-romano. Brescia 2002. 25 Vgl. Fritz Schalk: Il tema della ,vita activa‘ e della ,vita contemplativa‘ nell’ umanesimo italiano, in: Umanesimo e Scienza Politica, ed. Enrico Castelli, Milano 1951, S. 569 – 566; Eugene F. Rice Jr.: The Renaissance Idea of Wisdom. Cambridge, Mass. 1958, S. 30 – 57 (Harvard Historical Monographs XXXVII). 26 Vgl. etwa Seneca: Epistulae morales ad Lucilium (künftig: Epist.). 95,10: „Die Philosophie […] ist sowohl kontemplativ wie aktiv“ – „philosophia […] et contemplativa est et activa“; De otio IV, 2: „Die Natur hat uns für beides geschaffen, sowohl für die Kontemplation wie für die Aktion“ – „natura nos ad utrumque genuit, et contemplationi rerum et actioni“ (vgl. VIII, 1 – 3). 27 Zum politisch-kulturellen Kontext: Florian Matzner: Vita activa et vita contemplativa. Formen und Funktionen eines antiken Denkmodells in der Staatsikonographie der italienischen Renaissance. Frankfurt/Berlin/Bern 1994. Einen literaturhistorischen Überblick über die Bedeutung der Vita activa et contemplativa in den Schriften Landinos bieten Eberhard Müller-Bochat: Leon Battista Alberti und die Vergil-Deutung der Disputationes Camaldulenses. Krefeld 1968 (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln), S. 7 – 10 und Manfred Lentzen: Studien

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Schrift den Herzog von Urbino, Federico da Montefeltre, dem er sie widmete, als ideales Muster für die Verbindung von vita activa und vita contemplativa dar. Um auch am Paradigma Herkules die vita contemplativa miteinbeziehen und zugleich die Brücke zur vita activa schlagen zu können, benutzt Landinos fiktionalisierter Lorenzo die stoische Doppeldefinition der virtus durch ratio (sapientia) und männliche Tatkraft28 : Die sapientia des Herkules, die an das stoische Idealbild des „Weisen“ erinnert, ist voll gestalterischer Energie in der Realität. Landino greift hier sogar wörtlich zitierend auf eine antike Quelle zurück29, indem er ausführt, die sapientia des Herkules sei nicht selbstzur Dante-Exegese Cristoforo Landinos. Köln/Wien 1971 (Studi Italiani, 12), S. 85 – 87, 94 – 110. 28 Zur Begründung der virtus auch durch ratio, iudicium und sapientia vgl. Seneca, Epist. 71,32: „Einziges Gut ist die virtus, jedenfalls besteht kein Gut ohne virtus, und die virtus hat in unserem besseren Teil, d. h. im vernunftbegabten, ihren Sitz. Was kann diese virtus sein? Urteilskraft, wahrhafte und unbeeinflußbare: Von ihr rühren nämlich alle Regungen des Geistes her, von ihr wird jede Vorstellung, die eine Regung auslöst, zur Klarheit gebracht“ – „unum bonum esse virtutem […] et ipsam virtutem in parte nostri meliore, id est rationali positam. quid erit haec virtus? iudicium verum et immotum: ab hoc enim impetus venient mentis, ab hoc omnis species, quae impertum movet, redigetur ad liquidum“. Zur Verbindung von Denken und Handeln in der virtus: Seneca, Epist. 66,6: „Laßt uns zum ersten Gut zurückkehren und erwägen, was es ist: Es ist der Geist, der das Wahre betrachtet, der aus Erfahrung weiß, was zu meiden und zu erstreben ist, sich als Teil der gesamten Welt versteht und alles bedenkt, was sich in ihr ereignet, im Denken und Handeln gleicherweise unternehmend, groß und energisch, gleichermaßen unüberwindbar durch Widrigkeiten wie Verlockungen, keinem Schicksal unterliegend, erhaben über Zufälliges, vollendet schön, ganz geordnet sowohl im Verhalten wie in der Kraftentfaltung, besonnen und nüchtern, unanfechtbar und unerschrocken, keine Gewalt vermag ihn zu brechen, Zufälliges macht ihn weder überheblich noch drückt es ihn nieder: ein solcher Geist ist virtus“ – „ad primum bonum revertamur et consideremur id quale sit: animus intuens vera, peritus fugiendorum ac petendorum, non ex opinione, sed ex natura pretia rebus imponens, toti se inserens mundo et in omnes eius actus contemplationem suam mittens, cogitationibus actionibusque intentus […]: talis animus virtus est“. Daß Weisheit und Tapferkeit zusammengehören sollen, betont im stoischen Kontext auch Cicero, Tusc. 3,14: „nemo sapiens nisi fortis“. 29 Die nachfolgend zitierte Partie aus Landinos Schrift und ihre Fortsetzung stimmt mit den Kern-Aussagen aus der Dissertatio 15 des Maximos von Tyros überein, eines populärphilosophischen Literaten des 2. Jahrhunderts n. Chr. (Maximus Tyrius, Dissertationes, edidit Michael B. Trapp, Stutgardiae et Lipsiae MCMXCIV, S. 131. Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Die Stilisierung des Tathelden Herakles zum sapiens (bei Maximos von Tyros: zum sovºr) erklärt sich aus der stoischen Idealfigur des

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genügsam gewesen, vielmehr habe er sie aktiv durch seine Taten im Dienste der Menschheit bewiesen: „Weise war Herkules. Und er war weise nicht für sich; in Wahrheit war er durch seine Weisheit fast allen Sterblichen von Nutzen. Denn als er den größten Teil der Welt durchwanderte, besiegte er furchterregende wilde Tiere, gefährliche und schlimme Ungeheuer überwältigte er, die grausamsten Tyrannen bezwang er, den meisten Völkern und Stämmen stellte er Recht und Freiheit her“.30 Hier kommt das schon in Xenophons Wiedergabe der Prodikos-Fabel und dann besonders von der römischen Stoa propagierte Handeln im Dienste des Allgemeinwohls als vornehmste Manifestation der virtus zum Tragen. Die schon in der antiken Quelle und auch in spezifisch stoischen Herkules-Idealisierungen – so bei Dion Chrysostomos31 – vorhandene Stilisierung des Helden zum Vorkämpfer gegen die Tyrannis und für die libertas erhält ihr besonderes politisches Interesse in einer Zeit, in der sich in Florenz und nicht nur dort der Übergang von der Republik zur mehr oder weniger absolutistischen Fürstenherrschaft vollzog. In seinem späteren Traktat De vera nobilitate 32 beschreibt Landino eine wahrscheinlich wiederum fiktive Zusammenkunft der bedeutendsten Persönlichkeiten von Florenz zu einem Bankett, um in einem Dialog die von Dante eingeleitete und dann sich über das ganze „Weisen“ – da Herakles zum idealen Repräsentanten der stoischen virtus auserkoren war, mußte er auch „sapiens“ sein. Schon bei Antisthenes kommt ihm neben der Kraft die Einsicht, die vqºmgsir zu (vgl. Anm. 8). Außerdem war Herakles längst sogar zum philosophischen Vorbild erhoben worden, so (um 400 v. Chr.) durch den Sophisten Herodoros von Herakleia in seinem 17 Bücher umfassenden Werk über Herakles, von dem entsprechende Fragmente erhalten sind. Darin heißt es, Herakles habe „wie ein Philosoph bis zu seinem Tode gelebt“ (Felix Jacoby: Fragmente der griechischen Historiker I, 1957, Nr. 1 – 4, 13 – 37). Bildliche Zeugnisse des philosophierenden Herakles in dem Ausstellungskatalog Herakles – Herkules (wie Anm. 5), S. 366 und 367. Bei Landino dient dieser Zug seinem Darstellungsziel: der Zusammenführung von vita activa und vita contemplativa, wobei er letztere noch neuplatonisch überformt. 30 Cristoforo Landino: Disputationes Camaldulenses, a cura di Peter Lohe, Firenze 1980, S. 32: „Fuit sapiens Hercules. At non sibi sapiens; verum sua sapientia omnibus paene mortalibus profuit. Nam maximam orbis partem peragrans horrendas feras substulit, pernitiosa ac immania monstra perdomuit; crudelissimos tyrannos coercuit; plurimis populis ac nationibus ius libertatem restituit.“ 31 Vgl. S. 309 f. 32 Cristoforo Landino: De vera nobilitate. Kritisch herausgegeben und eingeleitet von Manfred Lentzen. Genève 1970.

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15. Jahrhundert erstreckende humanistische Diskussion über den homo nobilis fortzuführen.33 Wie schon Dante und andere Vorgänger, welche die wahre nobilitas nicht auf den Geburtsadel, sondern auf die individuelle virtus gründen, vertritt auch Landino diese Position. Da virtus zugleich ein stoischer Schlüsselbegriff war, bot er sich als Brücke zum stoischen Ethos und zur stoischen Verkörperung der virtus an: zu Herkules, dessen vorbildhaften Taten das gesamte letzte Kapitel gilt. Dabei greift Landino auf das Repertoire der stoischen Affektbesiegung zurück, indem er die Taten des Herkules allegorisch deutet: Die Gefangennahme der Hirschkuh steht für die Bändigung der Angst, der Sieg über zwei Löwen für die Überwindung des Zorns, die Reinigung des Augiasstalls für die Lossagung von schmutziger Wollust usw.34 Mit seinem „lumen rationis“ vermag Herkules diese Affekte und Laster zu überwinden, und so wird er zum Musterbeispiel des stoischen Tugendhelden, der mit dem Ideal des homo nobilis verschmilzt.35 In der 33 Vgl. die instruktive Einleitung von Lentzen. 34 S. 107 f. Ähnlich in den Disputationes Camaldulenses, S. 235 f. Wie die Allegorie des Prodikos von Herakles am Scheidewege lassen sich auch derartige Allegorisierungen bis in die Zeit vor der Entstehung der stoischen Schule zurückverfolgen. Schon um 400 n. Chr. deutete Herodor in seiner umfangreichen Heraklesgeschichte den Helden auch als philosophischen Überwinder der Leidenschaften: „Sie stellen ihn dar, wie er das Löwenfell trägt und die Keule und drei Äpfel hält. Die Mythen erzählen, daß er die drei Äpfel erlangen konnte, nachdem er mit der Keule den Drachen erschlagen hatte; das bedeutet, daß er die vielfältig schillernde Durchtriebenheit widerlichen Begehrens mit der Keule der Philosophie besiegte, wobei ihm die edle Gesinnung wie ein Löwenfell als Mantel diente. Und so nahm er sich die drei Äpfel, das heißt drei Tugenden: nicht zornig zu werden, nicht habgierig und nicht lüstern zu sein. Mit der Keule seiner abgehärteten Seele nämlich und mit dem Fell seines mutvollen und besonnenen Verstandes bewältigte er den irdischen Kampf gegen die schlechte Begierde; er lebte bis zum Tode als Philosoph“ (Herodor, FGr H 31 F 14). 35 S. 107 – 109. Nachdrücklich insistiert Landino auf dem für die Stoa charakteristischen Wert der Ratio, welche die seelische Stabilität garantiert: „Die virtus nämlich, wie ich schon mit vielerlei Argumenten aufgezeigt habe, die virtus, sagte ich, die wahrhafte, ist einzig und allein die Spenderin des echten Adels. Die virtus, wenn ich sie definieren soll, scheue ich mich nicht einen Zustand des Geistes zu nennen, der durch eine gewisse Festigkeit mit der Natur und der Ratio übereinstimmt“ – „Virtus enim, ut multis iam argumentationibus ostendisse videor, virtus, inquam, quae vera sit, verae nobilitatis sola atque unica datrix est. Virtutem autem, si me illam diffinire iubetis, non verebor animi habitum dicere, qui naturae rationique quadam stabilitate consentiat“ (De vera nobilitate, S. 72).

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Gegenwart, so verkündet Landino, sei Lorenzo il Magnifico ein solcher homo nobilis: „Laurentium Medicem vera nobilitate donandum censeo“.36 Diese Verbindung von stoischer Virtus mit dem Ideal eines öffentlich handelnden homo nobilis war durch Ciceros Schrift De officiis vorgeprägt, denn Cicero bezog in diesem Grundtext, der den europäischen Traditionsprozeß über Jahrhunderte hinweg maßgeblich bestimmte, das stoische Ethos auf die Leitbegriffe honestas und ornatus vitae (I 93), wie es schon Xenophons Erzählung der Prodikos-Fabel in griechischen Termini getan hatte.37 So nobilitierte Cicero die stoische virtus, und auch er berief sich auf den stoischen Tugendhelden Herkules.38 Damit versuchte er die römische Wirklichkeit, in der Herkules schon längst als Herrschaftsidol brutaler Machthaber (wie etwa Sulla) instrumentalisiert worden war, mit einem ethischen Gegenentwurf ,republikanischer‘ Haltung zu konfrontieren.39 Wie auf das halb noch republikanisch, halb schon höfisch geformte Ideal des homo nobilis im Florenz der Medici, so wirkte Ciceros Nobilitierung der Tugendhaltung auf das französische Ideal des honnête homme, des Caballiero der Spanier und des gentleman der Engländer. Die in diese Sphäre einbezogene Herkules-Figur fand eine entsprechende öffentliche Inszenierung in der europäischen Adelskultur mit mehr oder weniger deutlichen Bezügen zum stoischen Tugendhelden, der nun zum Muster ritterlichen Verhaltens wurde.40 Im Florenz der Medici entstand im Palazzo Vec36 S. 104. 37 Immer wieder hebt bei Xenophon die (Aqet¶ (virtus) in ihrer Rede an Herakles, in der sie ihn auf den von ihr empfohlenen Weg zu lenken sucht, auf die Ehre ab, und diese Hervorhebung der Ehre bildet den Höhepunkt und Abschluß der Fabel. „Man ehrt mich (til_lai) am meisten von allen bei Göttern und Menschen“, sagt die (Aqet¶, und sie versichert, daß die Menschen, die sich von ihr leiten lassen, „in ihrem Vaterlande geehrt werden“ (t¸lioi d³ patq¸sim). (Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, II 1, 32/33). 38 Allgemein zu Herkules in der Literatur der römischen Republik: M. W. MacKenzie: Hercules in the Early Roman Empire, With Particular References to Literature. Cornell Univ. 1967, S. 32 ff. 39 Vgl. Willibald Heilmann: Ethische Reflexion und rçmische Lebenswirklichkeit in Ciceros Schrift ,De officiis‘. Ein literatursoziologischer Versuch. Wiesbaden 1982 (Palingenesia 17). 40 An dem vom „Herbst des Mittelalters“ und der späten Verklärung der ritterlichen Kultur in besonderem Maße geprägten Hofe von Burgund wurde Herkules zum Vorbild für den Ritter schlechthin. Raoul le Fèvre, der Kaplan Philipps des Guten von Burgund, pries in seinem Recueil des histoires de Troyes (1464), dessen zweiter Teil einen fast ganz selbständigen Herkules-Roman

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chio, dem Regierungssitz der Stadt, eine Sala di Ercole, deren Wände mit den Taten des Herkules geschmückt waren. Bald gab es in ganz Europa solche Herkules-Säle, in der Münchner Residenz ebenso wie im Wiener Palais Liechtenstein, und überall ließen sich die Herrscher entweder selbst in der Pose und Montur des Herkules darstellen, so in Frankreich Ludwig XIII und Ludwig XIV, der keineswegs von herkulischer Statur war, oder sie ließen doch mindestens Herkules-Statuen aufstellen und ihre Repräsentationsräume mit Herkules-Gemälden ausstatten, um auf diese Weise ihr Selbstverständnis zu inszenieren. Wohl ging es dabei vorrangig um herrscherliche Machtdemonstration und die Sieger-Attitüde des aus der Antike bekannten Hercules victor41, aber die heroische virtus war doch auch mitbestimmt von der Vorstellung des Tugendhelden, der nicht nur über Untertanen herrscht und Feinde überwältigt: Er siegt auch moralisch, indem er Verantwortung für das Gedeihen des Staates trägt, wie es der stoischen Tradition entspricht. Hier kommt die schon in der antiken virtus vorhandene Doppelvalenz zum Tragen: die der heldenhaften, männlichen Tatkraft und die der sittlichen „Tugend“. Besonders wirkte der in kynischen Schriften geschaffene HeraklesTypus nach.42 Nach der Schreckensherrschaft Neros und der Tyrannei Domitians war das Bedürfnis nach einem von sittlichen Normen geprägten Kaisertum entstanden. Einer der großen Redner in dieser Zeit bietet, Herkules als tugendhaften, ehrenvollen und edlen Ritter, der obendrein gebildet und galant ist, was freilich weit über die stoische virtus hinausging. Dieses Buch wurde in Frankreich und England (dort war es das erste gedruckte Buch überhaupt) für fast ein Jahrhundert zum Bestseller und auch in anderen europäischen Sprachen fand es weite Verbreitung – so sehr traf es den Nerv der Zeit. Eine gute Analyse und eine Übersicht über das Werk gibt Marc-René Jung: Hercule dans la littrature franÅaise du XVIe sicle. De l’Hercule courtois  l’Hercule baroque (Travaux d’humanisme et Renaissance LXXIX). Genève 1966, S. 16 – 27. 41 Zum antiken Kult des Hercules Victor in Rom und in Italien vgl. Stefan Ritter (wie Anm. 4), S. 37 f., S. 85 f. und (zum Heiligtum des Hercules Victor von Tibur, dem größten Hercules-Heiligtum in Italien) S. 87 – 90. 42 Ragnar Hoïstad: Cynic hero and cynic king. Studies in cynic conception of man. Uppsala, 1948, S. 22 – 73. Vgl. Margarethe Billerbeck: Greek Cynicism in Imperial Rome, in: Die Kyniker in der modernen Forschung. Aufstze mit Einfhrung und Bibliographie, hg. von M. B. (Bochumer Studien zur Philosophie 15), Amsterdam 1991, S. 147 – 166. Marie-Odile Goulet-Cazé: Le cynisme  l’poque impériale, in: Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt (künftig: ANRW), hg. von Hildegard Temporini und Wolfgang Haase, II 36.4, Berlin/New York 1990, S. 2720 – 2833.

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einer blühenden und einflußreichen Rhetorik, Dion von Prusa, genannt Chrysostomos (Goldmund), ein Vertreter der kynischen Schule, deren Lebenshaltung mit der stoischen verwandt, aber radikaler war und ebenfalls den Tugendhelden Herakles zum Ideal erhob, übertrug dieses Idealbild auf die Vorstellung von einem guten Kaisertum. Nachdem Dion aus der von Domitian über ihn verhängten Verbannung zurückgekehrt war, entwarf er um 100 n. Chr. in seinen bis in die Neuzeit rezipierten43 Reden an Kaiser Trajan ber die Kçnigsherrschaft ein entsprechendes Programm. Besonders bemerkenswert ist der neue Zuschnitt der Prodikos-Fabel. Dion verwandelt die Entscheidung zwischen Tugend und Laster in eine Entscheidung zwischen der guten Königsherrschaft und der bösen Tyrannis.44 Als sich Herakles für die gute Königsherrschaft entscheidet, verleiht ihm Zeus die Weltherrschaft und macht ihn zum Schutzherrn der Könige und zum Gegner der Tyrannen. Deshalb ist er „der Retter der Welt und der Menschheit“45 – die schon lange feststehende Rolle des Herakles als „Wohltäter“ (eqeqc´tgr) der Menschheit und als Identifikationsfigur der Herrscher wird in eine klare politische Botschaft umgedeutet. Die Verbindung mit dem stoischen virtus-Ideal, dem sich noch der kynische Habitus asketischer Bedürfnislosigkeit assoziiert, verstärkte den moralischen Anspruch des Herakles-Vorbilds. Auch Trajans Nachfolger Hadrian, Antoninus Pius und Marc Aurel eigneten sich dieses Ideal mit ihrer Herakles-Verehrung zu.46 Für Kaiser Julian, der von 360 bis 363 regierte und die von Konstantin eingeleitete Christianisierung des Reichs rückgängig zu machen suchte, indem er sich wieder den alten Göttern zuwandte, war Herakles das „größte

43 Die neuzeitliche Erstausgabe erschien 1476. Schon 1428 hatte der Humanist Filelfo eine der Reden ins Lateinische übersetzt. Grundlegend: Dionis Prusaensis, quem vocant Chrysostomum quae extant omnia, hg. von Hans von Arnim, 2 Bde., Berlin 1893 – 1896. Nachdruck: Hildesheim 2000 (mit Sachindices). 44 Dionis Chrysostomi orationes. Post Ludovicum Dindorfium edidit Guy de Budé. Lipsiae in aedibus B. G. Teubneri MCMXVI. Oratio 1, 45 – 84. Deutsche Übersetzung: Dion Chrysostomos: Smtliche Reden. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Winfried Elliger, Zürich 1967, S. 12 – 20. 45 Dion Chrysostomos or. 1, 84. 46 Vgl. Wilhelm Derichs: Herakles, Vorbild des Herrschers in der Antike. Diss. Köln 1950; Pierre Hadot, Art. Frstenspiegel, in: Reallexikon fr Antike und Christentum 8, 597 – 600; P. Tzanetas: The symbolic Heracles in Dio Chrysostom’s oration on kingship. Diss. Columbia Univers. New York 1972, bes. S. 86 – 98.

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Beispiel“ (paq²deicla t¹ l´cistom).47 Doch andere Kaiser imitierten nur die grobschlächtigen Züge des Krafthelden, um ihre Brutalität auszuleben. Commodus hatte seiner Identifikation mit Herkules dadurch Ausdruck verliehen, daß er einer Kopie des Herkules Farnese seinen eigenen Porträtkopf aufsetzen ließ. Beide Möglichkeiten blieben auch für die Zukunft offen. Diese Zukunft reichte in Deutschland von der Selbstinszenierung Kaiser Maximilians als ,Hercules Germanicus‘ bis zum Herkules-Zyklus des Brandenburger Tors.48 Auf den Seiten der fünf Durchfahrten erhielt es nicht weniger als zwanzig Reliefs mit den Taten und Errungenschaften des Helden samt der Entscheidung zwischen virtus und voluptas. Friedrich der Große, der sich selbst als „philosophe stoïcien“ bezeichnete, war 1786 gestorben, und als wenige Jahre später Langhans sein klassizistisches Bauwerk in Angriff nahm, dachte man an eine „Porta Fridericiana“. Der mit den Entwürfen für die Reliefs beauftragte Maler Bernhard Rode hatte bereits 1763 den siegreich aus dem Siebenjährigen Krieg heimkehrenden König in einer Zeichnung als Herkules dargestellt, der als Friedensbringer – „pacifer“ ist ein alter Beiname des Herkules – die Kriegsgöttin vertreibt. Beraten wurde Rode, als er die Herkules-Reliefs für das Brandenburger Tor zeichnerisch plante, von dem seit langem mit ihm befreundeten Dichter Karl Wilhelm Ramler. Dieser hatte 1760, in Friedrichs des Großen und Preußens größter Bedrängnis, eine Ode auf den König verfaßt, in der er ihn als Herkules darstellte, der schwere Kämpfe durchzustehen hat und wie dieser dereinst die Unsterblichkeit erlangen werde. Rode illustrierte bereits eine Sammlung patriotischer Oden, die Ramler zum Siebenjährigen Krieg verfaßte. Dessen Vorschlag, das Brandenburger Tor dem ruhmvollen Andenken Friedrichs des Großen zu widmen, fand in der mit der Prüfung betrauten Berliner Akademie der schönen Künste keine Mehrheit. Man entschied sich für die offizielle Bezeichnung ,Friedenstor‘. Doch wählte Rode für die Herkules-Reliefs vor allem diejenigen Szenen, die Ramler, ein großer Kenner der antiken Mythologie, in 47 Iulian. Imp. Or. 6, 187 c, in: L’Empereur Julien. Oeuvres Compltes [griechischfranzösisch], hg. von J. Bidez, Paris 1924, weitergeführt von G. Rochefort und Chr. Lacombrade, Paris 1963 ff., Bd. 2,1, S. 153. 48 Zum Folgenden: Das Brandenburger Tor 1791 – 1991. Eine Monographie, hg. von Willmuth Arenhövel und Rolf Bothe. Berlin 1991. Hier sämtliche HerkulesDarstellungen des Brandenburger Tors in guten photographischen Aufnahmen sowie die Entstehungsgeschichte S. 113 – 122.

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seinem 1790 erschienenen Handbuch der klassischen Mythologie als vorbildlich präsentiert hatte. Da inzwischen die Französische Revolution immer dramatischere Formen annahm und der preußische König Friedrich Wilhelm II. mit der ,Pillnitzer Deklaration‘ (so heißt sie nach dem Schloß bei Dresden, wo sich der König aufhielt) einige Wochen nach der Öffnung des Brandenburger Tors am 6. August 1791 den französischen Revolutionären eine Intervention zugunsten Ludwigs XVI. androhte, konnte man nun die Besiegung der Ungeheuer durch Herkules auf den Reliefs des Brandenburger Tors als Kampfansage an die Ungeheuer der Revolution lesen – man konnte es umso mehr, als Friedrich Wilhelm II. bereits 1787 preußische Truppen in die Niederlande hatte einmarschieren lassen, um dort eine demokratische Bewegung gegen das dynastisch mit Preußen verbundene Herrscherhaus zu unterdrücken. Diese Intervention fand tatsächlich einige Reflexe bei der Planung des Brandenburger Tors. Genau in die Gegenrichtung wies die Umkodierung der herakleischen virtus durch die französischen Revolutionäre. Hatte den französischen Königen, der geläufigen Ikonographie entsprechend, die Identifikation mit Herkules der herrschaftlichen Selbstinszenierung gedient, so sollte nun der ,Hercules Gallicus‘ die revolutionäre Gewalt des Volkes versinnbildlichen. Wie Herkules die Ungeheuer sollte diese revolutionäre Gewalt die Monarchen besiegen. Die Macht über die Bilder, nicht zuletzt über ihre Semantik, war ein zentrales Instrument der revolutionären Propaganda. Jacques Louis David empfahl am 26. 10. 1792 die Umarbeitung der Königsdenkmäler in Monumente der Revolution. Nach dem Beschluß des Konvents vom 1. 8. 1793, die Denkmäler der Königszeit zu beseitigen, faßte er den Plan, am Pont Neuf einen Herkules-Koloß aufzustellen, dessen Sockel aus den Trümmern der Königsstandbilder von Notre Dame bestehen sollte – sie waren auf Beschluß des Pariser Magistrats vom 23. 10. 1793 zerstört worden. Schon als die europäischen Monarchen mit einer Intervention drohten, wollten die Revolutionäre an den französischen Grenzen gigantische Herkules-Standbilder aufrichten, die den Interventionstruppen ankündigen sollten, womit sie zu rechnen hätten. Inzwischen pervertierte Robespierre, der sich gerne in die Tradition der sittenstrengen Stoa stellte, den virtus-Begriff. Er propagierte das Junktim von Tugend und Terror – „vertu“ und „terreur“ –, weil ohne den Terror, so Robespierres bekannte Parole, die Tugend machtlos sei.

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Die Allegorisierung der stoischen Herkulesfigur und ihre bildliche Darstellung seit der Renaissance Die Renaissance pflegte besonders die Allegorisierung der stoisch formierten Herkules-Figur. Zwar ganz in antiker Tradition, aber doch historisch und methodisch aufschlußreich ist in dieser Hinsicht ein schon am Anfang des 15. Jahrhunderts entstandenes Werk des Florentiner Kanzlers und Humanisten Coluccio Salutati: De laboribus Herculis. 49 Für Salutati sind die Arbeiten des Herkules der vielfältige Ausweis einer alles überragenden virtus. Die ausführliche Darstellung dieser Arbeiten leitet er mit einer programmatischen Partie ein, in der er virtus zum Leitmotiv erhebt.50 Herkules, so Salutati, habe sich durch „cunctarum virtutum excellentia“ ausgezeichnet, und weil diese „supra communem virtutum humanarum statum“ hinausreichten, sei Herkules zum Inbegriff heroischer und geradezu göttlicher virtus geworden („virtus heroica nominatur atque divina“) und zur Sphäre der Götter emporgestiegen. Ganz stoisch sieht Salutati die virtus des Herkules im Sieg über Affekte und Begierden durch ratio und voluntas. Um dies aber zu erkennen und die eigentliche „Wahrheit“ in seinen Arbeiten zu finden, müssten diese mit dem „Licht der Allegorie“, dem „allegorie [alte Schreibweise] lumen“, erklärt werden. Mit solch allegorischem Verfahren, das er jeweils mit Berufung auf die bereits zahlreichen antiken – sowohl nichtchristlichen wie christlichen – Allegoresen51 stützt und zugleich weiter ausbaut, stellt er jede der „Arbeiten“ des Herkules dar. Dabei folgt er meistens der antik-stoischen Gleichsetzung von wilden Tieren mit den Affekten.52 So signalisiert die Überwältigung der 49 Textedition: Coluccio Salutati: De laboribus Herculis, ed. Berthold L. Ullman, 2 Bde, Zürich 1951. Vgl. auch: Ullman: The humanism of Coluccio Salutati. Padua 1963; Ronald G. Witt: Hercules at the Crossroads. The Life, Works and Thought of Coluccio Salutati. Durham (N.C.) 1983 (Duke Monographs in Medieval and Renaissance Studies 6). 50 S. 176 f. 51 S. 177. Zur Allegorese bei den antiken Stoikern: Alain L. Boulluec: L’allgorie chez les Stoiciens, in: Poétique 23, 1975, S. 301 – 321; Jean Pépin: Mythe et allgorie. Les origines grecques et les contestations judo – chrtiennes. Paris 1976; Peter Steinmetz: Allegorische Deutung und allegorische Dichtung in der alten Stoa, in: Rheinisches Museum 129, 1986, S. 18 – 30; vgl. auch Jon Whitman: Allegory. The Dynamics of an Ancient and Medieval Technique. Oxford 1987. 52 Vgl. Dion Chrysostomos, or. 5,22; vgl. or. 8,11 – 35. Zur christlichen Adaption, insbesondere im Hinblick auf Paulus, 1 Kor. 15,32, vgl. Hermann Funke: Antisthenes bei Paulus, in: Hermes 98, 1970, S. 459 – 71; Abraham J. Malherbe:

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Hirschkuh, eines scheuen und flüchtigen Tieres, die Überwindung des Angst-Affekts53, und ebenso allegorisch deutet er den Sieg über den Löwen („Nunc ad alium sensum allegoricum accedentes aliquid de leonibus permittamus“) 54 : Da Zorn (iracundia) zum Wesen des Löwen gehöre, deute diese „Arbeit“ des Herkules auf die Besiegung des ZornAffekts, die ihm durch seine „ratio“ und „constantia“ möglich gewesen sei.55 Die im Auftrag der neuzeitlichen Fürstenhäuser schaffenden Knstler griffen die stoische „Tugend“-Dimension der allegorisierten HeraklesFigur aus einem Werk auf, das ihnen seit seinem erstmaligen Erscheinen 1593 bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts in zahllosen Auflagen die Muster für alle antiken Gestalten und ihre allegorische Deutung bot: die Iconologia des Cesare Ripa.56 Darin folgt, bezeichnenderweise auf eine allegorische Präsentation der virilità, eine ganze Reihe von Darstellungen der virtù, unter denen die virtù heroica den größten Raum erhält – und vor allem exemplifiziert Ripa diese „heroische Tugend“ an antiken Gestaltungen des Herkules. Er deutet sie allegorisch im Sinne der Stoa. Da keine der von ihm kommentierten bildlichen Gestaltungen die Szene ,Herkules am Scheidewege‘ bietet, fehlt auch jeder Hinweis auf die Fabel des Prodikos. Daß Ripa dennoch die verschiedenen Herkules-Darstellungen nach den antiken Vorgaben57 stoisch versteht, läßt erkennen, wie weit Herkules über die Fabel des Prodikos und die Situation des jugendlichen Heros am Scheidewege hinaus als Exempel spezifisch stoischer Virtus diente. Ganz dem stoischen Programm der Affektbesiegung durch Vernunft und Tugend gemäß fügt Cesare Ripa jedem der Attribute des Herkules, vom Löwenfell über die Keule bis zu den Äpfeln der Hesperiden, die er auf manchen bildlichen Zeugnissen

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Antisthenes and Odysseus, and Paul at war, in: Harvard Theological Review 76, 1983, S. 143 – 73; Abraham J. Malherbe: The beasts at Ephesus, in: Journ Bibl Lit 87, 1968, S. 74 – 76. S. 183. S. 187. S. 189. Der Überwindung des Zorns galt das besondere Interesse der römischen Stoa. Seneca widmete diesem Anliegen eine eigene Schrift: De ira. Vgl. Paul Rabbow: Antike Schriften ber Seelenheilung und Seelenleitung auf ihre Quellen untersucht (I: Die Therapie des Zorns), Leipzig/Berlin 1914. Cesare Ripa: Iconologia. Roma 1593. Die erste illustrierte Ausgabe erschien 1603. Im folgenden wird nach der erweiterten, 1611 erschienenen Ausgabe zitiert (A Garland Series: The Renaissance and the Gods, vol. 21: Cesare Ripa: Iconologia. Padua 1611. Reprint New York/London 1976). Vgl. Anm. 34.

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in der einen Hand hält, eine allegorisch-stoische Explikation bei.58 Der Herkules auf einer antiken Münze des Geta, so Ripa, deute mit seinem Löwenfell auf „Großmut und Geistesstärke“ („La spoglia del Leone in Ercole ci dimostra la generosità; fortezza dell’ animo“), die Keule sei „Signum der Vernunft, welche die Begierde beherrscht und bändigt“59 („La clava, significa la ragione, che regge, & doma l’appetito“). Die goldenen Äpfel der Hesperiden, die eine Herkules-Statue auf dem Kapitol in Rom in der Hand hält, so führt Ripa weiter aus, bedeuten die „drei heroischen Tugenden, die man dem Herkules zuschreibt“: der erste Apfel die „Zügelung des Zorns“ („la moderatione dell’ Ira“), der zweite die „Mäßigung der Habgier“ („la temperanza dell’ Avaritia“), der dritte „die großmütige Verachtung der Wonnen und Vergnügen“ („il generoso sprezzamento delle delitie, & de i piaceri“). Am schwersten fiel die Interpretation der Nacktheit, in welcher der mit dem Löwenfell meist nur locker drapierte Herkules fast immer erscheint. Aber selbst hier weiß Ripa passenden Bescheid aus dem Fundus der stoischen Vorstellungen. Am Beispiel einer mit einer Herkules-Darstellung versehenen Münze und unter Erwähnung des berühmten Herkules Farnese, der bald nach seiner spektakulären Entdeckung im Jahre 1546 zu kanonischem Rang erhoben wurde, bemerkt er: „Wenn die Virtus nackt erscheint, so weil sie nicht Reichtümer sucht, sondern die Unsterblichkeit, Ruhm und Ehre, wie auf einem antiken Marmor zu sehen ist, der sagt: ,Die Virtus begnügt sich mit dem nackten Menschen‘“ („Si fa nuda la virtù, come quella che non cerca richezze, ma l’immortalità, & gloria, & honore, come si è visto in un marmo antico, che dice: Virtus nudo homine contenta est“ – die lateinische Schlußwendung ist bezeichnenderweise ein Seneca-Zitat; es stammt aus der Schrift De beneficiis, 3,18,2).60 Andere Assoziationen hätte schon der Fundort des Herkules Farnese nahegelegt, die römischen Caracalla-Thermen, die wie andere Thermen 58 Ripa, S. 537 – 539. 59 Zur antiken Tradition: Martha Craven Nussbaum: The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics (Martin Classical Lectures, N. S. 2). Princeton 1994. 60 Vgl. die Herakles-Fabel in der stoisch-kynischen Version des Dion Chrysostomos: „Man erzählt sich auch von Herakles, er sei nackt (culmºr) gegangen und habe nur ein Löwenfell und eine Keule bei sich gehabt. Das ist aber so zu verstehen, daß er auf Gold, Silber und Kleidung keinen Wert legte, sondern das alles für wertlos hielt […]“. Dion Chrysostomos (wie Anm. 44), Reden ber die Kçnigsherrschaft 1, 61 f.

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ein Ort des Body-Building und ein Wellness-Zentrum waren61, ganz zu schweigen von der auffällig betonten Körperlichkeit dieser zu einer enormen neuzeitlichen Wirkung gelangenden monumentalen Herkules-Statue. Der Stellenwert der stoischen Stilisierung des Herakles zum ethischen Musterbeispiel der virtus und seine Vereinnahmung als Vorbild-Figur in eine entsprechend „sittliche“, eher sinnen- und körperfeindliche Pädagogik läßt sich erst einschätzen, wenn man seine andere Bedeutung in der ausgeprägten Körperkultur der Antike wahrnimmt. Schon früh galt Herakles als Begründer der Olympischen Spiele62, in der späteren Antike als Schutzherr der Athleten, in hellenistischer und römischer Zeit hatte er im Gymnasion und an Sportstätten seinen festen Platz als Vorbild körperlicher Kraft und Leistung.63 Weil er den Knaben als Vorbild dienen sollte, wurde er manchmal sogar selbst in den Gymnasien als Knabe dargestellt. Er war der Schutzherr der Ringerschulen (der „Palaestra“), da er selbst als großer Ringkämpfer galt, und viele Sportfeste waren ihm geweiht. Diese unter dem Patronat des Herakles stehende Körperkultur ist denkbar weit entfernt vom stoischen virtus-Ideal. Aber durch die philosophische Tradition war besonders seit dem Humanismus die stoische „Lesart“ so fest etabliert, daß sie immer wieder andere Wahrnehmungen überlagerte. Obwohl der Herkules Farnese durchaus auch als prototypische Repräsentation der „vollkommensten Leibes-Stärke“64 eine fortwährende Faszination ausübte und bis hin zu dem kurz nach 1700 entstandenen Kasseler Riesen-Herkules65 als Modell barock-absolutistischer Gigantomanie diente, wirkte sich die humanistisch-stoische Voreinstellung sogar auf die Wahrnehmung von Herkules-Statuen noch lange aus. Winckelmann schrieb mit deutlichem Anklang an die stoische magnanimitas und tranquillitas animi, die er auch für seine Deutung der Laokoon-Figur bemühte, über den Torso im Belvedere (den er als einen Herkules61 Schon in früherer Zeit galt Herakles als Schutzherr von Thermen und auch von warmen Heilquellen. Belege bei Gruppe (wie Anm. 1), Sp. 1011 f. 62 Pindar, 2. Olympische Ode, V. 3 f.; Ol. VI, V. 67 – 69. 63 Vgl. Gruppe, Sp. 1007 f. 64 Joachim von Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Knste. Nachdruck der Ausgabe von 1675 – 1680, mit einer Einleitung von Christiane Klemm, 2 Bde, Nördlingen 1994, 1. Teil, 2. Buch, S. 34. 65 Hierzu das fundierte und gut bebilderte Werk: Herkules. Tugendheld und Herrscherideal. Das Herkules-Monument in Kassel-Wilhelmshöhe, hg. von den Staatlichen Museen Kassel – Christiane Lukatis und Hans Ottomayer. Eurasburg 1997.

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Torso verstand): „In der Ruhe und Stille des Körpers offenbaret sich der gesetzte große Geist; der Mann, welcher den Dichtern ein Beyspiel der Tugend geworden ist […]“.66 Doch fehlte es nicht an launigen Attacken auf die stoisch moralisierende Herkules-Konfektionierung. Nicht erst der junge Goethe stellte in seiner Sturm- und Drang-Farce Gçtter, Helden und Wieland den Kraftkerl Herkules gegen Wielands nach der Fabel des Prodikos zugeschnittene Wahl des Herkules. 67 Schon in der Antike war der Aufenthalt des Herkules bei der Königin Omphale68 zum erotischen Abenteuer umgedeutet worden.69 Die wohl amüsanteste, auf einem kleinformati66 Johann Joachim Winckelmann: Torso-Beschreibung in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 5,1 (1762), in: Frhklassizismus, hg. von Helmut Pfotenhauer u. a. (Bibliothek der Kunstliteratur, hg. von Gottfried Boehm und Norbert Miller, Bd. 2), Frankfurt 1995, S. 187. Zu Winckelmanns stoischer Laokoon-Deutung vgl. den nachstehenden Beitrag von Barbara Neymeyr, bes. S. &&. 67 Hierzu: S. &&. 68 Einen Überblick über die literarischen und bildlichen Zeugnisse gibt Frank Brommer: Herakles II (wie Anm. 2), S. 126 – 128. 69 Die im Humanismus beliebten Mythologiae des Fabius Planciades Fulgentius (6. Jh. n. Chr.) – Jakob Locher veranstaltete 1521 sogar eine neue Prachtausgabe, weitere frühneuzeitliche sowie moderne Ausgaben verzeichnen Kray/Oettermann (Anm. 1), Nr. 4409 – 4413 – setzen Omphale allegorisch geradezu mit der libido gleich (Mythologiae II, 2). Coluccio Salutati nimmt in seiner Schrift De laboribus Herculis ausdrücklich diese Allegorese aus der Darstellung des Fulgentius auf: „In dieser Sache will ich die Feststellung des Fulgentius nicht ändern, vielmehr stimme ich ihm völlig bei, daß Omphale die libido figürlich repräsentiere“ – „In qua quidem re nolo Fulgentii sententiam immutare, sed plane secum sentio Omphalem tenere figuram libidinis“, und er zitiert ihn wörtlich: „[…] daß dennoch die libido selbst die noch unbezwungene virtus besiegen könne“ – „dicamus cum codem Fulgentio per hanc ostendi fabulam ,quod libido quamvis, etiam invictam, possit superare virtutem‘“ (C. Salutati, wie Anm. 49, S. 316 und S. 317). Zur bildlichen Überlieferung: Stefanie Oehmke: Entwaffnende Liebe. Zur Ikonologie von Herakles/Omphale-Bildern anhand der Gruppe Neapel – Kopenhagen, in: IdI 115, 2000, S. 147 – 197. Zum – oft komödiantisch gefärbten – Aufenthalt des Herkules bei Omphale vgl. Diodor 4, 31 und Apollodor 2, 6, 3; vgl. Roscher, Mythologisches Lexikon III. 1 Art. Omphale, S. 870 f. (K. Tümpel); Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC), Artikel Omphale ( John Boardman); Kray/Oettermann (wie Anm. 1), s.v. Omphale; Konrad Schauenburg: Herakles und Omphale, in: Rheinisches Museum für Philologie 103, 1960, S. 57 – 76 (zum Rollentausch). Den Rollentausch inszeniert noch eine Partie des großen Deckenfresko im Herkulessaal des Wiener Palais Liechtenstein: Omphale ergreift die Keule des Herkules, er hält Spinnrocken und Spindel in Händen; Georg Poensgen: Hercules und

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gen Elfenbein-Relief der Rokokozeit erhaltene Darstellung inszeniert gegen alles Tugend- und Kolossalpathos des ausklingenden Barock diese ganz und gar nicht stoisch brauchbare Episode aus dem Leben des Herkules, in der Omphale ihn seiner heroischen virtus, wenn auch nur vorübergehend, zu entfremden wußte. Während ein kleiner Amor auf der beiseitegelegten Keule des Herkules herumturnt, streift die nackt auf dem Schoß des Herkules sitzende Dame dem aus der Fassung gebrachten Helden mit der einen Hand das übergestülpte Löwenhaupt vom Kopf, mit der anderen greift sie nach dem enorm langen Schwanz – des Löwen. Offensichtlich ist es nicht mehr, wie in Ripas stoisch allegorisierender Darstellung, die virtus, die im Naturzustand erscheint, weil sie sich mit dem bloßen Menschsein begnügt.

Omphale. Zu einem neuerworbenen Gemlde des Kurpflzischen Museums, in: Bibliotheca docet. Festgabe fr Carl Wehmer, Amsterdam 1963, S. 303 – 334 (mit zahlreichen Beispielen). Von den literarischen Quellen sind vor allem zu nennen: Ovid, Heroinenbriefe 9, V. 59 – 83. (Dort das noch in der RokokoDarstellung erkennbare Motiv, daß Omphale dem verliebten Mann seine Trophäen stiehlt). In Lukians dreizehntem Gçttergesprch, einem satirischen Streitgespräch zwischen Äskulap und Herkules, trumpft Äskulap damit auf, er sei „nie von einer Omphale mit einem goldnen Pantoffel um die Ohren geschlagen worden“ – das ist die am weitesten gehende Gegenszene zu Herkules als dem Inbegriff stoisch-männlicher virtus. Eine gute Übersicht zum Thema ,Herkules und Omphale‘ in der römischen Kunst gibt Stefan Ritter (wie Anm. 4), S. 101 f. und S. 171 – 181. In der galanten Kultur des Rokoko erfreute sich die Omphale-Episode außerordentlicher Beliebtheit, wie die zahlreichen bildlichen Darstellungen zeigen, und entsprechend wird der in der ProdikosFabel wie generell in der stoischen Überlieferung strenger Observanz ausgeprägte Gegensatz zwischen virtus und voluptas aufgehoben. Das Titelkupfer der Hallenser Gedichtsammlung von Christian Friedrich Hunold aus dem Jahr 1718 inszeniert Herkules an einem Scheideweg, dessen eine, schwierig zu begehende Abzweigung zu Weisheit und Tugend führt – die andere, bequem erscheinende Abzweigung führt aber zum gleichen Ziel, zwar nicht so zuverlässig, dafür aber „auf eine leichte und vergnügliche Manier“. Menantes (d.i. Christian Friedrich Hunold): Auserlesene und noch nie gedruckte Gedichte unterschiedener berhmten und geschickten Mnner. Halle 1718. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Das Ideal des Galanten bei Christian Friedrich Hunold, in: Europische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von August Buck u. a., Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 9), Bd. 2, S. 61 ff. Im Prolog seiner Oper Samson von 1730 läßt Voltaire den Herkules im Hinblick auf sein seit der frühchristlichen Literatur (vgl. u. a. Augustinus, De civitate dei 18,19) feststehendes biblisches Pendant Samson versichern, der Held könne auch in den Armen der Wollust die „Vertu“ anbeten.

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Jacob Dobbermann: Omphale auf dem Schoß des Herkules, 18. Jh., Kassel, Schloss Wilhelmshöhe

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Die pädagogische Verwendung der Prodikos-Fabel im neuzeitlichen Erziehungswesen. Ihre bildlichen, dramatischen und musikalischen Repräsentationen In der lateinisch geprägten Kultur der frühen Neuzeit war die stoische Formierung der Fabel des Prodikos von ,Herkules am Scheidewege‘durch Ciceros Schrift De officiis sanktioniert. Schon die Kirchenväter zogen sie intensiv heran, und seit Petrarca und vollends seit dem Jahr 1465, in dem sie als eines der ersten Literaturwerke im neuerfundenen Druck erschien, entfaltete sie eine immense Wirkung. Über alles im engeren Sinn Moralische und Moralphilosophische hinaus hatte Cicero der stoischen virtus durch die immer wieder hervorgehobene Verpflichtung auf das Gemeinwesen eine staatsmännische Würde verliehen. Den historischen Hintergrund bildete die Verrohung und das hemmungslose persönliche Machtstreben der führenden Politiker in der Spätzeit der römischen Republik: Insofern handelt es sich um eine beschwörende Mahnschrift. In diesem Kontext empfiehlt Cicero auch die stoische „temperantia“ und die „völlige Beherrschung der Leidenschaften“ („omnisque sedatio perturbationum“, I 93), um dann, mit ausdrücklicher Berufung auf Xenophons Darstellung, die Fabel des Prodikos von Herkules am Scheidewege zu skizzieren (I 118).70 Der Bezug zur „honestas“ – schon in Xenophons Erzählung der ProdikosFabel ist die til¶ wesentlich71 – und zum „ornatus vitae“ machte das stoische Ethos für die Neuzeit gewissermaßen hoffähig, die ebenfalls schon in Xenophons Erzählung der Fabel wichtige Verpflichtung auf das Gemeinwesen rückte es in die Sphäre übergeordneter staatlicher Verantwortlichkeit, und da ohnehin Herakles seit der Antike sowohl als stoischer Tugendheld wie als Identifikationsfigur der Kaiser72 approbiert war, ließ sich in dieser Verbindung auch die Fabel des Prodikos für Fürsten, Könige und Kaiser modellhaft verwenden, nicht zuletzt als Fürstenspiegel für die Erziehung künftiger Herrscher. Immer ist es der jugendliche Herkules („cum primum pubesceret“, schreibt Cicero), der in den künstlerischen Darstellungen der Szene „am Scheidewege“ seinen künftigen Lebensweg zu wählen hat. Er muß sich entscheiden 70 Zur politisch-historischen Intention vgl. Willibald Heilmann: Ethische Reflexion und rçmische Lebenswirklichkeit in Ciceros Schrift ,De officiis‘. Ein literatursoziologischer Versuch (Palingenesia 17). Wiesbaden 1982. 71 Vgl. Anm. 37. 72 Vgl. Anm. 10 und Anm. 22.

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zwischen „Genuß“ und „Tugend“ – Cicero nimmt die Begriffe „Voluptas“ und „Virtus“. Xenophon bevorzugte in seiner Erzählung der Prodikos-Fabel die Opposition jaj¸a – !qet¶, aber schon aus seiner Darstellung ergibt sich, daß jaj¸a, die „Schlechtigkeit“, die er aus Hesiods Erzählung von den zwei Wegen übernimmt (Hesiod spricht von jajºtgr) und von der es ausdrücklich heißt, sie werde nur von ihren Feinden so genannt, mit der Bdom¶ gleichzusetzen ist.73 Cicero setzt Bdom¶ explizit in terminologischer Absicht mit voluptas gleich.74 Schon Xenophon hätte die Prodikosfabel nicht gegen Aristipps Genußphilosophie ausspielen können, wenn es nicht wesentlich um den Genuß, um Bdom¶ (voluptas) gegangen wäre. Die immense neuzeitliche Rezeption der Prodikos-Fabel läßt ein ganzes Spektrum von Bedeutungsnuancen insbesondere des virtus-Begriffs erkennen, je nachdem ob ein mehr von der christlichen Tradition, vom Renaissance-Humanismus, von höfisch-gesellschaftlichen oder schließlich von den aufklärerisch-pädagogischen Interessen des 18. Jahrhunderts bestimmter Autor, Maler oder Komponist Herkules als „Exemplar Virtutis“ interpretierte. Oft genug auch kommen die verschiedenen Aspekte miteinander ins Spiel. Eine Schlüsselposition für die neuzeitliche Verbreitung der Prodikos-Fabel erhielt Sebastian Brants Narrenschiff. Brant benutzte in seinem 1494 erschienenen Werk die Version, die der Kirchenvater Basilius der Fabel gegeben hatte.75 Obwohl er sie eher beiläufig einbezieht, erweckte die außerordentliche Popularität seines nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch in den anderen europäischen Sprachen weitverbreiteten Werks die Fabel des Prodikos zu neuem Leben. Nicht zuletzt wirkte die bildliche Darstellung der Szene ,Herkules am Scheidewege‘ fort, die Jacob Locher seiner lateinischen Übersetzung Stultifera navis (Basel 1497) beigab. Der Holzschnitt zeigt im Vordergrund einen schlafenden Ritter, dem im Traum die beiden Frauengestalten Virtus und Voluptas erscheinen. Daß er zwischen beiden zu wählen hat, macht der sich in der Form des Y gabelnde Weg sinnfällig. Daß er träumt, scheint nicht auf eine bewußte Entscheidung und auf eine willentliche Wahl zu deuten. Der Weg, der 73 Alpers (Anm. 9) belegt, daß auch im Griechischen jaj¸a gegen Bdom¶ ausgewechselt und somit die scharfe moralische Abwertung vermieden wurde (S. 34 – 36). 74 Vgl. Anm. 96. 75 Abdruck der Darstellung des Basilius, dessen Version schon Alpers (S. 44,S. 58) mit derjenigen Xenophons korreliert hatte, bei Panofsky, S. 53.

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zur kokett sich entblößenden Voluptas führt, ist glatt, derjenige zu der bis über den Kopf verhüllten und mit Attributen des Spinnens und Webens versehenen76 Virtus mit Steinen übersät. Hinter der von Rosen umgebenen Voluptas gestikuliert ein Knochengerippe und über ihrem Haupt entlädt sich ein Unwetter; Virtus steht in einem Dornengestrüpp, doch über ihr öffnet sich der Sternenhimmel – eine Versinnbildlichung der Devise „per aspera ad astra“. Sie wurde immer wieder auf die von Mühen und Arbeit bestimmte Lebensbahn des Herakles zum ewigen Ruhm gedeutet, umso mehr als Herakles selbst auch ein Sternbild ist. Den ausdrücklichen Bezug zu der seit der Prodikos-Fabel vorgegebenen Wahl des Herakles am Scheidewege stellt der unter dem Bild plazierte erläuternde Text her. Locher erweiterte seine lateinische Version, indem er das Streitgespräch zwischen Tugend und Laster, die Concertatio Virtutis cum Voluptate, mit Partien aus einer entsprechenden Darstellung des Silius Italicus (2. Jh. n. Chr.) 77 in dessen Epos Punica anreicherte78, das in der Re76 In der rechten Hand hält Virtus einen Spinnrocken, auf der anderen Seite sieht man zu ihren Füßen einen Behälter mit Spindeln. Zum Weben und Spinnen als Inbegriff tugendhafter Vita activa vgl. Dieter Wuttke: Die „Histori Herculis“ des Nrnberger Humanisten, Freundes der Gebrder Vischer, Pangratz Bernhaubt geb. Schwenter. Köln/Graz 1964 (Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 7): Die nach dem Vorbild von Sebastian Brant und Locher entworfene Histori Herculis zeigt die Virtus nicht nur in einem Holzschnitt beim Spinnen (Wuttke, Abb. 7), sondern inszeniert sie auch entsprechend in dem bei Wuttke abgedruckten Text: „unter der / gurtel ein rocken tragende, die fedem da von ausz / zuspinnen, das sie icht mussig erfunden wurde“ (S. 11). 77 Hierzu Vittorio d’Agostino: La favola del bivio in Senofonte, in Luciano e in Silio Italico, in: Rivista di Studi Classici 2, 1954, S. 173 – 184. Zur weiterreichenden Antithese von Epikureismus und Stoizismus vgl. schon O. Occioni: Caio Silio Italico e il suo poema, Florenz 1871, S. 79: „Richiama a mio vedere la lotta delle due scuole de filosofia principali di Roma, l’epicurea e la stoica, e la preeminenza di questa, alla quale apparteneva il poeta“. Zur speziell stoischen Prägung bei Silius Italicus: Edward L. Bassett: Hercules and the Hero of the Punica, in: The Classical Tradition. Literary and Historical Studies in Honor of Harry Caplan, ed. by Luitpold Wallach, Cornell University Press, Ithaca, New York 1966, S. 258 – 273. Vgl. auch: Michael von Albrecht: Silius Italicus: Freiheit und Gebundenheit rçmischer Epik, Amsterdam 1964. 78 Vergleichender Abdruck der Textpartien aus den Punica des Silius Italicus, auf die bereits Alpers hingewiesen hatte (Punica XV, V. 18 ff.), und Jacob Lochers ,Concertatio‘ bei Panofsky, S. 70 – 75. Silius Italicus, der die Prodikos-Fabel umkodierte, indem er an die Stelle des Herkules den in Rom als Muster aller Tugenden geltenden Scipio Africanus setzte (Alpers S. 34), wirkte in Lochers Holzschnitt insofern nach, als hier im Vordergrund sich ein träumender Held

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Jacob Locher, Stultifera navis, Basel 1497: Herakles am Scheideweg

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naissance bekannt und beliebt war, wie die zahlreichen Ausgaben bezeugen. Vollends ein neues, eigenes Gewicht gewann die Fabel des Prodikos, als sie zu einem weit verbreiteten dramatischen Spiel ausgestaltet wurde. Nach mehreren Vorgängern brachte Sebastian Brant selbst ein derartiges Spiel 1512 in Straßburg zur Aufführung. Die in der Antike vielleicht nicht fehlende, mindestens literarisch nahegelegte bildliche Darstellung79 der Szene ,Herkules am Scheidewege‘ sowie die befindet – eine Anspielung auf den träumenden Scipio in Ciceros Somnium Scipionis. Dieser Traum des Scipio steht in Ciceros Schrift De republica; sie wurde zwar erst im 19. Jahrhundert auf einem Palimpsest der Vatikanischen Bibliothek wieder entdeckt, aber das Somnium Scipionis war durch eine separate Überlieferung des spätantiken Autors Macrobius seit der Antike bekannt und berühmt. Wuttke (wie Anm. 76) weist S. 121 und S. 124 auf Enea Silvio Piccolomini, Filarete und Filelfo hin, die um die Mitte des Quattrocento die Fabel des Prodikos aufgreifen und dabei vom „schlafenden“ oder träumenden Herkules sprechen. Vgl. Panofsky, Hercules (wie Anm. 16), S. 189. Panofsky führt aus (S. 76), daß die Übertragung der Prodikos-Fabel von Herkules auf Scipio, die sich auch bei den Kirchenvätern verfolgen läßt, noch Raffaels Bild ,Traum des Ritters‘ zugrundeliegt, das deshalb ,Die Entscheidung des jungen Scipio Africanus‘ heißen sollte. Der Traum des Scipio ist bei Cicero ganz von einer Aufforderung zu staatsmännischer Virtus eingerahmt: um „das Gemeinwohl“, das „salus civitatis“ wahrzunehmen und „um das Staatswesen zu schützen“, „ad tuendam rem publicam“ (rep. VI, 12 u. 13) – „sunt autem optimae curae de salute patriae“ (VI, 29) – soll Scipio sich nicht „den körperlichen Genüssen“, den „libidinösen Genüssen“, den „corporis voluptatibus“ und den „libidinum voluptatibus“ hingeben (VI, 29), heißt es abschließend. Wie in der HeraklesFabel des Prodikos also handelt es sich um die Wahl zwischen einer hier ganz ins Staatsmännisch-Militärische gehenden Virtus und andererseits einer von dieser übergeordneten Verantwortung ablenkenden Voluptas. Vgl. die wichtige Studie von Andrew Runni Anderson: Heracles and his Successors; a study of a heroic ideal and the recurrence of the heroic type, in: Harvard Studies in Classical Philology 39, 1928, S. 7 – 58, zu Scipio besonders S. 31 – 37. 79 Vgl. Gruppe (wie Anm. 1), Sp. 1008/1009. Frank Brommer: Herakles II (wie Anm. 2) nennt unter den Szenen, die wir „nicht bildlich dargestellt kennen“, diejenige am Scheidewege (S. IX). Nahegelegt für einen hochgelehrten Humanisten wie Jacob Locher war die bildliche Darstellung durch de fin. II 69, wo Cicero den Stoiker Kleanthes das warnende Negativ-Bild einer herrscherlichen, prächtig gekleideten Voluptas entwerfen läßt, die von den Virtutes wie von Mägden bedient wird. Ausdrücklich wird dabei der Bildcharakter dieser Vorstellung hervorgehoben – geradezu von einer „tabula“ ist die Rede, die Kleanthes in Worten „male“: „Du wirst vor jenem Bild Scham empfinden, das Kleanthes sicherlich eingängig mit Worten zu malen pflegte. Er hieß seine Hörer bei sich selbst die auf dem Bild gemalte Voluptas zu bedenken, wie sie schönstens gekleidet und königlich geschmückt thront, während die Tugenden wie Mägde dabeistehn“ – „pudebit te illius tabulae, quam Cleanthes sane

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nun erstmalige Inszenierung als dramatisches Spiel wirkte durch Jahrhunderte in zahlreichen Bildern, in allegorischen Bühnenspielen und in opernhaften Versionen fort. Besonders erwähnenswert ist, daß Hans Sachs wohl zum ersten Mal in Deutschland auf Xenophon zurückgreift: in seinem 1556 erschienenen Kampf-gesprech Xenophontis, des philosophi, mit fraw Tugendt und fraw Untugendt, welliche die ehrlicher sey. 80 Zu den frühen Gestaltungen zählen diejenigen Dürers (1498), Lucas Cranachs (nach 1537) und Carraccis (nach 1590), es folgen Rubens, Poussin und viele andere, bis sich das 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung des erzieherisch geeigneten Themas intensiv bemächtigte. Shaftesbury legte in seinen europaweit verbreiteten Characteristics of Men Manners, Opinions, Times (erstmals London 1711) bezeichnenderweise einen Schwerpunkt auf bildliche und szenische Präsentationen.81 In Deutschland entstanden die ersten Vertonungen, darunter eine erstmals 1733 aufgeführte Kantate von Johann Sebastian Bach nach einem Libretto von Picander, Händel bot eine oratorienhafte Version The Choice of Hercules in London (Erstaufführung 1751). In der Tradition des Fürstenspiegels schrieb Wieland, der als Erzieher des 17jährigen späteren Herzogs Karl August nach Weimar berufen worden war, sein Stück Die Wahl des Herkules, das dann alsbald als Singspiel in Weimar aufgeführt wurde. Nach einigen Opern, die vorzugsweise das Libretto Alcide al bivio von Metastasio zugrundelegten, verebbte das Thema mit einigen Nachzüglern im 19. Jahrhundert.82 Seit dem 18. Jahrhundert nehmen commode verbis depingere solebat. Iubebat eos, qui audiebant, secum ipsos cogitare pictam in tabula Voluptatem, pulcherrimo vestitu et ornatu regali in solio sedentem; praesto esse Virtutes ut ancillas […]“. Augustinus nimmt in De civitate dei (V 20) diese Darstellung Ciceros ausführlich auf. Die bildhafte Entgegensetzung von Virtus und Voluptas bestimmt auch die – noch von Goethe mehrfach genannte – Tabula Cebetis, die als allegorischer Bild-Typus wie als Bildbeschreibung eine lange Wirkungsgeschichte hat und immer wieder Herkules und sogar die Szene ,Herkules am Scheidewege‘ miteinbezieht. Vgl. Reinhart Schleier: Tabula Cebetis oder „Spiegel des menschlichen Lebens / darin Tugent und untugent abgemalet ist“. Studien zur Rezeption einer antiken Bildbeschreibung im 16. und 17. Jahrhundert. Berlin 1977. 80 Zahlreiche weitere Dramatisierungen der Prodikos-Fabel nennt Wuttke (wie Anm. 76), S. 202 – 219. 81 Shaftesburys A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgement of Hercules wurde erstmals auf Französisch im Journal des Scavans 52 (Nov. 1712) und auf Englisch [London] 1713 veröffentlicht. Über Jahrzehnte hinweg erschienen zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen. 82 Vgl. hierzu die Angaben in: The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts, 1300 – 1990 s, ed. Jane Davidson Reid with the assistance of Chris Rohmann,

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auch enzyklopädisch inspirierte Sammelwerke mit historisierenden Zusammenstellungen von Herkules-Bildern aus allen Bereichen des Mythos83, insbesondere zur Fabel des Prodikos84 zu. Oft gewinnen die künstlerischen Darstellungen der Herkules-Gestalt wie auch speziell der durch die Fabel des Prodikos gegebenen Konstellation von Virtus und Voluptas einen durchaus ambivalenten Reiz. Er leitet sich von dem in der Renaissance erstmals seit der Antike wieder entdeckten und kultivierten Eigenwert der menschlichen Leiblichkeit her. Spätestens mit der Auffindung des Herkules Farnese, der nach seiner Aufstellung im öffentlich zugänglichen Belvedere Sensation machte, traf dies für die Gestalt des Herkules selbst zu, und nicht selten benutzten die Maler die von der Fabel des Prodikos moralisch legitimierte Konstellation, um die Figur der Voluptas gebührend ins Licht zu stellen. Während noch auf dem Holzschnitt in Jacob Lochers Stultifera Navis hinter der Voluptas-Figur ein gestikulierender Knochenmann die Hinfälligkeit alles Leiblichen signalisiert, kam schon wenige Jahrzehnte später kein Künstler mehr auf diese Idee, ganz im Gegenteil. Am Anfang des 18. Jahrhunderts, rückblickend auf eine Fülle bildlicher Darstellungen in den vorausgehenden Jahrhunderten, empfahl Shaftesbury, für die Repräsentation der „Virtue“ sollten sich die Künstler an Pallas Athene, für die Figur der „Pleasure“ an Venus orientieren, und er fährt fort: „The Historian whom we follow, represents VIRTUE to us as a Lady of a goodly Form, tall and majestick“. Pleasure, die er keineswegs rigide moralisierend als Laster (Vice) herabsetzt, stellt er sich so vor: „PLEASURE, on the other hand, by an exact Opposition, is represented in better case, and of a Softness of Complexion; which speaks her Manners, and gives her a middle Character between the Person of a VENUS, and that of a BACCHINAL Nymph“.85 Man ermißt an derartigen Ausführungen die hohe Bedeutung, die in der Neuzeit gerade das Medium des Bildes sowohl für die Volume 1, New York/Oxford 1993, Artikel Heracles, sowie Kray/Oettermann (wie Anm. 1). 83 Hercules ethnicorum ex variis antiquitatum reliquiis delineatus. Additis in fine modernis quibusdam eiusdem argumenti picturis, proponente Laurentio Begero. Augustissimi regis Borussiae. MDCCV. Das Werk ist auf Mikrofiches zugänglich (published by the Leopoldo Cicognara Program at the University of Illinois Library in association with the Vatican Library). 84 Carl August Boettiger: Hercules in bivio e Prodici fabula et monumentis priscae artis illustratus, Lipsiae 1829. 85 Zitiert aus der in Anm. 81 angegebenen Schrift nach der 6. Ausgabe der Characteristicks, Vol. 3, 1737, S. 364.

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Verbreitung und Wirkung der Prodikos-Fabel wie für die Wertungsstrategien gewann. Auch die durch mythologisierende und allegorisierende Darstellung erzeugten Stereotypisierungsmöglichkeiten werden erkennbar. In vielfältiger Weise konnte man dabei an die antiken Versionen der Prodikos-Fabel anschließen, denn nicht genug tun können sich schon zahlreiche antike Autoren, sowohl die Gestalt der Virtus wie die der Voluptas samt ihrer Kleidung und sonstigen Ausstattung auszumalen.86 Einen kuriosen Sonderweg gehen manche christliche Autoren: Weil sie die Schönheit dieser Welt um des Jenseits willen abwerten, verleihen sie der Virtus eine unansehnliche Gestalt.87 Aufgrund ihrer einfachen antithetischen Struktur (virtus – voluptas) wie aufgrund der überragenden mythischen Vorbild-Figur war die Fabel des Prodikos vom antiken über den humanistischen Schulbetrieb88 bis hin zu den vielfältigen pädagogischen Engagements des 17. und 18. Jahrhunderts als „Nummer“ idealtypisch geeignet. Überdies begünstigte ihre Affinität zu der seit der frühchristlichen Zeit über das Mittelalter bis in die Neuzeit verbreiteten Vorstellung einer „Psychomachie“ die Einbeziehung in den Moral-Diskurs zwischen „Tugend“ und „Laster“.89 Johann Amos Comenius, ein geistlicher Volkserzieher, Bischof der böhmischen Brüdergemeinde und Leiter ihres Schulwesens, der in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges durch mehrere Länder Europas kam und mit seinen pädagogischen Schriften und Lehrbüchern großen Einfluß auf das europäische Bildungswesen gewann, machte die Fabel des Prodikos zur Schullektüre. Er räumte ihr einen Platz in seinem erstmals 1658 in Nürnberg erschienenen bebilderten Lehrbuch Orbis 86 Belege sammelt Alpers (wie Anm. 9) S. 51 – 56. 87 Alpers, S. 52. In der Histori Herculis (vgl. Anm. 76) präsentiert sich die „tugent“ mit den Worten: „Greuslich bin ich, dapffer, ungestalt, pleich und alt, / Hart, ein feint der posheith, gerecht, schamich“. (S. 14, Z. 9 f.). Entsprechend drastisch stellt der beigegebene Holzschnitt die Figur der Virtus dar (Wuttke, Abb.7). 88 Ein deutsches Beispiel mit sprechendem Titel: Johannes Spangenberg: Xenophontis Hercules carminice redditus. In gratiam puerorum nobilium Buxlebiorum, in: Bellum grammaticale, Wittenberg 1534 und Leipzig 1541. 89 Die in 915 Hexametern verfaßte Psychomachia des Prudentius (geb. 348), des größten christlichen Dichters im lateinischen Altertum, hatte über viele Jahrhunderte eine enorme Wirkung und strahlte in zahlreiche künstlerische Darstellungen aus. Vgl. Adolf Katzenellenbogen: Allegories of the Virtues and Vices in Mediaeval Art from Early Christian Times to the Thirteenth Century. New York 1964; Jacques Houlet: Les Combats des Vertus et des Vices. Les Psychomachies dans l’Art. Paris 1969.

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sensualium pictus ein. Dieses Bilderbuch wurde bis um 1750 ungefähr 150 mal neu aufgelegt. In 24 Sprachen übertragen, war es in ganz Europa das erfolgreichste Lehrbuch der Neuzeit. Noch Goethe und Herder lasen im Kindesalter dieses in Deutschland am weitesten verbreitete Schulbuch. Die illustrierte Entscheidung des Herkules versah Comenius mit dem Kommentar „Ahmt Hercules nach“. Die erzieherische Tendenz, die ganz allgemein von den Anfängen der Stoa bis zum neuzeitlichen Stoizismus konstitutiv ist90, reichte von der Schul- und Universitätssphäre bis in die höfische Sphäre der Fürstenerziehung, in der die Fabel des Prodikos einen eigenen Appellcharakter erhielt. Denn Herkules diente zwar aufgrund seiner überragenden heroischen Kraft, seiner mythischen Größe und nicht zuletzt dank seiner Apotheose der Glorifizierung von Fürsten und Königen, aber der erzieherische Appell an die sittliche „Virtus“ gewann auch eine regulative Funktion insbesondere im Zeitalter des Absolutismus. Er verpflichtete den Herrscher, der sich im Extremfall als „lege solutus“ verstand, doch auf Normen und mahnte angesichts eines oft luxuriösen Hoflebens eine sittliche Haltung an. Ein spätes und aufschlußreiches Zeugnis hierfür ist das Singspiel Die Wahl des Herkules, das Wieland nach seiner Berufung als Prinzenerzieher in Weimar verfaßte.91 Wieland nahm es in die Ausgabe seiner sämtlichen Werke von 1796 mit folgendem Zusatz auf: Ein lyrisches Drama. In Musik gesetzt von Anton Schweitzer und am 17ten Geburtstage des damahligen Herrn Erbprinzen von Sachsen-Weimar und Eisenach auf dem Hoftheater zu Weimar im Jahre 1773 aufgefhrt. 92 In einem langen Auftrittsmonolog des jugendlichen Herkules gestaltete er den Antagonismus von Voluptas und Virtus als Psychomachie: als Seelenzwiespalt des Helden selbst. Damit psychologisierte er das Spiel, so daß der dann folgende Auftritt der beiden allegorischen Kontrahentinnen als projektive Ausfaltung des inneren Vorgangs erscheint. Bis in die Nuancen folgt Wieland Xenophons Darstellung der Prodikos-Fabel. Zwar übernimmt er sowohl die RollenBezeichnungen „Kakia“ und „Arete“ wie auch die von Xenophon 90 Vgl. Georges Pire: Stoicisme et pdagogie. De Znon  Marc-Aurle. De Snque  Montaigne et  J.–J. Rousseau. Liège-Paris 1958. 91 Zu Wielands aufklärerisch-skeptischer Auseinandersetzung mit dem Stoizismus in seinen anderen Texten vgl. den Beitrag von Dieter Martin im vorliegenden Werk. 92 C. M. Wielands Smmtliche Werke. Sechs und zwanzigster Band. Singspiele und Abhandlungen. Leipzig bey Georg Joachim Göschen. 1796. (Neudruck in: C. M. Wieland: Smtliche Werke VIII. Hamburg 1984).

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beigefügten Definitionen der Kakia, aber er relativiert die vom Wortsinn (und letztlich von Hesiods „Kakotes“) her nahegelegte rein pejorative Bedeutung „Schlechtigkeit“, um ein eng ,moralisches‘ Mißverständnis zu vermeiden: Er läßt die „Kakia“ sich selbst als „Freude“ (Bdom¶) und sogar als „Eudämonia“ bezeichnen93, allgemeiner als „Genuß“. Der zentrale Gegensatz ist der zwischen passivem „Genießen“ und aktivem „Tun“94. Und wie schon bei Xenophon und dann bei Cicero soll das Tun, das „Arbeit“ und „Mühen“ mit sich bringt, im Dienste der Menschheit stehen95, von staatsmännischer Verantwortung getragen und auf „Ehre“ angelegt sein – die erzieherische Botschaft an den jungen Weimarer Erbprinzen, den späteren Herzog Karl August, Goethes Freund und Landesherrn, war deutlich genug.

Problematisierungen des strengen Tugendideals in Antike und Renaissance. Die Neuformierung des stoischen Herkules bei Schiller und Hölderlin Im Zusammenhang mit der stoisch-kynischen virtus-Lehre strenger Observanz ergaben sich grundsätzliche Schwierigkeiten für die Darstellung des stoischen Musterhelden. Schon in der Antike galt die radikale Opposition von Tugend und Lust, wie sie in der Prodikos-Fabel zum Ausdruck kommt, als problematisch. In der Florentiner Renaissance mußte sie es umso mehr sein. Denn die Renaissance vertrat keineswegs ein einseitig asketisches Tugendideal. Ihr Ideal war sowohl der ganzheitlich gebildete wie der schon in seiner Natur harmonisch verfaßte Mensch, der sich körperlich wie geistig und sittlich vollendet. Deshalb fand es etwa Cristoforo Landino im Kontext seines an der Gestalt des Herkules exemplifizierten stoischen virtus-Preises doch angezeigt, in seinen Disputationes Camaldulenses die Alternative virtus – voluptas zu entschärfen. Obwohl er den Stoikern grundsätzlich besonderen Respekt zollt, gibt er zu bedenken, daß die Menschen aufgrund

93 S. 165. 94 S. 166 sagt Herkules zu Kakia: „Du sagst mir, Göttin, nur was deine Freunde / G e n i e ß e n; sage mir auch, was sie t h u n“. 95 S. 170: „Sey ein Wohlthäter / Der Menschheit, lebe, schwitze, blute / In ihrem Dienst“.

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ihrer sinnlichen Natur auch auf die Lust (voluptas96) angelegt seien, es komme nur darauf an, diese naturhaft gegebene Disposition durch Mäßigung (temperantia97) und Zügelung (moderatio) zu regulieren. Auf keinen Fall sei der Körper zu vernachlässigen („Quam ob rem nullo pacto negligenda est cura corporis“98), aber – und hier liegt wieder der Gedanke an Herkules nahe – doch eher, um Arbeiten bewältigen zu können („ut … laboribus superesse possit“). Immerhin geht er so weit, dem von den Kirchenvätern und der Orthodoxie bis zum Beginn der Neuzeit verteufelten Epikur99, der mit seinem Bekenntnis zum Lustprinzip eigentlich nur das Wohlbefinden als Freiheit von Schmerz im Sinn hatte, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Epikur erlaubte die sinnlichen Bedürfnisse in bescheidenem Maße zu befriedigen. Diese Ausführungen gipfeln in der Empfehlung der temperantia an Lorenzo di Medici.100 Damit entspricht Landino der von Cicero – seit Petrarca ein Hauptgewährsmann der Humanisten – verfolgten Strategie, die Extreme zu vermeiden: einerseits das hart-asketische virtus-Ideal einiger Hauptvertreter der alten Stoa und insbesondere der Kyniker, andererseits die gänzliche Orientierung auf voluptas. Vor allem in der Schrift 96 Ciceros Definition lautet: „Kein Wort kann gefunden werden, das auf Latein mehr dasselbe besagt wie auf Griechisch [Bdom¶], als voluptas. Dieses Wort gilt insgesamt für zwei Bereiche: für das seelische Wohlgefühl und die süße Empfindung körperlichen Genusses“ – „Nullum inveniri verbum potest, quod magis idem declaret Latine, quod Graece [Bdom¶], quam declarat „voluptas“. Huic verbo omnes duas res subiciunt, laetitiam in animo, commotionem suavem iucunditatis in corpore“ (De finibus bonorum et malorum II 13). Zur Spannung zwischen virtus und voluptas fin. II 37: „Die Genüsse, die überaus verführerisch ihre Macht ausüben, entfremden zum größeren Teil die Geister der virtus“ –„voluptates, blandissimae dominae, maioris partis animos a virtute detorquent“. 97 Ciceros Definition: „Diese (die Mäßigung) ist eine der ratio gehorchende Bezähmung der Begierden“ – „quae (temperantia) est moderatio cupiditatum rationi oboediens“ (fin. II 60). Die temperantia ist wie andere Tugendhaltungen naturgegeben: „[…] nobis cum a natura constantiae, moderationis, temperantiae, verecundiae partes datae sint“ (De officiis I 98). 98 Disputationes Camaldulenses, S. 242. 99 Hierzu die ausgezeichnete Darstellung von Wolfgang Schmid, Artikel Epikur, in: Reallexikon fr Antike und Christentum, Bd. 5, Sp. 681 – 819. Vgl. auch meinen Aufsatz: Fr und wider die Lust: Epikur und Antiepikureismus von der Antike bis zur Moderne. Mit einem Versuch ber Hieronymus Boschs Garten der Lste. In: Aufklrung und Gegenaufklrung in der europischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Jochen Schmidt, Darmstadt 1989, S. 206 – 219. 100 S. 242.

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De finibus bonorum et malorum hatte Cicero die einseitigen Extrempositionen gegeneinander ausgespielt, um nach peripatetischer Methode eine mittlere Position zu bevorzugen.101 Dabei hatte er auch auf ein Grundproblem der älteren Stoa hingewiesen: Wenn nach stoischer Lehre die Allnatur das Dasein bestimmt und „naturgemäß leben“ die wichtigste Lebensregel ist, warum soll man dann die doch ebenfalls naturgegebenen Affekte so rigoros im Namen der virtus bekämpfen und die voluptas als das naturgegebene sinnliche Bedürfnis negieren? Die strikt auf eine Alternative angelegte Entscheidung des Herakles am Scheidewege hätte im Hinblick auf eine derartige Widersprüchlichkeit102 des altstoischen Systems den Anspruch als vorbildhafte Konstellation kaum behaupten können. Nur zu bestimmten Zwecken und in besonderen Zusammenhängen – das zeigt Ciceros positiv gemeinte Berufung auf die Fabel des Prodikos in der Schrift De officiis – konnte sie eine modellhafte Funktion erhalten: in der Jugenderziehung und im Bereich der Pflichten und der Verantwortung für das Gemeinwesen. Eine neue Qualität kommt der Paradigmatisierung der HerkulesFigur bei Schiller und in Hölderlins frühen Hymnen aus dem Horizont idealistischen Denkens zu. Sie betrifft auch die stoische Konstellation von virtus und voluptas. War Herakles schon bei Pindar aufgrund der für die Menschheit vollbrachten Taten als durch seine !qet¶ ausgezeichneter Heros103 und dann in der Stoa als Tugend-Held idealisiert worden, so rückt er nun in eine weitergehende idealistisch-geschichtsphilosophische Perspektive. Sie ist von einem emphatischen Vollkommenheitsdenken bestimmt. Die alte Vorstellung von der Apotheose, die dem Herakles als Lohn für seine übermenschlichen 101 Entsprechend besagt die Kritik Ciceros, die stoische Ethik beziehe das höchste Gut, das summum bonum „nicht auf den Menschen in seiner Ganzheit, sondern auf einen Teil des Menschen“ – „non in toto homine, sed in parte hominis“ (fin. IV 33). 102 Cicero pointiert die Widersprüchlichkeit der strengen stoischen virtus-Lehre, indem er sagt, daß ihr zufolge „leben in Übereinstimmung mit der Natur“ heiße, „sich entfernen von der Natur“: „Ergo id est convenienter naturae vivere, a natura discedere“ (fin. IV 41). Mit seiner Kritik an den Stoikern zielt Cicero auf Synthese: „Statt einer Einheit lassen sie uns zweierlei zur Wahl, damit wir das eine ergreifen, das andere vermeiden, während sie doch eher beides auf ein Ziel hin zusammenfügen sollten“ – „duo nobis opera pro uno relinquunt, ut alia sumamus, alia expetamus, potius quam uno fine utrumque concluderent“ (fin. IV 39). 103 Pindar, Erste Nemeische Ode, V. 33 – 74.

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Taten zuteil wird104, wandelt sich zum Inbegriff einer aufgrund menschlich-autonomer Leistung errungenen Selbststeigerung zum Höchsten. Bei Schiller allerdings kommt im Aufstieg des Herakles zur Unsterblichkeit eine eigentümliche Ambivalenz zum Vorschein. Denn in der Apotheose wird er zwar zum „Gott“, aber die Vollkommenheit erreicht er weniger aufgrund seiner irdischen Lebensleistung als dadurch, daß er sich von allem Irdischen entfernt. Schiller ordnet die Apotheose des Herakles ganz in die Antinomie von Realität und Idealität ein, um die Überwindung alles realen „Lebens“ als ideales Ziel zu bestimmen. In seinem großen Gedicht Das Ideal und das Leben, das in zwei Herakles-Strophen gipfelt und endet, ist die Erhebung des Herkules zum Olymp, seine Apotheose, nicht die Krönung seines Lebens, sondern die endgültige Ablösung vom Leben. Das Gedicht definiert die virtus nicht als vorbildliche Lebensbewältigung, vielmehr dient sie dazu, dieses von Kampf und Arbeit beschwerte und sogar vielfältig erniedrigte Dasein hinter sich zu lassen. Durch den Strophensprung bringt Schiller auch formal den Hiat zwischen den beiden getrennten Bereichen zum Ausdruck105 : Tief erniedrigt zu des Feigen Knechte Ging in ewigem Gefechte Einst Alcid des Lebens schwere Bahn, Rang mit Hydern und umarmt’ den Leuen, Stürzte sich, die Freunde zu befreien, Lebend in des Totenschiffers Kahn. Alle Plagen, alle Erdenlasten Wälzt der unversöhnten Göttin List Auf die will’gen Schultern des Verhaßten, Bis sein Lauf geendigt ist – Bis der Gott, des Irdischen entkleidet, Flammend sich vom Menschen scheidet Und des Äthers leichte Lüfte trinkt. Froh des neuen ungewohnten Schwebens, Fließt er aufwärts und des Erdenlebens Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt. Des Olimpus Harmonien empfangen Den Verklärten in Chronions Saal, 104 Pindar, Erste Nemeische Ode, V. 69 – 74. Das früheste Zeugnis bei Homer, Odyssee, 11. Gesang, V. 602 – 604. 105 Das Ideal und das Leben, in: Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u. a., Bd. 1: Gedichte, hg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt 1992, S. 156 (V. 131 – 150).

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Und die Göttin mit den Rosenwangen Reicht ihm lächelnd den Pokal.

Die in der Aufklärung ausgebildete und von Kant zum philosophischen Postulat erhobene Vorstellung der Autonomie verbindet sich für den noch ein Stück weit in Schillers Spuren gehenden jungen Hölderlin mit einem entschiedenen, von Seneca schon vorgegebenen Voluntarismus106 und einem aus der Willenskraft hervorgehenden Tatstreben.107 Hier bot sich die Gestalt des Herkules an, der sich wie kein anderer mythischer Heros durch seine Taten ausgezeichnet hatte. Hölderlins frühe Hymnen beziehen ihn immer wieder ein, seine Hymne an die Menschheit preist die dem Herakles zuteilgewordene „Hesperidenwonne“ (V. 4) ineins mit dem so deutlich an Schiller erinnernden „Elysium“ (V. 12), sie betont den Autonomie-Gedanken: „das Götterglück, sich eig’ner Kraft zu freu’n“ (V. 66), und beschwört den stoischen „Gott in uns“, den „deus internus“, mit den Worten „Zum Herrscher ist der Gott in uns geweih’t“ (V. 80), um mit dem Vers zu schließen: „Und zur Vollendung geht die Menschheit ein“ (V. 88). Herkules als Vorbild männlicher Selbstverwirklichung zwischen Jugend- und ErwachsenenAlter, wie es die Prodikos-Fabel entworfen hatte, bestimmt die Hymnen An Herkules und Dem Genius der Khnheit. Beide sind ganz von Schillers heroisch-idealistischer Willensspannung und von Tatbereitschaft erfüllt. Wesentliche Elemente der römisch-heroischen Formierung stoischer Lebenshaltung gehen schließlich in die Hymne Das Schicksal ein, zugleich aber hebt Hölderlin den aus der starren Opposition von virtus und voluptas resultierenden moralischen Rigorismus auf. Am Leitfaden stoischer Grundbegriffe entwirft er zuerst die Menschheitsgeschichte, er 106 Seneca betont die Willensleistung besonders in seiner Schrift De beneficiis (I 5.6; II 35; VII 15; IV 21) und in den Briefen an Lucilius (Epist. 16,1: „Dem beharrlichen Fleiß ist die Stärke hinzuzufügen, damit zu einer guten Geisteshaltung wird, was guter Wille ist“ – „adsiduo studio robur addendum, donec bona mens sit, quod bona voluntas est“; 34,3; 71,36; 80,4: „Was mußt du tun, um gut zu sein? Wollen!“ – „Quid tibi opus est, ut bonus sis? velle“; 116,8). Bona voluntas und virtus gehören zusammen: De beneficiis IV 21; V 3,2 (vgl. Epist. 92,3).Vgl. André-J. Voelke: L’ide de volont dans le stocisme. Paris 1973. Vgl. auch Albrecht Dihle: Die Vorstellung vom Willen in der Antike. Göttingen 1985 (Sammlung Vandenhoeck). 107 Seneca: Epist. 95, 57: „Rechtes Tun kommt nicht zustande, wenn kein rechter Wille da war, denn von diesem kommt das Tun“ – „Actio recta non erit, nisi recta fuerit voluntas, ab hac enim est actio“.

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versinnbildlicht sie durch mythische Paradigmata, allen voran Herkules, und wendet in den letzten drei Strophen die über der Menschheitsgeschichte waltende Gesetzlichkeit auf die eigene Lebensgeschichte an. Diese alles bestimmende Gesetzlichkeit ist das im Titel stehende „Schicksal“, die im Motto exponierte griechische Heimarmene, das römische Fatum, das dann seine härteste Ausformung als Ananke findet. In einer ganzen Reihe von Strophen ist die Ananke leitmotivisch als „Not“ herausgehoben. Schließlich steigert sie sich zur „ehernen Notwendigkeit“ (V. 64). An ihr hat sich die stoische Virtus zu bewähren – „probatio“ gehört ebenfalls zu den stoischen Kennworten – und Hölderlin exemplifiziert diese stoische Virtus alsbald an Herkules, der sich „zu seiner Tugend schwerem Siege“ (V. 11) durchkämpfte und von Beginn an „der Tugend Löwenkraft“ (V. 14) bewies. Er ist das Vorbild des in den letzten Strophen mit seinem lebensgeschichtlichen Entwurf hervortretenden Ichs, das sich selbst unter den Imperativ stellt: „Der Tugend Siegeslust verjünge / Bei kargem Glücke mir die Brust!“ (V. 79 f.).

Das Schicksal Pqosjumoumter tgm eilaqlemgm, sovoi

Aeschylus Als von des Friedens heil’gen Talen, Wo sich die Liebe Kränze wand, Hinüber zu den Göttermahlen Des goldnen Alters Zauber schwand, 5 Als nun des Schicksals eh’rne Rechte, Die große Meisterin, die Not, Dem übermächtigen Geschlechte Den langen, bittern Kampf gebot; Da sprang er aus der Mutter Wiege, 10 Da fand er sie, die schöne Spur Zu seiner Tugend schwerem Siege, Der Sohn der heiligen Natur; Der hohen Geister höchste Gabe, Der Tugend Löwenkraft begann 15 Im Siege, den ein Götterknabe Den Ungeheuern abgewann. Es kann die Lust der goldnen Ernte Im Sonnenbrande nur gedeih’n; Und nur in seinem Blute lernte

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20 Der Kämpfer, frei und stolz zu sein; Triumph! die Paradiese schwanden, Wie Flammen aus der Wolke Schoß, Wie Sonnen aus dem Chaos, wanden Aus Stürmen sich Heroën los. 25 Der Not ist jede Lust entsprossen, Und unter Schmerzen nur gedeiht Das Liebste, was mein Herz genossen, Der holde Reiz der Menschlichkeit; So stieg, in tiefer Flut erzogen, 30 Wohin kein sterblich Auge sah, Stillächelnd aus den schwarzen Wogen In stolzer Blüte Cypria. Durch Not vereiniget, beschwuren Vom Jugendtraume süß berauscht 35 Den Todesbund die Dioskuren, Und Schwert und Lanze ward getauscht; In ihres Herzens Jubel eilten Sie, wie ein Adlerpaar, zum Streit, Wie Löwen ihre Beute, teilten 40 Die Liebenden Unsterblichkeit. – Die Klagen lehrt die Not verachten, Beschämt und ruhmlos läßt sie nicht Die Kraft der Jünglinge verschmachten, Gibt Mut der Brust, dem Geiste Licht; 45 Der Greise Faust verjüngt sie wieder; Sie kömmt, wie Gottes Blitz, heran, Und trümmert Felsenberge nieder, Und wallt auf Riesen ihre Bahn. Mit ihrem heil’gen Wetterschlage, 50 Mit Unerbittlichkeit vollbringt Die Not an Einem großen Tage, Was kaum Jahrhunderten gelingt; Und wenn in ihren Ungewittern Selbst ein Elysium vergeht, 55 Und Welten ihrem Donner zittern – Was groß und göttlich ist, besteht. – O du, Gespielin der Kolossen, O weise, zürnende Natur, Was je ein Riesenherz beschlossen, 60 Es keimt’ in deiner Schule nur. Wohl ist Arkadien entflohen; Des Lebens beßre Frucht gedeiht

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Durch sie, die Mutter der Heroën, Die eherne Notwendigkeit. – 65 Für meines Lebens goldnen Morgen Sei Dank, o Pepromene, dir! Ein Saitenspiel und süße Sorgen Und Träum’ und Tränen gabst du mir; Die Flammen und die Stürme schonten 70 Mein jugendlich Elysium, Und Ruh’ und stille Liebe thronten In meines Herzens Heiligtum. Es reife von des Mittags Flamme, Es reife nun vom Kampf und Schmerz 75 Die Blüt’ am grenzenlosen Stamme, Wie Sprosse Gottes, dieses Herz! Beflügelt von dem Sturm, erschwinge Mein Geist des Lebens höchste Lust, Der Tugend Siegeslust verjünge 80 Bei kargem Glücke mir die Brust! Im heiligsten der Stürme falle Zusammen meine Kerkerwand, Und herrlicher und freier walle Mein Geist in’s unbekannte Land! 85 Hier blutet oft der Adler Schwinge; Auch drüben warte Kampf und Schmerz! Bis an der Sonnen letzte ringe, Genährt vom Siege, dieses Herz.108

Die der Virtus zu verdankende heroische probatio gegenüber dem Schicksal hat eine entschieden kämpferische Note – durchgehend ist von „Kampf“ und „Sieg“ die Rede. Diese für die gesamte Hymne maßgebende kämpferische Akzentuierung der stoischen Bewährung stammt von Seneca, der für den Traditionsprozeß noch im 18. Jahrhundert entscheidend war. In seiner Schrift ber die Vorsehung (De providentia) und in den Briefen an Lucilius entwickelt Seneca die für die Hymne wichtigen Grundgedanken: daß das Schicksal uns in einen Erziehungsprozeß der Übung, Bewährung und Abhärtung stellt (De providentia I 6), denn die virtus erschlafft ohne Erprobung im Kampf mit dem Geschick (De providentia II 4 – V. 42 ff. der Hymne). Nur in Not und Gefahr kann sich Tugend bewähren – „calamitas virtutis occasio 108 Friedrich Hölderlin: Smtliche Werke und Briefe in drei Bnden, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt 1992 – 1994. Bd. 1: Smtliche Gedichte, S. 157 – 160.

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est“ („die Not bietet die Gelegenheit, Tugend zu beweisen“), heißt es in De providentia IV 6. Großes Glück (fortuna) ist eher problematisch, weil es dann nicht möglich ist, in irgendeiner Not den Preis der Tugend, der virtus, zu erkämpfen (De providentia IV 8). „Der Tugend Siegeslust verjünge / Bei kargem Glücke mir die Brust!“, lautet das Echo in Hölderlins Schicksalshymne (V. 79 f.). Immer wieder spricht Seneca vom notwendigen Kampf, ja vom Kampfspiel und geradezu vom gladiatorischen Kampf, zu dem uns das – mit der Natur gleichgesetzte – Schicksal herausfordert (z. B. De providentia III 4; IV 8). Dem entspricht in Hölderlins Hymne die Wendung „Und nur in seinem Blute lernte / Der Kämpfer, frei und stolz zu sein“ (V. 19 f.) und die heroische Übersteigerung ins Unendliche: „Auch drüben warte Kampf und Schmerz!“ (V. 86). Sogar die Vorstellung des von der Natur – dem Schicksal – weise eingerichteten Kampfspiels nimmt Hölderlin auf: „O du, Gespielin der Kolossen, / O weise, zürnende Natur […]“ (V. 57 f.). Mit der Bereitschaft zum Tode, die zum Grundbestand stoischen Denkens gehört, schließt die Hymne, und Hölderlin verbindet mit dieser Bereitschaft die von Platon übernommene Vorstellung der Stoiker, insbesondere Senecas, daß der Tod die Freiheit bringe, weil der Leib der „Kerker“ der Seele sei.109 Die Schlußstrophe beginnt mit den Versen: „Im heiligsten der Stürme falle / Zusammen meine Kerkerwand, / Und herrlicher und freier walle / Mein Geist in’s unbekannte Land!“ (V.81 – 84). Diese idealistisch gesteigerte Autonomie-Proklamation folgt auf die schon vorher sentenzhaft formulierte stoische Gewißheit: „Was groß und göttlich ist, besteht“ (V. 56). Nach stoischer Lehre hat nur das Innere Bestand – im Innern liegt alles Große und „Göttliche“. So läßt Seneca in seiner Schrift ber die Vorsehung Gott sagen (VI 5): „Euch habe ich gegeben verläßliche Güter, bleibende […] Ins Innere habe ich allen Wert gelegt“ („Vobis dedi bona certa, mansura […] Intus omne posui bonum“), und in der Abhandlung ber die Standhaftigkeit des Weisen (De constantia sapientis, VI 8) konstatiert er: „Das, was den Weisen schützt, ist vor Feuer und Ansturm sicher“. Daß Herakles in einem so systematisch aus stoischem Denken konzipierten Text als Exemplar Virtutis erscheint, daß der junge Dichter ihn an einer Lebensschwelle zum Vorbild wählt, das der emphatischen Selbstermutigung dient, entspricht der kulturell allgemein etablierten und in der Fabel des Prodikos speziell lebensgeschichtlich – für den Übergang zum Mannesalter – formierten Funktion des Herakles. Doch 109 Phaidon 62 b, Kratylos 400 c; Briefe an Lucilius 70, 12.

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bei aller Präzision und Gründlichkeit, mit der Hölderlin das stoische Repertoire heranzog, modernisierte er sowohl die Figur des Herakles wie die poetische Aussage insgesamt gegenüber der tradierten stoischen Lehre auf bezeichnende Weise. Und dies nicht nur, indem er das idealistische Autonomie-Konzept so entschieden zur Geltung brachte. Er übernahm auch Schillers geschichtsphilosophisches DreistufenSchema, das auf einen ursprungshaften, arkadischen Naturzustand ein von Not und Kampf bestimmtes Stadium – das der geschichtlichen Realität – und schließlich, als drittes Stadium, den nur als Ideal vorzustellenden Vollendungszustand folgen läßt. Schiller wollte damit das pessimistische Geschichtsbild Hesiods, der auf das „goldene Alter“ einen Niedergang bis hin zum „eisernen Alter“ konstatierte, im Gegensinn optimistisch formieren. Er säkularisierte die heilsgeschichtliche biblische Tradition, die auf die Vertreibung aus dem Paradies („Arkadien“) ein unseliges Leben in Mühe und Arbeit und dann schließlich, dank Christi Erlösertat, ein seliges Leben im Jenseits („Elysium“) folgen ließ. Ganz vom Autonomie-Streben seiner Zeit eingenommen, verstand Schiller allerdings den Verlust des ursprungshaft vollkommenen Naturzustands (biblisch: des Paradieses, antik: Arkadiens) als willkommene Möglichkeit für den Menschen, sich aus eigener Kraft, in heroischer Anstrengung, zum Höchsten emporzuarbeiten. Schon gar nicht sollte er einer Erlösertat durch einen andern bedürfen. Durch die Kraft des Geistes und durch Willensstärke, durch „Tugend“, sollte er sich selbst zum Ideal erheben. In diesem geschichtsphilosophischen Konzept ist Herakles der Exponent der heroischen Arbeit und des Strebens, ein Tugend-Heros, der als Figuration eines geschichtlichen Prozesses, wenn auch letztlich eines infiniten, auf Selbsterlösung angelegt ist. Nicht mehr wie in der Überlieferung wird Herakles zum Lohn für seine Vollbringungen von den Göttern in ihren Kreis aufgenommen – seine Apotheose gelingt aus der sich ins Übermenschliche steigernden eigenen Energie. Die Absage an die christlich-heilsgeschichtliche Tradition zeigt sich nicht erst in diesem Konzept der Erlösung aufgrund eigener Leistung, sondern schon in der Suspendierung des Sündenfalls: Die Vertreibung aus dem Paradies wird nicht negativ als Folge des Sündenfalls verstanden, sondern positiv als Akt der Emanzipation aus einem mit Unmündigkeit gleichgesetzten Naturzustand. Hölderlin hebt in der Herkules-Strophe seiner Schicksals-Hymne diesen Akt der Emanzipation als den entscheidenden Beginn hervor: „Da sprang er aus der Mutter Wiege […] Der Sohn der heiligen Natur“ (V. 9 – 12).

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War die Fabel des Prodikos von Herkules am Scheidewege, die Entscheidung im Übergang von der Jugend zum Mannesalter, oft als bewußter Akt aufgefaßt110 oder sogar zur Demonstration des freien Willens111 herangezogen worden, so findet der geschichtsphilosophischen Vorstellung Hölderlins zufolge gar keine Wahl statt, vielmehr kommt es schon im Frühstadium der Kindheit, das zugleich den naturhaften Urzustand der Menschheit repräsentiert, zu einer Ablösung: Schon als Kind springt Herkules aus der Wiege. Scheinbar paradox ist die Ablösung vom Naturzustand demnach schon naturhaft begründet. Die Vorstellung, Herkules sei Sohn „der heiligen Natur“ (V. 12), hätte Schiller ganz fern gelegen. Für Hölderlin kann die aus der Natur kommende „Löwenkraft“ der „Tugend“ nicht eine primär gegen die Natur errungene Tugend sein, vielmehr macht er sie zu einer „Gabe“, die durch Steigerung zum Geist – sie ist „der hohen Geister höchste Gabe“ (V. 13) – über den ursprünglichen Naturzustand hinausführt. Daß die Natur dann sekundär, als „weise, zürnende Natur“ (V. 58) mit der Herausforderung durch das Schicksal, durch die „eherne Notwendigkeit“ (V. 64) identisch ist, entspricht und dient der Steigerungsdynamik. Zwar linearisiert Hölderlin wie Schiller die alte Fabel, indem er einen geschichtsphilosophisch perspektivierten Prozeß, einen „Weg“ entwirft, der vom naturhaften Urzustand zu einem idealen Vollendungszustand führt (er bleibt utopisch, weil sich der Prozeß ins Unendliche fortsetzt); aber Hölderlin entgeht dem zu den Grundproblemen der stoischen Philosophie gehörenden Dualismus von Freiheit und 110 Daß dies nicht für alle Varianten der Szene gilt, scheint insbesondere die Darstellung des träumenden Herakles bei Sebastian Brant und die analoge Vorstellung vom träumenden Scipio zu signalisieren. Sie deutet auf eine unbewußt-intuitive, wenn nicht sogar auf höherer Einwirkung beruhende Entscheidung. 111 Zur kynischen Tradition: Ragnar Hoïstad (wie Anm. 42), S. 31 – 33; Karl Galinsky (wie Anm. 22), S. 101 – 106. Erasmus von Rotterdam weist in seinem Enchiridion militis christiani von 1503/1518 dem christlichen Tugendstreiter den Weg in den Himmel und verknüpft damit das Beispiel des Tugendhelden Herkules im Sinne des liberum arbitrium – im Gegensatz dazu formuliert Luther seine Lehre vom servum arbitrium auf dem Hintergrund einer Prädestinationslehre, der gerade das an den Taten – der ,Werkgerechtigkeit‘ – orientierte Herkules-Paradigma widersprach. Vgl. Wolfgang Harms: Homo viator in bivio (wie Anm. 19) sowie Klaus Schwarzwälder: Theologia crucis. Luthers Lehre von der Prdestination nach De servo arbitrio 1525, München 1970, bes. S. 145 ff.; Ernst Wilhelm Kohls: Luther oder Erasmus. Basel 1972/78.

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Notwendigkeit112, indem er eine Dialektik entwirft, die sich aus der Natur selbst entwickelt. Darin ist er dem monistischen Grundkonzept der Stoa viel näher als Schiller, und zugleich versucht er die Problemspannung, die im stoischen Determinismus liegt, zu überwinden. Ganz im Sinne des stoisch-monistischen Fundamentalkonzepts der Allnatur, der v¼sir t_m fkym, die eben deshalb als „Schicksal“ alles bestimmt, aber im Widerspruch zu der Inkonsequenz, die im stoisch moralisierenden Imperativ der Prodikos-Fabel liegt, hebt er den immanenten Dualismus der Entscheidung zwischen „Tugend“ und „Lust“ auf, um schließlich sogar eine Synthese zwischen beiden Daseinsmöglichkeiten herzustellen. Viermal exponiert er den Begriff „Lust“ in seiner Schicksalshymne direkt, indem er die voluptas zu diesem Zweck gründlich umkodiert. „Es kann die Lust der goldnen Ernte / Im Sonnenbrande nur gedeih’n“, lautet die programmatische Sentenz am Beginn der dritten Strophe (V. 17 f.); wiederum sentenzhaft beginnt die vierte Strophe mit dem Vers: „Der Not ist jede Lust entsprossen“ (V. 25), und sie verbindet mit der Vorstellung der „Lust“ alsbald die des Genusses: „Und unter Schmerzen nur gedeiht / Das Liebste, was mein Herz genossen“ (V. 26 f.). Das „Herz“, das „Liebste“ und vollends die sich anschließende Vision der aus „tiefer Flut“ aufsteigenden Liebesgöttin Aphrodite (V. 32: „Cypria“) – das alles verträgt sich mit der stoischen Orthodoxie so wenig wie die Einbeziehung von Lust und Genuß, auch wenn die voluptas hier auf bezeichnende Weise veredelt erscheint. Nicht wörtlich-begrifflich, aber indirekt und wiederum zusammen mit der „Not“ kommt die Lust am Beginn der folgenden fünften Strophe zur Sprache, wenn es heißt, daß die Dioskuren – Kastor und Pollux als idealtypisches Freundespaar – zwar „durch Not“ vereinigt, aber doch vom Jugendtraum „süß berauscht“ (V. 33 f.) ihren Bund beschworen. Die vorletzte Strophe schließlich steigert diese so konsequent durchgeführte Motivik zum Höchsten in den Versen (77 – 80): „Beflügelt von dem Sturme, erschwinge / Mein Geist des Lebens höchste Lust, / Der Tugend Siegeslust verjünge / Bei kargem Glücke mir die Brust!“ Nicht nur, daß hier zweimal in dichter Folge die Lust beschworen wird – die Pointe liegt darin, daß „der Tugend Siegeslust“ den in der stoischen Tradition fest verankerten und in der Fabel des Prodikos paradigmatisch repräsentierten Gegensatz von Tugend und Lust (Genuß), von virtus und voluptas aufhebt. Hölderlin entwirft eine 112 Hierzu der Beitrag von Dorothea Frede in diesem Band.

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Synthese aus dem Horizont idealistisch formierten Denkens, das auch noch die „Lust“ zu integrieren vermag113, weil es sie fern vom moralischen Rigorismus in einen vom „Geist“ vermittelten inneren Erfahrungszusammenhang mit der „Tugend“ bringt. Das dürfte auch eine Huldigung an Schiller sein, der gegen Kants rigoristische Antithese von Pflicht und Neigung Einspruch erhob. Zugleich aber geht Hölderlin deutlich weiter. Seine intensive Einbeziehung stoischer Vorstellungen wie seine Berufung auf die stoische Vorbildfigur Herkules, der bei ihm doch immer ein „Sohn der heiligen Natur“ bleibt, erhält gerade durch die gleichzeitige Überformung des schon längst der Kritik verfallenen stoischen Rigorismus eine eigene konzeptionelle Bedeutung. Es handelt sich um Stoa-Rezeption und zugleich um mehr: um lebendige Fortbildung stoischen Denkens. Sie zeigt schon die Spur, der Hölderlin folgte, als er sich schließlich von dem durch Seneca in besonderer Härte aufgenommenen altstoischen Denken zum harmonischen Naturkonzept der mittleren Stoa wandte. Wenige Jahre nach der Schicksalshymne griff er es aus Marc Aurels Selbstbetrachtungen auf, um daraus vor allem für seinen Hyperion eine mit dem zeitgenössischen Pantheismus vermittelte Lebensphilosophie zu gewinnen, die den Dualismus überhaupt aufhebt.114 Die heroische Tugendfigur Herkules hat darin keinen Platz mehr.

113 Vielleicht wirkt hier noch ein Reflex aus einer schon in der Antike geführten Diskussion über die Problematik der schlichten Antithese von Tugend und Lust nach. Xenophon schickt seiner Erzählung der Prodikos-Fabel die Überlegung voran, man könne auch an der (zur Tugend gehörenden) „Mühe“ „Lust“ empfinden (pome?m Bd´yr, II 1, 19). Maximos von Tyros (vgl. Anm. 29) scheint ein spätes Echo dieser Diskussion zu geben, wenn er bemerkt, daß das Leben des Herakles nicht – wie Prodikos nahe lege – eine strikte Alternative zwischen den mit der Areté verbundenen Mühen (di’ !qet/r pºmour) und der Lust (Bdom¶) gewesen sei, vielmehr könne ein Mann an den mühevollen Werken, die er aufgrund seiner Areté vollbringe, genuine Lust und Freude empfinden (Dissertationes 25, ed. Trapp, S. 215). 114 Hierzu mein Beitrag zum Hyperion im vorliegenden Werk.

Laokoon als Prototyp stoischer Schmerzbewältigung? Winckelmanns Deutung im Kontext ästhetischer Kontroversen von Barbara Neymeyr Die berühmte Laokoon-Skulptur, die drei Künstler aus Rhodos vermutlich im ersten Jahrhundert v. Chr. als Gemeinschaftsarbeit schufen, gilt schon lange als kanonisches Meisterwerk der Antike. Zugleich steht diese Statue im Mittelpunkt kontrovers geführter ästhetischer Debatten der Moderne, in denen nicht nur Aspekte intermedialer Vermittlung, sondern auch ethische Konzepte von zentraler Bedeutung sind. Im folgenden will ich einige kulturwissenschaftlich aufschlußreiche Hauptlinien des Laokoon-Diskurses, der von der Antike bis ins 18. Jahrhundert reicht1, herausarbeiten und dabei die unterschiedlichen Theorien, von denen Winckelmanns stoische Deutung besondere Bekanntheit erlangt hat, miteinander konfrontieren. Als man die Laokoon-Gruppe vor 500 Jahren, am 14. Januar 1506, in einem Weinberg am Esquilin in einer unterirdischen Kammer wiederentdeckte, wurde die Marmorskulptur in Rom sofort als sensatio1

Zum kunsttheoretischen Laokoon-Diskurs vgl. auch eine textnahe Darstellung, die Zusammenhänge zwischen Pathos- und Kunstbegriff herausarbeitet: Monika Schrader: Laokoon – „eine vollkommene Regel der Kunst“. sthetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts: Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe. Hildesheim, Zürich, New York 2005. Schrader bezeichnet die „Reflexion auf die Laokoon-Skulptur […] als Kristallisationspunkt für Tendenzen ästhetischer Theoriebildung“ (S. 13). Spätere Kontroversen über Laokoon thematisiert Ernst Osterkamp: Laokoon in Prromantik und Romantik, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2003, S. 1 – 28. Osterkamp konzentriert sich auf Heinses Laokoon-Deutung in Ardinghello und wirft Seitenblicke auf Karl Philipp Moritz, Friedrich Schlegel und Novalis. Angesichts der Vielzahl von Stellungnahmen zur Laokoon-Skulptur konstatiert Osterkamp humoristisch: „Gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, es gebe nicht nur eine Laokoon-Gruppe, sondern zwei: Die eine besteht aus Marmor und steht im Statuenhof des Belvedere im Vatikan, die andere besteht aus Papier und repräsentiert einen Diskurs deutscher Gelehrter, Dichter und Künstler in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ (ebd., S. 1).

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neller Fund bekannt. Von zahlreichen Schaulustigen bestaunt, galt die Statue, die Papst Julius II. für den Hof seiner Villa am Belvedere erwarb, schon bald als Hauptattraktion der dortigen Antikensammlung. Der phänomenale Erfolg der Laokoon-Gruppe, die rasch als eines der berühmtesten Werke antiker Bildhauerkunst überhaupt anerkannt war, ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen: erstens auf ihren guten Erhaltungszustand und zweitens auf ihre expressive Dynamik, die den ästhetischen Maßstäben der Epoche in besonderem Maße entsprach. Drittens evozierte die Laokoon-Skulptur großes Interesse, weil das Sammeln antiker Skulpturen seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zur bevorzugten Form kultureller Repräsentation in der vornehmen römischen Gesellschaft geworden war. Hervorzuheben ist noch ein vierter Erfolgsfaktor: Der Architekt Giuliano da Sangallo, den Papst Julius II. als Gutachter zum Fundort geschickt hatte, rief angesichts der Skulptur aus: „quello è Laocoonte, di cui fa mentione Plinio“.2 Er identifizierte die Laokoon-Gruppe also, indem er sich auf ein literarisches Zeugnis berief: auf die Naturalis Historia von Plinius. In der betreffenden Textpartie nennt Plinius die Namen der drei Bildhauer Hagesandros, Polydoros und Athenodoros, die das damals im Palast des Kaisers Titus befindliche Werk geschaffen hatten. Mit einem enthusiastischen Superlativ apostrophiert er sie als „summi artifices“; ihre Laokoon-Skulptur ist – laut Plinius – allen Werken der Malerei und Bildhauerkunst vorzuziehen („opus omnibus et picturae et statuariae artis praeferendum“).3 Die Autorität der antiken 2

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Vgl. dazu die Belege in einem instruktiven Aufsatz von Luca Giuliani: Winckelmanns Laokoon. Von der befristeten Eigenmchtigkeit des Kommentars, in: Commentaries = Kommentare, hg. von Glenn W. Most, Göttingen 1999 (Aporemata Bd. 4), S. 296 – 322, hier S. 296. Differenziert beschreibt Giuliani die Rahmenbedingungen der Wiederentdeckung der Laokoon-Statue vor dem kulturhistorischen Horizont: vgl. ebd. S. 296 – 299. Zum 500. Jahrestag der Wiederentdeckung der Laokoon-Statue veröffentlichte Luca Giuliani am 14./ 15. Januar 2006 einen Extrakt seines Aufsatzes in der Sddeutschen Zeitung (S. 16). Plinius: Naturalis Historia 36, 37. Plinius würdigt die hervorragenden Bildhauer, die das Kunstwerk, den Laokoon, seine Söhne und die wunderbaren Windungen der Schlangen, alles aus einem einzigen Steinblock schufen („ex uno lapide eum ac liberos draconumque mirabiles nexus de consilii sententia fecere summi artifices Hagesander et Polydorus et Athenodorus Rhodii“). Anfechtbar erscheint allerdings die Klassifikation der Plinius-Stelle als ,Kommentar‘, die Giuliani in seinem Aufsatz wiederholt vornimmt (S. 298 – 301, 312, 320). – Zur Wirkung der Laokoon-Gruppe auf Michelangelo, der für seine um 1515

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Laokoon, Gesamtaufnahme, 1. Jh. vor Chr., Vatikanische Museen

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Laokoon, Detailaufnahme, 1. Jh. vor Chr., Vatikanische Museen

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Quelle trug dazu bei, daß die Laokoon-Gruppe zu einem zentralen Paradigma antiker Kunst überhaupt wurde, und dies um so mehr, als der Name ,Laocoonte‘ zugleich den mythologischen Kontext evoziert.4 Dadurch ergab sich auch ein Bezug zu Vergils Aeneis, einer der prominentesten Dichtungen der römischen Antike; Vergil stellt die Laokoon-Episode im Zusammenhang mit dem Trojanischen Krieg ausführlich dar.5 So ist es kein Zufall, daß Winckelmann 1755 in seiner Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst gerade der Laokoon-Skulptur eine herausragende Bedeutung zuschreibt. In der Abhandlung, in der er die „Idealischen Schönheiten“ antiker Meisterwerke als Vorbild auch für die zeitgenössische Kunst propagiert, stellt er fest: „Laocoon war den Künstlern im alten Rom eben das, was er uns ist; des Polyclets Regel; eine vollkommene Regel der Kunst.“6 Einen normativen Rang attestiert Winckelmann der Laokoon-Gruppe, indem er sich auf die „Regel“ des griechischen Bildhauers Polyklet aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. bezieht, einen Kanon für die idealen Proportionen des schönen mensch-

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entstandene Skulptur eines nackten Gefangenen ebenfalls durch Fesselung eine besonders dynamische Konstellation schafft, vgl. Giuliani S. 297 – 298. Zu den unterschiedlichen Versionen des Laokoon-Mythos, insbesondere zu den Gründen für die Bestrafung des Laokoon durch die Schlangen, vgl. Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und rçmischen Mythologie mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart, 6. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1974, S. 230 – 231. Zum mythologischen Kontext und zur Bedeutung der Laokoon-Gruppe für Kunsttheorie und bildende Kunst vgl. Eric M. Moormann und Wilfried Uitterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten. Mit ihrem Fortleben in Kunst, Dichtung und Musik, übersetzt von Marinus Pütz, Stuttgart 1995, S. 411 – 413. Vergil: Aeneis 2, 40 – 56, 199 – 245. Winckelmanns Schriften zitiere ich nach der folgenden Ausgabe: Frhklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse, hg. von Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer und Norbert Miller unter Mitarbeit von Thomas Franke, Frankfurt a.M. 1995 (Bibliothek der Kunstliteratur Bd. 2). Winckelmanns Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst findet sich in dieser Edition auf S. 13 – 50, die obigen Zitate auf S. 26, 14 – 15. Die Orthographie dieser Ausgabe wird im vorliegenden Aufsatz exakt übernommen. – Der normative Charakter von Winckelmanns Kunstkonzeption erhellt aus seiner apodiktischen Feststellung: „Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“ (S. 14). Dieses Postulat enthält ein immanentes Paradoxon, da Mimesis schwerlich als Kriterium unnachahmlicher Größe gelten kann.

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lichen Körpers. Erstaunlicherweise will Winckelmann hier nicht die Statue des Doryphoros, des Speerträgers, durch den Polyklet selbst dieses Ideal vorbildhaft verwirklichte, oder den Apoll von Belvedere als kanonisch verstanden wissen, sondern ausgerechnet den Laokoon, – die Skulptur, die aufgrund des exzeptionellen mythologischen Geschehens, auf dem sie basiert, eine von der Norm extrem abweichende Körperdarstellung bietet. Schon lange vor Winckelmanns Schrift gab eine präzise Wahrnehmung des Kunstwerks begeisterten Betrachtern Anlaß zu Einschätzungen ganz anderer Art. Bald nach der Aufstellung der Statue im Hof des Belvedere schrieb der spätere Kardinal Jacopo Sadoleto 1506 unter Rückgriff auf die in Vergils Aeneis geschilderten Handlungen ein Gedicht in lateinischen Hexametern über die Laokoon-Skulptur. Noch weitere Gelehrte trugen durch ähnliche Gedichte zur Kanonisierung der Statue bei. Sadoleto rühmt in seinen Hexametern den extremen Ausdruck des Schmerzes; zugleich betont er die dadurch bedingte Erschütterung des Betrachters: Quid primum summumve loquar? miserumne parentem Et prolem geminam? […] Vulneraque et veros, saxo moriente, dolores? Horret ad haec animus, mutaque ab imagine pulsat Pectora non parvo pietas commixta tremori. […] Vix oculi suffere valent, crudele tuendo Exitium, casusque feros.7

An die im 16. Jahrhundert zunächst von Sadoleto und seinen Zeitgenossen etablierte Tradition der Laokoon-Rezeption schließt noch am Anfang des 18. Jahrhunderts ein niederländischer Rom-Tourist an; er charakterisiert die Laokoon-Gruppe mit folgenden Worten: „Die allerheftigste Todesangst, der Schrecken, der Grimm und die zärtlichste

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Jacopo Sadoleto: De Laocoontis statua, quae Romae in Vaticano spectatur, in: Jacopo Sadoleto: Opera Bd. III, Verona 1738, S. 245 f. Übersetzung: „Was soll ich als erstes nennen, was am höchsten loben? Den jammervollen Vater und die beiden Kinder? […] Oder die Wunden und den wahren Schmerz im sterbenden Stein? Die Seele des Betrachters erstarrt; vom stummen Standbild aus rührt Mitleid ans Herz mit gewaltigem Zittern. […] Kaum noch ertragen die Augen den Anblick des grausigen Untergangs, des schrecklichen Verderbens.“ – Sadoletos Gedicht wurde zwar erst im Jahre 1532 publiziert; daß er es aber schon lange zuvor geschrieben hatte, dokumentiert ein Brief vom 1. Juli 1506 durch ein Zitat. – (vgl. Giuliani S. 301, 300).

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Liebe“ vereinen sich im „Gesicht des Laokoons“. Ja, man glaubt beinahe „sein heftiges Geschrey und Wehklagen“ zu hören.8 – Dieser Sicht steht die von klassizistischen Prämissen motivierte Laokoon-Deutung Winckelmanns in seiner Erstlingsschrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und BildhauerKunst von 1755 diametral gegenüber. Sie ist durch das stoische AtaraxiaKonzept geprägt. Bis in einzelne Formulierungen hinein läßt sich die Relevanz stoischer Leitvorstellungen nachweisen: Den zentralen Begriff der ,magnanimitas‘ oder ,magnitudo animi‘ übersetzt Winckelmann geradezu wörtlich aus dem Lateinischen ins Deutsche. Zugleich verbindet er die „Grösse der Seele“ mit dem Ideal der ,firmitas animi‘ und der ,constantia sapientis‘. Die stoische Klassifikation der LaokoonSkulptur leitet er mit dem berühmten Passus ein, der den griechischen Meisterwerken eine „edle Einfalt“ und „stille Größe“ attestiert. Durch diese Ouvertüre erhält die anschließende Interpretation der LaokoonStatue als Paradigma stoischer Schmerzbewältigung einen besonderen Rang: Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem Gesicht des Laocoons, und nicht in dem Gesicht allein, bey dem heftigsten Leiden. Der Schmertz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Cörpers entdecket […], äussert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte und in der gantzen Stellung. Er erhebet kein schreckliches Geschrey, wie Virgil von seinem Laocoon singet: Die Oeffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet. Der Schmertz des Cörpers und die Grösse der Seele sind durch den gantzen Bau der Figur mit gleicher Stärcke ausgetheilet, und gleichsam abgewogen. Laocoon leidet, aber er leidet wie des Sophocles Philoctetes: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser grosse Mann, das Elend ertragen zu können.9

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Bettina Preiß: Die wissenschaftliche Beschftigung mit der Laokoongruppe. Alfter 1992. Vgl. dort im Anhang der Quellentexte: Des Herrn von Blainville Reisebeschreibung durch Italien (1766), Bd. 3, Abt. 1 Hauptstück 19. Die Aufzeichnung über Laokoon stammt vom 28. Oktober 1707. Winckelmann: ebd., S. 30 – 31.

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Hier fällt zunächst einmal auf, daß Winckelmann die Darstellung des ungeheuren Stöhnens („gemitum ingentem“) in Sadoletos LaokoonGedicht zur Formulierung „beklemmtes Seufzen“ abschwächt, also inadäquat wiedergibt. Zu Unrecht beruft sich Winckelmann auf Sadoleto.10 Denn während Sadoleto seine Aufmerksamkeit auf den heftigen Schmerz durch den Biß der Schlange und auf den qualvollen Todeskampf Laokoons konzentriert, betont Winckelmann das stoische Ethos der Selbstbeherrschung und Ataraxie. Mit diesem Konzept, in dem mentale Stärke über das physische Leiden dominiert, begibt er sich in eine Opposition zur überlieferten Laokoon-Rezeption. Die von Winckelmann verwendeten Begriffe korrespondieren in auffälliger Weise mit stoischen Termini: So entspricht die von ihm gepriesene „Ruhe“ und „Grösse der Seele“11 dem Ideal der ,magnanimitas‘ und ,tranquillitas animi‘, das Cicero und Seneca in ihren Schriften propagieren.12 Die stoische Philosophie thematisiert den Schmerz im Rahmen ihrer Lehre von den Affekten und intendiert deren Überwindung durch Seelenruhe (tranquillitas animi). Den Prinzipien der Stoiker zufolge garantiert allein die Unerschütterlichkeit der Seele (,ataraxia‘) ein glückliches Leben, in dem Furcht und Schmerz ihre Bedeutung verlieren. Der Stoiker Chrysipp zählt diese Befindlichkeiten zu den Adiaphora, zu den indifferenten Angelegenheiten. Demgegenüber besteht der Zweck der stoischen Ethik darin, Glück zu erlangen: durch Ataraxia und Apatheia.13 10 Das betont bereits Giuliani (ebd., S. 303 – 304). 11 Geradezu leitmotivisch spricht Winckelmann wiederholt von der „Grösse der Seele“ (S. 31) und von ihrer „Ruhe“ (S. 32), von der „Stärcke des Geistes“ (S. 31), der „grossen Seele“ (S. 31), vom „Edle[n] der Seele“ (S. 32) und von der „grosse[n] und gesetzte[n] Seele“ (S. 30), durch die Laokoon gerade in der Schmerzerfahrung seine ,virtus‘ zu bewähren vermag. 12 Die Bedeutung des stoischen Postulats der tranquillitas animi ist schon daran zu erkennen, daß Seneca eine seiner Schriften mit dem Titel De tranquillitate animi versehen hat. 13 Vgl. Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch, 5 Bde, hg., übersetzt und eingeleitet von Manfred Rosenbach, Darmstadt 1980 – 1989. Bd. 1 – 2: Dialoge. Bd. 3 – 4: Ad Lucilium epistulae morales [künftig abgekürzt als Epist.]. Bd. 5: De clementia, De beneficiis. Die Schriften Senecas werden – wie üblich – mit der jeweiligen Absatzziffer zitiert. – Vgl. z. B. Epist. 9,2, wo Seneca den griechischen Begriff Apatheia thematisiert. In Epist. 9,12 betont er die glückliche Selbstgenügsamkeit des Weisen, der das Schicksal verachtet. Weitere Belegstellen: Epist. 32,4; 36,6; 45,9. Der stoische Apatheia-Begriff ist

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Als zentrale stoische Referenztexte fungieren in der kulturhistorischen Tradition die philosophischen Schriften Senecas14, vor allem die Epistulae morales ad Lucilium und De tranquillitate animi, sowie Ciceros Tusculanen. Durch ihre Omnipräsenz im europäischen Bildungswesen war den Schriften Ciceros eine enorme, bis zu Winckelmann reichende Wirkung beschieden. Im zweiten Buch der Tusculanen, das Konzepten des Stoikers Panaitios folgt und für Winckelmann wahrscheinlich zur zentralen Quelle geworden ist15, konzentriert sich Cicero auf das stoische Verhalten gegenüber dem Schmerz. Nachdem er sich im ersten nicht im Sinne eines spannungsfreien Quietismus zu verstehen. Seneca selbst grenzt sich ausdrücklich von einem derartigen Verständnis ab. In Epist. 67, 14 betont er, unerschütterte Muße sei keineswegs mit stoischer Apatheia gleichzusetzen, sondern mit einer Flaute: „in otio inconcusso iacere non est tranquillitas: malacia est.“ Im Kontext dieses Zitats weist Seneca darauf hin, daß die tranquillitas animi in der Auseinandersetzung mit widrigen Konstellationen erst errungen werden muß. Der Weise antizipiert mögliche Schicksalsschläge mit Seelenstärke („animi robore“); vgl. ebd. XI, 6; XIII, 3. Seneca versteht tranquillitas im Sinne des griechischen Begriffs Euthymia (Frohsinn); vgl. ebd. II, 3. Für diesen Zustand setzt er innere Harmonie voraus, Einigkeit mit sich selbst, die durch Abkehr von allen Äußerlichkeiten entsteht (vgl. ebd. II, 4, XIV, 2). In seiner Schrift De tranquillitate animi (IX, 2) rät Seneca zur Mäßigung verschiedenartiger Emotionen: „Discamus continentiam augere, luxuriam coercere, gloriam temperare, iracundiam lenire, […] frugalitatem colere“ („Lernen wir, die Beherrschung zu steigern, die Genußsucht zu zügeln, den Ehrgeiz zu mäßigen, den Jähzorn zu beschwichtigen und die Genügsamkeit zu pflegen“). – Zur stoischen Lösung für die Affektproblematik vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, 2. Aufl. Darmstadt 1995, S. 134 – 141. 14 Im Unterschied zu den frühen rigoristischen Stoikern verfährt Seneca eher eklektizistisch. Dieses Verfahren, mitunter wie ein Anhänger Epikurs zu sprechen (Epist. 48, 2: „ego tamquam Epicureus loquor“) legitimiert er mit der Erkenntnis: „Was wahr ist, ist mein Eigentum“ (Epist. 12, 11: „Quod verum est, meum est“). Dabei zeigt er sich auch gegenüber epikureischen Lehren aufgeschlossen und versucht sie sogar mit seinen eigenen Konzepten zu verbinden. Bereits in seinem zweiten Brief erwähnt Seneca ein Diktum Epikurs und betont, er pflege auch in ein fremdes Lager hinüberzugehen, nicht als Überläufer, sondern als Kundschafter (Epist. 2,5: „soleo enim et in aliena castra transire, non tamquam transfuga, sed tamquam explorator“). An zahlreichen Stellen finden Sentenzen Epikurs in Senecas Epistulae morales Eingang; vgl. z. B. Epist. 7,11; 8,7; 9,1; 12,11; 16,7; 18,9; 48,2. In Epist. 8,7 würdigt Seneca ausdrücklich Epikurs Postulat, man müsse der Philosophie dienen, um die wahre Freiheit zu erlangen. – Zu Senecas eklektizistischem Verfahren vgl. auch Ilsetraut Hadot: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung. Berlin 1969, S. 55 ff. 15 Vgl. Giuliani (ebd.), S. 306 – 307.

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Buch der Tusculanen mit der Problematik der Todesfurcht auseinandergesetzt hat, geht er im zweiten Buch der Frage nach, wie man den Geist formieren könne, um den Schmerz zu ertragen. Das stoische Rezept zielt auf Schmerzbewältigung durch Vernunft und Willenskraft: „Totum igitur in eo est, ut tibi imperes. […] atque haec cogitatio, quid patientia, quid fortitudine, quid magnitudine animi dignissimum sit, non solum animum comprimit, sed ipsum etiam dolorem nescio quo pacto mitiorem facit“.16 Im weiteren Verlauf seiner Darlegungen verlangt Cicero von einem tapferen und weisen Menschen, daß er im Schmerz nicht einmal stöhne, außer um die Seele zum Widerstand zu festigen: „si gemitus in dolore ad confirmandum animum valebit, utemur“.17 Zwar nimmt Cicero in den Tusculanen nicht explizit auf Laokoon Bezug, aber Winckelmann scheint auf ein anderes Beispiel aus dieser Schrift zurückzugreifen: Den vor Schmerzen schreienden Sophokleischen Protagonisten Philoktet, den Cicero als Negativbeispiel exponiert18, würdigt Winckelmann wie Laokoon als positives Paradigma stoischen Verhaltens, und zwar gemäß der Maxime stoischer Affektbesiegung und damit analog zu den strengen Wertungsprinzipien Ciceros, der in seinen Tusculanen erklärt: „ingemescere non numquam viro concessum est, idque raro, eiulatus ne mulieri quidem“.19 Gerade dieses stoische Postulat, das Leiden tapfer zu ertragen, möglichst ohne jede stärkere Schmerzäußerung, kritisiert Schopenhauer 1819 in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung mit Entschiedenheit; dabei nimmt er explizit auf die Laokoon-Skulptur und 16 Vgl. Marcus Tullius Cicero: Gesprche in Tusculum. Lateinisch-deutsch mit ausführlichen Anmerkungen neu hg. von Olof Gigon, 2. Aufl. München 1970. [Im folgenden zitiert mit der Sigle Tusc. sowie mit nachgestellter römischer Buchziffer und arabischer Absatzzahl.] – Tusc. II,53: „Alles liegt also daran, daß du dich selbst beherrschest. […] Und dieser Gedanke, was der Ausdauer, der Tapferkeit, der Seelengröße würdig sei, festigt nicht nur die Seele, sondern macht auf irgendeine Weise auch den Schmerz milder.“ 17 Cicero: Tusc. II,57. 18 Cicero: Tusc. II,55: „sed hoc idem in dolore maxume est providendum, ne quid abiecte, ne quid timide, ne quid ignave, ne quid serviliter muliebriterve faciamus, in primisque refutetur ac reiciatur Philocteteus ille clamor“ („Man muß beim Schmerz vor allem darauf achten, nichts verächtlich, ängstlich, feige, sklavisch und weibisch zu tun, und vor allem muß jenes Geschrei des Philoktetes abgelehnt und verworfen werden“). 19 Cicero: Tusc. II, 55: „Zu seufzen ist dem Mann zuweilen, wenn auch selten, gestattet, zu heulen nicht einmal einer Frau“.

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ihre kontroverse Rezeption Bezug: Schopenhauers Einschätzung zufolge machte Winckelmann „den Laokoon zu einem Stoiker, der es [für] seiner Würde nicht gemäß hält secundum naturam zu schreien, sondern zu seinem Schmerz sich noch den nutzlosen Zwang auflegt, [sich] die Äußerung desselben zu verbeißen“.20 Damit diagnostiziert Schopenhauer bereits die projektive Überformung Laokoons durch Winckelmanns stoische Deutung. Als „vortreffliche Beschreibung“ läßt er Winckelmanns Perspektive auf die Laokoon-Skulptur nur unter der Voraussetzung gelten, daß man „vom Unterlegen stoischer Gesinnung abstrahiert“21. Mit dieser positiven Wertung nimmt er auf die spätere, detailliertere Laokoon-Darstellung in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums Bezug. Bereits im Jahre 1766 formuliert Lessing in seiner Laokoon-Schrift, die mit kritischem Rekurs auf Winckelmann die Spezifika von Literatur und bildender Kunst darstellt, Vorbehalte gegenüber dem stoischen Ethos. Er bedauert zunächst, daß ein Laokoon-Drama des Sophokles nicht erhalten geblieben ist. Dann fährt er fort: „So viel bin ich versichert, daß er den Laokoon nicht stoischer als den Philoktet und Herkules, wird geschildert haben. Alles Stoische ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist allezeit dem Leiden gleichmäßig, welches der interessierende Gegenstand äußert“.22 Hier verbindet Lessing sein auf die Aristotelische Poetik zurückgreifendes Mitleidskonzept, das er ausführlich in der Hamburgischen Dramaturgie thematisiert (74. bis 78. Stück), mit einer rezeptionsästhetischen Intention: Für „untheatralisch“ hält er das stoische Ethos, weil es bei einer Drameninszenierung empathische Reaktionen des Zuschauers eher blockiert als fördert. Das Mitleid der Rezipienten entspricht jeweils der Intensität des Leidens, das die Schauspieler auf der Bühne darstellen.

20 Arthur Schopenhauer: Smtliche Werke, hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Fünf Bände, Darmstadt 1976 – 1982. Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung I: S. 319. 21 Ebd. S. 322. – Zu Schopenhauers ambivalentem Verhältnis zum Stoizismus vgl. meinen Aufsatz im vorliegenden Sammelwerk. 22 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder ber die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, 8 Bände, München 1970 – 1979. Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, hg. von Albert von Schirnding. München 1974, S. 7 – 187, hier S. 16. Zu Lessings Berufung auf Sadoleto und zu seiner Auseinandersetzung mit Winckelmann vgl. Giuliani (ebd.), S. 312 – 313.

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Auf andere Weise zeichnet sich auch bei Winckelmann ein Zusammenhang von ethischen Prämissen und ästhetischer Programmatik ab. Denn für seine Laokoon-Deutung ist die Frage relevant, wie sich die stoische ,virtus‘ bei extremer Schmerzerfahrung im Verhalten einer Person ausdrückt, oder konkret: wie sie sich in der äußeren Erscheinung der Laokoon-Skulptur manifestiert, in der die spannungsreiche Situation gleichsam petrifiziert ist. Das ethische Postulat der Stoiker übernimmt Winckelmann, indem er in der Laokoon-Partie seiner Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst nicht nur auf die ,magnanimitas‘ und die ,firmitas animi‘ anspielt, sondern auch die „Ruhe“, die ,tranquillitas animi‘ thematisiert23, die sich in der Beherrschung des Schmerzes zeigt. Zugleich zielt seine Intention darauf, dieses stoische Ethos ins Ästhetische zu transformieren. Winckelmann betont die dynamische Konstellation von physischem Leiden und mentaler Stärke. Den „Schmertz des Cörpers“ und die „Grösse der Seele“ sieht er durch „den gantzen Bau der Figur“ zum Ausdruck gebracht.24 Eine besondere kompositorische Leistung der drei Bildhauer besteht demnach darin, die spannungsreiche Harmonie antagonistischer Energien in kunstvoller Balance abzubilden. Das Ethos des Heroisch-Voluntativen, das die Stoiker mit dem Postulat der ,virtus‘ intendieren, verbindet Winckelmann mit einem klassischen Ideal der Mitte. In ihm erhält das ethische Substrat der stoischen Konzepte eine spezifisch ästhetische Funktion. Bezeichnenderweise spricht Winckelmann kurz vor der Laokoon-Partie explizit von der „sanften Harmonie des Gantzen“.25 Die regulative Instanz, die eine solche Harmonie garantiert, findet Winckelmann, indem er sich auch am ästhetischen Platonismus italienischer Kunsttheoretiker orientiert. Bellori, einer der einflußreichsten Kunsttheoretiker im 17. Jahrhundert, dessen Schriften nachweislich auch Winckelmann rezipierte, führt die Vollkommenheit klassischer

23 In seinen Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst schreibt Winckelmann: „Im Laocoon würde der Schmertz, allein gebildet, Parenthyrsos gewesen seyn; der Künstler gab ihm daher […] eine Action, die dem Stand der Ruhe in solchem Schmertz der [sic!] nächste war“ (ebd., S. 31 – 32). 24 Winckelmann: ebd., S. 31. 25 Winckelmann: ebd., S. 29.

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Kunst auf „una certa idea“ zurück.26 Winckelmann beruft sich allerdings nicht nur auf ein Platonisches „Urbild“, die „Idealische Schönheit“ und eine künstlerische Produktion „nach Idealischen Begriffen“27, sondern auch auf die Weisheit als regulatives Prinzip.28 Die für die stoische Philosophie zentrale Vorbildfigur des Weisen, des ,sapiens‘, verbindet er mit dem griechischen Terminus ,sophrosyne‘, der Besonnenheit und Maß bezeichnet.29 Indem Winckelmann den primär ethisch konnotierten Begriff ,Weisheit‘ in sein ästhetisches Konzept integriert, ordnet er ihm eine wichtige künstlerische Vermittlungsfunktion zu: „Die Weisheit reichte der Kunst die Hand“30 – so Winckelmanns Erklärung für die Vollkommenheit der griechischen Kunst, deren Schöpfer seines Erachtens „Künstler und Weltweisen [sic]“ in Personalunion waren.31 „Weisheit“ akzentuiert er in seinen Ausführungen zum Laokoon ästhetisch: als Sensorium für Maß und Mitte, das Extreme zu vermeiden hilft und dadurch Kunst in klassischer Harmonie ermöglicht. Das erhellt ex negativo auch aus Winckelmanns Feststellung: „Alle Handlungen und Stellungen der Griechischen Figuren, die mit diesem Character der Weißheit nicht bezeichnet, sondern gar zu feurig und zu wild waren, 26 Vgl. dazu S. 433 im Kommentar des in Anm. 6 genannten FrühklassizismusBandes. Belloris Idea (S. 11 f.) zufolge gestalteten die Bildhauer der Antike ihre Werke nach einer „bewunderungswürdigen Idee“; daher sei es „unbedingt nötig“, die „vollendetsten“ antiken Bildhauer zu studieren. Winckelmann benutzte in Dresden die Bellori-Ausgabe von 1728 und legte während der Lektüre auch Exzerpte an. In seiner Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst zitiert er aus einem Brief Raffaels, der über sich selbst mitteilt: „Da die Schönheiten […] unter dem Frauenzimmer so selten sind, so bediene ich mich einer gewissen Idee in meiner Einbildung“ (ebd., S. 20). Anders als Winckelmann, der „die Nachahmung der Alten“ als „eintzige[n] Weg“ zur Größe betrachtet (ebd., S. 14), erkennt Bellori auch Künstler an, die „das Studium der Antiken verwerfen“ (vgl. Kommentar [Anm. 6], S. 433). 27 Winckelmann: ebd., S. 20 – 21. 28 Winckelmann: ebd., S. 31. 29 Vgl. dazu Cicero: Tusc. III,15 – 16: Hier charakterisiert Cicero die Seele des Weisen durch die Fähigkeit, die Vernunft bestmöglich anzuwenden („ut ratione optime utatur“), die ihm jede Verwirrung der Seele („perturbatio […] animi“) erspart. Anschließend geht Cicero auf die von den Griechen als Sophrosyne bezeichnete Tugend ein; er übersetzt diesen Begriff durch temperantia, moderatio sowie modestia. 30 Winckelmann: ebd., S. 31. 31 Winckelmann: ebd., S. 31.

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verfielen in einen Fehler, den die alten Künstler Parenthyrsos nannten“.32 Mit diesem ursprünglich aus der Rhetorik stammenden Terminus ist ein übertriebenes Pathos gemeint. Die Grundtendenz von Winckelmanns epochaler Erstlingsschrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst zielt auf eine Abkehr von barockem Überschwang und pathetischer Exzentrizität, die seines Erachtens auch im „gemeinste[n] Geschmack der heutigen sonderlich angehenden Künstler“ Ausdruck findet: Sie inszenieren „ungewöhnliche Stellungen und Handlungen, die ein freches Feuer begleitet“.33 Künstlerische Exuberanz kritisiert Winckelmann ebenso wie Defizienzphänomene. Den „Schwulst“ wie das allzu „Magere“34 will er mithilfe eines ästhetischen Programms vermeiden, das von einem klassizistischen Stilideal geprägt ist; er plädiert für die Einhaltung von Maß und Harmonie.35 In diesem Zusammenhang erfüllt die Adaptation stoischer Vorstellungsmuster und Denkkategorien eine spezifische Funktion: Winckelmann greift damit auf eine etablierte Tradition der antiken Philosophie zurück. Er aktualisiert den stoischen Diskurs, indem er ihn zugleich ins Ästhetische transformiert und das antike Konzept durch den neuen Argumentationskontext modernisiert. Die „grosse und gesetzte Seele“, die stoische ,magnanimitas‘, verbindet Winckelmann mit seinem

32 Winckelmann: ebd., S. 31. Im Kommentar des Frühklassizismus-Bandes (ebd., S. 444) wird darauf hingewiesen, daß die Parole der ,edlen Einfalt‘ schon lange vor Winckelmann gebräuchlich war; Belege finden sich u. a. bei Breitinger, Möser, Gellert, Uz, Gleim, Hagedorn sowie bei französischen und englischen Autoren. – Vgl. auch Lessing, der in seiner Schrift Laokoon: oder ber die Grenzen der Malerei und Poesie im Zusammenhang mit einem expliziten Winckelmann-Zitat auf die Problematik des Parenthyrsos eingeht und nach der Feststellung „Parenthyrsus war ein rhetorisches Kunstwort“ kritisch anmerkt: „ich zweifle sogar, ob sich überhaupt dieses Wort in die Malerei übertragen läßt. Denn in der Beredsamkeit und Poesie gibt es ein Pathos, das so hoch getrieben werden kann als möglich, ohne Parenthyrsus zu werden; und nur das höchste Pathos an der unrechten Stelle, ist Parenthyrsus. In der Malerei aber würde das höchste Pathos allezeit Parenthyrsus sein […]“ (ebd., S. 183). 33 Winckelmann: ebd., S. 32. 34 Winckelmann: ebd., S. 26. 35 Giuliani betont, daß die Vorstellung von antiker Humanität und von der für sie charakteristischen Ruhe und Affektmilderung bei Lesern des späten 18. Jahrhunderts durch Winckelmanns stoische Laokoon-Deutung maßgeblich beeinflußt worden sei (ebd., S. 310).

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ethisch-ästhetischen Ideal der „edle[n] Einfalt“ und „stille[n] Grösse“36, um diesem eine besondere Legitimation zu verschaffen. – An dieser Stelle drängt sich eine brisante Frage auf: Ist die einflußreiche stoische Laokoon-Deutung in Winckelmanns Erstlingsschrift, der durch mehrere Übersetzungen ein europäisches Echo beschieden war, eigentlich adäquat? – Lassen die auffällige Dynamik dieser Skulptur und die extreme Körperhaltung der drei Figuren, die das klassische Ideal geradezu konterkarieren, nicht eher die auf das Pathos konzentrierte Laokoon-Deutung Sadoletos plausibel erscheinen? Und spricht nicht alles dafür, der Argumentation des späteren WinckelmannKritikers Aloys Hirt zu folgen, der ein ganz anderes – gerade nicht stoisches – Laokoon-Bild entwirft? – In seinem Laokoon-Aufsatz, der 1797, also 42 Jahre nach Winckelmanns Erstlingsschrift, in der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen erschien, schreibt Aloys Hirt: Wäre die Absicht des Künstlers gewesen, einen gemilderten Ausdruck, ein Seufzen auf dem Gesicht Laokoon’s zu bilden: so müßte man in der Bewegung sowohl, als in der Dehnung der Glieder eben diese Milderung erblicken. Allein in dem ganzen Akte von der Scheitel bis zur Zehe ist eine Anstrengung verbreitet, die das höchste Naturvermögen in vollster Empörung ausdrükt, und die sich nach lange versuchtem Widerstreben, und schon erschöpften Kräften in dem verzweiflungsvollsten Ringen zwischen Leben und Tod denken läßt. Man sehe nur […] das fürchterliche Zusammenpressen der Stirne, das Zuken in den Nasenmuskeln und Wangen: kein Schmerz, kein Widerstreben, kein Entsetzen kann den Ausdruck schrecklicher mahlen: Laokoon schreiet nicht, weil er nicht schreien kann. Der Streit mit den Ungeheuern beginnt nicht, er endet […]. Das Krampfartige, die höchste Spannung, die wüthendsten Zukungen zeigen sich in allen Gliedern. Der Kampf hat die äußersten Kräfte des Elenden erschöpft […].37

36 Winckelmann: ebd., S. 30. 37 Aloys Hirt: Laokoon, in: Die Horen 1797, Bd. 12, Stück 10, S. 1 – 26, hier S. 8 f. – Schopenhauer erhebt in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung einen Prioritätsanspruch für seinen Beitrag zu der kontroversen Debatte darüber, warum Laokoon trotz extremer Schmerzen „nicht schreiet“ (ebd. [Anm. 20], Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung I: S. 319). Er kritisiert zunächst Winckelmanns stoische Interpretation der Laokoon-Skulptur, referiert sodann Lessings ästhetische Deutung sowie Hirts physiologische Argumentation und grenzt sich anschließend von diesen Konzepten mit einer gattungspoetologisch ansetzenden These ab: Seines Erachtens liegt die in der Literatur und auf der Theaterbühne durchaus mögliche Darstellung des Schreiens „gänzlich außer dem Gebiete der Skulptur“, weil die mimische Verzerrung des Gesichts

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Die detaillierte Beschreibung der Skulptur in Hirts Laokoon-Aufsatz läßt auf präzise Autopsie schließen. Und genau das kann man über Winckelmann zu der Zeit, in der er sein Erstlingswerk konzipierte, nicht sagen! Diese heutzutage erstaunlich anmutende Tatsache ist aus den spezifischen biographischen Rahmenbedingungen zu erklären, unter denen Winckelmanns Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst entstand. In Dresden, wo er die Abhandlung 1755 verfaßte, existierte zwar eine Antikensammlung, nicht aber ein Gipsabdruck38 der in Rom befindlichen Laokoon-Gruppe. Winckelmann bekam sie erst nach der Publikation seiner Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst und seinem anschließenden Umzug nach Rom zum ersten Mal zu Gesicht. Als er seine Abhandlung verfaßte, kannte er lediglich ältere Beschreibungen der Laokoon-Skulptur und Darstellungen auf Kupferstichen.39 Daß Winckelmann 1755 dennoch ausführlich auf die LaokoonSkulptur einging, ist wohl durch deren enormen Bekanntheitsgrad zu erklären. Schon in der Anfangspartie seiner Schrift sprach er ihr einen singulären Rang als „vollkommene Regel der Kunst“ zu.40 Damit gab er zu erkennen, daß er dieses Meisterwerk in einer Abhandlung, die sich auf die paradigmatische Bedeutung antiker Kunst konzentriert, für schlechterdings unentbehrlich hielt. Aufgrund fehlender Autopsie konnte Winckelmann auf die Statue den stoischen Habitus projizieren,

ohne den hörbaren Schrei selbst bloß den „lächerlichen Anblick einer ohne Wirkung bleibenden Anstrengung“ hervorriefe (ebd., S. 320 – 321). 38 Erst 1784 kam durch den Nachlaß von Anton Raphael Mengs auch ein Abguß der Laokoon-Skulptur nach Dresden. Vgl. dazu Martin Raumschüssel: Die Dresdner Sammlung antiker Skulpturen im 18. Jahrhundert, in: Glyptothek Mnchen 1830 – 1980. Jubiläumsausstellung zur Entstehungs- und Baugeschichte. Katalog, hg. von Klaus Vierneisel und Gottlieb Leinz, München 1980, S. 356. Weitere Detailinformationen gibt Giuliani in seinem Aufsatz (ebd., S. 304 – 305). 39 Nicht nur die zweidimensionale Reproduktion führt zu Vergröberungen. Hinzu kommt, daß viele der Kupferstiche, die als potentielle Vorlagen für Winckelmann in Betracht zu ziehen sind, die Mimik Laokoons sehr abgemildert darstellen. Die für Winckelmann maßgebliche Vorlage konnte bislang nicht identifiziert werden. Mehrere konkrete Möglichkeiten nennt Giuliani (S. 306). 40 Winckelmann: ebd., S. 15.

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der seinen eigenen ästhetischen Prinzipien entsprach.41 Erst mit der viel ausführlicheren Laokoon-Darstellung in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764, die auf der präzisen und zugleich empathischen Wahrnehmung des Originals im Belvedere in Rom basiert, rückte er ein Stück weit von der stoischen Interpretation der Frühschrift ab.42 41 Giuliani weist darauf hin, daß die Vatikanische Antikensammlung über Jahrzehnte hinter einem Holzverschlag untergebracht und nur mit Sondergenehmigung zu besichtigen war (ebd., S. 305, 312). 42 Der Aussage in der Abhandlung Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, in der Winckelmann den Gesichtsausdruck „Laocoons […] bey dem heftigsten Leiden“ beschreibt (S. 30), entspricht zwar seine Darstellung in der Geschichte der Kunst des Alterthums: „Laocoon ist eine Natur im höchsten Schmerze“ (S. 190). Hier folgt dann aber – im Unterschied zum Frühwerk – eine sehr differenzierte Darstellung seiner Mimik und Haltung, in der Winckelmann den „Streit zwischen Schmerz und Widerstand“ (S. 191) herauszuarbeiten versucht: „indem sein Leiden die Muskeln aufschwellet, und die Nerven anziehet, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebenen Stirne hervor […].“ Und nach einer Deutung, die das Mitleid Laokoons mit seinen Kindern betont, fährt Winckelmann mit einer Beschreibung der Mimik fort: „Der Mund ist voll von Wehmuth, und die gesenkte Unterlippe schwer von derselben; in der überwerts gezogenen Oberlippe aber ist dieselbe mit Schmerz vermischet, welcher mit einer Regung von Unmuth, wie über ein unverdientes unwürdiges Leiden, in die Nase hinauftritt […]. Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz und Widerstand, wie in einem Punkte vereiniget, mit großer Weisheit gebildet: denn indem der Schmerz die Augenbra[u]nen in die Höhe treibet, so drücket das Sträuben wider denselben das obere Augenfleisch niederwerts, und gegen das obere Augenlied zu, so daß dasselbe durch das übergetretene Fleisch beynahe ganz bedeckt wird. Die Natur, welche der Künstler nicht verschönern konnte, hat er ausgewickelter, angestrengeter und mächtiger zu zeigen gesuchet: da, wohin der größte Schmerz geleget ist, zeiget sich auch die größte Schönheit“ (S. 190 – 191). Wie in der Erstlingsschrift von 1755 spricht Winckelmann Laokoon hier eine „bewußte Stärke des Geistes“ zu; allerdings differieren die Aussagen über das Leiden: In der Geschichte der Kunst des Alterthums beschreibt er den Schmerz des Laokoon mit großer Prägnanz, während er neun Jahre früher noch formuliert hatte: „dieser Schmertz […] äussert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte“ (S. 30). Ja, er spielt sogar auf das stoische Ideal der ,tranquillitas animi‘ an, wenn er 1755 über die dynamisch-spannungsreiche Körperhaltung der Figuren schreibt: „Im Laocoon würde der Schmertz, allein gebildet, Parenthyrsos gewesen seyn; der Künstler gab ihm daher […] eine Action, die dem Stand der Ruhe in solchem Schmertz der [sic!] nächste war“ (S. 32). – So sehr sich die spätere Perspektive von der früheren unterscheidet: eine explizite Revision der auf fragwürdiger Basis entstandenen, aber berühmt gewordenen Laokoon-Interpretation von 1755 hat Winckelmann auch später nie vollzogen.

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In auffälliger Weise divergieren Winckelmanns Wertungskriterien in der Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764. Zwar vertritt er im zentralen, systematischen Teil dieses Werks die klassizistische Überzeugung, künstlerischer Ausdruck und Schönheit seien inkompatibel, weil forcierte Expressivität die ästhetische Qualität eines Kunstwerks in Frage stelle; dem vollendeten Werk komme die Funktion zu, die Gegenpole in harmonischer Balance zu vermitteln. Aber im konkreteren Kontext seiner Laokoon-Deutung formuliert er im selben Werk dann eine konträre These: „Die Natur, welche der Künstler nicht verschönern konnte, hat er ausgewickelter, angestrengeter und mächtiger zu zeigen gesuchet: da, wohin der größte Schmerz geleget ist, zeiget sich auch die größte Schönheit.“43 Diese auffällige Modifikation der zuvor noch klassizistisch-rigiden Wertungsmaßstäbe ist vermutlich ein Resultat ästhetischer Sensibilisierung durch die Wahrnehmung der originalen Laokoon-Skulptur. Dafür spricht auch die besondere Präzision und Anschaulichkeit der späteren Beschreibung. Das klassizistische Ideal des Maßes, das Winckelmann dazu veranlaßte, eine Polarität von Schönheit und Ausdruck vorauszusetzen, wird relativiert, wenn er gerade das Maximum des Schmerzes auch als Zenit der Schönheit betrachtet. Die Prämissen seiner ästhetischen Theorie suspendiert er nun offenbar aufgrund genauerer Wahrnehmung des konkreten Werkes. In der Folgezeit schärfte die neuartige Prägnanz von Winckelmanns Kunstdarstellung den Blick für Nuancen des Ausdrucks, so daß die Leser den Widerspruch zwischen Winckelmanns Laokoon-Darstellung und dem konkreten Kunstwerk diagnostizieren konnten.44 Wilhelm Heinse etwa wendet sich entschieden gegen eine durch klassizistischen Dogmatismus verfälschte Beschreibung der Laokoon-Skulptur, indem er geistreich-respektlos gegen das Votum der zeitgenössischen Kunstautoritäten polemisiert: „Ich weiß nicht, ob die Gruppe Laokoons wirklich so schön ist, als man sie macht; mir kömmt sie immer je mehr und mehr ich sie betrachte gekünstelt vor, und wie eine Tanzmeisterstellung, als ob die Schlangen abgerichtet wären, die eine oben herein durch die Arme, und die andere zwischen den Beinen hinauf zu fahren, und den Vater mit den zwey Söhnchen zu einem marmornen Sonnenfächer gleichsam zu flechten; und damit er einen Stil hat, so muß 43 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, S. 191. Vgl. dazu Giuliani (ebd.), S. 308 – 309. 44 Vgl. Giuliani: ebd., S. 315 – 316.

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der Papa auf dem Altar sitzen. Im Gesichte kan ich die Erhabenheit auch noch nicht so überschwenglich finden; und in den Gesichtern der zwey Buben ist ohne dieß Grimaße, und keine wahre Natur.“45 Auch die expressive Beschreibung der Skulptur, die Aloys Hirt in seinem Laokoon-Aufsatz präsentiert, beruht auf präziser Beobachtung. Seine Beurteilungskriterien verraten Distanz zum klassizistischen Dogmatismus: „Was die Alten unter Vollkommenheit oder Schönheit der Kunst verstanden, [war] nichts anders […] als Karakteristik“.46 Hirt räumt dem Individuell-Charakteristischen den Primat vor einem traditionellen normativen Ideal der Schönheit ein. Goethe reagiert in seiner Abhandlung ber Laokoon, die 1798 in den Propylen erschien, zunächst zustimmend auf Hirts Laokoon-Aufsatz. Allerdings insistiert er auf dem Konzept des Maßes, das er auch für die Laokoon-Skulptur nach wie vor als gültig ansieht. Dabei kodiert er den Begriff des Maßes um, indem er ihn nicht inhaltlich, sondern formal versteht: nicht als Mäßigung der Expressivität, sondern im Sinne der ,Kunstgesetze‘ „Ordnung, Faßlichkeit, Symmetrie, Gegenstellung etc.“, die dem Werk trotz aller Dynamik „eine gewisse Ruhe und Einheit“ verleihen.47 Auf diese Weise kann selbst „der höchste pathetische Ausdruck“, „das Extrem eines physischen und geistigen Leidens“, mit „Maß“ dargestellt werden.48 Und so attestiert Goethe „der bewegten herrlichen Gruppe des Laokoon“ explizit, sie sei „ein Muster […] von Symmetrie und Mannigfaltigkeit, von Ruhe und Bewegung, von Gegensätzen und Stufengängen“.49 45 Wilhelm Heinse: Smtliche Werke, hg. von Carl Schüddekopf, Leipzig 1903 – 1910. Bd. 8,1: S. 536. Zur Laokoon-Deutung Heinses vgl. Osterkamp (Anm. 1). 46 Hirt: ebd., S. 23. Hirt versucht die Gegensätze zu vermitteln, indem er den Wahrheitsbegriff als Bindeglied exponiert: „Wahrheit, als das erste Requisitum der Karakteristik, muß also in jedem Kunstwerk herrschen. Sie bleibt und ist das Grundgesetz des Schönen, wie des Guten“ (ebd., S. 23 f.). 47 Goethes Abhandlung ber Laokoon zitiere ich nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden [=HA], hg. v. Erich Trunz. Bd. 12: Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen, 12. Aufl. München 1994, S. 56 – 66, hier S. 57. – Giuliani sieht Goethes Konzept durch ästhetische Theorien beeinflußt, die Kant in seiner Kritik der Urteilskraft entwirft (vgl. ebd., S. 319). 48 Goethe: ebd., S. 62, 57. 49 Goethe: ebd., S. 59, 58. Zu Goethes kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit der Tradition der Laokoon-Deutung vgl. den differenzierten Aufsatz von Inka Mülder-Bach: Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Goethes Aufsatz „ber Lao-

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Schiller lobt an Goethes Aufsatz ber Laokoon „eine bewunderungswürdige Klarheit“.50 In seiner eigenen Abhandlung ber das Pathetische zitiert er allerdings ausführlich Winckelmanns Laokoon-Darstellung aus der Geschichte der Kunst des Alterthums. 51 Denn hier sieht Schiller sein eigenes ästhetisches Konzept bestätigt: den „Kampf der Intelligenz mit dem Leiden der sinnlichen Natur“, die Opposition von „Naturzwang und Vernunftfreiheit“.52 Deshalb betrachtet er die Laokoon-Skulptur als willkommenen Anlaß, um „den Begriff des Pathetischen daraus zu entwickeln.“53 Das charakteristische Spannungsverhältnis beschreibt Schiller folgendermaßen: Einerseits erkennt der Mensch die destruktive und „mächtige Naturkraft“ aufgrund des „schwachen Widerstehungsvermögen[s]“ seiner Physis „als furchtbar“, andererseits aber vermag er sich der „absolute[n] Unabhängigkeit“ seines Willens „von jedem Natureinfluß“ bewußt zu werden54, so daß „sich die Selbständigkeit des Geistes im Zustand des Leidens offenbaren“ kann.55 Die Laokoon-Skulptur betrachtet Schiller als Prototyp eines pathetisch-erhabenen Kunstwerks. Denn in ihr manifestieren sich seines Erachtens „die beiden Fundamentalgesetze aller tragischen Kunst“: die „Darstellung der leidenden Natur“ und die „Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden“.56 Das stoische Programm der Affektbesiegung, das Winckelmann schon 1755 in seiner Laokoon-Darstellung propagiert, steigert Schiller über die ästhetische Dimension und deren Vermittlung mit ethischen Kategorien hinaus zu einem anthropologischen Konzept: Das aufklärerische Vernunftpostulat und die idealistische Freiheitsvorstellung verbindet er mit dem Anspruch auf eine Selbstbestimmung des Menschen. Im Vergleich zu Winckelmanns Frühschrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst

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koon“, in: Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, hg. von Inge Baxmann, Michael Franz und Wolfgang Schäffner in Zusammenarbeit mit Bernhard Siegert und Robert Stockhammer, Berlin 2000, S. 465 – 479. So Schiller am 10. Juli 1797 in einem Brief an Goethe (HA 12: S. 596). Schillers ästhetische Schriften zitiere ich nach der Frankfurter Ausgabe: Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwçlf Bnden, hg. von Otto Dann u. a., Frankfurt a.M. 1988 – 2004. Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, S. 434 – 435. Schiller: ebd., S. 435. Schiller: ebd., S. 436. Schiller: ebd., S. 436. Schiller: ebd., S. 440. Schiller: ebd., S. 422, 426.

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transformiert Schiller das stoische Substrat in ein von größerer Dynamik bestimmtes Konzept, wenn er das Gefühl des Pathetisch-Erhabenen aus einem Kampf um die „Autonomie unserer Willensbestimmungen“ hervorgehen sieht.57 Dem Dramatiker Schiller lag daran, die konfliktbedingte Spannung zu radikalisieren, während Winckelmann aufgrund seines klassizistischen Harmonieideals die Affekte in der Frühschrift noch abzumildern versuchte. Bei der Laokoon-Beschreibung in der Geschichte der Kunst des Alterthums allerdings kontrastiert Winckelmann den physischen Ausdruck des Leidens selbst bereits mit der „bewußte[n] Stärke des Geistes“.58 Daß Schiller gerade diese Partie zitiert, ist konsequent. Denn hier zeichnet sich die Affinität zu seiner eigenen Ästhetik des Pathetisch-Erhabenen besonders deutlich ab. In der Anfangspartie seiner Schrift ber das Pathetische formuliert Schiller programmatisch seine Leitvorstellung: „Das Sinnenwesen muß tief und heftig leiden; Pathos muß da sein, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kund tun und sich handelnd darstellen könne“.59 Hier rekurriert er auf die auch von den Stoikern betonte Bedeutung der Rationalität. Sie ermöglicht ein Ethos der Autarkie, mit dem sich Leidenserfahrungen bewältigen lassen. Wie entschieden Schiller sein Konzept des Erhabenen und Pathetischen mit dem stoischen Ideal ,fortunae resistere‘ verbindet, zeigt schon das Postulat einer „Seelenstärke“, die zum Widerstand gegen das Schicksal befähigt. Sie entspricht der stoischen „firmitas animi“.60 In diesem Kontext findet sich sogar eine explizite Seneca-Reminiszenz: Im Rahmen seiner Darlegungen zum Pathetisch-Erhabenen schreibt Schiller: „Ein tapfrer Geist, im

57 Schiller: ebd., S. 437. Vgl. auch die anthropologische Definition in Schillers Schrift ber das Erhabene: „der Mensch ist das Wesen, welches will“ (ebd., S. 822). Zu Schillers stoischem Ethos vgl. meinen Aufsatz im vorliegenden Sammelwerk. 58 Vgl. dazu den Beleg in Anmerkung 42. 59 Schiller: ebd., S. 423. 60 Vgl. z. B. Seneca: Epist. 67,14. Hier betont Seneca die Herausforderung des Menschen durch Angriffe des Schicksals, die ihm Gelegenheit geben, die Festigkeit seiner Seele zu erproben („firmitatem animi tui temptes“). Im Vergleich dazu erscheint ihm ein sorgenfreies Leben wie ein totes Meer („Demetrius […] vitam securam et sine ullis fortunae incursionibus mare mortuum vocat“). Laut Epist. 63,1 gelingt Seelenstärke dem, der sich schon weit über das Schicksal erhoben hat („sed cui ista firmitas animi continget nisi iam multum supra fortunam elato?“)

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Kampf mit der Widerwärtigkeit, sagt Seneka [sic], ist ein anziehendes Schauspiel selbst für die Götter.“61

61 Schiller: ebd., S. 440. Schiller rekurriert hier auf Senecas Schrift De providentia II,8. Der Kommentar der Frankfurter Schiller-Ausgabe (Bd. 8: S. 1366) bietet eine falsche Titel- und Stellenangabe: De divina providentia II,9.

Cato als Repräsentant stoisch formierten Republikanertums von der Antike bis zur Französischen Revolution von Barbara Beßlich Marcus Porcius Cato Uticensis (95 – 46 v. Chr.) war als römischer Feldherr und Staatsmann der hartnäckigste Gegner Caesars in der Endphase der römischen Republik. Der Urenkel Catos des Älteren kämpfte unermüdlich für das Senatsregiment, die Optimatenpartei und den Erhalt der Republik. Er galt seiner Zeit als Endgestalt, die in vorbildhafter Weise römische Tugendtraditionen hütete und das Leben nach der Lehre der Stoa gestaltete. Sein Freitod in Utica – nachdem Cäsar 46 v. Chr. die Schlacht von Thapsus gewonnen hatte – spaltete das Urteil der Nachwelt einerseits in Bewunderer, die in Cato den Inbegriff altrömischer Tugenden, heroisch republikanischen Widerstands und stoischer Ideale sahen, und andererseits in Kritiker, die seine Vehemenz als Halsstarrigkeit, seine Ideale als anachronistisch und seinen Selbstmord als nicht gerechtfertigt interpretierten. Der Historiker Theodor Mommsen nannte den jüngeren Cato dementsprechend einen „Don Quichotte der römischen Aristokratie“.1 Cato als großer Verlierer der Geschichte verkörperte altrömische Sittenstrenge, Wahrheits- und Freiheitsliebe: Trotz oder gerade wegen seines Scheiterns zu Lebzeiten wurde er posthum zum Sinnbild stoisch formierten Republikanertums. Cato Uticensis hatte früh Kontakt zu den Stoikern Antipatros von Tyros und zu Athenodoros von Kordylion, den er überzeugen konnte, mit ihm nach Rom zu kommen. Als Quaestor (65/64 v. Chr.) war Cato höchst korrekt, als Volkstribun kämpfte er gegen die Korruption, und als Senator vertrat er während der Catilinarischen Verschwörung mit Verve die Anklage und forderte rhetorisch imposant und erfolgreich 63 v. Chr. die Todesstrafe für Catilina.2 Als Dauerredner und Störfaktor 1 2

Theodor Mommsen: Rçmische Geschichte. Leipzig 61875, Bd. 3, S. 167. Zur Biographie Catos vgl. Rudolf Fehrle: Cato Uticensis. Darmstadt 1983. Matthias Gelzer: Cato Uticensis, in: Ders.: Kleine Schriften. Wiesbaden 1963, Bd. 2, S. 257 – 285. Elke Stein-Hölkeskamp: Marcus Porcius Cato. Der stoische

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gegenüber dem Triumvirat gefürchtet, wurde Cato 58 v. Chr. als Quaestor pro Praetore nach Zypern gesandt, damit er nicht mehr in Rom gegen Caesar agieren konnte. Cato unterwarf Zypern erfolgreich und kehrte nach Rom zurück, wo sich sein Widerstand gegen Caesar und Pompeius immer mehr verschärfte. Erst in der Situation des drohenden Bürgerkriegs unterstützte Cato Pompeius gegen Cäsar. Cato war zuständig für Truppenaushebungen in Sizilien, hielt in einer Schlacht 48 v. Chr. für Pompeius gegen Caesar Dyrrhachion, bevor Pompeius bei der Schlacht von Pharsalos geschlagen wurde. Nach Pompeius’ Tod zog sich Cato nach Afrika zurück und organisierte dort als Kommandant von Utica, nachdem er bei der Führung der Provinz freiwillig hinter Caecilius Metellus Pius Scipio zurückgetreten war, die militärisch-republikanische Front gegen Caesar. Als Scipio in der Schlacht bei Thapsos (von der Cato abgeraten hatte) am 6.4. 46 v. Chr. gegen Caesar verlor, sicherte Cato den Abzug der Senatoren aus Utica und ermöglichte den Bügern von Utica, sofern sie dies wünschten, die Stadt zu verlassen, bevor Caesar sie einnahm. Die Hoffnung auf einen erfolgreichen militärischen Widerstand gegen Caesar hatte sich zerschlagen; das Angebot, bei Caesar um Fürsprache zu bitten, lehnte Cato ab. Flucht und Exil kamen gleichfalls nicht für ihn in Frage. Plutarch berichtet ausführlich von Catos letztem Abend, an dem er Platons Phaidon gelesen, nach seinem Schwert verlangt und schließlich nach einem kurzen Schlaf den Entschluß zum Selbstmord ausgeführt habe. Nachdem er allein war, zog er das Schwert und stieß es sich unter der Brust in den Leib. Da er jedoch mit der geschwollenen Hand nicht stark genug hatte zustoßen können, verschied er nicht sogleich, sondern fiel mit dem Tode ringend vom Bette. […] Alsbald stürzte der Sohn mit den Freunden herein. Sie fanden ihn in seinem Blute liegen, die Eingeweide hingen ihm größtenteils zum Leibe heraus, aber er lebte noch und hatte die Augen offen. Alle waren gelähmt vor Entsetzen, der Arzt jedoch trat an ihn heran und versuchte, die Eingeweide, welche unverletzt geblieben waren, wieder an ihren Ort zu bringen und die Wunde zuzunähen. Da kehrte Cato, der sich ein wenig erholt hatte, das Bewußtsein zurück, er stieß den Arzt von sich, griff mit den Händen in die Wunde, zerriß die Eingeweide und starb.3

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Streiter fr die verlorene Republik, in: Von Romulus zu Augustus. Große Gestalten der rçmischen Republik, hg. v. Karl-Joachim Hölkeskamp u. Elke Stein-Hölkeskamp, München 2000, S. 292 – 306. Plutarch: Cato minor, 70. (Plutarch: Große Griechen und Rçmer, eingleitet und übersetzt von Konrat Ziegler. Bd. IV. Zürich 1957, S. 432.)

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Dieser von Plutarch detailliert und drastisch beschriebene Selbstmord bildet immer wieder den Ausgangspunkt, um Catos Handeln als Stoiker und Politiker zu reflektieren. Catos Freitod war politisch ein Protest gegen Caesar und demonstrierte philosophisch den freien Willen, sich im Tod seine Tugend zu bewahren. Ob Catos stoischer Kampf für die verlorene Republik und sein Freitod eher als heroisch-idealistisches Fanal oder als politische Kurzsichtigkeit zu interpretieren ist, blieb in Antike und Neuzeit umstritten. Wenn auch kaum jemand umhin kam, Cato Selbstbeherrschung, Tatkraft, Fleiß und Zuverlässigkeit zu attestieren, so fallen doch auch schon zu Lebzeiten Catos die Hinweise auf, die seine Festigkeit als Starrsinn, seinen Idealismus als rückwärtsgewandte Weltfremdheit werteten.4 Mag Catos Aufbegehren gegen den Untergang der Republik auch kurzfristig erfolglos gewesen sein, so schrieb sich langfristig jedoch die Erinnerung an Catos Widerstand so intensiv in das kulturelle Gedächtnis des römischen Imperiums ein, daß sie auch politische Folgen zeitigte, wenn etwa Augustus den Prinzipat als Wiederherstellung der Republik inszenierte.5 Als pater patriae gepriesen, wurde Cato die gesamte römischen Antike hindurch nachdrücklich erinnert. Philosophisch wurde Cato für die späte Stoa zu einer Symbolfigur, die demonstrierte, daß die stoische Lehre eine vita activa meinen konnte, die selbst im Falle der politischen Aussichtslosigkeit Ausharren und Protest gestattet.6 Gravitas, Severitas und Constantia sind die Begriffe, die Cato immer wieder zugeordnet werden. – Im folgenden soll knapp skizziert werden, wie sich der stoische Cato-Mythos in der antiken Literatur formiert,7 um daran anschließend das Fortleben 4 5 6 7

Vgl. etwa Cicero: Ad Atticum 2, 1, 8, auf den weiter unten (wie Anm. 10) genauer eingegangen wird. Ähnlich bereits Cicero: Pro Murena 61. Vgl. auch Matthias Gelzer (wie Anm. 2), S. 285, der die Mobilisierung gegen Cäsar vor allem dem Nachwirken von Catos Widerstand zuschreibt: „Hinter dem erdolchten Cäsar reckte sich Catos mächtiger Schatten“. Vgl. Hermann Tränkle: Cato von Utica und der Tugendwandel in der rçmischen Stoa, in: Ethische Perspektiven. Wandel der Tugenden, hg. v. Hans-Jürg Braun. Zürich 1989, S. 47 – 59. Vgl. hierzu Robert J. Goar: The Legend of Cato Uticensis from the First Century B. C. to the fifth Century A. D.. With an Appendix on Dante and Cato. Brüssel 1987. Goar kann in vielem anknüpfen an Wilhelm Hemmen: Das Bild des M. Porcius Cato in der antiken Literatur, Diss.masch. Göttingen 1954. Eine Stellensammlung bietet die lateinische Dissertation von Bernhard Busch: De M. Porcio Catone Uticensi quid antiqui scriptores aequales et posteriores censuerint. Münster 1911. Vgl. auch Piero Pecchiura: La figura di Catone Uticense nella letteratura latina. Torino 1965.

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Catos in der Literatur der Neuzeit beschreiben zu können. Dabei konzentriert sich die Darstellung auf das Cato-Bild der Aufklärung, denn innerhalb der Dramatik des 18. Jahrhunderts wird Cato erneut zu einer Gestalt, mit der sich neostoizistische Tugendideale und politische Konstellationen diskutieren lassen.

I Zu Lebzeiten Catos sind die Äußerungen Ciceros, Caesars und Sallusts von zentraler Bedeutung. Ciceros Rede Pro Murena aus dem Jahr 63 v. Chr. bietet die früheste erhaltene Charakteristik Catos. Cato war selbst als Ankläger gegen den designierten Konsul L. Licinius Murena aufgetreten, also mußte Cicero in seiner Verteidigungsrede gegen Cato Stellung beziehen. Cicero satirisiert in seiner Rede vor allem Catos altstoischen Tugendrigorismus als überzogen. Dennoch ist hervorzuheben, daß Cicero Cato auch schon würdigt mit Begriffen wie honestas, gravitas, temperantia und magnitudo animi.8 Damit wird Cato zum Vorbild einer römisch-stoischen Tugend, die sich einer vita activa verschreibt. Cicero erklärt Cato superlativisch zum „gravissimus atque integerissimus vir“.9 Nach Catos Tod verfaßte Cicero sogleich (nicht erhaltene) Laudes Catonis, in denen er sich bemühte, Catos Tugend in einer Weise zu preisen, daß sie auch von politischen Gegnern Catos goutiert werden konnte. Gleichwohl muß betont werden, daß Cicero sehr wohl ein offenes Auge für die Ambivalenz von Catos virtus hatte. In diesem Sinn schrieb Cicero bereits 60 v. Chr. an Atticus: „Gewiß, unseren Cato schätze ich nicht weniger als Du; aber in seiner anständigen Gesinnung und unerschütterlichen Zuverlässigkeit richtet er doch zuweilen in der Politik Unheil an. Er stellt Anträge, als ob er sich in Platons Idealstaat und nicht in Romulus’ Schweinestall befände.“10 Mit einem Begriff Max Webers 8 Cicero: Pro Murena 60. Cicero greift nicht so sehr Cato direkt, sondern die stoische Philosophie als Grundlage von Catos Anklage an. Cicero wirft Cato vor, die weltfremde stoische Philosophie zu energisch auf die Politik angewendet zu haben. Vgl. hierzu Joachim Adamietz: Einleitung, in: Cicero: Pro Murena. Mit einem Kommentar hg. v. Joachim Adamietz. Darmstadt 1989, S. 1 – 39, hier S. 10 f. 9 Cicero: Pro Murena 3. 10 Cicero: Ad Atticum 2, 1, 8: „Nam Catonem nostrum non tu amas plus quam ego; sed tamen ille optimo animo utens et summa fide nocet interdum rei

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erscheint hier bei Cicero Cato als ein ,Gesinnungsethiker‘, dem die idealistischen Intentionen seines Handelns wichtiger sind als dessen Folgen. Cato als ,Gesinnungsethiker‘ ordnet sein Handeln nicht erfolgsorientiert und mit Augenmaß (wie Max Webers ,Verantwortungsethiker‘),11 sondern er stellt den idealistischen Zweck über den erreichbaren Erfolg, und das kann, so Cicero, „zuweilen in der Politik Unheil“ anrichten. Caesar griff in den Streit um das publizistische Nachleben ein und verfaßte gegen Ciceros Pro-Cato-Schrift einen bösen (nicht erhaltenen) Anticato. Sallust stellt in seiner Monographie über die Catilinarische Verschwörung einen ganz politisierten Cato vor, der vor allem als Gegner Caesars erscheint.12 Während Sallust also den Antagonismus von Caesar und Cato politisch auflädt, bemüht sich Cicero nach Catos Tod dagegen, mit Catos Tugenden ein moralisches Programm der Gegner Caesars zu formulieren. Schrittweise löst sich das Cato-Bild von einer konkreten politischen Zuschreibung und der virtus-Begriff wird zunehmend entpolitisiert. Als Vorbild stoisch-sittlicher Vollendung erscheint Cato in Ciceros späteren Schriften. Cato wird schließlich zum perfectissimus Stoicus.13 In augusteischer Zeit ermöglicht dieses Zusammendenken von Cato und stoischer virtus das Fortleben des Mythos unter anderen politischen Bedingungen. Horaz preist Catos Tod als „nobile letum“14 und stilisiert Cato allgemein zum Tugendvorbild für den Prinzipat des Augustus. Vergil hebt Catos iustitia hervor; er sieht in ihm das Urbild der Gerechtigkeit. Cato übt in der Aeneis im Reich der Seligen Herrschaftsfunktionen aus; er „gibt die Rechtsnormen“.15 Valerius Maximus preist

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publicae; dicit enim tamquam in Platonis Politeia, non tamquam in Romuli faece sententiam“ (Übersetzung Helmut Kasten). Max Weber definiert folgendermaßen: „Es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet –: ,der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“ (Max Weber: Politik als Beruf, in: Ders.: Wissenschaft als Beruf, Politik als Beruf, hg. v. Wolfgang J. Mommsen. Tübingen 1992, S. 237 [Gesamtausgabe I, 17]). Vgl. Karl Büchner: Zur Synkrisis Cato-Caesar in Sallusts „Catilina“, in: Grazer Beitrge 5, 1976, S. 37 – 57. Vgl. Cicero: Brutus 118. Horaz: Carmina et epodon liber I 12, 35 – 36. Vgl. Vergil: Aeneis VIII, 670: („his dantem iura Catonem“). Übersetzung im Text von Edith und Gerhard Binder.

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Cato als den sittlich hervorragenden römischen Bürger und feiert ihn als Märtyrer der Freiheit. Catos Taten werden darüber hinaus als Exempla für stoische Tugend in den Rhetorenschulen behandelt.16 Senecas Enthusiasmus formt die Persönlichkeit Catos in neronischer Zeit zum Vorbild stoischer Ausgeglichenheit schlechthin und spricht von „jene[m] Cato, der sittlichen Vollkommenheit lebendiges Ebenbild“.17 Seneca preist Cato als Muster der Standhaftigkeit. Er sieht bei ihm die Festigkeit des Weisen, die die Stoa fordert. Cato habe die Fähigkeit besessen, nicht zu erzürnen oder sich rächen zu wollen; seine Affektbeherrschung gilt als beispielhaft.18 Auch im Umgang mit Materiellem hat Cato für Seneca eine vorbildliche Distanz und Unabhängigkeit bewiesen.19 Senecas De constantia sapientis präsentiert Cato in kulturkritischer Absicht, um eine Gegenfigur gegen Dekadenz, Verweichlichung und Luxus der Gegenwart zu modellieren. Das ist kaum noch politisch, sondern eher sittenkritisch zu verstehen. Seneca kommentiert in mahnender Absicht eine Abstiegsgeschichte. Er vergleicht Cato mit Odysseus und Herkules und weist dem historischen Cato für das gegenwärtige Rom eine ähnliche Vorbildfunktion zu, wie sie die mythologischen Figuren Odysseus und Herkules für die Griechen eingenommen hätten.20 Seneca erklärt Cato zum Helden einer entzauberten Spätzeit: Cato ist für Seneca eben nicht „in ein Zeitalter geraten, in dem man glauben konnte, der Himmel laste auf den Schultern eines einzigen, denn schon war der alte Glaube dahin und die Zeiten zu höchstem Raffinement fortgeschritten“.21 In einer Antimetabole formuliert Seneca die Verflochtenheit von Catos Leben mit dem Ideal der altrömischen libertas, die mit seinem Tod ebenfalls sterbe: „Weder nämlich 16 Vgl. hierzu Rudolf Wehrle (wie Anm. 2), S. 24 – 27. 17 Seneca: De tranquillitate animi XVI, 1: „Cato ille, virtutum viva imago“, (diese und alle weiteren Seneca-Übersetzungen von Manfred Rosenbach). Zum Cato-Bild unter Nero vgl. Walter Wünsch: Das Bild des Cato von Utica in der Literatur der neronischen Zeit. Diss.masch. Marburg 1949. 18 Vgl. Seneca: De ira, liber secundus XXXII, 2 f. 19 Vgl. Seneca: De vita beata XXI, 2 f. Dies ist wohl auch gegen Cäsars Bemühen gerichtet, Cato Gewinnsucht nachzuweisen. Vgl. Plutarch: Cato minor 52. 20 Vgl. Seneca: De constantia sapientis II, 2. Zu Herkules als mythologischer Figur, auf die sich die Stoa immer wieder bezieht, vgl. den Beitrag von Jochen Schmidt im vorliegenden Handbuch. 21 Cato „nec in ea tempora incidit quibus credi posset caelum umeris unius inniti, excussa iam antiqua credulitate et saeculo ad summam perducto sollertiam.“ (De constantia sapientis II, 3)

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lebte Cato nach dem Tode der Freiheit weiter noch die Freiheit nach dem Tode Catos“.22 Cato wird den alltäglichen Maßstäben entrückt und rhetorisch über die Normalvorbilder gesetzt: „Übrigens gerade dieser Cato […] – vielleicht steht er oberhalb unseres Idealbildes.“23 Den Vorwurf, daß Catos Ende zum langweiligen Exemplum in der Rhetorenschule verkommen sei, läßt Seneca nicht gelten und erzählt selbst dagegen noch einmal in den Epistulae morales ausführlich vom letzten Abend Catos.24 Cato bietet für Seneca auch die Möglichkeit, das eigene Schicksal unter Nero historisch versetzt zu spiegeln. Der Untergang der res publica zu Catos Zeiten wird zur Projektionsfläche, um die Makel des Prinzipats zu reflektieren.25 Cato wird bei Seneca einerseits zum Beispiel für den selbstlosen politischen Freiheitskampf, der von der eigenen Person absieht: „Nicht nämlich frage es sich, ob Cato frei, sondern ob er unter Freien sei.“26 Andererseits preist Seneca Cato als den Unwandelbaren, der in unsicheren Zeiten der permanenten Veränderung als einziger sich treu bleibt.27 Catos politische Position in der Auseinandersetzung zwischen Caesar und Pompeius interpretiert Seneca als altruistisch und überparteiisch.28 Seneca setzt ihn nicht nur von Caesar, Pompeius und der aufgebrachten plebs ab, er trennt ihn sogar von der Optimatenpartei ab und identifiziert Catos Position mit der des Staates selbst: „Wenn du im Geiste dir ein Bild von jener Zeit machen willst, wirst du auf der einen Seite das Volk sehen und die ganze auf Revolution erpichte Masse, auf der anderen die Optimaten und den

22 Seneca: De constantia sapientis II, 3: „neque enim Cato post libertatem vixit, nec libertas post Catonem.“ 23 Seneca: De constantia sapientis VII, 1: „ceterum hic ipse M. Cato […] ueror ne supra nostrum exemplar sit.“ 24 Seneca: Epistulae morales 24, 6 – 9. 25 Vgl. hierzu Walter Wünsch (wie Anm. 17), S. 129 f. 26 Seneca: Epistulae morales 95, 71: „Non enim quaeri an liber Cato, sed an inter liberos sit“. 27 „Nemo mutatum Catonem totiens mutata re publica vidit: eundem se in omni statu praestitit, in praetura, in repulsa, in accusatione, in provincia, in contione, in exercitu, in morte.“ („Niemand hat Cato gewandelt gesehen, obwohl der Staat sich so oft gewandelt hat: derselbe war er in jeder Situation, im Amt des Prätors, bei seiner Wahlniederlage, bei der Anklage, in der Provinz, in der Volksversammlung, in der Armee, bei seinem Tode.“) Seneca: Epistulae morales 104, 30. 28 „Solus Cato fecit aliquas et rei publicae partes.“ („Cato allein hat eine andere Partei gebildet, die des Staates“) (Seneca: Epistulae morales 104, 30).

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Ritterstand, also was es immer im Staat an Ehrwürdigem und Erwähltem gab, und zwei allein in der Mitte – den Staat und Cato.“29 Solchermaßen entpolitisiert und über die Parteien gehoben, wird Catos Leben und Sterben zur Tugenddemonstration in schwierigen Zeiten. In De Providentia wird Cato sogar für Jupiter zum Vorbild erklärt (II, 9) und Catos Selbstmord, bei dem erst die zweite Verwundung zum Tod führte, als göttliche Prüfung bewertet.30 Dementsprechend hätten die Götter „cum magno […] gaudio“ Catos letzte Nacht beobachtet.31 Seneca überhöht so Catos Selbstmordentschluß zur gottgewollten Angelegenheit. Nicht trotz, sondern wegen seines Selbstmordes nimmt Cato bei Seneca eine derart vorbildhafte Stellung ein, daß er das Beiwort „sanctus“ erhält.32 Der Selbstmord ist Ausdruck persönlicher Freiheit und demonstriert Catos Unabhängigkeit von äußeren Umständen. Catos Selbstmord wird dem stoischen Autarkiepostulat gemäß interpretiert. Denn wenn ein Weiterleben die virtus hemmen würde, ist dem Stoiker der Selbstmord als Akt der Willensfreiheit gestattet. Der Begriff der libertas ist nicht mehr so sehr politisch, sondern existentiell persönlich konzipiert als Freiheit, über das eigene Leben und Sterben zu gebieten. Bei Seneca hat Cato einen Ausweg gefunden; „mit einer Hand wird er der Freiheit einen breiten Weg bahnen. Dieses Schwert, auch im Bürgerkrieg rein und ohne Schuld geblieben, wird endlich 29 Seneca: Epistulae morales 104, 31: „Si animo complecti volueris illius imaginem temporis, videbis illinc plebem et omnem erectum ad res novas vulgum, hinc optumates et equestrem ordinem, quicquid erat in civitate sancti et electi, duos in medio relictos, rem publicam et Catonem.“ 30 Vgl. Seneca: De Providentia II, 12: „Deshalb, glaube ich, war zu wenig genau und wirksam die Verwundung: nicht war es den unsterblichen Göttern genug, ein einziges Mal Cato zu sehen; zurückgehalten und zurückgerufen wurde seine Tapferkeit, um sich in noch schwierigerer Lage zu bewähren: nicht nämlich sucht man beim ersten Versuch den Tod mit solchem Mut wie beim zweiten. Warum sollten die Götter nicht gerne sehen, wie ihr Zögling ein so leuchtendes und denkwürdiges Ende nahm? Der Tod weiht jene, deren Ende auch die rühmen, die es fürchten.“ („Inde crediderim fuisse parum certum et efficax vulnus: non fuit diis immortabilis satis spectare Catonem semel; retenta ac revocata virtus est, ut in difficiliore parte ostenderet: non enim tam magno animo initur quam repititur. Quidni libenter spectarent alumnum suum tam claro ac memorabili exitu evadentem? Mors illos consecrat, quorum exitum et qui timent laudant.“) 31 Seneca: De Providentia II, 11. 32 Vgl. Seneca: Ad Marciam de consolatione XXII, 2; dort nennt Seneca einen Verstorbenen „non […] sanctior quam Cato“.

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einen guten und edlen Dienst leisten: Freiheit, die es dem Vaterland nicht geben konnte, wird es Cato geben.“33 Senecas Neffe Lucan beschreibt in der Pharsalia Cato als Verkörperung unbeugsamen Widerstands auf verlorenem Posten. Mit dem Satz, „Der Sieger hatte die Götter auf seiner Seite, doch der Verlierer einen Cato“34, degradiert Lucan in seinem Epos die Götter zur Partei, der Cato gleichberechtigt gegenübersteht. Bei Lucan verkörpert Cato virtus, während Caesar mit fortuna assoziiert wird. Während Seneca Catos Wesen als mehr von stoischer virtus als von konkreten (partei-)politischen Absichten geprägt vorstellte, erscheint Cato bei Lucan wieder deutlich politisch konturiert. Cato hält nicht nur stoisch stand, er ist ein politischer Mann der vita activa. Bei Lucan handelt Cato so selbstbestimmt, daß er nicht mehr Orakel befragen muß.35 Im neunten Buch der Pharsalia erscheint Cato sowohl als ein perfekter stoischer Weiser als auch als ein römischer Republikaner. Lucan fordert seine römischen Leser auf, Cato als wahren pater patriae zu vergöttlichen. Im prophetischen Ton verkündet Lucan: „Hier hast du, Rom, den echten Vater des Vaterlands, den Mann, der eines Heiligtums in deinen Mauern wie kein anderer wert ist, bei dem zu schwören nie als schmählich gelten wird und den du, wenn du je – in meinen Tagen oder später – mit befreitem Nacken aufrecht stehst, zum Gott erheben wirst.“36 Eine solche Aufforderung zur Vergöttlichung stoischen Republikanertums war deutlich als politische, als eine antineronische Aussage zu verstehen. Petronius’ Darstellung des Bürgerkriegs versucht, Lucans Heroisierung Catos wieder zu relativieren, und auch Martial distanziert sich von dem stereotyp gewordenen Tugendhelden.37 Plutarchs Cato-Biographie, welche die einzig überlieferte zusammenhängende Lebensbeschreibung Catos während der Antike darstellt, betont Catos Ansehen und seine Wirkung auf die Umgebung. Gleichwohl erscheint hier Cato auch als dickköpfig, schrullig und schwerhörig. Catos Selbstmord je33 Seneca: De Providentia II, 10: „Cato qua exeat habet; una manu latam libertati viam faciet. Ferrum istud, etiam civili bello purum et innoxium, bonas tandem ac nobiles edet operas: libertatem, quam patriae non potuit, Catoni dabit.“ 34 Lucan: Bellum Civile I, 128: „Victrix causa deis placuit, sed victa Catoni“ (Lucan-Übersetzungen von Wilhelm Ehlers). 35 Vgl. Lucan: Bellum Civile IX, 573 – 584. 36 Vgl. Lucan: Bellum Civile IX, 601 – 604: „Ecce parens verus patriae, dignissimus aris, / Roma, tuis, per quem numquam iurare pudebit, / Et quem, si steteris umquam cervice soluta, / Nunc, olim, factura deum es.“ 37 Vgl. hierzu Robert J. Goar (wie Anm. 7), S. 61 ff.

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doch wird als philosophische und auch als politische Tat gewürdigt. Indem Cato sich tötet, bewahrt er die eigene moralische Integrität und protestiert zugleich gegen Caesar. Plutarch schildert Catos Selbstmord als rationale und eigenbestimmte Entscheidung, das Gegenteil einer Verzweiflungstat. Auch die Versuche seiner Umgebung, ihn vom Selbstmord abzubringen, zeigen keine Wirkung, ein weiteres Zeugnis von Catos constantia.38 Cassius Dio wiederum demonstriert, wie man zugleich die Monarchie bejahen und Cato Bewunderung zollen kann, ein Beweis, daß der stoische Tugendheld argumentativ vom Republikanismus abgetrennt werden konnte. Während Cato als stoischer Tugendheld durchaus (über Seneca vermittelt) bei den christlichen Schriftstellern der Spätantike positiv in Bildungsreminiszenzen aufgerufen wird, kritisieren die Kirchenväter seinen Selbstmord. So ist Cato hier zugleich Exemplum für severitas (seiner Tugend wegen) und superbia (seines Freitods wegen). Catos strenges Ethos der Pflicht und des Rechts ließ sich in die christliche Lehre integrieren, die Autarkie gegenüber dem eigenen Leben hingegen nicht. Tertullian kritisiert darüber hinaus Catos Streben nach Ruhm (gloria), verwechselt dabei allerdings den jüngeren mit dem älteren Cato. Lactantius verurteilt Cato besonders scharf und bewertet in den Divinae Institutiones den Selbstmord Catos als eitles Sokrates-Imitat. Während für Seneca der Selbstmord Catos Zeichen seiner Patientia war, denn Cato ertrug seinen qualvollen Tod vorbildlich, wird der Selbstmord bei den Kirchenvätern zum Mangel an Patientia, denn Cato ertrug es nicht, unter Caesars Herrschaft weiter zu leben. Auch Augustinus setzt sich in De civitate Dei ausführlich mit Catos Selbstmord auseinander. Augustinus gesteht zu, daß Cato als „hochgebildet und rechtschaffen“39 gilt, gibt aber nicht der Folgerung recht, daß daher „was er [i.e. Cato] tat, richtig gewesen“ sei oder sein könne.40 Cato habe wohlmeinende und kompetente Beratung von Freunden in dieser existentiellen Entscheidungssituation gehabt und dennoch sich falsch entschieden. Augustinus kritisiert vor allem, daß Cato nicht für sich und seinen Sohn gleiche Maßstäbe gelten läßt: Während Cato das 38 Vgl. Plutarch: Cato minor 67 – 71. 39 „doctus et probus“, vgl. Augustinus: De Civitate Dei I, 23 (Übersetzung von Wilhelm Thimme). 40 Augustinus: De Civitate Dei I, 23 („non quia solus id fecit, sed quia vir doctus et probus habebatur, ut merito putetur etiam recte fieri potuisse vel posse quod fecit“).

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Leben seines Sohnes Caesars Gnade anvertraute, wählte er für sich den Selbstmord. Augustinus folgert daraus, daß Cato Caesar „den Ruhm [der Begnadigung] mißgönnte, oder daß er, um mich milder auszudrücken, sich dessen schämte“.41 Daß Cato gegen Caesar militärisch verloren hat, macht Augustinus darüber hinaus zum Argument, um Regulus über Cato zu stellen, da Regulus zumindest einmal siegreich gegenüber den Puniern gewesen sei, bevor er von ihnen geschlagen wurde.42 Im Mittelalter galt Cato weiterhin als entschlossener Verteidiger der römischen Freiheit gegen den Tyrannen Caesar. In Dantes Divina Commedia erscheint Cato dann als Wächter des Läuterungsbergs. Trotz seines Selbstmords muß Cato nicht als Verdammter in einem der Höllenkreise darben. Dante holt Cato aus dem Limbus der edlen Heiden und erhebt ihn zum Wächter über das gesamte Purgatorium; Cato selbst steht im Vorpurgatorium. Damit kompensiert Catos stoische Freiheitsliebe für Dante in gewisser Weise den christlich verurteilten Selbstmord. Cato ist bei Dante eine Grenzfigur, die das Purgatorium abschirmt. Dante kann hier an Vergils Aeneis anknüpfen, die Cato zum Richter der Seligen in der Unterwelt erhoben hatte.43 Im ersten Gesang des Purgatorio treffen die Figuren Dante und Vergil am Fuße des Läuterungsberges auf Cato, der bei der Höllenfahrt Christi erlöst wurde, weil er ein Vorbild römischer Tugend war. Dante und Vergil bitten um Durchlaß, die ihnen von Cato gewährt wird. Die Gestalt des greisen Cato wird von Dante respektvoll beschrieben; sie scheint „wert, mit solcher Ehrfurcht anzuschauen, / Wie jeder Sohn sie seinem Vater schuldet“.44 Vergil signalisiert Dante, gegenüber dem streng und würdevoll sprechenden Purgatoriumswächter Cato „Knie und Stirn in Ehrfurcht [zu] beugen“.45 Vergil erläutert Cato Dantes Absichten und 41 Augustinus: De Civitate Dei I, 23 („quid ergo, nisi quod filium quantum amavit, cui parci a Caesare et speravit et voluit, tantum gloriae ipsius Caesaris, ne ab illo etiam sibi parceretur, ut ipse Caesar dixisse fertur, invidit, ut aliquid nos mitius dicamus, erubuit?“) 42 Augustinus: De Civitate Dei I, 24. 43 Vergil: Aeneis VIII, 670. 44 Dante: Die gçttliche Komçdie, übersetzt von Hermann Gmelin, Anmerkungen von Rudolf Baehr, Nachwort von Manfred Hardt. Stuttgart 2001, S. 138: Der Läuterungsberg, 1, 32 f. („degno di tanta reveranza in vista, che più non dèe a padre alcun figliuolo.“) 45 Dante : Die gçttliche Komçdie (wie Anm. 44), S.138: Der Läuterungsberg 1, 51. („reverenti mi fè le gambe e ’l ciglio.“)

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bezieht Dantes Schicksal mit dem Begriff der Freiheitssuche auf das Leben Catos: „Die Freiheit will er [i.e. Dante] suchen, die so teuer / Wie der wohl weiß, der ihr sein Leben opfert. / Du weißt es, denn für sie war dir nicht bitter / In Utica der Tod, wo du gelassen / Das Kleid, das einst am Jüngsten Tag erstrahlet“.46 Cato erlangt hier christliche Heilsgewißheit, am jüngsten Tag leiblich aufzuerstehen. Ausgesprochen wird dies von Vergil, der bei Dante von der Erlösung ausgeschlossen bleibt. Dantes Cato ist ein christianisierter, ein heiliger Mann, ein Märtyrer der Freiheit; und er verfügt in vorbildlicher Weise über die Kardinaltugenden der Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit und der Tapferkeit.

II In neostoizistischen Zusammenhängen wird Catos Leben und Sterben seit dem 16. Jahrhundert reflektiert. Für die Beurteilung von Catos Selbstmord wird dabei eine Unterscheidung wichtig, die Justus Lipsius in De constantia in publicis malis (1584) unternimmt. Lipsius differenziert zwischen einer wahren und einer falschen constantia.47 Die falsche 46 Dante: Die gçttliche Komçdie (wie Anm. 44), S. 139: Der Läuterungsberg 1, 71 – 75. („libertà va cercando, ch’è sì cara, / come sa chi per lei vita rifiuta. / Tu ’l sai, chè non ti fu per lei amara / in Utica la morte, ove lasciasti / la vesta ch’al gran dì sarà sì chiara.“) 47 Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit. Faksimiledruck der deutschen Übersetzung des Andreas Virtius nach der zweiten Auflage von 1601. Mit den wichtigsten Lesarten der ersten Auflage von 1599, hg. v. Leonard Forster. Stuttgart 1965, S. 10 f.: „Die Bestendigkeit / nenne ich allhier eine rechtmessige vnnd unbewegliche stercke des gemts / die von keinem eusserlichen oder zufelligen dinge erhebt oder vntergedrckt wird. Ich habe gesagt eine Stercke / vnd verstehe eine Standhafftigkeit / so dem Gemüt eingepflantzt ist / Nicht von dem Wahn / sondern von dem Verstand vnd der gesunden Vernunfft. Dann ich vor allen dingen die Hartneckigkeit will ausgeschlossen haben / welche auch zwar eines eigensinnigen Gemüts stercke ist / aber von dem Winde der Hoffart oder Rhumrettigkeit auffgetrieben“. Vgl. die lateinische Fassung: „CONSTANTIAM hic appello, RECTUM ET IMMOTUM ANIMI ROBUR, NON ELATI EXTERNIS AUT FORTUITIS, NON DEPRESSI. Robur dixi; & intellego firmitudinem insitam animo, non ab Opinione, sed a iudicio & recta Ratione. Exclusam enim ante omnia volo Peruicaciam (siue ea melius pertinacia dicitur:) quae & ipsa obstinate animi robur est, sed a superbiae aut gloriae vento: & robur etiam dutaxat in una parte.“ ( Justus Lipsius: De Constantia / Von der Standhaftigkeit. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann. Mainz 1998, S. 26 ff.)

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constantia entpuppt sich dabei als zu verurteilende Hartnäckigkeit. So kann aus der Tugend der constantia das Laster des Starrsinns werden.48 In Montaignes Essais (1580 – 88) ist ein eigenes Kapitel Cato dem Jüngeren gewidmet. Montaigne wettert gegen den Tugendverfall seiner eigenen Zeit und vermißt Gerechtigkeitssinn und Tapferkeit in der Gegenwart. Beispiel für eine solche falsche, beklagenswerte Haltung ist es, wenn Autoren „hochherzige Taten der Antike verdunkeln, in dem sie ihnen irgendeine niedrige Auslegung geben und nichtige Anlässe und Gründe unterschieben.“49 Montaigne dagegen plädiert dafür, die „von den Weisen einmütig zu Vorbildern der Menschheit erkornen außergewöhnlichen Gestalten“ weiterhin zu preisen, und er konkretisiert dieses allgemeine Vorhaben an der Gestalt Catos.50 Cato ist für Montaigne „wahrlich ein Vorbild gewesen, das die Natur auserwählte, um zu zeigen, zu welcher Vollendung menschliche Tugend und Charakterfestigkeit gelangen können.“51 Damit schreibt Montaigne das stoische Ideal der constantia fort, und er zitiert unterstützend hierfür Horaz, Vergil und Lucan. Gleichwohl stellt Montaigne an anderer Stelle der Essais Sokrates über Cato, denn bei Cato sieht er gewisse Überspanntheiten der Tugend: „In den großen Taten seines Lebens und im Sterben meint man ihn stets auf hohem Rosse zu sehen“.52 Hier zeigt 48 Zu solchen Umdeutungen im Neostoizismus, die allerdings auch schon ansatzweise bei Cicero (Pro Murena 61) reflektiert werden, vgl. allgemein Günter Abel: Stoizismus und Frhe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin, New York 1978. 49 Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M. 1998, S. 121 (Kap. I, 37: ber Cato den Jngeren). Vgl. das frz. Original: „faire les ingenieux à obscurcir la gloire des belles et genereuses actions anciennes, leur donnant quelque interpretation vile et leur controuvant des occasions et des causes vaines“ (Montaigne: Essais. Édition conforme au texte de l’exemplaire de Bordeaux avec les additions de l’édition posthume, les principales variantes, une introduction, des notes et un index par Maurice Rat. Paris 1962, Bd. 1, S. 260 f.). 50 Michel de Montaigne: Essais (wie Anm. 49), S. 122 („Ces rares figures, et triées pour l’exemple du monde par le consentement des sages“ [wie Anm. 49], S. 261). 51 Michel de Montaigne: Essais (wie Anm. 49), S. 122 („veritablement un patron que nature choisit pour montrer jusques où l’humaine vertu et fermeté pouvoit atteindre“ [wie Anm. 49], S. 261). 52 Michel de Montaigne: Essais (wie Anm. 49), III, 12, S. 522 („aux braves exploits de sa vie, et en sa mort, on le sent tousjours monté sur ses grands chevaux“ [wie Anm. 49], Bd. 2, S. 485). Vgl. auch ebd. II, 11, S. 212: „Cato möge mir bitte verzeihen: Sein Tod ist zwar härter und tragischer, doch dieser

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sich, wie bei Lipsius, die Abkehr von einem allzu rigide konzipierten Stoizismus. Im 17. Jahrhundert schreibt George Chapman sein Römerdrama Caesar and Pompey (1631), in dem Cato zwischen dem hochmütigen Caesar und dem strauchelnden Pompeius als eigentlicher Held erscheint, der durch seinen stoischen Freitod Caesar gleichsam besiegt.53 Cato ist ein weiser und ehrenhafter „senecal man“, der von Chapman in didaktischer Absicht mit einer korrupten Umwelt konfrontiert wird. Mit Cato wird hier ein Beispiel würdevollen Standhaltens in einer fragwürdigen Welt ausgestaltet. Im deutschen Barock schreiben sich zwei Traditionslinien fort: Sowohl der Einwand der Kirchenväter gegenüber Catos Selbstmord (mit Lipsius interpretierbar als falsche constantia) wird reflektiert als auch die Möglichkeit, mit Catos republikanischem Widerstand Herrscherkritik zu formulieren. Martin Opitz kritisiert im zweiten Buch der Trost-Gedichte in Widerwertigkeit Deß Kriegs Catos Selbstmord folgendermaßen: „Ist Cato gleich berühmet / So fällt er endlich doch in Vngerechtigkeit / Vmb daß er auß der Welt sich reißet vor der Zeit.“54 Catos Tugenden der constantia und fortitudo vermögen für Opitz nicht, die superbia des Selbstmords zu kompensieren: Es ist wol Lobens werth / daß er den greissen Haaren / Den Augen die für nichts noch je erschrocken waren Zur Schmach / dem Cesar nicht zu Fusse fallen wil Vnd vberwunden seyn / das Ander’ ist zu vil. Er sticht sich erstlich selbst / vnd als man jhn verbunden / Muß doch das Pflaster fort / er reißet in die Wunden / Wirfft / wie ein toller Hund / die Daermer in die Schoß / Vnd laeßt den stoltzen Geist auß seinem Kercker loß. Ein Kriegsmann darff nicht fort / es sey dann zugegeben Durch seinen Capitain: Wir sollen auß dem Leben / Es gehe / wie es will / auch eher nicht entfliehn / Biß vns deß Lebens Herr erlaubet fortzuziehn.55 hier [i.e. der Tod des Sokrates] unsagbar schöner.“ („Caton me pardonnera, s’il luy plaist; sa mort est plus tragique et plus tendue, mais cette-cy est encore, je ne sçay comment, plus belle.“ [wie Anm. 49], Bd. 1, S. 467). 53 George Chapman: Caesar and Pompey, in: Ders.: The Plays, edited by Allan Holoday, Cambridge 1987, Bd. 2, S. 529 – 610. Vgl. hierzu auch Richard S. Die: Chapman’s „Caesar and Pompey“ and the Uses of history, in: Modern Philology 82, 3 (1985), S. 255 – 268. 54 Martin Opitz: Trost-Gedichte In Widerwertigkeit Deß Kriegs: Das Andere Buch, in: Ders.: Gedichte, hg. v. Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1985, S. 69. 55 Martin Opitz: Trost-Gedichte In Widerwertigkeit Deß Kriegs (wie Anm. 54), S. 69.

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Zwar erfüllt Cato, indem er „für nichts noch je erschrocken“ war, die Tugend der fortitudo und auch seine Unwandelbarkeit, sich Caesar bis zum Schluß nicht ergeben zu wollen, wird gelobt; aber den Selbstmord, „das Ander‘“, läßt Opitz nicht durchgehen, es „ist zu vil“. Der Selbstmord ist nicht nur eine Freveltat des „stolzen Geist[es]“, der sich des Hochmuts vor Gott schuldig macht. Indem Cato sich die Wunde zum zweiten Mal aufreißt, gebärdet er sich „wie ein toller Hund“, läßt also die Affektkontrolle fahren und verstößt so bei Opitz nicht nur gegen das christliche Gebot, sondern auch gegen stoische Grundprinzipien. Dies macht Opitz’ Kritik doppelt scharf: Weder habe Cato nach christlichen Maßstäben recht gehandelt, noch nach dem eigenen Ideal der stoischen Affektkontrolle. Während Opitz aus einer christlichen Tradition heraus argumentiert und politische Implikationen über Herrschaftsformen außer Acht läßt, beschäftigt Hoffmannswaldau am Cato-Stoff vor allem dessen Potential zu aktualisierender Herrschaftskritik. Seine poetische Geschichtsrede Cato präsentiert ein Rollengedicht, in dem Hoffmannswaldau Cato im Moment seines Selbstmordentschlusses sprechen läßt. Der lyrische Monolog umfaßt elf sechsversige Strophen im Alexandriner gehalten. Während Opitz souverän und distanziert in der dritten Person Singular über Catos Verhalten urteilte, läßt Hoffmannswaldau Cato unmittelbar selbst sprechen, und dies in kraftvoller und scharf anklagender Weise gegen Caesar. Das Gedicht bilanziert weniger Catos Leben als daß es Caesar attackiert. „Freyheit“ als Schlüsselwort strukturiert das Gedicht und wird sechsmal (V. 11,17, 37, 51, 55, 63) genannt. Im historischen Gewand Catos formuliert der Lutheraner Hoffmannswaldau hier einen Protest gegen die rekatholisierende Reichspolitik und ein Plädoyer für die Religionsfreiheit.56 Dies geschieht mit drastischen Metaphern und den Zentralgedanken der Stoa: Der Freyheit steiffe Fahn die pflantz’ ich in die wunden / Durch meine Därme wird der Caesar selbst gebunden / Hir stirbt sein freches Wort; ich thue was ich will. Er kann nur / wolt er gleich / mir nicht das Leben schencken /

56 Vgl. hierzu Marie-Thérèse Mourey: „…und Csar, deinen Ruhm vertilgen von der Erden…“. Hoffmannswaldaus ,Cato‘ als Sinnbild der schlesischen Ablehnung der kaiserlich-kçniglichen Macht, in: Der Frst und sein Volk. Herrscherlob und Herrscherkritik in den habsburgischen Lndern der frhen Neuzeit, hg. v. Pierre Béhar u. Herbert Schneider. St. Ingbert 2004, S. 243 – 267.

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Er kann nur /wolt er gleich / mich nicht durch Marter kräncken / Sein unbegränzte Macht schau’t hier ein rothes Ziel.57

Dieser Cato lebt stoisch selbstbestimmt („ich thue was ich will“) und unabhängig von Gnade oder Folter. Sein Selbstmord erscheint nicht als Konsequenz der Resignation, sondern als Akt der Freiheit und als politisches Fanal. Der stoische Weise stirbt hier nicht nur, um seine Integrität zu wahren, sondern verbindet mit seinem Selbstmord rebellische Absichten, die Hoffmannswaldau in dem extremen Bild der Därme Catos als Fesseln Caesars ausgestaltet. Durch die poetische Form des Rollengedichts, in der nur Catos eigene Position hörbar wird, sieht sich Hoffmannswaldau der Verpflichtung enthoben, die christlich geforderte Kritik am Selbstmord zu formulieren. Hoffmannswaldaus Cato ist ein politischer Rebell, dessen Tat unwidersprochen bleibt. Im 18. Jahrhundert wird der Cato-Stoff vielfach Thema republikanischer Trauerspiele; deren „Gegenstand ist die Republik in Gefahr, wobei der republikanische Heros sich als Widerpart des (potentiellen) Tyrannen für die Errichtung, Erhaltung oder Wiederherstellung der Republik einsetzt“.58 Der republikanische Heros verdient dabei Bewunderung. Cato wird zum bürgerlichen Helden, der gegen feudale Ausschweifung kämpft. Die antiabsolutistische Stoßrichtung wurde moralisch überwölbt. Der Neostoizismus diente oft dazu, dem moralisierten Patriotismus eine würdevolle Tradition zu stiften. Joseph Addisons klassizistische Tragödie Cato (1713) feierte dementsprechend Cato als Freiheitsheld und legte es nahe, Parallelen zwischen der englischen Nation und Rom zu ziehen. Addisons Cato, George Washingtons Lieblingsdrama, war ein enormer Publikumserfolg, denn sowohl die Whigs als auch die Tories konnten sich mit diesem Cato identifizieren.59 Addison bemühte sich in klassizistisch

57 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Cato, in: Ders.: Gedichte, Auswahl und Nachwort v. Manfred Windfuhr. Stuttgart 1994, S. 118 ff., hier S. 119. 58 Peter Hess: Vom republikanischen zum brgerlichen Trauerspiel. Zu Patzkes VirginiaDrama und dessen Einfluß auf Lessing, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 221, 1984, S. 43 – 53, hier S. 44. 59 Joseph Addison: Cato. A Tragedy. London 1713. 1720 – 23 erschienen Cato’s letters, 144 Essays von John Trenchard und Thomas Gordon, Whigs, die die Tyrannis verdammten, Gewissensfreiheit und Redefreiheit reklamierten. Cato diente Trenchard und Gordon als Pseudonym, um ihre Zweifel an der Legitimität tyrannischer Macht anzumelden. Cato’s letters beeinflußten die amerikanischen Revolutionäre entscheidend. Noch heute gibt es in Washington das

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strenger Form, zugleich stoische Römertugenden und englische politische Ideale zu feiern. Hatte Chapman 1631 noch ohne politische Aktualisierung seinen Cato als stoischen Tugendhelden in der Tradition Senecas sprechen lassen, so spiegelt Addison die Glorious Revolution (1688) als assoziative Bezugsfolie in sein Drama ein. Catos Plädoyer für einen starken Senat sollte als proparlamentarische Aussage lesbar werden. Für das Freiheitspathos Catos konnten sich viele Engländer begeistern, die sich nach dem Ende der Regierung Queen Annes (1714) über den Fortbestand der parlamentarisch gezügelten Monarchie Gedanken machten. Pope hatte für den Cato Addisons ein Vorwort verfaßt und sprach dort bewundernd vom „God-like Cato“. Während in England vor allem das Freiheitspathos von Addisons Cato goutiert wurde, lobte Voltaire in seinen Lettres anglaises (1733) die klassizistische Form des Dramas: „Der erste Engländer, welcher ein vernünftiges Stück verfaßt und durchgängig anmutig geschrieben hat, ist der berühmte Addison. Sein ,Cato von Utica‘ ist ein Meisterstück, was die Worte und die Schönheit der Verse betrifft.“60 Während Addison eine republikanische Tragödie verfaßte, die im öffentlichen Raum spielte und der nur lose und zusammenhangslos Liebeshandlungen assoziiert waren,61 ergänzte der Franzose Deschamps den Stoff in seinem Drama Caton d’Utique (1715) um eine private Handlung, die mit der öffentlichen direkt verquickt ist.62 Deschamps macht Caesar, der bei Addison gar nicht auftritt, zusätzlich zum Geliebten von Catos Tochter. Johann Christoph Gottsched, auf der Suche nach einem geeigneten Stoff für eine beispielhafte neue deutsche Tragödie im Zeichen der Aufklärung, kompilierte Addisons und Deschamps Fassungen: Er ökonomisch-politische Cato Institute, das sich von Trenchards und Gordons Cato’s letters her den Namen gibt. 60 Voltaire: Briefe aus England, hg. u. sprachlich eingerichtet v. Horst Lothar Teweleit, Berlin 1987, S. 91. „Le premier Anglais qui ait fait une pièce raisonnable et écrite d’un bout à l’autre avec élégance est l’illustre M. Addison. Son Caton d’Utique est un chef-d’œuvre pour la diction et pour la beauté des vers.“ (Voltaire: Lettres philosophiques, avec le texte complet des remarques sur les Pensées de Pascal. Introduction, notes, choix de variantes et rapprochements par Raymond Naves. Paris 1951, S. 108). 61 Schon Voltaire bemäkelte, „dieses so gut geschriebene Werk wird durch eine abgeschmackte Liebesbegebenheit verunstaltet, welche eine tötende Langeweile über das ganze Stück breitet.“ (Voltaire [wie Anm. 60], S. 91). „Cet ouvrage si bien écrit est défiguré par une intrigue froide d’amour, qui répand sur la pièce une langeur qui la tue“ (wie Anm. 60), S. 109. 62 François Michel-Chrétien Deschamps: Caton d’Utique. La Haye 1715.

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übernahm die ersten dreieinhalb Akte von Deschamps, die letzten eineinhalb von Addison und stellte mit diesen Übersetzungen die erste deutsche Originaltragödie Der sterbende Cato zusammen.63 Bereits 1726 äußerte Gottsched die Auffassung, daß „Cato nicht als ein unüberwindlicher Weiser gestorben“ sei.64 Und diese Auffassung wurde maßgeblich für sein Drama Der sterbende Cato (1732). In der Vorrede zum Drama erläutert Gottsched, daß Cato zwar „zu allen Zeiten vor ein ganz besonderes Muster der stoischen Standhaftigkeit und der patriotischen Liebe zur Freiheit gehalten worden“ sei.65 Dennoch konzipiert Gottsched seinen Cato als einen mittleren Helden, der zwar „sehr tugendhaft gewesen [sei], doch so wie es Menschen zu sein pflegen; daß sie nemlich noch allezeit gewisse Fehler an sich haben, die sie unglücklich machen können.“66 Catos Fehler, den Gottsched dramenästhetisch als aristotelische hamartia begreift, ist eine zu weit getriebene constantia, die, wie Lipsius interpretiert hatte, in Starrsinn umschlagen konnte: Cato, so Gottsched, „treibet seine Liebe zur Freiheit zu hoch, so daß sie sich in einen Eigensinn verwandelt.“67 Damit war Gottscheds Cato nicht mehr ein barocker Märtyrer, der fehlerfrei für seine Ideale in den Tod geht, sondern ein irrender und fehlender mittlerer Held.68 63 Rund 174 der 1648 Verse stammen von Gottsched, der übrige Text montiert Übersetzungen von Addison und Deschamps. Bei Deschamps schätzte Gottsched die strengere Einhaltung der tektonischen Geschlossenheit, bei Addison fand er den Tod Catos angemessener behandelt, denn Deschamps ließ Cato „nicht als einen Weltweisen, sondern als einen Verzweifelten sterben“, so Gottsched in der Vorrede zu seinem Drama: Johann Christoph Gottsched: Vorrede, in: Ders.: Der sterbende Cato, hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart 2002, S. 15. Zum Originalitätsbegriff vgl. Heide Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds „Deutscher Schaubhne“. Tübingen 1994, S. 110 ff. 64 Johann Christoph Gottsched: VIII. Akademierede: Cato ist nicht als ein unberwindlicher Weiser gestorben, in: Ders.: Ausgewhlte Werke, hg. v. P. M. Mitchell Bd. 9, Tl. 2: Gesammelte Reden, bearb. von Rosemary Scholl, Berlin, New York 1976, S. 483 – 491, vgl. dort S. 487: „Mein Satz ist dieser: Cato ist von seinen eigenen Leidenschaften beunruhiget, bestürmet und besieget worden.“ 65 Johann Christoph Gottsched: Vorrede (wie Anm. 63), S. 10. 66 Johann Christoph Gottsched: Vorrede (wie Anm. 63), S. 17. 67 Johann Christoph Gottsched: Vorrede (wie Anm. 63), S. 17. Zu dieser Argumentation vgl. überzeugend Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragçdie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1993, S. 100 ff. 68 Gottscheds Cato ist zudem ein mittlerer Held mit Familie. Die Figurenkonstellation von Vater und Tochter verweist dabei durchaus schon auf das bür-

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So harsch und vernichtend die spätere Kritik an Gottscheds Drama war, so erfolgreich war es im Moment seines Erscheinens. Als erste deutsche Originaltragödie gefeiert, erlebte sie bis 1757 allein zehn Auflagen. Gottscheds Bemühen um Regelgemäßheit drückte sich nicht nur in der Einhaltung der drei Einheiten aus, sondern auch in der Wahl des (oft sehr spröde gebrauchten) Alexandriners. Als Mustertragödie des Leipziger Rationalismus verfolgte Der Sterbende Cato moralisch-didaktische Absichten. Der Cato-Stoff wurde pädagogisiert. Catos Tugendwahn wurde im vierten Akt für den Zuschauer vollends deutlich, wenn Cato angesichts der Leiche seines Sohnes, nicht um ihn weint, sondern zur Trauer um Rom auffordert: „Es scheint, ihr könnet euch der Tränen nicht erwehren, / Da nur ein Jüngling fällt. Rom, Rom, erfodert Zähren!“69 Im Sterben erkennt Gottscheds Cato, daß sein Fehler ein „zu viel“ an Tugend bedeutet: „Ihr Götter! hab ich hier / Vielleicht zu viel getan: Ach! So vergebt es mir! / […] / Der Beste kann ja leicht vom Tugendpfade wanken.“70 Aus Addisons „god-like Cato“ wird hier ein Cato mit Fehlern, der sich nicht in stoischer Selbstsicherheit, sondern im Tugendrigorismus umbringt. Während Addisons Cato wirkungsästhetisch Bewunderung und Lob evozierte, spekuliert Gottsched auf ein Publikum, das den Fehler dieses mittleren Helden erkennt und kritisiert. „Schrecken und Erstaunen“71 sind dabei Mittel zum Zweck einer rationalen Erkenntnis dieses charakterlichen Defizits. Während Catos Stoizismus also im Verlauf der Handlung in fehlgegangenen Tugendwahn umschlägt, vermag der Zuschauer den Antagonisten Caesar fast als besseren Stoiker als Cato wahrzunehmen. Im dritten Akt läßt Gottsched gegen die historische Realität Caesar und Cato in Utica aufeinandertreffen. Hier fällt Caesar in seiner Selbstcharakterisierung als affektbeherrschter autarker Stoiker auf. Caesar beschreibt sich selbst als „ein[en] Mann, / Der auch sein eigen Herz zur gerliche Trauerspiel voraus. Vgl. hierzu Sabine Doering: Mrtyrer mit Familie. Gottscheds „sterbender Cato“ im Gattungsspektrum des Aufklrungsdramas, in: Resonanzen. Festschrift fr Hans Joachim Kreutzer, hg. v. Sabine Doering, Waltraud Maierhofer u. Peter Philipp Riedl. Würzburg 2000, S. 47 – 59. 69 Johann Christoph Gottsched: Der sterbende Cato (wie Anm. 63), IV. Akt, V. 1351 f., S. 72. Dieses Bekenntnis Catos wird von dem Parther Artabanus erstaunt kommentiert: „Den Sohn beweint er nicht; um Rom vergießt er Tränen!“ V. 1359, ebd. 70 Johann Christoph Gottsched: Der sterbende Cato (wie Anm. 63), V. Akt, V. 1637 – 1640, S. 84. 71 Johann Christoph Gottsched: Vorrede (wie Anm. 63), S. 17.

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Not bezwingen kann“.72 Er verbietet sich Rache73 und demonstriert weit mehr Gelassenheit als Cato. Gottsched hat dies im nachhinein als eine bloße Scheintugend Caesars dargestellt;74 aber dies ist dem Dramentext selbst nicht unbedingt zu entnehmen. Nachdem Gottscheds Cato zwölf Jahre lang die deutschen Bühnen beherrscht hatte, entzündete sich an dieser Tragödie ein Literaturstreit, der nicht nur den sterbenden Cato, sondern vor allem auch dessen Autor und sein frühaufklärerisches rationalistisches Literaturkonzept angriff.75 Die als Cato-Kontroverse in die deutsche Literaturgeschichte eingegangene Debatte, an deren Ende das vernichtende Fazit Lessings steht,76 rechnet mit Gottscheds Regelwahn ab, demaskiert den Schematismus seiner Szenenanordnung und versucht dagegen eine neue sensualistische Literaturauffassung zu etablieren.77 All dies bedeutet prinzipiell keine 72 Johann Christoph Gottsched: Der sterbende Cato (wie Anm. 63), III. Akt, V. 701 f. S. 47. 73 „Weit schöner aber ists, im Siege sich vergnügen / Und seiner Rachbegier vernünftig Einhalt tun! / Der Römer Ehre muß im Wüten nicht beruhn“ (III. Akt, V. 720 ff., S. 48.) 74 Johann Christoph Gottsched: Bescheidene Antwort auf die vorhergehenden kritischen Gedanken ber den ,Sterbenden Cato’, in: Ders.: Der Sterbende Cato (wie Anm. 63), S. 95 – 114, hier S. 102: „Cäsar fällt mit seiner politischen Gelassenheit mehr ins Auge. Aber es ist nur eine Scheintugend. Es ist lauter Rachgier und Herrschsucht, was ihn treibet. Seine Gnade ist nur Verstellung, um auch damit etliche Widerspenstige unter das Joch zu bringen“. 75 Renate von Heydebrand: Johann Christoph Gottscheds Trauerspiel ,Der sterbende Cato‘ und die Kritik. Analyse eines Krftespiels, in: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift fr Gnther Weydt zum 65. Geburtstag, hg. v. Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen und Klaus Haberkamm. Bern und München 1972, S. 553 – 569. Martin Brunkhorst: Die Cato-Kontroverse. Klassizistische Kritik an Addison, Deschamps und Gottsched, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 20 (1979), S. 71 – 87. 76 „Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. […] Er verfaßte, wie ein Schweitzerischer Kunstrichter sagt, mit Kleister und Schere, seinen Cato.“ (Gotthold Ephraim Lessing: 17. Literaturbrief vom 16. Februar 1759, in: Ders.: Werke und Briefe in zwçlf Bnden, hg. v. Wilfried Barner, Bd. 4: Werke 1758 – 1759, hg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1997, S. 499 f., hier S. 499). 77 Besonders böse in der Attacke etwa bei Johann Jakob Bodmer: Sinnliche Erzehlung von der mechanischen Verfertigung des Original=Stckes von Cato, in: Ders.: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvoller Schriften. Zürich 1741 – 44, Bd. VIII, S. 80 – 96, sowie die Parodie Gottsched, ein Trauerspiel in Versen oder der parodirte Cato, in: Johann Christoph Gottsched und die Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, hg. v. Johannes Crüger. ND Darmstadt 1965, S. 127 – 152.

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Kritik am Cato-Stoff, und daher wird hier auch nicht genauer darauf eingegangen. Gleichwohl wirkt die umgreifende Kritik am Autor auch auf die Rezeption des Stoffes zurück. In den 1760er Jahren, nach Lessings ultimativer Abrechnung mit Gottsched, noch ein Cato-Drama zu verfassen, konnte zumindest in Deutschland literarische Rückwärtsorientierung verraten. Während dergestalt der Cato-Stoff in Deutschland ab den späten 1750er Jahren literarisch rückläufig war, gab es in Frankreich in der Mitte des 18. Jahrhunderts einen prominenten Cato-Anhänger: Für Rousseau ist Cato seiner Vaterlandsliebe wegen das ideale Vorbild für den Bürger. Und wenn Montaigne noch Sokrates vor Cato stellte, so dreht Rousseau in seinem Discours sur l’conomie politique (1755) die Rangfolge um: „Wagen wir es, selbst Sokrates dem Cato gegenüberzustellen: der eine war mehr Philosoph und der andere mehr Staatsbürger.“78 Das Stoische tritt in der Betrachtung Rousseaus in den Hintergrund, und die politische Kontur Catos wird wieder schärfer. Rousseau vergleicht den historischen Ort von Sokrates und Cato: „Athen war schon verloren, und Sokrates hatte kein andres Vaterland mehr als die ganze Welt: Cato trug seines noch immer in der Tiefe des Herzens, er lebte nur für es und konnte es nicht überleben.“79 Damit ist Catos Selbstmord für Rousseau patriotisch-politisch gerechtfertigt, und das formuliert Rousseau vor allem gegen Voltaire, der in La mort de Csar Catos Tod für überflüssig erklärt hatte. Aus dem historischen Vergleich von Sokrates und Cato ergibt sich für Rousseau: „Die Tugend des Sokrates ist die des weisesten aller Menschen: aber zwischen Caesar und Pompejus erscheint Cato als ein Gott unter den Sterblichen.“80 Cato steht für Rousseau auch über So78 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber die politische konomie, in: Ders.: Kulturkritische und politische Schriften, hg. v. Martin Fontius, Berlin 1989, Bd. 1, S. 333 – 377, hier S. 351. „Osons opposer Socrate même à Caton: l’un étoit plus philosophe, et l’autre plus citoyen.“ ( Jean-Jacques Rousseau: Œuvres compltes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Paris 1964, Bd. 3, S. 239 – 278, hier S. 255). 79 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber die politische konomie (wie Anm. 78), S. 351. („Athènes étoit déjà perdue, et Socrate n’avoit plus de patrie que le monde entier: Caton porta toujours la sienne au fond de son coeur; il ne vivoit que pour elle et ne put lui survivre.“ [wie Anm. 78], S. 255). 80 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber die politische konomie (wie Anm. 78), S. 351. („La vertu de Socrate est celle du plus sage des hommes: mais entre César et Pompée, Caton semble un dieu parmi des mortels.“ [wie Anm. 78], S. 255).

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krates, weil Catos Taten die größere Breitenwirkung und spezifisch politischere Reaktion erzielte: „Der eine belehrt einige Einzelpersonen, bekämpft die Sophisten und stirbt für die Wahrheit; der andere verteidigt den Staat, die Freiheit, die Gesetze gegen die Eroberer der Welt und verläßt schließlich die Erde, als er dort kein Vaterland mehr erblickt, dem er dienen könnte.“81 Dementsprechend gilt Cato auch für Rousseaus eigene Gegenwart als geeignete Leitfigur, die praxisnah und konkret politisch in Belangen der Staatsführung als antikes Vorbild der Aufklärung gelten kann: Ein würdiger Schüler des Sokrates wäre der tugendhafteste seiner Zeitgenossen; ein würdiger Nacheiferer des Cato wäre deren größter. Die Tugend des ersten würde ihm sein Glück bereiten, der zweite würde sein Glück in dem aller suchen. Wir würden belehrt von dem einen und geführt von dem anderen, und dies allein würde den Vorrang entscheiden: denn man hat niemals ein Volk von Weisen hervorgebracht, hingegen ist es nicht unmöglich, ein Volk glücklich zu machen.82

Cato als patriotisches Vorbild für jedermann zur allgemeinen Wohlfahrt in aufgeklärten Zeiten, gegenüber einem elitärer zugeschnittenen Sokrates – dies ist die politische Quintessenz, in der mit Cato der pursuit of happiness einlösbar erscheint. In anderem Zusammenhang modelliert Rousseau Cato in kulturkritischer Absicht als den von der ihn umgebenden Dekadenz nicht Verdorbenen. Auch damit dient Cato wieder als Vorbild der Gegenwart; es soll dazu helfen, „den Lastern ihres Jahrhunderts zu widerstehen und den furchtbaren Grundsatz derer zu verabscheuen, die mit der Mode gehen“.83 Im mile (1762) charakte-

81 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber die politische konomie [wie Anm. 78], S. 351. („L’un instruit quelques particuliers, combat les sophistes, et meurt pour la vérité: l’autre defend l’état, la liberté, les lois contre les conquérans du monde, et quitte enfin la terre quand il n’y voit plus de patrie à server“ [wie Anm. 78], S. 255). 82 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber die politische konomie (wie Anm. 78), S. 351. („Un digne élève de Socrate seroit le plus vertueux de ses contemporains; un digne émule de Caton en seroit le plus grand. La vertu du premier feroit son bonheur, le second chercheroit son bonheur dans celui de tous. Nous serions instruits par l’un et conduits par l’autre, et cela décideroit de la préférence: car on n’a jamais fait un peuple de sages, mais il n’est pas impossible de rendre un peuple heureux.“ [wie Anm. 78], S. 255). 83 Jean-Jacques Rousseau: Letzte Antwort des Genfers Jean-Jacques Rousseau, in: Ders.: Kulturkritische und politische Schriften (wie Anm. 78), S. 125 – 152, hier S. 142. („résister aux vices de leur siècle et à détester cette horrible maxime des

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risiert Rousseau Cato auch als pädagogisches Vorbild, weil seine Moral und Integrität eher als Identifikationsangebot für die Jugend tauge als Caesars Sieg. Im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars wird dies in rhetorischen Fragen formuliert: „Wenn es keine Moral im menschlichen Herzen gibt, woher kommt dann diese Begeisterung für heroische Taten und diese Liebeswallung für große Seelen? […] Warum möchte ich lieber Cato sein, der seine Eingeweide zerfleischt, als der triumphierende Caesar?“84 Rousseaus Beschäftigung mit Cato stellt philosophisch einen letzten Höhepunkt der Cato-Rezeption dar. Mit stoischer Ruhe und der Darstellung eines märtyrergleichen Selbstmords angesichts der drohenden Tyrannis ließ sich eher schlecht als recht eine Revolution propagieren. Unwandelbarkeit als stoisches Ideal paßte nicht zu revolutionärem Umsturz. Cato galt als Bewahrer republikanischer Traditionen, nicht als ihr revolutionärer Inaugurator. Und so findet man am Anfang der Französischen Revolution auch eher den Tyrannenmörder Brutus als aufgerufenen Freiheits-Helden der Antike. Brutus, als Catos Schwiegersohn, kommt es dann zu, die heldenhaften Absichten Catos in die Tat umzusetzen.85 Aber mit Cato konnte vor dem Verfall einer Republik gewarnt werden. Cato war ein Held des Staatsnotstands. Gegen Ende der Französischen Revolution häufen sich während der Jakobiner-Herrschaft (1793/94) und des Digens à la mode“ [Dernire Rponse de J.–J. Rousseau de Genve, in: Ders.: Œuvres compltes [wie Anm. 78], Bd. 3, S. 71 – 96, hier S. 87). 84 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder ber die Erziehung. Vollständige Ausgabe in neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts. Paderborn 111993, S. 302. „S’il n’y a rien de moral dans le cœur de l’homme, d’où lui viennent donc ses transports d’admiration pour les actions héroïques, ces ravissements d’amour pour les grandes âmes? […] Pourquoi voudrais je être Caton qui déchire ses entrailles, plutôt que César triomphant?“ ( Jean-Jacques Rousseau: mile ou de l’ducation. Introduction, bibliographie, notes et index analytique par François et Pierre Richard. Paris 1961, S. 350). 85 Vgl. etwa das Drama von Louis Poisinet de Sivry: Caton d’Utique. Tragdie. Paris 1789, in dem Cato Brutus mit auf den Weg gibt: „Sois citoyen, Brutus, sois Romain, sois plus qu’homme / Et jure dans sa main la liberté de Rome.“ (ebd., Acte II, Scène 3). Abel Boyer hatte bereits 1713 Addisons Cato ins Französische übersetzt ( Joseph Addison: Caton. Tragdie de l’anglais par A. Boyer. Amsterdam 1713). Louis Claude Chéron de La Bruyères Caton d’Utique (1789) steht noch ganz in Addisons Schuld und preist den Tugendhelden noch unter stoischen Auspizien (L. C. Chéron de La Bruyère: Caton d’Utique. Tragdie en trois actes et en vers imite d’Addison. Paris 1789). Vgl. Jacqueline Fabre: Caton d’Utique ou le dernier des romains. tudes des pices consacres au hros rpublicain entre 1789 et 1798, in: La Rvolution franÅaise et l’antiquit, hg. v. R. Chevallier, Tours 1991, S. 75 – 89.

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rektoriums (1795 – 1799) französische Cato-Dramen, die Catos republikanisches Konzept mit Caesars tyrannischen Absichten konfrontieren. Je mehr sich die französische Republik antiker Traditionen bedient, das römische Tugendpathos rezipiert und mit der Konsularverfassung schließlich die römische Staatsform zitiert,86 desto aktueller wurde der Cato-Stoff wieder. Während zu Beginn der Revolution tranquillitas animi eher hinderlich erschienen war, wurde in Zeiten größter Unsicherheit constantia wieder zur Zielvorstellung. Dabei konnten die französischen Dramen an Seneca anknüpfen, der die Leitbegriffe virtus und libertas verknüpft und Cato angemessen hatte. Catos Stoizismus bot Möglichkeiten, im antikisierenden Gewand politische Zügelung zu propagieren. Das konnte zu seltsamen dramatischen Lösungen führen, wenn etwa Caesar am Totenbett Catos reumütig erscheint und hören muß, wie der sterbende Cato somnambul den Tod Caesars prophezeit.87 Während des Direktoriums konnte mit dem Hinweis auf Cato vor royalistischen Verschwörungen gewarnt werden. Der Cato-Mythos bilanzierte in Frankreich am Ende der Revolution die bürgerkriegsgleichen Zustände, und so war es auch nur folgerichtig, daß die Académie française, nach revolutionsbedingter Lücke, 1796 erstmals wieder den Prix de Rome ausschrieb mit dem Thema Catos Tod. 1797 gewannen dann Pierre-Narcisse Guérin, Pierre Bouillon und LouisAndré Bouchet mit ihren Cato-Gemälden den Prix de Rome. Während bildkünstlerisch Cato vor allem im 16. und 17. Jahrhundert mit dem Motiv des Tods des Philosophen präsent war,88 weist das

86 Vgl. hierzu Claude Mossé: L’Antiquit dans la Rvolution franÅaise. Paris 1989. 87 So bei François-Just-Marie Raynouard: Caton d’Utique. Tragdie en trois actes. Paris an II (1792/93); in dieser Schlußlösung zeigte sich Raynouard von Metastasio beeinflußt. Vgl. auch die Dramen von J. Victor Campagne: Caton. Tragdie en cinq actes. Paris an III (1794/95). A. P. Tardieu de Saint-Marcel: Caton d’Utique. Tragdie en trois actes. Paris an IV (1796). Lyon-François Des Roys: Le dernier des Romains. Tragdie en cinq actes. Paris an VII (1798). J. Courtier de Trocy: La mort de Caton. Tragdie en trois actes. O.O. an VII (1798). 88 Der Selbstmord Catos wird bildkünstlerisch im 16. Jahrhundert in Italien dargestellt von Beccafumi und Giovanni Battista Grassi (1569), im 17. Jahrhundert von Giovanni Francesco Barbieri (1637/1641), Gioacchino Assereto, Pietro Testa (1648), Giovanni Battista Langetti, Francesco Rosa, Luca Giordano (1677), Paolo de Matteis, Antonio Molinari, Giovanni Battista Tiepolo, Corrado Giaquinto, Giambettino Cignaroli, Gaetano Gandolfi. In den Niederlanden hat Mathijs Stomer den Selbstmord Catos gemalt, und in Deutschland gibt es Gemälde von Johann Heinrich Schönfeld, Johann Carl Loth, Daniel

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18. Jahrhundert eine beachtliche Zahl von Cato-Opern auf, und das hängt ganz wesentlich damit zusammen, daß Pietro Metastasio, der Addisons Cato kannte, 1728 das Libretto Catone in Utica verfaßte.89 Während Barthold Feinds früheres Cato-Libretto L’Amore verso la Patria, Die Liebe gegen das Vaterland. Oder: Der sterbende CATO (1715) kaum Komponisten fand,90 wurde Metastasios Vorlage 38 mal vertont.91 Die Vorliebe der Opera seria, die Tugend des aufgeklärten Herrschers im antikisierten Gewand zu preisen, konnte sich hier in stoische Traditionen einschreiben. Die prominentesten musikalischen Bearbeitungen von Metastasios Libretto stammen von Vivaldi (1737), Johann Adolf Hasse (1732), Johann Christian Bach (1761) und Giovanni Pasiello (1789).92

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Seiter und Johann Michael Rottmayr. In Frankreich sind Charles Lebruns und Gabriel Lemonniers Barockgemälde zu nennen. Pietro Metastasio: Catone in Utica (1728), in: Ders.: Tutte le opere. A Cura di Bruno Brunelli. Mailand 1953, S. 125 – 189. Barthold Feind: L’Amore verso la Patria, Die Liebe gegen das Vaterland. Oder: Der sterbende CATO. Musikalisches Schauspiel. Hamburg 1715. Feind orientierte sich hierbei an dem Libretto von Matteo Noris (Catone Uticense [1701]). Vertont wurde Feinds Libretto von Reinhold Keiser. Vgl. Franz Stieger: Opernlexikon, Teil III: Librettisten, Bd. 2, Tutzing 1980, S. 613 u. Teil I: Titelkatalog, Bd. 1. Tutzing 1975, S. 222. Bis 1750 entstanden zu Metastasios Libretto Opern von Leonardo Vinci (Roma 1728), Leonardo Leo (Venedig 1729), Johann Adolf Hasse (Turin 1732), Giovanni Maria Marchi (Mailand 1733), Pietro Torri (München 1736), Geminiano Giacomelli (Wien 1736), Antonio Vivaldi (Verona 1737), Guido Romualdo Duni (Florenz 1739), Rinaldo da Capua (Lissabon 1740), Giovanni Verocai (1743), Karl Heinrich Graun (Berlin 1744), Gaetano Latilla (Rom 1747). Nur drei Libretti Metastasios enden tragisch, ohne den an sich für die Opera seria obligatorischen lieto fine: Catone in Utica gehört dazu, und das trug ihm auch Kritik ein. Metastasio reagierte auf die Kritik, indem er einen zweiten Schluß verfaßte, in dem Catone aus Gründen der Dezenz hinter der Bühne starb. Metastasio hatte die Handlung auf sechs Personen reduziert. Catone und Cesare stehen sich antagonistisch gegenüber. Die meisten dieser Cato-Opern (auch noch die aus dem späten 18. Jahrhundert) komponierten Catone für eine Tenorbesetzung, Cesare hingegen für einen Soprankastraten. Damit ergab sich eine eigentümliche Überkreuzung von politischer und musikalischer Modernität: Während der konservativ auf den alten Idealen der Republik beharrende Catone musikalisch nach dem neuen Ideal der Natürlichkeit als Tenor sang, wurde der politisch revolutionäre Cesare nach einem spätbarocken Stimmideal besetzt. Solchermaßen gewann der Titelheld Catone nicht nur über Metastasios Text, sondern auch über die musikalische Gestaltung einen Modernitätsschub gegenüber Cesare. Am Ende der Oper kapituliert Cesare vor der Haltung Catones mit den Worten: „Se costar mi deve / I giorni di Catone il serto, il

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Wenn Lessing im XVII. Literaturbrief 1759 apodiktisch mit Gottsched abrechnete und den sterbenden Cato mit Worten Bodmers als „mit Kleister und Schere“ verfertigt verwarf,93 so bedeutete dies nicht nur für lange Zeit das literaturgeschichtliche Todesurteil für Gottscheds klassizistische Mustertragödie der Frühaufklärung, sondern markiert darüber hinaus auch ein allgemein abnehmendes Interesse am Cato-Stoff in Deutschland. Wenn auch noch weiterhin Cato-Opern nach Metastasios Libretto komponiert werden,94 und Johann Heinrich Merck sogar noch einmal 1763 Addisons Cato erneut übersetzte (dieses mal in Prosa),95 so sind dies doch vor allem Ausläufer einer Konjunktur, die in Frankreich am Ende, in Deutschland bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts einen Abschluß findet. Wielands dilatorische Überlegungen, in den 1770er Jahren einen Anticato zu verfassen, sind hierfür ein repräsentativer Beleg: Sie zeigen nicht nur, wie sehr mittlerweile Catos tugendreicher Kampf als unzeitgemäß eingeschätzt wird.96 Die Tatsache, daß dieser Anticato nie ausgeführt wurde (es blieb bei einem Vorbericht zum Anti-Cato [1773]), demonstriert darüber hinaus, daß der Diskurs so ausgereizt war, daß es nicht einmal mehr einer heftigen Gegendarstellung bedurfte. Cato war auch ohne Wielands Anticato am Ende des 18.

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trono, / Ripigliatevi, o numi, il vostro dono“ und wirft seinen Lorbeerkranz von sich. Metastasio: Catone in Utica (wie Anm. 89), S. 189. („Ah! Wenn mich die Tage von Cato den Kranz, den Thron kosten müssen, nehmt zurück, o Götter, Eure Gabe.“) Dies als Abgesang auf eine ältere Stimmästhetik zu werten, mit der der Soprankastrat Cesare die Bühne verläßt, mag überinterpretiert sein; nichts desto trotz wird aus der Tenor-Rolle Catone hier ein Vorläufer von Mozarts Titus, der in La Clemenza di Tito einen ähnlich weisen und vorbildhaften Staatsmann verkörpert. Vgl. Anm. 76. Nach 1750 entstanden zu Metastasios Libretto musikalische Bearbeitungen von Giovanni Ferandini (München 1753), Francesco Poncini (Parma 1755), Vincenzo Legrenzio Ciampi (Venedig 1756), Florian Leopold Gassmann (Venedig 1761), Gianfrancsco De Maio (Turin 1763), Johann Christian Bach (Neapel 1761), Nicolo Piccinni (Mannheim 1770), Bernardino Ottani (Neapel 1777), Francesco Antonelli (Neapel 1784), Gaetano Andreozzi (Cremona 1786), Giovanni Pasielleo (Neapel 1789), Peter Winter (Venedig 1791). Johann Heinrich Merck: Cato, ein Trauerspiel von Addison. Frankfurt, Leipzig 1763. Vgl. auch das späte Drama von August Lamey: Cato’s Tod. Straßburg 1799. Christoph Martin Wieland: Vorbericht zum Anti-Cato, in: Der Teutsche Merkur 1773, Bd. 3. August, S. 99 – 129. Wieland benutzt hier den durch Theodor Mommsen populär gewordenen Vergleich von Cato und Cervantes’ Don Quichote. Hierzu vgl. ausführlich im vorliegenden Band Dieter Martin: Christoph Martin Wielands Auseinandersetzung mit dem Stoizismus.

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Jahrhunderts, nach der Französischen Revolution literaturgeschichtlich überholt.97 Das 19. Jahrhundert wird vor allem ein Jahrhundert der CaesarBegeisterung, und dementsprechend geht das Interesse und die Sympathie für Cato deutlich zurück. Catos Tod ist nicht mehr Thema einer literarischen Avantgarde, aber hält sich als Lehrstoff am humanistischen Gymnasium. Der junge Georg Büchner verfaßte als Gymnasiast 1830 für die Schule eine rhetorisch musterhafte Rede zur Verteidigung des Kato von Utika, in der er in Anlehnung an Plutarch, Sallust und Lucan die historische Vorlage nutzt, um die zeitgeschichtliche Situation nach der Juli-Revolution zu reflektieren.98 Büchner verurteilt die Wertung von Catos Selbstmord nach christlichen Maßstäben, weil ein solcher Anachronismus historisch ungerecht sei. Cato als „Gigant unter Pygmäen“ und „Heros einer untergegangnen Heldenzeit“ wird zur kulturkritischen Sonde,99 um die Epigonalität der eigenen Zeit zu ermessen. Cato stirbt bei Büchner nicht für Rom, da dieses Rom ein spätzeitlich-dekadentes ist. Er stirbt für die Idee der Freiheit an sich,100 auch dies ein Gedanke, mit dem Büchner Catos Vorbild für die Gegenwart transparent zu machen suchte. Während Büchner sich in seiner gymnasialen Rede noch von Catos Kampf für die Freiheit begeistert zeigte, relativierte das Revolutionsdrama Dantons Tod diesen Enthusiasmus: Dort ließ Büchner seinen Danton den Tugend-Terroristen Robespierre zu den „gespreizte[n] Katonen“ rechnen, die im blinden Fanatismus das politische Augenmaß verlieren.101 97 Herder erwähnte abschätzig nebenbei das Beispiel „jenes Kato, / Der im Zorne sich die Wunden aufriß“ und verurteilte dergestalt den Selbstmord als antistoische Affekthandlung. ( Johann Gottfried Herder: Der Schiffbruch, in: Ders.: Smmtliche Werke, hg. v. Bernd Suphan, Bd. 28. Berlin 1884, S. 229). 98 Zu Büchners Quellen vgl. Susanne Lehmann: Georg Bchners Schulzeit. Ausgewhlte Schlerschriften und ihre Quellen. Tübingen 2005, S. 115 – 165. 99 Georg Büchner: Kato von Utika, in: Ders.: Smtliche Werke, Briefe und Dokumente, hg. v. Henri Poschmann, Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente, hg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann, Frankfurt a. M. 1999, S. 30 – 38, hier S. 32 f. 100 „Und war auch Rom der Freiheit nicht wert, so war doch die Freiheit selbst wert, daß Kato für sie lebte und starb.“ (Georg Büchner: Kato von Utika [wie Anm. 99], S. 34). 101 Der Plural („Katonen“) zielt sowohl auf den Tugendrigorismus Catos des Älteren als auch auf den von Cato Uticensis. Vgl. Georg Büchner: Dantons Tod, in: Ders.: Smtliche Werke (wie Anm. 99), Bd. 1: Schriften, hg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt a. M. 1992, S. 16.

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Im späten 19. Jahrhundert bleibt als Fazit vor allem Theodor Mommsens Urteil meinungsbildend: Der charakterisierte Cato als „Wolkenwandler im Reich der abstrakten Moral“, der „Gewalt der Phrase“ untertan und teils „beherrscht von den Redensarten der Stoa, wie sie in abstrakter Kahlheit und geistloser Abgerissenheit in der damaligen vornehmen Welt in Umlauf waren“.102 Erst das 20. Jahrhundert wird sich wieder um eine ausgleichende Beurteilung Catos bemühen. Das allerdings geschieht dann in geschichtswissenschaftlichen Zusammenhängen und nicht mehr aus der ethisch-philosophischen Absicht heraus, Cato als Repräsentanten stoisch formierten Republikanertums als Vorbild für die eigene Gegenwart zu mobilisieren.

102 Theodor Mommsen (wie Anm. 1), S. 166.

Der Tod des Philosophen Seneca Stoische probatio in Literatur, Kunst und Musik von Bernhard Zimmermann I. „Est enim animi medicina philosophia“ – mit dieser prägnanten Formulierung definiert Cicero in den Tusculanen (III 3, 6) die Aufgabe der hellenistischen Philosophenschulen, insbesondere der Stoiker1 und Epikureer, mit ihren Lehren den Menschen Hilfe zur Lebensbewältigung zur Verfügung zu stellen. Hauptziel ist es, den Menschen die Angst vor zukünftigem Leid, Schmerzen und vor allem dem Tod als dem angeblich größten aller Übel zu nehmen, da Sorge und Angst die innere Ruhe, die tranquillitas animi, stört und somit ein glückliches Leben (vita beata) vereitelt.2 Philosophie tritt an die Stelle der Religion; sie ist der sichere Hafen,3 in dem ein Mensch, geschüttelt von den Schlägen der Willkür des Zufalls (fortuna, casus) Zuflucht finden kann.4 Ihr als gleichsam einer Göttin muß der Mensch sich bedingungslos ausliefern. In der feststehenden Form der hymnischen Anrufung, des Hymnos kletikos,5 ruft Cicero in den Tusculanen (V 2, 5 f.) die personifizierte Philosophia an:6

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Vgl. zur stoischen Ethik vor allem Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, Darmstadt 21995. Vgl. dazu meinen Beitrag „Philosophie als Psychotherapie“ in diesem Band. Zur Philosophie als medicina animi vgl. Fritz Wehrli: Ethik und Medizin. Zur Vorgeschichte der aristotelischen Mesonlehre, in: Museum Helveticum 8, 1951, S. 36 – 62. Das Bild des sicheren Hafens gehört zum Allgemeingut philosophischer Protreptik, vgl. das Proömium von Lucrez II 1 – 13. Der portus philosophiae wird breit ausgeführt von Augustin in De vita beata 1, 1 f. Cicero: Tusc. V 2, 5: „cuius (sc. philosophiae) in sinum cum a primis temporibus aetatis nostra voluntas studiumque nos compulisset, his gravissimis casibus in eundem portum, ex quo eramus egressi, magna iactati tempestate confugimus.“

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o vitae philosophia dux, o virtutis indagatrix expultrixque vitiorum! Quid non modo nos, sed omnino vita hominum sine te esse potuisset? Tu urbis peperisti, tu dissipatos homines in societatem vitae convocasti, tu eos inter se primo domiciliis, deinde coniuguiis, tum litterarum et vocum communione iunxisti, tu inventrix legum, tu magistra morum et disciplinae fuisti; ad te confugimus, a te opem petimus, tibi nos, ut antea magna ex parte, sic nunc penitus totosque tradimus. est autem unus dies bene et ex praeceptis tuis actus peccanti immortalitate anteponendus. cuius igitur potius opibus utamur quam tuis, quae et vitae tranquillitatem largita nobis es et terrorem mortis sustulisti?

Philosophie, Führerin des Lebens, die du der Tugend nachspürst und die Laster austreibst! Was hätten nicht nur wir, sondern überhaupt das Leben der Menschen ohne dich sein können? Du hast Städte geschaffen, du hast die zerstreut lebenden Menschen zu einem gemeinschaftlichen Leben zusammengerufen, du hast sie untereinander zuerst durch Behausungen, dann durch Ehen, schließlich durch den gemeinschaftlichen Besitz der Schrift und Sprache verbunden, du warst die Erfinderin der Gesetze, du die Lehrerin der Sitten und Lebensführung; zu dir nehmen wir Zuflucht, bei dir suchen wir Hilfe, dir liefern wir uns, wie wir es früher zum großen Teil getan haben, nun vollkommen und uneingeschränkt aus. Es ist aber ein einziger Tag, gut und nach deinen Lehren verbracht, einer lasterhaften Unsterblichkeit vorzuziehen. Wessen Hilfe sollen wir also mehr benutzen als deine, die du uns sowohl die Ruhe des Lebens geschenkt als auch die Furcht vor dem Tod genommen hast? Philosophie ist kulturschaffende Kraft und Lebenshilfe in einem. Sie gibt dem Menschen die Kraft, die Angst vor dem Tod zu überwinden und damit ein Leben in Ruhe zu führen. Ähnlich klingt das Lob der Philosophie bei Seneca, der unüberhörbar ihre Funktion als Lebenshilfe betont (Epistulae morales 16, 3):

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Der Anruf der Philosophie weist alle wichtigen Teile eines kletischen Hymnos auf: die Epiklese im Vokativ, die Prädikationen, die Aufzählung der Technai und Dynameis. Vgl. dazu Eduard Norden: Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiçser Rede, Darmstadt 41956. Ciceros Gebet an die Philosophie steht in der Tradition von Kleanthes’, ebenfalls in der kletischer Form verfaßten Zeus-Hymnos: siehe Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF), ed. Ioannes ab Arnim, Leipzig 1905 (Stuttgart 1964), Bd. I, Nr. 537. Kleanthes wiederum stellt sich in die Nachfolge des aischyleischen Zeus-Hymnos im Agamemnon 160 – 183; Eduard Fraenkel (Aeschylus. Agamemnon, Vol. II, Oxford 1950, S. 100) betont, daß Aischylos die traditionellen hymnischen Elemente umgeformt habe „in the service of a more sublime religious feeling“.

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animum format et fabricat, vitam disponit, actiones regit, agenda et omittenda demonstrat, sedet ad gubernaculum et per ancipitia fluctuantium dirigit cursum. sine hac nemo intrepide potest vivere, nemo secure: innumerabilia accidunt singulis horis, quae consilium exigant, quod ab hac petendum est. Die Seele bildet und gestaltet sie, das Leben ordnet sie, die Handlungen lenkt sie, was zu tun und zu lassen ist, zeigt sie, sie sitzt am Steuer und lenkt den Kurs durch die Gefahren der Wogen. Ohne sie kann niemand furchtlos leben, niemand unbesorgt: Unzähliges geschieht stündlich, was Rat erfordert, den man bei ihr einholen muß.

Die Mittel, die die Philosophie zur Lebensbewältigung und vor allem zur Überwindung der Todesfurcht bereitstellt, sind einerseits die Dialektik, mit deren Hilfe Cicero die Lehren der philosophischen sectae kritisch hinterfragt, und naturwissenschaftliche Kenntnisse, andererseits vor allem jedoch Exempla – positive wie negative –, die sich der Mensch vor Augen halten soll. Im Zentrum von Ciceros und Senecas Philosophie steht also nicht der sapiens, der keiner Ermunterung, Ermahnung oder Orientierung bedarf, sondern der pqojºptym, der sich um die Philosophie bemüht, aber noch nicht das Ziel erreicht hat, ein völlig der Philosophie gewidmetes Leben in vollkommener innerer Ruhe und Unabhängigkeit (aqt²qjeia) 7 zu führen, sondern immer wieder von den Dingen der Welt, den !di²voqa in der stoischen Terminologie, in den Bann gezogen wird. Hauptquelle der Beunruhigung ist die Angst vor Schmerz und Tod. Da diese aber keine tatsächlichen Übel sind, sondern falschen Vorstellungen entspringen, muß die Philosophie zunächst Aufklärungsarbeit leisten. Sie befreit den Menschen von seinen Irrmeinungen und gibt ihm Hilfsmittel zur Hand, um die irrigen Vorstellungen aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Der Schutzwall, der das Eindringen des Irrglaubens verhindert, ist die „praemeditatio futurorum malorum“ (Cicero: Tusc. III 14, 29; Seneca: Epist. 24, 2),8 schon im voraus ständig 6 7

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Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser. Das Grunddogma, daß der Weise sich selbst genüge und keiner äußeren Güter bedürfe, ist häufig bezeugt; vgl. die Texte in SVF III, Nr. 49 ff. („Virtutem sufficere ad vitam beatam“). Zur Definition von Autarkie vgl. SVF III, Nr. 67. Inbegriff der Autarkie ist in der Nachfolge des Kleanthes in der stoischen Lehre Zeus; vgl. Epiktet: Dissertationes III 13, 7. Vgl. dazu Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Geistige bungen in der Antike, Berlin 1991, S. 72 ff. (mit Bezug auf Mark Aurel); Ilsetraut Hadot: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969, S. 61 – 71 (zu den Stoikern im allgemeinen); Wolfgang-Rainer Mann: Learning how to die: Seneca’s

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künftige Übel in der Vorstellung durchzuspielen, was den Schmerz und das Leid, sollten sie tatsächlich einmal eintreten, beträchtlich mindere. Cicero (Tusc. III 14, 30) führt als Exemplum den Philosophen Anaxagoras an, der auf die Nachricht vom Tod seines Sohnes gesagt haben soll: „Ich wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt hatte.“ Philosophie als Lebenshilfe, insbesondere als Mittel zur Überwindung der Todesfurcht, steht im Zentrum von Senecas Epistulae morales, wie es die Aufgabenbeschreibung der Philosophie in Epist. 30, 3 ganz deutlich macht: hoc philosophia praestat, in conspectu mortis hilarum ‹esse› et in quocumque corporis habitu fortem laetumque nec deficientem quamvis deficiatur. Das gewährt die Philosophie: angesichts des Todes heiter und, in welcher körperlichen Verfassung man auch ist, tapfer und fröhlich zu sein und nicht aufzugeben, mag man auch am Ende sein.

Der, der sein Leben nach den Lehren der Philosophie ausrichtet, vermag seinen eigenen Tod wie den eines Fremden distanziert und gleichsam von außen zu betrachten. Dies, so fährt Seneca fort, ist etwas Großes und muß lange eingeübt werden, wenn die letzte Stunde geschlagen hat, gefaßt und gleichmütig („aequo animo“) aus dem Leben zu scheiden. Ein Zeichen einer gefestigten Einstellung ist es, gelassen und ruhig den Tod zu erwarten, nicht ihn mit Vehemenz zu fordern (Epist. 30, 12). So gilt es – und damit schließt Seneca den Brief –, ständig an die Nichtigkeit des Todes zu denken und sich darin einzuüben, den Tod nicht zu fürchten (Epist. 30, 18) oder ihn gar zu verachten (Epist. 36, 8). Diese meditatio mortis,9 diese Einübung in das Sterben, drückt sich in einer ständigen inneren adhortatio aus, die zur tranquillitas animi führt, da man auf das Sterben vorbereitet ist

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use of Aeneid 4. 653 and Epistulae Morales 12. 9, in: Seeing Seneca as whole. Perspectives on philosophy, poetry and politics, hg. von Katharina Volk und Gareth D. Williams, Leiden 2006, S. 103 – 122. Es gibt ein stoisches Schrifttum ,von der Übung‘ (peq· !sj¶seyr, vgl. auch SVF I, Nr. 409 Z. 9), das sich mit diesen geistigen Exerzitien befaßte, vgl. z. B. Epiktet: Dissertationes III 12; Diogenes Laertios VII 166 f. Zum Einfluß der stoischen Praxis auf das Christentum vgl. Paul Rabbow: Seelenfhrung. Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1954. Daß insbesondere die Jesuiten die Exerzitien pflegten und weiterentwickelten, nimmt angesichts der Bedeutung von Seneca im Lehrplan der Jesuitenschulen nicht Wunder. Vgl. dazu auch Michael von Albrecht: Wort und Wandlung. Senecas Lebenskunst, Leiden 2004, S. 160 f. und Karl Rahners Vorwort zu: Ignatius von Loyola: Geistliche bungen, Freiburg 1966, S. 9 f. Vgl. P. Hadot (wie Anm. 8), S. 31 f.

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(Epist. 54, 6 f.: „non trepidabo ad extrema, iam praeparatus sum“).10 Die innere Selbstansprache kann die Form der täglichen Gewissenserforschung,11 der Rechenschaftsablegung vor sich selbst annehmen, wie es mit der eigenen Lebensführung steht (Epist. 16, 2). Wenn man die Natürlichkeit des Todes akzeptiert, also dem Ideal des stoischen naturgemäßen Lebens (secundum naturam vivere) 12 folgt, wird man den Tod nicht als drohende Notwendigkeit (necessitas) fürchten, sondern ihm willig folgen. Denn gut zu sterben („bene mori“) 13 ist gleichbedeutend mit gern zu sterben („libenter mori“) (Epist. 61, 2 f.), und „bene mori“ wird an anderer Stelle (Epist. 70, 6) im Zusammenhang mit Reflexionen über den Freitod als „effugere male vivendi periculum“ definiert, als die Flucht vor der Gefahr eines schlechten, also unwürdigen Lebens.14 Als etwas Großes wird angesehen, ehrenhaft, mit Verstand und tapfer in den Tod zu gehen (Epist. 77, 5). Die Bedeutung von Vorbildern, die in großer Zahl in jeder Epoche zur Verfügung stehen (Epist. 24, 3), im Rahmen dieser praecepta ist nicht zu übersehen: Sie sollen dem Hilfe Suchenden verdeutlichen, daß man tatsächlich nach den abstrakten philosophischen Lehren leben kann, daß die philosophische Einstellung eines Menschen sich nicht in den Worten, sondern den Taten äußert (Epist. 16, 3: „non in verbis, sed in rebus est“).15 Erst die Bewährung in der Praxis (probatio) zeigt den Erfolg der philosophischen Ausbildung, erst sie zeigt, ob man nur in der geistigen Aneignung eines philosophischen Lehrgebäudes oder wirklich in der Lebensführung, in der Anwendung der praecepta auf das eigene Leben, Fortschritte gemacht hat (Epist. 16, 2: „illud ante omnia vide, utrum in philosophia an ipsa vita profeceris“).16 10 Vgl. Epist. 61, 2: „paratus exire sum“; 63, 15; 70, 18; 82, 8; De tranquillitate animi 11, 6. 11 Vgl. I. Hadot (wie Anm. 8), S. 69 f. 12 Vgl. Maximilian Forschner: ber das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen sittlicher Verstndigung, Darmstadt 1998. 13 Vgl. Anm. 19. 14 Vgl. De tranquillitate animi 11, 4: „male vivet qui nesciet bene mori“ („Ein schlechtes Leben wird der führen, der nicht gut zu sterben versteht“). 15 Vgl. Epist. 20, 2: „facere docet philosophia, non dicere“ („Handeln lehrt die Philosophie, nicht reden“). Zur notwendigen Übereinstimmung von Lehre und Lebensführung vgl. auch Epist. 24, 19; 52, 8; 75, 4; 108, 36. 16 Vgl. auch Epist. 20, 1 f.: „Illud autem te, mi Lucili, rogo atque hortor, ut philosophiam in praecordia ima demittas et experimentum profectus tui capias non oratione nec scripto, sed animi firmitate, cupiditatum deminuitione: verba rebus proba“. Es ist deutlich, daß sich diese Mahnungen (adhortationes) an den

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Der Tod als sicherer, Ruhe gewährender Hafen17 steht im Mittelpunkt von Senecas siebzigstem, dem Freitod18 gewidmeten Brief an Lucilius: Nicht zu leben sei ein Gut, sondern gut zu leben.19 Deshalb dürfe es sich ein Philosoph oder jemand, der sich um die Philosophie bemühe, nicht zur Maxime machen, solang wie möglich am Leben zu bleiben, sondern nur so lange, wie er es mit seinen ethischen Grundsätzen vereinbaren könne. Denn es komme allein auf die Qualität, nicht auf die Dauer des Lebens an. Der Selbstmord gebe jedem – nicht nur dem Philosophen, sondern auch dem ungebildetsten und rohesten Menschen – die Möglichkeit, dem Schicksal zu entkommen. Die Entscheidung, ob es besser sei, aus dem Leben zu scheiden oder nicht, soll in einer Art epikureischer Güterabwägung getroffen werden; allgemeingültige Regeln lassen sich nicht aufstellen. Man solle sich allerdings immer bewußt sein, daß ein langes Leben nicht unbedingt ein Gut sei, wohl aber ein sich in die Länge ziehender Tod ein großes Übel. Alle Äußerlichkeiten wie das decorum, die Angemessenheit der Todesart, zählten nicht; wichtig sei nur, sich möglichst schnell und einfach dem Spiel der Fortuna zu entziehen, wozu die Natur unzählige Wege zur Verfügung stelle – man könnte geradezu von „secundum naturam mori“ sprechen.

II. Die Schilderung von Senecas Tod in den Annalen des Tacitus (XV 60 – 64) zeigt in eindrucksvoller Weise, wie diese von Seneca in den Epistulae morales geforderte probatio, wie das Verhältnis von Wort und Tat bei dem Philosophen selbst aussieht. Gavius Silvanus berichtet Nero, pqojºptym (lateinisch proficiscens in Ciceros Übersetzung, die Seneca über-

nimmt), der sich ständige aufs neue zu bewähren hat (probatio, experimentum) und nicht an den Weisen gerichtet sind. 17 Vgl. zu dieser Vorstellung auch Seneca: Agamemnon 589 – 595: „Heu quam dulce malum mortalibus additum / vitae dirus amor, cum pateat malis / effugium et miseros libera mors vocet, / portus aeterna placidus quiete. / nullus hunc terror nec impotentis / procella Fortunae movet aut iniqui / flamma Tonantis.“ 18 Vgl. dazu vor allem die immer noch grundlegende Untersuchung von Rudolf Hirzel: Der Selbstmord (1908), Darmstadt (Sonderausgabe) 1967. 19 Die Devise „gut leben“, „bene vivere“, meint sowohl die Lebensqualität als auch vor allem die moralische Komponente, da ein gutes Leben nur ein Leben sein kann, das sich nach moralischen Grundsätzen richtet, wobei diese in Senecas philosophischer Lebenshilfe nicht unbedingt stoisch sein müssen.

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daß er Seneca, den er über sein Gespräch mit Pisos Vertrautem Natalis und über eine verfängliche, jedenfalls doppeldeutige Aussage Senecas befragt habe,20 in völliger Gefaßtheit angetroffen habe (Ann. XV 61, 2: „tum tribunus nulla pavoris signa, nihil triste in verbis eius aut vultu deprensum confirmavit“).21 Seneca zeigt sich also ganz in der Verfassung, die er in De constantia sapientis 19, 2 als wahre Freiheit beschreibt – man könnte den Zustand auch als Autarkie im stoischen Sinne bezeichnen: Non est autem libertas nihil pati, fallimur: libertas est animum superponere iniuriis et eum facere se ex quo solo sibi gaudenda veniant, exteriora diducere a se, ne inquieta agenda sit vita omnium risus, omnium linguas timenti. Nicht bedeutet Freiheit, nichts zu erdulden; dies ist ein Irrtum: Freiheit bedeutet, sich innerlich über alle Unbilden zu erheben und sich zu dem zu machen, aus dem man seine Freuden schöpft, das Äußere als nicht relevant für sich zu betrachten, um nicht ein Leben in Unruhe voller Furcht vor allgemeinem Gelächter, vor allgemeinem Geschwätz führen zu müssen.

Seneca kämpft gegen das Unabwendbare nicht an, er akzeptiert das fatum, das ihm durch die „fatali omnium ignavia“ (Ann. XV 61, 4),22 die allgemeine schicksalhafte Feigheit und Untätigkeit, den Tod bestimmt.23 Unerschrocken („interritus“) will er sein Testament abfassen. Als ihm dies abgeschlagen wird, hinterläßt er seinen anwesenden Freunden das Bild seines Lebens als letzten Willen (Ann. XV 62, 1:

20 Es geht um Senecas Aussage „ceterum salutem suam incolumitate Pisonis inniti“ („Im übrigen beruhe sein Wohlergehen auf Pisos Unversehrtheit“), die politisch, aber auch nur als urbane Grußformel ausgelegt werden kann. Seneca relativiert denn auch, von Gavius Silvanus befragt, seine Aussage; vgl. Erich Köstermann: Cornelius Tacitus, Annalen, Bd. IV: Buch 14 – 16, Heidelberg 1968, S. 297 f. 21 Zu den physiognomischen Merkmalen von Affekten vgl. De ira 1, 1, 3 f. 22 „fatalis“ kann natürlich aus dem Zusammenhang in der abgeschwächten Bedeutung „verhängnisvoll, Verderben bringend“ verstanden werden, aber im Kontext der stoischen Terminologie, die Tacitus durchgängig in der Todesszene anwendet, klingt sicher die stoische fatum-Konzeption an. 23 Seneca folgt mit der Gleichsetzung von fatum und Zeus Kleanthes’ Gebet (SVF I, Nr. 527), das Epiktet im Encheiridion (53) zitiert und das er selbst ins Lateinische übertragen hat (Epist. 107, 10): „duc, parens celsique dominator poli, / quocumque placuit; nulla parendi mora est. / adsum impiger. Fac nolle, comitabor gemens, / malusque patiar, quod pati licuit bono. / ducunt volentem fata, nolentem trahunt.“

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„imaginem vitae suae“).24 Er inszeniert seinen erzwungenen Selbstmord gleichsam für die Öffentlichkeit, sich selbst stilisiert er zum Exemplum stoischer constantia angesichts des nahen Todes (vgl. Ann. XV 63, 1: „velut in commune disseruit“; XV 63, 3). Der dramatische Charakter wird durch Tacitus’ Erzähltechnik deutlich herausgehoben, besonders durch den Wechsel von indirekten und direkten Reden. Die verzweifelten, weinenden Freunde ermahnt Seneca in der Form der consolatio,25 in der schweren Lage die philosophischen Lehrsätze („praecepta sapientiae“), mit denen sie sich jahrelang theoretisch befaßt hätten, nicht zu vergessen, vor allem nicht die Gefaßtheit gegen drohende Übel zu verlieren.26 Den Stil der consolatio beibehaltend, tröstet er seine Frau, die jedoch den Linderungsmitteln der Philosophie („delenimenta philosophiae“) den exemplarischen, heroischen Tod vorzieht (Ann. XV 63, 2).27 Mit dem für die Nachwelt inszenierten Tod stellt sich Seneca ganz bewußt in die Nachfolge des Sokrates.28 Tacitus evoziert die SokratesNachfolge Senecas durch ständige Anklänge an den platonischen Phaidon: 29 Der Gelassenheit des Philosophen30 stehen die Tränen und die 24 Die taciteische Formulierung gibt, wörtlich genommen, den Anstoß für künstlerische Darstellungen von Senecas Tod. 25 Vgl. meinen Beitrag „Philosophie als Psychotherapie“ in diesem Band. 26 Ann. XV 62, 2: „simul lacrimas eorum modo sermone, modo intentior in modum coercentis ad firmitudinem revocat, rogitans ubi praecepta sapientiae, ubi tot per annos meditata ratio adversum imminentia?“ Es liegt der für die Konsolationsliteratur übliche Teil der obiurgatio vor. 27 Daß die Frau dem Mann in den Tod vorangeht, gehört zu den zumeist stoisch oder kynisch geprägten Selbstmordritualen der Kaiserzeit; so Sextia, die Gattin des Scaurus (Tacitus: Ann. VI 29); Arria (Plinius: Epist. III 16); Arria minor (Tacitus: Ann. XVI 35); vgl. auch Pseudo-Seneca: Hercules Oetaeus 897: „praegredi castae solent“; vgl. Hirzel (wie Anm. 18), S. 113 Anm. 4. 28 Vgl. Epist. 70, 9 zu Sokrates’ vorbildlichem Verhalten angesichts des Todes. Seneca betont, daß Sokrates durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, durch einen ,Hungerstreik‘ Selbstmord zu begehen, aber trotzdem 30 Tage aushielt – aus Gesetzestreue und um sich seinen Freunden in den letzten Tagen und Stunden („ut fruendum amicis extremum Socraten daret“) nicht zu entziehen. Diesen „Genuß“ der letzten Stunden seines Lebens gewährt auch Seneca seinen Vertrauten. 29 Zum Schluß des Phaidon vgl. Dorothea Frede: Platons ,Phaidon‘, Darmstadt 1999, S. 168 – 173; Theodor Ebert: Platon, Phaidon, Göttingen 2004; S. 455 – 463 (Platon, Werke, Übersetzung und Kommentar I 4). 30 Wie bei Seneca wird auch bei Sokrates die Gesichtsfarbe und seine Unerschrockenheit betont (Phaidon 117b2 – 6).

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Verzweiflung der anwesenden Freunde entgegen, die ermahnt werden, ihr Leben nach dem des Sterbenden auszurichten. Die Anklänge sind vor allem in der Schlußszene (Ann. XV 64, 3 f.) nicht zu überhören, als Seneca den Arzt Statius Annaeus bittet, ihm, um den Tod endlich herbeizuführen, den Schierlingsbecher zu reichen, mit dem in Athen die Verurteilten zu Tode gebracht wurden („venenum, quo d‹am›nati publico Atheniensium iudicio exstinguerentur“). Allerdings zeigt das Gift bei Seneca keine Wirkung, und das Trankopfer wird nicht Asklepios, sondern Iuppiter liberator dargebracht. Gerade in dieser Szene tritt ein gravierender Unterschied zwischen Sokrates’ und Senecas Tod, zwischen Platons und Tacitus’ Schilderung der letzten Stunden zu Tage: Platon setzt immer wieder das Mittel der Ironie ein, um das Pathos und die Tragik der Abschiedsworte zu mindern, z. B. in 115a5 – 9: Sokrates wendet sich lächelnd an Simmias und Kebes mit den Worten, wenn er Tragödienschauspieler wäre, würde er jetzt sagen, das Schicksal rufe ihn; doch für ihn sei es Zeit, ins Bad zu gehen, um nach seinem Tod den Frauen keine unnötige Arbeit zu machen.31 Tacitus dagegen verwendet die tragische Ironie – Senecas Sokrates-Nachfolge scheitert an seiner körperlichen Konstitution, die das Gift keine Wirkung entfalten läßt – zur Steigerung des Pathos der Szene.32 Auch die implizite Botschaft des platonischen Phaidon und der Schilderung des Tacitus ist vergleichbar: Platon widerlegt durch die Darstellung der letzten Handlungen und Worte des Sokrates viel deutlicher, als wenn er dies explizit in apologetischer Form getan hätte, den Vorwurf der Asebie, der Sokrates zum Verhängnis wurde. Tacitus zeigt in der Schilderung der letzten Stunden Senecas, daß der Philosoph seine härteste probatio besteht und daß philosophische Theorie, wie sie vor allem der 70. Brief an Lucilius formuliert, und praktische Lebensführung nicht in Widerspruch zueinander stehen. Er widerlegt damit Seneca feindlich gesinnte Autoren.33 Dazu paßt auch, daß Seneca selbst 31 Vgl. Ebert (wie Anm. 29), S. 453. 32 Er verfährt damit der tragischen Dichtkunst Senecas entsprechend, die man als Pathetisierung griechischer Modelle bezeichnen könnte (vgl. Karlheinz Trabert: Studien zur Darstellung des Pathologischen in den Tragçdien des Seneca, Diss. Erlangen 1953). Zur dramatischen, tragischen Struktur der Annalen vgl. Clarence W. Mendell: Der dramatische Aufbau von Tacitus Annalen (1935), in: Tacitus, hg. von Viktor Pöschl, Darmstadt 21986, S. 449 – 512, hier 480 f. (mit dem Hinweis auf Senecas Dramaturgie). 33 Eine gehässige Variante liegt vor bei Dio LXII 25, 1 f., nach der Seneca seine Frau mit Bezug auf die praecepta philosophiae zwingt, mit ihm in den Tod zu

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in den letzten Stunden seines Lebens nicht nachläßt, als Philosoph zu wirken34 und sein philosophisches Testament den herbeigerufenen Sekretären in die Feder diktiert – in derselben stilistischen Eleganz, deren er sich zeit seines Lebens befleißigt hatte. Auch in der Todesstunde verläßt ihn seine Eloquenz nicht (Ann. XV 63, 3 „et novissimo quoque momento suppeditante eloquentia“). Selbst in !di²voqa wie Stil und Rhetorik bleibt der Stoiker, völlig der von ihm vertretenen Lehre entsprechend, ganz derselbe, ganz sich gleich.35 Vor dem Hintergrund des platonischen Phaidon, in dem Sokrates seinen Freund Kriton dem Gott Asklepios einen Hahn zu opfern heißt,36 enthält das Opfer an Iuppiter liberator, das Seneca vornimmt (Ann. XV 64, 4), eine politische Aussage und wird zum Beweis für die von ihm im Gespräch mit Gavius Silvanus in Anspruch genommene libertas, seinen unbeugsamen Freiheitssinn (Ann. XV 61, 1): Iuppiter soll Seneca endlich von den Todesqualen befreien, aber vor allem den römischen Staat von dem Tyrannen. Diese politische Aussage wird um so deutlicher, wenn man Iuppiter liberator mit Zeus Eleutherios gleichsetzt, der in Griechenland als Befreier von Tyrannei und Barbarei verehrt wurde;37 sie wird geradezu maliziös, wenn Nero tatsächlich eine besondere Beziehung zu Iuppiter liberator gehabt hat; denn das „Attribut des Gottes begegnet nur hier und auf Nero-Münzen /…/, ferner in einem alten Kalen-

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gehen, und nur das Eingreifen der Soldaten sie am Leben erhält. Vgl. Köstermann (wie Anm. 20), S. 303: „Auf welchen Autor diese bösartige Verzerrung zurückzuführen ist, wird kaum zu klären sein (man könnte eher an Cluvius Rufus denken als an Plinius)“. Vgl. auch Winfried Trillitzsch: Seneca im literarischen Urteil der Antike, Bd. I: Darstellung, Amsterdam 1971, S. 116: „Die Beschreibung des Todes Senecas nimmt bei Dio nur einen geringen Raum ein und wirkt gegenüber der großartigen Schilderung des Tacitus eher wie eine Karikatur.“ Das dem Selbstmord vorangehende Gespräch in der Nachfolge von Platons Phaidon wird in der Kaiserzeit geradezu zur Manier; vgl. Hirzel (wie Anm. 18), S. 115 f. Deshalb können die von Tacitus in Ann. XV 67, 3 berichteten letzten Worte des Subrius Flavus in einer schnörkellosen, ungekünstelten militärischen Diktion nicht als Kritik am Pathos Senecas gelesen werden. Wie der Philosoph bleibt auch der Offizier angesichts des Todes derselbe, der er zeit seines Lebens war. Natürlich verweist das Diktat Senecas in den Todesstunden auf einen Hauptunterschied zwischen ihm und Sokrates: Seneca war schreibender Philosoph. Zu dem vieldiskutierten Asklepios-Opfer vgl. zuletzt Ebert (wie Anm. 29), S. 459 f. Vgl. Albert Henrichs: Zeus, in: Der Neue Pauly, Bd. 12/2, Stuttgart, Weimar 2002, Sp. 782 – 789, hier Sp. 784.

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der“.38 Schließlich vermittelt die Iuppiter-Libation eine philosophische Aussage, ist doch der höchste der Götter in Kleanthes’ Zeus-Hymnos (SVF I 537) der Gott der traditionellen Volksreligion, gleichzeitig jedoch „der ordnende Feuer-Gott Heraklits und die mit Vorsehung sorgende Gottheit der Stoiker“.39 Seneca stellt sich in Tacitus’ Bericht zwar eindeutig in die Nachfolge des Sokrates, durch die bewußte Durchbrechung der Phaidon-Szenerie macht er sich jedoch zum römischen Sokrates, zu einem stoischen Sokrates und schafft damit, wie die weitere Schilderung des Tacitus in den Annalen zeigt, ein neues Vorbild des Philosophen-Todes: sich selbst.40

III. Und Senecas Exemplum wirkte: Nach dem Tribunen Subrius Flavus (Ann. XV 67) ist das nächste Beispiel an Standhaftigkeit („proximum constantiae exemplum“) der Centurio Sulpicius Asper (Ann. XV 68, 1). Silanus erträgt sein Geschick „sapienter“, also ganz den praecepta sapientiae entsprechend, und stirbt in heftiger Gegenwehr gegen die Schergen einen ehrenhaften Soldaten-Tod, die todbringenden Wunden auf der Brust (Ann. XVI 9, 2 „volneribus adversis tamquam in pugna caderet“). Stoisch ist auch der Tod des L. Verus, seiner Schwiegermutter Sextia und seiner Tochter Pollitta (Ann. XVI 10 f.), bei deren gemeinsamem Selbstmord fortuna die natürliche Reihenfolge, dem Alter entsprechend, wahrte. Anteius nimmt Gift, und als dies nicht wirken will, öffnet er sich – in direkter Seneca-Nachfolge – zur Beschleunigung des Todes die Adern (Ann. XVI 14, 3). Der hochangesehene Soldat Ostorius zeigt die oftmals vor Feinden bewiesene Tapferkeit gegen sich selbst: Weil das Blut aus den aufgeschnittenen Adern zu langsam fließt, läßt er einen Sklaven einen Dolch unbeweglich hochhalten und drückt

38 Köstermann (wie Anm. 20), S. 308. 39 Die hellenistischen Philosophen, hg. von Arthur A. Long und David N. Sedley, Stuttgart – Weimar 2000, S. 396. 40 Man geht wohl nicht zu weit, wenn man Senecas Verhalten unter dem für die römische Literatur und Philosophie prägenden Aspekt der aemulatio mit den Griechen liest. Vgl. dazu auch Bernhard Zimmermann: Cicero und die Griechen, in: Rezeption und Identitt, hg. von Bettina Rommel und Gregor Vogt-Spira, Stuttgart 1999, S. 240 – 248

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dessen Hand in seine Kehle (Ann. XVI 15, 3).41 Die Art und Weise, wie all diese Personen sterben, vor allem, wie sie ihren Tod durch die ihnen gerade zur Verfügung stehenden Mittel beschleunigen, entspricht ganz und gar den praecepta, die Seneca in Epist. 70 hinsichtlich des Selbstmordes gibt: (6) citius mori aut tardius ad rem non pertinet, bene mori aut male ad rem pertinet; bene autem mori est effugere male vivendi periculum. /…/ (24) nihil obstat erumpere et exire cupienti: in aperto nos natura custodit. Cui permittit necessitas sua, circumspiciat exitum mollem; cui ad manum plura sunt per quae sese adserat, is dilectum agat et qua potissimum liberetur consideret: cui difficilis occasio est, is proximam quamque pro optima arripiat, sit licet inaudita, sit nova. Non deerit ad mortem ingenium cui non defuerit animus. (6) Schneller oder langsamer zu sterben tut nichts zur Sache, gut oder schlecht zu sterben dagegen sehr wohl; gut zu sterben aber heißt, der Gefahr, schlecht zu leben, zu entkommen. /…/ (24) Nichts hindert einen daran, wenn man nur will, aus dem Leben auszubrechen und hinwegzugehen: Die Natur bewacht uns auf freiem Feld.42 Wem es die Notlage, in der er sich befindet, erlaubt, der soll nach einem erträglichen Ausgang Ausschau halten; wer mehrere Möglichkeiten, um Hand an sich zu legen, hat, der soll die Auswahl treffen und sich überlegen, auf welchem Weg er sich am ehesten die Freiheit verschaffen kann: für wen es dagegen schwierig ist, eine Möglichkeit zu finden, der soll die gerade am nächsten liegende als die beste an sich reißen, mag sie auch nie gehört, mag sie auch neu sein. Es wird zum Tod nicht der Erfindungsreichtum fehlen, wem der Mut nicht fehlt.

In der Reihe der durch Neros saevitia erzwungenen Selbstmorde fügt Tacitus als Ruhepunkt seiner Erzählung von Grausamkeiten des Princeps einen auktorialen Kommentar ein (Ann. XVI 16). Der Text ist kontrovers diskutiert – vor allem was Tacitus’ Bewertung der ums Leben gekommenen angeblichen oder tatsächlichen Verschwörer angeht.43 Wichtig ist, daß Tacitus ihnen durch seine Schilderung einen 41 Er stirbt – so könnte man sagen – einen heroisch-tragischen Tod, dem des sophokleischen Aias vergleichbar. 42 Sc. „so daß wir problemlos entkommen können“. 43 Vor allem gibt die Formulierung „patientia servilis“ („ein geradezu sklavenartiges Aushaltevermögen“) Anlaß zur Diskussion. Ich kann darin, vor allem im Kontext der Erzählung – der Autorkommentar folgt auf die Schilderung des Heldentodes des Ostorius – keine Kritik an den Individuen herauslesen, die Nero zum Opfer fielen. Vielmehr ist es eine komprimierte Gesellschaftsanalyse, die Tacitus bietet: Ein Regime wie das Neros führt zu „patientia servilis“, aus der individuelles heldenhaftes Verhalten nicht heraushelfen kann. Man lese nur

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ehrenden Nachruf, eine laudatio funebris in der Tradition der griechisch-römischen Geschichtsschreibung widmet, um auch denen, die nicht wie Seneca selbst für ihr Nachleben gesorgt hatten, ein individuelles Gedenken zu gewähren (Ann. XVI 16, 2 „habeantque propriam memoriam“). Mit Kapitel 17 des 16. Buches setzt der Totentanz von neuem ein. Der erhaltene Rest ist ein Meisterwerk der Kompositionskunst des Tacitus: Auf den summarisch behandelten Tod von Annaeus Mela, Senecas leiblichem Bruder und Lucans Vater, und Cerealis Anicius (Ann. XVI 17) – gleichsam die Ouverture der nächsten Erzählsequenz – folgt der Selbstmord Petrons (Ann. XVI 18 – 20), bevor mit Soranus’ und vor allem Thraseas Tod der Höhepunkt erreicht und der Kreis zurück zu Senecas Selbstmord geschlagen wird. Petrons Tod ist in jeder Hinsicht als Gegenstück zur Seneca-Szene, vor allem aber zu Platons Phaidon zu sehen. Petron unterhält sich mit den Anwesenden nicht über die Unsterblichkeit der Seele und ermahnt sie nicht mit philosophischen Sprüchen, sondern läßt sich leichte Verse und Gedichte rezitieren. Den Ruhm der constantia zu erlangen liegt ihm fern. Er beschleunigt seinen Tod nicht, sondern zögert ihn immer wieder durch Verbinden der Schnittwunden absichtlich hinaus (Ann. XVI 19, 2 f.).44 So bleibt Petron, der arbiter elegantiae,45 ganz wie Seneca auch im Sterben sich gleich. Tacitus deutet in dieser Szene an, daß es neben der vorherrschenden stoischen constantia andere Einstellungen gab, die auf anderen Wegen – mag man sie im Falle Petrons epikureisch oder trivialepikureisch nennen – zu einem ebenso ehrenvollen Tod führten. Das Finale der Grausamkeit wird von Tacitus mit der Formulierung „Nero virtutem ipsam exscindere concupivit“ („Nero hatte das Verlangen, die Tugend an und für sich auszulöschen“, Ann. XVI 21) Ann. XVI 4, 4, wo Tacitus das Verhalten des Pöbels bei Neros Auftritt als Kitharöde beschreibt: „crederes laetari, ac fortasse laetabantur per incuriam publici flagitii“ („man hätte meinen können, sie freuten sich, und vielleicht freuten sie sich tatsächlich aus Unbekümmertheit um die öffentliche Schande [sc. die der Auftritt des Princeps im Theater darstellte])“. Fragen kann man sich allerdings, ob die patientia Symptom der stoischen Einstellung der Opfer ist, die alles Äußere als unerheblich zur Eudaimonia betrachten, Anzeichen vielleicht sogar der stoisch-kynischen Todessehnsucht, die Hirzel (wie Anm. 18, S. 116 – 118) bespricht und Lukian in seinem Peregrinus Proteus parodiert. 44 Vgl. dagegen Senecas Aussage in Epist. 70, 12: „non utique melior est longior vita, sic peior est utique mors longior.“ 45 Zur Identifizierung des taciteischen Petrons mit dem Autor des Satyrikon vgl. Martin S. Smith: Petronius, Cena Trimalchionis, Oxford 1975, 213 f.

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eingeleitet. Traditionelle römische und philosophisch-stoische virtus fließen in der Person Thraseas zusammen. Dramatisch, zunächst in indirekter, dann in direkter Rede, wird die Verleumdung des Capito Cossutianus wiedergegeben. Die gegen Thrasea erhobenen Vorwürfe, vor allem sein mangelndes Interesse an den Iuvenaliaspielen und Neros künstlerischen Ambitionen, erhalten vor der Folie von Ann. XVI 3 f.46 einen positiven Anstrich, die Anschuldigung, er achte nicht religiöse Bindungen und Riten und Gesetze, verweist auf die gegen Sokrates erhobene Anklage. Die Pervertiertheit bei Hofe wird auch im Falle des Barea Soranus deutlich, den Nero aufgrund seiner Gerechtigkeit und seines Fleißes haßt, und darin, daß Nero seine kaiserliche Größe durch die Ermordung herausragender Männer, gleichsam durch königliche Verbrechen, allen kundtun will (Ann. XVI 23, 2). Die Situation, die in Rom herrscht, ist mit der in Kerkyra vergleichbar, die Thukydides in der Pathologie (III 82) schildert: Der Bürgerkrieg führte zu einer Umwertung aller bisher geltenden moralischen Vorstellungen und damit zur Auflösung der Gesellschaft. Thrasea bleibt seiner lebenslangen Einstellung treu (Ann. XVI 26, 47 5) und ragt damit aus der Schar der schweigend zugrunde Gehenden 46 Vgl. Anm. 43. 47 Er ist auch im Tod ganz er selbst; vgl. Seneca: Epist. 20, 1: „qui aliquando fias tuus“. Vgl. auch die Schilderung von Hercules’ ganz und gar stoischem Flammentod im pseudosenecanischen Hercules Oetaeus (zur Forschungslage vgl. Christine Walde: Herculeus labor. Studien zum pseudosenecanischen Hercules Oetaeus, Frankfurt/M. u. a. 1992, S. 243 – 251) V. 1693 „iacuit securus“, 1763 f. „at ille medias inter exurgens faces, / semiustus ac laniatus, intrepidus tuens“, 1741 „immotus, inconcussus“, 1746 „tam placida frons est, tanta maiestas viro“, 1751 „intrepidus ferox“ – ein Verhalten, das sich durch seine virtus selbst den Weg zum Himmel bahnt (1971). Man vgl. auch den Tod des Astyanax und der Polyxena in Senecas Troades, der eine große Ähnlichkeit mit der erzwungenen Selbstmordserie in Tacitus’ Annalen aufweist: „intrepidus animo“ (1093), „ferox“ (1098), „sponte sua desiluit“ (1102), „animus … fortis“ (1146, 1153), „nec tamen moriens adhuc / deponit animos“ (1157 f.). Die zuschauenden Griechen und Trojaner werden wie im Theater (1125 „theatri more“) durch Mitleid gerührt und bewegt (1144 – 1148: „hos movet formae decus, / hos mollis aetas, hos vagae rerum vices; / movet animus omnes fortis et leto obvius, […] / mirantur ac miserantur.“). Polyxena und Astyanax sind die mythischen Vorläufer der stoischen Heroen der taciteischen Annalen und üben dieselbe Vorbildfunktion wie diese aus. Dies bedeutet – ich kann in diesem Kontext nicht weiter auf die kontrovers diskutierte Frage eingehen –, daß Seneca, wie die impliziten Zuschauer in den Troades deutlich machen, seinen Stücken durchaus eine didaktische Funktion beimaß. So ist es kein Zufall, daß Opitz

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heraus (Ann. XVI 25, 2). Der Quaestor des Konsuls, der ihm den Senatsbeschluß überbringen soll, trifft Thrasea in seinem Park in der Gesellschaft herausragender Männer und Frauen48 an, mit dem Kyniker Demetrius in ein Gespräch über das Wesen der Seele und die Trennung von Körper und Geist vertieft.49 Die verzweifelten Freunde und seine Gattin Arria, die dem Beispiel ihrer Mutter folgen und mit Thrasea in den Tod gehen will,50 ermahnt er, vernünftig zu sein und sich nicht in Gefahr zu bringen (Ann. XVI 34). Froh gestimmt, da sein Schwiegersohn nur aus Italien verbannt wurde, nimmt er den Senatsbeschluß entgegen, läßt sich die Adern beider Arme öffnen und besprengt mit dem herausströmenden Blut in deutlicher Seneca-Nachfolge als Libation für Iuppiter liberator den Boden. Den jungen Quaestor ermahnt er, sich sein Herz durch Vorbilder an Standhaftigkeit („constantibus exemplis“) zu stählen. Da der Tod sich nicht einstellen will und die Qualen unerträglich werden, bittet er den Philosophen Demetrius – an dieser Stelle bricht der Text der Annalen ab – wohl um ein beschleunigendes Mittel, vielleicht den Schierlingsbecher. Die Sokrates- und Seneca-Nachfolge ist in dieser Szene unübersehbar. Thrasea ist das herausragende Exempel der Vereinigung römischer und stoischer virtus. Seine Fürsorge für die Mitglieder seiner Familie und für seine Freunde – er besteht darauf, sein Schicksal von ihrem zu trennen – ist Ausdruck seines Verantwortungsbewußtseins. Bereits in Kap. 26, 5 des 16. Buches ermahnt er den jungen Volkstribunen Rusticus Arulenus, sich nicht für ihn einzusetzen, sondern an sich selbst denken und genau zu überlegen, wie er in diesen schwierigen Zeiten die politische Laufbahn einschlagen wolle. Und mit gleicher Menschlichkeit richtet er seine letzten Worte an den jungen Quaestor, der ihm die Todesnachricht zu überbringen hat – genauso wie Sokrates im Phaidon dem Überbringer des Schierlingsbechers menschlich, ohne Vorwürfe begegnet (116c-d).

gerade die Troades ins Deutsche übersetzte, in denen die „vagae rerum vices“, die Launen der Fortuna, besonders eindrucksvoll vorgeführt werden. 48 Zu den „viri illustres“ vgl. Ann. XVI 16, 2. Zu dem diesem Selbstmord vorausgehenden Gespräch vgl. Hirzel (wie Anm. 18), S. 115 f. 49 Die Szene ist damit als unmittelbares Gegenstück zu Petrons letzten Stunden und Worten konzipiert. 50 Die ältere Arria war gemeinsam mit ihrem Mann Caecina Paetus nach dem Zusammenbruch der Revolte des Jahres 42 aus dem Leben geschieden (vgl. Dio LX 16, 6); Köstermann (wie Anm. 20), S. 408.

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IV. Tacitus’ Annalen sind neben der pseudosenecanischen Octavia 51 das wichtigste antike Rezeptionszeugnis für die Wirkung der Person Senecas und der von ihm vertretenen philosophischen Lehren.52 Die Schilderung der blutigen Ereignisse nach der Aufdeckung der Pisonischen Verschwörung illustrieren zweierlei: Einerseits beweisen die durch Nero erzwungenen Selbstmorde die Gültigkeit der stoischen Lehre als Lebenshilfe in ausweglosen Situationen; überspitzt könnte man sagen, daß die stoische Theorie ihre probatio besteht. Andererseits ist die taciteische Erzählung Ausdruck der Romanisierung der stoischen Theorie, indem die Rolle von exempla für eine vorbildliche Lebensführung im Sinne einer praktischen Stoa vorgeführt wird. Die Idealisierung Senecas, gleichzeitig aber auch eine Trivialisierung stoischen Gedankenguts, wird in der Octavia besonders deutlich: In seinem großen Monolog (377 – 434) wird Seneca als der Protophilosoph eingeführt, der sich der Macht der Fortuna bewußt ist, die ihn mit trügerischer Miene auf die Höhen der Macht gehoben hat, um ihn um so tiefer stürzen zu lassen, und für den im Rückblick die Zeit der Verbannung auf Korsika ihren Schrecken verliert, da er selbstbestimmt (383 „liber animus et sui iuris“) seinen Studien nachgehen konnte. Wie Hecuba in den Troades (1 – 6) wird Seneca von dem Anonymus zum Sinnbild tragischer ,Fallhöhe‘ stilisiert.53 Wichtig für die Rezeption stoischer Philosophie ist, daß die !di²voqa-Reflexion ihren philosophischen Gehalt einbüßt und zum popularphilosophischen, gnomisch eingesetzten vanitas-Motiv wird. Dies ist bereits in den Tragödien Senecas angelegt, in denen Fortuna und vanitas in den Chorliedern ohne dezidiert stoischen Tenor ständig leitmotivisch eingesetzt werden.54 51 Zur Datierung der Octavia bald nach Senecas und Neros Tod vgl. Gesine Manuwald: Fabulae praetextae. Spuren einer literarischen Gattung der Rçmer, München 2001, S. 338. 52 Bei Seneca fließen ähnlich wie bei Aischylos Leben und Werk ineinander; zur Seneca-Rezeption in der Antike vgl. Trillitzsch (wie Anm. 33). 53 Vgl. 377 – 380: „Quid, impotens Fortuna, fallaci mihi / blandita vultu, sorte contentum mea / alte extulisti, gravius ut ruerem edita / receptus arce totque prospicerem metus?“ 54 Vgl. Hercules furens 524 „o Fortuna viris invida fortibus“; Phaedra 1123 f. „Quanti casus, heu, magna rotant! / minor in parvis Fortuna furit“; Oedipus 980 – 982 „Fatis agimur. Cedite fatis; / non sollicitae possunt curae / mutare rati stamina fusi“; Agamemnon 57 – 107, besonders 57 f. „o regnorum magnis fallax / Fortuna bonis“, 71 f. „ut praecipites regum casus / Fortuna rotat“; 101 f.

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Seneca blieb von der Spätantike über das Mittelalter bis in die Zeiten des Humanismus, der Renaissance und des Barock in Literatur und bildender Kunst ständig präsent. Maßgeblichen Anteil an der Beliebtheit Senecas durch alle Epochen55 hatte Hieronymus, der in De viris illustribus (12) aufgrund des fiktiven Briefwechsels zwischen Seneca und Paulus56 den römischen Philosophen in sein Verzeichnis heiliger Männer aufnahm,57 und damit dem Seneca Christianus des Frühhumanismus den Weg ebnete. Albertino Mussato (1261 – 1329),58 der mit seiner Ecerenis als erster eine Tragödie im Stil Senecas verfaßte, und nach ihm Petrarcas Freund und Gönner Giovanni Colonna († 1348) reihten Seneca unter die christlichen Denker ein.59 Wenn auch der Selbstmord Senecas und seine Äußerungen zum Freitod in den Epistulae morales sich

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„quidquid in altum Fortuna tulit, / ruitura levat“. Das senecanische Bild des Schicksalsrads wird rezipiert von Boethius: Consolatio Philosophiae (II 1, 19; II 2, 9) und findet durch die Consolatio seinen Weg in die mittelalterliche Kunst und Literatur; vgl. ausführlich Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la tradition littraire, Paris 1967, S. 127 – 134; Stefano Pittaluga: Boezio, Goffredo da Viterbo e la ruota della Fortuna, in: Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien fr Paul Gerhard Schmidt, hg. von Andreas Bihrer und Elisabeth Stein, München, Leipzig 2004, S. 504 – 510. Die Ausnahme bildet die klassizistische und archaistische Periode der lateinischen Literatur, die Seneca aus stilistischen Gründen ablehnt; vgl. die Testimonien bei Trillitzsch (wie Anm. 33), Bd. II, S. 333 – 338. Vgl. jetzt Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Alfons Fürst, Therese Fuhrer, Folker Siegert und Peter Walter, Tübingen 2006 (Sapere XI). „Lucius Annaeus Seneca Cordubensis, Sotionis stoici discipulus et patruus Lucani poetae, continentissimae vitae fuit, quem non ponerem in catalogo sanctorum, nisi me illae epistolae provocarent quae leguntur a plurimis, Pauli ad Senecam aut Senecae ad Paulum, in quibus, cum esset Neronis magister et illius temporis potentissimus, optare se dicit eius loci apud suos cuius sit Paulus apud Christianos. Hic ante biennium quam Petrus et Paulus martyrio coronarentur a Nerone interfectus est.“ Man könnte beinahe annehmen, daß Hieronymus im letzten Satz Senecas Tod dem Martyrium von Petrus und Paulus zwar nicht gleichsetzt, aber doch sehr nahekommen läßt. Vgl. Agostino Sottili: Albertino Mussato, Erasmo, l’Epistolario di Seneca con San Paolo, in: Bihrer / Stein (wie Anm. 54), S. 645 – 678. Vgl. Peter Walter: Senecabild und Senecarezeption vom spten Mittelalter bis in die frhe Neuzeit, in: Der apokryphe Briefwechsel (wie Anm. 56), S. 130 f. Petrarca selbst war stark durch Senecas Schriften und Seneca zugeschriebene Werke geprägt, nicht nur in De remediis utriusque fortunae, sondern auch im Canzoniere; vgl. die Interpretation des Eröffnungsgedichts durch Marco Santagata: L’intellettuale petrarchesco tra sagezza stoica e rigore agostino, in: Seneca nella coscienza dell’Europa, hg. von Ivano Dionigi, Milano 1999, S. 137 – 152, bes. S. 142 – 144.

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mit der christlichen Lehre nicht in Übereinstimmung bringen lassen konnten, beeindruckte dennoch die Übereinstimmung von Lehre und Handeln,60 vor allem, daß der heroische Tod Senecas seiner Philosophie entsprach.61 Boccaccio geht in seinem Kommentar zu Dantes Commedia aus dem Jahr 1373 in gut allegorischer Tradition sogar so weit, daß er die taciteische Sterbeszene, Senecas Tod in der Badewanne, als „Wassertaufe“ des Philosophen deutet, der zuvor schon die „Geisttaufe“ („baptismus flaminis“) empfangen habe.62 Diese interpretatio Christiana von Senecas Tod trug maßgeblich dazu bei, daß der Seneca Christianus moralisque in der christlichen Seelsorge Anklang fand. Der Franziskaner J. Guallensis (13. Jh.) stellte mehrer Kompendien erbaulicher Stellen aus Seneca zusammen und leitet volksetymologisch in seiner Seneca-Biographie den Namen des Philosophen von se necans ab.63 Die auf Geert Groote zurückgehende Bewegung der devotio moderna schöpfte reichlich aus den Schriften Senecas, insbesondere aus dem pseudosenecanischen Werk De moribus. 64 Senecas heroischer Tod, der schon die stoischen Verschwörer des Pisonen-Kreises zur Nachfolge inspiriert hatte, wurde auch im Humanismus zum Modell: Der unter Papst Paul II. in Rom eingekerkerte Humanist Bartolomeo Sacchi, genannt il Platina, stellt sich mit seinen 60 Seneca wird im Mittelalter und Frühhumanismus als Moralphilosoph gesehen. Dante (Inferno IV, 141) nennt ihn „Seneca morale“; vgl. den Kommentar von Ferdinand Barth: Dante Alighieri, Die gçttliche Komçdie, Darmstadt 2003, S. 72 f. Zur Seneca-Kenntnis Dantes vgl. Emilio Pasquini: Presenze di Seneca in Dante, in: Dionigi (wie Anm. 59), S. 111 – 136, bes. S. 120: „la lezione di Seneca, almeno per Dante, si sia prevalentamente sviluppata per sententias“. Zu beachten ist, daß Seneca vorwiegend in der Form von exzerpierten Sentenzen, in den ihm fälschlich zugeschriebenen Schriften und der in der Echtheit umstrittenen Schrift De remediis fortuitorum rezipiert wurde. Vgl. dazu Gilles Gerard Meerseman: Seneca maestro di spiritualit nei suoi opusculi apocrifi dal XII al XV secolo, in: Italia medioevale e umanistica 16, 1973, S. 43 – 133 (mit einer nützlichen Zusammenstellung der Texte). Die pseudosenecanischen oder in ihrer Echtheit umstrittenen Schriften De remediis fortuitorum, De paupertate, De moribus, De formula honestae vitae sind gut zugänglich im 3. Band von Friedrich Haases Editio Teubneriana, Leipzig 1853, S. 446 ff. 61 So Boccaccios Urteil in seinem Kommentar zu Dantes Commedia (Zitat bei Walter [wie Anm. 59], S. 135 Anm. 51) 62 Zitat bei Walter (wie Anm. 59), S. 130. 63 Bei Walter (wie Anm. 59), S. 136 Anm. 55. 64 Vgl. Walter (wie Anm. 59), S. 138 f.; Meerseman (wie Anm. 60), S. 128 – 133; Christoph Burger, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Tübingen 4 1999, Sp. 776.

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im Gefängnis verfaßten Traktaten im Stil Senecas oder der Seneca zugeschriebenen Schriften De falso et vero bono, Contra amores und De honesta voluptate et valetudine in die Traditionen des Seneca morale und richtet seine Mitgefangenen und sich selbst an Senecas Vorbild auf, dessen Haltung und Lehren gleich einer Medizin Trost spenden.65 Bildlichen Ausdruck findet Senecas heroischer Tod in dem bekannten, 1612/13 entstandenen Bild von Peter Paul Rubens in der Münchner Alten Pinakothek.66 Rubens ließ sich durch Tacitus’ Annalen – Lipsius’ Ausgabe67 wurde von Rubens’ Freund Balthasar Moretus verlegt (Amsterdam 1615, 1632) –, eine Seneca-Büste aus der Sammlung des Kardinals Borghese (heute im Louvre) und eine um 1594 gefundene Statue eines afrikanischen Fischers (ab 1625 in der Villa Borghese in Rom, heute im Louvre) anregen.68 Doch das Gemälde ist nicht nur eine „vera effigies“ von Senecas Tod, eine Verbildlichung der taciteischen Todesszene; vielmehr vereinigt es zahlreiche, aus der 65 Vgl. dazu Maria Grazia Blasio: Disciplina del corpo, disciplina dell’anima: letture umanistische di Seneca, in: Dionigi (wie Anm. 59), S. 153 – 171, bes. S.158 f. und 167. 66 Vgl. dazu den Beitrag von Klaus Mönig in diesem Band; außerdem Günter Hess: Der Tod des Seneca. Ikonographie – Biographie – Tragçdientheorie, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 25, 1981, S. 197 – 228; Marc Morford: Stoics and Neostoics. Rubens and the Circle of Lipsius, Princeton, N.J. 1991, S. 185 – 187. 67 Zu Lipsius’ Stoizismus vgl. den Beitrag von Florian Neumann in diesem Band. Lipsius war so stark durch Tacitus’ Schilderung von Senecas Tod beeindruckt, daß er in seiner Vita Senecas auf eine eigene Darstellung verzichtete, sondern Tacitus ausschrieb. Hess (wie Anm. 66), S. 223 weist darauf hin, daß die Schilderung von Lipsius’ Todeskampf in der Karwoche des Jahres 1606 – Lipsius war wieder in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt –, zwar auf die Passion Christi bezogen sei, aber dennoch in jeder Phase den Seneca moriens durchscheinen lasse: „Der ,philosophus Christianus‘ bewährt sich vor seinen Freunden ,scriptis & factis‘ als Exempel wahrer constantia.“ Das sokratische Modell wird nun zum zweiten Mal – dieses Mal in einer interpretatio Christiana – neu gedeutet und nutzbar gemacht. 68 Vgl. Morford (wie Anm. 66), S. 183. Rubens zeichnete zwischen 1606 und 1608 die Statue mindestens sechs Mal aus unterschiedlichen Perspektiven – einerseits, um die Anatomie der Figur zu studieren, andrerseits jedoch vor allem, um ein berühmtes künstlerisches Werk der Antike wahrheitsgetreu wiederzugeben. In seiner Schrift De imitatione statuarum (unveröffentlicht) vertrat er die Ansicht, man könne höchste Meisterschaft in der Malerei nur dann erlangen, wenn man die Antike völlige verstanden habe; vgl. dazu Peter Paul Rubens, hg. von Klaus Albrecht Schröder und Heinz Widauer, Katalog Wien, Albertina, 2004, S. 154 – 157.

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christlichen Ikonographie bekannte Elemente unter einem stoischen Deutungsansatz zusammen: Die Gelassenheit und Ruhe, die Seneca ausstrahlt, versinnbildlichen seine stoische constantia und firmitas animi angesichts des Unausweichlichen. Der Sterbende läßt sich vom Schicksal geleiten, nicht fortschleppen (Epist. 107, 10: „ducunt volentem fata, nolentem trahunt“). Der nach oben gewandte Blick und die Haltung der rechten Hand, die man als Segnungsgestus deuten könnte, und vor allem die Form der Wanne, die ganz und gar nicht an eine Badewanne, sondern ein Becken erinnert,69 verweisen auf das aus der christlichen Ikonographie bekannte Motiv von Jesu Taufe im Jordan.70 Auch Christus trägt wie Seneca ein Tuch um die Hüften, um die Scham zu bedecken. Der Blick Christi ist vergeistigt, Seneca schaut nach oben, als würde er die Herabkunft des Heiligen Geistes erwarten. Der Arzt, der Seneca die Adern öffnet, hat in den Christus-Darstellungen seine Entsprechung in Johannes dem Täufer. Schließlich wohnen Jünger und Engel der Taufe Jesu als Zeugen bei; auf Rubens’ Bild ist es der jugendliche Sekretär, der die letzten Worte des Meisters mit Ergriffenheit aufzeichnet71 und gleichsam einen Jünger Senecas oder einen Evangelisten darstellt, der seine Lehre in der Welt bekannt machen wird. Rubens übernimmt demnach – dies macht der ikonographische Vergleich deutlich – Boccaccios allegorische Deutung von Senecas Tod in der Badewanne als „Wassertaufe“ nach der „geistigen Taufe“.72 Paganes und Christliches fließen ganz wie in Lipsius’ christlichem Neostoizismus ineinander.73 69 Vgl. dazu Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. von Engelbert Kirschbaum, Bd. 4, Rom, Freiburg – Basel – Wien 1972, Sp. 246 (s.v. Taufe, Taufszenen: der Taufbrunnen ist rund-, kelch- oder kreuzförmig). Man vgl. Sp. 245 (Taufe des Heiligen Martin, Glasmalerei, Kathedrale von Chartres: das Taufbecken hat eine ähnliche Form wie auf Rubens Bild. 70 Vgl. Kirschbaum (wie Anm. 69); Sp. 247 – 255. Man vergleiche z. B. Giottos Fresko in der Arena-Kapelle in Padua (Abb. 5). 71 Seneca stirbt mit dem Wort VIRT, also virtus, auf den Lippen. 72 Gleichzeitig erinnert das aus dem Arm strömende Blut Senecas an Christi Tod am Kreuz. Hugo Rahner (Griechische Mythen in christlicher Deutung, Zürich 3 1957, S. 82) weist auf die Einheit von Jesu Taufe und Kreuzestod hin: „hier in der Taufe vollzieht sich im Symbol, was dann am Kreuz Wirklichkeit wird und vom Kreuz aus im Taufmysterium auf die Menschen übergeht.“ 73 Vgl. Morford (wie Anm. 66), S. 186: „Seneca, the pagan Stoic, is thus assimilated to Christian martyrs, a visible representation of the Neostoic and Christian ideals of Lipsius’ De Constantia.“ Hess (wie Anm. 66), S. 225 geht noch einen Schritt weiter: Er sieht in Rubens Bild vor dem Hintergrund von

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Rubens: Der sterbende Seneca. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, München

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Doch damit sind nicht alle Schichten des Bildes aufgedeckt: Die Rezeptionsästhetik, die Seneca im Botenbericht der Troades (1118 – 1164) 74 entwirft, kann ohne weiteres auch auf Rubens’ Seneca-Bild übertragen werden: Ein grauenvolles Ereignis verliert in der künstlerischen Gestaltung seinen Schrecken; ja es kann sogar eine anziehende75 und didaktische Wirkung haben: Der Betrachter soll die constantia des Helden bewundern und durch sein Schicksal ergriffen, zu Mitleid gerührt werden; er soll die Wechselfälle des Schicksals erkennen und der vanitas innewerden, die jede herausgehobene Position in sich trägt. Mit genau dieser Haltung soll man – so Martin Opitz76 in dem an den Leser gerichteten Vorwort seiner Übersetzung von Senecas Troades (1625) – auch Tragödien betrachten, die nach Epiktets Dictum (Dissertationes I 4, 26) nichts anderes seien, „als ein Spiegel derer / die in allem jhrem thun und lassen auf das blosse Glück fussen.“77 Wir werden zwar angesichts des fremden Leids, das uns eigentlich nichts angehe,78 zu Mitleid und Tränen gerührt, „wir lernen aber daneben auch aus der stetigen besichtigung so vielen Creutzes vnd Vbels das andern begegnet

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Cesare Ripas Iconologia (Rom 1603) den Schmerzensmann, Christus patiens, und einen Epitaph auf seinen am 28. 8. 1611 verstorbenen Bruder Philip, einen Schüler von Lipsius, dem Rubens zusammen mit dem 1606 verstorbenen Lipsius sub effigie Senecae in dem Bild Die vier Philosophen ein Denkmal setzte. Vgl. die ausführliche Diskussion von Morford (wie Anm. 66), S. 3 – 13 mit dem Hinweis (S. 11), daß Rubens als pictor doctus auf ein Gedicht seines Bruders in dem Gemälde anspiele: „Quis tibi nunc, Annaee, videnti talia sensus, / quidve modo est animi, cum praestantissima cernis / ingenii monimenta tui.“ (Die Stelle ahmt Vergil: Aeneis IV 408 f. nach). Hess deutet Rubens Seneca als einen Akt „der consolatio, Seneca-Nachfolge als ars moriendi, angesichts des Trauerspiels, das die Biographie des Menschen und sein Leben zum Tode darstellt.“ Hess’ Deutung scheitert jedoch wohl daran, daß das Gemälde aus den Studien der Jahre 1606 – 1608 entstand; vgl. Christopher White: Peter Paul Rubens. Man & Artist, New Haven, London 1987, S. 75 – 78. Siehe oben Anm. 47. Vgl Seneca: Troades 1128 f. „magna pars vulgi levis / odit scelus spectatque.“ Vgl. dazu Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels, in: Deutsche Dramentheorien, hg. von Reinhold Grimm, Frankfurt/ M. 1971, S. 19 f. „Die Tragödie bietet die beste Gelegenheit zu dieser ,praemeditatio futurorum malorum’. Das Resultat ist ,Beständigkeit’, constantia.“ Zur Rezeption von Senecas Tragödien in Deutschland vgl. Wolf-Lüder Liebermann in: Der Einfluß Senecas auf das europische Drama, hg. von Eckard Lefèvre, Darmstadt 1978, S. 371 – 449, hier S. 392 f. zu Opitz’ Trojanerinnen. Zitiert nach Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, Bd. II 2, Stuttgart 1979, S. 430. Hier klingt Gorgias’ in der Helena (9) entwickelte Dichtungstheorie an.

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ist / das vnserige / welches vns begegnen möchte / weniger fürchten vnd viel besser erdulden.“79 Die Dichtung wird zum Mittel der Consolatio in schweren Kriegszeiten: Senecas Tragödie sei nicht allein die schönste der aus der Antike erhaltenen Werke, sondern übe in den unruhigen Kriegszeiten eine tröstende Wirkung aus, „da es von nöthen sein will / daß man das Gemüthe mit beständigen Exempeln vewahre“.80 Deutlich beeinflußt von Tacitus’ Schilderung und der Octavia ist die Darstellung Senecas in Claudio Monteverdis (1547 – 1643) Oper L’incoronazione di Poppea, die in der Karnevalszeit 1643 in Venedig aufgeführt wurde.81 Das Libretto stammt von Gian Francesco Busenello (1598 – 1659), einem Mitglied der venezianischen aufgeklärten und freidenkerischen Accademia degli Incogniti.82 Im Zentrum der SenecaHandlung steht wie in Tacitus’ Annalen die probatio: wie verhält sich der Moralphilosoph, wenn er selbst in äußerste Bedrängnis gerät, wie verhalten sich scripta und vita des Philosophen zueinander? Seneca (I 6) legt in seiner Consolatio der Königin dar, daß sie durch die Schicksalsschläge, ohne von anderen abhängig zu sein, an Glanz, Stärke und Tapferkeit gewinne83 und sich von allen Äußerlichkeiten wie Stellung und Aussehen, die nichtig seien, frei machen könne,84 da allein virtù zähle und unvergänglich sei.85 Dem hält Ottavia entgegen, daß all diese 79 Opitz (wie Anm. 77), S. 430. 80 Opitz (wie Anm. 77), S. 431. 81 Vgl. zum Seneca-Bild Monteverdis und der Abhängigkeit von der Octavia und von Tacitus Gesine Manuwald: Der Stoiker Seneca in Monteverdis L’incoronazione di Poppea, in: Seneca: philosophus et magister, hg. von Thomas Baier, Gesine Manuwald und Bernhard Zimmermann, Freiburg 2005, S. 149 – 185 (mit gründlicher Aufarbeitung der Sekundärliteratur). Zu Monteverdi vgl. Silke Leopold in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Bd. 12, Stuttgart – Weimar 2004, Sp. 389 – 421. Zur venezianischen Oper im 17. Jahrhundert vgl. Ellen Rosand: Opera in seventeenth-century Venice. The creation of a genre, Berkeley – Los Angeles, Oxford 1991. 82 Vgl. Manuwald (wie Anm. 81), S. 149. Der Präsident der Akademie, Francesco Loredano, war eine dezidierter Tacitus-Anhänger; vgl. Tim Carter: Monteverdi’s musical theatre, New Haven – London 2002, S. 271 f. 83 „Tu dal tal destin colpita / produci a te medesma alti splendori / Di vigor, di fortezza, / Glorie maggiori assai che bellezza.“ 84 „La vanità del pianto / Degl’occhi imperiali è ufficio indegno. /…/ Le vaghezze del volto e i lineamenti, / Che in apparenza illustre / Risplendon coloriti e delicati, / Da pochi ladri di ci son rubati.“ 85 „Ma la virtù costante, / Usa a bravar le stelle, il fato e il caso, / Gammai non vede occaso.“

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Trostgründe zwar wohlklingende, aber wirkungslose Heilmittel seien, wenn man tatsächlich in Unglück geraten sei.86 Valletto, Octavias Page, wird in seiner Kritik an Seneca noch deutlicher: Der Philosoph verkaufe nur hohle Phrasen. Er sei nur auf Profit aus, den er wegen der Torheit der anderen auch ohne weiteres einfahre, und vor allem stimmten seine Lehren in keiner Weise mit seiner Lebensführung überein. In dem Terzett treffen stoische Lehrsätze, wie sie aus den Seneca-Exzerpten des Mittelalters und des Frühhumanismus bestens bekannt sind,87 auf die aus der Komödie, aber auch aus der Seneca-Rezeption vertraute Philosophenschelte.88 Die harte Kritik am Philosophen ist im Prolog-Terzett der allegorischen Gestalten Fortuna, Virtù und Amore vorbereitet: Fortuna triumphiert zu früh über die Tugend, die den Anspruch erhebt, dem menschlichen Intellekt den Weg zum Himmel zu ebnen,89 da die Liebe allen überlegen ist.90 In der Dramaturgie der Oper wird jedoch 86 „Scusami, questi son, Seneca mio, / Vanità speciose, Studiati artifizi, / Inutili rimedi a gl’infelici.“ 87 Ich führe als Beispiele aus der alphabetischen Zusammenstellung der Proverbia Senecae an (entstanden um 1250; ediert von Meerseman [wie Anm. 60], S. 68 – 77): „Non quid, sed quemadmodum feras interest“ (De providentia 2, 4), „Nihil eripit fortuna nisi quod dedit; virtutem autem non dat, ideo nec detrahit, libera est, inviolabilis, inmota, inconcussa“ (De constantia 5, 4), „Calamitas virtutis occasio est.“ (De providentia 4, 12) 88 In dieser Linie sind auch die barschen Worte Neros zu verstehen (I 9): „Maestro impertinente, / Filosofo insolente!“ Die Philosophenschelte wurde paradigmatisch von Aristophanes in den Wolken des Jahres 423 v. Chr. an der Person des Sokrates in die Literatur eingeführt; vgl. Bernhard Zimmermann: Aristophanes und die Intellektuellen, in: Aristophane, hg. von Jan M. Bremer und Eric W. Handley: Vandoeuvres – Genève 1993, S. 255 – 280. Die editio princeps der aristophanischen Komödien wurde von Musuros 1498 bei Aldus Manutius in Venedig herausgegeben; eine wichtige Aristophanes-Handschrift (Marcianus Venetus 474) befindet sich in der Bibliotheca Marciana, so daß die Kenntnis der aristophanischen Komödie und die in ihr entwickelte Philosophenschelte sicher bekannt war. Zur Seneca-Kritik vgl. oben Anm. 33. 89 „Io sono la vera scale / Per cui natura al sommo ben ascende. / Io sono la tramontana / Che solo insegno agl’ intelletti umani / L’arte del navigar verso l’Olimpo.“ Vgl. dazu Pseudo-Seneca: Hercules Oetaeus 1971. 90 Die ganze Handlung der Oper ist, zur Aufführungszeit passend, unter das sprichwörtliche „omnia vincit Amor; et nos cedamus Amori“ (Vergil: Eclogen X 69) gestellt. Busenello selbst legt Amor in II 13 den Abschlußvers von Dantes Paradiso in den Mund: „Amor che move il sol e l’altre stelle!“, d. h. Amor stellt sich als kosmische Allmacht vor („Ch’Amor picciolo è si, ma omnipotente.“). Daß gerade im italienischen Humanismus durch die starke Beachtung, die Platons Symposion vor allem durch Ficinos Kommentar gefunden hatte, die

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die scheinbare Niederlage, die der Philosoph erleidet – setzen sich doch am Ende nicht seine Mahnungen zur Besonnenheit, sondern Neros Willkür und Amors Allmacht durch –, zu einem Sieg der Philosophie über Gewalt und Unvernunft, aber zu einem ganz individuellen, nur Seneca selbst angehenden Sieg, da er in seinen sozialen und politischen Aufgaben als Tröstender und Prinzenerzieher völlig scheitert. Die Götter, Pallas Athena (I 8) und Mercur (II 1), sprechen zu Seneca und bereiten ihn auf seinen Tod vor, Seneca erwartet nicht allein mit Gelassenheit, sondern geradezu froh seinen Tod,91 er ist begierig, seine probatio zu bestehen: die Übereinstimmung seiner Lehren mit seinem Leben zu beweisen.92 Ein Schlüsselbegriff ist die „pazienza“, die nun ihrer härtesten Probe unterzogen wird (II 1). Sie wird ganz im Sinne der stoischen Tugend verstanden, wie sie Seneca in De constantia sapientis 3, 2 („discitur [sc. patientia] ipsa iniuriarum adsiduitate“) oder in De providentia 6, 6 („ferte fortiter“) definiert.93 Indem der Götterbote zu Seneca spricht, wird er geadelt, geradezu heroisiert: Typologisch erinnert Mercurs Gespräch mit Seneca an die Szenen im 5. Buch der Odyssee und im 4. Buch der Aeneis, in denen Hermes/Mercur als Gesandter des Allgewalt des Eros eine gängige Vorstellung ist, nimmt nicht Wunder, wohl aber, daß der philosophischen Auffassung vom Wesen der Liebe in Monteverdis Oper eine weltliche, elegische entgegengesetzt wird (Vergils Vers ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Zitat aus einer Elegie des Gallus, des Begründers der römischen Liebeselegie). Zur Auseinandersetzung mit Platons Symposion in der italienische Renaissance vgl. Jochen Schmidt in: Platon. Das Trinkgelage. Übertragen von Ute Schmidt-Berger, Frankfurt/M. 1985, S. 160 – 186, hier S. 164 – 173. Interessant ist, daß Loredano, das Haupt der Akademie, in seinen Bizzarie academiche (1676) ein Enkomion Amors als „figliuolo dell’harmonia“ schreibt; zitiert bei Carter (wie Anm. 82), S. 278. 91 I 8 „Venga la morte pur; costante e forte, vincero gli accidenti e le paure; / Dopo il girar delle giornate oscure / È di giorno infinito alba la morte.“ 92 II 1 „Oh me felice, / adunque s’ho vivuto finora / Degl’ uomini la vita, / Vivro dopo la morte / La vita degli dei. / Nume cortese, tu il morir m’annunzi? / Or confermo i miei scritti, / utentico i miei studi; / L’uscir di vita è una beata sorte, / Se da bocca divina esce la morte.“ In Senecas Unsterblichkeitsanspruch, der von Mercur bestätigt wird („Lieto dunque t’accingi / Al celeste viaggio, / Al sublime passaggio“) fließen das von Horaz in Oden III 30 und Ovid: Amores I 15, 41 f. begründete dichterische Selbstbewußtsein und die stoische Apotheose des Hercules Oetaeus zusammen. Der Freigelassene, der Seneca das Todesurteil überbringt, betont, daß er in seinen Schriften weiterleben und anderen Licht, d. h. Hilfe und Anregung zu eigenen Schriften, geben werde (II 2 „Così alle tue scritture / Verran per prender luci i scritti altrui.“). 93 Vgl. Ivano Dionigi: La patientia: Seneca contro i Cristiani, in: Aevum Antiquum 13, 2000, S. 413 – 429.

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höchsten Gottes die Helden zur Abfahrt mahnt. Angesichts des Todes bewahrt er freudig, da er nun endlich die Richtigkeit seiner Lehren durch sein Handeln beweisen und damit alle Kritiker widerlegen kann,94 Fassung vor seinen Vertrauten, er läßt sich nicht durch ihre epikureische Lebensbejahung95 – diese epikureische Haltung der Freunde ist die gravierende Abweichung von der taciteischen Schilderung – von seiner stoischen Haltung abbringen.96 Der Triumph der stoischen Philosophie ist im Libretto deutlicher als in der Vertonung: In Busenellos Konzeption wird Seneca nach seinem heroischen Tod, Mercurs Ankündigung entsprechend („Al celeste viaggio, / Al sublime passaggio“), in einer dem pseudosenecanischen Hercules Oetaeus (1940 f. „iam virtus mihi / in astra et ipsos fecit ad superos iter.“) vergleichbaren Apotheose in den Himmel aufgenommen. So scheitert der Philosoph als Politiker, als Erzieher und als Psychotherapeut, als Tröstender, er erringt jedoch – und dies entspricht der Auffassung der alten Stoa – seine persönliche eqdailom¸a. Als Weiser, der ganz nach der stoischen Lehre lebt, ist er sogar gottgleich.97 Das Aufeinanderprallen zweier verschiedener Welten, der stoischen Philosophie und der Welt Amors, findet seinen Ausdruck auch im Gesang: Während Seneca, dem im Gegensatz zu dem im Falsett singenden Nero als Baß ohnehin gravitas zufällt,98 in getragenem, gesetzten Melodien singt, bedienen sich seine Widersacher aufgewühlter Rhythmen; ihr Gesang ist durchsetzt durch Dissonanzen und Kolora94 II 3 „Amici, è giunta l’ora / Di pratticare in fatti / Quella virtù che tanto celebrai. / Breve angoscia è la morte, / Un sospir peregrino esce dal core, / Ov’è stato molt’anni / …“. 95 „Non morir, Seneca, no. / Io per me morir, non vo’. / Questa vita è dolce troppo, / Questo ciel troppo è sereno, / Ogni amar, ogni veneno / Finalmente è lieve intoppo. / Se mi corco al sonno lieve, / Mi risveglio in sul mattino, / Ma un avel di marmo fino / Mai non dà quel che riceve. / Io per me morir … .“ (zweimaliger Refrain). Die epikureischen Gefährten Senecas sind wohl aus der taciteischen Todesszene des Epikureers Petron übernommen. 96 Man könnte geradezu sagen, daß Busenello Tacitus’ Bericht von Petrons und Senecas Sterben in einer Szene zusammengebracht habe. 97 Mit dieser Deutung läßt sich auch die Forschungskontroverse um Senecas Person und Bewertung im Libretto klären; vgl. die entgegengesetzten Positionen von Ellen Rosand (Seneca and the interpretation of L’incoronazione di Poppea, in: Journal of the American Musicological Society 38, 1985, S. 34 – 71), die die Ambivalenz von Senecas Charakterzeichnung betont, und Manuwald (wie Anm. 81), die Busenello ein rein positives Seneca-Bild zuschreibt. 98 Vgl. Rosand (wie Anm. 97), S. 55, 69.

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turen und rhetorisch durch die Stilfigur der Anadiplosis99 markiert. Dies wird besonders deutlich in der Auseinandersetzung zwischen Seneca und Nero (I 9), die im stile concitato von einer Stichomythie in Antilabai übergeht. Die Ruhe Senecas und sein belehrender Ton bringen Nero deart aus der Fassung, daß er ihn anschreit:100 „Tu, tu, tu mi sforzi, mi sforzi allo sdegno, mi sforzi allo sdegno, allo sdegno, allo sdegno, allo sdegno, allo sdegno“. Die exaltierte Vortragsart gibt wie in einem Pnigos, dem „Ersticker“ der klassischen griechischen Komödie, kaum die Möglichkeit, Luft zu holen. Diese Mimesis hat ihre Wurzeln in den Diskussionen der Florentiner Camerata.101 In den 70er und 80er Jahren des 16. Jahrhunderts wurde im Palast des Grafen G. Bardi de’ Conti di Vernio über die griechische Musik und die griechische Tragödie als musikalisches Gesamtkunstwerk reflektiert. Diese musiktheoretischen Diskussionen finden einen deutlichen Widerhall in der Auseinandersetzung Senecas mit Octavia und Valletto (I 6) oder in der Abschiedsszene von den Gefährten (II 3): stoische Affektbeherrschung trifft auf epikureische Lebenslust und bissige Stoa-Kritik, und dies ist auch in der Musik und im Gesang unüberhörbar – man könnte geradezu von einer musikalischen Affektregie sprechen.102 Dabei geht es Monteverdi nicht darum, nur einzelne Worte wie „tempeste“, „fulmine“ oder „onde“ musikalisch nachzuahmen, musikalische Wortbilder zu schaffen, wie er dies noch in dem der Madrigaltradition folgenden Lamento dell’Arianna getan hat;103 vielmehr ahmt er durch die Musik und den Gesang Handlung und vor allem Affekte nach.104 Nach Girolamo Meis in dem Traktat De modis 99 Die Anadiplosis wird auch von Euripides in affektgeladenen Arien eingesetzt, so z. B. in der Falsettarie des phrygischen Sklaven im Orestes (1369 ff.). 100 Kursiv geschrieben sind die vom Libretto abweichenden Anadiploseis, die Monteverdi einsetzt. 101 Vgl. Claude V. Palisca in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Bd. 2, Stuttgart – Weimar 1995, Sp. 361 – 364. 102 Carter (wie Anm. 82) kommt durch den musikalischen Vergleich mit Monteverdis Madrigali guerrieri et amorosi zu dem Ergebnis: „Seneca’s death should not be a laughing matter, and yet the music offers at least the potential for it to be taken less than seriously.“ Richtig ist, daß durch den parodischen Ton die famigliari sich selbst disqualifizieren. Vgl. auch Tim Carter: Monteverdi and his contemperaries, Aldershot – Burlington 2000, S. 187 – 191. 103 Von der Oper L’Arianna (Mantua 1608) ist nur das Lamento erhalten. 104 Vgl. dazu Ellen Rosand: Monteverdi’s mimetic art: L’incoronazione di Poppea, in: Cambridge Opera Journal 1, 1989, S. 113 – 137, bes. S. 137: „In L’incoronazione di Poppea music does not imitate taxt; it co-opts ist function in the represen-

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musicis antiquorum (1566 – 1573) entwickelter Auffassung läßt sich Affektdarstellung insbesondere durch Monodien (Arien) erzielen. Dem entspricht Monteverdis Behandlung arioser Passagen in L’incoronazione di Poppea. 105 Senecas heroischen Tod im Geiste der stoischen Philosophie wollte Gotthold Ephraim Lessing in einem Trauerspiel darstellen; Friedrich Carl Casimir von Creutz (1724 – 1770) kam ihm mit seinem Drama Der sterbende Seneca (1754) zuvor. Lessing zeigt sich in seiner Rezension des Stücks enttäuscht, es sei zu sehr „in der Eil’ gemacht“.106 Der „Vorbericht“, den Creutz seinem Stück voranstellt, verdeutlicht die Absicht des Autors: Am Schicksal „dieses erhabnen Mannes“ will er die „seltsame Vermischung grosser Glücks- und Unglücksfälle“, deren Prüfungen Seneca mit Standhaftigkeit ertragen habe, darstellen, um bewundernde „Rührung“107 angesichts der erhabenen Größe des Protagonisten zu erzielen.108 Ähnlich stereotyp109 ist Ewald Christian von Kleists

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tation of feeling /…/ Monteverdi’s humanist imitazione delle parole finally realises itself as Baroque rappresentazione dell’affetto.“ Zu den Arien vgl. Rosand (wie Anm. 104), S. 120 f. Mei beschäftigte sich, wie dies schon die antiken Musiktheoretiker getan hatten, insbesondere mit der Ethos-Lehre, der Bestimmung der den Tonarten inhärenten Wirkungen; zu Mei vgl. Donatella Restani: L’itinerario di Girolamo Mei dalla „Poetica“ alla „Musica“, Bologna 1980. Zur Ethos-Lehre vgl. Hermann Abert: Die Lehre vom Ethos in der griechischen Musik, Leipzig 1899 (Nachdruck Tutzing 1968); Lukas Richter: Pathos und Harmonia. Melodisch-tonale Aspekte der attischen Tragçdie, Frankfurt/M. u. a. 2000, S. 66 – 86. Zur antiken Bühnenpraxis vgl. Bernhard Zimmermann: Dichtung und Musik. berlegungen zur Bhnenmusik im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., in: Lexis 11, 1993, S. 23 – 35. Monodien als geeignete Medien der Affektmimesis und der Affektleitung wurden von dem unter dem Einfluß der sog. ,Neuen Musik‘ stehenden Euripides eingesetzt und von den Vertretern der traditionellen Musik wie dem Komödiendichter Aristophanes und Platon heftig als Dekadenzerscheinungen parodiert und kritisiert; vgl. dazu Bernhard Zimmermann: Comedy’s criticism of music, in: Intertextualitt im griechisch-rçmischen Drama, hg. von Niall W. Slater und Bernhard Zimmermann, Stuttgart 1993, S. 39 – 50 (Drama 2). Vgl. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragçdien Senecas; München 1973, S. 57 (dort auch Zitate aus der Rezension). Seneca wird wie in der taciteischen Schilderung zum nachahmenswerten Exemplum: der Hauptmann, der das Todesurteil überbrachte, ruft aus (V 7, S. 76): „O könnt ich Seneca noch heut im Sterben gleichen!“ Die dramatis personae bedienen sich in der Todesszene der aus der Tradition bekannten Topoi (V 7, S. 74): „Welch eine kleine Qual, den kurzen Tod zu leiden!“; (S. 75): „Und sterb, und sterbe gern“; die letzten Worte des sterbenden Senecas sind ein Gebet an Jupiter, eine Adaptation von Kleanthes’

Der Tod des Philosophen Seneca in Literatur, Kunst und Musik

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(1715 – 1759) Entwurf zu einem Trauerspiel Seneca (1757/8):110 „Vivere militare est, dieser (durchaus unmilitärisch gemeinte) Satz gehörte zu den Maximen des Philosophen und erfahrenen Staatsmanns Seneca, ebenso wie die Forderung nach steter Bereitschaft zum Tode. Die Stilisierung der historischen Gestalt Seneca zum stoischen Muster eines opferwilligen Patrioten fand eben in jener Zeit des Siebenjährigen Kriegs einen ihrer Höhepunkte.“111 Die Heroisierung Senecas ist unüberhörbar: „Der große Seneca, das Bild aller menschlichen Vollkommenheiten“ (S. 176 f.),112 stoische Topoi finden sich zuhauf: die vanitas menschlichen Daseins und die Wertlosigkeit aller äußeren Güter (S.161), das Prinzip des secundum naturam vivere (S. 162), providentia und Autarkie (S. 165), der Tod als Zuflucht und Erlösung (S. 178, 188), Seneca als Exempel (S. 190). In einem Botenbericht der Schlußszene (S. 194 f.), der die Sympathie der Natur angesichts des nahen Todes Senecas betont und an die biblische Karfreitagsschilderung erinnert, wird der Philosoph gleichsam zum Christus patiens. Von dieser Heroisierung ist es kein großer Schritt zur Glorifizierung des Heldentodes, den – gleichsam ein zweiter Seneca – Ewald von Kleist in der Schlacht von Kunersdorf (1759) für das preußische Vaterland erlitt – so Thomas Abbt (1738 – 1766) in seinem Epitaph auf Kleist Vom Tode frs Vaterland (Berlin 1761). Solch ein Pathos, das Senecas Tod in christlicher oder preußischpatriotischer Verbrämung zuteil wird, schreit nach Parodie, nach Kontrafaktur, die ihm der an Aristophanes’ bissigem Spott geschulte113 Peter Hacks in seinem Stück Senecas Tod (Uraufführung 1980 in Dresden) in antikisierendem metrischem und sprachlichem Gewand gibt: die sechsfüßigen Jamben sollen an römische Senare, Partizipial-

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Zeus-Hymnos mit Elementen des aischyleischen Zeus-Hymnos des Agamemnon (siehe oben Anm. 4). Schiller nennt Kleists Seneca in seiner Abhandlung ber naive und sentimentalische Dichtung „dürftig, langweilig, mager und bis zum Unerträglichen frostig“. Als Jesuitenzögling war Kleist sicherlich ein guter Seneca-Kenner. Barner (wie Anm. 106), S. 59. Das Seneca-Zitat stammt aus Epist. 96, 5. Zitiert nach: Ewald Christian von Kleist’s smmtliche Werke nebst des Dichters Leben aus seinen Briefen an Gleim. Herausgegeben von Wilhelm Körte, 2. Teil, Berlin 1803. Ein typisch aristophanisches Komödienmotiv ist – in Verbindung mit einer Klopfszene – der Sklave des Intellektuellen, der geschwollener als sein Herr schwadroniert (S. 379 f.); vgl. den Sklaven des Euripides oder Agathon in den Acharnern (395 ff.) und Thesmophoriazusen (39 ff.) des Aristophanes.

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konstruktionen, verschachtelte Perioden und Neologismen114 an die senecanische Stilistik erinnern.115 Den im Stil der Epistulae morales dozierenden Philosophen, einen geldgierigen Starautor des dekadenten Roms, fordert sein Schüler Nero in ironischem Ton auf, seine stoische probatio abzulegen (S. 383): Der Lehrling in der Tugend, der alle erhabeneren Begriffe seinem Meister verdankt, ist beim Wiederlesen von dessen Darlegung über das rechte Sterben des Weisen von nicht geringer Neugier befallen, ob solche Standhaftigkeit im wirklichen Leben so mustergültig sich antreffen lasse wie in den Rollen, die auf dem Pult liegen, und wünscht, bis zum Anbruch der Nacht Unterricht in dieser Frage zu erhalten.

Seneca plant ungerührt den befohlenen Tod in seinen Tagesablauf ein, setzt sich gelangweilt und gereizt mit einem impertinenten Handwerker, seiner Frau und einem lästigen Literaten auseinander, parliert im Stil der Epistulae morales über den Sinn des Lebens und den Tod116 sowie über die Philosophie als Trost und „Heilkunst“, die für die ,todessieche‘ Welt wohl nicht stark genug war, ihm dagegen eine große Hilfe sei. Diktierend und dozierend bleibt er sich ganz und gar gleich; der Gesellschaft, die sich bei ihm zum Abendessen versammelt hat, fällt nicht auf, daß sie mit einem Sterbenden redet, dessen Leben seinen Adern entweicht. Der Philosoph stirbt für sich allein, wird nicht zum Exemplum, ja, seine Freunde meinen, er sei aus purer Langeweile wie üblich eingenickt (S. 443). In Hacks’ Deutung von Senecas Tod wird die individualistische stoische Philosophie zur Egozentrik eines an Lebensüberdruß und melancholischer Langeweile leidenden Intellektuellen, der sich durch seinen Selbstmord jeder gesellschaftlichen Verantwortung entzieht.

114 Sehr schön S. 400 (Seneca): „Ein Zeitdieb ists, ein Lebenswegelagerer, / Ein Grenzsteinrücker in der Daseinsmark.“ 115 In: Peter Hacks: Sechs Dramen, Berlin, Weimar 1978, S. 375 – 444. 116 Vgl. besonders Hacks (wie Anm. 115), S. 390 f. und 399.

III. Humanismus und Stoa

Petrarcas Begründung der humanistischen Moralphilosophie: Rezeption und Relativierung der stoischen Tradition von Marlene Meuer Hanc profecto mediocritatem nunquam michi contigisse doleo. Ich bedaure, gerade dieses Mittelmaß niemals erreicht zu haben. (Secretum II)

Petrarcas stoische Hauptwerke: Von De vita solitaria über das Secretum zu De remediis utriusque fortunae An der Schwelle zu der von ihm selbst ausgerufenen „Neuzeit“ griff Francesco Petrarca (1304 – 1374) die stoische Lebensphilosophie entschieden wieder auf, um sie gegen die mittelalterliche Scholastik auszuspielen. Sie sollte dazu dienen, die Moralphilosophie als ein eigenes Genre literarischer Gelehrsamkeit zu reetablieren. Und weil Moralphilosophie für Petrarca mit stoischer Philosophie nahezu identisch war, sind alle großen moralphilosophischen Werke von ihm zugleich auch stoische Werke. Ihr Publikumserfolg bereitete den Weg für das breite Wiederaufleben des Stoizismus in der renaissancehumanistischen Popularphilosophie, die bis weit in den deutschen Humanismus und bis zu Brants Narrenschiff reicht. Da es Petrarca aber – in programmatischer Absetzung von der scholastischen Tradition – vorrangig um die Lebenstauglichkeit und die praktische Anwendbarkeit der Philosophie ging, sind seine moralphilosophischen Werke keine vertrauensseligen Übernahmen stoischer Philosophie, sondern kritische Auseinandersetzungen mit ihr. Sie schließen stets auch den Zweifel an der tatsächlichen Realisierbarkeit der stoischen Lebenslehre ein. In Petrarcas Stoa-Rezeption gehen Affirmation und Skepsis daher Hand in Hand: Die stoische Tradition und besonders ihre lateinischen Vertreter Seneca und Cicero sind in Petrarcas Augen das mustergültige Vorbild der Moralphilosophie, des-

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wegen gilt es gerade ihre Lebensphilosophie kritisch zu überprüfen und an der Wirklichkeit zu messen. In drei unterschiedlichen Gattungen erprobt Petrarca mit zunehmend kritischem Impetus verschiedene Dimensionen der stoischen Lebensphilosophie. Sein frühstes und unkritisch-affirmativ stoisches Werk ist die Schrift De vita solitaria (1346),1 der er nach eigenen Angaben zunächst die Form eines Brieftraktates geben wollte (II 15).2 In letzter Gestalt bietet sich der Traktat aber nicht in Briefform, sondern als ganze Enzyklopädie des einsam-asketischen Lebens dar. Entschieden übernimmt Petrarca hier die stoische Lebenslehre, um ihr eine christliche Gestalt zu verleihen: Angefangen beim Widmungsschreiben, das er an einen Geistlichen, Philippe de Cabassole, Bischof und Feudalherr von Cavaillon adressiert, über den Zweck der stoischen Selbstdisziplinierung, nämlich Laster zu bekämpfen (I 9), bis zu der Feststellung, dass die Abgeschiedenheit die angemessene Lebensform für diejenigen sei, „die nach dem Himmel streben“3, also für gute Christen. Christus dient als ständiger Beobachter der stoischen Selbstdisziplinierung (I 5). Als Endzweck aller innerweltlichen Ausbildung erscheint die Gottgefälligkeit. So heißt es schon im zweiten Kapitel vom Tagesbeginn desjenigen, der vorbildlich in der Einsamkeit lebt, er wolle nicht nur täglich, sondern stündlich mit nimmermüder Zunge und demutsvollem Geist das Lob Gottes und der Heiligen singen, damit das 1

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Endgültige Abschrift jedoch erst 1366; das Werk wird hier folgendermaßen zitiert: Der lateinische Text des ersten Buches ist vorbildlich ediert und ausführlich kommentiert in folgender Ausgabe: Francesco Petrarca: De vita solitaria. Buch I. Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kommentar von K. A. E. Enenkel. Leiden/New York/Kopenhagen/Köln 1990. (im Folgenden: Petrarca: Vita Solitaria I) Der lateinische Text des zweiten Buches wird zitiert nach: Francesco Petrarca: De vita solitaria. [Lateinisch – Italienisch] A cura di Guido Martellotti, traduzione italiana di Antonietta Bufano. [Mailand/Neapel] Turin [1955] 1977. (im Folgenden: Petrarca: Vita Solitaria II) Die Übersetzungen entstammen einer neueren deutschen Gesamtübersetzung des Werks: Francesco Petrarca: Das einsame Leben. ber das Leben in Abgeschiedenheit. Mein Geheimnis, herausgegeben und mit einem Vorwort von Franz Josef Wetz. Aus dem Lateinischen übersetzt von Friederike Hausmann. Stuttgart 2004. (im Folgenden: Petrarca: Das einsame Leben) Senecas wirkungsmächtiges Briefwerk mag hier das ursprüngliche Gattungsvorbild abgegeben haben. Zumindest erwähnt Petrarca die Briefe an Lucilius selbst ausdrücklich (Petrarca (Anm. 1), II 12, Das einsame Leben, S. 204, Vita Solitaria II, S. 248). Petrarca (Anm. 1), II 10, Das einsame Leben, S. 190; Vita Solitaria II, 226: „eos qui celo inhiant“.

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Gefühl der Dankbarkeit für die Gaben Gottes ihn nie verlässt. […] Von da zum Himmel und den Sternen aufblickend und mit ganzer Seele Gott den Herrn, der dort oben wohnt, ersehnend, wendet er sich dann im Gedanken an sein wahres Vaterland in seinem irdischen Exil der Beschäftigung mit gottgefälliger und angenehmer Lektüre zu.4

Die Abgeschiedenheit selbst wird mit vollkommen christlichen Attributen ausgestattet. Sie sei „heilig, einfach, unverdorben und die wahrhaft reinste von allen menschlichen Lebensbedingungen“.5 Wie im ersten Teil von De vita solitaria die stoische Lebenslehre vor allem unter christlichen Gesichtspunkten entwickelt wird, so dienen auch im zweiten Teil vornehmlich biblische Figuren und Christen, nämlich Eremiten und Mönche, Heilige, Kirchenväter und Päpste als Exempel vorbildlicher asketisch-stoischer Lebensführung in der Abgeschiedenheit. Von den 15 Kapiteln des zweiten Teils sind lediglich zwei Kapitel Gestalten aus der Antike vorbehalten: Kapitel 12 führt antike Philosophen, Dichter und Rhetoren als ethische Vorbilder auf und Kapitel 13 römische Kaiser und Feldherrn.6 Wenn Petrarcas De vita solitaria so nachdrücklich das vorbildliche Leben eines Christen entwirft, warum macht es dann Sinn, von einem stoischen Werk zu sprechen? Darauf lassen sich zwei Antworten geben. Erstens: Auch wenn das Werk vollkommen christlich formiert ist, hat Petrarcas Lektüre der antiken Stoiker doch eindeutige Spuren im Text hinterlassen, und das sowohl ideell als auch formal. So lassen sich eindeutig stoische Gedankengänge identifizieren, etwa: Der weise Eremit

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Petrarca (Anm. 1), I 2, Das einsame Leben, S. 63; Vita Solitaria I, S. 64 f.: „Dei gloriam et sanctorum laudes non in dies tantum, sed in horas, et indefesso lingue famulatu et pio mentis obsequio repetens, ne quando forsitan ingrato animo divinorum munerum memoria evanescat. […] Inde suspiciens celum ac stellas et illic habitantem Dominum Deum suum tota mente suspirans et patriam cogitans de exilii sui loco, protinus ad honeste cuiuspiam iocundeque lectionis studium convertitur“. Petrarca (Anm. 1), I 4, Das einsame Leben, S. 85; Vita Solitaria I, S. 86: „Solitudo equidem sancta, simplex, incorrupta vereque purissima rerum est omnium humanarum.“ Eine Inhaltsangabe zu den Kapiteln der De vita solitaria bietet Franz Josef Wetz: Vorwort, zu: Francesco Petrarca: Das einsame Leben. ber das Leben in Abgeschiedenheit. Mein Geheimnis, herausgegeben und mit einem Vorwort von Franz Josef Wetz. Aus dem Lateinischen übersetzt von Friederike Hausmann. Stuttgart 2004, S. 7 – 50; hier S. 21 – 24.

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wisse, es spiele „keine Rolle, wie lang, sondern nur, wie gut er lebt“7; Ideal ist „das rechte Maß“8 ; um auf den richtigen Lebensweg zu geraten, müsse man sich „von der Natur leiten lassen“9 ; „das Festhalten an ein und demselben Ziel“ sei „das sicherste Zeichen von Weisheit“10. Mehrfach zitiert Petrarca Cicero,11 auch in christianisierender Korrektur12 und er bezieht sich auch explizit auf Seneca.13 Wo es notwendig ist oder es sich anbietet, korrigiert er die antike Philosophie, er gießt sie in christliche Formen oder übertrumpft sie zielsicher, so etwa wenn er den stoischen Rat bekräftigt, beständig so zu leben, als würde man von einem selbst gewählten Vorbild beobachtet (I 5): „Christus ist an allen Orten und zu allen Zeiten selbst anwesend als wahrhaftiger Zeuge nicht nur all unserer Handlungen, sondern auch aller Gedanken“.14 Zweitens: Kurze Zeit nach De vita solitaria verfasste Petrarca einen Traktat, in dem er das Leben in Abgeschiedenheit völlig ins Christliche transformiert: De otio religioso. Ein Vergleich der beiden Werke lässt das antike Erbe in De vita solitaria klar zutage treten: Im Gegensatz zu De vita solitaria wird in De otio religioso das strenge Klosterleben dargestellt, das auch auf das Studium antiker Literatur zugunsten geistlicher Texte verzichtet.15 Das nächste große moralphilosophische Werk, das Petrarca aus dem Geist stoischer Philosophie verfasst hat, ist das Secretum 16 (zw. 1347 – 7 Petrarca (Anm. 1), I 2, Das einsame Leben, S. 67; Vita Solitaria I, S. 69: „neque multum interesse arbitratur, quam diu, sed quam bene vivat“. 8 Petrarca (Anm. 1), I 2, Das einsame Leben, S. 68; Vita Solitaria I, S. 69: „temperies“. 9 Petrarca (Anm. 1), I 4, Das einsame Leben, S. 83; Vita Solitaria I, S. 84: „natura duce freti viam teneamus“. 10 Petrarca (Anm. 1), I 8, Das einsame Leben, S. 115; Vita Solitaria I, [unter I 9] S. 113: „certum et semper unum velle sapientis est signum“. 11 Petrarca (Anm. 1), I 3, I 7, II 3 u. a. 12 Petrarca (Anm. 1), I 3. 13 Petrarca (Anm. 1), I 3, I 4, I 7, I 8 u. a. 14 Petrarca (Anm. 1), I 5, Das einsame Leben, S. 93; Vita Solitaria I, S. 93: „Cristus ipse locis omnibus atque temporibus est presens, non actuum, sed et cogitam omnium verus testis“. 15 Vgl. Wetz (Anm. 6), S. 25. 16 Das Werk ist in einer neueren zweisprachigen Ausgabe greifbar: Francesco Petrarca: Secretum meum. Mein Geheimnis, Lateinisch – Deutsch, herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gerhard Regn und Bernhard Huss. Mainz 2004. (im Folgenden: Petrarca: Secretum) Als Einführung in das Werk auf der Grundlage einer aktuellen Aufarbeitung der Forschungsliteratur siehe das Nachwort zu dieser Ausgabe: Gerhard Regn, Bernhard Huss: Pluralisierung von Wahrheit im Individuum: Petrarcas ,Secretum’. ebd. S. 493 – 539.

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1353) und im Vergleich mit dem älteren Werk De vita solitaria lässt sich eine doppelte Akzentverschiebung verzeichnen: Von der problemlosen Affirmation hin zur kritischen Diskussion und vom Christlichen zum Antiken hin. Petrarca gab diesem Werk die Form eines dramatischen Dialogs. Im Streitgespräch zwischen „Franciscus“ als figura auctoris und dem Kirchenvater „Augustinus“ wird die stoische Lebenslehre nicht mehr völlig unhinterfragt als Modell geglückter Lebensführung dargeboten. Niemand geringeres als die Autorfigur fungiert als Versuchsperson und diskutiert mit „Augustinus“ die Schwierigkeiten, stoische Theorie in Lebenspraxis umzusetzen. Da es in diesem Werk nicht mehr um unkritische Übernahme und Vermittlung geht, sondern um die skeptische Diskussion, ob all die Lebensweisheit auch dazu taugt, ihre Feuerprobe im tatsächlichen Leben zu bestehen, erscheint zugleich auch die Akzentverschiebung vom Christlichen zum Antiken hin plausibel. Während in De vita solitaria noch christliche Figuren und Autoritäten für den Wert der dargestellten Lebensführung bürgen, rückt im Secretum das Biblische zugunsten des Altertums fast völlig in den Hintergrund. Paradoxerweise wird diese Akzentverschiebung besonders in der Rollenkonzeption des Kirchenvaters greifbar.17 Denn während sich De vita solitaria noch als völlig christianisierter Entwurf eines stoischen Lebenspanoramas darbietet, fungiert die Figur des „Augustinus“ im Secretum vor allem als Sprachrohr des antiken Stoizismus. Diese stoische Formierung der „Augustinus“-Figur machen Regn und Huss plausibel: „Gegen einen ,Augustinus‘, der seine Argumente aus der Heiligen Schrift bezieht, könnte Franciscus nämlich nur unter Aufkündigung elementarster Glaubensgrundsätze opponieren.“18 Warum entschied sich Petrarca dann überhaupt für eine Diskussionskonstellation mit „Augustinus“? Es liegt nahe zu vermuten, dass es Augustinus’ Schriften waren, die Petrarca den ersten Impuls zur intensiven Auseinandersetzung mit der stoischen Philosophie gaben und für ihn eine Stoa-Rezeption überhaupt erst attraktiv machten. Grundsätzlich musste sich Petrarca durch Augustinus über den Wert und die Nutzbarkeit der stoischen Philosophie für das christliche Welt- und Menschenbild be17 Vgl. Klaus Heitmann: Augustins Lehre in Petrarcas ,Secretum‘ (1960), in: Petrarca, hg. von August Buck. Darmstadt 1976, S. 282 – 307; hierzu S. 283: Heitmann findet in der Argumentation der „Augustinus“-Figur nur 3 Bezüge auf seine eigenen Schriften und nur 3 Bibelzitate, bei 90 Verweisen auf Schriftsteller der pagan-römischen Antike, davon 61 Berufungen allein auf Cicero, Vergil und Seneca. 18 Regn, Huss (Anm. 16), S. 520.

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stätigt fühlen. Denn Augustinus’ Cicero-Rezeption nahm Petrarca sehr genau zur Kenntnis.19 Augustinus garantierte für Petrarca schon in De vita solitaria die christliche Legitimation für eine Hinwendung zur antikstoischen Philosophie. Und so lag es auch nahe, die Problematisierung der stoischen Lebenslehre über ihren Vermittler zu vollziehen und Augustinus im Secretum die Rolle eines Stoikers zu verleihen, der er in dieser Form selbst gar nicht war. Im Europa der frühen Neuzeit war Petrarcas wirkungsmächtigstes Werk die völlig stoisch gefasste Schrift De remediis utriusque fortunae 20 (1353 – 1365). Petrarca legte sie auf breite Publikumswirkung hin an,21 19 Vgl. Petrarca (Anm. 1), I 5 u. II 3. 20 Da keine moderne Gesamtausgabe der Remedia existiert, greife ich, wie in der Forschung inzwischen üblich, wenn möglich auf die zweisprachige Auswahlausgabe von Schottlaender zurück (Francesco Petrarca: Heilmittel gegen Glck und Unglck. De remediis utriusque fortunae. Lateinisch-deutsche Ausgabe in Auswahl übersetzt und kommentiert von Rudolf Schottlaender, herausgegeben von Eckhard Keßler. München 21988; im Folgenden: Petrarca: Heilmittel). Wo dies nicht möglich ist, zitiere ich die lateinische Gesamtausgabe von Petrarcas Werken, die 1554 in Basel herausgegeben wurde und in einem Reprint zugänglich ist (Francisci Petrarchae Operum Tomus I. [Basel: H. Petri für J. Herold 1554] Ridgewood/New Jersey 1965, S. 1 – 254. Im Folgenden: Petrarca: De remediis). Für den Fall, dass ein Zitat der zweisprachigen Auswahlausgabe (Petrarca: Heilmittel) folgt, verzeichne ich zusätzlich immer auch den entsprechenden Beleg aus der lateinischen Gesamtausgabe. Die grundsätzliche Orientierung an dieser Ausgabe erscheint unumgänglich, da nur durch sie eine Einsicht in den Gesamtaufbau des Werkes möglich ist, zumal Schottlaender nicht nur kürzt, sondern auch die Anordnung der Kapitel ändert. Es wird stets zweisprachig zitiert. Wird im Folgenden die zweisprachige Ausgabe (Petrarca: Heilmittel) angegeben, stammen die Übersetzungen von Schottlaender, ist nur die lateinische Ausgabe (Petrarca: De remediis) notiert, handelt es sich um eigene Übersetzungen, die mit dankenswerter Unterstützung von Eckhart Schäfer entstanden sind. Bei Zitaten aus der Werkausgabe von 1554 wird lediglich das Schriftbild modernisiert; ansonsten werden sie unverändert übernommen. – Hilfreich bei der Beschäftigung mit De remediis utriusque fortunae kann auch ein Blick in die neuere englische Gesamtübersetzung sein, zumal die Ausgabe ein nützliches Register und einen umfangreichen Kommentar besitzt, der die meisten von Petrarca verwendeten Quellen nachweist: Petrarch’s Remedies for Fortune Fair and Foul. A modern English Translation of De remediis utriusque fortun[a]e, with a Commentary by Conrad H. Rawski. [5 Bde.] Bloomington/ Indianapolis 1991. 21 Vgl. Rudolf Schottlaender: Einleitung, zu: Francesco Petrarca: Heilmittel gegen Glck und Unglck. De remediis utriusque fortunae (Anm. 20), S. 34 – 35; vgl. auch Klaus Heitmann: Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit. Köln 1958, S. 11.

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indem er an die populäre Schicksalsmetaphysik des 14. Jahrhunderts anknüpfte, in welcher der Glaube an die Schicksalsmacht der unberechenbaren Fortuna fest verankert war,22 und er verfehlte sein Publikum nicht: Schon bald nach der Veröffentlichung im Jahre 1366 setzte der europäische Erfolg ein: Auf Verlangen König Karls V. von Frankreich wurde das Werk ins Französische übersetzt, Johann von Neumarkt erbat eine Kopie für Kaiser Karl IV. Nach Petrarcas Tod trat dieses „Grundbuch der werdenden Renaissance“ (Konrad Burdach) seinen Siegeszug in Europa an, besonders erfolgreich war es in Deutschland. Bis ins 18. Jahrhundert wurde es dreizehn Mal ins Deutsche übertragen, öfter als in jede andere europäische Volkssprache. So trug De remediis utriusque fortunae nicht nur wesentlich zur Durchsetzung des Frühhumanismus bei, sondern prägte in Deutschland auch entscheidend sein geistiges Klima.23 Besonders großen Einfluss übte Petrarcas Moralphilosophie auf Sebastian Brant (1457 – 1521) aus, den berühmtesten deutschen Autor, Publizisten und Gelehrten des frühen 16. Jahrhunderts. Sein Narrenschiff war das am weitesten verbreitete deutschsprachige Buch der frühen Neuzeit. Brant gab nicht nur die Werke Petrarcas heraus. Für die erste deutsche Gesamtausgabe der Remedia (1532) steuerte er eine poetische Vorrede aus fünfzehn Reimpaaren bei, in denen er Petrarcas stoische Lebenslehre zusammenfasst und den Leser ermahnt, Petrarcas Ratschläge zu befolgen, um so das stoische Ideal der Gemütsruhe zu verwirklichen: „Thu˚stu dem selben volgen nach, / So fyndstu ru˚w in aller sach“.24 Und auch sein eigenes wirkungsmächtiges Narrenschiff ist stark von De remediis utriusque fortunae inspiriert – von der Gattungswahl bis zur Transformation der 22 Siehe hierzu Heitmann (Anm. 21), S. 38 – 39. Heitmann erörtert umfassend Petrarcas Motivation, sich der Fortuna-Thematik zuzuwenden. 23 Zur Wirkungsgeschichte von De remediis utriusque fortunae siehe überblicksartig [Marlene Meuer]: De remediis utriusque fortunae (1353 – 1365), in: Petrarca in Deutschland. Ausstellung zum 700. Geburtstag (20. Juli 2004) im Goethe-Museum Düsseldorf in Zusammenarbeit mit der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, hg. von Achim Aurnhammer. Heidelberg 2004, S. 56 – 63; dort auch Angaben zur weiterführenden Literatur. 24 Hier zitiert nach dem Faksimile-Druck, der von der ersten deutschen Gesamtausgabe der Remedia zugänglich ist: Franciscus Petrarcha: Von der Artzney bayder Glck / des gu˚ten vnd widerwertigen. Unnd weß sich ain yeder inn Glck und unglck halten sol. Auß dem Lateinischen in das Tetsch gezogen [von Peter Stahel und Georg Spalatin]. Mit knstlichen fyguren durchauß/ gantz lustig und schçn gezyeret. Augsburg: Heinrich Steiner 1532. [Faksimile-Ausgabe] hg. und kommentiert von Manfred Lemmer. Hamburg 1984, [S. 4].

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stoischen Lebensphilosophie. Allerdings verschmilzt Brant die stoische Philosophie mit einem rigorosen Augustinismus, für den Petrarcas Werk kein Vorbild liefert. De remediis utriusque fortunae lässt sich in mehrfacher Hinsicht als Fortsetzung des Secretum lesen, denn die beiden Werke weisen charakteristische Strukturanalogien, zugleich aber auch aufschlussreiche Unterschiede auf. Die sinnfälligste Entsprechung ist die Form des unaufgelösten Streitgesprächs. Den konträren Positionen von „Augustinus“ und „Franciscus“ entspricht in De remediis der unaufgelöste Antagonismus der allegorischen Gestalten Vernunft und Affekt. Damit wurde die individuelle Rollenverteilung des Secretum in eine allgemeine anthropologische Gesetzlichkeit überführt. Den Zug des Grundsätzlichen trägt De remediis auch sonst: Petrarca setzt einen Leitgedanken auf allen Werkebenen durch; er verfolgt nicht vorrangig antik-christliche Synthesen und präsentiert auch keinen vermittelnden „Augustinus“ mehr; schließlich zielt der enzyklopädische Charakter des Werks darauf, sämtliche Bereiche des Lebens zu erfassen und zu reflektieren. Weil De remediis utriusque fortunae Petrarcas letzte große Auseinandersetzung mit der Stoa ist, weil dieses Spätwerk am entschiedensten stoisch formiert ist und weil es außerdem über Jahrhunderte hinweg Petrarcas wirkungsmächtigstes Werk war und sich Petrarcas humanistischer Ruhm und seine Bekanntheit in Europa darauf gründete, soll es im Folgenden im Zentrum der Untersuchung stehen.25

De remediis utriusque fortunae Während die moderne Forschung ebenso wie die breite frühneuzeitliche Rezeption De remediis für bare Sittenpredigt nahm,26 wurde inzwischen diese eindimensionale Lesart in Frage gestellt. Aufgrund der 25 Im Folgenden nehme ich einige Ausführungen auf aus: Marlene Meuer: „Omnia secundum litem fieri.“ Petrarcas ,De remediis utriusque fortunae‘ als Kontrafaktur von Senecas ,De remediis fortuitorum‘, in: Wolfenbtteler Renaissance-Mitteilungen 31, 2007, S. 1 – 30. 26 Die Rezeption von Petrarcas Remedia wurde im deutschsprachigen Raum der frühen Neuzeit durch die Textgestalt bestimmt, die Stephan Vigilius dem Werk gab (Vigilius’ Übersetzung wurde von 1539 bis 1637 gedruckt). Dieser erlaubte sich jedoch schwerwiegende Eingriffe in die Werkvorlage, stets mit dem Bestreben, den Inhalt auf eine handfeste moralische Belehrung hin zuzuspitzen. – Von Seiten der Forschung findet sich die Lesart der Sittenpredigt z. B. bei Klaus

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Dialogform und der Vorrede zum zweiten Teil relativiert etwa Stierle27 die Ausführungen der „Ratio“ ebenso wie die gängige Remedia-Lektüre: An der autorativen Gültigkeit des von Ratio vertretenen Stoizismus erscheinen Zweifel angebracht. Die folgende Deutung stellt eine Vermittlung zwischen den beiden einander widersprechenden Forschungsmeinungen dar, indem sie Ansichten beider Positionen berücksichtigt und am Text überprüft. Wie kein anderes Werk ist De remediis utriusque fortunae zugleich das Zeugnis von Petrarcas Aneignung der stoischen Philosophie wie auch von seiner Abgrenzung und Skepsis ihr gegenüber. Paradoxerweise entwirft Petrarca hier gerade im Zuge seiner Abgrenzung zugleich am entschiedensten ein eigenes moralphilosophisches Profil als Stoiker. Das Prinzip von Aneignung und Widerspruch findet schon in der Gegenläufigkeit der beiden Vorreden Ausdruck: Während die erste Vorrede von einem stark identifikatorischen Grundzug gegenüber der Stoa geprägt ist und hier die stoischaffirmative Formel von der Vernunft als der den Affekten überlegenen „Burgherrin“ fällt,28 entwirft die zweite Vorrede ein durch bewegte Lebensfülle beeindruckendes Gemälde einer ruhelosen Welt. Gerade der Kontrast dieser beiden auktorialen Vorreden, der Kontrast zwischen dem mit intellektueller Autorität sprechenden Ich und dem Tableau einer lockungsvollen und fallenreichen, vielgestaltigen Welt, unterstreicht den unentscheidbaren Widerspruch zwischen der souveränen Forderungen nach Sittlichkeit und der faktischen Brüchigkeit jedes Existenzphänomens. Zunächst ist Petrarcas Werk als intertextuelle Antwort auf die Schrift De remediis fortuitorum zu lesen. Die Autorschaft dieses Textes ist sehr fraglich. Möglicherweise handelt es sich nur um ein Flickwerk aus Seneca-Zitaten und stoischen Sentenzen. Petrarca rezipierte diesen kurzen, unvollständig überlieferten Traktat jedoch als Werk Senecas und wählte ihn zum wichtigsten Prätext seiner Remedia. 29 Petrarca Bergdolt: Arzt, Krankheit und Therapie bei Petrarca. Die Kritik an Medizin und Naturwissenschaft im italienischen Frhhumanismus. Weinheim 1992, S. 90 – 102: Krankheit und Gesundheit in ,De remediis utriusque fortunae’; Gerhart Hoffmeister: Petrarca. Stuttgart/Weimar 1997, S. 56; Schottlaender (Anm. 21), S. 23. 27 Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts. München/Wien 2003, S. 222 – 227. 28 Petrarca: Heilmittel (Anm. 20), S. 65/64. – Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 6: „Burgherrin aber ist die Vernunft“/„quae vero arci praesidet ratio“. 29 Nahezu jeder Forschungsbeitrag zu Petrarcas De remediis referiert diese Werkvorlage, die intertextuelle Beziehung beider Werke wurde hingegen bislang nicht durchgreifend untersucht. Die Forschungsliteratur zu Petrarca beschränkt

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transformiert die Werkvorlage entscheidend, indem er alle behandelten Themen aufgreift, gleichzeitig aber die stoische Lebensphilosophie durch das neue Arrangement der Dialoge stark relativiert. De remediis utriusque fortunae erweist sich als eine artistische Kontrafaktur von De remediis fortuitorum. Dialogizitt, nicht Monologizitt ist ihr entscheidendes Kennzeichen. Schon deshalb lässt sich De remediis utriusque fortunae auf zwei Weisen lesen: Sowohl als stoische Sittenpredigt wie auch als Hinterfragung dieser Philosophie. Die kritische Relativierung der dargestellten Lebensphilosophie erwirkt Petrarca mittels eines Prinzips der Brechung, des Antagonismus, des Widerspruchs, des Widerstreits. Dieses findet in der zweiten Vorrede und damit exakt in der Mitte des Werks seine prägnante Formel in dem Wort Heraklits „Alles geschieht gemäß dem Streit – Omnia secundum litem fieri“30. Und es trifft nicht nur für den poetologischen Wettstreit mit Seneca: für Petrarcas imitatio und aemulatio zu. Vielmehr drücken sich Aneignung und Widerspruch konsequent auf allen Werkebenen aus. Petrarca inszeniert auch in anthropologischer, argumentationsstrategischer und weltanschaulich-philosophischer Hinsicht einen unaufgelösten Antagonismus, mit dem er die Remedia gegen eine allzu glatte Lektüre aufrauhte. Dies soll eine systematische Analyse von Konzeption, Komposition und Textstruktur zeigen. Seit Stierle wurde in der Forschung wiederholt die anthropologische Dimension des Widerstreits festgestellt, die sich aus der aporetischen Gegenüberstellung der allegorischen Gestalten Ratio und Sensus in der Form eines Dialogs ergibt.31 Neben der kontradiktorischen aemulatio sich darauf, eine Übereinstimmung der beiden Schriften im Hinblick auf die Dialogform und einen Unterschied bezüglich Petrarcas konsequenter Behandlung von Fortunas Zweigestalt zu konstatieren (Seneca behandelt nur adversa fortuna). So Schottlaender (Anm. 21), S. 25; Hoffmeister (Anm. 26), S. 55; Franz Josef Worstbrock: Petrarcas De remediis utriusque fortunae. Textstruktur und frhneuzeitliche Rezeption, in: Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik, hg. von Achim Aurnhammer. Tübingen 2006, S. 39 – 57; hier S. 45. – Die Seneca-Forschung hat die Übereinstimmungen zwischen den beiden Schriften nur herangezogen, um die Überlieferung der Seneca-Handschrift zu problematisieren. 30 Petrarca: Heilmittel (Anm. 20), S. 154/155. (Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 121.) – Dieses Zitat geht wohl auf das Heraklit-Fragment Diels-Kranz 22 B 80 zurück: „eQd´mai d³ wqµ t¹m pºkelom 1ºmta num¹m ja· d¸jgm 5qim ja· cimºlema p²mta jat’ 5qim ja· wqe¾lema.“/„Man muss wissen, dass der Krieg allgemein ist und das Recht auf Kampf beruht und alles, was geschieht und Brauch ist, durch Kampf zustandekommt.“ 31 So jetzt z. B. Worstbrock (Anm. 29).

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Senecas ist der Widerspruch auch Ratios Argumentationsführung selbst inhärent, da diese mehrfache Brechungen aufweist. Exemplarisch lassen das die Schlusskapitel der Remedia erkennen. Die Konzentration auf die Schlusskapitel bietet sich aus zwei Gründen an: Erstens, weil Senecas Einfluss auf die Todesthematik in diesen Kapiteln unverkennbar ist: Die Übernahmen reichen bis in den Wortlaut hinein. Und zweitens widmet sich auch der größte Teil, der von der stoischen Textvorlage De remediis fortuitorum überliefert ist, dem Tod. Petrarcas skeptisch antwortende Reaktion auf den Traktat ist somit aufgrund des übereinstimmenden Reflexionsgegenstandes besonders gut zu verfolgen. Schließlich widmet Petrarca dem Widerstreit in der Vorrede zum zweiten Teil des Werks eine minutiöse philosophische Erörterung. Indem er diesen Widerstreit hier in den Rang einer grundlegenden Daseinsprämisse hebt, macht er ihn zum zentralen Axiom der entworfenen Weltanschauung. Das Paradigma der stoischen Philosophie wird von Petrarca in De remediis utriusque fortunae also auf vielfache Weise angewendet und zugleich kunstvoll relativiert: Anthropologisch durch die personifizierte Konfrontation von Ratio und Sensus in der Dialogform, intertextuell in der Textkomposition, argumentationsstrategisch in der Beweisführung und weltanschaulich-philosophisch in der Vorrede zum Zweiten Buch. Dies wird zunächst schrittweise für die Werkkonzeption der Remedia nachgewiesen, bevor abschließend gezeigt wird, dass das dominierende Strukturmuster des Antagonismus konsequenterweise auch eine doppelte Lesart der Remedia ermöglicht.

Die Dialogform Wie Stierle und Worstbrock32 bereits festgestellt haben, liegt der Dialogform, die Petrarca für sein Werk wählte, die Absicht zugrunde, leitmotivisch den unauflösbaren Widerstreit der menschlichen Seelentriebe zu illustrieren. Zu diesem Zweck stellte er Vernunft und Affekt als widerstreitende allegorische Gestalten einander gegenüber. Im ersten Buch der Remedia (prospera fortuna) findet die Abfolge der Dialoge jeweils zwischen „Ratio“ und „Gaudium“ oder „Spes“, im zweiten Buch (adversa fortuna) zwischen „Ratio“ und „Dolor“ oder „Metus“ statt. Gleichgültig, ob das irdische Dasein als „prospera“ oder als „adversa fortuna“ erscheint, es exponiert einen ständigen inneren Widerstreit 32 Worstbrock (Anm. 29), S. 45 – 48.

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von Vernunft und Affekt.33 Ihr Widerstreit ist es, der die willkürliche Verkettung von Glücks- und Unglücksfällen zu einem Kontinuum vermittelt: „Was ist das doch für ein Krieg (ein ewiger sogar!), den wir gegen Fortuna führen“.34 Durch die Konzeption ihrer Beiträge werden Vernunft und Affekt als anthropologische Konstanten des Menschen charakterisiert:35 Als unmittelbare Äußerung des sinnlichen Lebens ist der Affekt einsilbig. Er liefert jeweils nur den Anlass für einen Monolog der Ratio, welcher dann lediglich durch den monotonen Widerspruch des Affekts unterbrochen wird. Die dem konkreten Dasein enthobene Ratio hingegen besticht durch Sprachgewandtheit und philosophischen Argumentationsreichtum. – Diese Diskrepanz weist auf die grundlegende Distanz, in der sich das Philosophieren stets zur Wirklichkeit befindet: Alles, was kunstvolle Wortbildung ist, ist eben nicht zugleich Wirklichkeit, sondern substantiell verschieden von ihr. Literarische Sprache und Moralphilosophie bilden geradezu eine Gegensphäre zur Wirklichkeit und Wirklichkeitserfahrung. Deshalb können die unerschöpflichen Argumente der Ratio, die darauf zielen, die Fragwürdigkeit des Glücks und die Relativität des Unglücks darzulegen, in den Remedia auch keinen fruchtbaren Boden finden. Durchweg steht Ratios Redseligkeit die akommunikative Selbstbezogenheit des Affekts gegenüber. Aus dem unüberbrückbaren Gegensatz von Vernunft und Affekt resultiert eine Dialogstruktur, die der Form nach besteht, inhaltlich aber durch die vermittlungslos bleibenden konträren Positionen unterwandert wird.

33 In der Vorrede zum Zweiten Buch heißt es mit anthropologischem Erkenntnisinteresse: „Wie aber die Seele infolge der verschiedensten widrigen Affekte mit sich kämpft, darüber muss jeder einzelne keinen anderen als sich selbst befragen und sich selbst auch die Antwort geben. Wie wird doch der Geist durch so mannigfache gegen ihn selbst zurückschnellende Antriebe bald hierhin, bald dorthin gerissen! Nirgends ist er ganz, nirgends einheitlich; mit sich selbst ist er zerfallen, sich selbst zerreißt er.“/„Animus quam diversis quamque adversis secum pugnet affectibus, unusquisque non alium quam sese interroget sibique respondeat, quam vario quamque reciproco mentis impulsu modo huc rapitur modo illuc, nusquam totus, nusquam unus, secum ipse dissentiens, se discerpens.“ Petrarca: Heilmittel (Anm. 20), S. 183/182. (Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 124 f.) 34 Petrarca: Heilmittel (Anm. 20), S. 47/46 (Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 1.): „Quod illud est bellum (quamquam perpetuum) quod cum Fortuna gerimus.“ 35 Dieser Abschnitt teilt im Wesentlichen Stierles Deutung. Vgl. Stierle (Anm. 27), S. 222 – 227.

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Diese Konstellation weicht markant von Seneca ab. Bei diesem ist die reflexive Erhebung über die gegenwärtige Lebenssituation die Voraussetzung für eine freie Entfaltung des Geistes. Die Affekte sollen gemäß dem dreiteiligen Seelenprinzip eine untergeordnete, dem Geist dienende Rolle einnehmen. Bei Petrarca erhalten die Affekte im Widerstreit mit der Ratio jedoch eine eigene Valenz: In jedem Dialog beharrt der Affekt unbeirrbar auf seinem Eigenwert, indem er auf die Faktizität der Lebenssituation verweist, die ihn hervorgerufen hat.

Kontrafaktur Von der Petrarca-Forschung wurde bisher ignoriert, dass die dialogische Struktur der mit der Autorschaft Senecas verbundenen Schrift De remediis fortuitorum 36 von einer andersgearteten philosophischen Überzeugung getragen ist als Petrarcas Abhandlung, deren aporetische Konfrontation von Vernunft und Affekt querliegt zur stoischen Aussageabsicht. Petrarcas Gesprächskonzeption erhält ihre Raffinesse gerade durch die pointierte Absetzung von seiner Textvorlage. In De remediis 36 Die kurze stoische Schrift De remediis fortuitorum blieb ein unabgeschlossenes Kapitel der Forschung. Die befremdliche Textgestalt und die unvollständige Überlieferung des Werks warfen Fragen auf, die bis zu Zweifeln an der Autorschaft Senecas führten und nicht abschließend geklärt werden konnten. Auf diese Streitpunkte kann hier nicht weiter eingegangen werden. Wesentlich ist, dass Petrarca das Werk als Text Senecas rezipierte und unbestreitbar ist auch sein durch und durch senecaisch-stoischer Charakter. – Um den Vergleich mit dem Folgewerk Petrarcas zu vollziehen, wurde der Untersuchung die neueste und umfangreichste kritische Textausgabe von Senecas De remediis fortuitorum zugrunde gelegt. Dies ist: Robert Joseph Newman: Lucii Annaei Senecae ,De remediis fortuitorum liber ad Gallionem fratrem‘. Baltimore/Maryland 1984, S. 119 – 129: Text. (Im Folgenden: Seneca: De remediis fortuitorum. Die deutschen Übersetzungen sind ebenfalls Eigenanfertigungen.) Newman orientiert sich an der ältesten Handschrift, dem Salmasianus aus dem 7. Jahrhundert, und bietet aufgrund von 22 gesichteten Handschriften den umfangreichsten Lesartenapparat. Diese kritische Edition des Seneca-Textes stellt einen Teil seiner Dissertation dar, die zugleich auch die umfangreichste neuere Untersuchung von Senecas De remediis fortuitorum ist. Der analytische Teil wird im Folgenden mit Newman: De remediis fortuitorum zitiert. Auch eine knappe und aufschlussreiche Zusammenfassung der Forschungsgeschichte stammt von ihm: Robert Joseph Newman: Rediscovering the De Remediis Fortuitorum, in: American Journal of Philology. 109, 1, 1988, S. 92 – 107; hier S. 92 – 93 und Anm. 1 – 3. (Im Folgenden: Newman: Rediscovering)

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fortuitorum verweist die Dialogform auf das in der stoischen Tradition fest etablierte Erziehungsgespräch,37 mit der Besonderheit, dass das Gespräch hier in das menschliche Innere verlagert ist.38 Die formale Gestaltung des Dialogs drückt den stoisch-optimistischen Grundgedanken aus, dass das menschliche Leben ein fortschreitender Prozess der Selbsterziehung und Selbstvervollkommnung ist. Demgemäß sind Vernunft und Affekt im Prätext auch nicht zu widerstreitenden allegorischen Gestalten ausgeprägt. Während die mit der Ratio zankenden Affekte in Petrarcas De remediis namentlich angekündigt werden, sind die affektiven Äußerungen der stoischen Werkvorlage nicht eigens gekennzeichnet.39 Sie leiten jeweils nur eine längere rationale Zurechtweisung ein. In der kurzen stoischen Schrift lässt sowohl die thematische Anordnung als auch die formale Gestaltung der Dialoge eine Tendenz zur Versöhnung von Vernunft und Affekt erkennen. Der VorgängerTraktat besitzt im Gegensatz zu demjenigen Petrarcas prozessualen Charakter. Er beginnt mit der stoischen Herausforderung par excellence: mit der Todesthematik, die einen festen Platz in stoischen Er37 Die in der Schrift De remediis fortuitorum gestaltete Dialogversion ist allerdings auch für Seneca ungewöhnlich. Vgl. Newman: Rediscovering (Anm. 36), S. 104. 38 Newman deutet die Gestaltung des Dialogs in Senecas De remediis fortuitorum überzeugend als meditatio. Vgl. Newman: Rediscovering (Anm. 36), S. 104: „The diatribe which Seneca commonly used normally introduced an imaginary interlocutor and objector. Seneca recommended such a dialogue between ,self‘ and the imaginary interlocutor in Ep. 24.1 in a discussion of the meditatio: Si vis omnem sollicitudinem exuere, quidquid vereris ne eveniat eventurum utique propone. […] The DRF [De remediis fortuitorum], then, is written in exactly the same style that Seneca recommends for the meditatio.“ – Für die These, dass die dialogische Gestaltung von Senecas Schrift ein Selbstgespräch nachahmt, spricht auch die von Petrarcas Folgewerk eindeutig verschiedene Anredestruktur der Sprechenden. Bei Seneca erfolgen die affektiven Äußerungen beliebig zum Teil in der 1. und zum Teil in der 2. Person Singular. Die anschließenden rationalen Zurechtweisungen antworten ebenso zufällig in der 1. und der 2. Person Singular. Dabei sind die Sprechenden dann teilweise grammatikalisch unterschieden, teilweise sind sie identisch, wobei letzteres schließlich offenkundig dem Wesen eines Selbstgesprächs entspricht. 39 Loth hält fest, dass es in früheren Handschriften des Seneca-Textes keine Bezeichnungen für die Gesprächsteilnehmer gibt, während sie in spätmittelalterlichen Textzeugen plötzlich auftauchen (eine Beeinflussung durch die Verbreitung von Petrarcas Werk?): „Le nom des interlocuteurs (Sensus, ratio; un manuscrit donne Nero, Seneca) est une invention du moyen âge“. J. Loth: Un nouveau texte du trait de Snque. De remediis fortuitorum, in: Revue de philologie, de littrature et d’histoire anciennes. 12 ,1888, S. 118 – 127; hier S. 119.

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ziehungsgesprächen einnimmt.40 In der Todesfurcht gipfelt die affektive Eingebundenheit des Menschen in seine irdische Lebenssituation. Deswegen gilt es gerade sie zu bekämpfen. Auf die einleitende Frage „Von wo, also, denkst Du, sollen wir beginnen?“41 folgt daher auch die zielsichere Antwort: „Beim Tod.“42 Nur für die Todesthematik wird die Begründung der Themenwahl eingehender ausgeführt: Beim Äußersten? sagst Du. Aber ja, bei der größten Sache. Das menschliche Geschlecht fürchtet sich besonders vor dem Tod, und nicht grundlos. Die übrigen Ängste haben etwas, das auf sie folgt; der Tod jedoch setzt allem ein Ende. Andere Dinge quälen uns; der Tod verschlingt alles. Der Ausgang von allem, was wir fürchten, bezieht sich auf den Tod, einige davon auf Umwegen. Sogar diejenigen, die meinen, dass sie sonst nichts fürchten, fürchten ihn. Was auch immer sonst wir fürchten, hat entweder ein Heil- oder ein Trostmittel. Deshalb bilde dich so aus, dass du, falls dich jemand offen mit dem Tod bedroht, über alle seine Schreckmittel spottest.43

Alle daran anschließenden Dialogthemen folgen ohne weitere Ein- oder Überleitung. Doch lässt die Anordnung und Wahl der Erörterungssujets deutlich eine Abschwächung der Affekte erkennen: Die Milderung der Furcht beginnt bereits innerhalb der Kontroverse über den Tod. Zunächst wird über den nahenden Tod und die Todesfurcht (1) im Sinne einer allgemeineren Hinführung zum Diskussionsgegenstand gesprochen. Es folgt inhaltlich noch eine leichte Zuspitzung durch die Auseinandersetzung über die nahende Hinrichtung (2), bevor sich das existentielle Schwergewicht, mit den Variationen Tod in der Fremde (3), frühzeitiger Tod (4), Furcht, unbegraben zu sterben (5), immer weiter abschwächt und die Erörterung schließlich in den Dialog über 40 Zum Stellenwert der Todesthematik in der stoischen Tradition siehe Wolfgang Weinkauf: Einleitung, zu „Ethik“, in: Ders.: Die Philosophie der Stoa. Ausgewählte Texte. Stuttgart 2001, S. 202. 41 Seneca: De remediis fortuitorum (Anm. 36), S. 119: „Unde ergo primum incipiamus tibi videtur?“ 42 Seneca: De remediis fortuitorum, (Anm. 36), S. 119: „A morte.“ 43 Seneca: De remediis fortuitorum, (Anm. 36), S. 119: „,Ab ultimo’? inquis. Immo a maximo. Ad hoc praecipue gens humana contremit, nec immerito. Ceteri enim timores habent aliquem post se locum; mors omnia abscidit. Alia nos torquent; mors omnia devorat. Omnium, quae horremus, ad hanc exitus spectat, alia horum per circuitum. Etiam qui aliud se non timere iudicant, hoc timent. Quicquid aliud extimescimus, habet remedium aut solacium. Sic ergo te forma, ut, si quis tibi palam mortem minetur, omnes terriculas eius eludas.“

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Krankheit (6) übergeht. Dem ist ein gesellschaftlicher Themenkreis angeschlossen, der klar abgestuft der Tendenz zur Affektabschwächung analog zum ersten Dialogkreis folgt: Als allgemeine Exposition dient ein Streitgespräch über einen schlechten gesellschaftlichen Ruf (7). Es folgen Verbannung (8), Armut (10), eine unterlegene Stellung (11) und Geldverlust (12), die im Hinblick auf das affektive Gewicht ebenfalls eine Antiklimax bilden. Die restlichen Dialoge (13 – 17) ergeben keine so klar durchstrukturierte Gruppe. Sie wenden sich unterschiedlichen Gegenständen zu, als deren lose Klammer das Motiv des Verlustes dient. Die Abschwächung der affektiven Intensität lässt sich in De remediis fortuitorum auch an der Zahl der sich wiederholenden Affektausrufe ablesen: Während zu Beginn der Schrift der Affekt unnachgiebig erscheint, da sein erster Ausruf sich unverändert elf Mal wiederholt, nimmt im weiteren Textverlauf die Vehemenz des Affekts auf zwei Weisen ab. Einerseits verringern sich die Wiederholungen der Ausrufe, womit eine quantitative Verkürzung der Themenbehandlung einhergeht. Und andererseits beginnen die Affektausrufe zu variieren, wodurch sich die starre Insistenz lockert, mit der die Affekte zu Beginn eingeführt wurden. Einen Erkenntnisfortschritt suggeriert darüberhinaus das am Ende von De remediis fortuitorum präsentierte Fazit, das sich aus einer überlegenen Perspektive auf die behandelten Themen ergibt: Tod, Verbannung, Trauer, Schmerz sind keine Strafen, sondern die Bedingungen des Lebens. Das Fatum lässt niemanden unversehrt. Glücklich ist nicht, wer anderen so erscheint, sondern wer es für sich selbst ist. Aber du siehst, wie selten diese Art menschlicher Glückseligkeit ist.44

Eine optimistische Entwicklungslinie ist in der Werkvorlage De remediis fortuitorum also auch bei aller Fraglichkeit ihres fragmentarischen Zustandes deutlich ablesbar. Von grundlegender Bedeutung für eine Interpretation von Petrarcas De remediis utriusque fortunae ist die Tatsache, dass Petrarca alle Dialoge, die seine Vorlage bietet, thematisch wieder aufgreift. Zwar könnte nur ein Handschriftenvergleich zwischen dem Entwurf seiner Remedia und der Fassung von De remediis fortuitorum, die ihm zur Verfügung stand, ein abschließendes Urteil darüber ermöglichen, wie durchgreifend Petrarca tatsächlich den stoischen Prätext umarbeitet. Aber schon bei einem 44 Seneca: De remediis fortuitorum (Anm. 36), S. 129: „Mors, exilium, luctus, dolor non sunt supplicia sed tributa vivendi. Neminem illaesum fata transmittunt. Felix est non qui aliis videtur, sed qui sibi. Vides autem quam rara sit ista felicitas.“

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Vergleich der zugänglichen Werkausgaben sticht ins Auge, dass sich die Themen der Vorgängerschrift in inverser Anordnung bei Petrarca wiederfinden: Die Themen, die in De remediis fortuitorum zum Schluss erörtert werden, behandelt Petrarca zu Beginn, während er die Themen, mit denen die Schrift beginnt, an den Schluss rückt.45 Petrarcas inverses Arrangement der Themen unterstreicht, dass er die Dialoge in beiden Werken gemäß ihrem affektiven Gewicht anordnet. Schärfe gewinnt diese Disposition der Diskussionsgegenstände im Hinblick auf die Plazierung des Todesthemas. Seine Werkvorlage beginnt mit diesem gewichtigsten Gegenstand des Stoizismus die reflexive Auseinandersetzung und behandelt dann immer weniger existentielle und emotional aufreibende Themen, bis der überlieferte Teil des Werks mit vergleichsweise unwichtigen Diskussionen ausläuft. Damit zielt die stoische Vorlage nicht auf einen statischen oder unauflöslichen Antagonismus von Vernunft und Affekt, sondern auf eine fortschreitende geistige Entwicklung, die auf der gelingenden Erörterung des Bedingungszusammenhangs beruht, der jeweils die Affekte hervorruft. So werden sie immer weiter abgeschwächt. Die inverse Abfolge der Themen in Petrarcas De remediis ermöglicht eine doppelte Lesart: Mit der Rezeption des stoischen Prätextes erweist sich Petrarca einerseits als Stoiker, andererseits erscheint De remediis jedoch als Kontrafaktur der Werkvorlage. Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass die Affektivität, die das jeweilige Thema evoziert, beständig zunimmt. Gerade weil bei Petrarca kein einziger Dialog die Diskrepanz von Vernunft und Affekt aufhebt, ist diese Disposition der Gesprächsinhalte die Grundlage, auf der sich die These von einer Aporie der stoischen Vernunft für seine Remedia formulieren lässt: Der Widerstreit 45 Es seien vergleichend einige Beispiele aus Seneca: De remediis fortuitorum (Anm. 36) und Petrarca: De remediis (Anm. 20), genannt: Das letzte Kapitel, das aus Senecas Traktat überliefert ist (Kapitel 17 von 17), leitet der affektive Ausruf „Uxorem bonam amisi“ (S. 127) ein. Ihm entspricht Petrarcas Kapitel De uxoris amissione (S. 146 – 147), das ziemlich weit vorne steht (Kapitel 18 von 132). Das vorletzte Kapitel aus Senecas De remediis fortuitorum (Kapitel 16 von 17) beginnt mit dem Ausruf „Inimicos graves habeo“ (S. 127). Petrarcas Pendant ist das Kapitel De inimiciciis (S. 158 – 159), das ebenfalls im ersten Drittel situiert ist (Kapitel 32 von 132). Das drittletzte Kapitel Senecas (Kapitel 15 von 17) beginnt mit der Äußerung „Naufragium feci“ (S. 126). Petrarcas Gegenstück dazu lautet De gravi naufragio (S. 173 – 174) und findet sich bereits im zweiten Drittel seines Traktats (Kapitel 54 von 132). Diese Aufzählung lässt sich mit den übrigen 14 Kapiteln, die aus Senecas De remediis fortuitorum erhalten sind, der Tendenz nach (das heißt, Abweichungen sind durchaus vorhanden) fortführen.

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von Vernunft und Affekt verschärft sich, um schließlich in die Erfahrung der Todesfurcht einzumünden.

Argumentation Aus der aporetischen Themenanordnung resultiert bei Petrarca eine perspektivische Brechung des Gültigkeitsanspruchs der von Ratio vertretenen Lebenslehre. Die Brechung kommt auf mehrere Weisen auch im Argumentationsverfahren selbst zustande: Ratio kombiniert Elemente aus der stoischen Naturkosmologie und dem christlich-dualistischen Weltbild ohne die Widersprüche aufzulösen.46 Ganz im funktionalen Einklang mit der Form des Streitgesprächs wird auch wörtlich der Zweifel an der vorgeführten Lebenslehre artikuliert. Schließlich fallen Paradoxien in Ratios Diskussionsbeiträgen auf.

46 Anschaulich illustriert eine frühneuzeitliche Handschrift von Senecas De remediis fortuitorum, in welcher Reinform Petrarcas „Ratio“ die Argumente der Stoa zum Teil konserviert. Denn der Schreiber dieser Handschrift (Vratislava IV.Q.66) hat Senecas Text mit Partien aus Petrarcas De remediis utriusque fortunae angereichert. Dieser Zug erscheint umso kurioser, als es ja ursprünglich Petrarca war, der seinerseits aus Senecas De remediis fortuitorum schöpfte. Eine Fassung des mit Petrarca-Partien interpolierten Seneca-Textes gelangte 1459 sogar in Leipzig zum Druck. – Haase hat diese Interpolationen in seiner Seneca-Ausgabe von 1853 berücksichtigt. Sie folgen nach der Kennzeichnung „ADDITIO“. (Vgl. L. Annaei Senecae ad Gallionem de remediis fortuitorum liber, in: L. Annaei Senecae opera quae supersunt, recognovit et rerum indicem locupletissimum adiecit Fridericus Haase, Leipzig 1853, Bd. 3, S. 446 – 457. Im Folgenden: Seneca/Haase: De remediis fortuitorum) Obwohl Haase davon überzeugt war, dass es sich um Interpolationen handelt, entfernte er sie nicht aus dem Text, denn er sah, dass es sich um rein stoisches Gedankengut handelt, das so auch hätte von Seneca selbst stammen können. (Vgl. Frid. Haasii Praefatio, zu: ebd. Bd. 3, S. 16 f.) – Erst später stellte Hortis fest, dass die Additiones aus Petrarcas De remediis utriusque fortunae stammen. (Attilio Hortis: Le Additiones al de remediis fortuitorum di Seneca dimostrate cosa del Petrarca e delle attinenze del Petrarca con Seneca, in: Archeografe Triestino, 6, 3, 1879, S. 5 – 9. Zusammenfassend zu den Additiones vgl. auch Newman: De remediis fortuitorum (Anm. 36), S. 114 f.) – Der stoische Text der Additiones wirkt in der Tat eher bei Petrarca befremdlich, während er sich in Senecas De remediis fortuitorum recht gut fügt. Im Folgenden werden noch einige prägnante Beispiele für diese Additiones angeführt.

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Als Beispiel für den Widerspruch von stoischem Monismus und christlichem Dualismus sei hier das Kapitel De morte angeführt.47 Es ist erstaunlich und auffällig, dass Petrarca wiederholt die stoische „natura“, die stoisch-monistisch verstandene Allnatur, als Argument gegen die Todesfurcht mobilisiert.48 So lautet eine bemerkenswerte Partie aus De morte: „Die Natur ist die liebevollste Mutter, sie hat nichts Schreckliches erzeugt, ein Irrtum macht den Tod schrecklich“.49 Die Berufung auf die monistische Allnatur als Ursprung allen Lebens schließt das Bekenntnis zum dualistischen Weltbild mit seinem christlichen Schöpfergott prinzipiell aus. Exakt vom „creator“ war allerdings kurz zuvor noch die Rede: 47 Auch im Kapitel De metu mortis argumentiert Ratio nach stoischem Muster gegen die Todesfurcht: Vgl. dazu z. B. Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 233: „Wenn dem Tod etwas an geistiger Kraft innewohnen würde, würde er nicht mehr Schrecken besitzen, als was sonst von Natur ist. Warum solltest du nämlich das Sterben mehr fürchten als die Geburt, das Heranwachsen, das Altern, das Hungern, das Dürsten, das Wachliegen, die Ohnmacht, wobei letzteres dem Tod überaus ähnlich ist.“/„si quid animi virium inesset, nihilo plus terroris esset in morte quam in caeteris quae per naturam sunt. quid enim magis mori timeas quam nasci, adolescere, senescere, esurire, sitire, vigilare, consopire, quod ultimum plane simillimum morti est“. 48 Einige dieser stoisch-naturkosmologischen Textpartien, die in Petrarcas Text zum Teil fremdartig und widersprüchlich wirken und damit die perspektivische Brechung von Ratios Argumentation verursachen, gelangten in Form der Additiones zu Senecas De remediis fortuitorum als ihrem geistigen Ursprung zurück. – So findet sich der Beginn des vierten Wortwechsels im Kapitel De metu mortis aus Petrarcas Remedia in den Additiones von Senecas De remediis fortuitorum. Vgl. Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 233 (und Seneca/Haase: De remediis fortuitorum (Anm. 46), S. 447.): „M. Ich fürchte den Tod. R. Nichts ist zu fürchten, was die Naturnotwendigkeit mit sich bringt.“/„M. Mortem metuo. R. Nihil est metuendum quod affert necessitas naturae“. – Auf diese stoische Partie lässt Petrarca weitere Ausführungen folgen, in denen er wie beiläufig von der „natura“ zum „deus“ wechselt: „wer nämlich Natrliches verachtet oder fürchtet, verachtet oder fürchtet die Natur selbst, außer wenn er den einen Teil von ihr gutheißen und loben, den anderen zurückweisen und ablehnen kann, was das Unverschämteste ist, was es gibt, nicht nur für einen Menschen gegenüber Gott, sondern auch für Menschen unter ihresgleichen.“/„qui naturalia enim odit aut metuit, naturam ipsam oderit oportet aut metuat, nisi forte partem eius alteram amplecti licitum et laudare, respuere alteram ac damnare, quo nihil est insolentius, non solum homini cum Deo, sed hominibus inter se“. Hervorhebungen: M.M. 49 Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 240: „natura parens benignissima, nihil fecit horrificum, mortem formidabile error facit“.

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Doch weil der Schöpfer der Seele selbst mild ist, väterlich und barmherzig, wird er sein Werk nicht verachten, sondern er wird denen, die ihn wahrhaftig anrufen, nahe sein. An ihn lasst uns die letzten Bitten, Gebete und Hoffnungen richten, mit seinem Namen mögen die letzten Seufzer enden, geh sorglos, fürchte nichts, die Natur ist die liebevollste Mutter…. 50

Bei der Bewertung dieser widersprüchlichen Argumentation gilt es mehrere Aspekte einzubeziehen: Petrarca wusste, wie man den antikpaganen Stoizismus konsequent in christliche Anschauungen überführt – De vita solitaria liefert das Beispiel hierfür. Dass es sich trotzdem um unbemerkte Inkohärenzen handle, ist die gängige Forschungsmeinung.51 Sie könnten entstanden sein, weil Petrarca mit De remediis die Summe seiner Stoa-Rezeption ziehen wollte. Er wollte in dem Werk eine durch und durch stoische Argumentation entfalten, deswegen auch die zahlreichen Bezüge auf die „Natur“, so wie sie bei Seneca üblich sind. Aber – so ließe sich weiter überlegen – um der antiken Naturkosmologie kein zu starkes Gewicht zu verleihen, ergänzte er die ent50 Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 239 f.: „sed quia creator animae ipse est mitis, ipse pius ac misericors, opus suum non despicet. sed veraciter invocantibus prope erit. in illum preces, in illum vota, in illum spes ultimae ferantur, in illius nomen extrema desinant suspiria, i securus, nil timeas, natura parens benignissima…“ (Hervorhebungen: M.M.) – Nicht nur nach, auch unmittelbar vor dieser Partie spricht Petrarca anstelle vom „deus“ von der „natura“. Vgl. ebd. – Die zugespitzte christliche Codierung der angeführten Sätze, in denen Petrarca vom „deus“ spricht, wird mit Blick auf die biblischen Anklänge besonders deutlich. Vgl. Die Bibel: Psalm 145, 18: „Der Herr ist nahe allen, die ihn anrufen, allen, die ihn wahrhaftig anrufen.“/„Iuxta est Dominus omnibus invocantibus eum, omnibus invocantibus eum in veritate.“ 51 Die widersprüchliche Argumentation wird in der Forschung entweder als reflexive Schwäche Petrarcas ausgelegt oder als seine scheiternde Bemühung, Antike und Christentum miteinander zu verbinden. Das Erklärungsmodell, das Petrarca den philosophischen Scharfsinn abspricht, favorisiert Heitmann (Anm. 21), S. 254: Petrarca sei sich „in der Mehrzahl der Fälle seiner Widersprüchlichkeiten gar nicht bewußt.“ Und ebd. S. 256: „Zum Philosophen fehlte Petrarca ohnehin nichts so sehr wie das Distanzierungsvermögen. Die Voreingenommenheit durch den Konkordanzgedanken bedeutete eine Schwächung seiner von Natur aus schon ungenügenden Fähigkeit zur kritischen Synthese. Nur so erklärt es sich, daß er außer den mehr verborgenen auch noch sehr offensichtliche Diskrepanzen zwischen der Stoa und dem Christentum übersieht.“ Breiter ist aber die Forschungsrichtung, welche die teils stoische, teils christliche Argumentation der Ratio dahingehend erläutert, dass Petrarca mit dieser Melange auf eine Versöhnung des christlichen Glaubens mit antiker Lebensweisheit gezielt habe, an deren Durchführung er in den Remedia aber gescheitert sei. So Hoffmeister (Anm. 26), S. 55.

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sprechenden Übernahmen aus der stoischen Naturkosmologie um Bezüge auf den christlichen Schöpfergott. Bei allen Fragen, welche die widersprüchliche Argumentation in De remediis utriusque fortunae aufwirft und die nicht abschließend beantwortet werden können, gilt es daher zumindest Folgendes festzuhalten: 1.) Petrarca war sich der prinzipiellen Divergenz von stoischer Naturkosmologie und christlichem Dualismus bewusst und er verstand es auch, die Stoa zu christianisieren (De vita solitaria). 2.) Es ist auszuschließen, dass Petrarca durch die Wiederaufnahme der antiken Naturkosmologie die christliche Weltanschauung subvertieren wollte, wie es im späteren Neopantheismus seit Giordano Bruno und Spinoza geschieht. Petrarcas gesamte intellektuelle Biographie und deren Niederschlag in seinen Werken unterstreichen seine Verwurzelung in der christlichen Tradition. 3.) Durch das unvermittelte Nebeneinander der stoisch-naturkosmologischen und der christlich-dualistischen Argumentation entsteht auch auf der Ebene der Beweisführung ein Polyperspektivismus. Gerade weil dieser Polyperspektivismus auch auf anderen Werkebenen zutage tritt und sich damit in eine Interpretation der Remedia einfügt, ist es auch möglich anzunehmen, Petrarca habe die Brechung bewusst kalkuliert, zumal nur eine kleine Änderung vonnöten gewesen wäre, um das stoische Begründungsmuster durch das christliche zu substituieren: Die stoische „natura“ hätte durch den christlichen „deus“ ersetzt werden müssen. Dass Petrarca diese Änderung nicht konsequent vornahm, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass er es keineswegs darauf abgesehen hatte, stoisches Gedankengut umstandslos in christliche Vorstellungen zu überführen. Die Frage nach der Autorintention kann zwar nicht endgültig geklärt werden, wohl aber bricht das durch Senecas Philosophie und das Werk De remediis fortuitorum gegebene philosophische Weltdeutungsmodell, das Petrarca für Ratios Beweisführung einsetzt, die Wahrnehmungsperspektive durch das unvermittelte Nebeneinander konträrer Begründungsformen. Auf diese Weise trägt auch die Argumentationsführung dazu bei, dass die Schrift De remediis den Eindruck einer polyperspektivischen Welt vermittelt. Wie schon Stierle andeutete, ist so auch Ratio „in einer Welt der Uneinhelligkeit und des Widerstreits in sich entzweit“.52 Sie bietet keine einheitliche, sondern verschiedene Weltdeutungen an. Als lebensphilosophischer Ratgeber und als Nachfahre der Schrift De remediis fortuitorum legt De remediis utriusque fortunae das stoische 52 Stierle (Anm. 27), S. 226.

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Weisheitsideal zugrunde (imitatio), dessen Anspruch eine direkte Wirkung der philosophischen Betrachtung auf die konkrete Lebensführung ist. Gleichzeitig wird dieses Ideal aber auf allen Werkebenen in Frage gestellt (kontradiktorische aemulatio): Die statische Opposition von Vernunft und Affekt suspendiert die Wirksamkeit der philosophischen Reflexion, die Textkomposition bildet durch das inverse Arrangement der Themen eine aporetische Kontrafaktur des stoischen VorgängerTraktats, schließlich problematisieren die Debatten von Ratio und Sensus das stoische Weisheitsideal. Dabei fällt auf, dass sowohl Sensus als auch Ratio selbst Zweifel an der Tauglichkeit dieses Ideals andeuten. Während sich der Affekt üblicherweise durch charakteristische Lakonik auszeichnet, beklagt er im siebten Wortwechsel des Kapitels De metu mortis offensiv die Diskrepanz von Reflexion und Lebenswirklichkeit. Auf die Ratschläge der Ratio erwidert er: Diese Dinge sind bei den Philosophen oft behandelt und ganz gewöhnlich, sie sind angenehm, wenn man sie bespricht; mach eine Pause, und die Furcht kehrt zurück.53

Ratio reagiert mit der Berufung auf das stoische Weisheitsideal. In Abgrenzung zur Scholastik formuliert sie die Definition einer Philosophie, welche auf Lebenspraxis zielt: Was du über die Philosophen sagst, da wundere ich mich, warum ihr euch bei den Seeleuten Rat zum Segeln, bei den Bauern zum Säen, bei den Feldherrn zum Kriegführen holt, die von den Philosophen genommenen Ratschläge für die Lebensführung missachtet und zur Fürsorge des Körpers zwar die Ärzte anruft, aber zur Fürsorge der Seele euch nicht an die Philosophen wendet, die, falls sie echte Philosophen sind, auf jeden Fall auch Ärzte der Seele und Sachverständige der Lebensführung sind; denn falls sie das nicht sind und sich nur etwas auf das Wort Philosophie einbilden, darf man sie nicht um Rat fragen, sondern muss sie meiden.54

Das stoische Rezept wird hier also durch die Ratio, für deren Rolle es in den Remedia maßgebend ist, als Ideal ausgewiesen. Aber ihre Emp53 Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 233: „M. Trita haec apud Philosophos ac vulgata sunt, delectantque dum resonant, interpone silentium, timor redit.“ 54 Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 233: „Nam quod de Philosophis dicis, miror quid ita, cum a nautis navigandi, ab agricolis serendi, a ducibus bellandi consilium capiatis, vivendi consilia a Philosophis sumpta, contemnitis et pro corporis cura Medicos evocatis, pro cura animi Philosophos non aditis, qui si Philosophi veri sunt, utique et animorum Medici et artifices sunt vivendi: Nam si falsi et solo philosophiae nomine tumidi, non modo non consulendi, sed vitandi sunt“.

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fehlungen, die Philosophie als Lebenshilfe zu nutzen, bleiben fruchtlos, da sie die Lebenswirklichkeit nicht erreichen. Metus hält wie immer den Ausführungen der Ratio stand und resümiert: Ich bin damit recht zufrieden, sehe, dass du in diesen Ermahnungen bewandert bist, und wenn ich auch fern vom Anfang bin, habe ich nichtsdestoweniger immer noch Furcht vor dem Tod.55

In dem Kapitel De metu mortis findet sich auch ein Beispiel dafür, dass Ratio selbst an der Realisierbarkeit des antiken Lebensideals zweifelt. Im einleitenden Wortwechsel des Kapitels56 stellt sie unter Berufung auf Horaz das (römisch-stoisch grundierte) Ideal der „vita peracta“ vor und schließt mit dem signifikanten Resümee: „Dieses ist nämlich jenes von den Philosophen gepriesene („a philosophis laudatum“), aber nur den wenigsten zu leben gegebene („perpaucis datum“) vollendete Leben.„57 In der Gegenüberstellung der Wendungen „von den Philosophen gepriesen“ und „den wenigsten gegeben“ wird die Diskrepanz von Philosophenideal und Lebensrealität durch die Äußerung der Ratio selbst markiert. Im allerletzten Kapitel seiner Remedia treibt Petrarca den Widerstreit von Vernunft und Affekt und gleichzeitig seinen intellektuellen Streit mit dem Stoizismus Senecas abschließend auf die Spitze. Das Kapitel De moriente qui metuit insepultus abiici bezieht sich auf seine Vorlage in De remediis fortuitorum, hier in dem Dialog, der mit dem Affektausruf „Insepultus iacebis“58 beginnt.59 Im Schlusssatz dieses letzten Kapitels von

55 Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 234: „Acquiesco recte quidem, in his monitis te versatum video, et si ab incepto procul, adhuc enim mortem nihilominus horreo.“ 56 Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 232 f. 57 Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 233: „Hoc est nempe illud a Philosophis laudatum, sed perpaucis datum vivere vita peracta.“ 58 Seneca: De remediis fortuitorum (Anm. 36), S. 122. 59 Die Raffinesse dieses Schlusskapitels besteht darin, dass Petrarca hier aus seinem Argumentationsfundus wirkliche Kuriositäten für die abschließenden Ausführungen der Ratio bereitstellt. So muss beispielsweise die folgende Ausführung der Ratio unfreiwillig komisch, wenn nicht gar sarkastisch anmuten: Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 252: „ME. Ich werde unbegraben weggeworfen werden. R. Gönnst du das den Vögeln, dem Wild und den Fischen nicht? Wenn du sie denn fürchtest, befiehl nur, dass man dir einen Stock oder einen Wächter gibt, um sie vom Leichnam zu vertreiben.“/„ME. Insepultus abiciar. R. Alitibus invides an feris an piscibus, nam si metuis tibi baculum seu custodem iuxta te poni iube, quo a cadavere depellantur.“ – Auch diese Partien

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De remediis utriusque fortunae führt Ratio schließlich selbst das von ihr verfochtene Lebensideal der geistigen Erhabenheit ad absurdum: „M. Insepultus abiciar. R. Age res tuas, curam hanc relinque viventibus.“60 Denn unabhängig davon, wie diese Anweisung der Ratio auf die Äußerung der Furcht „Ich werde unbegraben weggeworfen werden“ im übertragenen Sinne zu paraphrasieren ist, lautet der Satz wörtlich übersetzt: „Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, und überlass diese Sorge den Lebenden.“ Diese Quintessenz des Werks ist ein Paradoxon: Die Distinktion, die hier zwischen dem angesprochenen Du und den Lebenden gemacht wird, erscheint solange hinfällig, wie das Gegenüber auch zu den Lebenden zählt. Das Paradoxon gerade am Schluss des Werks pointiert die Skepsis gegenüber der Wirksamkeit stoischer Belehrung. Zudem weicht der Schluss wieder von seiner Textvorlage De remediis fortuitorum ab: Scharf sticht der Kontrast zwischen der Schlussweisheit61 hier und dem zweifelhaften Schlusssatz von Petrarcas Ratio ins Auge. Wirkungsvoll wird das argumentationsstrategische Prinzip des Widerspruchs abschließend dadurch zur Spitze getrieben, dass Ratio den Gegenbeweis zu dem von ihr vertretenen stoischen Ideal der Gemütsruhe (tranquillitas animi) selbst erbringt. Was in De remediis utriusque fortunae als prinzipieller Gegensatz von philosophischer Lehre und Lebenswirklichkeit erscheint, erhält in Petrarcas fiktivem Brief an Seneca in den Epistolae antiquis illustrioribus einen individuellen Ausdruck. Denn die seit Tacitus und Cassius Dio tradierte Kritik an Seneca,62 welche Petrarca in diesem Brief aufgreift, zielt bezeichnenderweise ebenfalls exakt auf das Missverhältnis von Theorie und Praxis, in diesem Fall auf die Diskrepanz von Senecas philosophischer Lebenslehre und seiner tatsächlichen Lebensführung, besonders seinem Scheitern in der Erziehung Neros.63

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finden sich wieder in den Additiones von Haases Textausgabe. Vgl. Seneca/ Haase: De remediis fortuitorum (Anm. 46), S. 449. Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 254. Vgl. Seneca/Haase: De remediis fortuitorum (Anm. 46), S. 449. Vgl. Anm. 43. Cassius Dio: Rçmische Geschichte, LXI, 10, 2 – 4. Hierzu Paul Faider: tudes sur Snque, Gand 1921, S. 74 – 82. Vgl. Francesco Petrarca: Epistolae familiares XXIV. Vertrauliche Briefe. Lateinisch – Deutsch, übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann. Mainz 1999. Schon der Beginn dieses Briefes lautet: „Du aber, ehrenwerter Mann und, wenn wir Plutarch glauben sollen, unvergleichlicher Sittenlehrer, untersuche noch einmal mit mir, wenn es Dir nichts ausmacht, den Fehler Deines Lebens.“/„Tu vero, venerande vir in morum, si Plutarcho

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Die beiden Vorreden Das Prinzip des Widerstreits, das es Petrarca ermöglicht, stoische Philosophie im selben Zug produktiv anzuwenden wie kritisch zu hinterfragen, hat er mit der heraklitischen Formel „Omnia secundum litem fieri“ nicht nur in einem bündigen Axiom konzentriert, sondern diesem in der Textanordnung des Traktats auch eine exponierte Stellung zugewiesen. Denn die Formel vom universalen Streit bildet recht genau in der Mitte des Traktats den Leitsatz der Vorrede zum zweiten Teil des Werks. Die Vorrede selbst ist ein essayistischer Einschub und markiert eine Zäsur in der Werkmitte. Petrarca entwirft in ihr ein Weltpanorama, in dem der Streit das kosmische Universalprinzip schlechthin ist. Die verschiedenen Bedeutungsschichten des Widerstreits in Petrarcas Werk selbst sind auf der Folie dieser Vorrede zu lesen. Mit der Berufung auf Heraklit stimmt Petrarca eindrucksvoll dem Gesetz des Antagonismus als des ewigen Bewegungsgrunds jeder Lebensregung bei. Allem voran versichert er emphatisch die zentrale Stellung dieses Grundsatzes für sein Weltverständnis: Von allem Gelesenen oder Gehörten, das meine Zustimmung fand, hat wohl kaum etwas so tief sich mir eingeprägt, so zäh in mir gehaftet, so häufig dem Gedächtnis Grund zur Wiederholung gegeben wie jenes Wort Heraklits: ,Alles geschieht gemäß dem Streit.‘ Ja, so ist es, und nahezu alles bezeugt, daß es so ist.64

Darauf folgt ein weit ausholender Weltentwurf, in dem Petrarca nicht müde wird, eine Fülle von Beispielen aneinander zu reihen, um den ewigen, existentiellen, allumfassenden Widerstreit anschaulich zu machen. Die zweite Vorrede fand in der Forschungsliteratur breite Beachtung und diente als Ausgangspunkt weiterer Deutungen.65 Um keinen verengten Blickwinkel einzunehmen, muss jedoch ihre Bedeutung im Verhältnis zur ersten Vorrede bestimmt werden, in der sich Petrarca credimus, incomparabilis preceptor, errorem vitae tue, si non molestum est, mecum recognosce.“ (S. 77/74.) Hervorhebungen: M.M. 64 Petrarca: Heilmittel (Anm. 20) S. 155/154 (Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 121.): „Ex omnibus, quae vel mihi lecta placuerint vel audita, nihil paene vel insedit altius vel tenacius inhaesit vel crebrius ad memoriam rediit quam illud Heracliti: ,Omnia secundum litem fieri.‘ Sic est enim et sic esse propemodum universa testantur.“ 65 Vgl. Stierle (Anm. 27), S. 224. Ebenso betont Worstbrock den Widerstreit als Grundfigur des Werks. Worstbrock (Anm. 29), S. 45 – 48.

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affirmativ zur stoischen Tradition verhält. Die Divergenz beider Vorreden bringt nicht nur die Gleichzeitigkeit von Affirmation und Skepsis gegenüber der Stoa zur Geltung, sondern stellt sich auch als weitere Variante des Polyperspektivismus von De remediis utriusque fortunae dar. Möchte man aus den Vorreden eine Stellungnahme des Autors ableiten, dann erscheint eine Entscheidung zwischen ihnen unzulässig. Sie müssen in ihrer Widersprüchlichkeit zusammen gelesen werden.

Lesarten Nach allem ist Petrarcas De remediis utriusque fortunae zugleich Folgewerk und Kontrafaktur von De remediis fortuitorum. Seine Kompositionsprinzipien und philosophischen Prämissen relativieren die dargestellte Lebensphilosophie. Daraus ergeben sich auch Konsequenzen für das Gesamtverständnis des Werks, weil es sich auch auf diese doppelte Weise lesen lässt: Als stoisches und Stoa-kritisches Werk. Zieht man in Betracht, dass Petrarca diese doppelte Verständnismöglichkeit beabsichtigte, dann stellt sich die Frage, ob er einerseits einen breiten, andererseits aber auch einen intellektuellen Leserkreis ansprechen wollte. Als Hinweis darauf lässt sich zumindest eine Partie aus seiner Vorrede zum Zweiten Buch werten, in der er erläutert, warum er den Gegenstand seines Traktats als „Fortuna“ bezeichnet: Da ich aber besonders an das für weniger geschulte Leser Erforderliche vorausdachte, habe ich die ihnen bekannte und allgemein geläufige Vokabel verwendet, wobei ich mir bewusst bleibe, wie hierüber ausführlich von anderen […] gehandelt wird […]. Die Gelehrten aber, die ja sehr selten sind, werden verstehen, was ich meine, und sich nicht durch eine volkstümliche Benennung stören lassen.66

Obwohl sich diese Partie auf die Erörterung der ,Fortuna‘ bezieht, unterscheidet Petrarca doch auch grundsätzlich zwischen den „Gelehrten“ („docti“) und den „weniger geschulten Lesern“ („qui doctrina minus fulti essent“).67 66 Petrarca: Heilmittel (Anm. 20), S. 185/184 (Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 125): „Sed cum his maxime, qui doctrina minus fulti essent, haec necessaria praeviderem, noto illis et communi vocabulo usus sum, non inscius, quid de hac re late alii […]. Docti autem, qui perrari sunt, quid intendam, scient nec vulgari cognomine turbabuntur.“ 67 Auch wenn Heitmanns Untersuchung Fortuna und Virtus zu einem Gesamtverständnis der Remedia gelangt, das sich von den vorliegenden Ergebnissen in

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Die Gelehrsamkeit fällt bei De remediis utriusque fortunae im Hinblick auf die Kenntnis des Prätexts De remediis fortuitorum ins Gewicht. Denn nur wenn dieser Text bekannt ist, kann der kontradiktorische Charakter der Remedia erfasst werden. Das aber heißt, dass nur die „Gelehrten, die sehr selten sind“ („docti, qui perrari sunt“), Einblick in Petrarcas kritische Auseinandersetzung mit der stoischen Tradition erlangen können. Für das ungelehrte Publikum macht der Traktat zugleich genau dieselben infragegestellten Lebensweisheiten verbindlich. Petrarca relativiert damit die Lebensphilosophie in De remediis auch im Hinblick auf das Publikum. Das Werk lässt sich als kritische und selbstkritische Antwort auf die stoische Tradition und zugleich als moralphilosophischer Ratgeber für ein breiteres Publikum verstehen. Die Konsequenz ist, dass alle aufgezeigten Werkeigenheiten, die den Gegensatz zwischen stoischem Lebensideal und Lebenswirklichkeit demonstrieren, eine doppelte Lesbarkeit besitzen. Für das Konzept der Gesprächsform lässt sich feststellen, dass zwar in keinem Dialog der Streit von Vernunft und Affekt geschlichtet werden kann, Ratio jedoch in jedem Dialog das letzte Wort behält. In popularphilosophischer Lektüre qualifizieren sich ihre Argumente dadurch zur Richtschnur in einem unübersichtlichen lebenslangen Weltbewältigungsprozess. Die im Verhältnis zum Prätext gegenläufige Anordnung der Themen ergibt sich auch dadurch, dass Petrarca mit seinen Remedia zugleich der Chronologie des menschlichen Lebens folgt. In der Darwesentlichen Punkten unterscheidet, so besteht mit Blick auf die doppelte Verständnismöglichkeit des Werks doch eine Übereinstimmung zwischen seiner Interpretation und vorliegender Analyse. Denn auch schon Heitmann sah, dass „der Philosoph […] eine doppelte Wahrheit“ lehrt: „Die eine für sich und seinesgleichen, die andere für die Masse der Ungebildeten.“ (Heitmann (Anm. 21), S. 252.) Dies ist der Berührungspunkt. Allerdings zieht Heitmann aus diesem Befund entschieden andere Konsequenzen als die vorliegende Untersuchung. Denn er lenkt nach dieser Feststellung sofort wieder ein: „Besser gesagt: er lehrt die eine Wahrheit auf doppelte Weise. Dem Verständigen enthüllt er sie so, wie sie ist; dem Durchschnittsmenschen nur insoweit, wie er sie zu fassen vermag.“ (ebd.) Dieser Beitrag versucht hingegen zu zeigen, dass Petrarca gerade nicht „die eine Wahrheit auf doppelte Weise“ lehrt, sondern dass er den Remedia gezielt mehrere „Wahrheiten“ zugrunde gelegt hat. Und dabei kommt der widerspruchsvollen Argumentation der Ratio nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Die eine wesentliche „Wahrheit“ ist vielmehr der Geltungsanspruch der Vernunft, die sowohl in stoischer als auch in christlicher Weltanschauung als höchster Maßstab gesetzt ist. Die andere zentrale „Wahrheit“ ist die Lebenswirklichkeit, die oftmals nicht rational aufgehoben werden kann.

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stellung der menschlichen Lebensgeschichte behandelt er alle Wechselfälle des Daseins von der Wiege bis zum Grab. Durch diesen klaren Aufbau erhalten die Remedia den Charakter der moralphilosophischen Hausapotheke, auf den Petrarca mit dem Werk ja nachdrücklich zielte.68 Die Widersprüche, die sich aus den Bezügen auf verschiedene Weltanschauungen ergeben, fallen in einer naiven Lektüre kaum ins Gewicht. Aus popularphilosophischer Perspektive schöpft Petrarca die Fülle der Lebensweisheiten einfach aus einem gewaltigen Fundus, der umso reicher ist, als er sowohl stoisches wie auch christliches Gedankengut enthält. Und die von Sensus und Ratio explizit geäußerten Zweifel an der Realisierbarkeit des stoischen Lebensideals und der Wirkungskraft des stoischen Denk- und Verhaltensmusters können zugleich als nachdrückliche Versicherungen dieser Zielbilder verstanden werden.

68 Vgl. Petrarca: Heilmittel (Anm. 20), S. 54/55. Petrarca: De remediis (Anm. 20), S. 4.

Kritische Reflexionen über die Stoa: Leon Battista Albertis Profugiorum ab aerumna libri III von Klaus Mönig „Und wer weiß denn nicht, daß in uns, wenn die Begehrlichkeiten gemäßigt und die Willensimpulse gezügelt sind, nichts bleibt, woraus irgendeine Bestürzung entstehen könnte?“ – „E chi non sa che in noi, moderati gli appetiti e frenate le volontà, nulla resta donde ne insurga alcuna perturbazione?“ (12) 1. Diese anscheinend unbezweifelbare Überzeugung legt Leon Battista Alberti (1404 – 1472) in seinen Profu1

Leon Battista Alberti: Profugiorum ab erumna libri. A cura di Giovanni Ponte. Genova 1988. Nach dieser annotierten Einzelausgabe zitiere ich mit einfacher Seitenzahlangabe im Text. Die seltenere Schreibweise „erumna“, die Ponte aus der für ihn maßgeblichen Textvorlage übernimmt, ersetze ich in meinem Aufsatz durch die gebräuchlichere Form „aerumna“, die auch in der Gesamtausgabe der italienischen Werke Albertis verwendet wird: L.B.A.: Opere Volgari, ed. Cecil Grayson. 3 Bände. Bari 1960 – 1973. In dieser kritischen Edition findet sich der Profugia-Dialog in: Volume secondo. Rime e trattati morali. Bari 1966, S. 105 – 183. – Alberti hat die Profugiorum ab aerumna libri selbst nicht veröffentlicht. Sie wurden erstmals über 400 Jahre nach ihrer Entstehung unter dem Titel Della tranquillit dell’animo gedruckt in: Opere Volgari di Leon Batt. Alberti. Per la più parte inedite e tratte dagli autografi. Annotate e illustrate dal Dott. Anicio Bonucci. Tomo Primo. Firenze 1843, S. 7 – 130. Während sich Bonucci im 19. Jahrhundert für den in einigen Manuskripten enthaltenen italienischen Titel entschied, bevorzugten Cecil Grayson (1966) und Giovanni Ponte (1988) die in anderen Handschriften verzeichnete lateinische Variante, die Albertis Gewohnheit entspricht, auch seinen italienisch geschriebenen Texten lateinische Titel zu geben. Der Dialog ist für das Verständnis Albertis und der Renaissance von zentraler Bedeutung. Anders als Albertis architekturund kunsttheoretische Abhandlungen und die berühmte Schrift Della famiglia fanden die Profugiorum ab aerumna libri bislang nur wenig Beachtung. Eine deutsche oder englische Übersetzung liegt noch nicht vor. Für diesen Aufsatz übersetze oder paraphrasiere ich die besonders wichtigen Passagen direkt im Zusammenhang mit den italienischen Zitaten, die oft vom heutigen Sprachgebrauch abweichen. In meinen Ausführungen greife ich auf Giovanni Pontes „Introduzione“ (zitiert mit Pontes Namen und römischer Seitenzahl) und auf seine Stellenkommentare zurück, die solche Abweichungen sowie zahlreiche Anspielungen und intertextuelle Bezüge markieren. Zur Datierung des Dialogs siehe Ponte S. V-XII.

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giorum ab aerumna libri III einem Protagonisten in den Mund, der aus dem Geist der Stoa argumentiert, und er läßt sie von einem skeptischen Empiriker angreifen, der die Maximen der Stoiker an konkreten Lebenserfahrungen mißt und sie bisweilen sogar mephistophelisch konterkariert. Auf diese Weise nimmt Alberti mit seinem temperamentvollen dialogischen Traktat über die profugia ab aerumna, die Vermeidung des Leidens2, an einer zeitgenössischen Debatte teil, in der bedeutende humanistische Intellektuelle wie Coluccio Salutati (1331 – 1406), Leonardo Bruni (1369 – 1444) und Lorenzo Valla (1407 – 1457) ihr weltzugewandtes Menschenbild entwickeln. Sie setzen sich dabei kritisch, bisweilen auch in polemischer Schärfe, mit stoizistischen Postulaten auseinander, welche die tranquillità dell’animo durch eine asketische und sinnenfeindliche Abwertung der Außenwelt sichern sollen.3 Alberti war also nicht nur als Architekt maßgeblicher Bauwerke wie etwa des klassisch ausgewogenen Palazzo Rucellai und der eleganten Fassade von Santa Maria Novella – beide in Florenz – eine zentrale Persönlichkeit in der Kultur der Renaissance.4 Er hat auch durch zahlreiche theoretische und literarische Schriften den diskursiven Horizont seiner Epoche mitbestimmt. Diese bestehen vor allem aus Ab2 3

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Das lateinische Femininum ,aerumna‘ ist ein Wort für besonders bedrückende Leiden und Bedrängnisse; es bezeichnet traditionell auch die Mühsal und die Qualen des Herkules. Exemplarisch für die Stoßrichtung und den Ton der antistoischen HumanistenPolemik ist ein Brief des Latinisten Cosimo Raimondi: Er kennzeichnet die Stoiker als „inhumanos filosofos […], quorum sopiti occlusique essent omnes sensus nec ulla allicerentur voluptate“ – „unmenschliche Philosophen, deren Sinne alle eingeschlafen und verschlossen sind und die kein Vergnügen verlocken kann“ (Cosimo Raimondi da Cremona: Defensio Epicuri contra Stoicos, Achademicos et Peripateticos. In: Eugenio Garin: La Cultura Filosofica del Rinascimento Italiano. Ricerche e Documenti. Firenze 21979, S. 87 – 92, dort S. 89. Außer diesen beiden Florentiner Frührenaissance-Gebäuden sind auch Albertis Tempio Malatestiano in Rimini sowie S. Sebastiano und S. Andrea in Mantua wegen der kreativen Integration antiker Bauformen architekturgeschichtlich bedeutsam: Albertis Baukunst basiert auf intensiven mathematisch-ästhetischen Reflexionen, für die er Ruinen der römischen Antike vermessen und in seiner Descriptio Urbis Romae beschrieben hat. In kritischer Auseinandersetzung mit Vitruvs Traktat De architectura libri decem hat er antike Bauvorstellungen zu einer humanistischen Architektur und Urbanistik weiterentwickelt und seine Ideen schließlich um 1452 in der Abhandlung De re aedificatoria decem libri zu einer kohärenten Architekturtheorie ausgearbeitet.

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handlungen über Baukunst, Malerei und Skulptur, über Familie und Freundschaft sowie über Themen der Lebensführung und des Staates. Zudem umfaßt sein Werk eine sozialkritische Komödie im Stil der römischen Antike (Philodoxeus), phantastisch oder aphoristisch zugespitzte Tischreden (Intercoenales) und einen allegorisch-satirischen Roman (Momus sive de principe), der eine zynische Kulturanalyse entfaltet. Stilistisch souverän in beiden Sprachen, schreibt Alberti sowohl in einem lebendigen Latein, das sich vor allem an Cicero und Seneca mißt5, als auch in einem geschmeidigen toskanischen Italienisch, für das er die erste Grammatik verfaßt. Unter Albertis italienischen Dialogen befinden sich zwei, die in besonderem Maße Positionen der Stoa reflektieren: der um 1440 entstandene Theogenius 6 und die in diesem Aufsatz interpretierten Profugiorum ab aerumna libri III, die er wenig später, vermutlich gegen Ende des Jahres 1442 konzipierte. Beide Werke stehen offensichtlich in Zusammenhang mit einer nicht genauer zu eruierenden persönlichen Krise ihres Autors gegen Ende seines Florentiner Jahrzehnts (1434 – 1443). In der Widmung des Theogenius an den Fürsten Lionello d’Este schreibt Alberti: io scrissi questi libretti non ad altri che a me per consolare me stessi in mie averse fortune. E parsemi da scrivere in modo ch’io fussi inteso da’ miei non litteratissimi cittadini (Op.volg. 2, 55). ich schrieb diese Büchlein niemandem als mir, um mich selbst in meinem Unglück zu trösten. Mir schien es jedoch richtig, es so zu schreiben, daß ich auch von meinen literarisch nicht allzu gebildeten Mitbürgern verstanden würde.7

So ist der Theogenius-Dialog eine stoisch grundierte und zugleich zynisch-pessimistisch eingefärbte „Consolatio“, die Alberti für sich selbst 5

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Cicero und Seneca sind unter den zahlreichen antiken Autoren, die Alberti immer wieder zitiert, von eminenter Bedeutung. Die Profugiorum ab aerumna libri enthalten besonders viele Anspielungen auf Ciceros Tusculanae disputationes sowie auf Senecas De tranquillitate animi und Ad Lucilium epistulae morales. Leon Battista Alberti: Theogenius. In: L.B.A.: Opere Volgari. Volume secondo. Rime e trattati morali. A cura di Cecil Grayson. Bari 1966, S. 53 – 104. Nach dieser dreibändigen Ausgabe der Opere Volgari wird im Text folgendermaßen zitiert: Op.volg. Bandnummer, Seitenzahl. Alberti verfaßte dieses Werk deshalb ,in volgare‘, in einem toskanischen Italienisch, für dessen wissenschaftliche und literarische Wertschätzung er sich in besonderen Maße einsetzte.

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schreibt und im Wissen um das Exemplarische seiner Erfahrung auch an die Öffentlichkeit richtet. Daß Alberti die Profugiorum ab aerumna libri ebenfalls aus einer tiefen existentiellen Verunsicherung heraus entworfen hat, geht aus einem Begleitbrief hervor, mit dem sein Bruder Carlo den verloren geglaubten Text fast drei Jahrzehnte nach der Entstehung an einen Freund schickt. Darin ist über Leon Battista Albertis Situation zur Zeit der Niederschrift des Dialogs zu lesen: Messere Battista scrisse questa opera con impeto d’animo allora giovenile, commosso da ingiurie di certi perfidi uomini suoi emuli, occulti inimici (Op.volg. 2, 421). Battista schrieb dieses Werk mit dem Schwung seines damals jugendlichen Geistes, bewegt von Schmähungen heimtückischer Menschen, die seine Rivalen und heimlichen Feinde waren.

Von den beiden Dialogen, in denen Alberti stoisches Gedankengut einer Disputatio unterzieht, sind die Profugia das komplexere und differenziertere Werk. Es ist literarisch kunstvoll und polyphon, eine persönliche und zugleich politische Schrift, die indirekt die Verfestigung der Medici-Herrschaft unter Cosimo il Vecchio (1389 – 1464) kritisch reflektiert. Alberti inszeniert darin eine lebhafte Kontroverse zwischen zwei Gesprächspartnern, deren stoische und anti-stoische Standpunkte er markant exponiert. Ihre Namen, ihre Charaktere und Positionen verweisen unverkennbar auf reale und bekannte Zeitgenossen Albertis, die noch lebten, als er die fiktionalen Dialoge der Profugiorum ab aerumna libri schrieb. Es handelt sich um den hochbetagten ,Stoiker‘ Agnolo di Filippo Pandolfini (1360 – 1446) 8 und den auch schon fast 60jährigen ,Stoa-Kritiker‘ Niccola di Vieri de’ Medici (1385 – 1455). Alberti imaginiert sich selbst als den wiederholt angesprochenen Battista, der als jüngerer Zuhörer allerdings nur wenig sagt. Offensichtlich sind die drei Personen schon lange miteinander vertraut. Agnolo und Niccola dis8

Pandolfini ist realiter etwa 82 Jahre alt, in Albertis Dialog redet er jedoch von seinen circa 90 Lebensjahren (9). Alberti läßt ihn mithin im topischen Alter der traditionellen Weisen auftreten und idealisiert ihn entsprechend. Die große Anerkennung des historischen Pandolfini geht schon daraus hervor, daß der Florentiner Buchhändler Vespasiano da Bisticci ihm in seinem bald nach 1485 entstandenen Werk über die bedeutendsten Persönlichkeiten seiner Epoche – Vite di uomini illustri del secolo XV – eine umfangreiche Lebensbeschreibung widmet. (Gekürzte deutsche Übersetzung in: V.d.B: Große Mnner und Frauen der Renaissance. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Bernd Roeck. München 1995, S. 362 – 366).

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kutieren auf der Basis umfangreicher Bildung eloquent, kultiviert und flexibel über ihre unterschiedlichen Standpunkte und differenzieren sie in ihrem Gespräch, ohne ihre Grundpositionen zu nivellieren oder die Individualität und den Anspruch des Andersdenkenden anzugreifen. Keiner ist allein der Repräsentant der Gedanken Albertis. Beide stehen hoch in seiner Wertschätzung und Sympathie: der ältere wegen seiner „gravità e maturità“ (79), seinem Ernst und seiner Reife, und weil er ein höchst redlicher und kluger Mann ist – „integrissimo e prudentissimo“ (79); der andere wegen seiner „suttilità d’ingegno e prestezza d’intelletto“ (79): seines Scharfsinns und der Wendigkeit seines Intellekts. Diese unterschiedlichen Temperamente zeigen sich dann auch in ihrem Gesprächsverhalten. Beide fungieren als gleichrangige Protagonisten eines nach außen projizierten ,inneren Theaters‘. Als Theater nämlich, auf dem Gedanken als Akteure mit- und gegeneinander auftreten und bald der eine, bald der andere mehr überzeugt, begreift Alberti das Bewußtsein und läßt Agnolo sogar bemerken: „Dicono che all’uomo savio la coscienzia sua è un grande celeberrimo teatro“ (61) – „Man sagt, daß für den Weisen das eigene Bewußtsein eine große und vielbevölkerte Bühne sei“.9 Erst in der Spannung zwischen Agnolos stoischer und Niccolas stoa-kritischer Argumentation artikuliert sich der gerade in seinen Antagonismen produktive Standpunkt des Autors Alberti, der die verschiedenen Positionen wie Figuren einer philosophisch-psychologischen Experimentierbühne miteinander konfrontiert, sein alter ego im Text jedoch keine Stellung beziehen läßt. Die Profugiorum ab aerumna libri bestehen aus drei Dialogsequenzen, denen die Einteilung in drei Bücher entspricht. In kurzen Vorreden formuliert Alberti deren leitende Themen: 1. Wie wir alle Gemütserschütterungen von uns fernhalten: „Qual convenga in noi essere premeditazione e instituzione d’animo per escludere e proibire da noi ogni perturbazione“ (47). 2. Wie man ein bereits von Beklemmung und Traurigkeit oder anderen Bedrängnissen befallenes Gemüt befreit und die innere Ausgeglichenheit und Ruhe auf vernünftige Weise wiederherstellt: „in 9

Hinter dem „Dicono“ (Man sagt), einer Gesprächsformel, mit der Albertis Figuren bisweilen frei erinnerte Zitate antiker Autoritäten einleiten, ohne diese zu nennen, verbirgt sich hier vermutlich Cicero, der im zweiten Buch der Gesprche in Tusculum schreibt: „nullum theatrum virtuti conscientia maius est“ (Tusc. 2.26) – „Keine Bühne ist größer für die Tugend als das eigene Bewußtsein“ (Vgl. Ponte S. 61, Komm.).

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che modo, se forse già fussi occupato da qualche merore e tristizia, o da qualche altro impeto e agitazione d’animo possi con ragione e modo espurgarla e restituirti ad equabilità e tranquillità d’animo e di mente (47). 3. Wie wir uns von tiefer Melancholie befreien können, wenn sich diese in uns festgesetzt hat: „certi ammonimenti generali accommodati ad espurgare qualunque fusse in noi insita e obdurata una grave maninconia“ (79). Die drei Dialogsequenzen enthalten genaue Angaben über ihren Ort und ihre Zeit. Verschiedene Hinweise im Text legen nahe, daß Alberti den fiktiven Gedankenaustausch der Freunde im Herbst 1442, also zeitgleich mit der Abfassung der Profugia stattfinden läßt10 – etwa neun Jahre nach der Rückkehr des Cosimo il Vecchio aus dem Exil. Als einen immer wieder bedeutungsvoll ins Gespräch einbezogenen Ort imaginiert er den Florentiner Dom Santa Maria del Fiore: In ihm beginnen die Reflexionen über die tranquillità dell’animo; am folgenden Tag setzen die Protagonisten ihre Debatte auf einem realistisch markierten Weg vom Dom durch die Stadt und zurück zum Dom fort und führen sie in einer dritten Diskussionssequenz auf dem Domplatz zu Ende. Zu Beginn des zweiten Buches wird der Leser Zeuge, wie man den einst mit hohen politischen Ämtern betrauten Agnolo Pandolfini, der nach dem vortäglichen Zusammentreffen noch an einer langen Ratsversammlung teilgenommen hat, nachdrücklich zu deren Fortsetzung einlädt. Pandolfini lehnt allerdings ab, weil er erfahren mußte, daß die res publica von partikularen Machtinteressen korrumpiert ist. Die Begründung seiner Ablehnung ist unumwunden politisch: In den Regierungsgremien sagt man nicht mehr, was nützlich, rechtschaffen und notwendig ist –„utile, onesto e necessario“ (48) –, sondern was vermutlich erwartet wird – „quel che stimeremo grato a chi ne richiese“ (48). Deswegen resigniert Pandolfini und greift lieber das Gespräch mit den Freunden wieder auf, das allerdings durch diese kleine Szene eine politische Brisanz bekommt. Aber nicht nur der demonstrative Rückzug des hochgeachteten Pandolfini aus seinen öffentlichen Funktionen mußte zu denken geben.11 Auch Niccola di Vieri de’ Medici, der 10 Vgl. Ponte S. XII. 11 Alberti führt Pandolfini als „uomo grave, maturo, integro“ (3) ein, als ernsten, reifen und integren Menschen, der wegen seines Alters und seiner Überlegenheit – per età e per prudenzia (3) – bei seinen Mitbürgern in höchstem Ansehen steht. Zu Beginn des zweiten Buches wird dieses Bild des Weisen

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ebenso gelehrte, integre und politisch moderate Dialogpartner, vertritt ein Republik-Verständnis, das den raffinierten Manövern seines etwa gleichaltrigen Verwandten, des Machtstrategen Cosimo de’ Medici, entgegensteht.12 Indem Alberti auf reale Orte, bekannte Zeitgenossen und aktuelle politische Vorgänge in Florenz anspielt, stellt er die fiktionale Entfaltung seiner Reflexionen über die tranquillitas animi, die Melancholie und die vita politica in einen zeitgeschichtlich-moralischen Zusammenhang. Eine allegorische Beschreibung von Santa Maria del Fiore, mit der Agnolo Pandolfini das Gespräch einleitet, bereitet die Reflexion über die tranquillità dell’animo durch die Schilderung einer tranquillità dell’ambiente vor. Mi diletta ch’io veggo in questo edificio iunta insieme una gracilità vezzosa con una sodezza robusta e piena, tale che da una parte ogni suo membro pare posto ad amenità, e dall’altra parte compreendo che ogni cosa qui è fatta e offirmata a perpetuità. […] qui abita continuo la temperie, si può dire, della primavera: fuori vento, gelo, brina; qui entro socchiuso da’venti, qui tiepido aere e quieto: fuori vampe estive e autunnali; qui entro temperatissimo refrigerio. E s’egli è, come e’ dicono, che le delizie sono quando a’ nostri sensi s’aggiungono le cose quanto e quali le richiede la natura, chi dubiterà appellare questo tempio nido delle delizie?“ (4). Mich erfreut es, in diesem Gebäude eine reizende Leichtigkeit mit einer robusten und vollkommenen Festigkeit vereint zu sehen, indem einerseits jedes Bauglied zu schwereloser Anmut beiträgt und man andererseits begreift, daß hier alles auf Dauer angelegt und gefestigt ist. […] hier hält sich sozusagen die Witterung des Frühlings beständig: Herrschen draußen Wind, Eiseskälte und Raureif, ist man hier drinnen geschützt vor Winden, hier ist die Luft lau und still; wenn es im Sommer und Herbst draußen glüht, ist es hier drinnen höchst angenehm kühl. Und stimmt es, wie man sagt, daß Wohlgefallen aufkommt, wenn alles unsere Sinne in dem Maße

noch um eine entscheidende Dimension ergänzt: Pandolfini ist nicht nur besonnen, gebildet und beredt, er ist zugleich von großer Menschlichkeit – „umanissimo“ – und sehr liebenswürdig – „con molta affabilità“ (47). Pandolfinis (wohl auch Albertis) stoisch-frühhumanistisches Ethos als uomo politico ist noch weit entfernt von der kompromißlosen Staatsräson Machiavellis, der am Ende der Florentiner Renaissance auch die virtù den Zielen einer politischen Pragmatik unterordnet. 12 Mancini weist darauf hin, daß sich mit Niccola di Vieri de’ Medici besondere republikanische Erinnerungen verbinden, weil Niccolas Vater einer Versuchung, sich zum Oberhaupt eines autoritären Stadtregimes installieren zu lassen, widerstanden hatte. Girolamo Mancini: Vita di Leon Battista Alberti. Seconda edizione completamente rinnovata con figure illustrative. Roma 1967, S. 181.

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und in der Weise berührt, wie es die Natur erfordert, wer wird dann noch zögern, diesen Tempel einen Hort des Entzückens zu nennen?

Das Bauwerk, das seinen Innenraum vor den Wirkungen der wechselnden Witterungsextreme schützt und ihn in ausgeglichener Temperatur konstant hält, ist hier ein Analogon zur stoischen Ataraxia. Die ausführlich hervorgehobene harmonische Ausgewogenheit der Architektur, die Beständigkeit in der Atmosphäre ihrer Räume und ihre Angemessenheit an die Natur der menschlichen Wahrnehmung werden darüber hinaus aber auch als reale Basis einer ruhigen Heiterkeit vermittelt. Mit der allegorisch-symbolischen, zugleich aber auch wirkungsästhetischen Architekturbeschreibung, die der frühhumanistischen Vorliebe für eine bildhafte Vermittlung von Gedanken entspricht und in nuce zugleich eine Theorie der Baukunst enthält, exponiert Alberti einen Begriff der tranquillità dell’animo, der stoisch geprägt ist, aber die einseitige Konzentration auf die Innenwelt meidet: Die Gemütsruhe basiert nicht mehr allein auf der autonomen apatheia des strengen Stoizismus, sie ist vielmehr ein stets prekäres Gleichgewicht im Andrang dynamischer Gegensätze, für das man ein förderliches Ambiente schaffen kann. Als solches betrachtet Agnolo das architektonische Kunstwerk: In ihm liegt eine Kraft, die das Gemüt in Balance zu halten und iocundità und letizia (4) zu bewirken vermag. Agnolo imaginiert den Dom zudem als einen Raum, der von Gesang erfüllt ist13, und er konstatiert, daß die „grazia e maiestà“ (4), die ,Anmut und Würde‘ der Architektur sowie der Musik (später hebt er auch die Literatur hervor) in ihm jede andere Erregung des Gemüts beruhigen – „ogni altra perturbazione d’animo“ (5). Der Tradition der Stoa folgend zählt er zu diesen perturbazioni vor allem die Leidenschaften, Begierden, Schmerzen und auch Hoffnungen – „le passioni, le cupidità, e dolori, le speranze“ (9).14 Baukunst und Musik bringen ihn zu einer heiteren Gelassenheit, die er nicht recht zu benennen weiß: „a certa non so quale 13 Seine aktive Leidenschaft für Gesang und Orgelspiel hebt Alberti stolz in seiner anonymen Autobiographie hervor; darin verweist er auch auf seine theoretischen Kenntnisse in der Musik, die als Kunst der concordia discors eine Schlüsselvorstellung in der allgemeinen Ästhetik der Renaissance repräsentierte. L.B.A.: Vita. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und eingeleitet von Christine Tauber. Frankfurt a.M. und Basel 2004, S. 38. 14 An anderer Stelle betont er, daß auch Wonne und Hoffen für das Gemüt nicht weniger Verwirrung und seelisches Übel bedeuten als Angst und Schmerz – „che ’l gaudio e lo sperare sono per sé all’animo perturbazione e morbo non meno che si sia la paura e insieme el dolore“ (56).

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io la chiami lentezza d’animo“ (5). Seine ästhetischen Umschreibungen der Ursachen stützen sich auf polare Wortkonstellationen und auf die Idee des Ausgleichs von Gegensätzen: gracilità und sodezza, amenità und perpetuità, commuovere und lentezza, ascendere und descendere, tenerezza und flessitudine, forza und suavità. Ein solcher Ausgleich gehört zu einer ästhetisch-philosophischen Grundvorstellung der Renaissance, die sich vor allem im Begriff der concinnitas, der kunstgerecht-ebenmäßigen Komposition und Zierde, artikuliert.15 Indem Alberti den Künsten eine existentielle Bedeutung beimißt, verläßt er die tendenziell eher kunstfeindliche Tradition der Stoa und beschreitet den Weg zu einer humanistischen Ästhetik. Wie in den Profugia hat Alberti auch zu Beginn des Theogenius für die stoischen Themen eine entsprechende Raum- und Klangharmonie evoziert, diesmal einen konkreten und zugleich symbolischen Naturzusammenhang von ausgleichender und beruhigender Wirkung: Qui colonne fabricate dalla natura tante quante tu vedi albori ertissimi. Qui sopra dal sole noi copre ombra lietissima di questi faggi e abeti, e atorno, dovunque te volgi, vedi mille perfettissimi colori di vari fiori intessuti fra el verde splendere in fra l’ombra, e vincere tanto lustro e chiarore del cielo! (Op.volg. 2, 57) Hier sind so viele von der Natur geschaffene Säulen wie du hoch aufragende Bäume siehst.16 Hier oben schützt uns vor der Sonne der erfreu15 Während Seneca concinnitas nur als unmännliches Ornament definiert – „Non est ornamentum virile concinnitas“ (Seneca, Epist. 115,2) –, übernimmt Alberti mit diesem Wort ein positives rhetorisches Konzept aus Ciceros De oratore und erweitert es mit Bezug auf Homer und Vergil zur allgemeinen poetologischen Kategorie der „concinnità ed eleganza d’un verso“ (Della Famiglia, um 1434); er gibt ihm zudem eine moralische Dimension, indem er von einer „morum et virtutis concinnitas“ (Pontifex, um 1437) spricht, von einer Harmonie des Charakters und der virtus. Im neunten Buch der De re aedificatoria libri (um 1452) entwickelt er seine concinnitas-Konzeption schließlich zu einer ästhetischen Kategorie, die eine entscheidende Bedingung von Schönheit in allen Künsten benennt und deren sinnlich-sittliche Wirkung impliziert. Vgl. Joachim Poeschke: Zum Begriff der „concinnitas“ bei Leon Battista Alberti. In: Intuition und Darstellung. Erich Hubala zum 24. März 1985, hg. von Frank Büttner und Christian Lenz, München 1985, S. 45 – 50. 16 Hier zeigt sich der besondere Blick des sich auch an der Natur schulenden Architekten Alberti. Denkbar wäre, daß in der Säulenmetapher eine Anspielung auf die Säulenhalle liegt, von der die stoische Philosophie ihren Namen hat. Es ist jedenfalls auffällig, daß der Dialog nach dieser Exposition eines von Baumsäulen geprägten Naturraums unmittelbar und konzentriert stoische Themen aufwirft: virtù und voluttà, ingiuria della fortuna und die Frage, ob

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lichste Schatten dieser Buchen und Tannen, und ringsum, wohin du dich auch wendest, siehst du tausend vollkommene Farben verschiedener Blumen, eingewoben in die grüne Pracht des Schattens, und sie siegen über so viel Glanz und Gleißen des Himmels.

Dieser emphatisch-poetische locus amoenus harmonisiert die Gegensätze in intensiven Licht- und Farbeindrücken, die sich mit weiteren wohltuend-moderaten Sinneswahrnehmungen vereinigen: Ein angenehmer Lufthauch bringt milde Düfte, zierliche Vögel mit buntem und schmuckem Gefieder kommen mit neuen Liedern, „con nuovi canti“ (Op.volg. 2, 58) – und man bemerkt die sinnlich-sittliche Wirkung: „qui iniquo niuno perturba la nostra quiete e tranquillità“ (Op.volg. 2, 58) – „Kein Niederträchtiger stört hier unsere Ruhe und unsern Seelenfrieden“. Empfindsam gewählte Naturzusammenhänge und gute Architektur, beide überhöht durch voci, durch lebendigen Gesang und das Gespräch unter Freunden, sind stoisch geprägte und humanistisch modifizierte Allegorien der tranquillità dell’animo. Für die zentralen Themenkomplexe der Profugia, die im ausgeglichenen, Geist und Gemüt beruhigenden Ambiente des Florentiner Doms erörtert werden, gibt der skeptische Niccola dem immer wieder stoisch allegorisierenden und sich in Gelehrsamkeit ergehenden Weisen die provozierenden Anstöße. So wendet er das Gespräch elegant von der entzückten Beschreibung der architektonischen Wirkung ab, und auch von Agnolos Musikbegeisterung läßt er sich nicht länger einnehmen. Er bezweifelt, daß diese kulturellen Phänomene die Gemüter wirklich nachhaltig erheben können – „possino levare gli animi“ (7). In die schöngeistige Unterhaltung bringt Niccola pragmatisch die dissonante politische Wirklichkeit ein; er will wissen, wie man mit ihr umzugehen hat, und verweist auf li veri indicii quali dimostrano l’apparecchiate ruine alle republiche, fra’ quali sono la immodestia, l’arroganzia, l’audacia de’ cittadini, la impunità del peccare, la licenza di superchiare e minori, le conspirazioni e conventicule di chi vuole potere più che non si li conviene, le volontà ostinate contro i buoni consigli e simili cose (7 f.).

eine gewogene oder eine widerwärtige fortuna publica die größere Gefahr birgt, einen Staat aus dem Gleichgewicht zu bringen: „qual più avesse forza a perturbare una republica, o la seconda fortuna, o pur l’avversa“ (Op.volg. 2, 59).

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die konkreten Indizien, die den Staaten den drohenden Ruin ankündigen17: Unbescheidenheit, Arroganz und Unverschämtheit der Bürger; straflos bleibende Vergehen; die tolerierte Unterdrückung der Schwächeren; die Verschwörungen und Geheimbünde derer, die mehr Macht wollen, als ihnen zusteht; die hartnäckige Abwehr guter Ratschläge und ähnliches mehr.

Die üblichen Antworten der Stoiker, die auf ihre Vernunft-Philosophie verweisen, läßt Niccola gar nicht erst zu: Sie könne uns – so wendet er ein – weder von den bedrängenden Sorgen abbringen noch unsere Gedanken von der Bitterkeit befreien, in der sich unser Gemüt krümmt – „né distorre da’ nostri pensieri l’acerbità in quale l’animo nostro […] si rimpiega“ (8). Der skeptische Niccola glaubt, daß bei den ständigen Verletzungen durch die vielfältigen Widerwärtigkeiten der Fortuna nichts anderes Heilung zu bringen vermag als das Vertrauen auf die Zeit: in altro modo non veggo si possa escludere la acerbità e durezza dell’animo, conceputa dalle iniurie della fortuna e da’ casi avversi quali da infinite parti ci percuotono e assiduo ci si presentano, e occupano e nostri sensi e mente, in modo che nulla ci è lecito refutarli o esturbarli –. (8) Ich sehe nicht, daß man auf andere Weise die Bitterkeit und Verhärtung des Gemüts von sich fernhalten kann, die von den Verletzungen durch die Fortuna und von widrigen Umständen herrühren, welche uns von allen Seiten treffen und sich ständig vergegenwärtigen, indem sie unsere Sinne und unseren Geist in einer Weise beschäftigen, die es uns nicht erlaubt, sie abzuweisen oder zu vertreiben –.

Auf Niccolas kritische und fast schon fatalistische Vorbehalte gegenüber den geläufigen stoischen Lebenskonzepten geht Agnolo psychologisch sensibel, rhetorisch gewandt und mit persönlicher Offenheit ein. Alberti legt ihm eine bei aller Rhetorik doch ehrliche und authentische Rede in den Mund. Freimütig bringt Agnolo seine eigenen Anfechtungen und Ratlosigkeiten zum Ausdruck, die den Wortgewandten nicht selten ganz unbeholfen machen: „Vidi molte, vidi in vita e soffersi molte, Niccola, molte molestie in vita“ (9). Ihm ist bewußt, daß er immer wieder von Schmerz und Traurigkeit angefallen wird, ohne zu wissen, woher und wie: „vederommi assalito da certo dolore e da tristezza, né io stesso saperò donde e come“ (9). Hier spricht kein stoischer Ideologe, der gesinnungstüchtig alle Blessuren erklärt und durch eingeübte apa17 Gemeint sind die republikanischen Stadtstaaten Oberitaliens, die sich wie Florenz wegen innerer Machtkämpfe und hegemonialer Bedrohungen von außen, insbesondere von Mailand, in einer historischen Krise befanden.

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theia von sich fernhält, sondern ein unvoreingenommen sich selbst reflektierender Melancholiker. So argumentiert Agnolo im Anschluß an die melancholische Selbstoffenbarung auch nicht stoizistisch-dogmatisch, sondern erfahrungsbezogen und geht dabei über die traditionellen Konzepte der Stoa hinaus.18 Er führt eine Reihe historischer Gestalten an, denen es gelungen sei, sich in schwierigen und bitteren Lebenssituationen durch „constanzia e vera virilità d’animo“ (10) zu behaupten. Allen voran nennt er Sokrates und schildert dessen bedauernswerte Lage: daß er von seiner arroganten und lästigen Frau ständig übel behandelt wurde, daß seine unverschämten Kinder ihn im eigenen Haus beleidigten, und daß ihn in der Öffentlichkeit unablässig freche Lumpen und die Komödiendichter heimsuchten, die ihn auf vielfältige Weise verletzten.19 Dieses nicht dem hohen Mythos zugeordnete, sondern aus der Geschichte gegriffene Beispiel eines Lebens voller Widrigkeiten, das der Protagonist mit unerschütterlichem Gemüt und erhobenen Hauptes durchsteht – „coll’animo equabile e col volto mai mutato“ (10) –, dient Agnolo als Indiz für das Vermögen des Menschen, aus eigener Kraft der „Fortuna“ gegenüber standzuhalten. So betont er, Sokrates habe das „nicht etwa mit des Himmels Hilfe vermocht, sondern aus sich selbst 18 Diese Argumentationsweise, die nicht systematisch auf philosophische Traditionen zurückgreift und stattdessen auf die überlieferte Geschichte mit ihrem konkreten und exemplarischen Erfahrungsgehalt rekurriert, verbindet Alberti mit Coluccio Salutati, der diese Art des Interesses an der Geschichte für die Frührenaissance begründet hat, mit Leonard Bruni, dem ersten Historiker in diesem modernen humanistischen Geschichtsverständnis, und auch mit Lorenzo Valla, der als Philologe ,historisch‘ arbeitete und die überlieferten Lehren vor ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund als jeweils spezifisch bedingt bewertete. (Vallas gründliche historisch-philologische Untersuchungen haben die sogenannte Konstantinische Schenkung, mit der das Papsttum seine weltliche Macht begründete, als Fälschung erwiesen). Über das gemeinsame profane und nicht mehr heilsgeschichtlich orientierte Interesse an der Geschichte hinaus stimmten die genannten Autoren auch darin überein, daß sie große Reserven gegenüber Systemen und Dogmen hegten und Inkohärenzen und Widersprüche nicht verdeckten, sondern zur Diskussion stellten. Ihre literarische Form war dementsprechend nicht so sehr die strenge Abhandlung als vielmehr der offene Dialog und der auf Antwort und gegebenenfalls auf Einspruch angelegte Brief, Formen jedenfalls, in denen sie – wie im vorliegenden Dialog – Fixierungen meiden und Gegensätze unaufgelöst stehen lassen konnten. 19 Zu diesen Komödiendichtern gehört Aristophanes, der in Die Wolken einen wortverdrehenden Sokrates auf die Bühne bringt, welcher auf lächerliche Weise in einem Korb unter der Zimmerdecke hängt und unverdrossen seine Lehren fortsetzt.

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heraus; weil er es wollte und wollend auch konnte“ – „non da’ cieli, ma da sé stessi; ché volle, e volendo potette“ (11). Der Mensch ist in der Lage – das ist am Ende die stoisch-humanistische Botschaft, die sich aus den von Agnolo genannten historischen Beispielen ergibt – seine innere Integrität vor der Überwältigung durch die Fortuna – „contro gl’impeti della fortuna“ (11) – zu schützen, und zwar ganz ohne göttlichen Beistand. Obwohl Agnolo die Skepsis Niccolas sehr ernst nimmt, besteht er unbeirrt darauf, daß man die Autonomie des Subjekts auf der Basis der stoischen virtù durch „ragione e constanzia“ (9) bewahren könne. Für den Erhalt einer integren Gesellschaft und eines humanen Staates wird Agnolo an anderer Stelle vor allem über amicizia und iustizia reden. Die iustizia nämlich hat in seiner ethischen Wertordnung eine hervorgehobene Position: Er nennt sie „lume e splendore di tutte le virtù“ (101) – Licht und Glanz aller Tugenden. Die sogenannten theologischen Tugenden fides, spes und caritas, die im christlichen System die antiken virtutes überhöhen und in den zeitgenössischen Schriften und Bildwerken überall präsent waren, spielen in Albertis Dialog dagegen keine Rolle.20 Trotz vereinzelter, aber eher rhetorischer Erwähnungen Gottes und der Religion bleibt beispielsweise die in diesem Zusammenhang übliche Begründung der constantia durch eine christliche Heilsgewißheit ebenso ausgeblendet wie eine theologische Sinngebung der aerumna21. Es gibt auch keinen Hinweis auf die Erwartung einer ausgleichenden göttlichen Gerechtigkeit oder auf das Bewußtsein einer transzendenten Verantwortung.22 Stattdessen betont

20 Ein besonders elaboriertes Beispiel dieses christlich überformten antiken Tugendsystems zeigen Ambrogio Lorenzettis allegorische Darstellungen (1337 – 1340) der guten und der schlechten Regierung im Palazzo Pubblico in Siena. 21 Schon die Wahl dieses antikisierenden Titelbegriffs hält Abstand von den christlichen Leid-Diskursen. 22 Zu Albertis Distanz zur christlichen Perspektive im Kontext der Profugia siehe Ponte S. XX und XXVI. Über seine reservierte und Autonomie betonende Haltung gegenüber der Religion allgemein: Eugenio Garin: Il pensiero di L. B. Alberti nella cultura del Rinascimento. In: Convegno Internazionale indetto nel V centenario di Leon Battista Alberti. Roma-Mantova-Firenze 1972. Accademia Nazionale dei Lincei. Quaderno 209. Roma 1974, S. 21 – 41, dort S. 27. Dagegen behauptet Christine Smith, Albertis Reflexion über die stoische Gemütsruhe stehe – im Gegensatz zu Senecas De tranquillitate animi – „within the context of Christian salvation“. Christine Smith: Architecture in the culture of early humanism. Ethics, aesthetics and eloquence 1400 – 1470. Oxford 1992, S. 4. Die

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der Stoiker Agnolo die moralische Autonomie: „Né cerca l’uom savio altri arbitri di sua vita e fatti che sé stessi“ (61) – „Der Weise sucht keinen anderen Richter über sein Leben und seine Taten als sich selbst“. Das profane Gewissen wird allerdings – ganz im Sinne Senecas – vom Gedanken an die Öffentlichkeit als Korrektiv begleitet: „Un precetto approvano gli antichi per vivere in pura tranquillità e quiete d’animo: che mai pure pensi far cosa quale tu non facessi presente gli amici e nimici tuoi“ (35) – „Für ein Leben in reiner Gemütsruhe haben die Alten eine Maxime für richtig erachtet: daß man nämlich nicht einmal den Gedanken hege, etwas zu tun, was man nicht auch vor den Augen der Freunde und Feinde tun würde“.23 Die bereits erwähnte Metapher der inneren Bewußtseinsbühne als moralischer Instanz ergänzt Agnolo mit dem Gedanken an ein reales Theater: Alles, was man denkt und tut, muß vor dessen großem Publikum bestehen können – „in mezzo della moltitudine, in teatro“ (35). Ein wichtiges Mittel der Selbstbehauptung des autonomen Ich in den Wechselfällen der Fortuna ist das Lachen. Schon in Della Famiglia rühmt Alberti „quelli comici filosofi, […] pieni di giuoco e riso, e non vacui di prudenzia e sapienzia, con molta grazia e dignità“ (Bonucci, Op. volg. 2, 378) 24 – „jene Philosophen, die Sinn für das Komische haben, die voller Scherz und Lachen sind, ohne daß es ihnen an Umsicht und Weisheit fehlt, und die zudem ein hohes Maß an Anmut und Würde zeigen“. Die Profugia verweisen auf das Beispiel des Sokrates: „offeso da que’ suoi poeti, ridea“ (62) – zu den Beleidigungen durch gewisse Dichter lachte er. Im Momus sive de principe mit seinen kulturund religionspessimistischen, bisweilen auch blasphemischen Satiren betont Alberti darüber hinaus das Lachen als eine ,rhetorische‘ und radikale Form der Kritik. Im Prolog formuliert er seine hohe Achtung vor demjenigen, der über die ernstesten Fragen der Welt reden kann und dabei „zum Lachen bringt, mit Scherzen fesselt“ – „idemque una Profugiorum ab aerumna libri schließen diese Interpretation nicht explizit aus, vermeiden jedoch, sie auch nur nahezulegen. 23 Vgl. Seneca: Epist. 11.8 – 10; 25.5 – 7. In seinen Reflexionen über Individuum und Gesellschaft sowie über die daraus abzuleitenden Verhaltensmaßstäbe beruft sich Agnolo immer wieder auf Seneca und zitiert „goldene Sätze“ (35) aus seinen Schriften. Er folgt dem Stoiker in der Meinung, die Vernunft und die Gesellschaft, „la ragione e la società“ (25), seien die wertvollsten Güter des Menschen. 24 In Graysons Edition steht „quelli conviti filosofi“ (Op. volg. 1, 265) statt „quelli comici filosofi“; hier scheint mir Bonuccis Varante plausibler.

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risu illectet, iocis delectet“25. Alberti selbst spielt in einigen seiner literarischen Werke virtuos mit den verschiedensten Arten des Lachens, von heiterer, aber auch zynischer Komik bis zur Erfindung bizarrer Torheiten, die zum Lachen verführen und es sogleich ersticken.26 Mit seinem Plädoyer für das Lachen als Kritik und Selbstbehauptung ist Alberti Nachfahre des antiken Spötters Lukian und Vorläufer des Erasmus von Rotterdam mit seinem Lob der Torheit. 27 In den Profugia bringen die Gesprächsführer den jungen Zuhörer Battista zwar allenfalls zum nachdenklichen Schmunzeln und lachen selbst nur dezent über irgendeine Torheit, aber das Lachen wird pointiert zum Thema gemacht – zusammen mit dem für Alberti als Gemütsremedium so bedeutsamen Singen. In einem aus dem Stegreif entworfenen epigrammatischen Dialog im Dialog inszeniert Agnolo das Lachen und Singen als fundamentalen Ausdruck menschlicher Selbstbewahrung: 25 L.B.A.: Momus oder Vom Frsten – Momus seu de principe. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Michaela Boenke. (Humanistische Bibliothek: Reihe 2, Texte; Bd. 29). München 1993, S. 6. 26 Ein Beispiel dafür ist das phantastische Intercenale Defunctus (Der Verstorbene): Von einem Dach aus beobachtet der Tote sein Begräbnis und wie es ohne ihn mit ,seiner‘ Welt weitergeht: Sein vermeintlich glückliches Leben war in allem nichts als eine große Illusion in einer Welt voller Torheit und Niedertracht. 27 Eugenio Garin verweist auf Albertis „lussuregiante ,follia‘ di sapore erasmiano“, seinen üppigen Sinn für ,Torheit‘ nach Art des Erasmus (E.G.: Il pensiero di L. B. Alberti nella cultura del Rinascimento. [Anm. 22] S. 27). Die Torheit ist auch ein Thema der Profugiorum ab aerumna libri: „la fortuna di noi mortali non viene dal cielo ma nasce dalla stultizia degli uomini […], proclivi e dati a ogni passione d’animo e inconstanzia“ (77) – „die Fortuna der Sterblichen kommt nicht vom Himmel, sondern entsteht aus unseren Torheiten und unserer Neigung zu jeder Leidenschaft und Unbeständigkeit“. Zu den Affinitäten von Alberti und Erasmus – beide waren Lukian-Leser – siehe Eugenio Garin: Fonti italiani di Erasmo. In: Rinascite e rivoluzioni. Movimenti culturali dal XIV al XVIII secolo. Roma-Bari 1975, S. 221 – 234, bes. 225 f. Es ist wohl erwähnenswert, daß Erasmus sein Lob der Torheit auf der Rückreise nach seinem längeren Italienaufenthalt (1506 – 1509) konzipierte und darin – ähnlich wie Albertis Niccola und andere italienische Humanisten – den „Oberstoiker Seneca“ („bis Stoicus Seneca“) kritisiert, „qui prorsum omnem affectum adimit sapienti. Verum cum id facit, iam ne hominem quidem relinquit“ – „der seinen Weisen jede Leidenschaft austreibt und uns dabei gar keinen Menschen mehr übrig läßt“. Stultitiae Laus Desiderii Erasmi Roterodami declamatio. Das Lob der Torheit. In: Erasmus von Rotterdam: Ausgewhlte Schriften. Ausgabe in acht Bänden. Hg. v. Werner Welzig. Band II. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wendelin Schmidt-Dengler. Darmstadt 1975, S. 64 – 67.

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Perché ridi? – Perché mi piace. – Perché canti? – Perché così voglio e cantare e star quieto e rallegrarmi a mia posta (12). Warum lachst du? – Weil’s mir gefällt. – Warum singst du? – Weil ich es so will: singen, ruhig bleiben und heiter sein in meiner Situation.

Dieses leichte Parlando, in welchem der Lacher mit unbeirrbarer Entschiedenheit seine tranquillità und seine letizia behauptet, läßt Alberti seinen stoischen Protagonisten mit Bezug auf einfache Bedienstete vorbringen, die „von ihrem Unglück deprimiert sind, aufgerieben durch Unbehagen und ermattet von schwerer Arbeit“ – „servi abietti, oppressi dalla lor fortuna, attriti da’ disagi, lassi dalle fatiche“ (12). Vor dem Hintergrund seiner krassen Beschreibung dieses Milieus gerät Agnolo mit seiner stoisch-affirmativ gemeinten kleinen Szene in einen gewissen Naivitätsverdacht, und der Autor scheint auf diese Weise einen Vorbehalt zu markieren, wie er ihn wenig später dem Niccola einschreibt. Nach dieser im Scherzando-Ton eingespielten Rolle des Lachens als Medium stoischer Selbsterhaltung versinnbildlicht Agnolo die Bedeutung der virtù für die persönliche Integrität und die moralische Widerstandskraft. Er entfaltet dazu noch einmal eine gewichtige Architektur-Allegorie, welche die Funktion der virtù mit der Tragkraft einer Säule vergleicht: Ma intervienci come alla colonna: mentre ch’ella tiene sé in stato ritta e in se stessi offirmata, ella non solo se sustenta ma e ancora sopra ivi regge ogni grave peso; e questa medesima colonna, declinando da quella rettitudine, pel suo in sé insito carco e innata gravezza ruina. Così l’animo nostro, mentre che esso se stessi conforma con la rettitudine del vero e non aberra dalla ragione, qual sopravi imposto incarico sarà che lo abatta? Fa che lo animo penda a qualche obliqua opinione, per sua proclività ruina e capolieva. (13) Aber uns geht es wie der Säule: Solange sie senkrecht und auf fester Basis steht, hält sie sich nicht nur selbst aufrecht, sondern trägt jedes schwere Gewicht auf ihr; und wenn dieselbe Säule von jener aufrechten Position abweicht, zerbricht sie durch ihr eigenes Gewicht. Genauso verhält es sich mit unserem Geist: Solange er mit der aufrechten Wahrheit übereinstimmt und nicht von der Vernunft abweicht – welche ihm auferlegte Last könnte ihn umwerfen? Wenn der Geist jedoch schief an einer schrägen Meinung steht, zerbricht er unter seiner Neigung und stürzt.

Auf diese von der unmittelbaren Lebensproblematik abgehobene und sich ins Bildhafte zurückziehende Argumentation reagiert Niccola empfindlich-kritisch. Als Agnolo auch noch Übereinstimmung darüber

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voraussetzt, daß „noi uomini, bene consigliati tanto potremo di noi stessi, di nostro animo, volontà, pensieri e affetti, quanto vorremo“ (14) – „daß wir Gebildeten über uns, unseren Geist, unseren Willen, unsere Gedanken und Affekte soviel vermögen, wie wir wollen“ –, scheint er stoisch-intellektuelle Arroganz zu wittern. Er fällt Agnolo mit einer Interjektion („Doh!“) ins Wort, nimmt Partei für diejenigen, die nicht zu den Gebildeten zählen, und fragt ironisch, wie sie „queste vostre gravissime e approbatissime sentenzie“ (14) – „diese eure sehr ernsthaften und höchst zustimmungswürdigen Sprüche“ aufnähmen. Um sein Mißtrauen gegenüber allen lebensfernen Maximen zu verdeutlichen, zitiert er die platonisch-stoische Rede vom Sterben als dem Verlassen eines qualvollen Kerkers, auch die traditionellen Elogen über den löblichen Tod für das Vaterland, um dann auf eine Mutter zu verweisen, die ihren Sohn verloren hat: „Credo la madre, vinta dal dolore, arebbe poco atteso e meno inteso alcuna delle vostre parole“ (15) – „Ich glaube, die Mutter, überwältigt vom Schmerz, würde wenig auf irgendeine eurer Weisheiten warten und sie noch weniger verstehen“. Das Spiel mit den Präfixen in „non atteso e meno inteso“ gibt dieser Bemerkung eine aphoristische Pointierung. Vor dem Hintergrund des Leidens seziert Niccola dann die Mahnungen der „severi supercilii stoici“ (16), der „strengen und hochnäsigen Stoiker“, die den Verzweifelten naiv oder zynisch nur ihre constanzia-Phrasen entgegenhalten und sie in ein „Wir“ einschließen, das unter solchen Umständen wie Hohn klingt: „Non ci ricordate che noi perseveriamo in ogni officio e constanzia“ (16) – „Vergeßt ihr, daß wir in allem Beständigkeit bewahren wollen?“ Raffiniert reiht er dann einige der stoischen Maximen so aneinander, daß sie angesichts der zuvor evozierten Trauer einer Mutter nur noch disparat, unverständig und geschwätzig wirken: Tu, mortale, cognosci te stessi. Di cose poche e minime si contenta la natura. A chi sia savio mai mancano le cose ottime, mai avviene cosa sinistra, sempre vive libero e sempre vive lieto. (16) Du, Sterblicher, erkenne dich selbst. Die Natur begnügt sich mit wenigen und kleinen Dingen. Wer weise ist, dem fehlt nie das Beste, dem geschieht nie Widerwärtiges, er lebt immer frei und er lebt immer heiter.

Über den Spott in dieser Parodie hinaus formuliert Niccola seine Einstellung auch explizit und ganz affektiv: „Odi que’ loro divini oraculi.“ (16) – „Ich hasse diese ihre göttlichen Orakel“. Seine impulsive Aversion drückt sich in einem harschen Urteil über Zenon und Seneca aus,

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die zentralen Repräsentanten der griechischen und römischen Stoa. An die Namen beider heftet er distanziert das zuvor mit negativen Konnotaten – „supercilii stoici“ (16) – aufgeladene Epitheton „stoico“ und karikiert die Philosophen unter diesem Aspekt. Den „stoico“ Zenon nennt er den „padre ed esplicatore di questa austera e orrida filosofia“ (17), den „Vater und Missionar dieser rigiden und schrecklichen Philosophie“; er ironisiert ihn als Moralisten, der sogar den Göttern Sittenstrenge vorschreibe – „per insino alli dii prescrive severità“ (17) – und im Widerspruch zu seinen großen Reden gegen die Güter der Fortuna maßlos über den Verlust seines Besitzes durch Feuer und Feinde klage.28 So gebe es viele, die in Muße und angenehmem Schatten gut über die Härten des Lebens reden können, welche sie selbst jedoch nicht gut zu ertragen vermöchten. Mit diesem Resümee verbindet er seine Polemik gegen den stoischen Rigorismus Senecas, und er pocht auf Nachsicht im Hinblick auf die gebrechliche Existenz des Menschen: Chi fu in ogni suo detto e scritto più ostinato biasimatore di chi cede alla fortuna o tema la morte e non affermi la sola virtù essere ultimo bene a’ mortali; chi fu in simile superstizioni più veemente ripreenditore che ’l nostro Seneca latino stoico? (18) Wer hat denn in allem, was er sagte und schrieb, starrköpfiger diejenigen getadelt, die der Fortuna nachgeben oder den Tod fürchten und nicht anerkennen, daß den Sterblichen allein die virtù das höchste Gut ist; wer hat denn in ähnlichem Aberglauben heftiger zurechtgewiesen als unser lateinischer Stoiker Seneca?

Niccola mißt auch Senecas Stoizismus an seiner Bewährung im Leben und führt den gefeierten Römer als Philosophen vor, der das große Lob des Todes verbreitet, aber aus Angst vor todbringender Vergiftung nur rohe Früchte verzehrt und Wasser allein unmittelbar aus der Quelle trinkt. „Quanto dissimile dalle parole!“ (18) – „Welch ein Widerspruch zu den Worten!“ – Mit diesem Ausruf kommentiert Niccola lakonisch die von ihm zu einer boshaften Anekdote zugespitzte Passage aus den Annales (XV.45.6) des Tacitus, den er zur Beglaubigung seiner Invektive mit listiger Akribie als unverdächtigen Gewährsmann zitiert: „Scrive Cornelio istorico …“ (18) – „So schreibt der Historiker …“ Nach dem ironischen Intermezzo, in dem Niccola seine Vorbehalte gegen die Stoiker der strengen und pedantischen Observanz vorge28 Süffisant bezieht Niccola hier eine Anekdote auf Zenon, die Diogenes Laertius (VII:1.36) über einen Schüler Zenons überliefert (Vgl. Ponte S. 16 Anm.).

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bracht hat, kehrt er zu einer sachlichen Auseinandersetzung zurück. Er entwirft eine Psychologie, die sich folgendermaßen zusammengefassen läßt: Jeder möchte ohne Leid leben. Einige wenige können Schmerz ertragen, ihr Elend außer acht lassen und über die Fortuna lachen. Grausamer aber ist, was Ängste, Jähzorn und ähnliche Affekte über uns vermögen – Dido haben sie in den Tod getrieben. Wer hingegen mit Stirn und Worten Gleichmut zeigt, muß nicht wirklich auch gleichmütig sein (18). Auf diese allgemeine Beschreibung folgt Niccolas antistoische Anthropologie. Sie ist ein Plädoyer für eine Lebenseinstellung, in der die vom Stoizismus beargwöhnten Affekte als legitim und human geachtet werden: Chi non sente le cose che senton gli altri infiniti uomini, costui solo non è uomo. Se negli animi umani abita la carità, se v’ha luogo l’amore, convien che vi cappia l’ira e la indignazione e simili. (19). Che maraviglia adunque se uno animo umano desidera e suoi? Miracolo sarà, anzi immanità non gli desiderare, e desiderandogli non dolersi di non gli avere. (19). Wer nicht fühlt, was die unzähligen anderen Menschen fühlen, der ist kein Mensch. Wenn im menschlichen Gemüt Mitgefühl wohnt, wenn Liebe darin ihren Platz hat, dann gehören auch Zorn, Empörung und ähnliche Affekte dazu. Was Wunder also, wenn einer nach den Seinigen verlangt? Wunderlich wäre es, oder eher entsetzlich, nicht nach ihnen zu verlangen, und, nach ihnen verlangend, nicht darunter zu leiden, daß man sie entbehrt.

Niccola versteht Leid, Zorn und Empörung als Kehrseite von Mitgefühl und Liebe. Das ganze Spektrum der Affekte gehört für ihn zum Wesen des Menschen und zu seiner sozialen Konstitution. Im Zusammenhang mit dem Problem, wie man sein Gemüt und den uns von der Natur eingegebenen individuellen Lebensfunken – „quello ignicolo innato e insito ne’ nostri animi“29 (24) – vor den Verletzungen durch die Fortuna bewahren kann, nimmt Agnolo Niccolas Gedanken zu den Affekten auf, bringt sie aber in die Perspektive eines recht dogmatisch vorgetragenen stoischen Lebenskonzepts: Modera la oppinione e iudizio, tempererai gli affetti e’ moti dell’animo. Temperato l’amore, si spegne la volontà. Estinta la volontà, non desideri; non desiderando, non ti duole el non avere o avere quello, che tu nulla stimi. (28 f) 29 Nach stoischer Lehre sind die ,igniculi naturae‘ Funken eines universalen Feuers, das in allem Lebendigen das Leben bewirkt (Vgl. Ponte 24, Komm.).

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Mäßige deine Meinung und dein Urteil, und du wirst die Affekte und Gemütsbewegungen beschwichtigen. Ist die Liebe beschwichtigt, verlöscht der Wille. Ist der Wille erloschen, begehrst du nicht; wenn du nicht begehrst, dann schmerzt dich weder, was du nicht hast, noch das, was du hast, aber nicht schätzt.

Agnolo spielt deutlich auf Niccolas Formulierungen an und übernimmt deren Schlüsselwort-Konstellationen: animo und amore, desiderare und desiderando, non avere und dolere. Das desiderare, dessen Ausbleiben Niccola als unmenschlich ansieht, ist nach Meinung Agnolos nur eine Bedrohung der tranquillità dell’animo und deshalb konsequent zu meiden. An dieser Stelle spitzt sich die Gegensätzlichkeit der Standpunkte in einer zentralen Frage der Lebenslehre zu. Während Alberti als Figur im Dialog dazu schweigt, scheint er als Autor doch Stellung zu beziehen, und zwar durch eine stilistische Manipulation. Er organisiert Agnolos Rede in streng verketteten Satzreihen, die den eingeübten stoizistischen Schlußfolgerungen entsprechen und in ihrer unaufhaltsamen Konsequenz fast schon wie deren Parodie erscheinen. Auf diese Weise verdeutlicht er, wie Agnolo Niccolas Problematisierung durch eine dominante Belehrungsattitüde zu überspielen sucht. Sie steht in Kontrast sowohl zu den temperamentvollen persönlichen Einwendungen Niccolas als auch zu Agnolos sonst so farbig-individueller Sprache und macht die Rede des sympathischen Weisen hier eher befremdlich. Dasselbe Muster zeigt sich auch in der dritten Gesprächssequenz, in der Agnolo noch einmal auf eine typische Schlußfolgerungsreihe der strengen Stoiker rekurriert und sie als unangreifbare Lehre vorträgt. Der Prämisse „vincerai per tua virtù quando vorrai“ (101) – „durch deine virtù wirst du siegen, wann immer du willst“ – folgt das stoizistische Dogma: Questa tua fortuna avversa t’insegnerà essere paziente; la pazienzia confermerà la virilità, e colla virilità si vince, e vincendo in ogni milizia si diventa fortissimo e insuperabile. (101) Dein Unglück wird dich lehren, geduldig zu sein; die Geduld wird deinen Mannesmut stärken, und mit Mannesmut siegt man, und siegend wird man in allen Kämpfen sehr stark und unüberwindlich.

Wie im vorangegangenen Beispiel verwehren diese Sätze mit ihrer strengen Verkettung durch Kernwortwiederholungen jeder kritischen Zwischenbemerkung den Zugang. Selbst das Echo eines persönlichen Bezugs, das anfänglich noch in der Anrede an ein – wenn auch generisches – Du nachklingt, wird zugunsten eines allgemeinen Objektivi-

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tätsanspruchs getilgt. Mit dem uhrwerkartigen Ablauf der Argumentation inszeniert Alberti in Agnolos Rede die Dogmatik eines in langer Überlieferung zum Selbstläufer gewordenen ideologischen Diskurses. Als zuhörende Dialogfigur bleibt Alberti allerdings wieder neutral, nur der stilbewußte Autor macht die stoizistischen Fertigteile in Agnolos Rede durch parodistische Anklänge kenntlich und markiert auf subtile Weise formal seinen Vorbehalt. Obwohl stoische Konzepte die Basis von Agnolos Überzeugungen bilden und bisweilen auch als ritualisierte Argumentationen auftauchen, verfestigt er sie doch im ganzen keineswegs zu einer systematischen Dogmatik. Er stellt sie in aller Regel in einem assoziativen, bisweilen anekdotischen oder auch aphoristischen Gesprächsspiel vor, das aus großer Belesenheit einen enormen Fundus an überliefertem Erfahrungswissen darüber einbringt, wie man die tranquillità dell’animo gegenüber Verwirrungen, Verängstigung, Traurigkeit und Melancholie – perturbazioni, ansietà, tristezza und maninconia – zu bewahren vermag. Oft verlockt ihn die Fülle seiner Bildung spontan in weit verästelte Ausführungen, und er entschuldigt sich dafür mit liebenswürdigem understatement: Er habe im Gang der Überlegungen erzählt, was ihm in den Sinn gekommen sei, ohne Ordnung – „raccontai ciò che nel ragionare m’occorse a mente, senza ordine“ (46). Die Offenheit seiner Einfälle ermöglicht es, spontan geistige Perspektiven und Synopsen auszuprobieren, auch auf die Gefahr hin, sie mit ratlosem Kopfschütteln (80) als noch nicht ausgereift aufgeben zu müssen: „vorrei non aver cominciato quello ch’io non seppi con ordine e via conducere sino a qui“ (80) – „ich hätte besser nicht anfangen sollen von dem, was ich noch nicht weiter als bis hierher klar auszuführen wußte“. So verfolgen wir als Leser Agnolos ,allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‘ – und auch seine Relativierungen. Wir sind Adressaten nicht primär von stoizistischen Belehrungen, sondern von oft narrativ vorgetragenen, philosophisch reflektierten Leiderfahrungen, mit denen Agnolo stoische Verhaltenslehren verbindet, die Niccola dann seinerseits immer wieder skeptisch kommentiert. Besonders lebendig entfaltet sich Agnolos Erzähltalent, wenn er engagiert über Odysseus spricht, der den Stoikern in besonderem Maße zur Demonstration ihres Selbstbeherrschungsideals diente. Wenn er vergegenwärtigt, wie Homers Held beim Gesang des Demodokos trotz heftiger Erregung seine Tränen beherrscht und bei seiner Rückkehr nach Ithaka noch in der größten Erniedrigung durch das Gesindel in seinem eigenen Hause sich nicht zu Zorn und Rache hinreißen läßt,

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sondern Gleichmut simuliert und schweigt (67 – 69), dann verwandelt sich Agnolos Dialogrede in höchst elaborierte und intensive Erzählpassagen. Der ikonoklastische Niccola jedoch hinterfragt die einem stoischen Topos entsprechende Begeisterung über die Selbstverleugnung des Odysseus und macht darauf aufmerksam, daß der Gleichmut hier nur eine taktische Verstellung und keine innere Unangreifbarkeit sei: „Ma che volle Omero fingendo sì inaudita e ostinata pazienzia?“ (84) – „Aber was wollte Homer, als er sich eine so unerhörte und hartnäckige Geduld ausdachte?“ In der sich dann bald vom Beispiel des Odysseus lösenden Rede über die Bereitschaft zur Geduld verweist Niccola zweimal auf den Begriff der dignità (84, 85), der menschlichen Würde, und deutet an, daß sie verletzt werden könne durch eine rigide stoizistische Geduldattitüde, die er provokativ definiert: „questo dissimulare di nostre voluntà e questo negligere noi stessi e trascurare ogni nostra dignità, qual cosa voi chiamate pazienzia“ (85), „diese Verheimlichung unserer Wünsche, diese Selbstverleugnung und Mißachtung all unserer Würde – was ihr Geduld nennt.“ Der Begriff der Menschenwürde klingt in den Profugia als Korrektiv für eine übertriebene stoische Geduld an, wird aber nicht weiter ausgeführt. Spätere Schriften der Renaissance, beispielsweise Pico della Mirandolas Oratio de hominis dignitate (1486), erheben die Menschenwürde zu einem epochalen Thema, das dann bis in die neuere Verfassungsgeschichte fortlebt. Alberti allerdings hat seinen Niccola nicht als einen Philosophen der großen Begriffe und Perspektiven angelegt, sondern als eine Figur, die allen gewaltigen Worten und abstrakten Maximen mißtraut und deren Dogmatikern immer wieder die konkreten Nöte des Lebens entgegenhält. So lenkt er auch hier die pazienza-Diskussion mit einer pragmatischen Frage in eine andere Richtung: „Dite, qual virtù sarà quella che noi sollievi oppressi da e nostri casi avversi e dalle ruine de’ nostri tempi?“ (85) – „Sagt nun, welche Tugend uns, bedrückt von unseren Umständen und dem Niedergang unserer Zeit, aufrichten wird?“ Mit der Anspielung auf die „ruine de’ nostri tempi“ zielt die Frage auch wieder auf eine Zeitdiagnose. Ironisch zitiert Niccola stoizistische Standardantworten, weist sie emphatisch ab und entwirft – in der empirischen Haltung, die immer wieder durchschlägt – das pessimistische Bild einer bedrückenden persönlichen und sozialen Lebenssituation, in der solche Antworten nicht tröstlich, sondern nur noch zynisch wirken:

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Diranno que’ savii: „Non curare e tuoi dolori“. Facile precetto a dirlo, facile a dirlo! Ma colui el quale perdette e noti a sé, domestici, coniunti, amici, e perdette l’altre sue commodità e onestamenti, e perdette sue fortune domestiche, amplitudine, autorità publica e luogo di dignità, e ora si truova in solitudine, assediato da ogni necessità, abietto, destituto e forse malfermo e poco intero in suoi nervi e membra, come aiterà e soverrà a sé stessi? (85) Diese Weisen werden sagen: „Kümmere dich nicht um deine Leiden.“ Eine Devise, die man leicht sagen kann, aber eben nur leicht sagen. Derjenige jedoch, der seine Vertrauten verlor, seine Hausangestellten, Menschen, die ihm verbunden waren, seine Freunde, der noch andere Annehmlichkeiten und Ehren verlor, der sein häusliches Vermögen, sein Ansehen, seinen öffentlichen Einfluß und seine Ämter verlor und nun einsam ist, bedrängt von allen möglichen Nöten, im Gemüt niedergeschlagen und vielleicht auch in seiner Nerven- und Körperkraft labil und angegriffen – wie wird sich der helfen und für sich sorgen können?

Niccolas Kritik wird sogar sarkastisch: So imaginiert er einen Stoiker, der nicht verstehen will, daß dem Blinden die Blindheit nicht behagt, obwohl sie doch schmerzliche Anblicke von ihm fernhalte, und voller Spott legt er ihm den bizarren Trostspruch in den Mund, auch die dunkle Nacht habe in sich wohl noch ihre Freuden. Er setzt seinen Angriff mit dem Vorwurf fort, die weltfremde Stoa verachte fundamentale humane Werte, für welche die Menschen sonst auf Leben und Tod streiten: Le fortune, el nome, lo stato, la felicità del vivere, direte che siano cose caduce e fragili. Ed elle pur sono quelle per quali tutti e mortali contendono col ferro e col fuoco, e per quali espongono suo sudore e sangue e vita. E voi vorrete ch’io non le curi né desideri? E pure mi duole, Agnolo, e duolmi non le avere. (85) Ihr sagt, die Güter der Fortuna, der gute Name, der gerechte Staat, das Lebensglück seien flüchtig und fragil. Und sie sind doch die Dinge, für die alle Menschen mit Eisen und Feuer kämpfen, für die sie Schweiß und Blut und ihr Leben geben. Und ihr wollt, daß ich mich nicht darum kümmere und sie nicht begehre? Und es schmerzt mich, Agnolo, es schmerzt mich wirklich, daß ich sie nicht habe.

Wenn Niccolas zeitkritische Polemik gegen einen zur unmenschlichen Ideologie erstarrten Stoizismus auch aus dem Innersten seines Charakters kommt und bisweilen sehr emotional ausfällt, ist sie doch nie aggressiv, sie ist vielmehr eine Facette in der polyphonen und ernsthaften Streitkultur dieses Dialogs. So nimmt Agnolo sie denn auch gelassen und mit feiner Ironie auf, und er gesteht zu, daß man durchaus in vernünftigem Maße seinen Wünschen nachgehen, seine Leiden bekla-

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gen und seine Affekte ausdrücken darf. Nur Arroganz und Zorn müssen seiner Ansicht nach in jedem Falle als sozial destruktiv geächtet bleiben. Gilt das grundlegende erste und längste Buch vor allem den stoischen Konzepten, mit denen man einem Verlust der tranquillità dell’animo vorbeugen kann, und deren Relativierung vor dem Hintergrund der Alltagserfahrung, so konzentrieren sich die Dialoge des zweiten und dritten Buches eindringlich auf therapeutische Möglichkeiten, einem bereits von Angst, Traurigkeit und anderen Bedrängnissen befallenen Gemüt wieder zur inneren Ausgeglichenheit zu verhelfen: „in che modo, se forse gia fussi occupato da qualche merore e tristizia, o da qualche altro impeto e agitazione d’animo possi […] espurgarla e restituirti ad equabilità e tranquillità d’animo e di mente“ (47). Dieses psychologische Hauptanliegen der Profugia wird immer wieder in variierten Formulierungen und im Rückgriff auf Philosophen der Stoa wie auch auf die seit der Antike geführte Melancholie-Debatte hervorgehoben: Agnolo spricht von investigazioni (79), von der Erforschung der Verfahren, Geist und Gemüt gesund zu machen und ihnen ihre natürliche Integrität wiederzugeben – „sanificare l’animo e restituirlo a sua naturale integrità“ (50). Die Begründung lautet: „sarà buona opera la nostra, già che el merore, le tristezze e gli altri crucciati dell’animo sono, come dicea Crisippo e come chi lo pruovò el sa, molto maggiori e più acerbi che que’ del corpo“ (50) – „unser Bemühen ist moralisch relevant, weil Angst, melancholische Betrübnis und andere seelische Leiden, wie Chrysipp sagte und wie jeder weiß, der sie erlitten hat, sehr viel größer und bitterer sind als die körperlichen Gebrechen“. Eine vorläufige Antwort auf diese zu Beginn des zweiten Buches gebündelten Leitfragen liegt in der Inszenierung des folgenden Gesprächs auf dem Weg durch die Stadt mit seinen Ausblicken in die anmutige Weite der Florentiner Umgebung: in „questa amenità di questi nostri prospetti lietissimi“ (49) – „in diese Schönheit unserer heitersten landschaftlichen Perspektiven“. Fast unauffällig wird das deiktisch vergegenwärtigte Landschaftsbild durch die Vedute einer vorbildhaft ausgewogenen Architektur ergänzt, indem Niccola Battistas Gewohnheit lobt, fast jeden Tag auf die Höhe zu steigen und San Miniato al Monte seine Reverenz zu erweisen: „raro fu che non salisse su erto a salutare el tempio di San Miniato“ (49). Albertis Zeitgenossen konnten hier eine Anspielung erkennen: Mit eben diesem Weg zu dem auf einem Südhügel über Florenz gelegenen Kleinod romanischer

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Baukunst30 hat Dante den Aufstieg auf die erste Anhöhe des PurgatorioBerges verglichen und mit seinem Vergleich eine Kritik an der politischen Lage im Florenz seiner Zeit verbunden.31 Auch Alberti evoziert diesen Aufstieg im Kontext einer Läuterung, eines „espurgare“ (47), und – wie Dante – in pessimistischen Gedanken an die Entwicklung seiner Stadt. Er nimmt diesem Aufstieg aber die transzendente Symbolik und stellt ihn profan zunächst als einen idealen Weg vor, auf dem Battista bereits realisiert, was Agnolo propagiert: sich von den Turbulenzen des Gemüts (und wohl auch des politischen Florenz) zu befreien durch „l’essercizio e la sobrietà“ (49), indem man sich ertüchtigt und einen klaren Kopf bekommt.32 Bedeutsam ist dieser Weg dann aber vor allem, weil man auf ihm die entspannende Wirkung der erheiternden Blicke auf die Stadt und ihr Umland erleben kann: „godere questa amenità di questi nostri prospetti lietissimi“ (49). Mit diesem Motiv rekurriert Alberti auf die im wesentlichen von seinem älteren Florentiner Zeitgenossen Leonardo Bruni (1369 – 1444) im Lob der Stadt Florenz (Laudatio Florentinae Urbis, um 1402) angeregten humanistischen Überlegungen über die psychische Dimension des Stadtlebens, die den Menschen formende suggestive Kraft der Landschaftserfahrung und die sinnlich-sittliche Wirkung der Architektur. So hebt Alberti mit zentralen Attributen aus Brunis Werk hervor, Agnolo lebe „in luogo sì grato e sì salubre“ (49) – „an einem so angenehmen und so gesunden Ort“. Bereits 1436, sechs Jahre vor den Profugia, betont Alberti die 30 Der elegante Inkrustationsstil der romanischen Westwand von San Miniato al Monte war maßgebend für Albertis Fassade von Santa Maria Novella und andere Bauten der Renaissance; er wird deshalb auch als Florentiner ,Protorenaissance‘ bezeichnet. 31 Dante erinnert die Florentiner daran, daß die wohlproportionierten Treppen zur „chiesa al monte“ in einer Zeit angelegt wurden, als auch die Buchführungen noch in Ordnung und die Maße noch verläßlich waren: „ad etade / Ch’era sicuro il quaderno e la doga“ (Purg. 12, 100 f). 32 In der Debatte über die tranquillità dell’animo spricht Alberti immer wieder von der Bedeutung des „essercizio“ in allen geistigen Tätigkeiten, auch in Bezug auf die virtù. An dieser Stelle allerdings hebt er die psychohygienische Rolle des Sports hervor, über die sich Agnolo und Niccola völlig einig sind, bis hin zu konkreten Übungen, z. B. sich mit einem Ball in allen Körperbewegungen zu trainieren – „essercitarsi colla palla in ogni moto e flessione e agilità“ (49). Wie hier begleitet Niccola Agnolos große Perspektiven immer wieder ganz bodenständig mit seinem Sinn für kleine Alltagslösungen – der gerade zitierte Trainingsvorschlag ist eine Lösung für Regentage. Dieses Spektrum macht die Dialoge der Profugiorum ab aerumna libri besonders reizvoll und welthaltig.

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geistig-psychische Bedeutung der in den urbanen und landschaftlichen Zusammenhang eingepaßten Florentiner Kuppel für die Bewohner der Stadt und ihres weiten Umkreises: „erta sopra e’ cieli, ampla da coprire con sua ombra tutti e’ popoli toscani“ (Op.volg. 3, 8) – die Kuppel „hebt sich hoch über die Himmel und ist weiträumig genug, alle Völker der Toscana mit ihrem Schatten zu schützen“.33 Diese politische und identifikationspsychologische Interpretation des Bauwerks muß man mitlesen, wenn Alberti seine Profugia unter Brunelleschis Kuppel inszeniert. Das von Bruni am Beispiel von Florenz entwickelte Ideal der Schönheit und ,Gesundheit‘ des Lebensraums, einer unter der Leitvorstellung der concinnitas begriffenen Harmonie von Stadt und Umgebung, von Landschaft, Architektur und politisch-ökonomischer Verfassung wurde im Quattrocento intensiv rezipiert, und so bildet es auch die intellektuelle Perspektive in der Topographie der Profugia. Mit der Inszenierung des idealen Florenz vor dem Hintergrund der humanistischen Urbanistik Leonardo Brunis modifiziert Alberti den traditionellen stoischen Diskurs über die tranquillità dell’animo durch ein modernes Thema des Renaissance-Humanismus.34 Indem er damit die Wirkungen der Außenwelt auf die Innenwelt betont, läßt er die von den Stoikern behauptete innere Autarkie des Menschen nicht mehr gelten. Den im Humanismus postulierten freien und produktiven Umgang mit der antiken Tradition vermittelt Alberti mit einer weiteren Architektur-Allegorie. Ihre Bildlichkeit verweist auf Abwandlung und Adaptation – und sie bezieht sich dabei ausdrücklich auch auf die stoische Philosophie: 33 Aus Bewunderung für die Architektur der Kuppel widmete Alberti dem Baukünstler Brunelleschi die 1436 von ihm selbst unternommene italienische Übersetzung seines ästhetischen Traktats De pictura (1435). In der Dedikation, in der auch das berühmt gewordene obige Diktum steht, betont er – damit sein eigenes schöpferisches Verhältnis zur Antike beschreibend –, daß Brunelleschi das Erbe der Alten produktiv zu einem Kunstwerk weiterentwickelt habe, wie es die Antike selbst wohl noch nicht kennen konnte: „forse appresso gli antichi fu non saputo nè conosciuto“ (Op.volg. 3, 8). 34 Zu den Renaissance-Reflexionen über die Wirkung der idealen Stadt und ihrer idealen Umgebung siehe Hans Baron: La crisi del Primo Rinascimento. Umanesimo civile e libert in un’et di classicismo e di tirannide. Edizione riveduta e aggiornata. Traduzione di Renzo Pecchioli. Firenze 1970. Darin besonders das Kapitel IX über Leonardo Brunis Laudatio Florentinae Urbis.

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Gl’ingegni d’Asia e massime e Greci, in più anni, tutti insieme furono inventori di tutte l’arte e discipline; e construssero uno quasi tempio e domicilio in suoi scritti a Pallade e a quella Pronea, dea de’ filosofi stoici, ed estesero e pareti colla investigazione del vero e del falso (82). Die großen Intellektuellen Asiens und vor allem die Griechen waren, in vielen Jahren und alle zusammen, Erfinder der Kunst und Wissenschaften; und sie bauten in ihren Schriften Pallas Athena und Pronoia, der Göttin der stoischen Philosophen, eine Art Tempel und Heimstatt und erweiterten die Wände durch die Erforschung des Wahren und Falschen.

Das philosophisch-literarische Domizil der Weisheit und der stoischen Lehre ist in dieser Allegorie eine Gemeinschaftsleistung von Kulturen und Epochen. Erfinder (inventori) haben es errichtet, Erforschung (investigazione) führte zu seiner Erweiterung. Dementsprechend muß das Erbe der Überlieferung in permanenten „investigazioni del vero e del falso“ historisch interpretiert und nach seiner Tauglichkeit für die jeweiligen geschichtlichen Umstände untersucht werden. Nur so bleibt es ein dauernder Schutz gegen widrige Stürme („tempeste avverse“, 82) und ein Raum moralischer Stabilität. Die in der Scholastik übliche Welterklärung aus der Lehrmeinung einer unantastbaren Autorität, des Aristoteles vor allem, weicht an der Epochenschwelle zur Renaissance einer selbstgewissen und geschichtsbewußten wissenschaftlichen Haltung, die die Grenzen der Schulen und Systeme aufhebt, deren Positionen und Maximen als historisch-kulturell bedingt begreift und sie an der eigenen Lebenserfahrung mißt. Gegen starre und zeitlose Allgemeingültigkeitsansprüche fixierter Lehren pocht Niccola sogar auf eine individuelle Angemessenheit, indem er die Metaphorik des überlieferten und zu erweiternden Geistesgebäudes zuspitzt und humorvoll provozierend ein kleines privates Gemach darin beansprucht, das er im Einklang mit dem Ganzen so schmücken kann, wie es seinen eigenen Vorstellungen gemäß ist: „ornare un mio picciolo e privato diversorio, tolsi da quel publico e nobilissimo edificio quel che mi parse accomodato a’ miei disegni“ (82). So wacht der Humanist über die Lebendigkeit und Autonomie seiner geistig-moralischen Individualität. Die Allegorie des ererbten und erweiterungsbedürftigen philosophischen Bauwerks der Antike wird noch einmal durch ein Architekturbild ergänzt, das eine poetologische Bedeutung enthält: In Niccolas Rede analogisiert Alberti selbstreferenziell die zeitgenössischen „litterati“ (82) mit einem Mosaikkünstler. Wie dieser viele Einzelteile aus überkommenen Materialien zu einem kohärenten Kunstwerk zusammenfügt, muß der moderne Autor die vielfältige, wenn auch bruch-

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stückhafte Überlieferung von wertvollen Erfahrungen und Lehren aufgreifen, ordnen, interpretieren und für angemessene Lösungen gegenwärtiger Probleme adaptieren. Angesichts der von vielen Zeitgenossen ,usurpierten‘ literarisch-philosophischen Antikenstücke – „veggonsi queste cose litterarie usurpare35 da tanti“ (82) – formuliert Niccola eine fundamentale Kritik an der Beliebigkeit eines konzeptionslosen Antiken-Eklektizismus, von dem er Agnolos strikte Problemorientierung und die lebendige Komposition seiner Reden entschieden abgrenzt. Was bei den Eklektikern nur verstreut und zerstückelt erscheine, füge Agnolo zu einem durchdachten und harmonischen Ganzen zusammen, stimmig in den Farben, ohne Brüche und ohne deformierende Lücken: „aggiunte insieme in modo che le convengano con suoi colori a certa prescritta e designata forma e pittura, […] fra loro niuna grave fissura, niuna deforme vacuità“ (83). Und immer folge er dem gegenwärtigen Erkenntnisinteresse, nämlich: „in che modo si propulsino e in che modo si escludano le maninconie“ (83) – „wie man die Attacken der Melancholie abwehren kann“. Dieses wissenschaftlich-existentielle Interesse an den zentralen menschlichen Erfahrungen konzentriert Agnolo nicht primär auf systematische Überlieferung, sondern vor allem auf das ,kulturelle Gedächtnis‘ der Geschichtsschreibung und der Literatur. An ihm entfaltet er seine Reflexionen in einer undogmatischen Vielstimmigkeit, deren Offenheit auf Erasmus von Rotterdam (um 1469 – 1536), Michel de Montaigne (1533 – 1529) und die späteren Essayisten und Aphoristiker vorausweist. Im Verlaufe des Dialogs modifiziert er die selbstbezüglichen stoizistischen Autarkievorstellungen und Vernunftpostulate und hebt sie in einer weltoffenen Altersweisheit auf. In immer neuen Zusammenhängen und oszillierenden Assoziationen verbindet Agnolo die jeweiligen Probleme mit der vielfältigen Erfahrungstradition der Antike, mit aktueller Kulturkritik und sogar pragmatischer Psychologie: „converrebbe e castigarci con giuste amonizioni, e confirmarci con vere e integrissime ragioni, e consolarci con buone speranze, ioconde memorie e dolci contentamenti d’animo“ (103) – „es täte uns gut, uns selbst durch gerechte Verweise zu ermahnen, durch richtige und ehrliche Vernunftgründe zu bestärken, uns zu trösten mit guten Hoffnungen, schönen Erinnerungen und angenehmen Befriedigungen für unser Gemüt“. 35 Usurpare = usurpate (Ponte 82, Komm.)

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Dem Ideal des in einem großen und nicht mehr autoritären Traditionszusammenhang universal gebildeten, autonomen und kreativen Menschen entsprechend, erweitert Alberti die überkommenen stoischen Remedia gegen den Verlust der tranquillità dell’animo und die in medizinischen Handbüchern seit der Antike tradierten Methoden zur Befreiung von maninconia. Seine Vorschläge sind nicht die Summe überlieferter Lehren und Systeme, sondern Ergebnisse psychologischer Selbstbeobachtung und soziokultureller Zeitdiagnose. Alberti legt sie am Ende des Dialogs dem weisen Agnolo Pandolfini in den Mund, nachdem dieser wieder einmal dadurch beeindruckt hat, daß er philosophisch differenziert, anekdotisch lebendig und heiter über bedeutende antike Persönlichkeiten von Solon bis Augustus zu erzählen weiß, wie sie mit ihren Gemütserschütterungen umgegangen sind, sich mit Wein ablenkten oder im Koitus beruhigten36, wie sie alle möglichen Arten des Spiels und des Sports, der Jagd und der Musik pflegten, wie sie fischten oder Tauben fliegen ließen. So belehrt Agnolo nicht mehr stoizistisch pedantisch; er redet ernst, aber auch mit urbanem Humor und dezenter Ironie: „voglio ridere con voi“ (104) – „Ich möchte mit euch lachen“. Mit einer captatio benevolentiae und einer elegant-selbstironischen Rhetorik der Bescheidenheit vermittelt er dann den Wechsel von seinen weiten historischen Perspektiven zu den persönlichen und lebenspraktischen Erfahrungen, die durch ihre exponierte Position am Schluß der dialogischen Argumentationen allerdings eine besondere Bedeutung bekommen: E non vi tacerò quel ch’io provai in me. Parravvi forse cosa lieve, ma ella porta seco ottimo e presentaneo rimedio. Cosa niuna tanto mi disduce da mia vessazione d’animo, né tanto mi contiene in quiete e tranquillità di mente, quanto occupare e miei pensieri in qualche degna faccenda e adoperarmi in qualche ardua e rara pervestigazione. Soglio darmi a imparare a mente qualche poema o qualche ottima prosa; soglio darmi a commentare qualche essornazione, ad amplificare qualche argumentazione; e soglio, 36 Vor diesem antiken tranquillitas-Mittel hatte Agnolo Battista allerdings mit Berufung auf Agamemnon bereits eindringlich gewarnt: Er solle alle Händel mit Frauen meiden: „Tutte sono pazze e piene di pulce le femmine. E da loro mai riceverai se non dispiacere e indignazione. Vogliolose, audaci, inconstante, suspiziose, ostinate, piene di simulazione e crudeltà“ (36) – „Alle Frauen sind verrückt und voller Flöhe. Von ihnen darfst du nichts erwarten als Mißfallen und Entrüstung. Sie sind lüstern, frech, unbeständig, argwöhnisch, starrköpfig, voller Verstellung und Grausamkeit“. Diese Tirade greift eine in den stoizistischen Männerphantasien besonders gefürchtete perturbatio auf und parodiert sie zugleich.

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massime la notte, quando e miei stimoli d’animo mi tengono sollecito e desto, per distormi da mie acerbe cure e triste sollicitudini, soglio fra me investigare e construere in mente qualche inaudita macchina da muovere e portare, da fermare e statuire cose grandissime e inestimabili. E qualche volta m’avvenne che non solo me acquetai in mie agitazioni d’animo, ma e ancora giunsi cose rare e degnissime di memoria. E talora, mancandomi simili investigazioni, composi a mente e coedificai qualche compositissimo edificio, e disposivi più ordini e numeri di colonne con varii capitelli e base inusitate, e collega’vi conveniente e nuova grazia di cornici e tavolati. E con simili conscrizioni occupai me stessi sino che ’l sonno occupò me. E quando pur mi sentissi non atto con questi rimedii a rassettarmi, io piglio qualche ragione suttilissima in conoscere e discutere cagioni ed essere di cose da natura risposte e ascose. E sopra tutto, quanto io provai, nulla più in questo mi satisfa, nulla tutto tanto mi compreende e adopera, quanto le investigazioni e dimostrationi matematice, massime quando io studii ridurle a qualche utile pratica in vita (114 f). Und ich will euch nicht verschweigen, was ich in mir beobachtet habe. Es wird euch vielleicht etwas belanglos vorkommen, aber es bringt eine optimale und unmittelbare Heilung. Nichts anderes führt mich so gut heraus aus meinen Seelenqualen und hält meinen Geist so in Ruhe, als meine Gedanken mit einer angemessenen Sache zu beschäftigen und mich auf eine schwierige und besondere Fragestellung einzulassen. Gewöhnlich gebe ich mir auf, ein Gedicht oder sehr gute Prosa auswendig zu lernen, einen rhetorisch gestalteten Text zu kommentieren und eine Argumentation zu erweitern. Besonders nachts, wenn mich die Gemütsbewegungen unruhig und wach halten, pflege ich, um bitteren Sorgen und tristem Grübeln zu entgehen, im Geiste eine unerhörte Maschine zu erfinden und zu konstruieren, mit der man unvorstellbar große Lasten bewegen, tragen, halten und aufrichten kann. Und manchmal geschah es mir, daß ich so nicht nur meine Erregungen beruhigte, sondern mir darüber hinaus seltene und bemerkenswerte Dinge in den Kopf kamen. Hin und wieder, wenn mir solche Forschungen fehlten, dachte ich mir ein höchst komplexes Gebäude aus, arrangierte verschiedene Säulenordnungen mit unterschiedlichen Kapitellen und ungewöhnlichen Basen und fügte eine harmonische und neuartige Eleganz von Rahmen und Schmuckfeldern ein. Mit solchen Entwürfen beschäftigte ich mich, bis der Schlaf mich einnahm. Und wenn ich dennoch fühle, daß ich mich durch diese Heilmittel nicht wiederherstelle, ergreife ich irgendein besonders subtiles Argument aus der Erörterung von Ursachen und Wirklichkeiten, welche die Natur birgt. Vor allem, soviel habe ich in Erfahrung gebracht, befriedigt mich hierin nichts tiefer und nichts fesselt und beschäftigt mich mehr als meine mathematischen Untersuchungen und Beweise, insbesondere, wenn ich mich bemühe, daraus irgendeinen Nutzen für die Praxis herzuleiten.

Die iterativen Formulierungen, die diesen Passus bestimmen – soglio (viermal), qualche volta, talora, quando –, verweisen darauf, daß die angesprochenen „vessazioni d’animo“ den Menschen immer wieder

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befallen und jene seelischen Verletzungen und Abstürze bewirken, die schon in früheren Gesprächsphasen schonungslos umschrieben wurden: „questa egritudine d’animo qual chiamano tristezza, questo dolersi e vivere tedioso a se stessi“ (89) – „diese Krankheit des Gemüts, die man Melancholie nennt, dieses schmerzliche Dasein, das sich selbst zur Last wird“. Aus solch bedrängender Erfahrung erwächst ein Konzept der integralen Selbsterhaltung, das sich wie das Renaissance-Ideal des uomo universale liest. Agnolo entwirft damit ein Porträt Albertis; anders gesagt: Alberti entwirft sein ideales Selbstporträt. Dem späteren Leser bringt es unwillkürlich auch Leonardo da Vinci (1452 – 1519) in Erinnerung, den Jacob Burckhardt als Albertis „Vollender“ bezeichnet.37 Das stoische Grundproblem der tranquillità dell’animo führt Agnolo, der hier in besonderem Maße mit Alberti übereinstimmt, aus eigener Erfahrung zur paradoxen Gewißheit, daß man Gemütsruhe nicht durch Muße, sondern durch schöpferische Unruhe und Arbeit erlangen kann. Die zentralen Formeln seines stoisch-modernen Arbeitsethos lauten: Erforschen und (Maschinen) Bauen („investigare e construere“, 114), Aktivität und Tugend („industria e virtù“, 25), Vernunft und Gesellschaft („la ragione e la società“, 25), und schließlich: an sich selbst arbeiten („quasi edificare in se un’altra natura“, 38). All das ist auf der Basis einer literarisch-philosophischen, historischen und naturwissenschaftlich-künstlerischen Bildung zu leisten. Während die konservativen Stoiker eher zur Beschränkung und zu passiver Vorsicht mahnen, läßt Alberti seinen Agnolo das intellektuelle und technische Wagnis propagieren.38 37 Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel 1860. 2. Abschnitt, 2. Kapitel. 38 Ein Vorbild für diese neue Haltung war Filippo Brunelleschi, der nach Albertis Verständnis mit der Florentiner Kuppel unerhört Neues geschaffen hat, und zwar durch seinen kenntnisreichen, freien und kreativen Umgang mit der architektonischen Überlieferung und seine unvoreingenommene künstlerischtechnische Intelligenz. In einem Brief an Brunelleschi betont Alberti, nur so gelange man zu „arti e scienze non udite e mai vedute“, zu „nie gehörten und niemals gesehenen Künsten und Wissenschaften“ (Zitiert in: Cecil Grayson: Studi su Leon Battista Alberti. A cura di Paola Claut. Mantova 1998, S. 424 f). Brunelleschi hatte die damals größte, künstlerisch und technisch modernste Kuppel der Welt auch auf ,unerhörte‘ Weise errichtet: nicht mit einem festen Boden-, sondern mit einem Klettergerüst, das von den jeweils geschlossenen und sich dadurch selbst tragenden Kuppelringen gehalten wurde. Dieses Verfahren erschien vielen Gutachtern zu gewagt, und manche bekämpften es sogar als Herausforderung Gottes. Alberti waren die noch nicht lange zurücklie-

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Auf Entdeckungslust und Wagnis hat Alberti bereits am Ende des zweiten Buches der Profugia das in der Stoa-Tradition geläufige Lebensbild der Seefahrt angelegt. Er akzentuiert darin nicht nur das unbeirrte stoische Durchhalten in allen Stürmen und selbst im Untergang, er vermittelt damit vielmehr eine die Renaissance prägende enthusiastisch-explorative Haltung zur Welt: E noi, produtti in vita quasi come la nave, non per marcirsi in porto ma per sulcare lunghe vie in mare, sempre tenderemo collo essercitarci a qualche laude e frutto di gloria (40). Und wir, ins Leben gelassen wie ein Schiff zu Wasser, nicht um im Hafen zu verderben, sondern weite Strecken durch das Meer zu furchen, werden immer versuchen, uns für lobenswerte und ehrenvolle Ziele stark zu machen.

Die in der stoischen Tradition dieses Gedankenbildes typische probatio wird hier von der rettenden Bewährungsprobe zu einer verlockenden Herausforderung umgedeutet, die den Menschen als Entdecker aktiviert. Was Alberti im Jahre 1442 metaphorisch ausdrückt, motiviert ein halbes Jahrhundert später die großen italienischen Seefahrer – allen voran Cristoforo Colombo und Amerigo Vespucci – zu ihren Expeditionen in eine ,neue Welt‘. Und es provoziert den uomo universale der Renaissance, der viele praktische und intellektuelle Begabungen integriert; in Leonardo da Vinci erreicht er seine umfassendste Ausprägung. Bei ihm ist die kreative Aktivität, die Alberti in den Profugia als Remedium gegen die perturbazioni dell’animo und gegen tristezza und maninconia reflektierte, nicht mehr primär Medium des Selbsterhalts, sondern vor allem des Weltbezugs. Und den stoischen Leitbegriff der constantia pointiert Leonardo dialektisch zum beharrlichen Willen zur Erneuerung, wenn er ihn in einer seiner Tierallegorien im Bilde des Phönix expliziert: Alla constanza s’assimiglia la fenice; la quale, intendendo per natura la sua rennovazione, è costante a sostenere le cocenti fiamme, le quali la consumano, e poi di novo rinasce.

genden turbulenten Auseinandersetzungen um die epochemachende Konstruktion zweifellos in Erinnerung, als er den Florentiner Dom zum symbolischen Ort der Profugia wählte und die Erfindung unerhörter Maschinen zur Stützung und Bewegung großer Lasten als beispielhaftes Remedium gegen Gemütserregung und Melancholie beschrieb.

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Der Beständigkeit entspricht der Phönix; indem er von Natur aus seine Erneuerung erstrebt, beharrt er darauf, die schmerzenden Flammen zu ertragen, die ihn verzehren, um dann wieder neu zu erstehen.39

39 Leonardo da Vinci: Constanza. In: L.d.V.: Frammenti letterari e filosofici. A cura di Edmond Solmi. Firenze 1979, S.56.

Zenons glücklicher Schiffbruch am Felsen der Weisheit: Eine stoische Allegorie im Dom zu Siena von Klaus Mönig Wer den Dom zu Siena durch das Hauptportal betritt, steht am Beginn eines umfangreichen humanistischen Bildprogramms, dessen Marmorintarsien nahezu die ganze Bodenfläche der Kirche ausfüllen. Synkretistisch integriert es christliche und antike Traditionen. In seinen bis ins 14. Jahrhundert zurückreichenden Darstellungen kommt auch der Stoa und ihren Themen eine große Bedeutung zu. Das Eingangsbild aus den achtziger Jahren des Quattrocento wird von der imposanten Frontalfigur des Hermes Trismegistos beherrscht, jenes in die früheste Antike datierten und von humanistischen Gelehrten vielbeschworenen Weisen, von dem man glaubte, er habe den Ägyptern die Schrift gebracht, Gesetze gelehrt und damit zugleich das ,hermetische‘ Wissen über Menschheit, Gott und Natur vermittelt.1 Im Zentrum des Bildes überreicht Hermes Trismegistos einem Orientalen mit Turban und einer eher westlich gekleideten Person ein aufgeschlagenes Buch, dessen Text mit dem Imperativ suscipite – „nehmt an“ – beginnt. Ein Titulus am unteren Bildrand erklärt den Weisen zum contemporaneus moysi, zum Zeitgenossen des Moses, und evoziert so eine bedeutsame Analogie: Auch Moses übermittelt Tafeln mit göttlichen Gesetzen und initiiert die Religion des alten Bundes. Eine weitere Perspektive wird eröffnet durch eine von zwei Sphinxen getragene und 1

Das vermeintlich uralte Corpus Hermeticum, ein Gedankenkonglomerat aus vorwiegend platonischen und stoischen Traditionen, wurde vermutlich zwischen 100 und 300 n. Chr. von Griechen zusammengestellt. Seine noch vor Augustinus (354 – 430) einsetzende christliche Rezeption hatte in der Zeit, in der das sienesische Bild entstand, einen neuen Aufschwung erfahren: Zwei Jahrzehnte zuvor (1463) hatte der Neuplatoniker Marsilio Ficino (1433 – 1499) im Auftrag von Cosimo de’ Medici ein 1460 nach Florenz gelangtes griechisches Manuskript übersetzt, das man der Überlieferung des Hermes Trismegistos und seiner geistigen Erben zuordnete, den Theologen der Urzeit, den ,prisci theologi‘ von Orpheus bis Sokrates und Platon.

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so als altägyptisch ausgewiesene Schrifttafel, auf die der Weise demonstrativ seine Hand legt. Ihr Text beginnt mit den Worten: deus omnium creator / deum secum fecit / visibilem – „Gott, der Schöpfer aller Dinge, schuf einen zweiten Gott, einen sichtbaren“. Der Schluß der Aufschrift lautet dann: valde amavit proprium / filium qui appellatur / sanctum verbum – „sehr liebte er seinen eigenen Sohn, der ,heiliges Wort‘ genannt wird“. Diese als ,vorchristlich‘ angesehene Gotteslehre präfiguriert eine Grundvorstellung der Trinitätsund Inkarnationstheologie und scheint auch schon auf den WortHymnus des Prologs zum Johannesevangelium vorauszudeuten.2 Angesichts der im Wort bewahrten kulturellen und religiösen Vermächtnisse werden in der Darstellung des Hermes Trismegistos die Weisheit der frühen Antike, das alte ,Testament‘ und die christliche Theologie zu einem progressiven Offenbarungskontinuum vereint. Dieses humanistisch-integrative Verständnis von Kultur- und Heilsgeschichte, in welchem die bedeutenden Lehren des Altertums als Vorahnungen der christlichen Wahrheit erscheinen, bestimmt auch die zehn Sibyllen-Bilder; sie flankieren die Intarsien des Hauptschiffs auf den beiden Seitenschiffböden. Die sibyllinischen Weissagungen sind mit expliziten Hinweisen auf ihre antiken Gewährsleute – beispielsweise Chrysipp, Euripides und Vergil – typologisch angelegt: Die sie begleitenden Texte demonstrieren die ihnen selbst und der Antike noch verborgenen, im christlichen Rückblick dann aber offensichtlichen Vorausdeutungen auf die Erlösungsgeschichte. So spielt etwa die delphische Sibylle, deren Darstellung die Bilder der Prophetinnen im rechten Seitengang eröffnet, mit einem wiederum von einer Sphinx getragenen Epigraph auf die berühmte Inschrift eines delphischen Tempels an, auf den philosophischen Imperativ: „Erkenne dich selbst“. Diese antike Aufforderung zur Selbsterkenntnis verwandelt sich nun allerdings vom Standpunkt der höheren christlichen Offenbarung in die Weisung ipsum tuum co / gnosce deum – „erkenne deinen Gott“. 2

Roberto Guerrini führt die Texte der Hermes-Trismegistos-Intarsie und der sich daran anschließenden Sibyllen-Bilder auf Formulierungen aus den Divinarum institutionum libri VII des Kirchenvaters Laktanz (um 250-um 325) zurück. Diese Abhandlung wurde in der Renaissance stark beachtet und um 1500 in mehreren Ausgaben gedruckt. Roberto Guerrini: Ermete e le sibille. Il primo riquadro della navata centrale e le tarsie delle navate laterali, in: Marilena Caciorgna e Roberto Guerrini: Il pavimento del duomo di Siena. L’arte della tarsia marmorea dal XIV al XIX Secolo. Fonti e simbologia. Siena 2004, S. 13 – 51.

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Ein derartiger Introitus in das ikonographische Programm leitet dazu an, die Marmorintarsien insgesamt im Sinne eines fundamentalen Zusammenhangs von Antike und Christentum zu lesen. Auf dem Weg zum Altar findet man im Hauptschiff des Doms großflächige Darstellungen antiker Sujets, die auf direkte christliche Verknüpfungen verzichten: Ihr ,Sitz im kirchlichen Leben‘ ist von vornherein durch das die Kulturen und Epochen übergreifende Geschichtsverständnis der figurativen Renaissance-Theologie gesichert. Vom Bild des Hermes Trismegistos schreitet man über zwei große Rosetten, die in ihrer Mitte den Gründungsmythos Roms und den imperialen Adler darstellen und so die Kontinuität zwischen dem antiken Weltreich und dem christlichen Herrschaftsanspruch hervorheben, und gelangt zu einer Intarsie, die kompositorisch prägnant und zugleich erzählfreudig einen markanten stoischen Akzent setzt: Die Hauptakteure dieser um 1505 entstandenen Darstellung sind der namentlich gekennzeichnete Kyniker Krates von Theben (um 365 – 285) und sein Schüler Zenon von Kition (um 333 – 264 v. Chr.), der Begründer der Stoa. Er ist an einer ihm seit dem Altertum zugeschriebenen und noch näher zu erläuternden Geste zu erkennen: eine Hand zeigt er offen vor, die andere ballt er zur Faust. Beide Protagonisten agieren im stoischen Spannungsfeld zwischen Fortuna und Sapientia. Zur Rechten der in der oberen Bildmitte thronenden Sapientia und diagonal der Fortuna entgegengesetzt, tritt zudem Sokrates in Erscheinung, den die Stoiker als philosophisches Vorbild besonders verehrten.3 Der Bildentwurf stammt von Bernardino di Betto, genannt Pinturicchio (1456/60 – 1513). Sein Thema wird in der städtischen Buchführung vom 21. 2. 1506 als „istoria della Fortuna“ vermerkt.4 In deren Darstellung weicht Pinturicchio allerdings von den zeitgenössischen, meist christlich überformten Fortuna-Bildern ab, indem er die Glücksgöttin wieder antikisiert und sie in eine ausführlichere, auf antike Texte anspielende stoizistische Allegorie einfügt, die in neueren kunsthistorischen Abhandlungen meist als ,Berg der Weisheit‘ bezeichnet wird.5 3

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Diese fast zwanzig Jahre nach dem Hermes-Bild entstandene Intarsie füllt zusammen mit ihren Rahmen die Bodenfläche eines ganzen Jochs aus. Sie wird durch eine besondere Farbigkeit und die lebendige Inszenierung ihrer fast lebensgroßen Figuren hervorgehoben. Pietro Scarpellini e Maria Rita Silvestrelli: Pintoricchio. Milano 2004, S. 291. Zur Ikonographie der Fortuna: Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Gçttin des Glcks im Wandel der Zeiten. München, Berlin 1997.

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Der Stoiker Zenon zeigt den Weg zum Berg der Weisheit. Marmorintarsie im Dom zu Siena nach einem Entwurf von Pinturicchio

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Pinturicchio arbeitete seit 1502 für den gebildeten Kardinal Francesco Todeschini Piccolomini und malte unter seiner kundigen Anleitung die Bibliothek aus, die der Kardinal 1492 für die Handschriften und Bücher seines berühmten Onkels, des Humanisten und Papstes Enea Silvio Piccolomini (Pius II.), an den Dom anbauen ließ. Dieser war ein begeisterter und einflußreicher Kenner der antiken Philosophie und Dichtung, die er für alle Lebenslagen zu empfehlen wußte: „Über die Pflichten lies Cicero und die Briefe des Seneca und von diesem überhaupt alle Werke. […] Wie du mit den Freunden zu verkehren hast und wie du dich im Greisenalter benehmen sollst, lies bei Cicero aus Arpinae. Er handelt auch über die Verachtung des Todes und der Leidenschaften“ – so lauten Piccolominis oft stoisch geprägte Unterweisungen.6 Die antikisierende Konzeption in Pinturicchios „istoria della Fortuna“ und ihr didaktischer Impetus gehen vor allem auf diese weltoffene, liberale und konzentrierte Altertums-Gelehrsamkeit vor Ort und im benachbarten Florenz zurück. Die narrative Grundlage der Fortuna-Darstellung sind denn auch zwei antike Anekdoten, die Diogenes Laertius in den Vitae et sententiae philosophorum erzählt, einem wahrscheinlich aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr. stammenden Kompendium der Philosophiegeschichte. Aus der ersten Anekdote erklärt sich die Handlung der durch eine Schrifttafel als Krates ausgewiesenen Figur: Krates kippt von einem Felsen Geschmeide aus einen Korb ins aufgewühlte Meer. Diogenes Laertius berichtet nämlich, der reiche Krates habe sich einst dazu überreden lassen, sein Landgut zu einer freien Schafweide zu machen und sein Geld in die See zu werfen; seine fortan frei gewählte Armut

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Enea Silvio Piccolomini in einem Brief an Herzog Sigismund von Österreich vom 5. 12. 1443, in: E. S. P.: Briefe und Dichtungen. Aus dem Lateinischen übertragen von Max Mell. München 1966, S. 85 – 104, dort S. 94. Souverän referiert der weltzugewandte Piccolomini zahlreiche antike Autoren auch für sehr profane Ermahnungen: „willst du die Schliche der Kuppler und die Betrügereien der Dienerschaft kennenlernen, um dem allen ausweichen zu können, dann greif zu Plautus und Terenz; willst du erfahren, wie man das Laster niederschmettern muß, halte Horaz […] bereit“ (Ebd., S. 95). Gegen die Liebe empfiehlt er Ovid. Die Strenge der zu seiner Zeit noch dominierenden Scholastik ist ihm hingegen suspekt, und wohl wissend, man werde ihn „heftig deshalb angreifen“, teilt er freimütig mit, daß er „unter die lesenswerten Autoren Thomas von Aquino nicht rechne“ (Ebd.).

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und seine Verachtung des Ruhmes habe er damit begründet, daß er so gegen alle Schicksalsschläge gefeit sei.7 Die zweite Anekdote erläutert die Figurengruppe, die neben der Fortuna am Felsenufer zu sehen ist. Sie wird von Zenon dominiert, der durch seine dynamische Aktivität und den bewegten Faltenwurf seiner Gewandung besonders auffällt. Die demonstrative Haltung seiner Hände – das bereits erwähnte Erkennungszeichen – schreibt Cicero (106 – 43 v. Chr.) dem als Dialektiker und Rhetoriker hervorgetretenen Zenon zu. In De finibus bonorum et malorum berichtet er, daß Zenon zu sagen pflegte, die Rhetorik gleiche der offenen Handfläche und die Dialektik entspreche der geschlossenen Faust, da Rhetoriker in einem ausgebreiteten, Dialektiker hingegen in einem komprimierteren Stil redeten.8 Ausführlicher schildert Cicero im Orator Zenons gestische Veranschaulichung des Unterschieds zwischen Rhetorik und Dialektik: Zenon nämlich, jener, von dem die stoische Lehre ausgeht, pflegte mit der Hand zu demonstrieren, wie sich diese Künste voneinander unterscheiden; denn, indem er die Finger zusammenpreßte und seine Hand zur Faust

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Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berhmter Philosophen. Buch I-X. Aus dem Griechischen übersetzt von Otto Apelt. Unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl neu herausgegeben sowie mit Vorwort, Einleitung und neuen Anmerkungen versehen von Klaus Reich. Hamburg, 2. Aufl. 1967, 6. Buch 5. Kap., Band 1, S. 337 – 342, dort S. 339 f. – Krates, der sich seines Besitzes entledigt, um sich in philosophischer Bedürfnislosigkeit gegenüber den Schlägen des Schicksals unangreifbar zu machen, ist auch eine vorbildliche Figur in den Schriften des Kirchenvaters Hieronymus (um 342 – 419/420). Wiederholt spielt dieser auf die in das sienesische Bodenbild aufgenommene Episode aus dem Leben des Kynikers an und macht sie so kraft seiner Autorität kirchentauglich. In einem „Crates Thebanus“ überschriebenen Abschnitt seiner Adversus Iovinianum libri duo verlebendigt er die Szene sogar durch eine wörtliche Rede des antiken Weisen, die bei Diogenes Laertius nicht zu lesen ist: „Unde et Crates ille Thebanus, projecto in mari non parvo auri pondere, Abite inquit, pessum malae cupiditates: ego vos mergam, ne ipse mergar a vobis“. Patrologia Latina 23: S. Eusebii Hieronymi Stridonis Presbyteri Opera Omnia. Paris 1845. S. 211 – 338, dort S. 298. – „Daher sagt auch der Thebaner Krates, nachdem er eine nicht geringe Menge Goldes ins Meer geworfen hat: Hinab mit euch, ihr schlechten Begierden! Ich versenke euch, damit ich nicht selbst von euch versenkt werde.“ Cicero: De finibus bonorum et malorum 2,6,17: „rhetoricam palmae, dialecticam pugni similem esse dicebat, quod latius loquerentur rhetores, dialectici autem compressius“.

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ballte, sagte er, derart sei die Dialektik; indem er dann losließ und die Hand weit öffnete, bemerkte er, dieser Handfläche gleiche die Redekunst.9

Auch Petrarca verbindet die von Cicero geschilderte gestische Unterweisung mit Zenon und seiner stoischen Lehre von der Redekunst: Degli stoici il padre alzato in suso, per far chiaro suo dir, vidi Zenone mostrar la palma aperta e ’l pugno chiuso.10 Sieh, wie Zenon, der Vater der Stoiker dasteht und, um zu veranschaulichen, was er sagt, die offene Handfläche und die geschlossene Faust zeigt.

Für Pinturicchios humanistisch gebildete Zeitgenossen bestand also kein Zweifel über die Identität der Figur und ihre Gestik.11 Und vielen Betrachtern des Bildes war aufgrund der weiten Verbreitung und großen Beliebtheit der Vitae et sententiae philosophorum auch bekannt, was Diogenes Laertius darin von Zenon erzählt: Dieser verliert bei einem Schiffbruch vor dem athenischen Hafen Piräus eine wertvolle Purpurfracht und damit sein ganzes Vermögen als Kaufmann. Er geht nach Athen hinauf und verweilt bei einem Buchhändler, der gerade in 9 Cicero: Orator 32,113: „Zeno quidem ille, a quo disciplina Stoicorum est, manu demonstrare solebat quid inter has artis [sic] interesset; nam cum compresserat digitos pugnumque fecerat, dialecticam aiebat eius modi esse; cum autem deduxerat et manum dilataverat, palmae illius similem eloquentiam esse dicebat“. Über die topische Geste Zenons berichtet auch der von den Humanisten intensiv rezipierte Quintilian (um 30-um 96), der im Rückgriff auf Cicero eine formalrhetorische Ausbildung als Grundlage einer ethisch-ästhetischen Bildung fordert; er betrachtet die Kunst der Disputation als „virtus“ und unterscheidet zwei Arten der Rede: „altera perpetua, quae rhetorice dicitur, altera concisa, quae dialectice, quas quidem Zeno adeo coniunxit ut hanc conpressae in pugnum manus, illam explicatae diceret similem“ (Institutio Oratoria II, 20) – „die eine entfaltet Zusammenhänge und heißt Rhetorik, die andere ist kurzgefaßt und wird Dialektik genannt. Allerdings hat Zenon sie miteinander verbunden, diese mit der zur Faust geballten Hand, jene mit der offenen vergleichend.“ 10 Francesco Petrarca: Trionfo della Fame III, 115 – 117, in: F. P.: Opere italiane. Edizione diretta da Marco Santagata. Trionfi, Rime estravaganti, Codice degli abbozzi. A cura di Vinicio Pacca e Laura Paolino. Milano 1996, S. 468. Kommentar S. 469 – 470: Darin auch die Hinweise auf Cicero und den 1350 von Petrarca teilweise, 1416 von Poggio Bracciolini dann ganz wiederentdeckten Quintilian (Anm. 8 und 9). 11 Zur Identifizierung der Bildfigur anhand der dargestellten Geste vgl. Marilena Caciorgna: La navata centrale, in: Caciorgna/Guerrini: Il pavimento (wie Anm. 2), S. 53 – 91, dort S. 78.

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Xenophons Memorabilia über vorbildliche Persönlichkeiten liest. Insbesondere von Sokrates beeindruckt, erkundigt sich Zenon, wo denn derartige Menschen zu finden seien. Zufällig geht Krates vorüber, und der Buchhändler rät ihm, sich diesem anzuschließen. – Die hervorragende Bedeutung des Sokrates in den von Diogenes eigens erwähnten Memorabilia und der Umstand, daß Zenon aufgrund seiner SokratesBegeisterung auf Krates verwiesen wird, erklären, warum Pinturicchio Sokrates und Krates auf einer Ebene darstellt, obwohl sie Generationen voneinander entfernt lebten. – Fortan ist Zenon ein Schüler des Krates, auch wenn er dessen Kynismus nicht teilt. Er begründet schließlich (um 300 v. Chr.) eine eigene Philosophenschule, die bekanntlich nach ihrem Treffpunkt in einer Athener Säulenhalle ,Stoa‘ genannt wurde; nach dem Bericht des Diogenes Laertius debattierte man hier vor allem über Rhetorik und Dialektik, aber auch über die stoischen Grundthemen: die Überwindung der Affekte und das naturgemäße Leben. Zwanzig Jahre nach dem Unglück, das den damals dreißigjährigen Kaufmann zum Philosophen machte, soll Zenon zufrieden bekannt haben: „Das ist doch eine glückliche Fahrt gewesen, als ich Schiffbruch litt“.12 Diese Anekdoten über zwei beliebte Figuren aus den Anfängen der Stoa organisiert Pinturicchio zu einer stoizistisch-humanistischen Bildargumentation: Rechts unten in der quadratischen Fläche inszeniert er eine Fortuna, die sich des schweren Ornats der spätmittelalterlichen, in den Heilsplan des allmächtigen Christengottes eingepaßten Fortunen entledigt hat und in antiker Nacktheit erscheint. Anmutig und kraftvoll hebt sie mit der einen Hand ein geblähtes Segel, während sie in der anderen ein zierliches Füllhorn hält, zusammen mit einem Segelzipfel, 12 Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berhmter Philosophen (wie Anm. 7). Die hier referierte Anekdote steht zu Anfang des ausführlichen Zenonkapitels im 7. Buch, 1. Kap., Appelt Band 2, S. 7 – 81, dort S. 8 f. – Der Schiffbruch und Zenons stoische Haltung gehören bereits zu Senecas Argumentations-Exempla: „Nuntiato naufragio Zenon noster, cum omnia sua audiret submersa: ,Iubet‘ inquit ,me fortuna expeditius philosophari.‘“ (De tranquillitate animi 14,3) – „Als unser Zenon vom Schiffbruch erfuhr und hörte, daß sein ganzes Vermögen untergegangen sei, rief er: ,Fortuna befiehlt mir, mich unabhängiger der Philosophie zu widmen‘“ – Marilena Caciorgna weist darauf hin, daß zur Zeit der Konzeption des Sieneser Zenon-Bildes das Werk des Diogenes Laertius in einer 1442 erschienenen lateinischen Übersetzung von Ambrogio Traversari rezipiert wurde. Caciorgna bildet die Seite eines sienesischen Exemplars dieser Ausgabe ab, auf der ein Kommentator die einschlägige Textstelle emphatisch mit der Randbemerkung „Naufragium felix“ hervorhebt. M. C.: La navata centrale, in: Caciorgna/Guerrini: Il pavimento (wie Anm. 2), S. 76 f.

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der nur knapp ihre Scham verhüllt. Sie hat den Kopf mit dem geschmückten und üppig wehenden Haar leicht geneigt, die Augen träumerisch-nachdenklich gesenkt. Ihr Blick ist nicht mehr der unbeteiligte oder gar verhüllte der vielen majestätisch-statuarischen FortunaFrauen, die als Dienerinnen Gottes in die Speichen ihres Rades greifen und in fortwährendem Kreislauf ungerührt Könige stürzen und Bettler emporheben.13 Pinturicchio gab seiner Göttin des Glücks ihre antike Aura und ihre verführerische Macht wieder. Als größte Bildfigur, die zudem besonders klar umrissen und hell vom dunklen Meereshintergrund abgehoben ist, zieht sie selbst in ihrer Position am Rande des Bildes den Blick auf sich und weckt Venus-Assoziationen14 und Voluptas-Gedanken – oder zumindest ein Staunen darüber, daß die ,Ungehörige‘ trotz der vehementen Ablehnung durch die Kirchenväter einen prominenten Platz im sakralen Raum findet.15 Allerdings hob Pinturicchio zugleich sinnfällig ihre bedrohliche Unbeständigkeit hervor, und zwar mit radikalisierten Symbolen der stoischen Metaphorik: So balanciert Fortuna mit dem einen Bein auf einer Kugel knapp am Uferrand, mit dem anderen auf dem Bugbrett eines in unruhigem 13 In der Divina Commedia erläutert Vergil auf Dantes Bitte die Rolle der Fortuna. Seine schon von den frühesten Dante-Lesern (z. B. von Boccaccio. Vgl. MeyerLandruth: Fortuna [wie Anm. 5], S. 81) diskutierte Antwort folgt noch dem widersprüchlichen christlichen Verständnis der Fortuna als Geschöpf Gottes, das streng in dessen Dienst steht und doch auch willkürlich sein darf: „Similemente agli splendor mondani / Ordinò general ministra e duce / Che permutasse a tempo li ben vani / Di gente in gente e d’uno in altro sangue, / Oltre la difension dei senni umani; / […] / Vostro saper non ha contrasto a lei: / Questa provede, giudica, e persegue / Suo regno come il loro gli altri dei. / Le sue permutazion non hanno triegue: / Necessità la fa esser veloce / […] / Con l’altre prime creature lieta / Volve sua spera e beata si gode“ (Inf. VII, 77 – 96) – „So bestimmte er auch für die Kostbarkeiten der Welt eine Dienerin, eine Verwalterin, die sie ordne und führe, damit beizeiten die eitlen Güter von Volk zu Volk, von Haus zu Haus wechseln, unbekümmert um das, was die Menschen im Sinn haben. […] Eure Weisheit kann sie nicht hindern. Sie sorgt, richtet und agiert in ihrem Reich wie die anderen Engel in dem ihren. [Dantes Vergil nennt diese antikisierend „dei“!]. Und ihre Wechsel kennen keinen Stillstand. Notwendigkeit macht sie schnell; […] Froh mit den anderen Ersterschaffenen, / Dreht sie ihr Rad und erfreut sich der Seligkeit.“ 14 Etwa zwei Jahrzehnte zuvor hatte Sandro Botticelli in seiner berühmten Florentiner Geburt der Venus (Galleria degli Uffizi) ein der Antike nachempfundenes nacktes Vorbild gemalt. 15 Augustinus beispielsweise verteufelt die Fortuna als „malignum daemon“ und verbannt sie aus seiner Theologie (De civitate Dei libri XXII, 4,18).

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Wasser schwankenden Bootes. Überdies muß sie sich gegen einen Sturm stemmen, der ihr entgegenweht und in das vom abgebrochenen Mastbaum gelöste Segel fährt. Der Maler folgt mit seiner Fortuna-Figur einem ikonographischen Typus, den der Florentiner Humanist Coluccio Salutati (1331 – 1406) in seiner Abhandlung De fato et fortuna erläutert und positiv bewertet hatte: „si gentiles finxerunt fortune simulacrum cum copia et gubernaculo, tanquam opes tribuat et humanarum rerum obtineat regimen, non multum a vero discesserunt“16 – „Wenn die Heiden Bilder der Fortuna mit einem Füllhorn und einem Steuerruder schufen, womit sie gleichsam Reichtümer verteilt und die Herrschaft über menschliche Schicksale innehat, wichen sie nicht weit von der Wahrheit ab“. In dieser grundlegenden Abhandlung, die in einer modernen Ausgabe rund zweihundert Seiten füllt, antwortet Salutati auf die leitende Frage nach der Rolle der Glücksgöttin im Spannungsfeld von göttlicher Providenz und menschlicher Willensfreiheit, indem er einen differenzierten und zitatreichen Überblick über die Fortuna-Deutungen seit der frühen Antike gibt: vom „divinissimus Trismegistus“17 über Cicero und Seneca, den „latinorum stoicorum princeps“18, bis hin zu Dante und Petrarca. Das ein Jahrhundert später von Pinturicchio in Siena aufgegriffene antike Modell der Fortuna-Darstellung, das lange Zeit von den Christen verdrängt worden war, hatte Salutati in seinem Werk erneut anerkannt, indem er seine Feststellung „non multum a vero discesserunt“ genauso auf die heidnischen Fortuna-Künstler des Altertums wie auf seine eigenen Zeit- und Glaubensgenossen bezog, wenn diese eine bodenständige Fortuna und ihr Schicksalsrad als Lebensbild präsentierten: „cum nostri figurant […] fortunam quasi reginam aliquam, manibus rotam mira vertigine provolventem“19 – „wenn die Unsrigen die Fortuna als eine Königin darstellen, die mit den Händen in schwindelerregendem Kreisen ein Rad dreht“. Wie eine konservative Antithese zu Pinturicchios kühnem und literarisch anspielungsreichem Bild der antiken Göttin könnte man die im 19. Jahrhundert ins anschließende Jochfeld eingepaßte Intarsie lesen: Ein christlich traditionelles Fortuna-Rad mit den daran fixierten alt16 Coluccio Salutati: De fato et fortuna, hg. von Concetta Bianca. Firenze 1985, S. 190 (III, 11). 17 Ebd., S. 25 (II,2). 18 Ebd., S. 24 (II,2). 19 Ebd., S. 190 (III,11).

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bekannten Figuren: die eine als König regierend, die anderen stürzend, elend am Tiefpunkt angelangt und wieder emporsteigend.20 Inwieweit diese Darstellung auf ihre motivgleiche Vorgängerin aus dem späten 14. Jahrhundert zurückgreift, ist nicht genau bekannt.21 Aus dem humanistischen Erbe sind vier antike Autoritäten abgebildet, deren Brustporträts die Bildecken schmücken: Epiktet, Aristoteles, Euripides und Seneca. Sie befinden sich außerhalb der Rotation des Rades und demonstrieren auf Textbändern ihre Warnung vor Fortuna, deren Abbild als Person nun wieder im Sinne der Kirchenväter ausgespart ist. Seneca wird mit seinem Diktum aus der Schrift Ad Polybium de consolatione (Dial. 11, 6, 4) zitiert: magna servitus est magna / fortuna – „Große Gunst der Fortuna bedeutet große Knechtschaft“. Gegenüber der lebendig ausgestalteten stoischen Bildrhetorik Pinturicchios wird hier nur ein bieder verkümmerter Spruchbandstoizismus vorgeführt. Wie Pinturicchios Darstellung der antiken Fortuna mit den Topoi der Seefahrt und des Schiffbruchs nicht nur auf die Vorgeschichte der zentralen Bildszene verweist, sondern zugleich ein stoisches Lebensbild evoziert, ist auch die im Bildduktus daran anschließende Zenon-Episode weit mehr als eine anekdotenhafte Erzählung aus der Frühzeit der Stoa. Sie ist geprägt von einer Antithetik, die auch ihr eine stoischallegorische Funktion unterlegt. Im Unterschied zu der übrigen, eher lockeren Figurenanordnung gestaltet Pinturricchio hier eine Gruppe nachdenklicher Beobachter, vor denen zwei gegensätzliche Protagonisten auf engem Raum positioniert sind. Der eine, ein älterer bärtiger Mann, sitzt mit dem Rücken zur Fortuna am Ufer und hält ein geschlossenes Buch unter dem Arm. Seine Darstellung folgt dem geläufigen Typus des gedankenschwer vor sich hin sinnenden Melancholikers. Seine in sich gekehrte Gelehrsamkeit scheint ihn inmitten der Gesellschaft passiv und einsam zu machen. Die Blicke der Umstehenden gehen über ihn hinweg. Diese Bildfigur vergegenwärtigt zusammen mit ihrer Gegenfigur ein Grundproblem der Stoiker: den prekären Zusammenhang der vita contemplativa und der vita activa. Letztere wird in Zenon repräsentiert: In resolutem Kontrapost faßt er rückblickend die 20 Als derartige Fortuna-Räder wurden – vor allem an Kirchenbauten des 13. Jahrhunderts – auch die Rosetten-Fenster gestaltet. Ein prominentes Beispiel ist die große Rosette über dem Hauptportal von San Zeno in Verona. Abgebildet in: Meyer-Landrut: Fortuna (wie Anm. 5), S. 43. 21 Dazu Marilena Caciorgna: La navata centrale, in: Caciorgna/Guerrini: Il pavimento (wie Anm. 2), S. 82.

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Welt der Fortuna ins Auge und drängt zugleich konsequent von ihr hinweg. An ihm manifestieren sich gegensätzliche Kräfte: Fortuna wirkt ungebrochen als Versuchung und Gefahr; sie erscheint nicht depotenziert wie ,Frau Welt‘, jene mittelalterliche Verführerin, deren von Getier und Fäulnis zerfressener Rücken an vielen gotischen Skulpturen zur Warnung dienen soll. Pinturicchios Fortuna bleibt in ihrer erotischeleganten Körperlichkeit unversehrt; Zenon bewegt sich kraftvoll aus ihrem Bann und wehrt sie mit seiner wohlbekannten Geste ab: auf der einen Seite mit der offenen Hand, auf der anderen mit geballter Faust. Offensichtlich versteht er sich auf damit zugleich ausgedrückte Rhetorik und Dialektik, deren ausführliche Reflexion und Unterscheidung Diogenes Laertius dem historischen Zenon zuschreibt und die auch vom humanistischen Stoizismus als grundlegende soziale Kompetenzen angesehen wurden. Pinturicchio inszeniert denn auch ihren Erfolg: Die jungen Leute scharen sich hinter Zenon, der reflektierte Erfahrung und Handlungsbereitschaft verbindet. Einer der jungen Männer aus Zenons Zuhörerschaft fällt durch einen schwarzen Kopfschal auf, der kompositorisch mit dem Schwarz in der Kappe und dem Kragen des alten, melancholischen Buchgelehrten korrespondiert. Dessen Schwermut spiegelt sich im Ausdruck des jungen Mannes wider und könnte ihn gefährden, wenn er nicht auch schon hinter dem in bestem Mannesalter resolut agierenden Zenon stünde. So zeichnet Pinturicchio in dieser Dreierkonstellation auch einen Reflex der herkömmlichen Bilder der Lebensalter in die Psychologie seines Gruppenbildes ein, das die Spannung zwischen kontemplativer und aktiver Existenz reflektiert und zwischen diesen beiden Lebensformen vermittelt. Während Zenon noch mit ausdrucksvoller Geste sein junges Publikum auf den Weg von der Welt der Fortuna zur Sphäre der Sapientia weist, schreiten zwei weitere Bildfiguren reiferen Alters bereits entschlossen und unbeirrt auf dem steinigen und von Schlangen belauerten Bergpfad nahe am Abgrund voran. Ihr mühsamer Aufstieg zum Gipfel der Sapientia erinnert an die stoische Musterfabel von Herkules am Scheideweg, die ebenfalls eine Absage an die im Fortuna-Bild verkörperte Voluptas und eine Entscheidung für Tugend und Weisheit darstellt. Die Stoiker sprechen immer wieder von den „Voranschreitenden“, den „procedentes“, die unterwegs sind zur Vollendung. Pinturicchio, der diese Vorstellung aufnimmt, differenziert seine WandererFiguren: Die eine bedarf noch eines Stabes und bewegt sich anscheinend erst zaghaft voran; die andere geht frei, mit energischem Schritt

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und emporgerichtetem Blick ihrem Ziel entgegen. Auch Assoziationen mit Dantes (1265 – 1321) gestuftem Läuterungsberg werden durch Pinturicchios Szenerie wachgerufen. Während jedoch auf Dantes Purgatorio-Gipfel die Unschuld des Gartens Eden wieder erreicht ist und der Weg der Läuterung weiter ins himmlische Paradies und schließlich mit Maria vor Gott führt, mündet er in Pinturicchios Bild stoizistisch säkularisiert auf einem Felsplateau, auf dem Sapientia zwischen Krates und Sokrates thront. Über ihrem nachdenklich geneigten Haupt stellt eine Tafel ,Ruhe‘ in Aussicht: „Quies“ – ein anderes Wort für die von allen Stoikern angestrebte tranquillitas animi. Die kirchenübliche Perspektive einer Ruhe der Seele in Gott bleibt hier erstaunlicherweise ausgespart. Die Fortuna-Allegorie wird durch eine vertikale Lücke von der zentralen Zenon-Geschichte und ihrer ,erzählten Zeit‘ abgesetzt. Eine horizontale Zäsur hebt das allegorische Tableau des Sapientia-Throns aus der Bildgeschichte heraus. Dadurch erscheint auch dieses der Zeit entrückt – genauso wie durch die anachronistische Anwesenheit des Sokrates. Allerdings verbindet die beiden zeitlosen Sphären von Fortuna und Sapientia ein dynamisch hervorgehobener Linienduktus des insgesamt sehr rhythmisch angelegten Bildes: Die in der Krates-Figur ausschwingende Horizontal-Anordnung der Weisheitsallegorie trifft auf die Vertikale der Fortuna. Die Leuchtkraft des niederfallenden Geschmeides macht die Faszination von Gold und Edelstein sinnfällig, die mit dem Schmuck im Füllhorn und im Haar Fortunas korrespondieren. Weil aber Krates sich aus dieser Sphäre materieller Güter und sinnlicher Verlockungen durch energisches Handeln befreit, erhält er aus der Hand der Sapientia ein Buch – die Einführung in die Weisheit. Antithetisch sind die zentralen Zeichen der Allegorie: der sichere Fels und das gefährliche Meer, Stille und Sturm, der feste Sitz auf kubischem Thron und der unsichere Stand auf einer Kugel. Antithetisch ist vor allem die Figurenkonstellation, mit der die Stoiker gegen das Glück der Welt und für die stoische Weisheit plädieren: einerseits die wetterwendische Fortuna, andererseits Sapientia, die bei allen Schicksalsschlägen ein Hort der Stabilität bleibt. Im Sinne dieser Argumentation hat Pinturicchio auch Sokrates ins Bild eingefügt.22 Sapientia reicht 22 Marilena Caciorgna erwägt einen in der humanistischen Welt Sienas nicht unwahrscheinlichen Bezug von Pinturicchios topischer Figurenkonstellation Sokrates-Sapientia-Fortuna zu dem zwischen 1475 und 1476 gedruckten Somnium de Fortuna des Enea Silvio Piccolomini. In diesem von der zeitge-

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ihm einen Palmzweig; sein Buch trägt er geschlossen in der Hand: Die philosophische Lektüre, welche Sapientia dem Krates eröffnet, hat er bereits in einer höheren Lebensweisheit aufgehoben. Oberhalb der personifizierten Weisheit und zwischen den Namen der in unterschiedlichen Stadien der Vervollkommnung dargestellten Philosophen faßt ein Distichon die Bildbotschaft in Worte: huc proporate viri / salebrosum scandite / montem / pulchra laboris erunt / premia palma quies – „Eilt her, ihr Menschen, besteigt den beschwerlichen Berg. Der Lohn der Mühe wird rühmlich sein: die Palme der Ruhe“. In Pinturicchios stoizistischer Intarsie ist dies die Palme der Gemütsruhe und des Seelenfriedens, in der christlichen Ikonographie hingegen stellt ein Palmzweig die Auszeichnung der Heiligen dar, er ist ein Signum ihres Sieges über die Welt und ihrer Ruhe in Gott. Aus dieser symbolischen Koinzidenz ergeben sich synkretistische Bezüge zwischen dem philosophischen Dulder Sokrates und den christlichen Märtyrern. Zwischen den stoizistischen Allegorien der Fortuna und der Sapientia entfaltet Pinturicchios Bilderzählung zwei stoische Urszenen: die Abkehr des Krates von den Reichtümern der Welt zugunsten der Bedürfnislosigkeit einer philosophischen Existenz und den Schiffbruch seines Schülers Zenon, der sein Mißgeschick – nach Diogenes Laertius freilich erst zwanzig Jahre später – zum „Naufragium felix“ erklärt. Glücklich ist der Schiffbruch im Sinne der Stoa, weil er den Anstoß gibt, den Weg zur Weisheit zu beschreiten. Insgesamt fügt sich das stoische Wegbild in den schließlich strikt biblischen Bildweg zum Altar ein. In diesem Kontext bezieht es aus seinen Analogien zur christlichen Vorstellung vom homo viator und zur religiösen Weltentsagung die Lizenz, im Raum der Kirche allegorisch und mit antikischer Fabulierfreude auch ,reine‘ Stoa zu propagieren.

nössischen Fortuna-Debatte geprägten fiktiven Traum findet Piccolomini über dem Eingang zum Palast der Fortuna die Warnung: „Paucos admitto, servo pauciores“ – „Nur wenige lasse ich ein, noch weniger sind die, denen ich diene“. In deutlicher Empörung über die Ungerechtigkeit der Fortuna fragt er rhetorisch seinen Begleiter: „Scis quam bonus fuerit Socrates? Numquam illi [Fortuna] arrisit“ – „Weißt du wie rechtschaffen Sokrates war? Fortuna ist ihm nie hold gewesen“. Zitiert in Marilena Caciorgna: La navata centrale, in: Caciorgna/Guerrini: Il pavimento (wie Anm. 2), S. 71.

„Nihil enim huius praeceptis sanctius“ Das Seneca-Bild des Erasmus von Rotterdam von Peter Walter Seneca war, wie der alte Erasmus sich erinnert, so etwas wie seine erste Liebe. Er gesteht, daß er, während er diesen bereits als Kind gelesen habe, eine ausdauernde Lektüre Ciceros erst als Zwanzigjähriger ertragen habe.1 Wenn Erasmus „Seneca“ sagt, dann meint er damit denjenigen Autor des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, den Nero in den Selbstmord trieb, den Philosophen L. Annaeus Seneca (1 v. Chr.–65 n. Chr.). Ihm hat er auch die Werke seines gleichnamigen Vaters, des Rhetors L. Annaeus Seneca (um 55 v. Chr.–40 n. Chr.), zugeschrieben. Den Tragödiendichter Seneca, der heute mit dem Philosophen identifiziert wird, hat er dagegen für eine eigene Person gehalten.2 Auch die niederländischen Humanisten Rudolf Agricola (1444 – 1485), der zu Teilen der Declamationes des älteren Seneca einen Kommentar geschrieben hat, und Alard von Amsterdam (1491 – 1544), der diesen 1539 1

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„Mihi puero minus arridebat Cicero quam Seneca; iamque natus eram annos viginti, priusquam ferrem diutinam eius lectionem, cum caeteri paene omnes placerent“ (Erasmus: Epistola 1390 [Vorwort zur Edition von Cicero: Tusculanae disputationes von 1523], in: Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, ed. Percy Stafford Allen et alii, 11 Bde, Oxford 1906 – 1958 (künftig: Allen), Bd. 5, S. 340, Z. 103 – 106). „Nam tragoediae quae probantur a doctis, uix uidentur a Seneca scribi potuisse“ (Desiderio Erasmo da Rotterdam: Il Ciceroniano o dello stile migliore, ed. Angiolo Gambaro, Brescia 1965, S. 198, Z. 2824 f.; Desiderii Erasmi Roterodami dialogus, cui titulus Ciceronianus, siue, de optimo dicendi genere, ed. Pierre Mesnard, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, Amsterdam u. a. 1969 ff. (künftig: ASD), Bd. 1/2, S. 657, Z. 24 f.). Im Vorwort zur Neuauflage seiner Seneca-Edition (s. u.) schreibt Erasmus: „Nam Tragoediarum opus eruditi quidam malunt Senecae filio tribuere quam huic; sunt qui fratri Senecae adscribant“ (Erasmus: Epist. 2091; Allen, Bd. 8; S. 37, Z. 350 ff.). Der späte Erasmus läßt jedenfalls Zweifel an der Identität des Tragödiendichters durchblicken: „[…] Seneca, quisquis is fuit […]“ (Erasmus: Epist. 2773; Allen, Bd. 10, S. 167, Z. 65. Aus dem Kontext ergibt sich, daß es nicht, wie Allen z. St. annimmt, um eine unter Senecas Namen laufende mittelalterliche Sentenzensammlung geht, sondern um den Tragödiendichter).

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zum Druck beförderte, waren derselben Meinung.3 Die zweifelsfreie Zuschreibung des rhetorischen Werkes an den älteren Seneca erfolgte erste im 16. Jahrhundert und ist keineswegs, wie immer wieder zu lesen ist,4 die Leistung des Philologen Raffaele Maffei da Volterra (1451 – 1522). Vielmehr haben der Jurist Andrea Alciati (1492 – 1550), der Humanist Justus Lipsius (1547 – 1606) und der Philologe Andreas Schott SJ (1552 – 1629) mit historischen und stilistischen Argumenten die heute allgemein akzeptierte Scheidung der Werke von Vater und Sohn vorgenommen. Die zweifelsfreie Zuschreibung der Tragödien, die noch Lipsius einem von dem Philosophen zu trennenden Tragödiendichter dieses Namens zuwies, an jenen gelang erst dem Jesuiten Martín Antonio Delrío (1551 – 1608), dessen philologische Arbeiten wegen seiner Verteidigung der Hexenprozesse aber wohl nicht die verdiente Aufmerksamkeit fanden, und dem Latinisten Johannes Isaac Pontanus (1571 – 1639).5 Allerdings hat Erasmus klar die Unechtheit des Briefwechsels zwischen Seneca und Paulus erkannt und mit noch heute anerkannten Kriterien in die Abteilung der unechten Werke seiner Edition verwiesen.6 Dort finden sich weitere Schriften, die während des Mittelalters als echte Werke Senecas gelesen wurden und seine Beliebtheit als Schulautor gewährleisteten. Wenn im Folgenden von Seneca die Rede ist, dann steht dieser Name, wenn nicht ausdrücklich 3

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Vgl. Rodolphi Agricolae Phrisii Lucubrationes aliquot, ed. Alardus Aemstelredamus, Köln: Johannes Gymnicus 1539, Nachdruck Nieuwkoop 1967, S. 96. Für alle in diesem Beitrag begegnenden Zeitgenossen des Erasmus sei verwiesen auf: Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation, hg. von Peter G. Bietenholz – Thomas B. Deutscher, 3 Bde, Toronto – Buffalo – London 1986. Vgl. Paulys Realencyclopdie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung begonnen von Georg Wissowa 2, 1894, Sp. 2239; Der Kleine Pauly 5, 1975, Sp. 109 f. Vgl. Marc van der Poel, De scheiding der twee Seneca’s: een historische analyse, in: Lampas 17, 1984, S. 254 – 270; Peter Walter, Senecabild und Senecarezeption vom spten Mittelalter bis in die frhe Neuzeit, in: Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. Zusammen mit dem Brief des Mordechai an Alexander und dem Brief des Annaeus Seneca ber Hochmut und Gçtterbilder eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Alfons Fürst, Therese Fuhrer, Folker Siegert und Peter Walter, Tübingen 2006, S. 126 – 146, hier S. 127 – 129 (SAPERE 11). Vgl. Agostino Sottili, Albertino Mussato, Erasmo, l’Epistolario di Seneca con San Paolo, in: Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien fr Paul Gerhard Schmitt, hg. v. Andreas Bihrer – Elisabeth Stein, München – Leipzig 2004, S. 647 – 678; Vgl. jetzt besonders Alfons Fürst u. a. (wie Anm. 5).

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anderes gesagt wird, im Sinne des Erasmus für Seneca Vater und Sohn, wobei die Tragödien mehr oder weniger unberücksichtigt bleiben.

Erasmus als Editor Senecas Erasmus hat keineswegs die Editio princeps der Werke Senecas vorgelegt. Dieses Verdienst kommt der 1475 in Neapel erschienenen, von dem aus Böhmen stammenden und in Italien wirkenden Frühdrucker Matthias Moravus († nach 1492) und dem katalanischen Zisterzienser Blasius Romero († nach 1476) veranstalteten Ausgabe zu, die Echtes und Unechtes, die rhetorischen Werke des älteren und die philosophischen des jüngeren Seneca enthält,7 aber nicht die Tragödien, welche 1484 in Ferrara erstmals gedruckt wurden.8 Zwar erlebte die Editio princeps der rhetorischen und philosophischen Werke Senecas im 15. Jahrhundert einige Nachdrucke, das lesende Publikum aber scheint, wenn man von der Auflagenzahl auf das Leseinteresse schließen darf, die pseudepigraphischen Schriften den echten weit vorgezogen zu haben.9 Was die editorischen Bemühungen des Erasmus angeht, der erstmals Echtes von Unechtem schied, hat Winfried Trillitzsch das wesentliche zusammengefaßt.10 Den Anfang machte Erasmus 1514, als er bei Dirk Martens († 1534) in Löwen eine bis dahin unter dem Namen Senecas laufende Proverbien-Sammlung zwar drucken ließ, aber zugleich anmerkte, daß nicht Seneca der Autor sei, sondern der Mime Publi[li]us Syrus.11 Im selben Jahr wirkte Erasmus an einer von Josse Bade (1461/ 62 – 1535) in Paris veranstalteten Ausgabe der Tragödien Senecas mit.12 7 Vgl. Miroslav Flodr, Incunabula classicorum. Wiegendrucke der griechischen und rçmischen Literatur, Amsterdam 1973, S. 274 – 283, hier S. 274; Mariano Fava – Giovanni Bresciano, La stampa a Napoli nel XV secolo, 3 Bde, Leipzig 1911 – 1913, Bd. 1, S. 59 – 63; Bd. 2, S. 94 f. (Sammlung bibliotheksgeschichtlicher Arbeiten 32 – 34). 8 Vgl. Miroslav Flodr (wie Anm. 7), S. 282. 9 Vgl. Peter Walter (wie Anm. 5), S. 132 f. 10 Winfried Trillitzsch, Seneca im literarischen Urteil der Antike. Darstellung und Sammlung der Zeugnisse, 2 Bde, Amsterdam 1971, Bd. 1, S. 221 – 250 sowie die Testimonien in Bd. 2, S. 420 – 443. 11 Vgl. Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 235 f. mit Berufung auf Erasmus: Epist. 298 (Allen, Bd. 2, S. 2). Zu Publilius Syrus (1. Jh. v. Chr.) vgl. Lore Benz, s. v., in: Der Neue Pauly 10, 2001, Sp. 582 f. 12 Vgl. Erasmus: Epist. 1 (Allen, Bd. 1, S. 13, Z. 10 f.); Epist. 263 (Allen, Bd. 1, S. 515, Z. 12 – 17).

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Im Jahr darauf erschien bei seinem bevorzugten Drucker Johannes Froben (um 1460 – 1527) in Basel die erste von Erasmus vorbereitete Gesamtausgabe der Werke des Rhetors und des Philosophen Seneca. Um die Arbeitsleistung des Humanisten richtig einzuschätzen, mag es angebracht sein, daran zu erinnern, daß er gleichzeitig an seiner bahnbrechenden Edition des griechischen Neuen Testamentes samt neuer lateinischer Übersetzung und an seiner Ausgabe der Hieronymusbriefe arbeitete, die beide 1516 erschienen.13 Der Titel der Seneca-Edition nennt nicht nur den Namen des Autors, das Werk und den Herausgeber, sondern zeichnet ersteren durch das Epitheton „sanctissimus philosophus“ aus und empfiehlt den Lesern die Lektüre zu dem doppelten Zweck, ihren lateinischen Stil und ihr Leben zu verbessern.14 Die Ausgabe enthielt auch die Apocolocyntosis, die Beatus Rhenanus (1485 – 1547) im selben Jahr mit Scholien versehen bei Froben separat herausgebracht hatte.15 Die für unecht gehaltenen Werke nahm Erasmus zwar auf, u. a. den berühmten Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, stellte sie aber an den Schluß.16 Die Ausgabe basiert in der Hauptsache auf zwei Manuskripten, die Erasmus während seines vorangegangenen langen Englandaufenthaltes (1509 – 1514) benutzt und 13 Vgl. dazu Peter Walter, Theologie aus dem Geist der Rhetorik. Zur Schriftauslegung des Erasmus von Rotterdam, Mainz 1991, S. 121 – 130.150 f. (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 1). 14 Lucij Annaei Senecae sanctissimi philosophi lucubrationes omnes, additis etiam nonnullis, Erasmi Roterodami cura, si non ab omnibus, certe ab innumeris mendis repurgatae. In his euoluendis si diligenter uersaberis, et linguam tuam reddent expolitiorem, et uitam emendatiorem, Basel: Johannes Froben 1515. Widmungsbrief an den Bischof von Durham und Sekretär des englischen Königs, Thomas Ruthall († 1523): Erasmus: Epist. 325; Allen, Bd. 2, S. 51 – 54. Vgl. Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 224 – 229. 15 Vgl. John F. D’Amico, Theory and Practice in Renaissance Textual Criticism. Beatus Rhenanus between Conjecture and History, Berkeley – Los Angeles – London 1988, S. 54. 111 f.; Jean-Marie André, Beatus Rhenanus et l’Apoloquintose de Snque, in: Beatus Rhenanus (1485 – 1547) lecteur et diteur des textes anciens. Actes du Colloque International tenu  Strasbourg et  Slestat du 13 au 15 novembre 1998. Colloque organis par FranÅois Heim et James Hirstein. Actes éd. par James Hirstein, Turnhout 2000, S. 83 – 97. 16 „Haec licet erudita, tamen, ut a Senecae stilo abhorrentia, semouimus“ (Lucij Annaei Senecae […] lucubrationes omnes [wie Anm. 2], S. 2). In der zweiten Auflage wird er die Unechtheit ausführlicher begründen. Vgl. dazu neben der Widmungsvorrede zu den Opera Senecae insgesamt (Erasmus: Epist. 2091; Allen, Bd. 8, S. 25 – 39) die kurzen Einleitungen zu den als unecht eingeschätzten Werken: Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 438 – 441.

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deren Kollationierung ihm viele Mühe bereitet hat. Die Drucklegung stand unter keinem guten Stern, da Erasmus, wie er später bedauerte, anderen überließ, was er selber hätte tun sollen. Vor allem der Korrektor Wilhelm Nesen (1493 – 1524), der das Handexemplar des Erasmus verschwinden ließ, scheint völlig überfordert gewesen zu sein.17 Die Gesamt-Ausgabe von 1515 wurde zwar im allgemeinen begrüßt, genügte den Ansprüchen ihres Herausgebers auf die Dauer jedoch nicht, der zehn Jahre später mit den Vorarbeiten für eine zweite, verbesserte Ausgabe begann. Er ließ nicht nur die englischen Handschriften erneut vergleichen, sondern zog auch eine Reihe weiterer heran, nicht zuletzt die handschriftlichen Notizen, mit denen Rudolph Agricola die in seinem Besitz befindliche, 1478 in Treviso gedruckte, Seneca-Ausgabe versehen hatte.18 Außerdem nahm er die von dem ungarischen Humanisten Matthaeus Fortunatus († 1528) 1522 in Venedig publizierte Edition der Naturales quaestiones auf und ersetzte damit seine eigene Edition in der Erstauflage. Auf dem Titelblatt der im Frühjahr 1529 wiederum bei Froben erschienenen Ausgabe brachte Erasmus ebenso seine aufgewandten Mühen wie das stolze Ergebnis zur Sprache: L. Annei [sic] Senecae opera, et ad dicendi facultatem, et ad bene uiuendum utilissima, per Des. Erasmum Roterod. ex fide ueterum codicum, tum ex probatis autoribus, postremo sagaci non numquam diuinatione, sic emendata, ut merito priorem aeditionem, ipso absente peractam, nolit haberi pro sua. 19 Die Ausgabe unterscheidet drei Gruppen von Seneca-Schriften: 1. echte, 2. unechte und 3. verlorene. Unter den echten Schriften bringt Erasmus auch die Controversiae und Suasoriae des Rhetors Seneca, unter den unechten u. a. die Abhandlung De quattuor uirtutibus des Martin von Braga († 580) sowie den pseudepigraphischen Briefwechsel mit Paulus 17 Vgl. hierzu und zum Folgenden Erasmus: Epist. 1479; Allen, Bd. 5, S. 517, Z. 86–S. 518, Z. 95 sowie Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 226 – 228. 18 Auch diese Ausgabe, ein Nachdruck der Editio princeps Neapel 1475 (vgl. bei Anm. 7), vereinigte Werke des älteren und des jüngeren Seneca. Vgl. Dennis E. Rhodes, La stampa a Treviso nel secolo XV, Treviso 1983, S. 53 (Quaderni di studi trevisani 1). Vgl. auch Joseph M. M. Hermans, Rudolph Agricola and his Books, with some Remarks on the Scriptorium of Selwerd, in: Fokke Akkerman – Arie J. Vanderjagt (Hg.), Rodolphus Agricola Phrisius (1444 – 1485). Proceedings of the International Conference at the University of Groningen 28 – 30 October 1985, Leiden u. a. 1988, S. 123 – 135 hier S. 130 f. (Brill’s Studies in Intellectual History 6). 19 Widmungsbrief an den Bischof von Krakau und polnischen Kanzler Piotr Tomicki (1464 – 1535): Erasmus: Epist. 2091; Allen, Bd. 8, S. 25 – 39. Vgl. Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 229 – 234.

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und die Sententiae, deren Unechtheit er jeweils begründet.20 Besonders stolz war Erasmus auf die „sagax diuinatio“, den Scharfsinn, den er aufwandte, um mittels Konjektur den Wortlaut verderbter Stellen zu erschließen. Die Tatsache, daß noch in heutigen Seneca-Ausgaben vielfach auf seine Editionen verwiesen wird, bestätigt diese Selbsteinschätzung. Die Arbeit an einem adäquaten Seneca-Text hat Erasmus nicht aufgegeben. Die dritte, von Johannes Herwagen (1497 – 1558) gedruckte Ausgabe erschien posthum 1537.21 Weitere Seneca-Editionen des 16. Jahrhunderts haben der Philologe und neulateinische Dichter Marc Antoine Muret († 1585) und dessen Schüler Justus Lipsius veranstaltet.22 Erasmus und der Stil Senecas Was hat Erasmus an Seneca geschätzt? Für einen Humanisten kann es sich nie nur um inhaltliche Vorzüge handeln, es müssen auch stilistische im Spiel sein. Erasmus weiß um die Kritik, die bereits von Zeitgenossen am Stil Senecas geübt wurde. So nennt er u. a. das von Sueton überlieferte Verdikt Caligulas, Senecas Stil sei „harena sine calce“23, dem er die Berechtigung nicht ganz abspricht: „Man mag in den Werken dieses Mannes einen geordneten Aufbau vermissen“24. Dies dürfte Erasmus, dem man ähnliches vorwerfen könnte,25 jedoch nicht allzu sehr gestört 20 Vgl. Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 234 – 239, der besonders ausführlich auch auf die von Erasmus genannten verlorenen Schriften eingeht. Vgl. auch Peter Walter (wie Anm. 5), S. 133. 21 L. Annei [sic] Senecae opera, et ad dicendi facultatem, et ad bene uiuendum utilissima, per Des. Erasmum Roterod. ex fide ueterum codicum, tum ex probatis autoribus, postremo sagaci nonnumquam diuinatione, sic emendata, ut ad genuinam lectionem minimum desiderare possis, Basel: Johannes Herwagen 1537. Vgl. Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 249 f. Eine nähere Untersuchung hat diese Ausgabe bislang nicht gefunden. 22 Vgl. Peter Walter (wie Anm. 5), S. 135. 23 Erasmus: Epist. 325; Allen, Bd. 1, S. 54, Z. 83 f.; Epist. 2091, Allen, Bd. 8, S. 32, Z. 306. Vgl. Sueton: Caligula 53. 24 „Desideres enim in huius viri scriptis ordinem et compositionem“ (Erasmus: Epist. 2091; Allen, Bd. 8, S. 36, Z. 455 f.; vgl. insgesamt ebd. Z. 452 – 482). 25 Erasmus selber gesteht zu, daß er vieles übereilt. Vgl. Erasmus: Epist. 1352; Allen, Bd. 5, S. 259, Z. 92 f. (mit weiteren Stellen in der Anm.); Epist. 1479; Allen, S. 516, Z. 56 f. (dito). Vgl. auch die Selbstcharakterisierung im Ciceronianus (Il Ciceroniano [wie Anm. 2], S. 244, Z. 3508–S. 246, Z. 3513; ASD Bd. 1/2, S. 681, Z. 11 – 14).

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haben. Ihn stören, wie er bereits im Vorwort der Erstausgabe von 1515 schreibt und Winfried Trillitzsch paraphrasiert, „gewisse allzu vulgäre Ausdrücke, bisweilen eine greisenhafte Geschwätzigkeit, dann manchmal zu gewagte Scherze, matte Ausrufe“, außerdem sei „der rhetorische Schwung […] zu abrupt; schließlich sei zu tadeln, daß er sehr von sich eingenommen sei.“26 Letzteres hat Erasmus Seneca bereits in der frühesten kritischen Beurteilung vorgeworfen, die bei ihm zu finden ist, wo er ihn wegen der einseitigen Auslegung einer Vergilstelle tadelt und ihn einen strengen Philosophen und den Stoischsten der Stoiker nennt.27 In der Widmungsvorrede zur zweiten Auflage der Opera wird die formale Kritik noch ausführlicher dargelegt; sie trifft, wie die von Erasmus zitierten Beispiele zeigen, sowohl den Vater wie den Sohn Seneca.28 Diese Kritik soll die Leser jedoch nicht abschrecken, sondern ihnen helfen, das Werk eines Autors stilistisch zu würdigen, der wegen seiner inhaltlichen Vorzüge nur empfohlen werden kann.29 In seinem Dialog über einen angemessenen lateinischen Stil Ciceronianus (1528) heißt es: „bei Seneca [wird] die abgehackte Satzkonstruktion und das übermäßig häufige Vorkommen von Sentenzen durch viele Vorzüge aufgewogen, wie etwa durch die Lauterkeit („sanctitas“) seiner Lehren, seine glänzenden Formulierungen und Themen und seinen lieblichen Stil.“30 Wieder wird ihm das Prädikat der „sanctitas“ zuerkannt, das 26 Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 244. 27 „[…] ipse tetricus Philosophus, ac Stoicorum paene dixerim Stoicissimus […]“ Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia, ed. Joannes Clericus, 10 Bde, Leiden 1703 – 1706, Nachdruck Hildesheim 1961 – 1962 (künftig: LB), Bd. 5, Sp. 67D. Es handelt sich um die dem jungen Adligen Adolph von Burgund (1489/90 – 1540) gewidmete Schrift De virtute amplectenda (LB Bd. 5, Sp.65 – 72) aus dem Jahre 1498 (Zur Datierung vgl. Allen, Bd. 1, S. 229). Erasmus bezieht sich auf Seneca: Epistulae morales ad Lucilium 7,66,2, der seinerseits Vergilius: Aeneis 5,344 zitiert. Vergil möchte mit seinem Ausspruch, daß die in einem schönen Leib daherkommende Tugend liebenswerter sei, nach Erasmus gar nicht, wie von Seneca unterstellt, ausschließen, daß auch ein mißgestalteter Mensch tugendhaft sein könne. Ein früherer Bezug auf Seneca, allerdings ohne jede Wertung, aus dem Jahre 1497 findet sich in Erasmus: Epist. 56; Allen, Bd. 1, S. 173, Z. 45 – 47. 28 Vgl. Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 244 – 248. 29 „Haec eo commemorantur a nobis, non vt deterreamus lectoris studium, sed vt maiore cum fructu legatur vir tot eximiis virtutibus commendabilis“ (Erasmus: Epist. 2091, Allen, Bd. 8, S. 37, Z. 519 – 521). 30 „[…] in Seneca compositionis abruptum, et sententiarum immodicam densitatem multae virtutes excusant, ut praeceptorum sanctitas, uerborum rerumque splendor, ac iucunditas orationis.“ (Erasmus: Ciceronianus; Il Ciceroniano [wie

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schon in der Widmungsvorrede der Erstausgabe der Opera begegnete: „Nihil enim huius praeceptis sanctius.“31 Die „sanctitas“, welche Erasmus mehrfach an Seneca und seiner Lehre hervorhebt und die er zahlreichen antiken Philosophen und Dichtern zuerkennt,32 besagt nicht, daß er ihn zu den christlichen Heiligen zählt – dazu gleich mehr –, sondern daß ihm eine hohe moralische Autorität zukommt, wie sie etwa Quintilian für einen glaubwürdigen Redner fordert.33

Seneca und das Christentum in der Perspektive des Erasmus Seneca ist für Erasmus kein christlicher Autor.34 Aber es findet sich nach seiner Auffassung in dessen Werk durchaus viel mit dem christlichen Denken Übereinstimmendes.35 Wenn Hieronymus ihn als einzigen Heiden in seinen Katalog berühmter (christlicher) Männer aufgenommen hat, dann geschah dies nach Erasmus nur, um die Lektüre seiner

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Anm. 2], S. 112, Z. 1506 – 1509; ASD Bd. 1/2, S. 633, Z. 10 – 13; Übersetzung: Erasmus von Rotterdam: Dialogus cui titulus Ciceronianus […], übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Theresia Payr, Darmstadt 1972, S. 121 [Erasmus von Rotterdam: Ausgewhlte Schriften, hg. von Werner Welzig, 7]). Erasmus: Epist. 325; Allen, Bd. 2, S. 53, Z. 75. Erasmus fährt fort: „tantoque ardore hortatur ad honesta, vt prorsus appareat illum hoc egisse quod praecepit“ (Z. 75 – 77). Vgl. den viel zitierten Ausruf: „sancte Socrates, ora pro nobis“ (Erasmus: Convivium Religiosum, edd. Léon-Ernest Halkin, Franz Bierlaire, René Hoven, in: ASD Bd. 1/3, S. 254, Z. 710) sowie die gewiß unvollständige Aufzählung von in den Augen des Erasmus antiken „sancti“ bei Manfred Hoffmann, Erkenntnis und Verwirklichung der wahren Theologie nach Erasmus von Rotterdam, Tübingen 1972 (Beiträge zur Historischen Theologie 44), S. 115 Anm. 209. „Ne illud quidem praeteribo, quantam adferat fidem expositioni narrantis auctoritas, quam mereri debemus ante omnia quidem vita, sed et ipso genere orationis: quod quo fuerit gravius ac sanctius, hoc plus habeat necesse est in adfirmando ponderis. effugienda igitur in hac praecipue parte omnis calliditatis suspicio, neque enim se usquam custodit magis iudex: nihil videatur fictum, nihil sollicitum: omnia potius a causa quam ab oratore profecta credantur“ (Quintilianus: Institutio oratoria 4,2,125). Quintilian spricht auch von einem „ornatus […] virilis et fortis et sanctus“ der Rede (Inst., 8,3,5). Die Legende vom Christsein Senecas ist wohl erst im Frühhumanismus entstanden. Vgl. Peter Walter (wie Anm. 5), S. 129 f. „Reperies fortassis in Platonis aut Senecae libris, quae non abhorreant a decretis Christi“ (Erasmus: Ratio verae theologiae, in: Desiderius Erasmus Roterodamus, Ausgewhlte Werke, ed. Hajo Holborn – Annemarie Holborn, München 1935, Nachdruck München 1964 [künftig: Holborn], S. 210, Z. 33 f.).

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Werke zu empfehlen. Hieronymus hat mit seiner überaus feinen Nase durchaus gespürt, daß die unter dem Namen des Apostels Paulus und Senecas überlieferten Briefe von keinem von beiden stammen, aber er hat Seneca empfohlen, weil er ihn für würdig erachtete, als Nichtchrist von Christen gelesen zu werden.36 Dies wird näher begründet: Seneca wendet in einzigartiger Weise den Geist den himmlischen Dingen zu, ermutigt ihn, die gemeinen Dinge zu verachten, pflanzt ihm Haß gegenüber dem Schändlichen ein und entflammt ihn zur Liebe des sittlich Guten. Denjenigen, der ihn mit dem Wunsch in die Hand genommen hat, besser zu werden, entläßt er schließlich als einen Besseren. Seine Ermahnungen zum Guten überzeugen, weil er seinen Anweisungen entsprechend gehandelt hat.37 In den kurz nach der ersten SenecaAusgabe erschienenen Scholien zu De viris illustribus des Kirchenvaters Hieronymus nennt Erasmus Seneca einen Heiden, der hinsichtlich des sittlichen Lebens heiliger war als viele Christen.38 Im Vorwort zur verbesserten Neuauflage der Opera Senecas formulierte er ebenso knapp wie überzeugend: „Etenim si legas illum vt paganum, scripsit Christiane; si vt Christianum, scripsit paganice.“39 36 „Et Senecam tanti fecit diuus Hieronymus vt hunc vnum ex omnibus ethnicis in Catalogo scriptorum illustrium recensuerit, non tam ob epistolas illas Pauli ad Senecam et Senecae ad Paulum (quas nec a Paulo nec a Seneca scriptas prope nouerat, vir naris emunctissimae, tametsi ad autoris commendationem hoc est abusus praetextu) quam quod hunc vnum dignum iudicarit qui non Christianus a Christianis legeretur“ (Erasmus: Epist. 325; Allen, Bd. 2, S. 53, Z.68 – 74). Die Wendung „emunctae naris“ begegnet bei Horatius: Sermones 1,4,8 und Phaedrus: Fabulae 3,3,14. 37 Vgl. Erasmus: Epist. 325; Allen, Bd. 2, S. 53, Z. 75 – 80. 38 „[…] Senecam, ethnicum quidem, sed quod ad mores attinet, multis Christianis sanctiorem“ (Epistolarum opus diui Hieronymi […] vna cum scholiis Des. Erasmi Roterodami, Basel: Hieronymus Froben und Nikolaus Bischof 1543 [Erstausgabe: 1516], S. 318b). Hieronymus schreibt in De viris inlustribus Kap. 12 u. a.: „Lucius Annaeus Seneca Cordubensis, Sotionis stoici discipulus et patruus Lucani poetae, continentissimae uitae fuit, quem non ponerem in catalogo sanctorum nisi me illae epistulae prouocarent, quae leguntur a plurimis Pauli ad Senecam et Senecae ad Paulum“ (Hieronymus: Liber de viris inlustribus, ed. Ernest C. Richardson, Leipzig 1896, S. 1 – 56, hier S. 15 [Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Altchristlichen Literatur, 14, 1a]). 39 Erasmus: Epist. 2091; Allen, Bd. 8, S. 31, Z. 221 f. In etwas anderer Perspektive wird das Thema „Heidentum und Christentum“ im Ciceronianus behandelt, wo es hauptsächlich um den für die jeweilige Zeit adäquaten sprachlichen Ausdruck geht und Erasmus statt einer sklavischen Nachahmung des Ciceronianischen Lateins empfiehlt, Ciceros Haltung unter veränderten Umständen

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Daß Seneca kein Christ war, schließt Erasmus zum einen aus seinem Schweigen darüber. Zum anderen daraus, daß ihm Nero, der Vorwände suchte, um ihn aus dem Weg zu schaffen, gerade nicht vorgeworfen hat, ein Christ zu sein. Mag Senecas Schweigen aus Angst vor dem Tod geschehen sein, was freilich bei einem Philosophen verwundert, der über die Todesverachtung geschrieben hat, so widerspricht es offen dem christlichen Glauben, von Göttern und Göttinnen zu sprechen und am Weiterleben nach dem Tod zu zweifeln.40 Seneca hat auch sterbend nicht von Christus gesprochen, sondern von Jupiter. Ja, er hat sich selbst getötet, was ein Christ niemals tun würde, und die Selbsttötung seiner Frau geduldet, obwohl dies nicht gefordert worden war.41 Erasmus wirft Seneca weiterhin Pantheismus vor.42 Die Autarkie des stoischen Weisen macht Gott überflüssig.43 Die Christen dagegen glauben, daß Gott sich selbst um die Spatzen und die Lilien kümmert, daß die Menschen von sich aus nichts Gutes haben und ihr höchstes Glück Gott verdanken. Wenn man Seneca als christlichen Autor liest, ist dies gefährlich.44

Die Kritik des Erasmus an der stoischen Affektenlehre Senecas Der Hauptkritikpunkt gegenüber Seneca ist für Erasmus die stoische Affektenlehre, welche vertreten zu haben Seneca im Lob der Torheit (1511) die Bezeichnung eines „bis Stoicus“45 einbringt. Bereits im Enchiridion militis Christiani (1504) hat Erasmus zwei Weisen, die Affekte zu bewerten, unterschieden: die stoische und die peripatetische, die man jeweils mit den, von Erasmus nicht gebrauchten, Begriffen der

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nachzuahmen: „Denn es ist sehr wohl möglich, daß derjenige am ehesten an Cicero heranreicht, der ihm am wenigsten gleicht, das heißt, der sich zwar ganz vorzüglich und angemessen, aber, der völlig veränderten Situation entsprechend, völlig anders ausdrückt […]“ (Il Ciceroniano [wie Anm.2], S. 170, Z. 2407–S. 172, Z. 2410; ASD Bd. 1/2, S. 649, Z. 31 – 33; Übersetzung: Theresia Payr [wie Anm. 30], S. 189). Vgl. ebd., S. 30, Z. 205 – 217. Vgl. Erasmus: Epist. 2092; Allen, Bd. 8, S. 41, Z. 64 – 71. Vgl. Erasmus: Epist. 2091; Allen, Bd. 8, S. 31, Z. 239 – 241. Vgl. ebd., S. 31, Z. 249 – 251. Vgl. ebd., S. 31, Z. 251 – 254. Vgl. auch die Stellen aus Senecas Werk, die gegen das Christsein Senecas sprechen und die der Paduaner Frühhumanist Rolando da Piazzola (frühes 14. Jh.) zusammengetragen hat. Vgl. Agostino Sottili (wie Anm. 6), S. 668 – 675. S. u. Anm. 60.

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apatheia bzw. der metriopatheia charakterisieren kann.46 Grundsätzlich sind sich Stoiker und Peripatetiker nach ihm darin einig, daß die Menschen sich von der Vernunft, nicht von den Leidenschaften leiten lassen sollen, aber sie schreiben letzteren dabei eine unterschiedliche Aufgabe zu. Für die Stoiker haben die Affekte, die von den Sinnen erregt werden, durchaus eine Bedeutung, bis der Mensch zur Entscheidung kommt, was er erstreben und was er meiden soll. Der vollkommene Weise aber soll frei von ihnen sein, weil sie wie Krankheiten der Weisheit schaden, manche gestehen dem Weisen gerade noch die ersten Regungen zu, die der Vernunft vorangehen und die sie Phantasien nennen.47 Die Peripatetiker hingegen möchten die Affekte nicht auslöschen, sondern einhegen. Diese müssen einen Nutzen haben, sie erachten sie für naturgegebene Antriebe zur Erlangung von Tugenden, wie etwa den Zorn für die Tapferkeit, den Neid für den Fleiß usw.48 Sokrates, der im platonischen Phaidon die Philosophie als Bedenken des Todes („mortis meditationem“) darstellt und der dadurch den Geist von der körperlich-sinnlich wahrnehmbaren zur vernünftig gedachten Welt führen möchte, erscheint für Erasmus geradezu als Parteigänger der 46 Zur stoischen Affektenlehre im Unterschied zur peripatetischen vgl. Anton Vögtle, Art. Affekt, in: Reallexikon fr Antike und Christentum Bd. 1, 1950, Sp. 160 – 173; Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 2 Bde, Göttingen 61984 – 1990, hier Bd. 1, S. 141 – 153; Jürgen Hengelbrock, Art. Affekt, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie Bd. 1, 1971, Sp. 89 – 93 hier Sp. 89 – 91; Jorge Uscatescu Barrón, La teora aristotlica de los temples. Un estudio histrico-filosfico de la teora de la afectividad en la Antigedad, Madrid 1998, S. 451 – 462. 47 „Ac de affectibus quidem Stoici Perpateticique non nihil diversa sentiunt, quamquam illud convenit inter omnes ratione vivendum, non affectu. Sed illis placet, ubi affectibus, qui a sensibus proxime excitantur, tamquam paedagogis usus ad iudicium verumque discrimen expetendorum et fugiendorum perveneris, tum eos prorsus esse relinquendos. Iam enim non solum utiles non esse ad sapientiam, verum etiam perniciosos. Atque ob id perfectum illum sapientem suum omnibus eiusmodi motibus tamquam morbis animi vacare volunt, vixque humaniores quidam primos illos impetus rationem praevertentes sapienti concedunt, quas illi phantasias appellant“ (Erasmus: Enchiridion; Holborn, S. 44, Z. 25 – 33). Zur stoischen Erkenntnislehre und insbesondere zur Rolle der „Phantasien“ vgl. Max Pohlenz (wie Anm. 46), Bd. 1, S. 54 – 63. 48 „At Peripatetici non exstirpandos affectus, sed coercendos docent. Esse enim nonnullum eorum usum, propterea quod hos a natura additos opinentur uti quaedam ad virtutem incitabula atque exhortamenta, sicuti fortitudinis iram, industriae invidiam atque item de reliquis“ (Erasmus: Enchiridion; Holborn, S. 44, Z. 33–S. 45, Z. 1). Vgl. dazu Jorge Uscatescu Barrón (wie Anm. 46), S. 451 – 456.

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Stoiker.49 In seinen eigenen Darlegungen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, folgt Erasmus der peripatetischen Auffassung der Affekte, wobei er, vor allem hinsichtlich der Affektenerziehung, zugleich stoische Elemente aufnimmt.50 Daraus ergibt sich für ihn „ein doppeltes Ziel: einerseits der überlegene Genuß der Freiheit, Ruhe und Glückseligkeit in der affektlosen Vollkommenheit; hier kommt Erasmus nahe an das stoische Ideal der Apathie heran. Andererseits winkt auf dem Gipfel die völlige Liebe als Höchstaffekt der vollkommenen Frömmigkeit.“51 In dem Adagium Festina lente 52, das Erasmus erstmals in seiner 1508 bei Aldus Manutius (1452 – 1515) in Venedig herausgekommenen Adagien-Sammlung kommentiert hat, gleichsam als hommage an den berühmten Drucker, der sich dieses Sprichwort zum Motto gewählt hat, und das er u. a. als Anleitung zum Zügeln der Affekte durch die Vernunft auslegt, erweitert Erasmus das Spektrum der antiken Affektlehre um die Position Platons. Dieser teile die Seele in drei Teile, die Vernunft, den Mut und die Begierde und halte es für die höchste Philosophie, wenn die Affekte der Vernunft wie einem König untertan sind.53 Die Peripatetiker, auf die er hier nicht näher eingeht, betrachteten die Affekte als Stimulantien für die Tugend54, während die Stoiker, namentlich Seneca, dem widersprächen. „Sie glauben nämlich, daß die Affekte der Tugend in keiner Weise förderlich, sondern höchstens abträglich sind, doch können auch sie nicht leugnen, daß selbst in der Seele ihres imaginären Weisen zumindest im Ansatz Affekte vorhanden sind, die der Vernunft vorgreifen und die sich nicht restlos ausmerzen 49 Vgl. Erasmus: Enchiridion; Holborn, S. 45, Z. 1 – 6. Vgl. Platon: Phaidon 64a.81a. Zum Motiv der „meditatio mortis“ bei Erasmus vgl. Manfred Hoffmann (wie Anm. 32), S. 92 Anm. 92; Ernst-Wilhelm Kohls, Meditatio mortis chez Pétrarque et Érasme, in: Colloquia Erasmiana Turonensia. Douzième stage international d’Études humanistes, Tours 1969, 2 Bde, Paris 1972, S. 303 – 311 (De Pétrarque à Descartes 24). 50 Vgl. Manfred Hoffmann (wie Anm. 32), S. 196 – 211. 51 Manfred Hoffmann (wie Anm. 32), S. 211. Nach Hoffmann setzt Erasmus das „stoische Ziel der Affektenerziehung, die Apathie, […] unreflektiert mit den traditionell christlichen und mystisch-devoten Zielen des Tugendweges in Verbindung“ (a.a.O., S. 219). 52 Vgl. Erasmus: Adag. 1001 „Festina lente“, ed. M. Szyman´sky, in: ASD Bd. 2/3, S. 7 – 28. 53 Vgl. ASD Bd. 2/3, S. 26, Z. 458 – 461. Vgl. Platon: Politeia 435a–441c, Timaios 44d. 54 Vgl. ASD Bd. 2/3, S. 26, Z. 461 – 463.

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lassen; doch die Vernunft hält sie in Schranken und verhindert, daß man ihnen nachgibt.“55 Das Emblem der Aldinischen Offizin, der sich um einen Anker windende Delphin, versinnbildlicht das Gemeinte: „Man könnte also mit gewisser Berechtigung die ungestümen psychischen Triebe als Delphin, die mäßigende Vernunft als Anker betrachten.“56 Hier läßt Erasmus nochmals Seneca zu Wort kommen: „Nirgendwo ist Zaudern nützlich, außer bei erregtem Zorn.“57 Erasmus dagegen formuliert: „Immer, wenn wir etwa über alle Maßen begehren oder hassen, ist Zaudern heilsam.“58 Im schon erwähnten Lob der Torheit behauptet „Stultitia“, daß die Affekte alle in ihren Bereich gehören.59 Der Tor und der Weise unterscheiden sich dadurch, daß jenen die Affekte, diesen die Vernunft regiert. Die Stoiker möchten deshalb alle Störungen der Gemütsruhe („perturbationes“) vom Weisen wie Krankheiten fernhalten. Die Affekte aber fungieren nicht nur als Pädagogen derjenigen, welche zum Hafen der Weisheit eilen, sondern wie Sporn und Stachel als Ermahner zum guten Handeln. Indem der „bis Stoicus Seneca“ dem Weisen jeden Affekt austreibt, läßt er keinen Menschen mehr übrig, sondern schafft einen neuen Gott, wie er niemals existierte noch existieren wird, ein 55 Ebd., Z. 465 – 469. Übersetzung: Theresia Payr (wie Anm. 30), S. 509. 56 Ebd., Z. 470 f. Zu diesem Emblem vgl. Edgar Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt am Main 21984, S. 118 u. ö. 57 „Seneca scripsit nulli rei prodesse moram nisi iracundiae“ (Erasmus: Adag. 1001; ASD Bd. 2/3, S. 26, Z. 472). Übersetzung: Theresia Payr (wie Anm. 30), S. 511, die auf Publilius: Sententiae R 2 verweist. ASD verweist auf Seneca: ira 2,29,1: „Maximum remedium irae mora est.“ 58 „Imo quicquid impense cupimus aut odimus, ibi salutaris est mora“ (Erasmus: Adag. 1001; ASD Bd. 2/3, S. 26, Z. 472 f.). Übersetzung: Theresia Payr (wie Anm. 30), S. 511. In seiner Schrift Lingua (1525) über den rechten Umgang mit der Sprache widerspricht Erasmus Seneca ausdrücklich, was die Einschränkung dieser Maxime lediglich auf den Zorn angeht: „Neque enim simpliciter verum est quod dicit Seneca […] Profuit et in bellis Fabii contatio, ac mea quidem sententia nusquam non habet locum illud, Sat cito, si sat bene“ (Erasmus: Lingua, ed. Jan Hendrik Waszink, in: ASD Bd. 4/1a, S. 149, Z. 74 – 76). Das Diktum „Sat cito, si sat bene“ wird von Hieronymus, den Erasmus in Adag. 1001 zitiert, auf Cato zurückgeführt. Vgl. ASD Bd. 3/2, S. 27, Z. 493 f. 59 Im Enchiridion militis Christiani hat Erasmus „stultitia“ als stoischen Sammelbegriff für alle Arten von Lastern bezeichnet, für den die Christen als Äquivalent „malitia“ gebrauchen (Erasmus: Enchiridion; Holborn, S. 38, Z. 14 – 16). Er könnte für erstere Behauptung Seneca im Blick gehabt haben: „Humilis res est stultitia, abiecta, sordida, servilis, multis affectibus et saevissimis subiecta“ (Seneca: Epist. 4,37,4).

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marmornes Standbild eines Menschen, fühllos und frei von jedem menschlichen Empfinden. Die Stoiker mögen sich an diesem Ideal erbauen, alle anderen fliehen davor wie vor einem Gespenst. Denn ein solcher Mensch ist fühllos geworden für alle natürlichen Regungen, ist durch keine Affekte, weder durch Liebe noch durch Mitleid, mehr zu bewegen. Er ist mit sich allein zufrieden, steht einsam für sich, ist niemandes Freund.60 Natürlich ist zu beachten, wer hier spricht. Frau Torheit muß ihren Konkurrenten, den stoischen Weisen, lächerlich machen, ihn als jemanden hinstellen, mit dem niemand etwas zu tun haben will. Sie tut es, indem sie vor allem das stoische Ideal der Autarkie karikierend überzeichnet.61 Schließlich zieht sie die Stoiker endgültig ins Lächerliche, wenn sie sie mit einem in der Antike beliebten Vergleich mit der Tierwelt als „Frösche“ bezeichnet, die ihr entgegenquaken.62 Wenn er die Narrenkappe absetzt, argumentiert Erasmus, wie wir sahen, differenzierter. 60 „Iam primum illud in confesso est, affectus omnes ad stulticiam pertinere, quandoquidem hac nota a stulto sapientem discernunt, quod illum affectus, hunc ratio temperat; eoque Stoici perturbationes omnes ceu morbos a sapiente semouent. Verum affectus isti non solum paedagogorum vice funguntur ad sapientiae portum properantibus, verumetiam in omni virtutis functione ceu calcaria stimulique quidam adesse solent, velut ad bene agendum exhortatores. Quanquam hic fortiter reclamat bis Stoicus Seneca, qui prorsum omnem affectum adimit sapienti. Verum cum id facit, iam ne hominem quidem relinquit, sed nouum potius deum quendam dgliouqce?, qui nusquam nec extitit vnquam, nec extabit; imo, vt apertius dicam, marmoreum hominis simulacrum constituit, stupidum et ab omni prorsus humano sensu alienum. Proinde si libet, ipsi suo sapiente fruantur […] Quis enim non istiusmodi hominem ceu portentum ac spectrum fugitet horreatque, qui ad omnes naturae sensus obsurduerit, qui nullis sit affectibus, nec amore nec misericordia magis commoueatur […] quem nihil fugiat, qui nihil erret, sed ceu Lynceus quispiam nihil non perspiciat, nihil non ad amussim perpendat, nihil ignoscat, qui solus seipso sit contentus, solus diues, solus sanus, solus rex, solus liber, breuiter omnia solus, sed suo solius iudicio, qui nullum moretur amicum, ipse amicus nemini […]“ Erasmus: Moriae encomium id est stultitiae laus, ed. Clarence H. Miller, in: ASD Bd. 4/3, S. 106, Z. 625 – 646 mit reichen Verweisen in den Anm. 61 Vgl. dazu Max Pohlenz (wie Anm. 46), Bd. 1, S. 481 (Reg. s. v. Autarkie) sowie ASD Bd. 1/5, S. 107 Anm. zu Z. 642. 62 „At rursus obganniunt mihi oR 1j t/r sto÷r b²tqawoi“ (Erasmus: Moriae encomium; ASD Bd. 4/3, S. 116, Z. 863 mit der ausführlicher Anm. zur Stelle). Im Anschluß an Origenes, der die Frösche der zweiten ägyptischen Plage (vgl. Ex 7,26 – 8,11) als Sinnbilder für die Dichter mit ihren Gesängen versteht, bezeichnet Erasmus hier die Stoiker als Frösche. Auf die Interpretation des Origenes hat er selber hingewiesen. Vgl. Erasmus: Adag. 2076: „Minus de istis

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Um noch ein weiteres Beispiel zu nennen: In seiner pädagogischen Schrift De pueris statim ac liberaliter instituendis (1529), in der der Satz steht: „homines […] non nascuntur, sed finguntur“63, wendet Erasmus sich mit Entschiedenheit dagegen, daß die Affekte der Vernunft ihre Herrschaft streitig machen: „Ratio facit hominem, ea locum non habet vbi affectuum arbitrio geruntur omnia.“64 Die Homerische Geschichte von den Gefährten des Odysseus, die von Kirke in Schweine und andere Tiere verwandelt werden, lehrt den Schüler auf spielerische Weise die moralphilosophische Grundthese, die auch ein Stoiker nicht ernsthafter darlegen könnte, „daß diejenigen, die sich nicht von der rechten Vernunft leiten, sondern vom Belieben ihrer Affekte hinreißen lassen, keine Menschen, sondern Tiere sind.“65 Aber das heißt für Erasmus in keiner Weise, den Affekten jede Bedeutung abzusprechen. Im Gegenteil: Durch die Liebe zum Lehrer („doctoris affectu“) wird das Kind zum Lernen angeleitet66, der Lehrer seinerseits soll dem Kind elterliche Liebe („parentis affectum“) entgegenbringen.67 Ja, er benutzt die natürlichen Affekte wie das siegen Wollen („vincendi studium“), ein bißchen Eifersucht („invidentiae seminarium“), die Furcht vor Schande („metus ignominiae“) und das gelobt werden Wollen („laudis amor“), um die Schüler anzuspornen.68 Erasmus selber bekennt die Heilsamkeit solcher Affekte auch für den Erwachsenen, wenn er im Vorwort zu seiner Neuausgabe Senecas schreibt, daß ihn ob der mißratenen Erstausgabe der „Sporn der Schande“ („calcar ignominiae“) dazu angetrieben habe.69 Er vertritt also nicht nur theoretisch die peripatetische Affektlehre.

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laboro quam de ranis palustribus“, edd. Felix Heinimann – Emanuel Kienzle, in: ASD Bd. 2/5, S. 82 (die Anspielung auf das Decretum Gratiani ist hier nicht verstanden; vgl. dazu ASD Bd. 4/3, S. 116, Anm. zu Z. 863). Erasmus: De pueris statim ac liberaliter instituendis, ed. Jean-Claude Margolin, in: ASD Bd. 1/2, S. 31, Z. 21. Erasmus: De pueris; ASD Bd. 1/2, S. 31, Z. 23 f. „[…] discit puer, quod in morali philosophia praecipuum est, eos qui non gubernantur recta ratione, sed affectuum arbitrio rapiuntur, non homines esse, sed belluas. Quid Stoicus diceret grauius?“ (Erasmus: De pueris; ASD Bd. 1/2, S. 66, Z. 25 – 27). Drastisch: „Vt nullum animal nec mite nec ferum paret rationi, qua caret, sic nullus affectus“ (Erasmus: Parabolarum siue similium liber, ed. Jean-Claude Margolin, in: ASD Bd. 1/5, S. 222, Z. 2 f.) Vgl. Erasmus: De pueris; ASD Bd. 1/2, S. 54, Z. 1. Vgl. Erasmus: De pueris; ASD Bd. 1/2, S. 65, Z. 7. Vgl. Erasmus: De pueris; ASD Bd. 1/2, S. 71, Z. 13 – 16. Erasmus: Epist. 2091; Allen, Bd. 8, S. 27, Z. 73.

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Seneca als Lehrer der Weisheit Seneca ist für Erasmus hauptsächlich ein Weisheitslehrer, dessen Lehre er nicht nur in seinen Editionen allgemein zugänglich gemacht, sondern in seinen Sprichwörter- und Beispielsammlungen für seine Zeitgenossen zusammengefaßt präsentiert hat. In den Adagia gehört Seneca zu den häufig zitierten Autoren, kann aber mit den Spitzenreitern Cicero (892 Zitate), Homer (666), Plutarch (618), Aristophanes (596), Horaz (475), Plautus (475) und Platon (428) nicht mithalten. Von den insgesamt 325 aus erster oder zweiter Hand zitierten Autoren steht Seneca mit 126 Zitaten an 21. Stelle. Unmittelbar vor und nach ihm rangieren Juvenal (127) und Ovid (125).70 Auch hier trennt Erasmus nicht die verschiedenen Seneca, und auch Publilius Syrus wird, obwohl als Hauptverfasser der Proverbia Senecae enttarnt, noch als Seneca zitiert. So z. B. in Adagium 791: „Bis dat, qui cito dat.“ Erasmus kann zur Erklärung gleich noch einen echten Ausspruch Senecas aus De beneficiis anführen: „Ingratum est beneficium, quod diu inter manus dantis haesit.“71 Allerdings scheint Seneca für Erasmus weniger die Quelle von Sprichwörtern zu sein als vielmehr ein Autor, mit dessen Hilfe er solche erläutert. Anders steht es mit dem 1514 bei Mathias Schürer († vor 1520) in Straßburg erschienenen Parabolarum siue similium liber. Hier hat Erasmus als Nebenprodukt seiner Seneca-Edition 108 daraus geschöpfte Beispiele veröffentlicht, zusammen mit 692 aus Plutarch (eine Zweitverwertung der 1514 erschienenen Plutarch-Ausgabe) und weiteren aus Aristoteles, Plinius, Theophrast u. a.72 Erasmus hat diese Sammlung seinem Freund Petrus Aegidius (Gilles) (1486 – 1533), Stadtschreiber in Antwerpen, gewidmet, mit dem zusammen er sich 1517 für den gemeinsamen Freund Thomas Morus (1477/78 – 1535) von Quentin 70 Vgl. Margaret Mann Phillips, The ,Adages‘ of Erasmus. A Study with Translations, Cambridge 1964, S. 393 – 403. Die Sammlung ist von 818 Sprichwörtern in der ersten Auflage (1500) auf 4151 in der letzten (1536) angewachsen. Vgl. ebd., S. XII. 71 Erasmus: Adag. 791: „Bis dat, qui cito dat“, edd. M. L. van Poll-van de Lisdonk – M. Cytowska, in: ASD Bd. 2/2, S. 312 – 314 (zur Herkunft des Adagiums aus Publilius: S. 313 Anm. zu Z. 545); Seneca: De beneficiis 2,1,2. 72 Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 1 – 332. Vgl. dazu Jacques Chomarat, Grammaire et rhtorique chez rasme, 2 Bde, Paris 1981, hier Bd. 2, S. 782 – 803. Zu den von Erasmus übersetzten Plutarchtexten und zu deren erster Gesamtausgabe von 1514 vgl. Jacques Chomarat, a.a.O., Bd. 1, S. 472 f.; Erika Rummel, Erasmus as a Translator of the Classics, Toronto – Buffalo – London 1985, S. 71 – 87.121 – 125 (Erasmus Studies 7).

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Metsys (um 1466–um 1530) porträtieren ließ.73 Unter „parabolae“ versteht er mit Cicero, wie er in der Widmungsvorrede darlegt, ausgefaltete Metaphern.74 Diese leisten alles, was Redeschmuck bewirken kann: „delectare“, „docere“, „flectere“ usw.75 Sie geben zu denken.76 Die meisten Gleichnisse in der Rubrik „Ex Seneca“ hat Erasmus aus den Epistulae morales gezogen, einige wenige aus anderen Werken.77 Sie kreisen um das alltägliche Leben und nehmen vor allem dessen Endlichkeit in den Blick. Es kommt für den Menschen nicht auf ein langes, sondern auf ein gutes Leben („recte vivere“) an.78 Ziemlich in der Mitte der Sammlung findet sich die knappe Formel: „Wie das Schauspiel, so das Leben: nicht wie lange, sondern wie gut gespielt wird, ist entscheidend.“79 Etliche Gleichnisse handeln vom rechten Leben und Sterben. Gleich das erste Gleichnis, das Erasmus in sehr lockerem Anschluß an einen Abschnitt aus dem 70. Brief an Lucilius gebildet hat, zielt auf den Zusammenhang von Leben und Sterben: „Wie diejenigen, die daran denken, daß sie in einem fremden Haus zur Miete wohnen, sich bescheidener geben und weniger beschwerlich ausziehen, so leben diejenigen, die wissen, daß ihnen die Wohnung des Leibes von der Natur für kurze Zeit überlassen ist, maßvoller und sterben lieber.“80 Das 73 Auf dem Bücherbord hinter Gilles liegt auf der Fassung von dessen Porträt in Longford Castle eine Seneca-Ausgabe. Vgl. Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 248 Anm. 133. Vgl. auch Larry Silver, The Paintings of Quinten Massys, Oxford 1984, S. 105 – 133. 235 – 237. 74 Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 90, Z. 25. 75 Ebd., Z. 25 – 28. 76 „Nulla plus cogitationi relinquit [sc. quam metaphora]“ (Ebd., Z. 31). 77 Vgl. die Nachweise ASD Bd. 1/5, S. 212 – 229 sowie Jacques Chomarat (wie Anm. 72), S. 791 – 794 mit aufschlußreichen Beobachtungen zur Arbeitsweise des Erasmus. 78 Vgl. Jean-Claude Margolin, Introduction, in: ASD Bd. 1/5, S. 84. 79 „Quomodo fabula, sic vita: non quam diu, sed quam bene acta sit, refert“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 220, Z. 959; wörtlich aus Seneca: Epist. 9,77,20). Vgl. auch: „Wie jemand, der in verschiedenen Unwettern hierhin oder dorthin geworfen wurde, dennoch nicht vorwärts kam und nicht viel segelte, sondern viel hin und her geworfen wurde, so hat derjenige, welcher lange lebte, aber sich sittlich nicht vervollkommnete, nicht lange gelebt, sondern lange existiert“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 228, 94 – 96; vgl. Seneca: De brevitate vitae 7,10). 80 „Vt qui se meminerunt inquilinos esse et in conducto habitare, et modestius se gerunt, et minus grauatim exeunt, ita qui intelligunt domicilium corporis ad breue tempus a natura commodatum esse, et viuunt temperantius et libentius moriuntur“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 212, Z. 827 – 830). Vgl.

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nächste Gleichnis thematisiert den frühen Tod; es stammt aus demselben Brief; die Quelle ist auch deutlicher erkennbar: „Wie derjenige glücklicher ist, den eine steife Brise schnell in den Hafen getragen hat, als derjenige, den lahme Winde und eine lange Flaute mit langweiligstem Verdruß erschöpft haben, so ist derjenige vom Schicksal begünstigter, den ein schneller Tod plötzlich aus dem Elend des Lebens herausreißt.“81 In dieselbe Kategorie gehört: „Wie ein Gladiator, der während des Kampfes überaus furchtsam ist, wenn es ans Sterben geht, dem Gegner tapfer seine Kehle hinhält und das fehlgehende Schwert leitet, so gibt der nahende Tod auch den Unerfahrenen den Mut, ihn, da er gekommen ist, tapfer anzunehmen, während sie ihn, solange er ferne war, fürchteten.“82 Vom stoischen Gleichmut sprechen die folgenden Gleichnisse: „Wie das Vieh, dessen auf rauhem Boden abgehärtete Hufe für jeden Weg taugen, während die des auf sumpfiger Weide gemästeten schnell abgetreten sind, ist der abgehärtete Geist weniger verletzbar.“83 „Wie der Hagel beim Aufschlagen auf die Dächer wegspringt, mit lautem Prasseln zwar, aber ohne Schaden, so können Schicksalsschläge dem Seneca: Epist. 8,70,16: „Nemo nostrum cogitat quandoque sibi ex hoc domicilio exeundum: sic ueteres inquilinos indulgentia loci et consuetudo etiam inter iniurias detinet.“ Zu dem ursprünglich pythagoreischen bzw. platonischen Bild von der im Leib in der Fremde wohnenden Seele vgl. auch: „Wie diejenigen, die in der Fremde wohnen, von vielen Unbequemlichkeiten bedrängt werden und sich immer über einen Teil ihrer Wohnung beschweren, so beschwert sich der Geist bald über den Kopf, bald über die Füße, bald über den Magen und bringt auf diese Weise zum Ausdruck, daß er nicht in seiner Wohnung ist, sondern dort, wovon er in Kürze ausziehen muß“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 226, Z. 49 – 52; vgl. Seneca: Epist. 19 – 20,11,3). 81 „Vt foelicior est quem ventus acrior cito in portum pertulit, quam quem venti segnes, et longa tranquillitas lentissimo tedio delassarunt, ita fortunatior, quem festinata mors statim his vitae malis eximit“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 212, Z. 831 – 833). Vgl. Seneca: Epist. 8,70,3: „Alium enim, ut scis, uenti segnes ludunt ac detinent et tranquillitatis lentissimae taedio lassant, alium pertinax flatus celerrime perfert.“ 82 „Gladiator tota pugna timidissimus, cum moriendum est, fortiter aduersario iugulum praestat et errantem gladium sibi attemperat: sic mors admota etiam imperitis animum dedit, vt praesentem fortiter ferant, qui cum procul abesset, formidabant“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 216, Z. 910 – 913). Vgl. Seneca: Epist. 4,30,8. 83 „Iumenta quorum in aspero indurata est vngula, quamlibet patiuntur viam, in palustri pascuo saginata cito subteruntur: sic animus duris rebus assuetus minus offenditur“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 214, Z. 860 – 862). Vgl. Seneca: Epist. 5,51,10.

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Weisen nichts anhaben.“84 „Wie ein geschickter Steuermann sowohl mit zerrissenem Segel fährt als auch, wenn er das Takelwerk verloren hat, dennoch den Rumpf des Schiffes auf Kurs hält, so bleibt ein tapferer Geist in einem wenig vom Glück begünstigten und hinfälligen Leib sich dennoch gleich.“85 Aber auch ein Gleichnis, das bei einer ausweglosen gesundheitlichen Situation eine Selbsttötung in Betracht zieht, hat Erasmus aufgenommen, obwohl er solches als eine einem Christen verwehrte Handlung einschätzt: „Wie man einem morschen und einsturzbedrohten Gebäude keine Stützen einzieht, sondern sieht, daß man hinauskommt, so soll man, wenn der Körper nicht mehr funktioniert, aus dem Leben scheiden.“86 Selbstverständlich darf das Bienengleichnis nicht fehlen, das Erasmus immer wieder gerne zitiert, um seine Leser einzuladen, sich durch möglichst breit angelegte Lektüre und persönliche Aneignung des Gelesenen Bildung zu verschaffen: „Wie die Bienen aus Unterschiedlichem unterschiedliche Säfte sammeln, diese aber durch ihren Hauch verändern und verdauen, da sie ansonsten keinen Honig produzierten, so sind alle Schriftsteller zu wälzen, aber das, was du liest, zu deinem Gebrauch umzuwandeln.“87 Das darf jedoch nicht dazu führen, daß man fremdes geistiges Eigentum nur leicht verfremdet als eigenes ausgibt, wovor Erasmus bei Seneca ebenfalls eine Warnung findet: „Wie Diebe an fremden Gefäßen die Henkel austauschen, damit diese nicht erkannt werden, so verändern einige an fremden Einfällen etwas ein 84 „Vt grando illisa tectis dissultat, magno quidem fragore, verum nulla noxia, sic insultus fortunae nihil potest in sapientem“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 214, Z. 873 f.). Der Hg. verweist nicht nur auf Seneca: Epist. 5,45,16, sondern auch auf Horatius: Carmina 3,3,7. 85 „Magnus gubernator et scisso nauigat velo, et si exarmauit, tamen reliquias nauigii aptat ad cursum: sic in corpore parum foelici ac deficiente, tamen fortis animus sui simile est“ (Erasmus: Parabolae; ASD 1/5, S. 216, Z. 914 – 916). Neben Seneca: Epist. 4,30,2 f. verweist der Hg. auf eine Fülle weiterer Bezugspunkte aus dessen Werk. 86 „Vt putri et ruinam minanti aedificio non adhibentur fulturae, sed circumspiciendum vt exeas, ita defecto corpore demigrandum e vita“ (Erasmus: Parabolae; ASD 1/5, S. 218, Z. 921 f.). Vgl. Seneca: Epist. 4,30,2. Zur Einschätzung des Selbstmordes durch Erasmus vgl. o. Anm. 41. 87 „Apes e variis varios colligunt succos, sed eos suo spiritu mutant ac digerunt, alioqui non facturae mel: sic euoluendi sunt authores omnes, sed quod legeris in tuos vsus transformandum“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 224, Z. 15 – 17). Vgl. Seneca: Epist. 11,84,2 – 5. Zum Bienengleichnis bei Erasmus vgl. Peter Walter (wie Anm. 13), S. 49 Anm. 274.

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wenig und beanspruchen sie für sich, sie lassen einige wenige Worte weg oder fügen sie hinzu und glauben, daß auf diese Weise als das Ihrige erscheint, was doch etwas Fremdes ist.“88 Dabei geht es nicht nur um das Problem des literarischen Plagiats, sondern, wie der Herausgeber der Parabolae, Jean-Claude Margolin, zur Stelle bemerkt,89 auch um das Problem der Lebensgestaltung, um Sein und Schein. In diese Richtung weisen viele der Gleichnisse, nicht zuletzt das knappe: „Wie goldene Zügel kein Pferd besser machen, so Glücksgüter keinen Menschen.“90 Auch wenn Frau Torheit den stoischen Weisen als Solipsisten kritisiert hat, macht Erasmus sich doch Senecas Aufforderung zum Nonkonformismus zu eigen: „Auf nichts muß man mehr achten als darauf, daß man nicht nach Art der Schafe der Herde der Vorangehenden folgt und nicht dahin strebt, wohin zu gehen ist, sondern wohin man geht.“91 Nach dieser Devise hat er sich nicht nur stilisiert, sondern auch gelebt, er, der in der Auseinandersetzung mit Luther äußerte: „Semper solus esse volui, nihilque pejus odi quam juratos aut factiosos.“92 Auch seine Zeitgenossen haben ihn so wahrgenommen, wie es in den Dunkelmnnerbriefen formuliert wird: „Erasmus est homo pro se.“93 Seneca war für Erasmus freilich nicht nur Weisheitslehrer, sondern auch als Vermittler von Wissen wichtig. In der Ratio verae theologiae zitiert er eine entscheidende Einsicht, die er dann theologisch entfaltet, mit seiner Hilfe: „Simplex est, iuxta tragici sententiam, veritatis oratio; 88 „Quemadmodum fures alienis poculis ansas mutant ne possint agnosci, ita nonnulli de alienis inuentis paululum quiddam immutant ac sibi vsurpant, et detractis aut additis pauculis verbis, existimant suum videri posse, quod est alienum“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 224, Z. 22 – 25). 89 Vgl. ASD Bd. 1/5, S. 225 zu Z. 22 – 25. 90 „Non faciunt equum meliorem aurei freni, nec hominem meliorem fortunae ornamenta“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 216, Z. 888 f.; vgl. Seneca: Epist. 4,41,6). In die gleiche Richtung weist: „Wie ein Schauspieler nicht glücklicher ist, weil er auf der Bühne kostümiert als König oder Gott erscheint, so ist auch kein Mensch etwas aufgrund von Glücksgütern, da er nach seinen eigenen Gütern eingeschätzt wird“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 220, Z. 962 – 964; vgl. Seneca: Epist. 9,76,31). 91 „Nihil ergo magis praestandum est quam ne pecorum ritu sequamur antecedentium gregem, pergentes non quo eundum est, sed quo itur“ (Erasmus: Parabolae; ASD Bd. 1/5, S. 224, Z. 36 f.). Wörtliches Zitat aus Seneca: De vita beata 1,3; weitere Verweise in der Anm. zur Stelle. 92 Erasmus: Hyperaspistes Diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus; in: LB Bd. 10, Sp. 1252A. 93 Epistolae obscurorum virorum, ed. Aloys Bömer, 2 Bde, Heidelberg 1924, Nachdruck Aalen 1978, Bd. 2, S. 187, Z. 25.

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nihil autem Christo neque simplicius neque verius.“94 Der Tragödiendichter, dem Erasmus die auf Christus hin gedeutete Aussage von der Einfachheit der Wahrheit entlehnt, ist Euripides.95 Hier aber zitiert er diesen namentlich nicht genannten „tragicus“ nach Seneca, den er allerdings ebenfalls verschweigt.96 Nicht daß er als Übersetzer von zwei Stücken des Euripides (Hecuba und Iphigenia Aulidensis 97) diesen nicht selber hätte zitieren können. In seinem Adagium „Veritatis simplex oratio“ tut er es als Frucht seiner intensiven Studien griechischer Autoren im Hause des Aldus Manutius, aus denen die Venezianer Ausgabe der Adagia von 1508 hervorgegangen ist. Erst in der Basler Ausgabe von 1515 fügt er das Seneca-Zitat ein, das ihm wohl bei der Arbeit an der Edition von dessen Werken bekannt geworden war.98 In der Ratio verae theologiae nimmt er dieses statt des euripideischen Originals wieder auf. In derselben Anleitung zur Schriftauslegung verweist Erasmus, wenn es um Hilfsmittel zur Erklärung der biblischen Realien geht, neben Werken von Aristoteles, Theophrast, Plinius u. a. auch auf die Naturales quaestiones Senecas.99 Wenn er den Theologen einen Bildungshintergrund empfiehlt, um die Bibel besser zur verstehen, dann faßt er dies wiederum mit einer Sentenz Senecas zusammen, der hinsichtlich der „studia liberalia“ die Meinung vertreten habe: „Quaedam didicisse oportet, non discere“.100 Und den zeitgenössischen Theologen, die ihm 94 Erasmus: Ratio verae theologiae; Holborn, S. 280, Z. 4 f. Zu der die Zusammenhänge eher verschleiernden als erhellenden Anmerkung zur Stelle vgl. die Rezension von Rudolf Pfeiffer, in: Gnomon 12, 1936, S. 625 – 634 hier S. 627. 95 Euripides: Phoenissae 469. 96 „Nam, ut ait ille tragicus, Veritatis simplex oratio est […]“ (Seneca: Epist. 5,49,12). 97 Euripidis Hecuba et Iphigenia latinae factae Erasmo interprete, ed. Jan Hendrik Waszink, in: ASD 1/1, S. 193 – 359. Vgl. Erika Rummel (wie Anm. 72), S. 28 – 47. 98 Vgl. Erasmus: Adag. 288: „Veritatis simplex oratio“, ed. M. L. van Poll-van de Lisdonk – M. Mann Phillips – Chr. Robinson, in: ASD Bd. 2/1, S. 394 f. Diese Arbeitsweise ist typisch für den unermüdlichen Sammeleifer des Erasmus. 99 Vgl. Erasmus: Ratio verae theologiae; Holborn, S. 186. In seinen eigenen Anmerkungen zum Neuen Testament rekurriert Erasmus, soweit das anhand der im Erscheinen begriffenen kritischen Edition in der Amsterdamer Ausgabe überprüfbar ist, an mehreren Stellen auf Seneca, allerdings in stilistischen Fragen. Dies gilt auch für den einzigen Bezug auf Senecas Naturales quaestiones: Erasmus: Annotationes in Novum Testamentum, pars secunda, ed. P. F. Hovingh, in: ASD Bd. 6/6, S. 74, Z. 1. 100 Erasmus: Ratio verae theologiae; Holborn, S. 193, Z. 9. Vgl. Seneca: Epist. 11, 88,2: „Non discere debemus ista, sed didicisse“.

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für seine bibelphilologische Arbeit wenig Dankbarkeit entgegenbrachten, sondern diese als Infragestellung oder gar Zerstörung der biblischen Autorität kritisierten, entgegnete er mit einer Zusammenstellung aus Senecas De beneficiis über die Undankbarkeit.101

Senecas Bedeutung für gebildete Christen William J. Bouwsma hat in einem eindrucksvollen Überblick Stoizismus und Augustinismus als die beiden Antagonismen des Denkens im Zeitalter des Humanismus herausgearbeitet, wobei ersterer für ein vernunftoptimistisches, aber mehr statisches und deshalb auch konservatives Denken stehe, während letzterer den Vorrang des Willens betone und deshalb auch offen für geschichtliche Veränderungen sei.102 Wie Bouwsma zu Recht hervorhebt, geht es dabei nicht um genau abgrenzbare Parteien, zumal viele Personen mit entsprechenden Aussagen bei der Beschreibung jeder der beiden Seiten vertreten sind, sondern um eine polare Spannung, die die Epoche besser verstehen lassen soll.103 Erasmus hat er dabei mehr der stoischen Seite zugeschlagen.104 Dafür gibt es, wie Bouwsma ausführt, viele gute Argumente im einzelnen.105 Letztlich wird die Einschätzung des Erasmus als Stoiker diesem aber nicht gerecht. Vieles am Stoizismus, d. h. an der stoischen Ethik, sagt ihm zu. Aber da gilt für ihn, was der jüngst verstorbene Freiburger Altkirchenhistoriker und Patrologe Karl Suso Frank immer wieder geäußert hat, daß die christliche Ethik, v. a. die asketische des Mönchsstandes, in mancher Hinsicht ein mit Weihwasser besprengter Stoizismus sei.106 Wenn es um die Frage der menschlichen Motivation zum Handeln geht, dann ist Erasmus letztlich kein Stoiker. Dies zeigt 101 Erasmus: Apologia; Holborn, S. 164. Auch in seinen Briefen greift Erasmus auf Passagen aus dieser Seneca-Schrift zurück. Vgl. Winfried Trillitzsch (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 249 Anm. 135. 102 William J. Bouwsma, The Two Faces of Humanism. Stoicism and Augustinianism in Renaissance Thought, in: Itinerarium Italicum. The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of Its European Transformations. Dedicated to Paul Oskar Kristeller on the occasion of his 70th birthday, hg. von Heiko A. Oberman – Thomas A. Brady, Jr., Leiden 1975, S. 3 – 60 (Studies in Medieval and Reformation Thought 14). 103 Vgl. William Bouwsma (wie Anm. 102), S. 52. 104 Vgl. William Bouwsma (wie Anm. 102), S. 57. 105 Vgl. William Bouwsma (wie Anm. 102), S. 21 – 27. 106 In nicht so launiger Formulierung vgl. Karl Suso Frank, Grundzge der Geschichte des christlichen Mçnchtums, Darmstadt 1975, S. 5 f. (Grundzüge 25).

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sich etwa bei der Affektenlehre. Die Gegenüberstellung von stoischer und peripatetischer Affektenlehre107, die für Erasmus wichtig ist, scheint er von keinem Geringeren als Augustinus übernommen zu haben, der in De civitate Dei ähnlich argumentiert wie Erasmus im Enchiridion, auch wenn sich kaum wörtliche Übereinstimmungen zwischen beiden finden.108 Der Sache nach aber ist Erasmus mit dem Kirchenvater einer Meinung. Bei der Affektenlehre geht es sowohl für Augustinus wie für Erasmus nicht um eine philosophische Spezialität, sondern um den Dreh- und Angelpunkt des christlichen Menschen- und Gottesbildes, letztlich um den Stellenwert der Gnade, für die in einem rein stoischen Denken kein Platz ist, wie Erasmus ja auch bei seiner Einschätzung der „Christlichkeit“ Senecas hervorhebt. Gnade schließt für Erasmus, wie er im Disput mit Martin Luther herausgearbeitet hat, das Bemühen des Menschen nicht nur nicht aus, sondern ein, sie stimuliert es gerade.109 Unter dieser Voraussetzung kann Erasmus der stoischen Pflichtethik dann doch wieder viel abgewinnen. Auf die Gnade Gottes vertrauen heißt keineswegs die Hände in den Schoß legen. Erasmus schließt den Abschnitt im Enchiridion über die Affekte mit dem Satz: „Magna pars Christianismi est toto pectore velle fieri Christianum.“110 Dies ist nichts anderes als die Übertragung eines Gedankens Senecas ins Christliche: 107 Bereits Seneca weist auf den Unterschied in der Einschätzung der Affekte zwischen Stoikern und Peripatetikern hin: „Vtrum satius sit modicos habere adfectus an nullos, saepe quaesitum est: nostri illos expellunt, Peripatetici temperant“ (Seneca: Epist. 19,116,1). 108 Vgl. Augustinus: De civitate Dei 9,4. Von Seneca ist in diesem Zusammenhang bei Augustin allerdings nicht die Rede. Charles Béné geht in seiner Studie: rasme et saint Augustin ou l’influence de saint Augustin sur l’humanisme d’ rasme, Genève 1969 (Travaux d’humanisme et renaissance 103), S. 158 f., wo er die entsprechende Passage des Enchiridion behandelt, nicht auf einen Bezug zu Augustinus ein. 109 Vgl. Erasmus: De libero arbitrio IV 8; De libero arbitrio diatqib^ sive collatio per Desiderium Erasmum Roterodamum, ed. Johannes von Walter, Leipzig 1934 (Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus 8), S. 82 f. Die Rückführung der Auseinandersetzung auf den Gegensatz zwischen Stoa (Luther) und Skepsis (Erasmus), wie ihn Marjorie O’Rourke Boyle versucht hat, wird beiden Kontrahenten des 16. Jahrhunderts nicht gerecht. Vgl. Marjorie O’Rourke Boyle, Rhetoric and Reform. Erasmus’ Civil Dispute with Luther, Cambridge, Massachusetts – London 1983 (Harvard Historical Monographs 71) sowie die Rezension von Manfred Hoffmann, in: Erasmus of Rotterdam Society Yearbook 4, 1984, S. 154 – 162. 110 Erasmus: Enchiridion; Holborn, S. 46, Z. 37–S. 47, Z. 1.

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„pars magna bonitatis est uelle fieri bonum“111. Ein Vierteljahrhundert später, 1527, zitiert Erasmus diese Passage am Ende des zweiten Teils seiner Schutzschrift der Diatribe [über den freien Willen] gegen den Geknechteten Willen Martin Luthers expressis verbis, zugleich aber mit größerer theologischer Umsicht.112 Um den Vorwurf des Pelagianismus zu vermeiden, den Luther gleichwohl gegen ihn erhebt, macht er deutlich, daß er diese Worte nicht als Aussage über die Gnade der Erlösung – das liefe auf eine ebenso von ihm wie von seinem Kontrahenten abgelehnte Selbsterlösung hinaus –, sondern über deren mit der Schöpfung gegebene Voraussetzungen gebraucht.

111 Seneca: Epist. 4,34,3. Darauf hat Otto Schottenloher, Zur Funktion der loci bei Erasmus, in: Hommages  Marie Delcourt, Bruxelles 1970 (Collection Latomus 114), S. 317 – 331, hier S. 328 Anm. 2 hingewiesen. 112 „Est autem, ut Seneca scribit, magna pars bonitatis, velle bonum fieri. Ea voluntas quo magis recedit ab imperfectione, hoc homo vicinior est gratiae“ (Erasmus: Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber secundus, in: LB Bd. 10, Sp. 1533D).

Montaignes skeptische Stoa-Rezeption von Hugo Friedrich Vorbemerkung: Die folgenden Textpartien aus dem klassischen Werk von Hugo Friedrich: Montaigne (1. Auflage 1949, 3. Auflage Tübingen und Basel 1993) gelten dem Stellenwert der Stoa in Montaignes Essais (S. 60 – 69, hier S 525 – 537) und speziell seinem oft an stoischen Texten orientierten Reflexionen über den Tod (S. 252 – 260; hier S. 537 – 548). Zu den stoischen wie den anderen Quellen Montaignes sei verwiesen auf Pierre Villey: Les sources et l’volution des Essais de Montaigne. 2 Bde, 2. Aufl. Paris 1933 (zuerst Paris 1908). Zum neueren Stand der Forschung gibt das Dictionnaire de Montaigne Auskunft.

[…] Montaigne verschrieb sich keiner der antiken eudämonologischen Schulen vollständig. Man kann ihn weder einen Stoiker, noch einen Epikureer, noch selbst einen reinen Skeptiker nennen. Um so merkwürdiger aber ist, wie sich die allgemeinen Grundzüge hellenistischen Geistes bei ihm wiederholen. Der Hellenismus erwuchs seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert als eine aus der Polis und dem nationalen Selbstbewußtsein der Griechen heraustretende, Europäisches und Nahöstliches umspannende Weltkultur.1 In seinem Schoße ist die Idee einer kosmopolitischen Menschheit entstanden. Die römischen Schriftsteller von Cicero bis Marc Aurel haben diese Idee, die von der Stoa naturrechtlich rationalisiert worden war, den späteren Jahrhunderten als eines der edelsten Besitztümer des Abendlandes übermittelt. Im Gewahrwerden eines weiten Horizontes der Staaten, Völker und Religionen erwachte zugleich das (einstmals von den Sophisten vorbereitete) Interesse an einer Persönlichkeitskultur, die den – bei jeder Horizontausweitung entstehenden – Sinn für 1

Zum Hellenismus sei verwiesen auf: J. Kaerst, Geschichte des Hellenismus, insbesondere Bd. II, 21926; U. v. Wilamowitz, Hellenistische Dichtung, 1924, insbesondere Bd. I, Kap. 1: Die Umwelt; P. Wendland, Die hellenistisch-rçmische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum, 31912; W. Tarn, Hellenistic Civilisation 31952 (deutsch: Die Kultur der hellenistischen Welt, übersetzt von G. Bayer, 1966); M. Rostovtzeff, Die hellenistische Welt. Gesellschaft und Wirtschaft I-III, 1955 – 1956. – Ich kann hier natürlich nur summarisch sprechen, ohne Berücksichtigung der Periodisierung des Hellenismus, wie sie Wilamowitz, a.a.O. (und auch in seinem Abriß der griechischen Literatur in Hinnebergs Kultur und Gegenwart), unternommen hat.

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fremde Individualitäten mit dem Geltungsgefühl der eigenen verband. Der einzelne Mensch wurde bedeutsam in seinen empirischen Besonderheiten, und er wurde biographisch oder autobiographisch bis in die unscheinbarste Intimität hinein dargestellt. Aber er wurde noch bedeutsamer als ein Wesen, das sich aus eigener Vernunft einzugliedern vermochte in die Weltvernunft, um so die sittliche, von keiner Autorität abhängige Selbstbehauptung und Glückseligkeit zu finden. In dieser Auffassung sammelte sich das höchste Bemühen der hellenistischen Philosophie: sie wurde Ethik. Die Geschichte der stoischen und epikureischen Schulen bezeugt das Ermatten der spekulativen Kräfte und das Zunehmen der ethischen Persönlichkeitspflege. Der Idealentwurf eines Weisen bildet sich aus, im Bezirk einer Lebenskunst, die den Menschen vor der äußeren und inneren Lebensnot zu schützen strebt. Jeder kann weise werden; die Bedingungen dazu liegen in seinen Kräften, nicht in einer sozial oder politisch oder priesterlich privilegierten Stellung. Weisheit erhebt sich über das Sachwissen und über die theologische oder naturphilosophische Spekulation; sofern die letztere beachtet wird, dient sie der Lebensführung und wird, als etwas Beioder sogar Untergeordnetes, durch eklektische Rezeption befriedigt. Eine philosophische Seelsorge entsteht, die anderes im Auge hat als den Ruhm der heroischen Tat. Der Mensch, der als jeweils einzelner wissen will, was er ist und wie er mittels der sittlichen Steigerung der in ihn gelegten Vermögen zur Harmonie mit sich und mit der Weltvernunft gelangen kann, hat seine Glücks- und Weisheitslehre auf einer Berücksichtigung der persönlichen Vielartigkeit aufgebaut, für die der einstige hellenische Gattungsbegriff vom Menschen nicht mehr ausreicht. Wie nun auch die Ziele der verschiedenen Weisheitslehren aussehen, ihnen allen ist gemeinsam, daß sie eine Unabhängigkeit der Persönlichkeit von der Außenwelt, aber auch von den die Persönlichkeit selber bedrohenden willensfremden Schichten wünschen. Wesentlicher und für die spätere Nachwirkung noch folgenreicher ist es, daß diese ethische Philosophie, die von Affekten spricht und Maximen zu ihrer Lenkung oder Beseitigung ersinnt, überhaupt einen Bezirk betritt, der durch seine unmittelbaren, jeden Menschen in der Lebensnot angehenden Gehalte dem Sachwissen überlegen ist: das Selbstsein. Alle die seelischen Ereignisse, die vom täglichen Lebensablauf geweckt werden oder den Ausblick auf das Lebensganze begleiten oder dies Lebensganze und die Sorge des Menschen um seine Stellung in ihm erst zur intensiven Erfahrung machen: Angst, Schmerz, Mitleid, Schwermut,

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Überdruß, Todesfurcht – sie alle erscheinen hier in ihrem vollen nachdenkenswerten Ernst. Der große Einfluß, der von der nacharistotelischen Weisheitslehre über die Jahrhunderte hingegangen ist, kommt nicht so sehr von ihrem Vorhaben, Affekte zu überwinden, als vielmehr davon, daß sich hier der Mensch in seinem vertrauten Innenraum angesprochen fühlt, wo die Erfahrung des Ungenügens, des gestörten Gleichgewichts, der Nichtübereinstimmung mit dem erwünschten Lebensplan zu Hause ist und wo die Freiheit des Selbstseins von Untergründen her gefährdet wird, die man in sich selber trägt und die noch so fremd sind wie das äußere Schicksal. Was sich dann als stoische oder epikureische Ethik an diese Erschließung des menschlichen Innenraums anfügt, ist eine Zutat, die geringer ins Gewicht fällt als die Erschließung selbst. Die Pathologie der Ethiker hat stets mehr gewirkt als ihre Therapie. Zu diesen Merkmalen des hellenistischen Denkens tritt dann eine aufgelockerte literarische Darstellung, die für die werbende Fühlungnahme, welche der ethische Philosoph mit dem Leser sucht, durchlässiger ist als der systemstrenge große Traktat. Sofern die Weisheitskultur nicht überhaupt beschränkt bleibt auf den mündlichen Umgang in einem eingeweihten Kreis von Lehrern und Schülern, schafft sie sich eine Mitteilungsform, die sich dem freien, immer von neuem beginnenden Meditieren anschmiegt und geeignet ist, in die tägliche Lebenspraxis einer weiteren Öffentlichkeit hineinzuwirken. Im Brief, in der Streitschrift, im Dialog, in den Tischgesprächen, in den Maximen-, Kuriositäten- und Apophthegmensammlungen werden Gebilde der offenen und kurzen Form gepflegt, die ohne scharfe Grenze ineinander übergehen. Anschaulichkeit, essayistische Behandlungsart, Verzicht auf spezielle Wissensvoraussetzungen, ästhetische Stilreize, die das variierte Wiedersagen von oft Gesagtem gestatten, sowie die Buntheit eines reichlichen Zitierens und Anekdotenerzählens sind ihre Eigentümlichkeiten. Nachdem in der römischen Ausstrahlung des Hellenismus die einzelnen Schulen in den Grundzügen und in den Darstellungsformen einander ähnlich geworden waren, greift die stoisch-epikureische Weisheit der Römer schließlich auch auf die anderen Gattungen über und wird in der Lyrik, in der Epik und in der Geschichtsschreibung kaum minder ausdrucksfähig als im theoretischen Schrifttum. Für die Nachwirkung des späthellenistischen Weisheitsgutes kommen daher Horaz, Vergil, sogar Tacitus ebenso in Betracht wie Seneca und Epiktet – von einem zwischen Lehre und Dichtung stehenden Autor wie Lucrez ganz abgesehen.

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Alle diese Züge bewahren nun ihren festen, organischen Zusammenhalt und kehren vereint wieder, wo künftighin die Weisheit der alternden Antike rezipiert worden ist. Wir finden sie auch bei Montaigne. Kosmopolitische Weite – Wendung zur Persönlichkeitskultur – Vorrang der Weisheit als Beschäftigung mit dem Glücksbedürfnis des Ich – eklektischer Ausgleich zwischen den verschiedenen Schulen – offene Form des Meditierens und Schreibens: das sind die allgemeinsten Merkmale Montaignes, die sich mit dem Hellenismus und seinen römischen Erben decken. Nur die ethische Idealität, das therapeutische Ziel tritt bei ihm erheblich zurück und macht einer beschreibenden Betrachtung der Individualität Platz. Innerhalb dieses typenhaften Rahmens vollziehen nun die Essais ihre umformende Verarbeitung des stoischen, epikureischen und pyrrhonistischen Lehrgutes. Zunächst die Stoa. Mit ihr ist Montaigne vertraut durch Seneca, durch die Stoareste und -referate bei Cicero und durch die antistoischen Stücke der Moralia des Plutarch; dazu kommt ergänzend das Studium des Diogenes Laërtius. Am gründlichsten ist indessen seine Lektüre des Seneca. Das nötigt uns, etwas bei diesem Gegenstand zu verweilen. Ungefähr gleichzeitig mit der Niederschrift der ersten Essays beginnt er den römischen Ethiker zu lesen. Die Bücher I und II sind überfüllt mit Entlehnungen aus ihm. Im dritten Buch ist die Einwirkung zurückgegangen, um nach 1588 noch einmal anzuschwellen. Am schätzenswertesten sind ihm die Lucilius-Briefe, die zusammen mit Plutarchs Moralia seinem Geschmack des beliebig anblätternden Lesens entgegenkommen. Es ist der offene Denk- und Formenstil Senecas, der ihn als verwandt und sympathisch berührt. Er nimmt die philosophische Energie des Römers sehr ernst, nämlich als Ausfluß einer persönlichen Lebensführung, die hält, was die Theorie verspricht (II, 31, p. 695 a; 519). Damit schützt er ihn gegen ein herkömmliches Urteil, das ihn als Poseur verdächtigt2, und es will etwas bedeuten, wenn Montaigne, dem

2

Vgl. etwa Petrarca, Fam. XXIV, 5, wo kritisiert wird, daß Leben und Lehre des Seneca einander widersprächen. Anfänge solcher Kritik bei Dio Cassius. Später noch im 17. Jahrhundert beliebter Gemeinplatz, daß Seneca ein Heuchler gewesen sei. Man vergleiche das Titelbild der ersten Ausgabe von La Rochefoucaulds Sentences et maximes, das eine Seneca-Büste darstellt, der Amor (als „amour de la vérité“) die Philosophenmaske abgenommen hat. (La Rochefoucauld, Œuvres, ed. Gilbert-Gourdault, „Album“.) Ähnlich wie Montaigne

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jedes bloß vortäuschende Gehaben zuwider ist, an die Redlichkeit eines Geistes glaubt. Im Reisetagebuch vermerkt er (p. 274) das Glück, daß ihm vergönnt war, eine Seneca-Kopie der Vaticana sehen zu dürfen. Häufig stellt er Seneca mit Plutarch zusammen; beide sind seine am meisten befragten Autoren. „Je n’ay dressé commerce avec aucun livre solide, sinon Plutarque et Seneque, où je puyse comme les Danaides, remplissant et versant sans cesse“, schreibt er noch spät (I, 26, p. 157 c; 188). Die Zusammenstellung und der Vergleich beider – in einem besonderen Essay, II, 32, durchgeführt – ist herkömmlich. Aber weniger herkömmlich ist es, daß der Vergleich bei Montaigne stets zugunsten des Griechen ausfällt. Plutarch gilt ihm als der reichere, zugänglichere, menschlichere, wärmere Geist, der der Willensgespanntheit und intellektuellen Schärfe des Römers überlegen ist (II, 10, p. 395 a/b; 109 und III, 12, p. 1009/1010 b/c; 326/327). Das gibt den ersten Fingerzeig für den Gesichtspunkt, aus dem Montaigne seine Wahl oder Verwerfung Senecaischer Ideen vornimmt. Die häufige Seneca-Berufung in den Essais darf nicht als Beweis einer stoischen Phase oder Schicht in Montaigne ausgelegt werden. Es sind nur Bruchteile, die er von dem Römer übernimmt, und zwar gerade solche, die nicht im Kern, sondern am Rande der stoischen Ethik liegen. Als Seneca schrieb, hatte die Stoa längst die asketische Härte ihrer Anfänge abgestreift. Seit ihrem Eindringen in den römischen Bildungskreis (im zweiten vorchristlichen Jahrhundert) war eine Milderung und Urbanisierung erfolgt, die den Weisen nicht mehr in eine über- oder unmenschliche Höhe hinaufstellte, sondern Weisheit auch innerhalb der gesellschaftlichen Kultur und einer vernünftig gelenkten Alltäglichkeit für möglich erachtete. Das Interesse hatte sich den Strebenden, den auf dem Weg Befindlichen, den „Fortschreitenden“ (procedentes) zugewandt. Ihnen wollte die Philosophie seelsorgerisch helfen, durch behutsames Eingehen auf die natürlichen Lebensmaße. Von dieser liberaleren Gesinnung sind auch die Schriften Senecas noch durchdrungen, insbesondere die Lucilius-Briefe. Sie bringen mit ihren häufigen Epikur-Zitaten zum Ausdruck, daß sie nicht orthodoxen Stoizismus lehren wollen, sondern die Weisheit der Welt- und Selbstüberwindung, aus welcher Quelle auch immer sie geschöpft sein mag. Trotzdem ist die Grundidee der Senecaischen Ethik immer noch streng und hart genug. Sie unterscheidet den Menschen wie er ist vom wird später Diderot den Seneca verteidigen (Œuvres compltes, ed. Assézat et Tourneux, d. III, S. 160).

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Menschen wie er sein soll und beruht damit auf der Entgegensetzung zweier Wertgruppen, von denen der ersteren der Charakter der Krankheit, der anderen der Charakter der Gesundheit zukommt. Eine unruhige Disharmonie ist im Menschen, wie Seneca ihn auffaßt, ein Widerstreit zwischen Oben und Unten, zu bewältigen nur durch einen Willensdruck, der den Triumph des Oben über die Widerstände des Unten erringt. Die erstrebte geistige Festigkeit (firmitas animi, ep. 20) bringt das Fließen und Schwanken (fluctuare, vacillare, ebenda) der triebbestimmten Unterschicht zum Stehen und überwölbt sie in einer Ruhe, die von allen willensfremden Bedingungen unabhängig ist: „Nulla placida quies est nisi quam ratio composuit“ (ep. 56; „Es gibt keine Heiterkeit und Ruhe, außer der von der Vernunft geschaffenen“). Der Mensch gewinnt, auch als Einzelpersönlichkeit, die imperiale Macht und Würde über das Schicksal und über sich selbst. Er wird „sui possessor“ (ep. 12) und vermag „supra fortunam surgere“ (ep. 44). Durch seine Vernunft schließt er sich an die Vernunft der Weltordnung an. Zwar hat er ein Bewußtsein vom unaufhörlichen Geschiebe der Verhältnisse, in denen nichts vorauszuberechnen ist. Aber er kann sich lösen aus der Gefahr, die Verhältnisse illusionär zu bewerten, während der Unweise die Verhältnisse bald zu groß, bald zu klein sieht. Er lernt, Sein und Schein zu unterscheiden. „Non hominibus tantum, sed et rebus persona demenda est, et reddenda facies sua“ (ep. 24; „Nicht bloß den Menschen, auch den Dingen muß die Maske weggenommen und ihr wahres Gesicht wiedergegeben werden“). Die auf ihr objektives Maß zurückgeführte, von den Schrecknissen des Scheins nicht mehr verdeckte Realität begreift er als auferlegte Notwendigkeit; er macht sich eins mit ihr und wird, indem er sie in den eigenen Willen hereinnimmt, frei. „Nihil invitus facit sapiens. Necessitatem fugit, quia vult quod ipsa coactura est“ (ep. 54; „Wider seinen Willen tut der Weise nichts. Er entzieht sich der Notwendigkeit, weil er will, wozu sie ihn zwingen möchte“). Der weise werdende Mensch, eingeübt auf die Grenz- und Notlagen, hält alles aus. Armut, Ehrverlust, Todesbedrohung, aber auch die kleinen zermürbenden Störungen des Alltäglichsten fließen an ihm ohne Verletzung vorbei. Selbst die leidvolle Nichtigkeit des Daseins, die sich im Lebensekel auftut, besteht er gleichmütig – und Seneca hat diese Nichtigkeit in einer unvergeßlichen Formulierung ausgesprochen: wir werden angezündet wie das Licht und ausgelöscht wie das Licht, in der kurzen Zwischenspanne aber sind wir zum Leiden bestimmt (ep. 54). Was das Notwendige über seine bloße Notwendigkeit hinaus noch sei, weiß der Mensch nicht; nur wie er sich dazu

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verhalten soll, kann er wissen. Inmitten der metaphysischen Ungewißheiten ist er ein Wesen, das seiner Würde genug getan hat, wenn er das Notwendige in einen Akt seines eigenen Willens zu verwandeln vermochte. Aber das ist ein herrischer, kein fügsamer Wille. Eine unverkennbare Lust, Widerstand zu finden und am Widerstand zu wachsen, lebt in ihm. „Crescit animus ipsa rerum difficultate“ (ep. 22; „Gerade durch die Schwierigkeit selber wächst der Mut“). Es ist etwas Militantes in dieser Ethik; ihre Sprache greift nicht umsonst so oft nach militärischen Vokabeln und Bildern. Zwar spricht Seneca gerne von der Heiterkeit des Weiseseins. Aber das ist eine erarbeitete, dunkelgefärbte, keine gelöste Heiterkeit. Man wittert in ihr noch den Hauch altstoischen Asketentums. Doch bliebe das Bild Senecas unvollständig, wenn man es auf das stoisch-voluntative Kernstück beschränken wollte. Ein Kranz mildernder Züge umgibt dieses Kernstück. Seneca will sich und andere heilen, aber nicht mit derber Arznei, sondern in kleinen, erträglichen Dosen. So unerbittlich er auch den Menschen auseinandertrennt in ein feindselig gespanntes Oben und Unten, sein asketischer Idealismus hat doch kein dröhnendes Pathos. Schon der Stil verrät das. Die Sätze, in denen der Ertrag seiner Überlegungen enthalten ist, fallen gleich schweren, zögernden Tropfen in die Tiefe und gerinnen zu unzerbrechlichen, aber nie herausfordernden oder verletzenden Formulierungen. Sein Wissen von den menschlichen Anfälligkeiten ist nicht nur polemisch, sondern auch verstehend. Er weiß, daß wir der Güte bedürfen. Er rückt nahe an die Humanität späteren Wortverständnisses, ohne freilich den endgültigen Schritt in sie hinein tun zu können. Denn am Ende bindet ihn immer wieder die vereinsamte Würde der in sich gesammelten, über allem Wogen und Werden stillstehenden Persönlichkeit. Aber er sieht die ethische Aufgabe stets in bezug auf den sich hinverwandelnden Einzelnen und nimmt Rücksicht auf dessen Anlage und Lebensverhältnisse. In seinen entgegenkommendsten Briefen bietet er ihm die Weisheit an wie eine leicht zu pflückende, anmutige Frucht. Er wirbt um ihn und übt mit ihm anhand der täglichen Kleinigkeiten, an denen er ihm zeigt, wie die Freiheit auf der Hut sein muß vor dem Geringsten und wie sie doch ihre Waffen so greifbar nahe zur Hand hat, nämlich in der eigenen Vernunft. So wie der Arzt seine Heilvorschriften nur dann mit Gewähr auf Erfolg geben kann, wenn er zuvor den Puls des Kranken befühlt hat, so darf der Philosoph nicht mit allgemeinen Maximen kommen, sondern muß den besonderen Fall durchforschen, heißt es einmal; und: „ex longinquo nemo suadebit, cum rebus ipsis

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deliberandum est“ (ep. 22; „aus der Ferne kann niemand überzeugen; die Dinge selber müssen erwogen werden“). Daher das erwärmende Eingehen auf die Lebensdetails, das die Briefe so reich macht. Seneca führt sich selber in einer Reihe konkreter Situationen vor, an denen er das Heranwachsen und Verfahren der Weisheit zeigt, mit der er ihrer Herr wird: ein Spaziergang in seinem herbstlichen Garten unter den Mahnzeichen des Alterns und Sterbens, – die Teilnahme an einem Bankett, – Amtsgeschäfte, – die Wohnung in der Umgebung eines lärmenden Badehauses, – die furchterregende Grotte von Neapel usw. Auch wenn das alles mit dem Tonfall exemplarischer Vorbildlichkeit erklingt und wenn die Individualität auch nur darum von sich redet, weil sie sich als Lehrfall vorführen möchte, so genügen doch solche Sinnfälligkeiten, um die eintönige Grundtheorie dieser Ethik aufzulichten. Eine weitere Schmeidigung geschieht durch den psychologischen Feinsinn, der noch die geheimsten Verführungen des Willens aufspürt, die aus den Genuß- und Illusionsbedürfnissen der Seele drohen. Das hat zwar die Absicht, den ethischen Herrschaftswillen bis in die letzten Tiefenschichten hineinzutreiben. Aber solche Analysen (etwa der Schwermut, des Traumes, der Eitelkeit usw.) ergeben Einsichten, die zum Klügsten gehören, was antiker Seelenkunde geglückt ist, und die eine über ihre ethische Absicht hinausreichende menschliche Gültigkeit haben. Die reiche Selbst- und Menschenerfahrung, über die Seneca verfügt, bleibt nicht ohne Einfluß auf seine Weisheitspraxis. Schon die frühere römische Stoa hat, wie wir sagten, die bedingungslose, weltflüchtige Askese der griechischen Schule gemildert. Er mildert sie noch mehr (vgl. insbesondere De vita beata, cap. 23 – 25). Er verlegt die Spannung zwischen Welt und Persönlichkeit in das Innere der Persönlichkeit selbst, wo sie in einer unpathetischen Überwindung bewältigt wird, die nicht mehr als leibliche Weltflucht aufzutreten braucht. Er will den Menschen nicht gewaltsam aus seinen Lebensbedingungen herausreißen. Inmitten der Welt von der Welt unabhängig sein: das ist der Sinn seiner verinnerlichten Weisheit. Der lebenskundige, urbane Römer durchschneidet die Weltgebundenheit nicht mehr, sondern entmächtigt sie in einer verborgenen Distanz. Er geht durch die gegebenen Verhältnisse unberührt mitten hindurch und übt das „secum morari“ (ep. 2) auf den Schauplätzen des öffentlichen Lebens, auf denen der Schwächere der Selbstentfremdung zu verfallen pflegt. Das klassische Problem der antiken Ethik, nämlich das Verhältnis des Weisen zu den Unweisen, zum „vulgus“, löst Seneca so, daß er die innere Un-

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vulgarität des Weiseseins verschließt hinter einem weltangepaßten Antlitz. „Intus omnia dissimilia sint: frons populo nostra conveniat“ (ep. 5; „Im Inneren darf alles ein anderes sein; unser Äußeres aber passe sich der Welt an“). Eine Mitte wird angeraten zwischen innerer Ferne und äußerer Umgänglichkeit, die dem Weisen Schutz bietet vor dem Hohn der Verständnislosen. So wird in Seneca eine hohe, lebenskluge Kultur erreicht, die imstande ist, gleichzeitig die Besonderheiten der Individualitäten und der Lebenslagen wie auch die allgültige Freiheit eines persönlichen Selbstseins zu umspannen, und die jedem, dem Ritter wie dem Sklaven (vgl. ep. 31), die Chance der ethischen Würde zeigt. Daß die Moralphilosophie des Seneca also nicht nur aus einer stoischen Kernidee besteht, sondern auch aus zahlreichen verfeinerten Nebenerscheinungen, dies hat zur Folge, daß er auch von nichtstoischen Lesern geschätzt werden kann. Das ist bei Montaigne der Fall. Geht man seine Zitate und Entlehnungen aus Seneca durch, so ergibt sich eine nur geringe Zahl von Willens- und Widerstandsmaximen der strengen Art. Sie finden sich in den vor 1580 abgefaßten Essays, aber selbst hier durchweg an solchen Stellen, an denen Montaigne sich noch nicht völlig zu sich selber freigeschrieben hat. Sie spielen die Rolle von Anregungen. Vom Sinn, den sie in der Quelle hatten, entfernt er sich, indem er sie in hedonistische oder beschreibend-psychologische Erörterungen überleitet. So ist der Einsamkeitsbegriff des vermutlich bald nach 1572 entstandenen Essays I, 39 zwar angeregt von Senecas Empfehlung der ethischen Selbstbesinnung, biegt jedoch in die Schilderung eines ästhetisch-kontemplativen Selbstgenusses ab, unter ausdrücklicher Verwerfung jeder übermäßigen sittlichen Anspannung („vertu excessive“, p. 245 a; 316). Der wahrscheinlich aus der gleichen Zeit stammende Essay II, 11 beginnt mit dem Lob der aktiven Tugend und rühmt, wie diese um so triumphaler aufsteigt, je mehr Widerstände sie zu bewältigen hat (p. 403 a; 120). Das ist völlig im Stile Senecas. Aber wenige Seiten danach (unterstützt allerdings durch spätere Zusätze) schiebt der Text diese Widerstandsethik beiseite, und an ihrer Stelle leuchtet eine andere Vollendung auf: die Gelassenheit. Im Todesessay I, 20 nimmt, aus Seneca paraphrasiert, die stoische Lehre von der Seelenstärke gegen Todesfurcht einen gewissen Raum ein. Aber sie ist nur ein Anfang, der schon in diesem Essay, noch mehr aber in den späteren, zugunsten einer entspannten Todeswilligkeit preisgegeben wird. Zudem treten in diesem Todesessay die stoischen Maximen an Zahl und Gewicht zurück gegenüber solchen Entlehnungen aus Seneca, die noch

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bei der Beschreibung der Lebensinhärenz des Todes verweilen. Man sieht: Montaigne denkt seinen Seneca in einer Richtung weiter, die bei diesem jeweils nur ein zur stoischen Kernidee zurückführender Exkurs war, in den Essais aber zu einer von der stoischen Idee wegführenden Bewegung wird. Es wird im Verlauf unserer Darstellung oft genug Gelegenheit sein, im einzelnen zu zeigen, daß Montaigne den Römer nicht als normativen Ethiker, sondern als Psychologen liest. Er nimmt auf und entwickelt weiter, was Seneca nur als fördernde Propädeutik ausgebildet hatte: den anthropologischen Feinsinn und das Organ für alle die Einzelfälle des täglichen Lebens, wo der Mensch vor sich selbst und seine eigenen Unzulänglichkeiten gestellt wird. Aber er ignoriert oder verflüchtigt oder mißbilligt die sittliche Absicht, mit der dort die menschenkundliche Fülle umschlossen bleibt. Was bei Seneca als Diagnose moralischer „Krankheiten“ gemeint war, dient hier zum Ansichtigmachen menschlicher Beschaffenheit schlechthin. Die in den Plutarch-Seneca-Vergleichen bemängelte Überspanntheit des letzteren bezeichnet den kritischen Punkt, wo Montaignes Aneignung der hellenistisch-römischen Stoa aufhört. Jetzt erst, im 16. Jahrhundert, werden die Möglichkeiten eines beschreibenden Individualitäts-Verständnisses ganz frei, die von jener nur gestreift und dann wieder unterdrückt worden waren. So sehr auch Seneca bereit war, den Besonderheiten philosophierender Weltleute entgegenzukommen, sein ethisches Ziel nahm die Individualitäten lediglich mit in Kauf; in der vollendeten Weisheit sollten sie wieder ausgelöscht werden. Montaignes Weisheit aber treibt die Individualitäten, insbesondere die eigene, mit allen ihren Phasen hervor. Es ist eine Weisheit, die das Fluktuieren in sich aufgenommen, nicht zum Stillstand gebracht hat. Ihre Freiheit ist nicht imperialer Wille über Ich und Schicksal, kein „supergradi se ipsum“ (Seneca, ep. 34), sondern Fügsamkeit; aus dieser, nicht aus einer Anstrengung der sittlichen Vernunft, kommt ihre Ruhe. Seine aufmerksame Beobachtung differenzierter seelischer Vorgänge und ihres Zusammenspiels mit den körperlichen Bedingungen kann, soviel sie auch aus Seneca gelernt hat, mit einer Zerlegung des Menschen in eine obere Vernunftkraft und eine niedere Affektenschicht nichts mehr anfangen. Sein Glaube an Heilkräfte, die dem natürlichen Leben innewohnen, vermag nicht, dieses Leben als unwürdigen Aufenthalt einer zu anderen Ordnungen gehörigen Vernunftseele aufzufassen. Es ist aufschlußreich, daß er den beiden platonischen Motiven, dem Leib-Seele-Dualismus und der Kerkerhaftigkeit des Lebens, auch bei Seneca kein Gehör

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schenkt, wo sie, wie in der ganzen Stoa, immer noch kräftig zu spüren sind. So verrät sich seine Unempfindlichkeit gegen platonisches Denken also auch in seiner Seneca-Rezeption. Die Essais bieten keine kunstvoll ersonnene Arznei an. Sie bescheiden sich im Gegebenen. Selbst der im Vergleich zur früheren Stoa schon so gemäßigte, urbane Seneca ist für Montaigne noch zu hart und scheint ihm mit seiner rationalisierten Willensdisziplin das Geheimnis des Gegebenen zu verderben. Daher ist Montaignes eigenes Schreiben kein Mahnen, Lenken, Erziehen wie das Schreiben des Römers, kein „clamore iuvare“ (De tranquillitate animi, III), sondern ein Ausbreiten eigener Schauweisen, ein Selbstgespräch, dem jedes lehrhafte Einhämmern zuwider ist. Die vielbesprochene „stoische“ Phase Montaignes gibt es nicht. Es gibt, in den frühen Essays, einige Nachbildungen stoischer Maximen, und es kann ihm auch in der Spätzeit zustoßen, daß er beim Wiederlesen dieser einstigen Nachbildungen heroischer Seelengröße noch einmal flüchtig davon ergriffen wird, wie die Einschübe beweisen. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Nachbildungen jeweils durch das ganz andere, was in nächster Umgebung des Textes steht, relativiert sind. Der „Stoizismus“ Montaignes ist mehr literarischer als persönlicher Natur. Es war ein Mißverständnis, wenn einige Zeitgenossen – Lipsius voran – in ihm einen Stoiker sehen wollten. Indem Montaigne aus der normativen Moralphilosophie Senecas eine beschreibende Moralistik macht, unterscheidet er sich gründlich vom sogenannten Neustoizismus des 16. und 17. Jahrhunderts. Dessen Linie läuft, ohne ihn zu berühren, von den humanistischen Philologen zu Du Vair, Lipsius, Quevedo, Descartes und Corneille. Gerade von dieser Linie aus wird sichtbar, wie originell Montaigne ist, indem er einer in der Luft liegenden Mode ausweicht. Er sucht sich seine engeren Verbündeten in Sokrates, Horaz und Plutarch und bleibt nur dem Psychologen, nicht dem Ethiker Seneca verpflichtet – er, der Vollender jener gelösten Gesinnung, die seit Erasmus in den feiner organisierten Geistern des 16. Jahrhunderts lebte.3 Weit schwieriger ist es, die Rolle zu bestimmen, die Epikur und der Epikureismus in den Essais spielen. Zwar hat Montaigne nachweislich aus den damals zugänglichen wichtigsten epikureischen Quellen ersten und zweiten Grades geschöpft. Er kannte Leben und Lehre Epikurs aus 3

Über den Neustoizismus: Léontine Zanta, La Renaissance du stocisme au XVIe sicle, 1914, sowie Julien Eymard d’Angers, Le renouveau du stocisme en France au XVIe sicle (in: Bulletin de l’Association G. Budé, 1964).

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dem zehnten Buche des Diogenes Laërtius, insbesondere aus den dort eingeflochtenen Epikur-Briefen, deren gehaltvollsten – an Menoikeus – er verschiedentlich heranzieht. Ferner kommen Lucrez sowie die Epikur-Zitate und -Referate Ciceros, Senecas und Plutarchs in Betracht. Aber ein Gesamturteil über Epikur findet man in den Essais selten. Gelegentlich nennt Montaigne dessen Lehre „plus voisine à mon style“ (III, 4, p. 804 c; 57), oder er spricht mit Sympathie von den „süßen Früchten der bequemen Gärten Epikurs“ (II, 12, p. 519 b; 273). Doch streift er die epikureische Lehre nur in unbedeutenden Einzelheiten. Dabei sind die hedonistischen Neigungen Montaignes, vor allem im dritten Buch, so unverkennbar, daß es schon im 17. Jahrhundert selbstverständlich war, ihn einen Epikureer zu nennen. Aber gerade für diese Neigungen beruft er selber sich nie auf Epikur. Liegt es daran, daß der Name immer noch zu verfemt war? Wir wissen es nicht. Wir können nur feststellen, daß seine Lebensweisheit mit ihrer maßvollen und hochreflektierten Genußwilligkeit einen Höhepunkt des Renaissance-Epikureismus darstellt – und im übrigen vermuten, daß er weit mehr, als er zugibt, den epikureischen Schrifttümern der Antike schuldet. Stärker als die Stoa beschränkte sich Epikur und seine Schule auf die Pflege der ungestörten Persönlichkeit. Alle Bindungen an überindividuelle Zusammenhänge fallen weg. Staat und Gesellschaft gelten nur als ein jenseits von Recht und Unrecht konstruierter Zweckverband, von dem der Weise sich tunlichst fernhält. Das Welt- und Lebensganze liegt unter einem gleichgültigen Nebel der Wert- und Sinnlosigkeit. Der einzige Halt besteht im Wahrnehmen der verbleibenden Lustmomente und in der Bereitschaft, verzichten zu können auf nicht realisierbare Wünsche. Keine dualistische Zerlegung des Menschen erzwingt, wie in der Stoa, eine Beschneidung der natürlichen, sowohl leiblichen wie seelischen Freuden. Das Gegebene wird ergriffen, nicht durch das rationalisierte Wunschgebilde einer sittlichen Tugend überwältigt. Es wird um so williger, aber auch um so illusionsloser ergriffen, als der Mensch weiß, ein fragwürdiges Zwischenspiel zu sein zwischen dem Nichts seines ehemaligen Nochnichtseins und dem Nichts seines künftigen Nichtmehrseins. Solche Nihilismen gibt es zwar auch in der Stoa – aber im Unterschied davon gedenkt der Epikureer nicht, sich in seinem kurzen, zwischen das Nichts gespannten Leben emporzusteigern zur imperialen Würde. Manchmal nimmt sein Lustprinzip provozierende Schärfe an, als wäre nur niedere Genußsucht beabsichtigt. Aber das sind einzelne, meist polemisch verursachte Augenblicke. Im ganzen

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zeigt sich, daß das stille Gefaßtsein auf den Unwert des Lebens, auf das Mißlingen der Wünsche, auf Armut und Not, das Lustprinzip in die Höhe einer verklärten Entsagung zu heben vermag. Die Lebensform der Verborgenheit, der esoterische Freundschaftskult mit seiner Auslese der Besten, und die Übung der Güte und Verständnisbereitschaft sind ihr angemessener Ausdruck. Was auf diese Weise entsteht, ist die edelste Geistigkeit, die in den Grenzen nihilistischen Bewußtseins möglich ist, eine „Meeresstille des Gemüts“, ein undoktrinäres Kreisen der Persönlichkeit in sich selber, eine herbstliche Klarheit aber auch Neige des Lebensgefühls, eine maßbewußte Genügsamkeit, die weiß, was lohnt und was nicht – jedenfalls etwas, was tief verschieden ist von dem vulgären Mißverständnis, das aus den Epikureern Prasser und Schlemmer gemacht hat. „Es ist zu fürchten, daß sich wenige Menschen mit der echt verstandenen epikureischen Lust begnügen möchten“, hat Jacob Burckhardt gesagt.4 […] […] Die Betrachtung von Krankheit und Altern als Symptome für die Lebensinhärenz des Todes ist wiederum antik. Aber in der Antike war sie ein Beweismittel neben vielen, um den Tod erträglich zu machen. Montaigne dagegen stellt sie über die anderen. „Nature mesme nous preste la main, et nous donne courage […] Je m’apperçois qu’à mesure que je m’engage dans la maladie, j’entre naturellement en quelque desdein de la vie. Je trouve que j’ay bien plus affaire à digerer cette resolution de mourir quand je suis en santé, que quand je suis en fievre“ („Die Natur selbst reicht uns die Hand und macht uns Mut. Ich merke, je tiefer ich in die Krankheit hineinkomme, desto gleichgültiger werde ich ganz von selbst gegen das Leben. Ich finde, daß ich am Entschluß zu sterben schwerer zu verdauen habe, wenn ich gesund bin, als wenn ich im Fieber liege.“) (p. 103 a; 111). Der Mensch stellt etwas fest, was ohne seinen Willen vollbracht wird oder schon vollbracht ist. Er empfngt das Schwierigste. Nicht er, die Natur hat den Mut zum Tod. Das zeitliche Fließen in ihren Geschöpfen – die Lebensalter – ist schon ein sanftes Sterben von Phase zu Phase. „Mais, conduicts par sa (sc. la nature) main, d’une douce pente et comme insensible, peu à peu, de degré, elle nous roule dans ce miserable estat, et nous y apprivoise: si que nous ne sentons aucune secousse, quand la jeunesse meurt en nous […]“ („Uns führend mit ihrer Hand, in sanftem Fall, fast unmerklich, ganz allmählich, von Stufe zu Stufe, trägt sie uns in diesen elenden Zustand und macht uns mit ihm vertraut, so wie wir auch keinen Stoß 4

Griechische Kulturgeschichte, Neuausgabe 1956/57, Bd. III, S. 364.

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verspüren, wenn die Jugend in uns stirbt […]“) (p. 103/104 b; 112). Daß der Mensch immerfort in Veränderung begriffen ist, daß das Kind im Jüngling „stirbt“, der Jüngling im Manne, der Mann im Greis, und daß dies alles schon das sanfte Vorspiel dessen bildet, was im endgültigen Sterben sich nur zur Heftigkeit steigert, derart, daß das Sterben wesensmäßig auch nichts anderes bedeutet als jener Wechsel im Leben selber: das ist einer der geläufigsten, auch in den späteren Literaturen meistwiederholten Gedankengänge antiker Todesweisheit.5 Er ist der tief passiven Gesinnung Montaignes besonders angemessen. Die Worte „douce“, „insensible“, „apprivoiser“ sind schon die Merkworte für sein eigenes Todesverhältnis. Ein anderes Subjekt tritt für das aus Wille und Vernunft bestehende menschliche Subjekt ein: die Natur, die den Tod von jeher in sich eingelassen hat. So ist es sinnvoll, daß Montaigne ihr selbst, im letzten Teil des Essays, das Wort gibt. Es handelt sich dabei um eine stark erweiterte Nachbildung der kleinen Rede, die Lucrez (III, 933 – 963) die Natur an den Menschen halten läßt. (Die zahlreichen Zufügungen b und c entstammen derselben Quelle, kombiniert mit Paraphrasen aus Seneca.) Daß Montaigne gerade diesen Kunstgriff der redenden Natur nachbildet, hat seinen Grund in jener „Naturalisierung“, nämlich Subjektverlagerung der Todeswilligkeit in eine dem Menschen vorgängige Wesenheit. Das ist nun auch die Stelle, wo der Vorrat antiker Todeskunde am dichtesten zur Schau kommt, und zwar so, wie er der stoischen und epikureischen Lehre gemeinsam ist. Mühelos pflückt Montaigne die reifsten Weisheiten vom Baum der Alten. Ganz ihm gehört aber die schwingende, leise Lyrik dieser Rede. So läßt er die Natur nun sagen: „Vostre mort est une des pieces de l’ordre de l’univers; c’est une piece de la vie du monde“ (p. 105 a; 114). Den Tod fliehen, hieße, nicht Mensch sein wollen. Mit der Geburt beginnt dein Leben wie dein Sterben. Lebend verringerst du das Leben, und das Werk deines Lebens ist das Bauen am Tod. Lebend bist du schon im Tod, und der Tod ist schon hinter dir, wenn du nicht mehr am Leben bist. Der Tod trifft nicht den Toten und nicht den Lebenden: diesen, weil er noch ist, 5

Etwa Seneca, ep. 24: „Quotidie morimur; cum crescimus, vita decrescit“. Plutarch, Moralia (mehrfach, z. B. in der Trostschrift an Apollonius). Quevedo, La Cuna y la sepultura, cap. III (Obras en prosa, 21941, p. 1097). Zur antiken, insbesondere stoischen Todeslehre: E. Hoffmann, Leben und Tod in der stoischen Philosophie (in: Platonismus und christliche Philosophie, 1961).

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jenen, weil er nicht mehr ist.6 Das Nichts nach dem Tod ist kein anderes als das Nichts vor deiner Geburt. Wo ist also der gefürchtete Tod? Nur in der Furcht – im Irrtum. Hast du einen Tag gelebt, so hast du alle durchlebt. Du siehst ja, ich habe meine Gezeiten, so hast auch du die deinen. Altert nicht alles mit dir? Tröstet’s dich nicht, daß dir zuteil wird, was alle erleiden? Ein nie endendes Leben wäre dir unerträglicher als das, was ich dir gab: du würdest mir fluchen, hätte ich den Tod nicht erfunden. Geflissentlich habe ich etwas Bitternis beigemischt, damit du nicht zu maßlos lebst. Warum ängstigt dich dein letzter Tag? Er schafft nicht das Erlöschen, er vollendet es nur. „Tous les jours vont à la mort, le dernier y arrive“ (p. 109 c; 119 fast wörtlich nach Seneca, ep. 120, 18): das endgültige Sterben ist nur die letzte Aktualisierung des immer anwesenden Todes.7 Der Essay I, 20, der mit einem kurzen Epilog zu dieser Rede „de nostre mere nature“ schließt, hat, in der Nachfolge antiker Gedanken, mehreres gewonnen. Er hat ein objektives Todesbewußtsein ausgesprochen, in Gestalt einfacher Beobachtung der Lebensinhärenz des Todes. Damit möchte er die vulgäre Todesvergessenheit aufheben. Weil das Lebendige den Widersacher Tod durch Vergessen zu verdrängen strebt, muß es an die Banalität seiner wesensmäßigen Sterblichkeit erinnert – und damit über sein banales Verhalten hinausgehoben werden. Denn den Tod in jederzeitiger innerer Gegenwart zu haben, ist nicht mehr banal, sondern „philosophisch“: „philosopher, c’est apprendre à mourir“. Weiterhin aber soll diese innere Gegenwart von Furcht 6

7

Zur Kritik dieser „klugen dialektischen Wendung“, die am geläufigsten in der Fassung Epikurs ist (Diog. Laërtius X, § 125; vgl. auch Lucrez, III, v. 866, sowie Cicero, Tusc. I, 38), siehe Max Scheler, Tod und Fortleben (in: Schriften aus dem Nachlaß I, 1933), p. 18. Die zahllosen antiken und spätantiken Texte, in denen diese auf das Verstehen des Todes mittels Erkenntnis seiner Lebensinhärenz hinauslaufenden Reflexionen vorgebildet sind, können hier nicht angeführt werden. Der älteste dürfte wohl Heraklit, B 20, sein. Bezüglich der Quellen, denen Montaigne folgt, bringt Villey (EM IV) alles Nötige bei. Es sei ergänzt, daß diese Reflexionen von zäher, auch durch das Christentum nicht unterbrochener Dauer waren. Man findet sie bei Augustin (z. B. Civ. Dei XIII, 10), im Ackermann aus Bçhmen, bei Quevedo (z. B. in der schönen Carta a D. Manuel Serrano, 1635, Obras en prosa, p. 1849 ff.), bei Gracián usw., und dann modern wieder bei Simmel, Rembrandt, 1917, p. 89 ff., bei Scheler a.a.O. passim – bei den letzteren ohne sichtbare literarische Abhängigkeit. Auch in die Analysen des „Seins zum Tode“ in Heideggers Sein und Zeit (p. 236 ff.) ragen sie hinein, oder in Rilkes Dichtungen, oder in Valérys Aphorismenbände.

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entlastet sein. Genau wie in den antiken Überlegungen bringt auch hier, auf dieser Stufe der Essais, der intellektuelle Charakter des objektiven Todeswissens es mit sich, daß die Todesfurcht des Lebendigen als ein „Irrtum“ erscheint. Die furchtlose Haltung zum Tod soll zustande kommen durch eine logische Operation: der Tod ist allseitig in der Ordnung, „also“ kann er nicht furchtbar sein. Aber schon hier mäßigt Montaigne die Energie dieser Furchtbekämpfung und tritt damit in seiner persönlichen Artung hervor. Sie wurde von den Zeitgenossen nicht erkannt. Ein gewisser Claude Expilly hat der 1595 in Lyon veranstalteten „gereinigten“ Ausgabe der Essais ein Sonett vorangesetzt, worin zu lesen steht: „Montaigne, […] en quelle antique eschole as tu si bien appris De l’effroyable mort le glorieux mespris? […] Magnanime Stoique […]“8 Ähnliche Heroisierungen durch die damaligen Leser finden sich mehrfach.9 Aber sie verfehlen den Geist seines Todesverhältnisses. Die wenigen Stellen in I, 20, die ihnen recht zu geben scheinen, dürfen nicht isoliert werden. Denn dieses Verhältnis hat von Anfang an, trotz einiger literarischer Anpassungen, nichts Glorioses. Es sucht vielmehr in eine Art Behagen, in eine Harmonie zu kommen, die man nicht eigentlich wollen kann, sondern die nur geschenkt zu werden pflegt. Gleich zu Beginn des Essays hat Montaigne später eine längere Stelle eingefügt, die mit einem provozierenden Vergnügen die Lust (volupté) als den höchsten Inhalt der Vollendung (vertu) nennt: „Il me plaist de battre leurs oreilles de ce mot qui leur est si fort à contrecœur“ (p. 94 c; 101). Ausdrücklich trennt er ihr „plaisir divin et parfait“ von der „volupté plus basse“. Geistige Lust (die allen Voraussetzungen des Menschen, auch des leiblichen, gerecht wird) und primitive Lust unterscheidend, möchte er das Verhältnis zum Tod in die geistige Lust heben, die keinen Teil des Menschen auf Kosten des andern schmälert. Wenn er, immer noch in diesem Einschub, den traditionellen Satz schreibt: „Or des principaux bienfaicts de la vertu est le mespris de la mort“, so erhält doch diese „Verachtung“ des Todes ihre Gelassenheit durch das unmittelbar Folgende: „moyen qui fournit nostre vie d’une molle tranquillité“ (p. 95 c; 102). Es ist also eine Bewältigung des Widersächlichen gedacht, die nicht der heroischen Spannung bedarf. Nun ist diese Stelle zwar ein später Einschub. Aber sie ist vorbereitet in der 8 9

Villey, Postrit, p. 34. Nämlich Lipsius, Pierre de Brach, Florimon de Raemond. Belege bei Villey, Postrit, p. 30 ff. und p. 350 ff.

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früheren Fassung und legt nur deutlicher frei, was sich dort schon regte: die Bereitschaft zu den antinomischen und doch miteinander verwobenen Mächten Tod und Leben – eine weiche Versöhnlichkeit, die viel eher die Quelle für Montaignes objektives Todeswissen ist als dessen denkend erworbenes Erzeugnis. Es ist wenig damit getan, daß man, wie gewöhnlich geschieht, in dem allem „epikureischen“ Einfluß sieht. Denn es handelt sich um eine Entspannung, die Montaignes Charakter überall kennzeichnet und im übrigen auch auf der Frühstufe schon hinreichend durch das öfter zu bemerkende Belächeln der „vertu excessive“ ausgedrückt war (z. B. I, 39, p. 244/245; 316). Diese Entspannung wird sein Verhältnis zum Tod zunehmend bestimmen. Insofern ist der Essay I, 20 ein Vorspiel seiner künftigen Gesinnung, aber auch nur ein Vorspiel. Das Wissen von der Lebensinhärenz des Todes wird er beibehalten bis in die letzten Essays hinein (vgl. III, 13, p. 1062 c; 396/397, p. 1073 b; 411 usw.). Aber sehr viel tiefer wird er unter die voluntative Oberfläche hinunterdringen, als es hier geschah, und sehr viel entschlossener wird er den objektivierenden Begriff durch die innere Erfahrung ablösen. Wie fern Montaigne der voluntativen Todesbeherrschung steht, zeigt sich darin, daß er die auch ihm wohlbekannte antike Konsequenz nicht teilt: den Freitod, das nach stoischer Theorie als sittlich geltende Verfügen über den Tod, der aus dem Zufall seines zeitlichen Eintretens hereingeholt wird in den Befehlsbereich des Menschen, wenn diesem das Leben unerträglich scheint. Der um 1573 entstandene Essay II, 3 (Coustume de l’isle de Cea) beschäftigt sich damit. „La plus volontaire mort, c’est la plus belle“ heißt es da am Anfang in Anlehnung an ein Seneca-Wort. Aber das ist, wie sich gleich herausstellt, Referat, nicht Überzeugung. „Cecy ne va pas sans contraste“ (p. 336 a; 26). Ein anderes Referat folgt: christliche Gründe gegen den Selbstmord. Sie tauchen nicht um christlicher Lehrabsicht willen auf. Sie sind – wie die antiken Sätze – auch nur Material für die im Für und Wider der Urteile sich enthüllende Unentscheidbarkeit der Sache nach irgendwelchen allgemeingültigen Normen. Der ganze Essay schweift hin und her zwischen Für und Wider. Montaigne kann ebenso einzelne Selbstmordfälle durch Aufdeckung ihrer pathologischen Motive demaskieren, wie er wiederum andere aus der veranlassenden Situation begreiflich machen kann. Aber kein Fall wird als Beispiel einer verallgemeinerungsfähigen Regel vorgelegt. Er zerteilt „den“ Selbstmord in verschiedenartige Vorgänge, die er, wie jeden sonstigen Gegenstand seines menschenkundlichen Inter-

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esses, nicht ethisch, sondern psychologisch betrachtet. Der Leitgedanke des Essays sagt nicht: so ist der Tod – oder: so verhalte ich mich zum Tod –, sondern: so sind die vielgearteten Menschen, bald suchen sie aus diesem, bald aus jenem Grunde den Tod. Ist nun schon die Umwandlung eines Kernstückes antiker Todesethik in ein psychologisches Kuriosum höchst aufschlußreich, so tritt Montaignes eigene, ganz unstoische Todesgesinnung in einigen Sätzen eindeutig hervor. Angeregt von gewissen augustinischen Ermahnungen (daß nur Gott abberufen dürfe und daß es mutiger sei, die Kette zu tragen, als zu brechen), aber ihren christlichen Sinn vergessend, schreibt er: „Et l’opinion qui desdaigne nostre vie, elle est ridicule. Car en fin c’est nostre estre, c’est nostre tout […] C’est contre nature que nous nous mesprisons […] C’est de pareille vanité que nous desirons estre autre chose que ce que nous sommes“ („Und die Auffassung, die unser Leben für gering erachtet, ist lächerlich. Denn schließlich ist’s ja unser Sein, unser Alles. Es ist widernatürlich, daß wir uns selbst mißachten. Ebenso ist es wahnhaft, etwas anderes sein zu wollen, als wir sind“) (p. 338 a; 28). Die im Selbstmord implizierte Lebensschmähung läuft der Lebensfügsamkeit Montaignes zuwider, die im Grunde eins ist mit seiner Todesfügsamkeit. Nicht weil das Leben ein hoher Wert wäre (im Gegenteil: selbst seine Übel sind so nichtig, daß es nicht lohnt, ihretwegen den Tod zu rufen, p. 339 a; 28/29), sondern weil es eine Gegebenheit ist, ziemt seine Bewahrung. Es ist das nun überhaupt ein Grundzug der Essais, daß sie aus der Anerkennung des Todes keine Aberkennung der Lebensrechte ableiten. Durch nichts läßt sich Montaigne die Dringlichkeit des Denkens an den Tod ausreden (auch dann nicht, wenn er später dies Denken wiederum absichtsvoll in ein Vergessen wandelt), und durch nichts läßt er sich einreden, daß der das Leben vernichtende Tod das Leben nichtswürdig mache. Er hat die antinomische Fügung des Daseins, erst aus dem Gegenspiel von Tod und Leben möglich zu sein, tief begriffen, und er hat sie hingenommen im Gehorsam vor beiden Gegenspielern. Er liebt das Sterbliche und verschließt sich, liebend, seiner Sterblichkeit nicht. Nie wird er krank am Tod. Im Gegenteil: „De nos maladies la plus sauvage c’est mespriser nostre estre“ (III, 13, p. 1082 c; 423). Er vermerkt es als absurd, daß es Völker gibt, die die Geburt verfluchen und den Tod segnen, die Sonne verdammen und die Finsternis heiligen (III, 5, p. 852 b; 120). Nie hat er die Neigung gehabt, den Tod zu rufen, um der Todesbeschattung des Lebens zu entgehen. So zu denken, ist ja ein häufiges, ebenso alttestamentliches wie griechisches und römisches Motiv, überhaupt ein all-

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gemein menschliches, und es enthält eine merkwürdige Paradoxie: die Todesmöglichkeit aller Lebensinhalte ist es, die das Leid erzeugt (Krankheit, Unglück, Alter), und das von diesen Todesboten geängstigte Leben flieht eben in den Tod selbst, um vor seinen Boten Ruhe zu haben; es findet sein Glück, indem es in die Ursache hineinspringt, die seinen Jammer schuf, indem es vollkommen verwirklicht, was halbverwirklicht unerträglich wurde (man vergleiche etwa Lucrez III, v. 79 ff.). Aber derartiges wird man in den Essais nicht finden. Und wenn Montaigne einmal auf das „taedium vitae“ eingeht, auf den Ekel an der Öde der immer gleichen biologischen Funktionen, aus dem ein Mensch den Tod sucht, dann geschieht das anläßlich eines von Seneca (ep. 87) berichteten Ereignisses, das er braucht, um eine Todesart zu exemplifizieren, aber nicht, um Lebensüberdruß zu lehren (II, p. 597 a; 377). Im Essay II, 3 lautet dann der weitere Einwand gegen den freiwilligen Todesbeschluß: er mache den Fehler aller summarischen Urteile, nämlich er vereinfache, was vielfältig ist, er fixiere, was sich in der Fülle unendlicher Möglichkeiten bewegt. Was wissen wir denn, daß wir glauben könnten, es wäre vorbei mit aller Hoffnung? Wie ging es dem Josephus? In schwerster Bedrängnis schlug er doch den Rat aus, vom Leben zu scheiden, und er tat gut daran: denn Fortuna wandte, „outre toute raison humaine“, die Gefahr ab (p. 341 a; 30). Das ist eine recht alltägliche Überlegung, ganz ohne Tiefsinn hingesagt. Und doch hat sie ihren Gehalt, der sich in Erinnerung an viele andere Stellen der Essais unschwer herausspinnen läßt. Verzweiflung nämlich, die zum Urteil und zum lebensvernichtenden Akt wird, berücksichtigt nicht die vernunftentzogenen Mächte im Geschiebe der Verhältnisse (fortune); Selbstmord vernichtet das verhüllte Mögliche um des augenblicklich Wirklichen willen, er opfert das Ganze, um ein verzweifelt verabsolutiertes Einzelnes loszuwerden. Montaignes Lebensfügsamkeit verschwistert sich mit seiner erschließenden Skepsis – einer Skepsis, die nicht nur bezweifelt, was wir für wirklich halten, sondern auch für möglich hält, was wir bezweifeln. Er mißbilligt den Selbstmord als Vorgriff eines unzulänglichen Urteils. Die stets von Andersartigem trächtige, durch kein Urteil einholbare oder vorwegnehmbare Tatsächlichkeit entzieht dem Leben das Recht, sich wegzuwerfen. So ist Montaignes Reflexion über den Freitod bei all ihrer scheinbaren Lässigkeit der Gedankenführung ein Schritt weiter in der Entmachtung des Willens und in der Umkehr zum Gehorsam: dem Tod gegenüber, wenn er kommt, dem Leben gegenüber, solange es lebt.

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Er ist solcher Auffassung treu geblieben und hat über den Freitod nie mehr anders gedacht. Dieser interessiert ihn, wie überhaupt jede heroische Todesart, zwar immer wieder um der Mannigfaltigkeit des Menschlichen willen. Aber persönlich will er nichts mit ihm zu tun haben. Wie gut stimmt es zu seiner fügsamen Weisheit, daß er gerade das „römischste“ Verhalten zum Tod wegschiebt! Yorck von Wartenburg schreibt einmal an Dilthey, anläßlich einer Reflexion über den in alle Lebensgebiete eindringenden imperatorischen Machtsinn der Römer: „Rom ist der Sitz der Metaphysik, im Gegensatz zur Transzendenz. Rom begreift nicht, wie kein Römer, den Tod“.10 Was hierin gesagt ist, scheint auch Montaigne gespürt zu haben: das Verfügen über den Tod ist Vorwitz und Aufruhr, Verrat der Macht an der „Transzendenz“, nämlich am undeutbaren Gefügtsein. In dieses dringt ein gehorchender Wille tiefer ein als ein Wille, der seinen Untergang nicht denken kann und im unvermeidlichen Untergang dann noch einen letzten verzweifelten Triumph erzwingen möchte. Je mehr Montaigne den Tod begreift, desto mehr wird sein Verhältnis zum Freitod ein psychologisches und ästhetisches. Das ergibt sich nirgends deutlicher als in dem Essay II, 35 (De trois bonnes femmes), wo er von römischen Selbstentleibungen erzählt, zuletzt von derjenigen Senecas. Er tut das mit einer schriftstellerischen Sorgfalt, die die Vorlagen zu einem eigenen neuen Kunstwerk umschmilzt und teilweise erheblich erweitert – am meisten den Bericht aus Tacitus’ Annalen, in den er schöne Farb- und Redekontraste einlegt (das blutrote Wasser z. B., p. 727; 563). Eben dies aber bekundet, daß es ihm mehr um das Anschauen als um die Nachfolge mächtigen antiken Ausnahme-Menschentums zu tun ist. Den Freitod räumt er den Alten gleichsam nur noch als eine stilechte Großartigkeit ein, die ihn selber aber nichts angeht. Es sind auf diesen Seiten verräterisch viel Energien für das schöne Erzählen frei. Montaigne pflegt sich, wo seine innerste Gesinnung beteiligt ist, kürzer zu fassen. Auch andere Stellen dürfen noch angeführt werden. Er kommt öfter auf das Urbild römischer Todeshaltung zu sprechen, auf den jüngeren 10 Briefwechsel W. Dilthey und Graf Yorck v. Wartenburg, 1923, p. 120 (Brief vom 4. März 1891 aus Rom). Das Urteil trifft nicht die gesamte römische Todesphilosophie. Ganz abgesehen von einigen dämpfenden Stellen bei Seneca genügen schon einige Aphorismen aus Marc Aurel (etwa IV, 48; IX, 3; XII, 36), um erkennen zu lassen, daß mindestens die Römer der späteren Kaiserzeit den Tod „begriffen“ haben, so wie hier v. Wartenburg das Begreifen meint.

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Cato. So beispielsweise in II, 11 (De la cruaut). Er zweifelt ein bißchen an der angeblichen Gefühlskälte und sittlichen Motivierung von Catos Freitod. „Je croy sans doubte qu’il sentit du plaisir et de la volupté en une si noble action, et qu’il s’y agrea plus qu’en autre de celles de sa vie. Je le croy si avant, que j’entre en doubte s’il eust voulu que l’occasion d’un si bel exploit luy fust ostée“ („Ich glaube nämlich, daß er Gefallen und Lust fand bei so hehrer Tat und daß sie ihn schöner dünkte als sonst eine seines Lebens. Ich gehe sogar so weit, zu bezweifeln, ob er sich die Gelegenheit zu einer so schönen Heldentat wieder hätte nehmen lassen wollen“ (p. 405 a; 123). Also war der Freitod Catos eben eine Catonische Weise des Selbstgenusses, eine Machtbestätigung seiner „Tugend“, die ganz dankbar war für diese sich bietende Gelegenheit? Montaigne will seinen Zweifel nicht aufdrängen und bemüht sich, wieder respektvoller zu reden. Aber zu einer ungetrübten Verehrung ist die Stimmung verdorben. Der Zweifel – das weiß der ironische Montaigne ganz genau – hat den Stachel des Mißtrauens hinterlassen, daß es da bei Cato um etwas ganz anderes gegangen sein könnte als um eine edle Tat aus Protest gegen die geschändete Freiheit des Vaterlandes. Dieser Freitod bleibt für Montaigne jedenfalls ein Einzelereignis, erklärlich aus der Anlage gerade dieser einen Individualität. Wiederum wird also alles psychologisiert. Eine halbe Seite weiter taucht der Vergleich mit Sokrates’ Sterben auf, sehr zuungunsten des Römers, der ihm zu gespannt, zu unheiter ist (p. 406 a; 125). Es ist der gleiche Unterschied, den die Essais zwischen dem „gespannten“ Seneca und dem entspannten Plutarch zu machen pflegen. Auch im historischen Urteil also kommt die Sympathie Montaignes zum fügsamen, passiven Todesverhältnis heraus. Das Wichtigste ist aber vorher in einem Zusatz eingeschoben. Nur Cato hat so sterben können, heißt es da. Andern stünde das gleiche schlecht an. Denn: „Toute mort doit estre de mesme sa vie. Nous ne devenons pas autres pour mourir. J’interprete toujours la mort par la vie“ („Jeder Tod muß sein wie das (vorausgegangene) Leben. Wir werden nicht anders beim Sterben. Ich deute den Tod immer aus dem ( jeweiligen) Leben“ (p. 406 c; 124). Das bedeutet: die Echtheit eines Sterbens tut sich darin kund, wieweit es übereinstimmt mit dem individuellen Leben, das da stirbt, und nicht, wieweit es einer verbindlichen Norm gehorcht. Es gibt kein lehrbar allgültiges Gebaren im Sterben. Jeder sterbe, wie er in Treue zu sich selber kann. Alles andere ist Lüge. „Nous ne devenons pas autres pour mourir“. Montaignes Zweifel an der Verwandlungsfähigkeit des Menschen durch sittliche Normen – und

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am Gewinn durch solche Verwandlung – kommt da zum Ausdruck. Als er diesen eben zitierten Satz einfügte, war er selbst längst soweit, sein künftiges Sterben der eigenen besonderen Menschlichkeit anheimzustellen. Das ist dadurch vorbereitet, daß er den überlieferten Todesarten den Anspruch wegnimmt, exemplarisch zu sein. (Selbst im Falle des Sokrates kann er kritisch werden: vgl. III, 2, p. 792 c; 38/39). Es gibt, wie er immer wieder betont, keine allgemein verbindliche Qualifizierung des Todes: „La mort est effroyable à Ciceron, desirable à Caton, indifferente à Socrate“ (I, 50, p. 296 c; 388), oder: „La mort a des formes plus aisées les unes que les autres, et prend diverses qualitez selon la fantasie de chacun“ („Der Tod hat Formen, wovon die einen leichter sind als die anderen, und er ist von wechselnder Beschaffenheit, je nach der Gesinnung des einzelnen“) (III, 9, p. 954 b; 255). Die jeweilige Wahrheit des Todes liegt immer nur dort, wo er konkret wird, nämlich im Auftreffen auf die innere Erfahrung der jeweiligen Menschen, und in ihrer Todesstunde. Nur als ein individuelles Ereignis ist er echt. Er ist so vielartig wie die Individuen. Mit dieser Vielartigkeit, nicht mit einem exemplarischen Sterben beschäftigt sich Montaigne, wenn er Ausschau hält nach dem Sterben anderer. Das eigentliche Interesse Montaignes aber gilt der inneren Erfahrung vor dem Tod. Er hat sowohl aus Zeugnissen anderer als auch – und dies später ausschließlich – aus eigenen Vorfällen und Meditationen Kenntnis davon. Ist der Tod das intensivste Ereignis eines Lebens (sei es im Sterben selbst oder in denkender Vorwegnahme oder in irgendwelcher leiblicher Bedrohung), so gilt hier um so mehr die qualitative Überlegenheit der inneren Erfahrung über das objektive Wissen. Mehr als dieses sagt das Zumutesein im Auftreffen des Todes auf das Lebendige aus, mehr als der Begriff vom Tod das Durchdrungenwerden von seinen Annäherungen. „Ce sont les approches que nous avons à craindre; et celles-là peuvent tomber en experience“ (II, 6, p. 355 a; 51). In der Tat besteht ja die höchste Wirklichkeit des Todes nicht im abgeschlossenen Sterbensakt, sondern in den ins Lebendige einfallenden Schatten seiner Androhung. Erst das Zumutesein der todnahen Innerlichkeit läßt die volle Beschaffenheit des Todes wahrnehmen, – etwa so wie erst das Haben einer Krankheit und das Zumutesein in ihr die volle Beschaffenheit der Krankheit wahrnehmen läßt und – weil von innen her – erheblich mehr besagt als die pathologische Diagnose. Es ist nun die bedeutende Wendung Montaignes und die Größe seines Todesgedankens, daß er sich auf die höchste Wirklichkeit richtet. Sehr bezeichnend dafür, daß jener Sophismus Epikurs, den er in einem

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Späteinschub zu I, 20 (p. 108 c; 117) referierte, nur im Zustand des Referats blieb und keine Rolle in seiner endgültigen Todessicht spielt, jener Sophismus, wonach der Tod den Lebendigen nicht trifft, weil er ja lebt, den Toten nicht, weil er ja nicht mehr lebt. Ein solcher Satz ist vor den Augen der inneren Erfahrung ein müßiges, an die Wirklichkeit des Todes nicht heranreichendes Spiel. Man findet, als Markierung der eben bezeichneten Wendung, in den Essais mehrmals Formulierungen wie „den Tod schmecken, kosten, betasten, ausprobieren“ („savourer, goûter, tâter, essayer la mort“). Es hängt nun mit den nie ganz abgestreiften literarischen Anregungen von Montaignes Todesreflexionen zusammen, wenn bei seinem Eindringen in die inwendige Wirklichkeit des Todes manches mitklingt von der antiken Ethik und ihrer Einübung der Seelenstärke im Sterben. So nimmt auch der Essay, der am längsten um die vorwegnehmende Todeserfahrung kreist, II, 6, einen antiken Ausgangspunkt. Schon der Titel trägt ein Merkwort stoischer Ethik: De l’exercitation. Montaigne bringt da zunächst aus Seneca (De tranquillitate animi XIV) den Bericht vom verurteilten Canius Julius, der vor der Hinrichtung seinen Entschluß kundgibt, bis zum letzten Augenblick bei hellem Bewußtsein zu bleiben, um vielleicht zu erkennen, was mit der entfliehenden Seele geschieht. Auch Montaigne rühmt, wie Seneca, den zwiefachen Wert solchen Entschlusses: die wahrheitsfördernde Erkenntnis und den moralischen Mut. Und doch dürfen wir annehmen, trotz des reichlich aufgebotenen ethischen Vokabulars („vertu“, „fermet singulire“, „band de toute ma force“, p. 354 a; 50), daß ihn der ethische Akt der Selbstbezwingung und Furchtüberwindung weniger fesselt als dieser Vorgang einer sich bis ins Äußerste vorschiebenden Erkenntnis, die noch das Erlöschen zur beobachtenden Erfahrung macht. Dafür spricht alles, was wir bisher über seine Todesgesinnung beibringen konnten, dafür spricht der weitere Verlauf dieses Essays, und dann auch ein Satz, den er anderswo, und wahrscheinlich um die gleiche Zeit, schreibt: „C’est bien loing au delà de ne craindre point la mort, que de la vouloir taster et savourer“ („Den Tod berühren und schmecken zu wollen, bedeutet weit mehr als bloß dies, ihn nicht zu fürchten“ (II, 13, p. 596 a; 376). Nicht um sittliche Vorbildlichkeit geht es, und auch nicht bloß um Furchtlosigkeit (die ist eine Art Nebenprodukt), sondern um die Einholung des Todes in die eigene Innerlichkeit, die seine Qualität „schmecken“ will. Das ist ethisch indifferenter als bei Seneca – um eine Nuance zunächst nur, aber diese geringe Abweichung ergibt in der Fortsetzung der künftigen Todesreflexionen (die bis zur Furchtbeja-

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hung gehen werden) den großen späteren Abstand zur römischen „Haltungs“-Ethik.

Stoa und frühneuzeitliche Rationalität: Philipp Melanchthons Konzept der Geistphilosophie von Günter Frank I. Die jüngere und jüngste Forschung zum Einfluß des stoischen Denkens auf die frühe Neuzeit hatte sich vor allem der Moralphilosophie und damit Seneca als wichtigstem Vermittler der stoischen Ethik und Politik zugewandt. Tatsächlich erlebten die moralphilosophischen Schriften Senecas seit ihrer ersten Gesamtausgabe 1529 durch Erasmus von Rotterdam eine nachhaltige Karriere.1 1532 veröffentlichte Johannes Calvin einen Kommentar zu Senecas De Clementia, 1584 erschien schließlich in Leiden die höchst einflußreiche Schrift De constantia libri duo des Späthumanisten und lateinischen Philologen Justus Lipsius, die gemeinhin als der Beginn des eigentlichen Neustoizismus gewertet wird.2 Dabei wird das Charakteristische des Neustoizismus im Unterschied zur (vorausgehenden) Stoarenaissance, in der es vornehmlich um das Bereitstellen der antiken Quellen durch die humanistische Bewegung gegangen sei, entweder in einer „kategorialen Transformation des 1

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Vgl. zur einflußreichen Druckgeschichte dieser Edition Christoph Strohm: Ethik im frhen Calvinismus. Humanistische Einflsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalittsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schlers Lambertus Danaeus. Berlin / New York 1996 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 65), S. 124 f, bes. auch Anm. 244. Günter Abel: Stoizismus und Frhe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin / New York 1978, bes. S. 67 – 113; Karl Alfred Blüher: Art. Neustoizismus, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie 6, 1984, S. 777 – 779; Christoph Strohm (wie Anm. 1) bes. S. 151 – 162, S. 166 – 194; Harm Klueting: Art. Lipsius, Justus, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 5 (42002) S. 384; Jill Kraye: Stoicism in the Renaissance from Petrarch to Lipsius, in: Grotiana 22/23, 2002, S. 21 – 46. Ganz als eine politische Bewegung wurde der Neustoizismus bereits in der 1954 eingereichten Habilitationsschrift von Gerhard Oestreich gewertet: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547 – 1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung (hg. und eingel. von Nicolette Mout). Göttingen 1989.

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für die Stoa originären Verhältnisses von Natur und Vernunft hin auf einen vernünftigen Konstruktivismus“3 gesehen, einer „Logosphilosophie“ mithin, die „den Menschen in den alles entscheidenden Stand der Möglichkeit eigener Konstruktion nach Maßgabe der Vernunft, um dieser Vernunft, und d. h. um der Welt und ihrer selbst willen“4 versetzt habe. Andererseits sei im Unterschied zur umfassenden Renaissance stoischen Gedankengutes im 16. Jhdt. der „Rahmen (des Neustoizismus, G.F.), innerhalb dessen sich die Aufnahme stoischer Gedanken vollzieht, […] nicht mehr ein primär durch das Christentum vorgegebener (gewesen), vielmehr werden stoische Denkmuster dominant.“5 Hier sei es vor allem die Erfahrung einer umfassenden Krise gewesen, welche die Bürgerkriegssituation seit den 60-er Jahren des 16. Jahrhunderts bewirkt habe, die nunmehr unmittelbarer Hintergrund des Übergangs von der Stoarenaissance zum eigentlichen Neustoizismus sei.6 Vor dem Hintergrund dieser moralphilosophischen Perspektive der Stoa im Humanismus und in der frühen Neuzeit kommt Jill Kraye in ihrer Studie Stoicism in the Renaissance from Petrarch to Lipsius zu dem Ergebnis: „In Lutheranism, as in Calvinism, stoic philosophy came in for a good deal of criticism.“7 Für Melanchthon, der selbst zahlreiche Kommentare zur Moralphilosophie des Aristoteles8 und Ciceros9 verfaßt hatte, stellt Kraye ausnahmslos kritische Einwände fest. Melanchthon verwerfe zunächst die stoische Apathielehre, weil diese sowohl mit der 3 4 5 6 7 8

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Günter Abel (wie Anm. 2) S. 14. Ebd. S. 27. Christoph Strohm (wie Anm. 1) S. 122. Ebd. S. 125. Jill Kraye (wie Anm. 2) S. 33. Zu Melanchthons Traditionsgeschichte der ethischen und politischen Schriften des Aristoteles vgl. die Beiträge des Vf.: Die zweite Welle der Wiederaneignung des „Corpus Aristotelicum“ in der frhen Neuzeit: die ethische und politische Tradition – ein Forschungsbericht, in: Bulletin de Philosophie Médiévale 44 (2003) S. 141 – 154; Zur humanistischen berlieferung der aristotelischen ’Politica’, in: Der Aristotelismus in der Frhen Neuzeit – Kontinuitt oder Neuanfang? (hg. v. Günter Frank, Andreas Speer), Wiesbaden 2007 (Wolfenbütteler Forschungen 58), S. 325 – 352. Melanchthons Schriften zu Cicero finden sich im „Corpus Reformatorum“. Vgl. Corpus Reformatorum. Bde. 1 – 28: Philippi Melanchthonis opera quae supersunt omnia (hg. v. Karl Gottlieb Brettschneider / Heinrich Ernst Bindseil). Halle – Braunschweig 1834 – 1860 (fortan: CR); hier: CR 16, S. 529 – 1300; 17, S. 1 – 576 (vgl. auch die Hinweise bei Heinz Scheible, Art. Melanchthon, in: Theologische Realenzyklopdie 22 [22000] S. 387).

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Natur als auch mit dem Wort Gottes in Widerstreit liege.10 Hingegen werde ein aristotelisches Verständnis der Affekte von der Heiligen Schrift geradezu nahegelegt.11 Daneben kritisiere er die stoische Restriktion des „bonum“ auf die Tugend und halte mit Aristoteles an der doppelten Bedeutung des „bonum“ als „bonum naturale“ und als „bonum morale“ fest.12 Schließlich verwerfe Melanchthon einen paganen Determinismus13, den er im stoischen Verständnis des „fatum“ gegeben sieht, um die Möglichkeit einer menschlichen Willensfreiheit zu begründen und zu erhalten. Melanchthon unterscheide zwischen solchen Ereignissen, die von einem freien Willen Gottes determiniert sind wie etwa die Auferstehung der Toten, und solchen, die Gott zwar vorhersehe, die aber vom freien Willen des Menschen abhingen14, um 10 Philosophiae moralis epitome (CR 16, S. 53): „Zu verwerfen ist deshalb die ‘Apathie’ der Stoiker, da sie sowohl im Widerspruch steht mit der Natur, als auch mit dem Wort Gottes. Wenn deshalb auch bisweilen einige schwerfälligere Lehrmeinungen der Stoiker gelobt werden, möge der kluge Leser dennoch sein Urteil anwenden und wissen, dass die mit der Natur und dem Wort Gottes im Widerstreit stehenden absurden Meinungen zu meiden sind.“ („Repudianda est igitur Stoicorum !p²heia, cum et a natura et a verbo Dei dissentiat. Quare etsi interdum duriores sententiae Stoicorum laudantur, tamen prudens lector adhibeat iudicium, ac sciat absurdas opiniones pugnantes cum natura et cum verbo Dei fugiendas esse“.) 11 Ebd.: „Das göttliche Gesetz lehrt, dass wir Affekte haben, wie Mk 12, 31 : Liebe den Nächsten.“ („Lex divina praecipit, ut habeamus affectus, ut (Marc. 12, 31): Diligas proximum.“) 12 Ebd. S. 37 f: „Die Stoiker […] interpretieren den Begriff des Bösen falsch […]. Es […] gibt ein doppeltes Gutes: ein natürliches Gutes, […] wie die Nahrung, das Getränk, Gesundheit, Reichtum, Befehlsgewalten […]. Von anderer Bedeutung ist das moralische Gute, welches in Handlungen besteht, die in Übereinstimmung mit der Natur stehen […]. Ein solches Gut ist allein die Tugend […]. Die Einteilung des Aristoteles ist deshalb festzuhalten, der das Gute nicht nur die Tugenden nannte, sondern auch die nützlichen und angenehmen Dinge.“ („Stoici […] vocabulum boni male interpretantur […]. Est […] duplex bonum: bonum naturale, […] ut cibus, potus, bona valetudo, opes, imperia […]. Altera significatio est bonum morale, quod est in actionibus conveniens naturae […] tale bonum sola virtus est […]. Retinenda est igitur Aristotelis divisio, qui bona vocat non modo virtutes, sed etiam res utiles et suaves […].“) 13 Ethicae doctrinae elementa (CR 16, S. 193): „Die Meinungen der Stoiker über die ‘Notwendigkeit’ […] sind absurd und weichen vom gemeinschaftlichen Leben ab.“ („Stoicorum opiniones) de necessitate […] sunt absurdae, et a communi vita abhorrent […].“) 14 Ebd. S. 195: „Die göttliche Bestimmung ist unterschiedlich in dem, was in eigentümlicher Weise von seinem Willen abhängt, und in dem, was in erster

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diese Diskussion endlich prägnant zusammenzufassen: „Gott ist kein Stoiker!“15 Sieht man einmal davon ab, dass Melanchthon nach dieser Darstellung höchstens als Stoakritiker der Reformation Beachtung finden könnte, gilt dies noch weniger für seinen möglichen Einfluss auf das, was man später den Neustoizismus genannt hat: „The way to Neostoicism had been prepared by Renaissance scholars, but the final breakthrough had yet to occur. With the publication of De constantia ( Justus Lipsius, G.F.) in 1584 that was all about to change.“16 – Melanchthon war im Erscheinungsjahr von De constantia bekanntlich schon 24 Jahre tot.

II. Aber es ist die Frage, ob Melanchthons Kritik an einzelnen Lehrsätzen der stoischen Moralphilosophie nicht eher aus einer offenkundigen Unvereinbarkeit mit bestimmten, zentralen theologischen Doktrinen herrührt. Dann handelte es sich um eine eher allgemeine Kritik an der Stoa, wo diese – nach Melanchthons Urteil – etwa den menschlichen Affekten oder auch der Willensfreiheit nicht genügend Raum gebe oder im Anschluss an Aristoteles überhaupt nutzlos für das Leben sei.17 Es gibt jedoch auch andere Beobachtungen im umfangreichen Œuvre Melanchthons, die nun gerade umgekehrt auf eine wirkungsvolle Rezeption der Stoa verweisen. Am augenfälligsten ist seine Neubegründung der Linie und in eigentümlicher Weise von unseren Willen abhängt. Gott bestimmt auf andere Weise die künftige Auferstehung der Toten und Ähnliches, was seine eigentümlichen Werke sind, anders sieht er voraus und bestimmt er die Frevel der Menschen, die er zuläßt.“ („Determinatio divina dissimilis est in his, quae pendent proprie ab ipsius voluntate, et in aliis, quae principaliter aut proprie oriuntur a nostris voluntatibus. Deus aliter determinant venturam resurrectionem mortuorum, et similia, quae sunt ipsius propria opera, aliter praevidet et determinat scelera hominum, quae permittit.“) 15 Ebd. S. 196: „[…] Deum non esse Stoicum.“ 16 Jill Kraye (wie Anm. 2) S. 45. 17 So bündig zusammengefaßt in: Philippi Melanchthonis Moralis Philosophiae Epitome, Straßburg 1539, Widmungsschreiben, S. 5 f: „Aristoteles selbst sagt, die Meinungen sind zurückzuweisen, die keinerlei Nutzen aufweisen für das Leben und die Sitten. Solcher Art aber sind viele stoische, nämlich über die ,Apathie’, das ,Fatum’ und viele andere mehr.“ („Aristoteles ipse inquit, repudiandas esse opiniones, quarum nullus est usus in vita & moribus. Tales autem sunt Stoicae multae, videlicet de Apathia, de Fato, & pleraeque aliae.“)

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Naturrechtslehre.18 Hier ist es allerdings nicht Seneca, der in Melanchthons Schriften durchaus präsent ist und zu dessen Tragödie Thyestes 19 er wohl schon in seiner Tübinger Studienzeit ein Epigramm verfaßt hatte, sondern Cicero. Melanchthon hatte die Lehre vom Naturrecht in den unterschiedlichsten Schriften und in verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten ausführlich entwickelt.20 In ihren historischen und systematischen Perspektiven bündig zusammengefaßt findet sich die Naturrechtstheorie in

18 Vgl. hierzu den Vf.: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497 – 1560), Leipzig 1995 (EThSt 67), bes. S. 140 – 158 (mit weiterführender Literatur); Christoph Strohm: Zugnge zum Naturrecht bei Melanchthon, in: Der Theologe Melanchthon (hg. von Günter Frank). Stuttgart 2000 (MSB 5), S. 339 – 356; ders., Rezeption des stoischen Vernunft- und Naturrechtsgedankens, in: Christoph Strohm (wie Anm. 1) S. 142 – 148; Anton Hügli, Art. Naturrecht. IV. Neuzeit, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie 6, 1984, S. 582 – 594, hier: S. 583. Allerdings ist die Annahme Hüglis, die sich in der Melanchthonforschung immer wieder finden läßt (vgl. hierzu die Belege mit der entsprechenden Literatur bei Günter Frank 1995 [wie Anm. 18] S. 140 – 142), Melanchthon „knüpfte wiederum beim aristotelischen Naturrecht an“, irreführend. Bei Aristoteles finden sich lediglich Ansätze eines Naturrechtsgedankens (Nikomachische Ethik 5, 10, 1134 b 18 – 21). Der Gedanke einer Begründung der Ethik auf einer Naturgesetzlichkeit ist Aristoteles eher fremd. Vielmehr stand in dessen Ethik im Gegenteil die Ausbildung von Tugenden bzw. eines „Ethos“ auf dem Wege der Gewöhnung im Mittelpunkt. Auch Klaus M. Girardet kommt in seiner vergleichenden Untersuchung zum „Naturrechtsgedanken“ bei Aristoteles und Cicero zu dem Ergebnis, „beim Vergleich mit Aristoteles sehe ich praktisch nur fundamentale strukturelle und sachliche Unterschiede“. (Klaus Martin Girardet: ‘Naturrecht’ bei Aristoteles und bei Cicero (de legibus): Ein Vergleich, in: William Wall Fortenbaugh, Peter Steinmetz [Hg.], Cicero’s knowledge of the Peripatos. New Brunswick / London 1989, S. 114 – 132, hier: S. 126.) Für das aristotelische Naturrechtsdenken hob Girardet hervor, dass dieses weder Maßstab des positiven Rechts sei, noch als ein absolutes Element einer positiven Rechtsordnung verstanden werden könne, weil nach Aristoteles die Natur – wie alles – veränderlich sei (Nikomachische Ethik 5, 10, 1134 b 28). Zur stoisch-ciceronischen Begründung des Naturrechts vgl. insgesamt: Maryanne Cline Horowitz: The Stoic synthesis of the idea of natural law in man, in: Journal of the History of Ideas 35, 1974, S. 3 – 16; Peter Stein: The sources of law in Cicero, in: Ciceroniana n.s. 3 (1978) S. 19 – 31; Charles R. Kesler: Cicero and the Natural Law. Cambridge / Mass. 1985 (Diss.). 19 Vgl. CR 19, S. 787 f. Aus dieser Tragödie zitierte Melanchthon gelegentlich auch in seinen Schriften zu Cicero (etwa: CR 16, S. 594). 20 Die Belege finden sich bei Günter Frank (wie Anm. 18) S. 143, Anm. 385; S. 146, Anm. 396; sowie Christoph Strohm (wie Anm. 18).

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den beiden umfangreichen theologischen Summen von 153521 und 154322. Hier definiert Melanchthon das Naturgesetz als die Kenntnis des göttlichen Gesetzes, die der Natur des Menschen eingestiftet sei.23 Begründet wird das Naturrecht theologisch und exemplaristisch: als vorzügliche „Spur Gottes“ ist es die Präsenz der göttlichen Weisheit im Geist der Menschen.24 Melanchthon identifiziert das Naturrecht mit den dem menschlichen Geist eingestifteten „Kenntnissen“, einem ’natürlichen Licht’, durch das er allererst etwas erkennen könne. Die Philosophen, so sagt er, nennen dieses Licht die „Kenntnis“ von Prinzipien, joim±r 1mmo¸ar oder pqºkgxir, die in sehr sicheren spekulativen und praktischen (Erkenntnis-) Prinzipien – hier nun des Naturrechts – bestehen.25 In seinen weitergehenden Ausführungen, in denen das Naturgesetz mit jenem Gesetz identifiziert wird, das Gott – nach dem Römerbrief (1, 18 f; 2, 15) – in das Herz der Menschen geschrieben habe, läßt Melanchthon keinen Zweifel über die Quellen seiner Naturrechtslehre: es ist Xenophon26 und – vor allem – Cicero27. Loci theologici, 1535 (CR 21, S. 388 – 405). Loci theologici, 1543 (CR 21, S. 685 – 719). CR 21, S. 398: „Lex naturae est notitia legis divinae, naturae hominis indita.“ Ebd. S. 398 f: „In der gesamten Natur der Dinge gibt es nichts Besseres und Schöneres und keine gegenwärtigere Spur Gottes, als dass Gott sein Bildnis und das Abbild seiner Weisheit in den Geist der Menschen eingeprägt hat.“ („Nec est quicquam in tota rerum natura melius ac pulchrius, neque ullum praesentius Dei vestigium, quam quod Deus hanc suam effigiem et imaginem suae sapientiae humanis mentibus impressit.“) 25 Ebd. S. 399: „Ich habe aber gesagt, dass eine ‘Kenntnis’ der Natur eingestiftet ist, was du so verstehen magst. So wie den Augen ein gewisses Licht durch göttliche Fügung eingestiftet ist, so sind dem Geist der Menschen bestimmte ,Kenntnisse’ eingestiftet oder ein gewisses Licht, durch das er ,per se’ etwas erkennt und beurteilt. Die Philosophen nennen dieses Licht die ,Kenntnis’ von Prinzipien, sie nennen sie joima· 5mmoiai und pqºkgxir. Und wie sie selbst über die spekulativen Prinzipien lehren, welche die Menschen von Natur aus erkennen und gewissermaßen sehr sicher begreifen, so sind auch die praktischen Prinzipien, d. h. das Naturgesetz zu verstehen.“ („Dixi autem esse notitiam naturae inditam, quod sic intelligas. Sicut oculis lumen quoddam divinitus inditum est, ita mentibus humanis insitas esse quasdam notitias, seu lumen quoddam, quo per sese agnoscunt et iudicant quaedam. Philosophi id lumen vocant notitiam principiorum, vocant joim±r 1mmo¸ar et pqºkgxir. Et sicut ipsi de principiis speculativis docent homines natura ea agnoscere et amplecti tanquam certissima; ita de principiis practicis, hoc est, de lege naturae sentiendum est.“) 26 Unverkennbar bezieht sich Melanchthon hier auf Xenophons Erinnerungen an Sokrates (Memorabilia), wo die Vorstellung entwickelt wird, der Kosmos sei ein 21 22 23 24

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Diese prägnante Zusammenfassung der Naturrechtslehre, wie sie Melanchthon entwickelt hatte, verweist auf einige wichtige inhaltliche und systematische Aspekte seines Konzeptes. Zunächst geht die Theorie, das Naturrecht sei die Kenntnis des göttlichen Gesetzes, welches der Natur des Menschen eingestiftet sei, unverkennbar auf Cicero zurück. Cicero hatte in seinem unvollständig überlieferten rechtsphilosophischen Dialog De legibus, dessen Erstdruck ca. 1470 in Venedig erschienen war, die These entwickelt, daß das „Gesetz die höchste Vernunft sei, die in die Natur (des Menschen, G.F.) eingestiftet“ sei.28 Daneben verweist die Theorie Melanchthons, das Naturgesetz sei ein Abbild der göttlichen Weisheit im menschlichen Geist, sowohl auf die Gottebenbildlichkeitslehre der Theologie (der Mensch als „imago Dei“) als auch auf den platonischen Teilhabegedanken (l´henir). Auch der Bezug des Naturgesetzes sowie allgemeiner, dem Geist der Menschen eingestifteter ,Kenntnisse‘ (notititae) zum „Licht der Natur“ (lumen naturae) 29 sowie die Identifizierung mit sog. joima· 5mmoiai oder einer pqºkgxir ist ciceronischen Ursprungs.30 Schließlich unterscheidet

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besonderes Zeugnis für die Existenz eines göttlichen Demiurgen, der die Welt als ein Kunstwerk geschaffen habe und der das Leben liebe. (vgl. Mem. 1, 4, 7; 16; 4, 3, 11 f [Xenophon: Erinnerungen an Sokrates, hg. von Johannes Irmscher. Leipzig 1976, S. 28; S. 30; S. 124] sowie die audrückliche Würdigung Melanchthons in CR 2, S. 816). CR 21, S. 401: „Deshalb auch schlußfolgern Philosophen in dieser Lehrmeinung über Gott sehr gewichtige Vernunftgründe; wie Cicero in ’Über das Wesen der Götter’, ebenso Xenophon.“ („Ideo et philosophi quidam in hanc sententiam de Deo gravissimas rationes colligunt; ut Cicero de natura Deorum, item Xenophon.“) Cicero, De legibus I 5, 18: „[…] lex est ratio summa, insita in natura, […]. Eadem ratio, cum est in hominis mente confirmata et perfecta, lex est.“ (kursiv G.F.) Vgl. hierzu ausführlich Girardet (wie Anm. 18). Cicero, Tusc. III, 2,1. Vgl. hierzu auch die Hinweise von Werner Beierwaltes, Art. Lumen naturale, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie 5 (1980) S. 547 – 549, hier: S. 547. Cicero, De nat. deor. I 44: „So seht Ihr, wie herrlich die Grundlage für diese Frage gelegt ist. Die Meinung über die Götter stützt sich auf keine Einrichtung, keine Sitte, kein Gesetz; alle ohne Ausnahme stimmen fast darin überein, deshalb muß man einsehen, dass es Götter gibt, denn ihre Kenntnis ist uns eingegeben oder vielmehr angeboren und das, worin die Natur aller übereinstimmt, ist notwendig wahr. Man muß also das Dasein der Götter anerkennen. Da dies nun nicht bloß bei ziemlich allen Philosophen, sondern auch bei den Ungelehrten feststeht, so muß man auch anerkennen, dass wir eine solche erwähnte Vorerfassung oder einen Vorbegriff über die Götter haben (denn man muß den neuen Dingen auch neue Namen geben und Epikur hat es deshalb

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Melanchthon innerhalb dieser dem Geist der Menschen eingestifteten ,Kenntnisse‘ zwischen spekulativen und – irgendwie auf das Naturrecht bezogenen – praktischen Prinzipien. pqºkgxir genannt, was vor ihn niemand mit diesem Worte bezeichnet hatte);

[…]“ („Quod igitur fundamentum huius quaestionis est, id praeclare iactum videtis. Cum enim non instituto aliquo aut more aut lege sit opinio constituta maneatque ad unum omnium firma consensio, intellegi necesse est esse deos, quoniam insitas eorum vel potius innatas cognitiones habemus; de quo autem omnium natura consentit, id verum esse necesse est; esse igitur deos confitendum est. Quod quoniam fere constat inter omnis non philosophos solum, sed etiam indoctos, fatemur constare illud etiam, hanc nos habere sive anticipationem, ut ante dixi, sive praenotionem deorum (sunt enim rebus novis nova ponenda nomina, ut Epicurus ipse pqºkgxir appellavit, quam antea nemo eo verbo nominarat.“) (kursiv G.F., deutsche Übersetzung nach: Marcus Tullius Cicero: Vom Wesen der Gçtter. Nach der Ausgabe von Johann Hermann von Kirchmann bearbeitet von Heinz-Jürgen Steffen. Essen o. J. [Bibliothek der Philosophie, Bd. 16], S. 49). Dabei – dies muss hier betont werden – stellt die ciceronische Naturrechtstheorie bereits eine Fortentwicklung und bedeutsame platonische Überlagerung des ursprünglichen stoischen Naturrechtsgedankens dar, wie die vorzügliche Studie von Richard A. Horsley (The Law of nature in Philo and Cicero, in: Harvard Theological Review 71 [1978] S. 35 – 59) nachweisen konnte. In der stoischen Tradition – etwa bei Zenon und Chrysipp – war das Naturrecht identisch mit der allgemeinen Vernunft, welche den Kosmos konstituierte, die Chrysipp mit „fatum“, Vorsehung und Zeus gleichsetzen konnte. Damit war das Naturrecht ein immanentes Vernunftprinzip einer immanenten göttlichen Vernunft. „This Stoic tradition understood the universe as a vast state governed by the reason or law inherent in nature. In its original form, moreover, it identified this universal reason with God.“ Diese stoische Tradition wurde jedoch durch Antiochus von Askalon, Vertreter der neueren Akademie und Ciceros Lehrer in Athen (97 – 78), einer platonischen Relektüre unterzogen, die sowohl Cicero selbst als auch Philo von Alexandrien beeinflußt hatte. In dieser Folge hatte sowohl Cicero als auch Philo das Naturrecht streng von Gott auch begrifflich unterschieden (Gott wurde hier mit der „platonischen mens“ identifiziert) und auf diese Weise dessen Transzendenz über den Kosmos betont. Die ciceronische Naturrechtstheorie muss deshalb – so die Untersuchung von Horsley – als Erneuerung der platonischen Philosophie bei Antiochus von Askalon begriffen werden. „[…] At this point the significance of the Platonic reshaping of the Stoic doctrine of the reason or law of nature can be discerned. The Stoics apparently understood the right reason of nature as the divine structure immanent in the cosmos, inherent in the (empirical) order of things. In the versions of the law of nature argument in Cicero, Philo, and others analyzed above, the presence of terms such as „mind of God“, „ordinance“, and God as the „legislator“ of the universal natural law, signals a significant shift in meaning. These are Platonic terms, but more importantly, they are terms used by Platonic philosophy to express the transcendence of God and the divine mind over the cosmos which it ,orders‘.“ (Ebd. S. 52 f.)

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Wichtiger jedoch als diese terminologischen und historischen Beobachtungen, die schon gelegentlich in der Melanchthonforschung gemacht wurden31 und die darauf hinwiesen, dass ein solches Theoriengeflecht von „Notitiae naturales“ ( joima· 5mmoiai), „Vorwegnahme“ (pqºkgxir) und „Lumen naturale“ (natürliches Licht [der Vernunft, G.F.]) stoischen Ursprungs sei, sind die Fragen, in welcher Überlieferungsgeschichte Melanchthon diese Tradition aufgreift und welche systematische Bedeutung sie für sein eigenes Philosophieverständnis gewinnen.

III. Der Begriff der „Prolepse“ (pqºkgxir) geht wohl auf Epikur (342/1 – 271/0) zurück.32 Nach Epikur gelten diese sog. „Prolepsen“ als zweites Wahrheitskriterium der Erkenntnis, und zwar nach der Sinneserfahrung. Sie sind eine „in uns gespeicherte Allgemeinvorstellung, d. h. Erinnerung an das häufig in äußerer Wahrnehmung Erschienene“, also ein Allgemeinbegriff, der ohne unser Zutun in unserer Seele entsteht, indem sich durch wiederholte Wahrnehmung des Gleichen die Vorstellung des Gemeinsamen festhält. „Niemand könne eine Frage stellen oder ein Problem erörtern oder gar eine Meinung fassen […] ohne Prolepsis.“33 Eine „Prolepsis ist demnach eine mit der Wortbedeutung

31 So etwa: Hans Maier: An der Grenze der Philosophie. Melanchthon – Lavater – David Friedrich Strauss. Tübingen 1909, bes. S. 67 – 72; Peter Petersen: Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland. Leipzig 1921 (ND: Stuttgart 1964), S. 60 – 101; ähnl. auch Bodo Sartorius von Waltershausen: Melanchthon und das spekulative Denken, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 5, 1927, S. 644 – 678, bes. S. 650 – 665; Rolf Schäfer: Art. Aristoteles / Aristotelismus, in: Theologische Realenzyklopdie 3, 1978, S. 789 – 795, hier: S. 792; Robert Stupperich: Art. Melanchthon, in: Argumente fr Gott (hg. v. Karl-Heinz Weger, Klemens Bossong). Freiburg / Basel / Wien 1987, S. 251 – 253; hier: S. 251; zur Diskussion dieser Forschungsbeiträge des 20. Jhdt. Günter Frank (wie Anm. 18) S. 23 – 25. 32 Vgl. zur Einführung Malte Hossenfelder, Geschichte der Philosophie, Bd. 3: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis. München 1985, bes. S. 129 f. 33 Ebd. S. 129, Anm. 14. Zitiert wird nach Hermann Usener: Epicurea. Leipzig 1887, S. 187, Z. 33 f (ND: Stuttgart 1966), einer lateinischen Übersetzung des 10. Buches Epikur aus Diogenes Laertius (vgl. Anm. 34).

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wesentlich verbundene Vorstellung, die aus wiederholter Erfahrung gewonnen wird. […]“34 Als eine in wiederholter Wahrnehmung gewonnene Allgemeinvorstellung jeglicher Erkenntnis erscheint eine solche Position Epikurs in einer unverkennbaren Spannung zur Stoa, wo die Rede von den „Prolepsen“ im Zusammenhang mit ersten Allgemeinbegriffen ( joima· 5mmoiai) begegnet.35 Denn kennzeichnend für die Stoa war eine sensualistische Erkenntnistheorie, die ihren Ausdruck in der klassischen Formel gefunden hatte: „Alles Denken geht von der sinnlichen Wahrnehmung aus oder vollzieht sich jedenfalls nicht ohne diese […]. Und allgemein ist in einem Begriff nichts zu finden, dessen Kenntnis man nicht aus sinnlicher Gegebenheit besitzt.“36 Die erkennende Seele gleicht danach bei der Geburt einer „tabula rasa“. Erst aufgrund einer sinnlichen Wahrnehmung können Vorstellungen entstehen, die als Erinnerungen zurückbleiben. Aus vielen gleichartigen Erinnerungen bildet sich dann der Begriff (5mmoia) als eine Allgemeinvorstellung, die das Gemeinsame der Erinnerung festhält. Die Stoiker nannten die so 34 Michael Erler: Epikur, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Bd. 4/1. Die hellenistische Philosophie (hg. von Michael Erler, Hellmut Flashar, Günter Gawlick, Woldemar Görler, Peter Steinmetz). Basel 1994, S. 29 – 202, hier: S. 134 f. Eine solche Deutung der „Prolepsen“ Epikurs überlieferte übrigens auch Diogenes Laertius: „Was aber ihre sogenannte Prolepsis (Vorherbestimmung = Begriff) betrifft, so ist sie gleichsam ein Ergreifen des Wirklichen oder wahre Meinung oder Gedanke oder allgemeine in uns liegende Vorstellung, d. h. Erinnerung an das oft vor der Anschauung Erschienene, so wie wenn wir sagen: ,Dieser hier ist ein Mensch‘, denn so bald das Wort Mensch laut geworden ist, tritt sofort dem Begriff gemäß auch die Gestalt desselben vor unseren Geist nach der Führung der Sinne.“ Zitiert nach: Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berhmter Philosophen, (hg. v. Hans Günter Zekl). Hamburg 41998, S. 237 f (Buch X, Epikuros, 33). 35 Auf den stoischen Ausdruck der joimµ 5mmoia geht dann der lateinische Begriff der „notio communis“ zurück, wobei strittig ist, ob er als synonym zu pqºkgxir zu gelten habe. Nach Chrysipp gelten diese als stärkstes natürliches Wahrheitskriterium, die jedoch auf der Erfahrung basieren (Ioannes ab Arnim: Stoicorum veterum Fragmenta, 4 Bde. Stuttgart 1903 – 1924 [ND: Stuttgart 1964]; fortan: SVF; hier: II, S. 154, 23 – S. 155, 24). Vgl. hierzu die Hinweise bei. Johannes Schneider: Art. Notiones communes, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie 6, 1984, S. 938 – 940, hier: S. 938; vor allem aber: Francis H. Sandbach: ’Ennoiai’ and ’Prolepsis’ in the Stoic Theory of Knowledge, in: Classical Quarterly 24, 1930, S. 44 – 51; Robert B. Todd: The Stoic common notions: A reexamination and reinterpretation, in: Symbolae Osloenses 48, 1973, S. 47 – 75. 36 SVF II, S. 88.

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entstandenen Begriffe „Vorwegnahmen“ (Prolepsen).37 Vor allem, wenn es sich um allen Menschen gemeinsame Begriffe handelte ( joima· 5mmoiai), hatten sie als Wahrheitskriterien eine besondere Dignität.38 So unterschiedlich die erkenntnistheoretischen Positionen Epikurs und der Stoa auch sein mögen, in zwei Perspektiven kommen sie jedoch zusammen: Einerseits werden die Erkenntnisvoraussetzungen, bzw. -prinzipien – hier die „Prolepsen“, dort die „joima· 5mmoiai“ – letztlich auf die Sinneserfahrung zurückgeführt; andererseits resultiert aus dieser Grundannahme die Vorstellung, daß alle „Prolepsen“, bzw. Prinzipien der menschlichen Erkenntnis – erkenntnispsychologisch gesehen – niemals angeboren sind, sondern allererst Ergebnis einer wie auch immer zu beschreibenden Verstandestätigkeit sind, die aus der Sinneserfahrung hervorgeht.39 Es waren dann vor allem Cicero und Boethius, die diese erkenntnistheoretischen Positionen des Epikur und der Stoa vermittelt und ihnen eine aprioristisch-neuplatonische Wendung gegeben hatten.40 37 SVF IV, S. 123 (bei Zenon [I, S. 41, 2; II, S. 28, 22; II, S. 228, 23; II, S. 228, 32; III, S. 17, 14] und Chrysipp [II, S. 12, 26]). 38 Gerade gegen eine solche Position der Stoa richtete sich die Kritik des Platonikers Plutarch. Sein Essay peq· t_m joim_m 1mmoi_m pq¹r to»r stoijoOr stellt eine Kritik dieser stoisch-ciceronischen Theorie von Gemeinbegriffen oder gemeinsamen Vorstellungen dar (Plutarch, Moralia, 72). Vor allem kritisierte Plutarch die Stoiker in ihrer Annahme von Gemeinbegriffen ( joima· 5mmoiai), wenn sie gerade nicht übereinstimmen mit allgemeinen Vorstellungen aller Völker. (Plutarch, De communibus notitiis, 1068 A-D). Vgl. hierzu auch die Einleitung zur englischen Übersetzung von Frank Cole Babbitt: Plutarch’s Moralia I. New York 1927 (ND: Cambridge / Mass. / London 1962), S. VXXXV, sowie die Hinweise bei Johannes Schneider (wie Anm. 35), S. 938 – 940, hier: S. 939. 39 „Even the common notions, or ennoia, which all men share, are arrived at by each individual through his own processing of sense data; they are not innate.“ (Marcia L. Colish: The Stoic Tradition from Antiquity to the Early middle ages, Bd. 1. Stocism in Classical Latin Literature. Leiden / New York / København / Köln 1990, S. 52 f). 40 Nach der Untersuchung von Richard A. Horsley (vgl. Anm. 30) geht diese neuplatonische Wendung der stoischen Erkenntnisprinzipien (dort des Naturrechts) schon auf Antiochus von Askalon zurück. Auch Tobias Reinhardt verweist in seiner Neuedition der ciceronischen Topik auf den Mittelplatonismus, in dem eine solche Überlagerung der stoischen Erkenntnisprinzipien durch die platonischen Ideen zu finden sei. Vgl. Tobias Reinhardt: Marcus Tullius Cicero, Topica, edited with translation, introduction, and commentary. Oxford 2003, S. 259 f; vgl. hierzu auch die Besprechung von Dionysios Chalkomatas, in: Bryn Mawr Classical Review 2004, 12.32.

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Cicero deutete Epikurs „Prolepsen“ als der Seele des Menschen angeboren (innatus), bzw. „eingepfropft“ (insitus) 41 und explizierte sie so als eine aprioristische Antizipation oder einen Vorbegriff (praenotio) jeglicher Erkenntnis. Die Vernunft kann danach nur erkennen, wovon sie bereits Begriffe in der Seele vorfindet, und insofern antizipieren die Begriffe jegliche mögliche Erkenntnis. Cicero übersetzte darüber hinaus in seiner Topica ad C. Trebatium im Zusammenhang der Unterscheidung von Gattung (genus) und Art (forma) das griechische 5mmoia und pqºkgxir, die er gleichermaßen in einem allgemeinen Sinn als Allgemeinbegriff (notio communis) deutet.42 Darunter verstand er „entweder allen Menschen gemeinsame (vor aller Wahrnehmung getroffene) Unterscheidungen (Begriffe, Vorstellungen), die mittels Definition geklärt werden, […] oder Einsichten, formuliert in Sätzen, über deren Geltung weitgehende Übereinstimmung herrscht.“43 Der Gebrauchsspielraum umfasst neben dieser Verwendung44 und dem Kompositum „notiones communes“ noch „notio“ im Sinne einer angeborenen Idee45. Die platonische Wendung der epikuräisch-stoischen Theorie von Allgemeinbegriffen besteht nun jedoch nicht in der Annahme, diese seien Abbilder einer transzendenten Ideenwelt, sondern in der platonischen Metexislehre. So diskutierte Cicero die platonische Ideenlehre hinsichtlich der Frage, wo die Ideen näherhin präsent sind. Seine Antwort lautete: im Denken und im Geist (cogitatione et mente), oder: in der Vernunft und im Verstand (ratione et intellegentia).46 Dass der 41 Vgl. hierzu Ciceros Erläuterungen in De natura deorum (vgl. Anm. 30). 42 Cicero, Topica ad C. Trebatium VII, 31: „Genus et formam definiunt hoc modo: Genus est notio ad plures differentias pertinens; forma est notio cuius differentia ad caput generis et quasi fontem referri potest. Notionem appello quod Graeci tum 5mmoiam tum pqºkgxim. Ea est insita et ante percepta cuiusque cognitio enodationis indigens.“ (kursiv G. F.). Zitiert nach Marcus Tullius Cicero, Topica (wie Anm. 40) S. 130. 43 Johannes Schneider (wie Anm. 35) S. 939. 44 Vgl. hierzu auch Ciceros Hinweise in: De finibus III, 6, 21 ; Tusc. Disp. IV, 24, 53 ; V, 10, 29 ; V, 39, 114. 45 In Tusc. Disp. I, 57 spricht Cicero von den „notiones“ als der Seele der Menschen eingestiftet (insitas) und miteingeprägt (consignatas), die auch 5mmoiai genannt würden. 46 Cicero, Orator 2, 8: „Sed ego sic statuo, nihil esse in ullo genere tam pulchrum, quo non pulchrius id sit unde illud ut ex ore aliquo quasi imago exprimatur; quod neque oculis neque auribus neque ullo sensu percipi potest; cogitatione tantum et mente complectimur. […] 3, 10: „Has rerum formas appellat Qd´ar ille non intellegendi solum, sed etiam dicendi gravissimus auctor et magister

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menschliche Geist nur darum diese zu erkennen vermag, weil er an einem göttlichen moOr teilhat – und gerade dies ist der Kern der platonischen Metexislehre –, wird hier von Cicero allerdings nicht erwähnt.47 Boethius teilt in seinem Commentar zu Ciceros Topica sowie in De differentiis topicis die ciceronische Definition der „notiones communes“ (ennoia, prolepsis) als platonische, angeborne Ideen.48 Diese von Boethius überlieferte und kommentierte Tradition der Topica ad Trebatium ist auch der Ort, an dem Melanchthon diese Diskussion erneut aufgreift.49 Plato, easque gigni negat et ait semper esse ac ratione et intellegentia contineri, cetera nasci occidere fluere labi nec diutius esse uno et eodem statu.“ 47 Auf diese platonischen Implikationen der ciceronischen Positionen hatte auch Heinrich Dörrie hingewiesen. Vgl. Heinrich Dörrie: Der Platonismus in der Antike, Bd. 1: Die geschichtlichen Wurzeln des Platonismus. Stuttgart – Bad Cannstatt 1987, bes. S. 522. 48 Auch für Boethius ist eine Idee ein Verstandesbegriff (concept) oder eine einfache geistige Vorstellung (simple mental comprehension), Cicero nenne – so Boethius – eine Idee dasjenige, was die Griechen ennoiai oder prolepsis genannt hatten und definiert mit ihm eine Idee als (der Seele) eingestiftete (ingrafted) und vorausgehend enthaltene Kenntnis irgendeiner Form; und wie bei Cicero ist der Ort dieser Diskussion die Unterscheidung von Gattung und Art (genus und species). „Since a kind cannot exist without a genus (for nothing can exist without its source), Cicero added definitions of both genus and species and said that a genus is an idea relating to many differentiae. An idea, however, is a concept and a simple mental coprehension that is related to many things differing from one another. […] Cicero calls an idea what the Greeks refer to as ennoia or prolepsis. The definition of an idea is this: an idea is ingrafted and previously obtained cognizance of some form, […]. Zitiert nach: Boethius’s In Ciceronis Topica, III, 6.3 (translated and introduced by Eleonore Stump). Ithaca / London 1988, S. 102 f. Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Marcia L. Colish (wie Anm. 39), Bd. 2. Stoicism in Christian Latin Thought through the Sixth Century, S. 279. 49 Es ist bezeichnend, dass – anders als Boethius’ De differentiis topicis – seine andere Hauptschrift In Ciceronis Topica im Mittelalter zwar wohl bekannt war, aber es kaum Kommentare gab. Vgl. Niels Jø´rgen Green-Pedersen: The Tradition of the Topics in the Middle Age. The Commentaries on Aristotle’s and Boethius’ ‘Topics’. München / Wien 1984 (Analytica), S. 39: „[…] there are no medieval commentaries on Cicero’s Topica. […]“; ebd. S. 123: „It is difficult to say how much – if any – direct acquaintance the authors from the later periods have with the ‘In Ciceronis Topica’. They know that it exists, but hardly much more.“ Dieses Gesamturteil muss jedoch insofern korrigiert werden, als Tobias Reinhardt (wie Anm. 42) S. 73 – 77 immerhin 140 Manuskripte dieser boethianischen Fassung der ciceronischen Topica verzeichnet, die vor dem 14. Jhdt. verfaßt wurden, zumeist mit dem Text von Boethius versetzt. D.h., es gab wohl Manuskripte, die im Mittelalter zirkulierten und abgeschrieben wurden,

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In seinen eigenen, sehr erfolgreichen Scholien zu Ciceros Topik mit dem Kommentar des Boethius, die erstmals 1524 in Wittenberg erschienen50, heißt es zu dieser Stelle51: „Ein Verstandesbegriff (conformatio), d. h., ein gewisses Abbild in der Seele, welches die Griechen 1mmo¸am und pqºkgxir nennen.“52 Schließlich: auch in der Diskussion, in der Cicero den griechischen eWdor-Begriff diskutiert hatte, heißt es bei Melanchthon in der platonisierenden Diktion des Boethius: „[…] Idee nennt Platon, was Aristoteles mit ,species‘ beschrieb.“53

IV. Mit der Beobachtung der Präsenz stoisch-ciceronischer und – wie man nunmehr vor dem Hintergrund der vorausgegangenen begriffs- und traditionsgeschichtlichen Untersuchung ergänzen muss – boethianischer Theorien im Werk Melanchthons hatte schon Wilhelm Dilthey vor über 100 Jahren auf den systembegründenden Charakter ciceronischer Einflüsse, auf Melanchthons Wissenschaftsverständnis und vor allem auf dessen natürliche Theologie hingewiesen54, ohne gleichzeitig die Überlieferungsgeschichte über Epikur, die Stoa, Antiochus von Aska-

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aber – soweit wir jedenfalls bis heute wissen – keine eigenständigen Kommentare oder Bearbeitungen. Weitgehende Unklarheit herrscht darüber hinaus über die systematischen Einflüsse, die aus den o.g. Manuskripten für die zeitgenössischen philosophischen Diskussionen zu erkennen sein könnten. Erste Gesamtausgaben der ciceronischen Schriften, darunter auch der Topica, sind dann seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert in Drucken bekannt, so etwa die Ausgabe von Hieronymus Squarzaficus, Venedig 1485 (Cicero, M. Tullius: [Opera]), die Ausgabe von Alexander Minutianus, Mailand 1498 (Cicero, Marcus Tullius: Opera) sowie eine Nürnberger Ausgabe der Topicorum Liber ad Caium Trebatium aus dem Jahr 1497. CR 11, S. 805 – 832. Vgl. zur Druck- und Editionsgeschichte CR 11, S. 805 – 808. Bei Cicero heißt es in der Topica ad C. Trebatium 5, [27], der Verstandesbegriff ist der Intellegentia einsigniert und eingeprägt und wird „notio“ genannt. („[…] conformatio insignita et impressa intellegentia, quam notionem voco.“) Ciceronis ad C. Trebatium Topica Melanthon anno 1524. Cum Boetii commentario edidit sua praefatione praemissa (CR 16, S. 820) V, 27: „… Conformatio] Id est, imago quaedam in animo, quam Graeci 5mmoiam ja· pqºkgxim vocant.“ VII, 30 (Ebd. S. 821): „Idea] Idem vult Plato, cum ideas vocat, quod Aristoteles speciem.“ Wilhelm Dilthey: Melanchthon und die erste Ausbildung des natrlichen Systems in Deutschland, 1892/93, in: Aufstze zur Philosophie (hg. von Marion Marquardt). Berlin/O. 1986, S. 226 – 263, bes. S. 238 – 255.

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lon, Cicero und Boethius näher zu explizieren. Melanchthon habe – so Dilthey – die Lehre vom „natürlichen Licht“ (lumen naturale) und von den angeborenen spekulativen und praktischen Prinzipien unmittelbar aus Cicero geschöpft und auf dieser Basis seine „theologia naturalis“ entwickelt. In gewisser Hinsicht liege „bei Melanchthon die ganze Lehre der natürlichen Theologie, wie sie dann die englischen Deisten und die deutschen Rationalisten im 18. Jahrhundert verkündet haben, bereits vor“55. Diltheys Melanchthon-Interpretation stand dabei im Kontext seiner Deutung der Neuzeit als einer Erneuerung der römischen Stoa zusammen mit religiösen Ideen und an der Mathematik orientierten Naturwissenschaften, die wesentlich zur Herausbildung des „natürlichen Systems der Geisteswissenschaften“ geführt habe, jener Lehre also, „nach welcher in der menschlichen Natur ein natürliches System der Religion und Sittlichkeit, des Rechtes und der wissenschaftlichen Wahrheit enthalten ist.“ Die Grundlage dieses natürlichen Systems sah Dilthey in der „Lehre von Gemeinbegriffen, eingeborenen Begriffen oder elementaren Einsichten, auf welche eine rationale Theologie, Rechts- und Staatswissenschaft und schließlich auch eine rationale Naturwissenschaft gegründet werden konnte“.56 Zurecht hatte Günter Abel wiederum in seiner einflussreichen Studie Stoizismus und Frhe Neuzeit aus dem Jahre 1978 Diltheys Position kritisiert, weil dieser einen „unmittelbaren, konfliktfreien und konstitutiven Zusammenhang von römischem Stoizismus und Neuzeit erstellt“ und damit den Stoizismus der frühen Neuzeit einfach als eine Erneuerung der antiken Stoa begriffen habe, dem mithin die eigentlichen Konstitutionszusammenhänge von Neuzeit und neuzeitlicher Rationalität entgangen seien.57 Hinsichtlich der Funktion der Stoa im Denken Melanchthons kam Abel dann zwar zu dem Ergebnis: „Melanchthons Versuch ist […] neben seiner Bedeutung für den zeitgenössischen Aristotelismus auch für die Wirkungsgeschichte der erneuerten Stoa von Wichtigkeit. Wo Reformation oder Aristotelismus melanchthonischer Prägung auftreten oder herrschen, da ist […] die wirkungsgeschichtliche Situation auch für den Neustoizismus nicht 55 Ebd. S. 255. 56 Wilhelm Dilthey: Der Einfluß der rçmischen Stoa auf die Ausbildung des natrlichen Systems in den Geisteswissenschaften, in: ders., Aufstze zur Philosophie (wie Anm. 54) S. 216 – 226, hier: S. 216 f. 57 Günter Abel (wie Anm. 2) S. 1 f; S. 7 – 16.

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gerade ungünstig.“58 Seine eigene Darlegung des Funktionszusammenhangs von Stoa und Wissenschaft bei Melanchthon kommt jedoch über eher terminologische Reminiszenzen nicht hinaus. Hingegen zeigen schon die in den beiden theologischen Summen zusammengefasste Naturrechtslehre Melanchthons sowie seine Wiederaufnahme der ciceronisch-boethianischen Topik ein ganzes Theoriengeflecht, das über die bloße Präsenz stoisch-ciceronischer Theorien weit hinausgeht. In diesem kommen Anliegen der Theologie (Schöpfungs- und Gottebenbildlichkeitslehre), einer philosophischen Theologie59, ein platonischer Exemplarismus (Teilhabegedanke), Erkenntnispsychologie oder Noetik (Kenntnisse im Geist der Menschen als Voraussetzung der Erkenntnis) und Gnoseologie (das „lumen naturale“ als natürliche Helligkeit des menschlichen Geistes) sowie der eigentlichen Erkenntnistheorie (natürliche Kenntnisse als Grundlage von Wissenschaft) zusammen. Systematischer Ort dieses Theoriengeflechts ist nun jedoch nicht mehr die ciceronisch-boethianische Topik oder die für die philosophische Theologie wichtige These Ciceros von der angeborenen Gottesidee, wie er sie in De natura deorum entwickelt und mit Epikurs „Prolepsen“ und den stoischen Allgemeinbegriffen ( joima· 5mmoiai) verbunden hatte, sondern die Intellektlehre, mithin die Anthropologie, wie sie Melanchthon ausführlich in seinem Kommentar Liber de anima aus dem Jahr 1553 entwickelt hatte60. Sie wurde grundlegend für sein 58 Ebd. S. 248. 59 Der Begriff „philosophische Theologie“ (er geht wohl auf Thomas von Aquin zurück: Expositio super librum Boethii de Trinitate 5,4) sowie der Begriff „theologia naturalis“ (dieser ist antiken Ursprungs: Augustin, De civ. Dei, 6, 5 [CCSL 47, 170]), beginnen ihre Karriere in der Neuzeit erst durch Johann Heinrich Alsteds Theologia naturalis aus dem Jahr 1615, kommen aber bei Melanchthon nicht vor. „Philosophische Theologie“ meint hier in einem allgemeinen Sinn die philosophische Seite der Theologie, welche schon in der mittelalterlichen Theologie den Wissenschaftscharakter der Theologie, ihre Rationabilität, sichern sollte. 60 Melanchthons Lehrbuch De anima ist aus seinen Vorlesungen hervorgegangen. Bereits 1539 war es fertiggestellt und ein Jahr später als Commentarius de anima in Wittenberg publiziert (CR 13, S. 5 – 176; in Auszügen auch in: Robert Stupperich [Hrsg.]: Melanchthons Werke in Auswahl, 7 Bde. Gütersloh 1951 – 1975, z. T. 2. Aufl., 1978 – 1983 [fortan MSA]; hier: MSA 3, S. 305 – 372). Vgl. zu den folgenden Ausführungen ausführlich den Beitrag des Verf. (wie Anm. 18) S. 90 – 111; ders.: Philipp Melanchthons „Liber de anima“ und die Etablierung der frhneuzeitlichen Anthropologie, in: M. Beyer, u. a. (Hg.): Humanismus und Wittenberger Reformation (FS Helmar Junghans). Leipzig 1997, S. 313 – 326.

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Philosophieverständnis und ein damit verbundenes frühneuzeitliches Rationalitätskonzept.

V. Melanchthons Liber de anima aus dem Jahr 1553, eine paraphrasierende Diskussion der aristotelischen Schrift De anima, deren Vorlage aufgrund vielfältiger Bezüge die Übersetzung von Johannes Argyropoulos (1393/ 4 – 1487) 61 zu sein scheint, stellt ein Geflecht unterschiedlicher philosophisch-theologischer Fragestellungen dar, die insgesamt als ein frühneuzeitliches Konzept der Anthropologie gewertet werden können. So vielfältig die einzelnen Aspekte dieser Anthropologie auch sind, sie werden in einer ersten, entscheidenden Weise von der Theologie, genauer: von der Schöpfungstheologie und der theologischen Gottebenbildlichkeitslehre bestimmt. Was näherhin die schöpfungstheologische Grundlegung anbelangt, hält dies Melanchthon in einer programmatischen Feststellung im ersten Teil seines Liber de anima fest, in dem die Frage diskutiert wird, worauf sich diese wissenschaftliche Disziplin der Anthropologie überhaupt bezieht: „Denn wenn wir den ordo der Zahlen und jene ewig festgesetzte Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gut und Böse […] betrachten, werden wir zum gemeinsamen Bekenntnis überwältigt, daß diese Natur nicht aus Zufall existiert, sondern daß es einen baumeisterlichen Geist und Handwerker gibt, der in ihr in irgendeiner Weise sein Ebenbild eingepreßt hat, wie auch das Altertum gesagt hat.“62 Dabei ist der Mensch nicht nur das Geschöpf eines 61 Zu Johannes Argyropoulos, einem der bedeutendsten Vermittler der griechischen Literatur unter den Humanisten, vgl. Jerrold E. Seigel: The Teaching of Argyropoulos and the Rhetoric of the first Humanists, in: Action and Conviction in Early Modern Europe. Essays in Memory of Elmore H. Harbison (hg. v. Theodore K. Raab, Jerrold E. Seigel). Princeton 1969, S. 237 – 260; George Holmes: The Florentine Enlightenment 1400 – 1500. London 1969, S. 262 – 265. Zur Bedeutung dieser griechischen Emigranten für die Überlieferung der griechischen Literatur im lateinischen Westen vgl. nunmehr: Brigitte Moundrain: Der Transfer griechischer Handschriften nach der Eroberung Konstantinopels, in: Pirckheimer Jahrbuch, 2005, S. 109 – 122, bes. auch S. 111, Anm. 9. 62 CR 13, S. 5: „Nam cum numerorum ordinem, et septum illud aeternum discernens honesta et turpia, […] consideramus, convincimur ut fateri cogamur, hanc naturam non extitisse casu, sed mentem aliam architectatricem ac opificem esse, quae in hac utcunque suam similitudinem expressit, sicut et antiquitas dixit.“

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göttlichen Baumeisters (mens architectatrix), sondern sein besonderes Ziel ist es, Spuren Gottes in der Seele des Menschen zu betrachten.63 63 Ebd.: „Und der Schöpfer hat uns dieses Werk (vor Augen) gestellt, damit wir es betrachten, soweit dies möglich ist, und damit wir seine Spuren in uns betrachten.“ („Ac proposuit nobis conditor hoc opus, ut, quantum fieri potest, aspiciamus, et ipsius in nobis vestigia contemplemur.“) Melanchthons Rede vom „göttlichen Baumeister“ (mens architectatrix; wörtlich: ein Geist, der wie ein Baumeister / Architekt tätig ist) geht letztlich auf den platonischen Timaios zurück (vgl. Timaios 29a, 1 – 3; 29d, 5 – 30a, 4; 31c, 1 – 32c, 6; die Rede vom göttlichen Baumeister findet sich in 29a, 3). Als moOr dgliouqcºr ist dieser Gottesbegriff in der neuplatonischen (proklischen) und mittelalterlichen Tradition breit belegt (vgl. hierzu ausführlich: Jan Opsomer: A craftsman and his handmaiden. Demiurgy according to Plotinus, in: Platons ,Timaios‘ als Grundtext der Kosmologie in Sptantike, Mittelalter und Renaissance (ed. By Thomas Leinkauf, Carlos Steel). Leuven 2005 [Ancient and Medieval Philosophy, De WulfMansion Centre S. 1 / XXXIV], S. 67 – 102; Carlos Steel: Breathing Thought: Proclus on the Innate Knowledge of the Soul, in: John J. Cleary: The Perennial Tradition of Neoplatonism. Leuven 1997 [Ancient and Medieval Philosophy, De Wulf-Mansion Centre S. 1 / XXIV], S. 293 – 309). In der frühen Neuzeit spielte der neuplatonische Timaios bekanntlich vor allem durch die Edition des Marsilio Ficino eine kaum zu unterschätzende Bedeutung (vgl. hierzu ausführlich: Thomas Leinkauf: Aspekte und Perspektiven der Prsenz des ,Timaios‘ in Renaissance und Frher Neuzeit, in: Thomas Leinkauf, Carlos Steel 2005, S. 363 – 386). Diese vor allem durch die hermetischen Schriften ergänzte Edition des Ficino ist jedoch nicht die Tradition, auf die Melanchthon zurückgegriffen hatte. Im März 1534 erschien in Basel die zweite große Edition des proklischen Timaios, die sein Freund Simon Grynäus (1493 – 1541) publiziert hatte. Genau genommen handelt es sich bei diesem Kommentar um die editio princeps des nichthermetischen Timaios im lateinischen Westen, die nicht nur kaum bekannt ist, sondern deren Wirkungsgeschichte noch gar nicht untersucht ist. Dieser monumentale, griechisch verfaßte Kommentar, der sich in der Bibliothek des evangelischen Ministeriums des Augustinerklosters in Erfurt befindet, trägt den Titel APAMTA PKATYMOS. Platonis omnia opera cum commentariis Procli in Timaeum & Politica, thesauro veteris Philosophiae maximo. Die erste Edition dieses Kommentars des Jahres 1534 besorgte Johannes O. Valder, die zweite Edition, welche ihren Erfolg unterstreicht, besorgte Markus Hopper im Jahr 1556. Vgl. hierzu die bibliografischen Hinweise bei Franz Hieronymus: 1488 Petri – Schwabe 1988, Bd. 2. Basel 1997, S. 1061 – 1063. Melanchthon, aus dessen Privatbibliothek dieser Erfurter Kommentar stammt, hatte den Kommentar Seite für Seite mit Randbemerkungen kommentiert. Noch auf der Widmungsseite des Erfurter Exemplars pries der Mathematiker Hiob Ludolf (1649 – 1711) Melanchthon für seine Randbemerkungen, die die Grynäus-Edition „kostbarer als Gold mache“. Wie wir von Christopher Mylaeus (De scribenda universitatis rerum historia libri quinque, Basel 1551, Liber 1) wissen, verwendete Grynäus für seine Edition nicht nur Fragmente von Cicero, Plutarch und Ficino, sondern eigene, vor ihm noch unbekannte Fragmente. Melanchthon pries

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Diese schöpfungstheologische Perspektive verbindet sich gleichzeitig – und das ist das zweite theologische Implikat dieser Anthropologie – mit der theologischen Gottebenbildlichkeitslehre. In einem eigenen Kapitel „Über das Abbild Gottes im Menschen“ in seiner Anthropologie hält Melanchthon fest: „Gott wollte aber, daß er von der menschlichen Natur erkannt wird und daß der Mensch ein solches Abbild Gottes ist, welches die Ebenbildlichkeit wahrnimmt und begreift. Die höchste Ebenbildlichkeit besteht aber in der Übereinstimmung mit der Weisheit und Gerechtigkeit, die nur in einer intelligenten Natur sein kann. Dem menschlichen Geist sind auch ,Kenntnisse‘ eingestiftet, die zeigen, daß Gott existiert und wie er beschaffen ist […]. Erster Grad der Ebenbildlichkeit ist es, eine intelligente Fähigkeit zu haben, die mit der Weisheit (Gottes, G.F.) übereinstimmt.“64 Ohne in eine ausführlichere begriffliche und systematische Diskussion einzutreten65, soll hier festgehalten werden: Melanchthon ging ausdrücklich in einem Schreiben vom November 1534 Grynäus für seine Edition des platonischen Timaios und anderer antiker Autoren, wie auch der äußerst einflußreichen Elementa des Euklid (CR 2, 815: „Sed postquam nunc optimos auctores, primum Aristotelem, deinde Euclidem et Platonem edi curasti, et, ut intelligo, iam adornas editionem Magnae Sytaxeos Ptolemaei, exstant minime obscura iudicii ac voluntatis tuae testimonia“). Neben Ficinos Erstpublikation Florenz 1482 – 1484 kann die Bedeutung des Timaios von Grynäus für die Geschichte des Platonismus in der frühen Neuzeit – ein Desiderat der Forschung – gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vgl. zu dieser Tradition des Grynäus Günter Frank: Die Vernunft des Gottesgedankens. Religionsphilosophische Studien zur frhen Neuzeit. Stuttgart – Bad Cannstatt 2003 (Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie 13), S. 33 f; Anm. 30; ders.: Philipp Melanchthon als Universalgelehrter des 16. Jahrhunderts. Bilanz und Perspektiven der Forschung, in: Dona Melanchthoniana (FS Heinz Scheible). Stuttgart – Bad Cannstatt 2001, S. 103 – 118; hier: S. 108 – 110. 64 MSA 3, S. 362: „Voluit autem Deus agnosci se ab humana natura, et talem esse imaginem Dei hominem, quae similitudinem cerneret et intelligeret. Summa enim similitudo est, sapientiae et iustitiae congruentia, quae non potest esse nisi in natura intelligente. Indidit igitur menti humanae notitias, quae monstrant et esse Deum, et qualis sit […]. Et primus gradus similitudinis est, habere potentiam intelligentem et congruentem sapientiam.“ 65 Ausführlich hierzu, jedoch ohne jeglichen Hinweis auf Melanchthons differenzierte Sicht der Lehre von der Gottebenbildlichkeit: Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive. Göttingen 1983, bes. S. 44 – 48; Wolfgang Seibel: Der Mensch als Gottes bernatrliches Ebenbild und der Urstand des Menschen, in: Mysterium Salutis 2, 1967, S. 806 – 813; Johann Auer: Die Welt – Gottes Schçpfung. Regensburg 1975, bes. S. 127 – 227; Leo Scheffczyk: Art. Gottebenbildlichkeit. III. Theologie- und dogmengeschichtlich, in: Lexikon fr Theologie

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nicht so weit wie Luther in seiner Annahme, der Sündenfall habe gänzlich zum Verlust der Gottebenbildlichkeit des Menschen geführt, sondern die „imago“ (das Abbild Gottes) bleibe im Unterschied zur „similitudo“ (das Ebenbild Gottes, das vornehmlich in der Christusbildlichkeit gesehen wurde) auch nach dem Sündenfall erhalten. Nach Melanchthon besteht die bleibende Gottebenbildlichkeit der menschlichen Seele gerade darin, dass dem Geist der Menschen jene (von Cicero und Boethius überlieferten) ,Kenntnisse‘ (notitiae naturales = joima· 5mmoiai) eingestiftet sind, die Gottes Existenz und Wesen zeigen. Nicht minder bedeutsam als diese beiden theologischen Grundmotive der Schöpfungslehre und der theologischen Gottebenbildlichkeitslehre, die sich eher der theologischen Tradition verdanken, sind die philosophischen Perspektiven dieser Anthropologie. Denn der Gottebenbildlichkeitslehre korrespondiert auf philosophischer Seite ein platonischer Exemplarismus, der das Urbild-Abbild-Verhältnis des göttlichen und menschlichen Geistes als ein Teilhabeverhältnis66 interpretiert, in dem der menschliche Geist und die ihm eingestifteten „notitiae naturales“ ein Licht göttlicher Weisheit darstellen67. Neben dieser geistphilosophischen Bedeutung der ,Kenntnisse‘ ist es der Seelenbegriff selbst, in dem ciceronisch-stoische Theorien, wie sie Melanchthon rezipiert hatte, ihre eigentliche Bedeutung entfalten. Zwar folgt er in einem vordergründigen Sinn der thomasischen Konzeption68, wie sie von Aristoteles über Avicenna vermittelt war. Danach besitzt die Seele drei Grade, die vegetative, sensitive und rationale Potenz, und fünf Seelenvermögen: potentia vegetativa, potentia sentiund Kirche 4 (31995) S. 874 – 876; Christoph Markschies: Art. Gottebenbildlichkeit, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 3 (42000) S. 1159 – 1163; zu Melanchthon vgl. ausführlich Günter Frank (wie Anm. 18) S. 104 – 111. 66 CR 13, S. 5: „Ein Beispiel Gottes findet sich in jedem kleinen Abbild.“ („Exemplumque Dei quisque est in imagine parva […].“) Vgl. auch die bündige Formulierung in der Doctrina anatomica von 1550: „[…]Der Mensch ist eine kleine Welt, weil (sein) Geist ein Abbild Gottes ist.“ („[…] hominem esse parvum mundum, quia mens imago Dei est […].“) (CR 11, S. 941). 67 CR 13, S. 6: „Darüber hinaus ist die Betrachtung der beständigen ,Kenntnisse’ im Geist (der Menschen) wie der Zahlen und jener, die joima· 5mmoiai genannt werden, ein Licht der (göttlichen) Weisheit, das sichere und unsichere ,Kenntnisse’ unterscheidet, und die Quelle von Beweisen in allen Wissenschaften.“ („Deinde consideratio perpetuarum in mente notitiarum, ut numerorum, et earum, quae vocantur joima· 5mmoiai, lumen est sapientiae discernentis certas et incertas et notitias, et fons demonstrationum in omnibus artibus.“) 68 S.Th., p. I qu. 78, art. 1.

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ens, potentia adpetitiva, potentia loco motiva, potentia rationalis. Entscheidend ist jedoch, daß Melanchthon jenes fünfte Seelenvermögen (potentia rationalis) ausdrücklich mit dem menschlichen Geist identifiziert.69 Dabei besteht das Charakteristische des melanchthonischen Geistbegriffs in der Verbindung mit den ciceronischen Theorien der natürlichen Kenntnisse (notitiae naturales) und des natürlichen Lichtes (lumen naturale). Denn dem menschlichen Geist „ist ein Licht eingestiftet, durch das wir Gottes Existenz erkennen, als auch ,Kenntnisse‘ […], die unmöglich […] aus einer toten Natur hervorgegangen oder aus Zufall so entstanden sind. Also existiert ein weiser, baumeisterlicher Geist.“70 Dabei stellt diese Theorie der natürlichen Kenntnisse, die dem menschlichen Geist in der Schöpfung eingestiftet sind, einen polyvalenten Funktionszusammenhang dar, der nicht nur für die Anthropologie, sondern auch für die damit verbundene Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie von herausragender Bedeutung ist. Zunächst handelt es sich mit dieser Theorie der natürlichen Kenntnisse – wie bereits angedeutet – um geistphilosophische Elemente, in denen der menschliche Geist am göttlichen partizipiert; von Seiten des Menschen aus sind sie die bleibende Präsenz der göttlichen Weisheit71, die als Inhalte des Geistes auch Aussagen über Gottes Existenz und Wesen implizieren72. Daneben stellen die „notitiae naturales“ die apriorische Voraussetzung der menschlichen Erkenntnis dar (erkenntnispsychologisch-noetischer Aspekt). Gegenüber der Kontroverse zwischen Platonikern und Aristotelikern nach dem Ursprung der menschlichen Erkenntnis, auf die sich Melanchthon hier bezieht73, konzipiert er eine apriorische, eher an Platon als an Aristoteles angelehnte Vorstellung, daß die „notitiae naturales“ die letzte Erkenntnisquelle des menschlichen Geistes bilden74. Diese Erkenntnisprinzipien sind dann – wie Melan69 Vgl. hierzu das Kapitel „De potentia rationali seu Mente“ im Liber de anima (CR 13, S. 137 – 142). 70 CR 13, S. 138: „Cui et insita est lux, qua esse Deum agnoscimus, et insitae sunt notitiae, […]. Impossibile est notitias […] ortas esse a bruta natura, aut casu sic nasci. Est igitur mens architectatrix sapiens.“ 71 Prägnant in CR 11, S. 639: „Eingeprägt sind dem Menschen sichere, wahre und unveränderliche ‘Kenntnisse’, die aus seinem ewigen Geist genommen sind.“ („Impressit igitur homini notitias certas, veras, immutabiles, sumptas ex sua mente aeterna.“) 72 Ausführlich hierzu Günter Frank (wie Anm. 18) S. 113 – 119. 73 CR 13, S. 143. 74 Ebd. S. 143 f: „Es gibt eine alte Auseinandersetzung zwischen Aristotelikern und Platonikern, ob es einige, dem Geist der Menschen eingeborene ,Kennt-

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chthon in seinen theologischen Summen betont hatte – jenes Licht, das die Philosophie die „Kenntnis von Prinzipien“ (notitia principiorum) nenne oder joima· 5mmoiai, bzw. pqºkgxir.75 Melanchthons Theorie der natürlichen ,Kenntnisse‘ ist dabei – wie deutlich wird – weit mehr als eine terminologische Reminiszenz an ihre ciceronisch-boethianischen Ursprünge. Sie verdeutlicht vielmehr eine folgenreiche Veränderung traditioneller Vorstellungen vom Ursprung und Wesen der Erkenntnis. Die Annahme apriorischer ,Kenntnisse‘ im Geist des Menschen führt dazu, dass dieser Geist selbst der Ursprung der Erkenntnis ist. Von hier aus wird sofort Melanchthons erkenntnispsychologische Grundthese verständlich: „So erheben sich die Ursprünge aller Wissenschaften aus der Erkenntnis der Seele“76, deren höchster Seelenteil, die „potentia rationalis“, Melanchthon mit dem menschlichen Geist identifiziert hatte. Erkenntnis ist danach eine schöpferische Konzeptualisierung aus der Perspektive des menschlichen Geistes aufgrund der ihm eingestifteten „notitiae naturales“. Die Annahme, jede Erkenntnis habe ihren Ursprung in der Geisttätigkeit aufgrund eingestifteter ,Kenntnisse‘, führt insgesamt zu einer subjektiven Wendung des Philosophie, die ein philosophisch hochbedeutsamer Vorgang frühneuzeitlichen Philosophierens darstellt: sie verdeutlicht eine grundsätzlich weltentwerfende Funktion des menschlichen Geistes, die bezeichnenderweise gleichzeitig zur Preisgabe eines erfahrungsbezogenen Erkenntnisrealismus der aristotelischen Tradition führt, deren erkenntnispsychologische Prämisse, „nichts ist im Intellekt, was nicht vorher in der Sinneserfahrung ist“, Melanchthon konsequent preisgibt.77 nisse’ gibt? Einfacher aber und richtiger ist es, jene Lehrmeinung festzuhalten, dass es einige ,Kenntnisse’ im menschlichen Geist gibt, die uns eingeboren sind wie die Zahlen, die Erkenntnis des ,ordo’ und der Proportionen, die Einsicht in die Folgerichtigkeit im Syllogismus. Ebenso geometrische, naturphilosophische und moralische Prinzipien.“ („Vetus contentio est inter Aristotelicos et Platonicos, an sint aliquae in mentibus notitiae nobiscum natae? Sed simplicius et rectius est retinere hanc sententiam, esse aliquas notitias in mente humana, quae nobiscum natae sunt, ut numeros, ordinis et proportionum agnitionem, intellectum consequentiae in syllogismo. Item principia geometrica, physica et moralia.“) 75 CR 21, S. 398 f; S. 711. 76 MSA 3, S. 359 (= CR 13, S. 167): „Ita ab animae agnitione sunt initia artium.“ 77 So ausführlich in seiner Diskussion um apriorische Erkenntnisprinzipien als Voraussetzung jeglicher Erkenntnis in dem Kapitel „Estne verum dictum, notitias aliquas nobiscum nasci?“ (MSA 3, S. 334 [= CR 13, S. 144]): „Lasst uns nicht verwirrt werden durch das allgemeine Wort: Nichts ist im Intellekt, was nicht vorher in der Sinneserfahrung ist. Wenn dies nicht richtig begriffen

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Neben dem geistphilosophischen und erkenntnispsychologischen Aspekt fungiert die Theorie der „notitiae naturales“ – drittens – auch als Grundlage der eigentlichen Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie. Melanchthon unterscheidet zwischen „notitiae incertae“ oder „opiniones“, deren Zustimmung nicht unbedingt geboten ist, und den „notitiae certae“ oder „notitiae principiorum“, die ohne Begründung zu einer allgemeinen Zustimmung aufgrund eines natürlichen Urteils führen, ähnlich den Sätzen formaler Rationalitätsbedingungen wie „zwei mal vier ist acht“, das „Ganze ist größer als jedes ihrer Teile“ oder „Irgendetwas ist oder ist nicht“.78 ,Kenntnisse‘ sind also neben mathematisch-geometrischen Axiomen insgesamt evidente, unveränderliche und unbegründbare Sätze, welche die Basis für die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie bilden. Als solche finden sich die Prinzipien bei Melanchthon regelmäßig unter den drei Gewißheitskriterien der Philosophie neben der allgemeinen Erfahrung und der Einsicht in den Ordo beim Beurteilen der Folgerichtigkeit.79 Diese Gewißheitskriterien gelten nach Melanchthon übrigens für alle wissenschaftlichen Disziplinen, für die Anthropologie80, Naturphilosophie81, Moraphilosophie82 und sogar für die Theologie83, die jedoch – wie er hinzufügt – in der göttlichen Offenbarung und in den Schriftzeugnissen noch ein weiteres

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wird, ist dies nämlich geradezu absurd. Denn die universalen ,Kenntnisse’ und die Unterscheidungsfähigkeit ist nicht vorher in der Sinneserfahrung.“ („Nec turbemur vulgari dicto: Nihil est in intellectu, quin prius fuerit in sensu. Id enim nisi dextre intelligeretur, valde absurdum esset. Nam universales notitiae et diiudicatio non prius fuerunt in sensu.“) Diese erkenntnistheoretischen Zusammenhänge diskutiert Melanchthon ausführlich – und das war auch der entsprechende systematische Ort – in seiner Dialektik (Erotemata dialectices, 1547, hier: CR 13, S. 647 – 649). Zur Evidenz der Erkenntnisprinzipien vgl. auch ebd. S. 536: „Alia enim notitia certa est, alia incerta. Ac notitia incerta dicitur Opinio, cum videlicet agnitam propositionem non amplectimur firma assensione […]. Notitia principiorum est, agnoscere principia luce mentis nobiscum nata, et firmo assensu ea amplecti, naturali iudicio, sine confirmatione, ut bis 4 esse 8 sine confirmatione certo constituimus. Ita has primas propositiones firmas et immotas esse naturali iudicio statuimus: Totum est maius qualibet sua parte. Quodlibet est aut non est.“ Ebd. S. 647: „In philosophia et omnibus artibus, de quibus lux humani ingenii per sese iudicat, tres sunt normae certitudinis: Experientia universalis, Principia, id est, notitiae nobiscum nascentes, et ordinis Intellectus in iudicanda consequentia.“ CR 13, S. 149 – 153. Initia doctrinae physicae, 1549 (CR 13, S. 185 – 190). Philosophiae moralis epitomes libri duo, 1546 (MSA 3, S. 158 f). CR 21, S. 603 – 606; vgl. auch CR 13, S. 650.

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Gewißheitskriterium besitzt, dem der Mensch im Glauben zustimmen müsse, selbst wenn es vom Urteil der Vernunft abweichen sollte. Die Evidenz dieser Prinzipien wird schließlich – und dies ist der vierte, gnoseologische Aspekt der Polyvalenz der Theorie von „notitiae naturales“ in Melanchthons Philosophie – in der Verbindung mit der stoisch-ciceronischen Theorie vom „lumen naturale“84 als eines natürlichen Erkenntnismediums im Geist des Menschen deutlich, durch das allererst die Erkenntnis in den Wissenschaften wie auch eine Gotteserkenntnis möglich ist.85 Stoische Theorien in ihrer schon bei Cicero und Boethius teilweise platonisch überlagerten Form führen bei Melanchthon unverkennbar zu einem neuen, frühneuzeitlichen Begriff von Rationalität. Philosophie und – so muß man ergänzen – Theologie sind nicht mehr an einer Wesenserkenntnis interessiert, sondern orientieren sich an Gesetzen und Prinzipien im Geist des Menschen als Ausgangspunkt der Erkenntnis. Der menschliche Geist bildet die zu erkennende Wirklichkeit nicht in einer wie auch immer zu bestimmenden Weise ab, sondern er ist selbst konzeptualistisch. Sofern dieser Typ von Rationalität, wie ihn Melanchthon in den vielfältigen, systematisch bedeutsamen stoischen Aspek84 Cicero, Tusc. III, 2,1, vgl. hierzu auch die Hinweise von Werner Beierwaltes: Art. Lumen naturale, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie 5 (1980) S. 547 – 549; hier: S. 547. 85 CR 13, S. 647: „Die Prinzipien werden mit uns eingeborene ,Kenntnisse’ genannt, welche die Ursprünge der einzelnen Wissenschaften sind, die uns durch göttliche Fügung eingestiftet sind und von denen aus die Wissenschaften aufgebaut werden, deren Nutzen im Leben notwendig ist […], wie das Licht in den Augen geschaffen ist, um die Körper wahrzunehmen, so sind das Licht im Geist gewissermaßen diese ,Kenntnisse’, durch die wir die Zahlen, den ,ordo’, Proportionen, Figuren erkennen und durch die wir diese ersten Vorstellungen bilden und beurteilen: das Ganze ist größer als jedes seiner Teile, eine Ursache ist nicht später als ihre Wirkung, Gott ist ein ewiger Geist, weise, wahrhaftig, gerecht, rein, wohltätig, der Schöpfer der Welt, der den ,ordo’ der Dinge erhält und das Frevelhafte bestraft.“ („Principia vocantur notitiae nobiscum nascentes, quae sunt semina singularum artium, divinitus insita nobis, ut inde artes extruantur, quarum usus in vita necessarius est […], ut lumen in oculis conditum est ad cernenda corpora, sic in mente quasi lumen sunt hae notitiae, quibus intelligimus numeros, ordinem, proportiones, figuras, et conteximus ac iudicamus has primas propositiones: Totum est maius qualibet sua parte: Causa non est posterior effectu suo: Deus est mens aeterna, sapiens, verax, iusta, casta, benefica, conditrix mundi, servans rerum ordinem, et puniens scelera.“ Ausführlich zu Melanchthons Theorie vom „lumen naturale“ Günter Frank (wie Anm. 18) S. 132 – 140.

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ten der Seelenlehre entwickelt hatte, eine wesenhafte Beziehung von menschlichem und göttlichem Geist voraussetzt, kann man die Begründung einer solchen Philosophie eine theo-rationalistische nennen. Philosophie begründet danach „ihre eigene Erkenntnis durch die Hypothese der Wesensverwandtschaft zwischen göttlichem und menschlichem Intellekt“86. Man kann eine solche Philosophie auch eine Subjektphilosophie (nicht Subjektivitätsphilosophie!) nennen, wie sie in der konzeptualistischen Funktion des menschlichen Geistes deutlich wird. Gleichwohl bleibt diese Philosophie insofern unkritisch – und deshalb auch eine frhneuzeitliche Philosophie –, als ihre apriorischen Erkenntnisvoraussetzungen, die Prinzipien im menschlichen Geist, naturalistisch begriffen sind: Erkenntnisprinzipien aller Disziplinen (notitiae naturales) gehören zur naturhaften, apriorischen Ausstattung des menschlichen Geistes. Dennoch weisen nicht wenige Aspekte dieses aus Cicero und Boethius gewonnenen Rationalitätsbegriffs in die Philosophie der Aufklärung. Für Descartes erscheint alles, was von der Tradition als Wahrheit behauptet wird, im „natürlichen Licht“ der Vernunft, und zwar nur in ihm, in ihm aber mit vollkommener Gewißheit.87 In der Intuition dieses „lumen naturale“ werden dann nach Descartes auch alle „notiones communes“ oder Axiome zur Gewißheit wie das „cogito ergo sum“, der Satz von der Identät oder auch mathematische Axiome.88 Johan Heinrich Zedler schließlich hat die erkenntnistheoretische und gnoseologische Funktion des „lumen naturale“ für die Philosophie der frühen Aufklärung bündig zusammengefaßt.89 Diese wenigen, ab86 Friedrich Kaulbach: Einfhrung in die Metaphysik. Darmstadt 1972, S. 122, der diesen Typ von Philosophie allerdings erst in Leibniz gegeben sieht. 87 René Descartes: Regulae ad directionem ingenii, in: ders., Philosophische Schriften (mit einer Einleitung von Rainer Specht). Hamburg 1996, Regula XIV, S. 440, 42 – 46: „Et quidem tota fere rationis humanae industria in hac operatione praeparanda consistit; quando enim aperta est et simplex, nullo artis adjumento, sed solius naturae lumine est opus ad veritatem, quae per illam habetur, intuendam.“ 88 R. Descartes, Principia Philosophiae, 1, 49 f. 89 Johan Heinrich Zedler: Grosses vollstndiges Universallexikon aller Wissenschaften und Knste, Bd. 47, Leipzig / Halle 1746, S. 1428: „Vernunft (Licht der), lat. Lumen rationis, ist eine verblümte Redens-Art, und kommt der Verstand derselben vornehmlich auf den Begriffe von der Vernunft an. Mann nennt mit solchem Nahmen entweder den Verstand selbst, oder die Principien der Vernunft, das ist, die Grund-Regeln und Haupt-Sätze, an deren Wahrheit Niemand zweifeln darf […], sofern die Vernunft entweder in den Menschen ist,

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schließenden Beobachtungen verweisen bereits auf die Wirkungsgeschichte der melanchthonischen Rezeption einer durch Cicero und Boethius vermittelten erkenntnistheoretischen Stoa-Tradition, die hier nicht mehr weiter verfolgt werden kann.90

oder ausser ihm auf gewisse Vernunftmäßige Wahrheit gehet. Die Grundsätze nun (welche entweder sind Principia formalia, die zur Form vernünftiger Schlüsse gehören; oder Principia materialia, so deren Materien angehen) kann man das Licht der Vernunft nennen, weil sie machen, daß der Verstand die Wahrheiten besonderer Dinge sehen und erkennen kann: Es ist leicht zu begreifen, wie auf diese Art das Licht der Natur und das Licht der Vernunft unterschieden sind. Jenes gründet sich auf die Natur, und der durch die natürlichen Dinge geschehenen Offenbarung; dieses aber auf die Vernunft, oder auf gewisse Grundsätze, welche sich die Vernunft formiret […].“ 90 Einige Hinweise auf diese Wirkungsgeschichte finden sich in der Studie des Vf. (wie Anm. 63).

Justus Lipsius und der politische Neustoizismus in Europa1 von Gerhard Oestreich […]

I Der politische Späthumanismus, wie er in den Niederlanden begründet und weitergegeben worden ist, wandte sich den praktischen Aufgaben zu, dem politischen Unterricht für die Regierenden, dem Aufbau des Militärs und der Administration. Hugo Grotius’ Lebenswerk, das in diesem Zusammenhang zu nennen ist, besteht nicht nur in der Theorie der Hegung des Krieges und in der Humanisierung der in einem chaotischen Naturzustand befindlichen zwischenstaatlichen Beziehungen, er durchdachte vielmehr alle innerstaatlichen Aufgaben der Zeit und die Möglichkeiten, diese am gerechtesten zu bewältigen. Das grotianische Natur-, Völker- und Staatsrecht stellt bereits eine zweite Stufe in der Entwicklung des niederländischen Späthumanismus dar. Ihr voraus gingen Justus Lipsius und die Denker, die in der Krise des konfessionellen Zeitalters die Theorie einer starken, militärisch gestützten und autoritären Staatsmacht durchdachten und in ihren Handbüchern vertraten. Damit eng verbunden war die Vorstellung 1

Diese für die geschichtliche Erkenntnis des Neustoizismus bahnbrechende Abhandlung wurde nach verschiedenen separat erschienenen Vorarbeiten, die bis in die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts zurückreichen, vom Verfasser und von späteren Herausgebern wiederholt zum Druck befördert. Der Originaltitel lautet: Politischer Neustoizismus und Niederlndische Bewegung in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen. Zuerst erschienen in: Bijdragen en Mededelingen van het Historisch Genootschap, Bd. 79, 1965, S. 11 – 76. Vgl. das entsprechende Kapitel in den Sammelbänden: Gerhard Oestreich: Geist und Gestalt des frhmodernen Staates, Berlin 1969, S. 101 – 156; Ders.: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547 – 1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung, hg. von Nicolette Mout, Göttingen1989. Da Lipsius, sein Werk und seine Wirkung im Zentrum stehen, erscheint der Titel hier zur genaueren Orientierung in entsprechend veränderter Form.

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einer gemäßigten, durch religiöse, moralische und rechtliche Prinzipien gebundenen Staatsführung. Beide Stufen des späthumanistischen Staats- und Rechtsdenkens lassen sich nicht scharf voneinander trennen. Sie hängen in Fragestellung und Antwort zusammen, ganz abgesehen von der unmittelbaren Berührung des jungen Grotius mit dem alten Lipsius. Die gleiche Anschauung über viele Probleme ruht auch auf der bisher unerkannten gemeinsamen Kenntnis der spanischen Rechts- und Staatslehren, die der eine, Lipsius, bereits beobachtete und verarbeitete, der andere, Grotius, in den Mittelpunkt stellte und in neuem Ansatz weiterführte. Daß Lipsius über die Werke der spanischen Spätscholastiker seiner Zeit korrespondierte, hat noch kein Forscher gesehen und dargestellt. Welches sind nun die Beweggründe für die politische Ausrichtung des Späthumanismus auf niederländischem Boden gewesen? Sie liegen wohl 1. in dem eigenartigen Werdegang des in sich theologisch nicht gefestigten, aber nach außen zu verteidigenden nordniederländischen Gemeinwesens; 2. in den geistigen Auswirkungen des militärisch-politischen Kampfes gegen den konfessionell-administrativen Absolutismus Philipps II.; 3. in den allgemeinen Bedingungen der Staatenwelt, verursacht durch die Religionskriege und die Gegenreformation; und schließlich 4. in dem Lebensgang der beiden niederländischen Gelehrten Lipsius und Grotius selbst. […] Vergegenwärtigen wir uns kurz die allgemeine Problematik im Zeitalter der Konfessionskriege. Diese waren ebensosehr großmächtliche Kämpfe wie interne Bürgerkriege, meist beides zugleich, äußere und innere Auseinandersetzungen um die neue Staatlichkeit. Der teilweise revolutionäre politisch-religiöse Gestaltwandel der ersten Hälfte des Jahrhunderts verschärfte sich in vielen Staaten Europas seit den 60er Jahren zum Krisenhaften. Die Bezeichnung „Krise“ ist für alle möglichen Übergangszustände modern geworden und heute zur Klärung sehr komplizierter Erscheinungen schnell zur Hand. Mit dem bloßen Begriff ist jedoch nichts gewonnen, denn in der Geschichte sind alle Zeiten der Eruptionen und des Werdens von Neuem, das das Alte bedroht und, weil das Alte nicht weichen will, mit Gewalt an seine Stelle zu treten sucht, Krisenzeiten. Die Krise ist geradezu der nicht gewünschte, aber einmal gegebene Normalzustand vehementer Entwicklungen. Darum besagt der viel benutzte Begriff wenig. Ich verstehe hier darunter den fieberhaften Verlust und Untergang von öffentlicher Ordnung, politischer und privater Zucht sowie persönlicher Sicherheit als Folge des Schwundes oder der Überhitzung kirchlicher Autoritäten und des

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Versagens oder der Auflösung älterer politischer Gewalten. Umfang und Ausmaß der Krise wechseln im Laufe eines erbitterten ideologischen und militärischen Kampfes der kirchlichen Parteien und im Fortgang einer ebenso heftigen, teils blutigen Auseinandersetzung zwischen der lokalen und regionalen Ständemacht und der fürstlichen Zentralgewalt. Ich bin mir bewußt, nur eine Seite des komplexen Geschehens herauszuheben, in das auch ökonomisch-soziale Momente hineinspielen, aber ich hoffe, das Zentrum der Krise zu benennen und in parte pro toto einen Spiegel zu erhalten, in dem alle Fragenkreise aufgefangen werden können. In der religiösen Spaltung der Welt fehlte auf staatlichem und moralischem, auf militärischem und sozialem Gebiet ein allgemein verbindliches Prinzip; vielmehr rangen zwei Glaubensrichtungen miteinander um die neuen Ordnungen. Die mittelalterliche, in der Historie oft überschätzte geistige Einheit war gewiß schon früher zerstört worden, aber erst infolge der protestantischen Revolution wie der katholischen Reformation standen sich überall aufs äußerste bekämpfende Parteien gegenüber. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts traten die beiden gewaltigen militanten Bewegungen, der erneuerte Katholizismus unter Führung des Jesuitentums und der Calvinismus als Vertreter der bedrängten protestantischen Minderheiten, hervor. In den europäischen Ländern vollzog sich, verstärkt durch die Kriege und Verschiebungen im europäischen Staatensystem, mehr oder weniger deutlich die Wandlung zum postfeudalen, zum frühmodernen Staat, vielfach im Zeichen eines gemäßigten Frühabsolutismus. Die Stände – insbesondere der Adel – versuchten, eine innere Neuordnung durch das erstarkende Fürstentum aus berechtigter Furcht vor dem Verlust ihrer Privilegien zu verhindern. Die nur für einen festen Zweck und auf kurze Zeit ad hoc angeworbenen Soldtruppen, ohne jede politischethische Bindung ihrer Befehlshaber, einer internationalen militärischökonomischen Unternehmerschicht, bewiesen eine erschreckende, oft beschriebene Disziplinlosigkeit. Die Landes- und Polizeiordnungen der europäischen Staaten und die entsprechenden Kirchenordnungen mühten sich um die Aufrichtung weltlicher oder geistlicher Zucht und Autorität. Die schlimmsten aller Kämpfe, die ideologischen Bürgerkriege, die sich zudem über Jahrzehnte erstreckten, steigerten die Disziplinlosigkeit und Unsicherheit aufs höchste. Frankreich war zunächst besonders betroffen. Von 1562 bis 1598 wurde das Land durch die aus der konfessionellen Spaltung entstandenen und zum Kampf zwischen Krone und Adel gesteigerten Bürger-

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kriege zerrissen und ruiniert. Die niederländischen Territorien durchfegte 1566 der calvinistische Bildersturm; anschließend brachte das Regiment Albas die Todesurteile gegen die Vertreter der neuen Religion und zugleich die Härte des modernen Staates in Form scharfer Steuererhebungen. Seitdem währte die Auseinandersetzung in den niederländischen Provinzen, militärisch verkörpert im Kampf Wilhelms von Oranien und seiner Söhne Moritz und Friedrich Heinrich gegen Philipp II. und dessen Nachfolger. Aber auch in Deutschland, das noch nicht von der Furie seines 30jährigen Krieges getroffen war, herrschte trotz des reichsrechtlichen Kompromisses im Augsburger Religionsfrieden nach 1555 der kalte Krieg zwischen den drei Konfessionen und unter den konfessionalisierten Territorien, der ständig seine Opfer forderte. In den Räumen seiner unmittelbaren Lebenserfahrung, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland, sah sich Lipsius in diese Ereignisse verstrickt. Er floh vor den Unruhen seiner Heimat, um bald in Wien am Kaiserhof und als Universitätsprofessor im lutherischen Jena neuen zu begegnen.2 Im Zeitalter der Gegenreformation löste sich durch die intensive Durchdringung von Politik und Religion, von Staat und Kirche, die ja noch das gesamte äußere und innere Kultur- und Bildungssystem bis zur Feiertagsgestaltung bestimmte, vielfach die staatliche Ordnung auf. Eine Epoche, deren Grundproblematik wir heute im Zeitalter der ideologischen Konflikte eher erkennen können als die Generationen vor uns. Die tiefen religiösen Erregungen, die verschiedenartigen Frömmigkeits- und Freiheitsbegriffe erfaßten die Gruppen wie den einzelnen, trennten zusammengehörige Länder und zerschnitten Völker und Familien. Denn die Theologie herrschte oft unbestritten im öffentlichen Leben, und ihre Meinungsverschiedenheiten griffen tief in die Existenz der Menschen ein. Die Führer der Religionsparteien rangen um politischen Einfluß und um die Kontrolle der Macht im eigenen Lande. Sie fühlten sich darüber hinaus berechtigt und verpflichtet, ihre Partei in den anderen Staaten moralisch, politisch und militärisch zu unterstützen. Die Frage des Überlebens in den immer schärfer werdenden Verfolgungen wurde für die dogmatisch nicht gebundene, zwischen den konfessionellen Gruppen und ihrem Fanatismus existierende Schicht zu einer Lebensfrage. So entstand zuerst in Frankreich aus der humanisti2

Im Anfangskapitel der Constantia (1584) hat Lipsius diese ausweglose Fluchtsituation mit bewegten Worten geschildert.

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schen Jurisprudenz die Partei der Politiker unter dem Kanzler L’Hôpital, der nicht von dem konfessionellen Kampfgedanken, sondern von den staatlichen Bedürfnissen ausging und bewußt die Politik über die Religion stellte.3 Lipsius begrüßte den Druck von L’Hôpitals Werken.4 Nun erhob sich inmitten des Kampfes der ständisch-freiheitlichen Partei im protestantisch-calvinistisch geprägten Norden der Niederlande mit der ersten Militärmacht Europas, dem katholisch-zentralistischen Spanien, ein wirksamer geistiger Faktor: der politische Neustoizismus, Erbe und Fortsetzer des europäischen Humanismus. Denn als alle Bemühungen Wilhelms von Oranien um die Durchsetzung der Toleranz in seinem Bereich scheiterten und die von seinem Begleiter, dem Hugenotten Duplessis-Mornay, übersetzten Schriften Castellios für Glaubensfreiheit und gegen Ketzerverfolgung erfolglos blieben, wurde aus der stoischen Tradition des 16. Jahrhunderts die neue Philosophie und Staatslehre geboren, die Versöhnung und Kampf miteinander vereinigte. Ethik, Psychologie und Anthropologie der antiken Stoa standen im Vordergrund des Humanismus und seines Eklektizismus. Die entscheidende Bedeutung jenes Stoizismus für die allgemeine philosophische Bewegung der frühen Neuzeit hat Wilhelm Dilthey als erster erkannt. Die weitere Einzelforschung in der europäischen Literatur- und Geistesgeschichte hat seine Darstellung vollauf bestätigt. Jüngst auch ist die große Kraft des stoischen Gedankengutes bei den spanischen Naturrechtsdenkern seit Franz von Vitoria aufgezeigt worden.5 Es ergibt 3

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Über sie zuletzt mit der älteren Literatur: R. Schnur: Die franzçsischen Juristen im konfessionellen Brgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, 1962. Der im Gefolge von Lipsius entstehende Neostoizismus Frankreichs dort S. 50 ff. Der Herausgeber der Schriften des Kanzlers, ein Neffe L’Hôpitals, weilte im Haag und stand in Verbindung mit Lipsius. Vgl. den Brief von Lipsius an Mich. Huraltus Hospitalis: Scripta illius [des Kanzlers] per te edita dudum vidi; & habeo (certum me scito dicere) ut Homeri libros rex ille Magnus. Litteratius aliquid edi fortasse potuit & potuerit; nego quidquam litteratius & prudentius simul. Die Ausgabe von L’Hôpital: Epistolarum seu sermonum libri sex, Paris 1585. Justus Lipsius: Epistolarum centuriae Duae, Francofurti 1591, II, ep. LXVIII s. d. In der Ausgabe Epistolarum Selectarum Chilias, 1613, II, ep. LXIV. Der Brief von Lipsius an L’Hôpital jun. muß also nach 1585 und vor 1591 geschrieben sein, d. h. wohl während der Arbeit an den Politica. Übrigens zeigt ein Vergleich der Reden L’Hôpitals und des Religionskapitels Pol. IV, 1 – 3 die Nähe beider. Zur älteren Literatur (Dilthey, Zanta, Newald usw.) kommen die Arbeiten über den Stoizismus im spanischen Rechtsdenken von E. Reibstein, aufgeführt in

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sich das einzigartige Bild, daß fast jede der großen Persönlichkeiten seit der Hochrenaissance mit der stoischen Philosophie direkt oder indirekt in Berührung gekommen ist. Nach dem Einsetzen der mannigfachen Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare gerade der römischen Stoiker Epiktet, Marc Aurel und Seneca wurden ihre Lebenswerte durch die Essais Montaignes und besonders durch das Lebenswerk von Justus Lipsius, Guillaume du Vair und Pierre Charron zum Allgemeinbesitz der Gebildeten um 1600. Seitdem fließt der Strom römischstoischen Gedankengutes in christlicher Anpassung oder versteckter Feindschaft zu den Konfessionen, zumeist bewußt überkonfessionell. Erst vor kurzem hat der Soziologe Alexander Rüstow auf diesen weltanschaulichen Untergrund der europäischen Barockphilosophie und Barockliteratur mit Recht hingewiesen: „Der geistige Einfluß der Stoa im 17. und 18. Jahrhundert war ungeheuer und innerhalb der gesamten Nachantike, von Aristoteles abgesehen, weit größer als der aller anderen antiken Philosophien zusammen. Daß wir uns dessen im allgemeinen noch nicht bewußt sind, liegt nur daran, daß es noch keine auch nur von fern ausreichende Darstellung dieses Einflusses gibt und daß stoische Lehren meist anonym auftraten und infolgedessen heute oft übersehen werden“.6 Die Ethik der römischen Stoa wurde in Frankreich und England, in Schweden und Deutschland zur Morallehre. Auch Descartes, der seine neue Philosophie in den Niederlanden aller bisherigen Philosophie entgegenstellte, errichtete seine Ethik auf den Handbüchern des stoischen Systems von Justus Lipsius. Der stoisierende Moralismus der Geschichtsschreibung aber war noch weit bis in das Zeitalter der Aufklärung vorherrschend.

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seinem Werk: Vçlkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, I, 1958, vgl. auch Register unter Stoiker (II, 1963, S. 771 f.). Ferner J. Soder: Die Idee der Vçlkergemeinschaft. Francisco de Vitoria und die philosophischen Grundlagen des Vçlkerrechts, 1955. Die Entwicklung des Stoizismus als couronnement de la Renaissance geschildert bei H. Busson: Le rationalisme dans la littrature franÅaise de la renaissance (1533 – 1601), 19572 und La pense religieuse franÅaise de Charron  Pascal, 1933. Doch von Lipsius werden nur die gelehrten historisch-systematischen Werke: Stoica philosophia und Stoicorum physiologia (beide 1604) genannt (Pense, S. 383). Du Vairs Constance (1594) wurde bis 1641 15mal aufgelegt, seine von B. nicht genannte Quelle, Lipsius’ Constantia, hat bis zum gleichen Jahr im lateinischen Original 36 Auflagen (davon 6 in Paris und Lyon) und bestimmt 11 französische Übersetzungsauflagen erlebt. Die unmittelbare Wirkung auf die Dichtung Corneilles, die 1. und 2. Schlesische Dichterschule in Deutschland, in England usw. ist bisher noch nicht dargestellt worden. A. Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik, II, 1951, S. 377 f.

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An der wissenschaftlichen Begründung und Befestigung dieser weltanschaulichen Bewegung hat Justus Lipsius mit seinen Schülern einen hervorragenden Anteil. Mit Recht sieht die Forschung jetzt in ihm den eigentlichen Systematiker des Neustoizismus, einer Lehre, die bestrebt war, dem echten religiösen Bedürfnis des Zeitalters durch ein religiöses, wenn auch undogmatisches Fundament und schließlich durch eine gewisse Anpassung an die christliche Frömmigkeit entgegenzukommen, so daß die Führer des französischen Neustoizismus Geistliche sein konnten: Charron war Priester, du Vair Bischof. Der strenge niederländische Calvinist Philipp Marnix begrüßte sofort das Erscheinen der Constantia des Lipsius überschwänglich.7 Constantia, Standhaftigkeit oder Beständigkeit, constance usw. wurde in allen europäischen Sprachen zu einem Kernbegriff des moralisch-weltanschaulichen Empfindens jener Zeit. Dies war die Wirkung des 1584 veröffentlichten, in glänzendem Latein mit rhetorischem Schwung geschriebenen Buches De constantia in malis publicis. Mit seinen über 50 Auflagen im Lateinischen und den schnellen Übersetzungen in alle modernen Sprachen – die französische erschien sogar gleichzeitig mit dem Original – hat der 7

Man lese den Brief des innerlich betroffenen Marnix, damals Bürgermeister in Antwerpen, vom Dezember 1583: „Divinum tuum mi Lipsi De Constantia librum et legi et perquam avide hausi. Moriar, si quicquam unquam legerim venustius, quicquam praeclarius, quicquam quo fuerim affectus magis“. Die Geheimnisse der Theologie [!] öffne das Buch lauter und rein, das Innerste der wahren Philosophie schließe es kenntnisreich auf. „… Ego tibi hunc tuum librum immortalem fore spondeo“. Lipsius widmete sein Buch den Bürgermeistern und der Stadt Antwerpen. Der buitenburgemeester Marnix war einer der geistigen Führer des niederländischen Aufstandes und engster Freund Wilhelms von Orianien. Der politische Briefwechsel, den Delprat 1858 veröffentlichte, bestätigt das enge Verhältnis von Lipsius zu den Staatsmännern der Nordniederlande. Ihre Söhne waren seiner Erziehung anvertraut. In jenen Tagen des Erscheinens der Constantia saß auch Moritz von Oranien im Leidener Hörsaal. Der Brief von Marnix an J. Lipsius: Epistolarum quae in Centuriis non extant decades XIIX, Hardervici 1621, S. 137 f. Diese interessante Sammlung wird zu wenig beachtet. Auch der lutherische Theologe und Philippist David Chyträus in Rostock rühmt das Werk und schreibt: „… aere perennius, habeo, aureum De Constantia librum … autographo arnatum. Quae signa inter praecipua et charissima meae Bibliothecae weil¶kia servo et amicis ostento“. D. Chyträus an J. Lipsius, Rostock 31. Oktober 1590. Unveröff. Brief. Leiden U.B. Ms. Lips. 4, fol. 368. – Im Kolleg hatte Chyträus die Constantia sogleich mit den Worten angezeigt: „Kaufet es, ihr Studenten und leset’s, denn in tausend Jahren ist dergleichen Buch in philosophicis nicht geschrieben oder gesehen worden“.

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Niederländer das Ideal des stoischen Weisen erneuert und gewandelt. Geduld und Selbstbeherrschung (patientia et temperantia), Ertragen aller Schicksalsschläge in den Nöten der Zeit, Zügelung der Leidenschaften wurden zum Vorbild, der innere Widerstand war das Gebot der Stunde. Jeder entnahm der stoischen Ethik, was er hören wollte und benötigte, aber das Buch wurde doch, wie ich einmal gesagt habe, vornehmlich zur Bibel der Humanisten und aller Kreise, die nicht für die Dogmen der Religionsparteien die Waffen führen wollten. Lipsius lehnte es offen ab, Theologie zu treiben. Sein Anliegen war die Stärkung der Kraft zur Selbstbehauptung, des robur animi. Der Mensch soll in den Schrecken der Bürger- und Religionskriege sich nicht mutlos und verzweifelt zurückziehen, nicht aufgeben, sondern durchstehen und aushalten. Lipsius sah im Schicksal oder in der göttlichen Vorsehung die prima causa. Aber daneben stehen die secundae mediaeque causae, zu denen der freie Wille des Menschen gehört. Gott und Mensch müssen zusammenwirken. In dem Lebensschiff, das Gott steuert, muß jeder tüchtig zum Riemen greifen. Fünf Jahre später entwarf er in seiner Politik den Bau des modernen Staates als aktive Aufgabe. Lipsius trat für die ratio, das vernünftige Denken, die ruhige, klare Überlegung bei allen Handlungen ein und wandte sich gegen den blinden Nebel der Emotionen und Vorurteile des Meinens, gegen die opinio.8 In dieser Philosophie waren manche weltanschauliche Elemente des militanten Calvinismus und des die Willensfreiheit betonenden Jesuitentums enthalten. Sie bildeten die Grundlage einer aktiveren Haltung auch im politischen Geschehen. Denn, was bisher von der philosophisch-gelehrten oder literarisch-ästhetischen Forschung wie von Dilthey und seinen Nachfolgern übersehen wurde: der Neustoizismus war die wesentliche Grundlage für das politische System des Späthumanismus. Sein Verhältnis zur Theologie hat Lipsius mehrfach berührt. Er betrachtete sich als Vertreter der praktischen Philosophie. Stolz bekannte er später: „e Philologia Philosophiam feci“ – gemeint war die Praktische Philosophie im Umfang der damaligen Universitätsdisziplin als Ethik, Ökonomie und Politik. Geschrieben hat er nur eine Ethik, die Constantia, und eine Politik, die Politica seu civilis doctrina (1589). In den 8

Eine interessante Deutung des Neustoizismus als einer Philosophie in der neuen kapitalistischen Welt gab F. Borkenau: Der bergang vom feudalen zum brgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, 1934, S. 180 ff.

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Vorworten zu beiden Werken sprach er es deutlich aus: meine Aufgabe ist nicht, Theologie zu treiben, sondern Philosophie. Für ihn bedeutete sie Lebenslehre und –weisheit, Führungskunde für den privaten wie den öffentlichen Bereich, für das Individuum wie das Gemeinwesen, für die Regierten wie die Regierenden. Wie kam es zu einer solchen weltanschaulichen Grundlegung der Politik, wie kam insbesondere Lipsius dazu als Lehrer an der Stiftung Wilhelms von Oranien und der Staaten von Holland und Seeland, der Leidener Universität, die zugleich eine Hochschule des protestantischcalvinistischen Geistes sein sollte? Die auch in Deutschland immer noch verbreitete Vorstellung von einem spezifisch calvinistischen Bollwerk Leiden ist falsch. Die neuere holländische Forschung hat mehrfach den gemischten Charakter der niederländischen Universitäten, das Auseinandertreten der Lebensbetrachtung des Humanismus und des Calvinismus mit Recht betont.9 Man kann in der Tat von einem Doppelcharakter der Universitäten sprechen. Die Disziplin der Praktischen Philosophie, die Geschichte und die Rhetorik bewegten sich außerhalb der Theologischen Fakultät, die „die treue Wächterin“ über die reinen dogmatischen Prinzipien war. Im Kampf gegen Lambertus Danaeus, der als Professor und Prediger die strenge Genfer Kirchenzucht in Stadt und Hochschule Leiden einführen wollte, wirkten sogar die Bürgermeister, Lipsius und die gemäßigten Theologen 1582 zusammen, um den zu Orthodoxen nach nur einjährigem Wirken zu verdrängen. Als 1589 nach längerer Unterbrechung der Arbeit die Politik, das Hauptwerk des politischen Neustoizismus, erschien, hatte sich Lipsius als bewußte oder unbewußte Vorarbeit über 112 Jahrzehnte mit dem größten römischen Historiker Tacitus beschäftigt. Seine berühmte Tacitus-Ausgabe von 1574 war nicht allein das Werk eines genialen Textkritikers und Philologen, vielmehr war schon hier die Verbindung von Historie und Politik charakteristisch. Der niederländische Humanist aktualisierte in der Einleitung den römischen Geschichtsschreiber und lobte dessen Darstellung als Erfahrungsschatz zur Lösung der Probleme seiner Zeit. Verstärkt zeigte sich diese Tendenz zu einer praktischen Verwertung im Kommentar zum Tacitus (1581). Rom und das Römertum, die Zeit des Prinzipats wurden von Lipsius als Leitbild der 9

Schon G. H. M. Delprat: Lettres indites de Juste Lipse, 1858, S. 10, wies darauf hin und benannte 6 nicht ausgesprochene Calvinisten als Leidener Kollegen von Lipsius. Inzwischen haben zuletzt Brugmans, Geyl, auch Huizinga die Doppelkultur herausgearbeitet.

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Gegenwart immer erneut beschworen. Diese Wiederbelebung des römischen Geistes und der römischen Institutionen hat zu einer Beeinflussung der zivilen und militärischen Einrichtungen des 17. Jahrhunderts geführt, die bisher zu wenig beachtet worden ist. Denn nicht allein „die großen allgemeinen Gedanken, die den aufsteigenden Absolutismus fort und fort befruchtet haben … waren wirklich römischer Herkunft“.10 Die erneuerte Überlieferung der Realien durch den Späthumanismus schuf auch die Voraussetzung, um im vorhandenen Parallelismus der antiken und der neuen Geschichte viele bedeutende reale Anverwandlungen vorzunehmen, die die internationale Forschung zum Nachleben der Antike nicht genug berücksichtigt.11 Mit Nachdruck hat jedoch Otto Brunner auf die Bedeutung der „technischen“ Wissenschaften im Humanismus hingewiesen, nicht nur auf die griechische Medizin und die römische Jurisprudenz. „Diesem Typus ,technischer‘ Wissenschaften, denen noch die antike Kriegswissenschaft und Architekturlehre zuzuzählen sind, gehört nun auch die Agrarlehre an“.12 Die Literatur dieses „technischen“ oder „realen“ Humanismus, wie ich sagen möchte, blieb im heutigen philologischen Vorfeld liegen. Nicht ihr Umfang, nicht einmal die imponierende Höhe der Auflagen spornte zu ihrer Bearbeitung an. Die Nachahmung der Heereseinrichtungen, die bis in die wörtliche Übernahme der antiken Exerziersprache ging, wurde von der Militärgeschichte allerdings bis ins einzelne nachge-

10 K. Breysig: Die Geschichte der Menschheit, Bd. IV, 1955, S. 227. 11 Auch die einschlägigen Arbeiten der umfangreichen Serie: Our Debt to Greece and Rome, ed. by G. D. Hadzsitts and D. M. Robinson, Neuauflage 1963, an 40 Bände, beziehen den realen Humanismus des 16./17. Jahrhunderts nicht in ihre Problemstellung ein. Vgl. den schönen Band von F. A. Abbott: Roman Politics, 1923, der in zahllosen Vergleichen die römischen und die heutigen Grundfragen der Politik gegenüberstellt. Unser Problem wird zwangsläufig etwas berührt bei A. M. Brooks: Architecture, 1924, dagegen eigenartigerweise gar nicht von E. S. McCartney: The Classical Heritage and its Beneficiaries, 1954, schließt mit dem Ende des 16. Jahrhunderts, ohne die Bedeutung des Späthumanismus anzusprechen oder ahnen zu lassen. The defensive self-affirmation of the Neo-Stoics – so die einzige Erwähnung – hat nach Bolgar „ihre modernen Parallelen in den Ideen von Gide, Sorel, France und Sartre“. Das Buch von J. L. Saunders: Justus Lipsius. The Philosophy of Renaissance Stoicism, 1955, behandelt nur den späten christlichen Stoiker L., die Werke von 1604. Vgl. meine Rezension (Deutsche Literaturzeitung, Bd. 80, 1959, Heft 3). 12 O. Brunner: Adeliges Landleben und europischer Geist, 1949, S. 261. Dort auch die antike Literatur zur Landwirtschaft, die im 16. Jahrhundert aktuell wurde.

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wiesen.13 Doch daß die Heeresreform der Oranier mit ihrem Ansatz zum miles perpetuus nur ein Teil im politischen Programm des niederländischen Späthumanismus war, wurde nicht gesehen. Man hat nicht zu Unrecht das 17. Jahrhundert als das neurömische bezeichnet. Für Lipsius und seine älteren und jüngeren Zeitgenossen bot die römische Vergangenheit eine Fülle von Beobachtungen, die nun für die Staatsverwaltung und die Gestaltung des öffentlichen Lebens fruchtbar gemacht werden sollten. In der Dedikation seines TacitusKommentars gab Lipsius der niederländischen Regentenschicht den Rat, die Geschichte und die Erfahrung als Grundlagen einer Wissenschaft von der Politik zu nutzen. Seine eigene Tätigkeit als vielbesuchter Lehrer, als vielgelesener Schriftsteller und als anerkannter Herausgeber der klassischen Autoren war stets auf diese praktische Wirkung gerichtet. Sie hat er in der Tat erreicht. Seine Werke und Editionen erlebten – die dreibändige Bibliographie Lipsienne von Van der Haeghen zeigt es uns – eine einmalig hohe Zahl von Ausgaben bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Die Verbindung von kritisch-praktischer Philologie, Geschichtsforschung und Realwissenschaft zeichnet den Späthumanismus aus. Auf den kritisch edierten Geschichtsschreibern, vornehmlich eben Tacitus, baute Lipsius sein Fachbuch der Politik auf, wie sein eigenes Register bewußt bezeugt. Wenn der Leidener Professor in seiner Politik (1589) neben dem üblichen Vorbild Aristoteles ausdrücklich Machiavelli als seinen großen Lehrmeister nannte und sich zu dem Scharfsinn, dem subtilen und dynamischen Ingenium des Italieners bekannte, so wies er auf die Kenntnis und Verarbeitung der bedeutenden italienischen politischen Wissenschaft durch den niederländischen Späthumanismus hin. Im Zeitalter der Gegenreformation, in dem Katholiken wie Protestanten 13 W. Hahlweg: Die Heeresreform der Oranier und die Antike, 1941. Der für das neue stehende Heer aufkommende Begriff des miles perpetuus geht wohl auch auf Lipsius zurück. Der Marginaltext zur Politica IV, c. 7 bringt die Bezeichnung „ordinarii et perpetui milites“ für den geforderten Berufssoldaten im ständigen, festen ,staatlichen‘ Dienstverhältnis. Der Begriff steht in Parallele zu Bodins (Rep. III, 2) „offices ordinaires et perpetuels“. Sie sind eine feste, landesrechtlich verankerte Institution, nicht nur eine Commission des Fürsten oder des obersten Magistrats. Erst durch diese Beziehung wird die ganze Bedeutung des miles ordinarius et perpetuus von Lipsius als einer dauernden Landes-Institution klar. Die Frontstellung gegen die bisherige Truppenaufstellung durch Militär-Unternehmer steht gleichfalls hinter den Erörterungen des Reformprogramms.

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entrüstet die Lehre Machiavellis verdammten, war dies offene Bekenntnis eine mutige Wendung. Nicht zuletzt hat der Vorwurf, den der humanistische Vorkämpfer uneingeschränkter Toleranz, Dirck Coornhert, gegen Lipsius’ Politik erhob: „Ille machiavellisat“, den in der Öffentlichkeit angegriffenen Lipsius mitbewogen, die Nordniederlande zu verlassen. Dabei hatte er solchen Vorwürfen von vornherein die Spitze abbrechen wollen, indem er sich an der gleichen Stelle moralisch von Machiavelli distanzierte, da der Italiener den Weg zur Tugend verfehlt habe. Für diesen fehlenden ethischen Untergrund stellte Lipsius nun seine eigene neustoische Philosophie der Constantia bereit. Sie enthielt eine umfassende politische Ethik. Kein Wunder, daß in späteren Ausgaben, auch bei Übersetzungen der Werke, die Constantia und die Politik oft von den Verlegern zusammen gebunden wurden. Aber wir spüren über die italienische Literatur hinaus in weiten Teilen, z. B. in den Büchern über das Kriegsrecht, die Lehren des spanischen Naturrechts, etwa die Auffassungen von Franz von Vitoria oder Covarruvias, den Lipsius höher als Vasquez einschätzte. Doch in die Diskussion der rechtsphilosophischen und staatstheoretischen Probleme der Spätscholastik über die Entstehung des Staates und die Trägerschaft der politischen Gewalt wollte Lipsius sich nicht einlassen. Er bot vielmehr ein unmittelbares Erziehungs- und Lehrbuch für den Fürsten und den Staatsmann, den Beamten und den Heeresreformer, ein Handbuch der politischen Ethik und Psychologie, ein Fachbuch der zivilen und militärischen Institutionen im modernen Staate. Er trieb keine Rechtsphilosophie, sondern gab eine unmittelbare Regierungshilfe durch die Schilderung von Staatspraxis und Verwaltungstechnik, durch das Aufzeigen der römischen Grundprinzipien der Herrschaft über Land und Leute und ihrer Verteidigung. Wer allein mit der einseitigen Fragestellung der meisten politischen Theoretiker des 19. Jahrhunderts, wer soll regieren, wer soll die Macht ausüben, an Lipsius herantritt, wird wenig Verständnis für sein Werk aufbringen. Es wird ihm in der Tat kaum Stoff zum Denken und zur Erörterung geben, wie die Fehlurteile auch der bedeutendsten internationalen Geschichtsschreiber der Staats- und Rechtstheorien von Robert von Mohl bis Friedrich Meinecke in Hülle und Fülle offenbaren. Denn es geht hier um ein anderes Problem: wie soll ein in der Krise stehendes Gemeinwesen gelenkt, durch welche Mittel kann ein instrumental und funktionell neu zu ordnender Staat gesichert werden. Es handelt sich nicht um Erörterungen über die Machtverteilung im Innern, um Fragen der Verfassungskämpfe, sondern um praktische

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Staatslehren zum Aufbau einer festen öffentlichen Ordnung inmitten säkularer Umwälzungen. Als Sprachrohr seiner politischen Gedanken bedient sich Lipsius der Zitate aus den lateinischen und griechischen Schriftstellern. Alle Kommentare zu den eigenen Definitionen, alle vorgetragenen Ansichten werden durch das Gewicht antiker Weisheit bekräftigt. Als ihr Kronzeuge steht Tacitus obenan. Die Historie ist so eindeutig der Magister Politicorum. Der Fürst und seine zivilen und militärischen Helfer stehen im Mittelpunkt der unmittelbaren Ansprache. Ihre Aufgabe sei, Macht und Mäßigung, potentia und modestia, die so weit auseinanderstreben, zu vereinigen. Lipsius’ Lehre erstrebt den starken, nach römischem Vorbild geordneten Staat, eine militärische Gewalt und die gemäßigte Benutzung der Macht, wie sie die römisch-stoische Lebenslehre fordert. Im Fürstenspiegel des 2. Buches erscheinen die hohen Forderungen der politischen Ethik des Neustoizismus, die maiores virtutes der iustitia und clementia, der fides und modestia, nachdem im 1. Buch von der pietas und probitas des Fürsten gehandelt wurde. Wie in der Constantia hält sich Lipsius auch in der Politik von der Heiligen Schrift fern. Seine Gotteslehre ist allein auf antike Denker und Dichter gegründet und wird durch ihre Sentenzen umschrieben. Sein Begriff der Religion zeigt die neustoische, auf die Tat gerichtete Haltung, „non in subtilitate religio, sed in factis“. Obwohl Gott alles lenkt und ordnet, die göttliche Vorsehung allmächtig ist, muß der Mensch selbst Hand anlegen, tapfer zupacken und arbeiten. Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt. Das Amt des Regenten wie aller Magistrate ist nicht ein dominium, ein frei nutzbares Eigentum, sondern ein munus, eher eine Last (onus), eine Verpflichtung zum Schutz der Untertanen, denn das Ziel aller Herrschaft ist commodum, securitas, salus subditorum. Das Gemeinwohl wird aus Senecas De clementia verdeutlicht. Der Regent, der das große Vorbild für die Untertanen sein soll, wird an die Gesetze gebunden. Lipsius lehnte also die Bodinsche Auffassung vom absolutistischen Herrscher ab und trat ferner dafür ein, gleiches Recht für alle ohne Ansehen der Person zu sprechen. Seine betonten Reformwünsche auf dem Gebiet des Rechtswesens wurden jedoch nicht näher erläutert im Gegensatz zur Heeresreform, die er im einzelnen vorbildlich abgehandelt hat. Vom Fürsten fordert er ein persönliches Regiment in Verbindung mit einer Regierung aus dem Rate. Ebenso aktuell war in den Religions- und Bürgerkriegen der Grundsatz, Ketzern und Feinden auch unter den Waffen das gegebene Wort zu halten (Fides infido

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servanda etiam hosti). Man sieht, wie bereits über Lipsius aus dem spanischen Naturrechtsdenken ältere stoische Vorstellungen übermittelt wurden, mit denen Hugo Grotius (pacta sunt servanda) das moderne Völkerrecht ausbauen sollte. Lipsius schwebte die Verbindung von prudentia und virtus, von italienischer Staatsräson und neustoischer Ethik vor, die Entschärfung der Staatslehre Machiavellis durch die Ethik Senecas. Von großer Bedeutung, wenn auch sogleich von verschiedenen Seiten bekämpft, war die Lehre über das Verhältnis von Staat und Kirche. Lipsius gestand dem Fürsten keine freie Entscheidung über die kirchlichen und religiösen Fragen zu, aber das Inspektionsrecht. Das Ideal wäre die Einheit der Religion in einem Staat, da sonst Streit und Aufruhr sich leicht entzünden. Daher solle der Herrscher gegen die vorgehen, die eine bestehende Einheit stören. Lipsius lehnte die volle Religionsfreiheit ab, jedoch nicht aus konfessionellen Gründen, sondern, wie er am Rande hinzufügte: status publici causa!, allein aus staatlichen. Aber in der realen Situation Europas unterschied er die öffentlichen Unruhestifter, gegen die er dem Fürsten die medizinische Losung „ure, seca!“ zurief, von den Stillen im Lande – Lipsius sprach von den quieti, den errones simplices, „qui in religione peccant privatim“. Sie wollte er nicht verfolgen noch bestrafen, indem er Curtius zitierte: „Kein König kann den Herzen befehlen wie den Zungen“. Diese Stelle hat dem Verfasser von Vertretern der unbedingten Toleranz wie Dirck Coornhert den heftigen Angriff eingetragen, er habe die Fürsten zur Ketzerverfolgung mit Schwert und Feuer aufgerufen. Die katholische Kirche wiederum erzwang später die Auslassung aller Stellen über die Duldung der Stillen und weitere Änderungen wie: „sie sind nicht sogleich zu bestrafen“ statt des ursprünglichen „sie sind kaum zu bestrafen“. Das waren Zugeständnisse, die der konvertierte Professor machen mußte, damit die Index-Kommission in Rom die „gereinigte“ Politica wieder freigab. Die ursprünglichen Stellen zeigen deutlich, was Lipsius beabsichtigte, was die Angehörigen des europäischen Späthumanismus bewegte. Sie wollten eine begrenzte Toleranz. Man könne nicht, wie es im anfänglichen Text hieß, den Glauben befehlen, weil niemand gezwungen sei, gegen seinen Willen zu glauben. Die Unterscheidung zwischen aufständischen und stillen Andersgläubigen hat Lipsius von französischen Humanisten wie L’Hôpital übernommen, aber stärker publice und privatim gegenübergestellt. Er trennte in diesem Sinne auch die äußeren und die inneren Dinge scharf (res externa und sacra). Damit ebnete er den Weg zur Unterscheidung

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von öffentlichem Bekenntnis und privatem Glauben, von confessio und fides. Lipsius suchte eine beschränkte Religionsfreiheit, die Duldung jener „Stillen“. Er verstand darunter die Humanisten, im weitesten Sinne des Wortes die Unkonfessionellen, die sich nicht dogmatisch binden konnten und wollten. Sie sollten von keiner Seite bedrängt werden. Der Staat mit seinem Aufsichtsrecht über das Geistliche sollte hier dem Drang der Religionsparteien entgegenwirken.14 Von hier aus wird auch das Bemühen um den Aufbau einer starken Staatsgewalt verständlich, die eben in der Lage sein mußte, kirchliche Verfolgungen zu verhindern. Eine volle Religionsfreiheit lehnte Lipsius aus den gleichen politischen Überlegungen heraus ab. Die von dem Spiritualisten Coornhert geforderte licentia religionis konnte angesichts der konkreten religionspolitischen Situation Europas nur zur Auflösung aller Staatsgewalt führen und damit den Zweck des Staates, Ruhe und Ordnung im öffentlichen Leben zu gewährleisten, aufheben. Das Prinzip der beschränkten Toleranz in Verbindung mit einer diese schützenden politischen Gewalt ist auch in der zweiten Phase der Niederländischen Bewegung, im grotianischen Kirchen- und Staatsrecht, erhalten geblieben. Lipsius hat allerdings durch die von Rom erzwungene Veränderung seiner gereinigten Politica nach der Rückkehr zum Katholizismus diesen Zusammenhang durchschnitten. Nur so konnte in den katholischen wie den protestantischen Monarchien die Begründung einer starken Staatsgewalt zu einer rein innen- und außenpolitischen Machtangelegenheit werden, die nicht mehr im Dienste des ursprünglichen humanen Zweckes stand. Wir werden aber gerade bei der Betrachtung der Einwirkung der Niederländischen Bewegung auf Brandenburg-Preußen diesen alten Zusammenhang von Toleranz und fürstlicher Macht wiederfinden, der allen protestantischen Sekten eine Zuflucht im Lande ermöglichte – gegen die widerstrebenden landeskirchlichen und land14 Ich unterscheide mich in der Interpretation der Stelle aus den Politica von J. Leclerc: Histoire de la tolrance au sicle de la Rforme, II, 1955, S. 242 – 246. Zum Zusammenhang siehe auch F. Sassen: Geschiedenis van de Wijsbegeerte in Nederland tot het einde der negentiende eeuw, 1959, S. 99 – 120. Die von Lipsius geprägte Formel ,jus in sacra‘ fand Verwendung im Westfälischen Friedensinstrument (I.P.O., Art. XIII § 8). Über Bedeutung und Verbreitung dieser Formel J. Heckel: Cura religionis, jus in sacra, jus circa sacra, in: Festschrift fr Ulrich Stutz, 1938, S. 281 ff. Zur Religionsauffassung von Lipsius vgl. jetzt G. Güldner: Das Toleranzproblem in den Niederlanden im Ausgang des 16. Jahrhunderts, 1968, S. 119 ff.

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ständischen Gewalten. Zumeist aber spielten außen- und machtpolitische Momente in den von der Niederländischen Bewegung mitbestimmten Staaten in die Entwicklung des europäischen Militärstaats und „Militarismus“ hinein, der in dem politischen Späthumanismus einen Geburtshelfer wider Willen besaß. Denn im 5. Buch der Politica legte Lipsius die Programmschrift für das neue europäische Heerwesen vor, das zuerst auf niederländischem Boden verwirklicht wurde.15 Sein umfassender Begriff der Disciplina militaris, grundlegend für die weitere Entwicklung, entstammte wieder dem römischen Arsenal (Disciplina repetenda a Romanis, qui felicissime ea usi. Pol V, c. 13). Dieser Begriff erläuterte die Notwendigkeit des täglichen Exerzierens, der klaren Heeresgliederung, einer geistig-moralischen Zucht und neuen Auffassung von Verdienst und Strafe. Durch Beachtung dieser vier Forderungen haben die Reformer in den Niederlanden das erste disziplinierte Heer der Neuzeit geschaffen, dessen taktische und strategische Führung gleichfalls allgemein vorbildlich wurde.16 Man darf nicht vergessen, daß der Krieg und die Aufgabe, sich militärisch zu behaupten, am Anfang der Freiheit der Republik der Vereinigten Provinzen stand und somit der Krieg ein erstes Element der Freiheit war. Mit Recht hat jüngst E. H. Kossmann auf den Wandel vom kriegerischen Denken des holländischen Calvinismus am Anfang des 17. Jahrhunderts zum pazifistischen Isolationismus nach 1648 aufmerksam gemacht.17 Kossmann gibt die mannigfachen Gründe für diese 15 Vgl. Hahlwegs obengenannte Schrift (s. S. 112, Anm. 18). 16 Nur ein Beispiel für die Schwierigkeiten bei der Einführung der holländischen Reformen im französischen Heer. Als Miterlebender schildert D’Aubigny in seiner Histoire universelle (Amsterdam 1626, S. 1185 f.) anschaulich die rasende Wut von De la Noue über seine Gegenspieler und sein Eintreten für die Reformen. „En fin, ces Restaurateurs de l’honneur ont vaincu & emporté, pour avoir sagement commencé, & constamment poursuivi; si que nul Prince n’estime plus aucun digne de commãdement qui n’ait fait son apprentissage en Holande; & le Duc d’Espernon, Colomnel de France, apres avoir long temps declamé contre la nouveauté, a souffert que ses veterans se soyent en fin faicts tyrons des moindres du Pays-bas.“ Ich verdanke den Hinweis auf diese Stelle, die auch einen Ausspruch Heinrichs IV. dazu bringt, der Freundlichkeit von Herrn Oberst de Pablo, des Erforschers des hugenottischen Heerwesens. 17 E. H. Kossmann: In Praise of the Dutch Repulic: some seventeenth century attitudes, 1963, S. 7. „Their [the Dutch] very existence was war. They were cradled in war; their state owed its life to war. It was difficult to see how it could survive without war.“ Der Waffenstillstand von 1609 – 1621 brachte die schweren inneren Konflikte zum Austrag, die die Existenz des Staates bedrohten. „War seemed the natural element in which alone the Republic could flourish“.

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„Dichotomie“ der Ideale der niederländischen Gesellschaft an und zeigt die Faktoren auf, die eben am Anfang des Jahrhunderts den Krieg als eine unabwendbar-natürliche Erscheinung begreifen und bejahen ließen. Und in der Tat stand auch der „technische“ oder „reale“ Humanismus im Dienste der militärischen Bewahrung von Selbständigkeit und Freiheit. Die Werke des Lipsius in ihrer Spezialisierung von der allgemeinen Kriegslehre (1598) über die Heeresgestalt (De militia Romana, 1595) zur Kriegstechnik (Poliorceticon, 1596) sind beispielhaft für das weitere Wirken des Späthumanismus. Teilweise wurden die Philologen von den nassau-oranischen Heerführern mit Aufgaben der Militärwissenschaft betraut. Der Nachfolger von Lipsius nach dessen Fortgang von Leiden, J. J. Scaliger, edierte 1606 die Opera Caesaris. Der Lipsius-Schüler Meursius in Leiden ließ 1612 die editio princeps der Tactica Leonis Imperatoris erscheinen und fügte auf Wunsch von Moritz von Oranien dem griechischen Text eine lateinische Übersetzung bei. Sixtus Arcerius in Franeker gab offenbar auf Anregung des Hauptes der Reform, des Grafen Wilhelm Ludwig von Nassau, Aelian und Teile von Polybios 1613 heraus. Salmasius erhielt von Friedrich Heinrich von Oranien direkt den Auftrag zur Abfassung eines Werkes De re militari Romanorum, das geheim gehalten wurde und erst nach dem Tode von Verfasser und Auftraggeber 1657 erscheinen konnte. Wissenschaftliche Forschungsreisen (1641 – 43) brachten neue Handschriften der antiken Taktiker für dieses Werk zum Vorschein. Es handelt sich bei diesen Publikationen um Grundwerke der antiken Militärwissenschaften, die eine Voraussetzung der Wehrschöpfung und neuen Kriegsführung bildeten. Der mit der niederländischen Philologenschule in engster Beziehung stehende Bibliothekar Heinrichs IV. von Frankreich, Isaac Casaubonus, veröffentlichte die editio princeps von Polyaens Stratagemata (1589) und 20 Jahre später die berühmte Polybios-Ausgabe in Absprache mit Lipsius.18 Der Lipsius-Schüler und Professor in Heidelberg Janus Gruterus edierte 1624 Florilegii … Martis et Bellonae … de re militari, eine Sammlung griechischer und römischer Kriegsschriftsteller auf über 2000 Folioseiten. Eine der letzten Taten der niederländischen 18 Ein Nachklang findet sich in folgender Überlieferung: Als in den Jahren 1754 – 1759 der Lehrer des späteren Kaisers Joseph II. auf die List im Kriege zu sprechen kam, verwies er auf das Stratagema des Prinzen Moritz von Oranien zu Breda, „welches ihn der Lipsius aus des Polyaeni stratagematibus gelehrt hatte“. Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vortrge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- und Vçlkerrecht, hg. von H. Conrad, 1964, S. 337.

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Philologie auf dem Gebiet der Militärwissenschaft war die erste und bisher einzige Ausgabe des Strategikon des sogenannten Maurikios durch den in Holland ausgebildeten und in Uppsala lehrenden Politikwissenschaftler Johan Scheffer 1664, auch mit lateinischer Übersetzung. In der zweiten Phase der Niederländischen Bewegung stand in Europa gewiß das Denken des Grotius im Vordergrund, ohne daß das Gedankenwerk des Lipsius ganz vernachlässigt wurde, wie die ständigen Nachdrucke seiner Bücher und der Vorlesungen der Universitätsprofessoren über seine Schriften beweisen. Nun aber wurden die mäßigenden und einschränkenden Sätze im lipsianischen Kriegsrecht aktueller. Grotius goß sie in wirksamere Rechtsformen und suchte der Stimme der Vernunft im Völkerverkehr und Staatsleben stärkeres Gehör zu verschaffen. Und die aufblühende Staatsverwaltungslehre der Kameralisten baute systematisch weiter aus, was in der ersten Phase der Niederländischen Bewegung von Lipsius (Buch IV der Politica) und seinen Nachahmern durch die Schilderung der römischen Administration und Finanzen begonnen worden war. Was die „Philologen“ boten, waren die Erkenntnisse und Erfahrungen der Antike auf dem Gebiet des Politischen. Die Wissenschaft von den Kriegs- und Friedensordnungen wurde in Editionen der Originale, in zahllosen Sentenzensammlungen oder in den wenigen, die Originale nutzenden Darstellungen ausgebreitet. Deren Zitatenkunst, uns fremd, ja abstrus, hat gerade eine ihrer Ursachen in jener Richtung auf die Praxis. Nichts sollte von dem Gold der antiken Weisheit verlorengehen, nichts durch das Umgießen in eine zeitgemäßere Sprache verschüttet werden. Die Stimmen von Tacitus und Seneca, von Aristoteles und Xenophon sollten unverändert sprechen. Auch die Eigenart von Lipsius’ Hauptwerk ist nur aus dieser Überzeugung zu erklären. In seinem Nachlaß finden sich wohl die Anfänge zu seiner Politik, unter ihnen auch Entwürfe von Überschriften, deren eine charakteristischerweise lautet: J. Lipsii Cento Politicus.19 Durch die Literatur des „politisch-technischen“ Humanismus sollte das antike Schrifttum wie in einem riesigen Aktenordner zusammengefaßt werden, um jederzeit griffbereit zu sein. Man sollte auch ein 19 Leiden U.B. Ms. Lips. 21. Die Überschrift Civilium praeceptorum libri III steht über einer Sammlung von Lesefrüchten, deren Systematik (Senatus, nobilis, consiliarii; populus; princeps usw.) ein älteres Stadium gegenüber dem glänzenden Aufbau der Arbeit von 1589 vermuten läßt. Auch fehlt noch der Begriff der disciplina militaris, obwohl bereits die Fragen von Krieg und Frieden im Mittelpunkt der Sammeltätigkeit stehen.

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Tagesproblem studieren können, für das bisher kein unmittelbarer neuzeitlicher „Geschäftsvorgang“ existierte, sich noch keine Lösungsmöglichkeit durch eine zeitgemäße Bearbeitung abzeichnete. Die Philologen waren sozusagen die findigen und kundigen Registratoren und Archivare, die ältere, verschollene „Vorgänge“ ans Licht zogen. Ich denke hier an das großartige Beispiel der aktuellen Bedeutung der griechisch-römischen Schriftsteller für die Militärreform. Aus der zuerst verlachten und verachteten Arbeit am Schreibtisch, aus der Nachahmung der Marsch- und Schlachtordnungen Caesars mit Bleisoldaten ging das neue europäische Heer hervor. Wie sehr der reale Humanismus auch die staatliche Entwicklung mit der Wiederaufnahme der römischen Auffassung von Steuer, Statistik und Polizei (z. B. tributa, census, censura bei Lipsius Polit. IV, 11) förderte, ist noch unerforscht. Nur die Rezeption des römischen Rechts als ein Forschungsproblem wurde immer erneut diskutiert. Doch handelt es sich auf diesen Gebieten nicht nur um eine Verwissenschaftlichung wie im Rechtsdenken, sondern oft um deutliches Nachahmen der Vorbilder, um echte Rezeption. Holland bildete den zentralen Umschlagsplatz der praktischen Altertumswissenschaft. Von hier wurden die Geistesgüter in die Welt verteilt, wofür die in Europa führenden niederländischen Verleger eine materielle Vertriebsorganisation aufbauten. Sie unterhielten in den europäischen Hauptstädten eigene Kontore und Absatzlager. Das Rückgrat der ideellen Vertriebsorganisation aber schufen die Universitäten, damals noch eine internationale Korporation: Durch die peregrinatio academica der Hofmeister, der Prinzen- und Adelserzieher, durch häufige Reisen blieben die persönlichen Kontakte erhalten. Aus jener Schicht rekrutierten sich zumeist die zukünftigen Professoren und Gelehrten. Durch intensiven Briefwechsel, der die heutige Zeitschriftenlektüre und das Übersenden von Sonderdrucken ersetzte, wurde der geistige Zusammenhalt gewahrt. Man möchte von einem europäischen Stand der Späthumanisten sprechen, der über Bekenntnis und Nation eine Einheit bildete. Er umfaßte aber nicht nur die noch so kleine Schicht der unmittelbaren Universitätsprofessoren, sondern darüber hinaus die fürstlichen und städtischen Beamten, die Ärzte, Richter und Lateinlehrer.20 Sie blieben auch nach ihrem Studium mit der Wissen20 Vgl. E. Trunz: Der deutsche Spthumanismus um 1600 als Standeskultur, in: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, Jg. 21 (1931), S. 17 – 53. Dort eindringliche bibliographische Nachweise. Trunz schließt auch die Niederländer ein (S. 28): „Die am meisten genannten und den wahren

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schaft aufs engste verbunden und wurden oft selbst hervorragende Gelehrte. So mußte es auch von großer Bedeutung sein, daß Lipsius als Universitätslehrer seine Wissenschaft von der Politik betrieb. Bereits in zwei bis drei Jahrzehnten seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts sind an den meisten europäischen Hochschulen und den deutschen Akademischen Gymnasien Neugründungen oder Umgestaltungen von Lehrstühlen für Politik zu verzeichnen, fast stets verbunden mit anderen Disziplinen wie Geschichte, Ethik oder Rhetorik.21 Eine Bewegung im Mittelpunkt des ganzen gelehrten Lebens bildenden Männer waren aber die niederländischen Hochschulprofessoren, J. Lipsius, D. Heinsius, J. Scaliger, H. Grotius, G. Vossius, J. Meursius, J. Dousa, F. Junius, sowie der Franzose I. Casaubonus … Sie waren innerhalb der großen ,respublica literaria‘ der engere Kreis der Führer“. Daß Grotius und Dousa nicht Hochschullehrer waren, sei angemerkt. 21 Dieser Zusammenhang ist nicht gesehen von H. Maier: Die Lehre der Politik an den deutschen Universitten vornehmlich vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Politik. Eine Einfhrung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, hg. von D. Oberndörffer, 1962, S. 82 ff. Die Angabe, daß „die ersten selbständigen Politikprofessuren … zu Ende des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden“ zu finden seien, ist falsch (S. 83 nach Paulsen). Die von Maier vertretene, auf Petersen gestützte Auffassung der überragenden Bedeutung der aristotelischen Politik im Deutschland des 17. Jahrhunderts ist irrig. Sie widerspricht der Gründung der neuen Lehrstühle im Zuge der neuen politischen Bedürfnisse, der neuen politischen Wissenschaft von und im Anschluß an Lipsius und den Besetzungen der Lehrstühle selbst. Die Feststellung, daß die Universität Helmstedt mit Caselius und seinen Schülern zur „vornehmsten Pflanzstätte der aristotelischen Politik in Deutschland“ wurde (Maier, S. 83), ist nur dann bedingt anzuerkennen, wenn man den offiziell bestehenden Schul-Aristotelismus durch die moderne politische Gedankenwelt interpretiert und damit in seinen Grundlagen verändert sieht. Nicht jeder konnte damals so deutlich sagen, worum es sich bei dem Kolleg über Aristoteles’ Politik handelte, wie der spätere Inhaber des Lehrstuhls für Politik in Helmstedt, Johann Werlhof. Er schrieb im Lektionskatalog am 2. September 1686: „Doctrinam Aristotelicam de cive cum noviore philosophia absque praesentis seculi usu contuli“. Der sich überall – nicht nur in Helmstedt – abspielende Kampf zwischen den nichtphilippistischen Theologen und den späthumanistischen Vertretern der praktischen Philosophie erklärt sich doch nur auf diese Weise. Das gleiche gilt für die ständigen Auseinandersetzungen zwischen den orthodoxen Theologen und den Universitätslehrern des Naturrechts im 17. und 18. Jahrhundert. Man denke an die Lebensschicksale Samuel Pufendorfs (Vertreibung vom Lehrstuhl in Lund durch die schwedische Orthodoxie), des Christian Thomasius (Vertreibung vom Lehrstuhl in Leipzig durch die sächsische Orthodoxie) und Christian Wolffs (Vertreibung vom Lehrstuhl in Halle durch den preußischen Pietismus). Der logische Aristotelismus aber, die Ablehnung der vielfach revolutionären

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Rahmen der Philosophischen Fakultäten, die ein halbes Jahrhundert später mit der Einrichtung von Professuren für Natur- und Völkerrecht durch die zweite Welle der Niederländischen Bewegung erneuert wurde. Die politisch-weltanschaulichen Bezüge im Werke von Lipsius sind uns lange verschleiert worden durch die berühmte Autobiographie, die er im Jahre 1600, in die katholische Kirche und an die Universität Löwen zurückgekehrt, wohl für Kreise der spanischen Regierung geschrieben hat. Der Brief an seinen Schüler Johannes Woverius ist eine geniale Fälschung des Lebensinhaltes, der politischen Wirkungen und Beziehungen. Er zeigt den Späthumanisten nur im Lichte eines unpolitischen Professors, der allein dem Lesen, Lehren und Schreiben (legere, docere et scribere) nachgegangen sei. Die Irreführung der Nachwelt gelang dem Gelehrten. Seine Rolle in der philosophisch-politischen Bewegung des Neustoizismus, der unmittelbare Erfolg seines Handbuches der praktischen Staatslehre, der Versuch, neuzeitliche Staatseinrichtungen auf den ethischen Prinzipien der römischen Stoa zu gründen, schließlich die Wirkung seiner Werke auf die Heeresreform und Kriegführung der Nassau-Oranier blieben verborgen. Man sah seitdem, was man nach dem Willen des Briefschreibers sehen sollte: einen stillen, rechtgläubigen Gelehrten, fern der hohen Politik und jeder politischen Verstrickung. Die politische Lehrzeit in Rom als lateinischer, d. h. außenpolitischer Sekretär des Kardinals und Ministers Granvella wurde zum humanistischen Studienaufenthalt. Von der politischen Vergangenheit, seiner engen Verbindung mit den Führern der Nordniederlande, mit Oldenbarneveldt und Aerssen, von seinem Logik des Petrus Ramus, bedeutet keineswegs stets einen politischen Aristotelismus. Caselius wechselte zudem Briefe mit Lipsius und anderen Angehörigen der Niederländischen Bewegung. Auch die von Maier im obigen Sinn erwähnte Universität Jena kann nicht allein als Sitz der aristotelischen Politik angesehen werden. Ganz abgesehen von der Lipsius-Schule unter und nach Bose in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts lehrte schon der Professor für Geschichte Elias Reusner (1591 – 1612) das neue politische Gedankengut. Darüber hinaus ging er zu militärwissenschaftlichen Vorlesungen über (Doctrina stratagematica seit 1598/99), einer Grundlage der 1609 veröffentlichten Stratagematographia seu thesaurus bellicus. Die Professoren der Geschichte wie Reusner-Jena, Bernegger-Straßburg müssen neben den Professoren der aristotelischen Politik berücksichtigt werden Auch hierin zeigt sich der historisch-politische Charakter des Späthumanismus, wie es Reusner ausdrückte: „Si ulla res facit civilem prudentiam, certe inprimis facit historia“. Vgl. H. Kappner: Die Geschichtswissenschaft an der Universitt Jena bis zur Aufklrung, 1931, und L. Hiller: Die Geschichtswissenschaft an der Universitt Jena 1674 – 1763, 1937.

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Schüler Moritz von Oranien, der in den Anfängen der militärischen Reform den Lehrer unmittelbar um Rat fragte, von all diesen Dingen sprach der Autor nicht. Die hier relevanten literarischen Leistungen, die Herausgabe des Tacitus, die zu der historisch-politischen Richtung des Tacitismus in Europa führte, die Sechs Bücher der Politik, die Militia Romana und das Poliorceticon wurden nur schlicht mit dem Titel genannt. Diese so verschleierte Wirklichkeit ist aber grundlegend für die Erkenntnis des Späthumanismus als einer politischen Strömung. […] Wenn es für die Blüte der politisch-staatenkundlichen Studien in den Niederlanden noch eines Beweises bedürfte, so liegt er ganz offen zutage in der ca. 20 Bände umfassenden Serie Res publicae des Leidener Universitätsdruckers Elzevier. Es ist doch bezeichnend, daß die erste geschlossene Pocketbook-Serie der Welt, die im Kleinstformat (248) zwischen 1626 und 1634 erschien, der politischen Unterrichtung diente.22 Ihr klarer, schöner Druck erfreut noch heute das Auge, sie sind besser zu lesen als viele gegenwärtige Taschenbücher. Als politische Länderkunden gestaltet, die das Staatsrecht und die Verfassungszustände schildern, mit besten Mitarbeitern wie Cunaeus, Boxhornius, Scriverius, Arnisaeus und Thomas Smith – z. T. gewiß einfache Nachdrucke –, verbreiteten sie ein Grundwissen über alle europäischen Staaten einschließlich Rußlands und der Türkei. Käufer der Elzevier-Taschenbücher waren sicher nicht zuletzt die internationalen Studierenden der politischen Wissenschaft. Dieses Studium der Politik wurde auch in Deutschland von den Studenten gefordert. Charakteristisch dafür ist eine Aufzeichnung David Mevius’ (1609 – 1670), der bei Cunaeus, Heinsius und Boxhorn in Leiden studiert hatte. Bei Antritt einer juristischen Professur in Greifswald wurde er gebeten, Politik zu lehren. Mevius berichtet darüber selbst: „Viele vom Adel zu Greifswald studieret, welche mehr Lust zu 22 Nähere Angabe bei A. Willems: Les Elzevier. Histoire et annales typographiques, 1880. Die Serie behandelt die Niederlande, das deutsche Reich, Frankreich, Spanien, Portugal, England, Schottland-Irland, Schweden, Dänemark-Norwegen, Polen-Litauen, Rußland, Türkei, Venedig, Italien, Ungarn, Böhmen, Schweiz, Savoyen und die antiken Staaten Rom und Israel. Über das Studium des ausländischen Adels berichtet der Brief eines Hofmeisters aus Leiden von 1650: „Unsere Stunden sind so verteilt, daß wir vormittags Politik und Latein treiben, nachmittags Geographie, vorzüglich des Staats, in dem wir uns befinden, die übrige Zeit ist der Mathematik und den ausländischen Sprachen gewidmet“. Hundius an Calixtus, zitiert bei A. Tholuck: Das akademische Leben des siebzehnten Jahrhunderts, I, 1853, S. 310.

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dem Studio politico als juridico bezeuget, deren etliche hernach zu vornehmen Functionen geraten“. Daraufhin habe er „um Martini 1636 seine lectiones politicas angefangen und in frequenti collegio privatim die Politicam Lipsii expliziert, dazu dann aus dem Tacito einige Discursus formiert“.23 Aus dem Bestreben, an der Landeshochschule Pommerns das nachzuholen, was an den holländischen und anderen Universitäten üblich war, erwuchs das Studium politicum, ergänzt durch die historische Lektüre. Zu den Schülern des Mevius, die „hernach zu vornehmen Functionen geraten“, gehörte sicherlich der spätere Minister des Großen Kurfürsten, der Oberpräsident Otto von Schwerin, der seinen gleichnamigen Sohn wiederum die Rechte und Geschichte in Leiden studieren ließ. Die Verbreitung der Werke von Lipsius ist für das 17./18. Jahrhundert einmalig. Das lateinische Original der Politik ist in den ersten 29 Jahren bis zum Beginn des 30jährigen Krieges 26mal aufgelegt worden! Insgesamt bis 1752 zählen wir 54 lateinische Ausgaben, dazu 22 Auflagen von Übersetzungen in niederländischer, französischer, englischer, polnischer, deutscher, spanischer, italienischer und ungarischer Sprache.24 In Frankreich muß das Erscheinen der Politik ein echtes Politikum gewesen sein. Im Zeitalter Heinrichs IV. und des jungen Richelieu zwischen 1590 und 1613 sind allein 20 französisch-sprachige Auflagen festzustellen. Die Höhe dieser Editionen betrug, wie wir dank der bei Lipsius’ Verleger Plantin geführten Statistik wissen, im Durchschnitt 1500 Stück. Das zweite, kleinere politische Werk des Lipsius, die Monita et exempla politica (1605), wurde in den ersten zwei Jahren zusammen mit der französischen Übersetzung in 10 – 11 000 Exemplaren gedruckt. Stellt man diesen Ziffern vergleichsweise die für das Jahr 1600 von Trunz errechnete Zahl aller deutschen Universitätslehrer von nur 200 beamteten Professoren gegenüber, so tritt erst die Verbreitung der

23 Zitate aus der Autobiographie bei R. Stintzing-E. Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, II, 1884, S. 113 f. Mevius hat als Syndikus der Stadt Stralsund auch praktisch die Interessen der Stände gegenüber der schwedischen Herrschaft vertreten. An der Universität Greifswald hat es schon vor 1636 eine Vertretung der politischen Wissenschaft gegeben durch Prätorius, Volkmer, Trygophorus, Christianus usw., zumeist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte. 24 Die Angaben der ungemein verdienstvollen Bibliographie Lipsienne. Œuvres de Juste Lipse, I-III, 1886, bedürfen einer Ergänzung. Bei den Politica fehlen z. B. die spanische und die ungarische Übersetzung und weitere Auflagen in anderen Sprachen.

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Schriften des Lipsius ganz in Erscheinung. Es war eine Lektüre des humanistischen Standes in Europa. Ich kann an dieser Stelle nicht die Schicksale der lipsianischen Politik in den europäischen Ländern verfolgen. Nur einige Hinweise: Sir Walter Raleigh (1552 – 1618), der Günstling Elisabeths, der in den langen Jahren seiner Haft unter Jakob I. schriftstellerisch arbeitete, gehört zu den ersten englischen Politikwissenschaftlern. Seine bedeutendste staatstheoretische Schrift, The Cabinet Council, wahrscheinlich zwischen 1603 und 1607 geschrieben, erst 1658 durch Milton und dann noch dreimal veröffentlicht, referierte die Politica des Lipsius beinahe vollständig mit Ausnahme des ersten Buches.25 Lipsius war in England bekannter als Bodin. Raleigh glaubte jedenfalls nichts Besseres tun zu können, als die Politica des Lipsius zum größten Teil in wörtlicher Nachfolge zu übernehmen. Auch Thomas Hobbes hat sich 1629 in dem Einführungskapitel zu seiner Thukydides-Übersetzung, einem Lehrbuch für den jungen Adel, neben Cicero und Lucian auf das Urteil des Lipsius in den Notae zur Politik gestützt. Mit Recht meint Leo Strauss, daß Hobbes durch die Kenntnis der politischen Lehre von Lipsius mit der systematischen Richtung der politischen Philosophie in Berührung gekommen sei.26 In Schweden war das Hauptwerk des politischen Neustoizismus am Hofe wie an den Universitäten sehr verbreitet. Das vor wenigen Jahren erschienene kompendiöse Buch von Nils Runeby, Monarchia Mixta, hat die politische Literatur bei der Machtverteilungsdebatte zwischen Adel und Königtum von Karl IX. bis Karl X. Gustav bis hin zu den Dis25 N. Kempner: Raleighs staatstheoretische Schriften. Die Einfhrung des Machiavellismus in England, 1928, S. 34 ff. Die Entsprechungen beider Werke sind auf S. 62 f. angegeben, die Textgegenüberstellungen S. 83 – 86 durchgeführt. Diese Proben zeigen die wörtliche Nachfolge. – Die enge Verbindung des niederländischen und englischen Späthumanismus, die literarischen und menschlichen Beziehungen zahlreicher Persönlichkeiten schildert jetzt J. A. van Dorsten: Poets, Patrons, and Professors. Sir Philipp Sidney, Daniel Rogers, and the Leiden Humanists, 1962. Auch in diesem Kreise behauptet Lipsius eine zentrale Stellung. 26 Th. Hobbes: English Works, ed. W. Molesworth, VIII, 1843, S. XXXIf. Dazu L. Strauss: The Political Philosophy of Hobbes, 1963, S. 82 f. Leider ist das Verhältnis von H. zu Lipsius bisher in keiner Weise untersucht worden. Manche der Hobbes zuerst zugesprochenen Gedanken finden sich nach meinen Feststellungen schon bei Lipsius. Ebenso sind z. B. die moralischen und politischen Essays von Francis Bacon neu zu untersuchen.

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sertationen und Traktätchen untersucht.27 Johann Skytte, der Erzieher Gustav Adolfs, Reichsrat und Hofratspräsident, Gründer der Universität Dorpat (1632) und Stifter der skytteanischen Professur für Eloquenz und Politik in Uppsala (1622), war ein glühender Verehrer von Lipsius’ Politik, für deren Verbreitung er überall eintrat, während Oxenstierna bewußt Althusius zu fördern suchte. Je nach dem Übergewicht der Königs- oder Adelspartei sollten daher Bodin und Lipsius oder Althusius und Keckermann an der Universität bevorzugt werden. Königin Christine wurde wie ihr Vater Gustav Adolf anhand der Politik von Lipsius erzogen. Sie besetzte die skytteanische Professur mit Mitgliedern der Niederländischen Bewegung, den Straßburger Bernegger-Schülern Johann Freinsheim (1642 – 1647) und Johann Scheffer (1648 bis 1679), der unmerklich in die zweite Phase der Niederländischen Bewegung überleitete. 1665 übernahm er auch die neue Professur für Natur- und Völkerrecht. Neben beiden wirkte ein weiterer Lipsianer als Professor für Eloquenz in Uppsala, Johann Heinrich Boecler, der Verfasser der mehrmals aufgelegten Schrift De Politicis Lipsianis. Die Vorherrschaft des niederländischen Rechts- und Staatsdenkens kam in den neuen Universitätskonstitutionen (1655) zum Ausdruck, als auch eine besondere Professur für die Vertretung von Grotius gefordert wurde, also sechs Jahre vor Errichtung des ersten deutschen Lehrstuhls für Natur- und Völkerrecht an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg für Samuel Pufendorf (1661), der 1670 die gleiche Professur an der neuen schwedischen Universität Lund erhielt. Den größten unmittelbaren Erfolg hatte Lipsius sicherlich in Deutschland. An manchen deutschen Universitäten finden wir geradezu Lipsius-Schulen, ganz gleich, ob es sich um fürstliche oder reichsstädtische Einrichtungen handelt. So in Straßburg, wo die große Persönlichkeit von Matthias Bernegger, Inhaber des Lehrstuhles für Geschichte (1613 bis 1640), eine feste Lipsius-Tradition begründete, die in seinem schon erwähnten Schwiegersohn Freinsheim und seinen bekannteren Schülern Boecler, Bose und Veit Ludwig von Seckendorff weiterlebte. Bosius wiederum als Professor für Geschichte in Jena (1655 – 1676) ließ für seine Vorlesungen zweimal eine Synopsis politicorum Lipsii drucken. Über das Jahrzehnt von SS 1681 bis WS 1690 unterrichtet uns eine fast geschlossene Folge von Vorlesungsankündigungen der Universität 27 N. Runeby: Monarchia Mixta. Maktfçrdelningsdebatt i Sverige under den tidigare stormarktstiden, 1962, mit deutscher Zusammenfassung S. 544 – 572. Hier das Material für das Folgende in extenso.

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Jena.28 Danach hielt der Professor für Ethik und Politik J. Ph. Slevogt vom SS 1686 bis WS 1687/88 sein Kolleg über die Politik des Lipsius, im SS 1688 über die Synopsis Politicorum Lipsii a Berneggero conscripta. Die übrigen Vorlesungstitel, auch die seines Kollegen und Nachfolgers Hebenstreit, bezeichnen leider nicht näher, welches Lehrbuch sie zugrunde legten, wenn sie über Politica, Doctrina civilis, Prudentia civilis usw. lasen. Es mischte sich die lipsianische Lehrtätigkeit mit Namen der zweiten politischen Schule der Niederländischen Bewegung. Als Texte werden angeführt: Boecler, Seckendorff, Horneius, Grotius und Cellarius. Im nächsten Jahrzehnt dringt bereits Pufendorf vor. An Neuauflagen von Lipsius erschienen in Jena die Constantia (1680) und die Monita … politica (1667). Der Jenaer Rechtsprofessor und spätere Reichshofrat in Wien N. Ch. Lynker veröffentlichte 1685 ein Tabellenwerk, Ethices Jonstonianae et Politices Justi Lipsii. Der politische Unterricht an der Universität Altdorf, der angesehenen und besuchten Hochschule der Reichsstadt Nürnberg, stand bereits vor 1600 durch Arnold Clapmarius, den Verfasser der Arcana imperii, im Zeichen des Lipsius, danach durch einen Schüler von Reusner-Jena, Michael Virdung. Die verhältnismäßig gut erhaltenen Lektionskataloge der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts machen die ganze Breite der politisch-naturrechtlichen Schule der Niederländischen Bewegung deutlich: Grotius, Burgersdyck, Boecler, J. C. Becmann, Cellarius, seit 1690 auch Pufendorf bildeten die Grundlage des Unterrichts, und der Professor für Politik und Logik G. P. Rötenbeck (1681 – 1710) schloß seine Vorlesungstätigkeit mit der Auslegung der Doctrina politica Lipsii, die er von 1704 bis 1709 in Semester-Fortsetzungen ausdehnte.29 Selbst an der 28 Göttingen U.B. Hlp V, 68/10. Es fehlt nur die Ankündigung für ein Semester. H. Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklrung, 19572 (erschienen 1940: Deutscher Osten im deutschen Geist), widmet der Universität Jena einen besonderen Abschnitt: Jena das Einbruchstor der neuen westeuropischen Denkmethode in das Luthertum S. 156 – 175. Schöffler stellt die starke Anziehungskraft der Universität fest, die in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts 14mal die höchsten Inskriptionsziffern ganz Deutschlands erreichte, führt dies aber vornehmlich auf den Mathematiker und Physiker Erhard Weigel zurück, ohne den ebenso bedeutsamen politischen Unterricht, vertreten durch die Lipsius-Schule, zu erwähnen. Die Namen von Andreas Bose usw. fallen nicht. So werden Pufendorf und Leibniz allein zu Schülern Weigels. 29 Die Lektionskataloge Altdorf in Erlangen U.B. AUH 47 müssen ab 1640 ergänzt werden durch Nürnberg Stadtbibliothek Will 5. 319 A 48. Die erste Dissertation über Lipsius-Texte läßt sich für 1607 bei Michael Piccart, der wohl nach Clapmars Tode die politische Lehre mit vertrat, nachweisen. Weitere

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Universität Helmstedt, wo der in Holland ausgebildete bekannte Professor für Politik Hermann Conring (1650 – 1681) eine eigene, von Aristoteles ausgehende, aber auch Lipsius anerkennende politische Lehre vortrug30, hat dessen Nachfolger Johann W. Werlhof (1686 – 1698) wiederum Lipsius’ Politik benutzt.31 Aber nicht nur an protestantischen, sondern auch an katholischen Universitäten stößt man auf die Wirkung des flämischen Späthumanisten. Die Rückkehr von Lipsius nach Löwen, seine nach den Wünschen der Inquisition gereinigte Ausgabe der Politik ermöglichten es einem so bedeutenden Jesuiten wie Possevinus, das politische Werk des Lipsius zur Ratio studiorum zu empfehlen.32 Ein anderer Jesuit, Adam Contzen, der Beichtvater und politische Ratgeber des Kurfürsten Maximilian von Bayern, reihte bereits 1620 Lipsius neben Plato und Aristoteles unter die Klassiker der politischen Wissenschaft ein.33 Die Jesuiten wurden bis ins 18. Jahrhundert die treuesten Anhänger von Lipsius. An ihren Universitäten finden wir manche Neuauflage seiner politisch-moralischen Schriften; noch die letzte Auflage der Politica in

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Lipsius-Dissertationen der Professoren Felwinger und Rötenbeck in der Stadtbibliothek Nürnberg. Vgl. Erik Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 19634, S. 219 – 252. Das Staatsarchiv Wolfenbüttel bewahrt noch die eigenhändigen Berichte Werlhofs an den Herzog über die abgehaltenen Vorlesungsstunden auf, so daß man Tag für Tag den Vortrag der Politik von Lipsius verfolgen kann. Z.B. für 1696/97: 19. Jan. 1697 Über die Geschichte als Grundlage der Politik, 21. Jan. Über griechische und lateinische Geschichtsschreiber, 4. Febr. Über das Fürstentum, 5. Febr. Über Tugenden des Fürsten, usw. St. A. Wolfenbüttel L Alt 37 II/3 bzw. I/1. Über die Vorlesung 1693/94 meldet Werlhof: „Privatis lectionis Politicam Justi Lipsii interpretatus sum“. L Alt 37 I/1 No. 14. Die Ankündigung im Lektionskatalog für 1696/97 lautet: „J. Werlhofius … Politica Justi Lipsi dilucide & copiose exponet“. A. Possevinus: Bibliotheca Selecta de Ratione Studiorum, 1603, II, S. 78: „Interpretes in libros Politicorum. Justi Lipsii Politicorum, sive Civilis Doctrinae libri sex, qui ad Principatum spectant additae Notae auctiores tum & de una Religione. Sed legenda est editio Antverpiensis anni 1596, quam ipse recensuit“. Die Empfehlung galt also der „katholischen“ Ausgabe. Die meisten Werke von Lipsius werden von Possevinus im Laufe seines Buches empfohlen. A. Contzen: Politicorum libri decem … Hier benutzt Editio secunda auctior, 1629. Contzen schreibt Lib I, cap. 1: „Ego nec Platonem nec Aristotelem nec Lipsium nec alios rempublicam gubernasse certo scio“. Die Arbeit von E.–A. Seils: Die Staatslehre des Jesuiten Adam Contzen, Beichtvater Kurfrst Maximilian I. von Bayern, 1968, weist die Abhängigkeiten und die Einwirkungen von Lipsius auf die gegenreformatorische Politische Wissenschaft nach.

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Wien 1752 trägt den Namen des Jesuitenprofessors Rechtenberg auf dem Vorblatt. Unzählige Adlige und Bürgerliche wurden an den Hochschulen Europas aufgrund der lipsianischen Politik und ihrer Nachfolge-Literatur der pragmatisch-politischen Traktate für die Aufgaben des Staatsmannes und des Verwaltungsbeamten, des Juristen oder des Pädagogen geschult. Es handelt sich also um eine wichtige Universitätswissenschaft, die auf den Staat und das öffentliche Leben einwirkte. Das Naturrecht, zunächst eine Disziplin der praktischen Philosophie, wurde seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zur methodisch vorbildlichen, bald herrschenden Disziplin in allen Geisteswissenschaften, die auch die aktuell-wichtigen Probleme behandelte. Der preußische Professor der Philosophie und Jurisprudenz in Halle, Heineccius, leitete 1738 sein System des Natur- und Völkerrechts mit einer philosophischen Pflichtenlehre ein, den Pflichten gegen Gott, gegen sich selbst, gegen andere.34 Man muß immer wieder bedenken, daß die Wissenschaftler jener Jahrhunderte keine Scheuklappen einer engen Fachrichtung trugen, sondern wie sie bei ihren Lehrstühlen von der Philologie zur Jurisprudenz, von der Geschichte zur Mathematik und von der Philosophie zur Medizin wechselten, so hielten sie auch die verschiedenen Gebiete durch eine umfassende Kenntnis der philosophischen Grundlagen zusammen und konnten sie zusammen behandeln. Hugo Grotius war Erbe und Vollender der neustoischen Strömung. Er verwandelte das römisch-stoische System durch eine verstärkte Übernahme des spanischen spätscholastischen Denkens in jenes christlich-stoische Naturrecht, das für die moderne Wissenschaft des 17. Jahrhunderts bezeichnend wurde. Die naturrechtlichen Prinzipien gründeten sich auf die Übereinstimmung mit der menschlichen Vernunft und auf die durch Gott geschaffene Natur des Menschen. Beide, lipsianischer Neustoizismus und grotianisches Naturrecht, sind aufs engste verbunden durch die Betonung der Pflichtenlehre. Diese wiederum wurde gerade durch die deutschen Staats- und Rechtsdenker verstärkt. Um diese wichtigen Strömungen, die viele Teile Europas im militärischen und politischen, im rechtlichen und sozialen Denken und Handeln beeinflußt und geleitet haben, nach ihrem Ausgangsort bezeichnen und sie in einen noch weiteren Zusammenhang stellen zu können, habe ich den Begriff der Niederländischen Bewegung benutzt. 34 Vgl. E. Reibstein: J. G. Heineccius als Kritiker des grotianischen Systems, in: Zs. f. ausl. öffentl. Recht u. Völkerrecht, Jg. 24 (1964). S. 239.

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Er soll die Einheit einer größeren Erscheinung herausstellen und leichter faßbar machen.

II Die Niederlande waren in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts35 eindeutig das militärisch, wirtschaftlich und geistig führende Land unseres Kontinents, nicht mehr das spanische Reich und noch nicht die französische Monarchie oder England, die bei Holland in die Schule gingen, wenn wir an Cromwells und Colberts Handels- und Schiffahrtspolitik denken oder an die Gründung der Handelskompagnien und der Kommerzkollegien. Das räumlich kleine Gebilde der Vereinigten Provinzen, die sich gegen die stärkste Militärmacht Europas, gegen Spanien, siegreich behaupteten, wurde während dieser Zeit nicht nur die Welthandels- und Weltkolonialmacht, sondern auch das Vorbild in Landwirtschaft und Baukunst, im Steuer- und Finanzwesen und gleichzeitig zum Zentrum der Geistes- und Naturwissenschaften. Nach Holland strömten zu Anfang des 17. Jahrhunderts Engländer und Franzosen, Schweden und Deutsche, Italiener und Schotten zunächst einmal, um das neuzeitliche Kriegswesen und die Grundlagen eines Berufsheeres, der stehenden Armee, im Lager der Nassau-Oranier zu studieren: das systematische tägliche Exerzieren, die scharfe Durchgliederung kleinerer Heereskörper und die Bildung eines modernen Offizierskorps. Das ökonomische Leitbild der großen See- und Handelsmacht verlockte viele Europäer zu sorgfältigen Untersuchungen über die Quellen des niederländischen Reichtums. Holland hatte in seinem Handel Spanien und Portugal überholt, und seine Kaufleute waren die führenden in der Welt. Man studierte in allen europäischen Ländern ihre Methoden, um sie nachzuahmen. Die niederländische Landwirtschaft entwickelte unter dem Zwang eines dichtbesiedelten Landes ertragsteigernde Anbaumethoden, führte die systematische Fruchtwechselwirtschaft durch und züchtete neue Gemüsearten. Nicht nur die Tulpenkultur, die Veredelung der Obstsorten, der moderne Gartenbau überhaupt wurde Vorbild für Engländer, Deutsche, Franzosen, die die holländischen Ideen für eine verbesserte Agrikultur und Viehzucht im Laufe des Jahrhunderts übernahmen. Die Textilindustrie 35 Anstelle weiterer Literatur sei verwiesen auf die betreffenden Teile der Algemene Geschiedenis der Nederlanden, hg. von J. A. van Houtte u. anderen.

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Hollands war eine Musterindustrie für Europa. Die staatlichen Einnahmen, die modi generales oder gemeene middelen, eine Art allgemeiner Verbrauchssteuer, wurden in der Form der Akzise von den anderen Staaten übernommen. Diesem Vorrang im militärischen und kommerziellen, im agrar-, kolonial- und staatswirtschaftlichen Bereich entsprach eine kulturelle Überlegenheit, die Führung in vielen Wissenschaften, der Medizin und Technik, Mathematik und Physik, die künstlerische in Malerei und Dichtung. Die niederländischen Universitäten, voran Leiden, stellten seit dem letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts die führenden Hochschulen des Kontinents dar, an denen die weiterstrebende Jugend aller Länder studierte. Keine der alten europäischen Universitäten, nicht Bologna, nicht Paris, nicht Salamanca, kann in Lehre und Wirkung damals mit den neugegründeten Akademien Hollands verglichen werden. Man nennt die zeitlich erste Generation, die Lipsius, Scaliger, Heinsius, Vossius, Salmasius, die Philologen, aber wie Lipsius schon sagte, „e philologia philosophiam feci“, sind es zugleich die Lehrer der umfassenden praktischen Philosophie, der Ethik, Politik und Ökonomie. Großartig und einmalig in der Blüte von Staat und Handelsmacht, Seefahrt und Industrie, Kunst und Literatur ist der gleichzeitige Höhepunkt auf allen Gebieten in diesem Jahrhundert.36 Wir finden die gestaltenden Auswirkungen der Niederländischen Bewegung in West- und Nord-, in Mittel- und Osteuropa, ohne uns bisher des Zusammenhanges dieses Vorganges voll bewußt geworden zu sein. Ihre Tendenz war eine bürgerliche, ihre Prinzipien der strengen Pflichterfüllung und Kontrolle des Gewissens, der beständigen Arbeit und des gleichen Rechts für alle hatten wenig mit der bisherigen Adelswelt zu tun. Daher die große innere Affinität der Niederländischen Bewegung zur Entwicklung eines modernen Gemeinwesens, des postfeudalen Staates fürstlich-absolutistischer oder genossenschaftlichföderalistischer Prägung. Denn die zum modernen Herrschaftsapparat sich ausweitende Monarchie ist nur eine besondere Erscheinungsform jener allgemeinen Entwicklung. Die Institutionalisierung moderner Arbeits- und Lebensprinzipien im Staate entsprach mehr dem bürgerlichen als dem adligen Denken. So wurde das neue Offizierskorps mit seinen Alltagspflichten im kleinen Dienst ein zur Arbeit angehaltener Berufsstand im Gegensatz zur unternehmerischen Tätigkeit des Militäradels, der Ehre suchte und Beute machen wollte. Die Erziehungs36 Huizinga, a.a.O., S. 130.

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lehre des politischen Neustoizismus und des grotianischen Rechts- und Staatsdenkens stand hinter den Änderungen, die wir in den umfassenden sozialen Prozeß einer neuen asketisch-zuchtvollen Weltanschauung eingliedern müssen. Seit Max Webers berühmter Abhandlung über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus ist es üblich geworden, die engen Beziehungen von Religion und Wirtschaft herauszustellen. Anknüpfend an Weber hat Otto Hintze die Verwandtschaft von Calvinismus und moderner Staatsräson sehr stark betont. Die Diskussion um die Thesen Webers hat schon seit langem zu einer vertieften Auffassung geführt. Auch für die Beziehungen von Calvinismus und Staatsräson scheint mir eine ähnliche Modifizierung notwendig zu sein. Erst durch die Mitberücksichtigung des ursprünglich unkonfessionellen politischen Neustoizismus sowie auch des Naturrechtsdenkens läßt sich die schwierige Frage lösen, wie es möglich war, daß das aus den calvinistischen Niederlanden kommende Staatsdenken in lutherischen und katholischen Ländern gleichfalls einen so starken Einfluß gewinnen konnte. Nicht nur die auswärtigen Spannungen und die innenpolitischen Verhältnisse führten den modernen Staat herauf, ebenso wichtig sind die Impulse der Niederländischen Bewegung. Der politische Späthumanismus, wie er bei Lipsius und seinem Fortsetzer Grotius in Erscheinung tritt, konnte leichter – wenn auch keineswegs kampflos – die Verbindung mit den Politikern anderer Konfessionen herstellen als der Calvinismus. Es muß also neben die Betrachtung des Calvinismus auch die Betrachtung des Späthumanismus treten. Seine Wirksamkeit läßt sich in ganz Europa in mehr oder weniger starkem Maße beobachten. Bisher liegen erst zwei thematisch geschlossene Publikationen vor: für Schweden eine ältere Arbeit, die vor bald 70 Jahren erschienen ist37, und für Dänemark ein neueres stattliches zweibändiges Werk, 1945 veröffentlicht.38 Beide weisen den überragenden Einfluß der Niederlande auf die gesamte Kultur ihrer Länder nach. Die Dänen stellen fest, daß sie mit keinem anderen der kleineren europäischen Staaten außer den skandinavischen solche intensiven und folgenreichen Beziehungen hatten wie mit den Niederlanden. In Ko37 E. Wrangel: De betrekkingen tusschen Zweden en de Nederlanden op het gebied van letteren en wetenschap voornamelijk gedurende de zeventiende eeuw, 1901. Schwedisch 1897. 38 Holland Danmark. Forbindelserne Mellem De To Lande Genem Tiderne. Under Redaktion af Knud Fabricius, L. L. Hammerich og Vilh. Lorenzen, I, II, 1945.

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penhagen wurden wie in Stockholm die niederländischen Neuerscheinungen von den großen Verlegern dargeboten. Elzevier und Jansonius unterhielten eigene Buchhandlungen, Elzevier hatte sein Geschäft in der Kopenhagener Börse. Sie druckten hier besondere Kataloge für den dänischen und schwedischen Käufer, in denen gerade die reichhaltige Auswahl an Literatur der praktischen Philosophie im weitesten Sinne auffällt, „wie Grotius, Lipsius, Meursius und Vossius“. Die dänische Darstellung behandelt die Abhängigkeit Dänemarks in Handel und Landbau, Baukunst und Malerei, schöner Literatur und Musik, Naturwissenschaft und Medizin und auf den verschiedenen Feldern der Geisteswissenschaften; sie ist allerdings nicht dem großen Einfluß auf dem Gebiet des Kriegswesens unter Christian IV. nachgegangen, dessen Förderung von Handel und Industrie und dessen Reformation der Gesetzgebung und Verwaltung gleichfalls die niederländische Anregung nicht verleugnen. Das Ansehen der klassischen Bildung und die reale Bedeutung der Philologie werden wieder sichtbar. Zu königlichen Historiographen ernannte Christian IV. Niederländer. Johann Isaak Pontanus blieb aber wie Daniel Heinsius, der Historiograph Gustav Adolfs, in Holland, während Johann Meursius, seit 1625 Professor für Geschichte und Beredsamkeit an der von Christian IV. begründeten Hochschule, der Ritterakademie in Soroe, als ehemals Leidener Professor die holländische politikwissenschaftliche Tradition in Dänemark fortsetzte. Meursius war auch als Mitarbeiter bei der großen Res-publicae-Serie Elzeviers beteiligt. Erst im 18. Jahrhundert wurde der überragende niederländische Einfluß in Dänemark ebenso wie in Schweden durch den französischen in den Hintergrund gedrängt. Das schwedische Werk von Wrangel bleibt im engeren Bereich der Universitäten stehen, bietet aber hier sehr Wesentliches. Es klärt die engen Beziehungen in den Staatswissenschaften und der Geschichte, der Theologie und Jurisprudenz sowie der Medizin und verfolgt die Laufbahnen der Schweden, die in den Niederlanden studiert haben. Eine erstaunliche Zahl von hohen und höchsten Würdenträgern, Beamten, Stabsoffizieren, Wirtschaftlern und Gelehrten besuchte die holländischen Hochschulen. Berühmte Namen der schwedischen Familien des 17. Jahrhunderts wie Skytte, Oxenstierna, Banér, Gyllenstierna, Horn, Rosenhane tauchen auf. Die Schweden konnten die niederländische Kultur und Wissenschaft auch an den eigenen Universitäten Uppsala, Lund und auch Dorpat aufnehmen. Denn, um ein Beispiel zu nennen: nahezu die Hälfte der Professoren, die in den Jahren 1640 bis 1660 in Uppsala lehrten, hatte in den Niederlanden studiert. Als die schwedische

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Universität in Finnland, Åbo, 1640 eröffnet wurde, waren von den 11 Lehrstuhlinhabern 6 ehemals Studenten in Holland gewesen, und bei der Einweihungsfeierlichkeit hielt der schwedische Drost-Stalhandske seine Rede auf Niederländisch. Von den ersten 19 Professoren der zweiten schwedischen Universität Lund (1668) hatten 8 allein ihr Studium in Leiden absolviert. Zu ihnen gehörte der erste Inhaber des Lehrstuhls für Natur- und Völkerrecht, der Deutsche Samuel Pufendorf, der dann als kurfürstlich-brandenburgischer Historiograph, als Geschichtsschreiber des Großen Kurfürsten in Berlin gestorben ist. Aber neben den unmittelbar in Holland gebildeten Professoren gibt es noch die große Anzahl, die an weiteren Hochschulen des Kontinents, besonders in Deutschland, bei Angehörigen der Niederländischen Bewegung studiert hat, unter ihnen die königlichen Bibliothekare Fornelius und Freinsheim, der zuerst die skytteanische Professur versehen hatte. Er gehört zu dem Gelehrtenkreis, den die Königin Christine um sich versammelte. Gerade hier ist der Stoizismus besonders gepflegt worden, und noch in der katholischen Phase Christines lassen sich die starken Anklänge der römisch-stoischen Literatur feststellen.39 Die schwedische Wirtschaft wurde in jenem Zeitraum unmittelbar von Niederländern erschlossen. Ich kann hier nur den Namen des führenden Industrie-Unternehmers Louis de Geer nennen, der die schwedische Waffenerzeugung aufbaute, die schwedische Eisenindustrie entwickelte und daneben die geistigen Verbindungen mit Holland pflegte. Hugo Grotius schließlich starb im diplomatischen Dienst der schwedischen Krone. Auch am bayerischen Hofe trat das lipsianische Staatsideal beherrschend in den Vordergrund. Den Gelehrten Lipsius selbst für die Landesuniversität Ingolstadt zu gewinnen, war 1592 das Bemühen Herzog Wilhelms V. gewesen. Sein Sohn Maximilian I. wurde früh mit den Gedanken von Lipsius vertraut; hochpolitische Schriftstücke seiner 39 Vgl. ergänzend zu Wrangel neben der schon genannten Arbeit von Nils Runeby besonders Lars Gustafsson: Virtus politica. Politisk etik och nationellt svrmeri i den tidigare stormaktstidens litteratur, 1956. Gustafsson arbeitet die Bedeutung von Lipsius für das Problem Ethik und Staatsräson in Schweden („Lipsismus“) heraus, a.a.O., S. 27 – 38, 45 ff. Der neustoische Kreis um Königin Christine ist öfter bis zu Sven Stolpe geschildert worden, ausführlich bei E. Cassirer: Descartes, 1939, S. 177 – 278. Vgl. Cassirer: Vom Mythus des Staates, 1949, S. 218 f., der allgemein auf „das klare und unverkennbare Gepräge des stoischen Denkens“ der bekanntesten politischen Bücher dieser Periode verweist und dabei Lipsius als Vorbild nennt.

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Regierungszeit, insbesondere die berühmten Monita paterna von 1639, das erste Politische Testament des Kurfürsten, lehnten sich aufs engste an die Politica und die Monita et exempla politica von Lipsius an, ja sie schrieben sie geradezu aus.40 Die Werke der Niederländer lagen in den 40 H. Dollinger: Kurfrst Maximilian I. und Justus Lipsius. Eine Studie zur Staatstheorie eines frhabsolutistischen Frsten, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 46 (1964), S. 227. D. schließt bei seinem Vergleich die militär-politischen Vorstellungen von vornherein aus. Die weitgehende Übereinstimmung auch auf diesem Gebiet ist evident, gerade sie machte mich auf die Möglichkeit der nun durch D. bewiesenen Abhängigkeit aufmerksam. D. schränkt seine Untersuchungen auf das Verhältnis von prudentia und virtus und die Finanzpolitik ein. Er irrt, wenn er meint, daß Lipsius nicht das persönliche Regiment des Fürsten kennt. Ganz im Gegenteil verstärkt der Neustoizismus die sittlichen und politischen Grundlagen dieser europäischen Regierungsform (Lipsius, Politica IV, 9: „non quia consilia spernam [valde suasi & suadeo], sed quia innotescere omnibus velim, te esse a quo pendeant omnes. Esto mihi solus arbiter rerum, iure ac nomine regio“). – In den Monumenta Germaniae Paedagogica (MGP) finden sich manche Hinweise auf die Verwendung der Werke von Lipsius in der Schul- und in der Fürstenerziehung. Für die bayerischen Wittelsbacher 1639: „ein guetter bewehrter Historicus oder politica Lipsiy oder P. Caroli Scribenii durch einen oder zween absonnderliche ex Societate Jesu … vorgelesen“, in: MGP XIV (1892) S. 96. Für die pfälzischen Wittelsbacher 1621: Epistolae Lipsij, Puteani, MGP IX (1890) S. 127 n. 6, 1631: „Vossius, Scioppius, Lipsius, Puteanus, Naudaeus“, a.a.O. S. 149, 1631: „In politicis, … Golii Compendium gebreucht werden, zu behserer Information aber, und wann Sie die praecepta Politica auhs dem Golio ergriffen, kann dehs Lipsij Politica, so ex probatissimis Auctoribus zusammengetragen, wie nicht weniger die Axiomata Politica Richteri … vorgehalten werden“, a.a.O. S. 174, 1631: „In Militaribus … erstlich dehs Petri Rami … de Militia Caij Caesaris, … alhs dann ein Extract auhs des Lipsij de Militia Romana“, a.a.O. S. 176, ca. 1640: Lipsius (Politik) a.a.O. S. 343, 1666/67: „Dinstags wurdt in Memorirung dehs Lipsii Politic fortgefahren und hernach auch ein theil von vornen repetirt; Dinstags den 14. Junij … die stundten gleich wie Montags in acht genohmen worden, ohn allein dahs Ihr Fürstl. Gnaden [Pfalzgraf Gustav Philipp] den Lipsium gehabt und darin im 5. lib. cap. 3 vom 11. vers i. e. bihs zu endt dehs capitels den inhalt memorirt“, a.a.O. S. 344 und 347. Der Wettiner Friedrich August II., Kurfürst von Sachsen und König von Polen (1733 – 1763), dürfte in vollem Sinne des Wortes eine Erziehung à la Lipsius erhalten haben. So das Erziehungsbedenken des Joh. Friedr. Reinhardt für den Kurprinzen Friedr. August, c. 1709 – 12. Reinhardt hatte selbst die Politik von Lipsius überarbeitet und 1702 in zwei Bänden mit vielen Anmerkungen herausgegeben. Das Urteil des Lipsius wird in dem Bedenken elfmal herangezogen, Politica, Militia Romana, Monita et exempla politica erwähnt. Es dürfte ein Lesefehler sein, wenn es heißt „Politica: Justi Lipsii Politicorum libri können allen Rerum publicarum formis nicht accomodiret werden“. Vielmehr beweist ja das Werk Reinhardts von 1702 die

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Münchner Buchhandlungen aus. Die engsten Berater und Beichtväter Adam Contzen und Johannes Vervaux, der Hofkammerpräsident Dr. Mändl und der Hofkammerrat Sebastian Saurzapf, dessen Bibliothekskatalog von 1609 Lipsius als den „Haupt- und Lieblingsautor“ ausweist, sie alle hätten sicherlich der humanistischen Lobpreisung des kurfürstlichen Leibarztes zugestimmt, der im Jahre 1601 aus München an Lipsius schrieb: „Tu es parvulus Deus in hoc mundo“. Wie im katholischen Bayern, so standen auch im katholischen Österreich die moralisch-politischen Schriften von Lipsius in höchstem Ansehen. Auch hier wirkten die Jesuiten als wesentliche Vermittler und als Hüter des neustoischen Geistesgutes. Daß die letzten lateinischen Drucke der Constantia, der Monita et exempla politica und der Politicorum libri sex gerade im Bereich der Habsburger erschienen sind, Wien 1711, Linz 1703 und Wien 1752, habe ich bereits erwähnt.41 Die Schriften von Lipsius waren „in den Adelsbibliotheken Österreichs um 1600 überall zu finden“.42 Noch ist die Schrift Ferdinandi Romanorum Imperatoris Virtutes (1638) des kaiserlichen Beichtvaters Lamourmaini nicht so genau untersucht wie die Väterliche Ermahnung von Vervaux, aber es besteht kein Zweifel, daß auch hier die späthumanistischen Werke weitgehend Pate gestanden haben. Nur ist es die Gedankenwelt des Lipsius nach 1592, die der Monita et exempla politica und der systematischen Darstellungen über die antike Stoa, die der christlich-katholischen Auffassung angeglichen war. Es ist jener Lipsius, der die Fürsten dazu anhielt, ihre Priester und Theologen auszuzeichnen und zu den Beratungen heranzuziehen (Monita Lib. I, Cap. 2, mon. IV: „Sacrorum antitistes aut administros honorandos, audiendos esse!“). Die erwähnte zeitgenössische „Akkomodation“. Das Wort nicht ist also verlesen für recht. MGP LII (1913) die einzelnen Stellen S. 553 – 583. Die Stelle über die Politik S. 565. Ein anderer Lesefehler betrifft die Monita et exempla politica S. 572: „Exempler. et monoter. Politicer.“ [sic]. 41 Die letzte Neuauflage der Constantia (Philosophia Christiana seu Justi Lipsii de Constantia) und die der Monita sind nicht in der Bibliographie Lipsienne enthalten (ich besitze beide). An der Jesuiten-Universität Tyrnau, der Vorgängerin der Universität Budapest, erschien 1724 auch gesondert Politicorum sive civilis doctrinae Liber III. Dies Büchlein ist ebenfalls der Bibliographie Lipsienne nachzutragen. Die Bedeutung von Grotius und Pufendorf für die Erziehung der Habsburger tritt jetzt besonders deutlich in Erscheinung in dem natur- und völkerrechtlichen Unterricht für den späteren Kaiser Joseph II. (1754/55). Vgl. die Publikation von H. Conrad (Hg.): Recht und Verfassung des Reiches. 42 O. Brunner: Adeliges Landleben und europischer Geist, 1949, S. 130. Brunner weist S. 129 f. auf die große Verbreitung des Neustoizismus hin, dessen Inhalt er aber wohl zu antik-stoisch charakterisiert.

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Beobachtung über die Herkunft der habsburgischen pietas-Auffassung von Lipsius und aus dem Lipsius-Kreis läßt sich noch erweitern.43 Die im Neustoizismus zentralen Begriffe der clementia und constantia wurden zu verchristlichten Kernbegriffen der habsburgischen Amtsethik für über ein Jahrhundert bis zu Maria Theresia, die nicht nur in ihrem Politischen Testament und in ihrem Briefwechsel, sondern auch in ihren politischen Handlungen davon Zeugnis ablegt. Die Denkschrift eines kaiserlichen Botschafters vom Anfang des 18. Jahrhunderts, die den gebildeten Grafen Lamberg zum Verfasser hat, trägt betont lipsianische Züge. Die politische Ethik des Neustoizismus „als Grunddisposition (war) nicht nur in gelegentlichen Reflexionen (Lambergs) wirksam“.44 In Ungarn ist erst in jüngster Zeit die starke Ausstrahlung des niederländischen Späthumanismus auf die politischen Theorien in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nachgewiesen worden. Lipsius spielte für die Grundlegung der ungarischen Staatswissenschaft sozusagen die „Rolle eines Klassikers“. Schließlich übersetzte man 1641 die Politica auch ins Ungarische.45

43 A. Coreth: Pietas Austriaca. Wesen und Bedeutung habsburgischer Frçmmigkeit in der Barockzeit, in: Mitt. Österr. Staatsarch., Bd. 7 (1954), S. 93 ff. Als selbständige Schrift 1959. Auch Dollinger weist auf den neustoischen Einfluß in dem österreichischen Fürstenspiegel Princeps in compendio (1632) hin. 44 G. Rill: Die Staatsrson der Kurie im Urteil eines Neustoizisten (1706); IN. Mitt: österr. Staatsarch., Bd. 14 (1961), S. 317 – 329, Zitat S. 322. Der Nachweis der Lipsius-Kenntnis wird interessanterweise von den weniger beachteten Notae ad libros Politicorum aus geführt. 45 T. Wittman: A magyarorszgi llamelmleti tudomnyossg XVII. szzad eleji alapvetsnek nmetalfçldi forrsaihoz. J. Lipsius (Zu den niederlndischen Quellen der Grundlegung ungarischer staatstheoretischer Literatur am Anfang des 17. Jahrhunderts. J. Lipsius), in: Filológiai Közlöny, 1957, S. 53 – 66. Die Geschichte der politischen Wissenschaft in Ungarn war bisher nur seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts erforscht worden. W. untersucht die allgemeine Bedeutung der einzelnen Autoren der früheren Zeit und weist als die Hauptquelle Lipsius nach. Dessen Wirksamkeit möchte W. völlig trennen nach den Werken vor und denen nach 1591. Diese auch von mir oft hervorgehobene Scheidung kann jedoch nicht so streng durchgeführt werden. Die jesuitischen Beichtväter an den Fürstenhöfen und die jesuitischen Universitätslehrer rezipierten auch die Constantia und die Politica nach der leichten Änderung in der Religionsfrage und interpretierten sie im religiös-katholischen Sinne. Vgl. jetzt T. Wittman: Un chroniqueur hongrois contemporain de la Rvolution des Pays-Bas du XVIe sicle, in: Revue du Nord, Bd. 45 (1963), S. 177 – 185.

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Was ich für die katholischen Teile Deutschlands angeführt habe, könnte für die protestantischen in vielem stärker belegt werden. Neuerdings ist wenigstens der überragende Einfluß der niederländischen Universitäten auf das deutsche Geistesleben im 17. Jahrhundert bis weit ins 18. hinein dargestellt worden. Es war doch ein überraschend breiter, sehr vielseitiger und tiefgehender Strom, der mit 19000 Studenten nicht nur das deutsche Kulturleben, sondern auch Staat und Wirtschaft befruchtete.46 Man darf nach den bisherigen Forschungen zur ersten Phase der Niederländischen Bewegung als Ergebnis festhalten: Die in so verschiedenen Lagern und an so verschiedenen Orten stehenden Personen wie Heinrich IV. und Oldenbarneveldt, Richelieu und Gustav Adolf, die Nassau-Oranier und Maximilian von Bayern, sie alle sind durch die Kenntnis der neustoischen Gedankenwelt verbunden. Auch wenn sie sich gegenseitig bekämpften, so bilden sie doch in ihrem politischen Denken und staatlichen Handeln eine Gruppe, die in den Grundsätzen der Verbindung von prudentia (ratio) und virtus, der zivilen und militärischen Institutionen, der politischen Disziplin und Askese aufs engste zusammengehört. Zu diesen Männern sind eine Generation später der Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg und seine Mitarbeiter zu rechnen. Denn auch auf Geist und Staatsbildung Preußens hat die Niederländische Bewegung mehr als ein Jahrhundert entscheidend eingewirkt.

46 H. Schneppen: Niederlndische Universitten und deutsches Geistesleben von der Grndung der Universitt Leiden bis ins spte 16. Jahrhundert, 1960. Dort S. 132 zusammenfassend: „Generationen von Gelehrten, Professoren und Studenten waren die niederländischen Universitäten mit ihren Leistungen auf philologischem, medizinischem und naturwissenschaftlichem Gebiet ein allgemein bewundertes Vorbild“. Diese Hochschulen zogen auch eine beträchtliche Zahl deutscher Professoren an. Wichtige Grundlagen und Ergänzungen bieten H. Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklrung. Von Martin Opitz zu Christian Wolff, 19572, und E. Trunz: Dichtung und Volkstum in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Ein Vergleich mit Deutschland und ein berblick ber die niederlndisch-deutschen Beziehungen in diesem Jahrhundert, 1937. Bei beiden Arbeiten auch weitere Spezialliteratur. Schöffler untersucht speziell die Beziehungen zwischen Schlesien und Leiden im 17. und 18. Jh.

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III Holland war zur Zeit seiner Blüte die pädagogische Provinz Europas. Daß der Militärstaat Preußen von der bürgerlich-unmilitärischen Republik der Niederlande auch beeinflußt sein soll, könnte auf den ersten Blick überraschen. Aber jenes Attribut trifft für die holländische Geschichte während des 80jährigen Krieges nicht ganz zu, und auch das einseitig kulturlose Bild Preußens stimmt nicht ganz. Wie für andere europäische Staaten, waren die Niederlande auch Vorbild für Brandenburg-Preußen auf den Gebieten des Handels und Militärs, der Kultur und Wirtschaft.47 Die durch nichts aus den deutschen Territorien des 16. Jahrhunderts sich erhebende Kurmark Brandenburg begann seit der Mitte des 17. Jahrhunderts einen innen- und außenpolitischen Aufstieg zur europäischen Macht. Wie ist dieser zu erklären? Der größte Teil der Geschichtsschreiber hat als bedeutsamste Ursache den Religionswechsel und seine allgemeinen Folgen, den Übertritt des Herrscherhauses zum Calvinismus mit seinem Bekenntnis zur aktiven Lebensform in Wirtschaft und Politik angesehen. Diese These lehnten jedoch manche deutschen Forscher ab unter Hinweis auf die hochkirchlichen Engländer der Elisabethzeit und die Gestalt Gustav Adolfs.48 Einer der besten Kenner der brandenburg-preußischen Geschichte, Otto Hintze, hat dann 1931 im großen weltgeschichtlichen Zusammenhang das Problem erneut gestellt und den Calvinismus als Brücke bezeichnet, „über welche die moderne Staatsräson, und zwar in der niederländisch-fran-

47 Ich habe das Thema bereits behandelt in dem Aufsatz: Calvinismus, Neustoizismus und Preußentum, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 5 (1956), S. 157 – 181. Die folgenden Ausführungen fassen – sehr verkürzt – die Ergebnisse jenes Aufsatzes zusammen und berücksichtigen meine späteren Forschungen, wobei ich auch eines Seminars zur Preußischen Geistesgeschichte an der Freien Universität Berlin im WS 1959/60 dankbar gedenke. Für die Anmerkungen und weiterführende Einzelheiten muß ich generell auf den genannten Aufsatz verweisen. – Zum Verhältnis Luthertum, Machtstaat u. Neustoizismus jetzt H. Holborn: Machtpolitik und lutherische Sozialethik, Arch. F. Reformationsgesch. 57, 1966, S. 23 – 32, für Brandenburg bes. S. 28 ff. 48 Z. B. G. Küntzel: Die drei großen Hohenzollern, in: Meister der Politik, hg. von E. Marcks u. K. A. von Müller, II, 1923, S. 400. Küntzel beurteilt allerdings hier die Niederlande falsch.

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zösischen Form, ihren Einzug in die brandenburgische Politik“ hielt.49 Hintze scheint mir in jener großartigen Abhandlung im Gefolge Max Webers die Berührung von moderner Staatsräson und calvinistischer Wirtschaftsräson zu stark betont zu haben, aber der erneute Hinweis auf die Niederlande, die deutlich als Vorbild des Großen Kurfürsten immer wieder hervortraten, bleibt wichtig. Hintze machte jedoch keine Angabe über das, was sich in der niederländisch-französischen Form der modernen Staatsräson verbarg: Es ist die prudentia civilis des politischen Neustoizismus. In der Zeit des ersten Bündnisses zwischen Brandenburg und den Generalstaaten vom Jahre 160550 finden wir mannigfache wissenschaftliche Berührungen mit dem niederländischen Späthumanismus. Die Erstausgabe des zweiten Hunderts der Briefe von Lipsius vom Jahre 1591 enthält ein Antwortschreiben an den Humanisten Franz Hildesheim (1551 – 1613) in Frankfurt an der Oder.51 In ihm gibt Lipsius seiner großen Freude Ausdruck, den fernen Brandenburger unter die Seinen rechnen zu dürfen. Der Verkehr sei aber schwierig, denn nur selten kämen Niederländer nach Frankfurt außer zur Messe (rari a nobis homines illuc). Hildesheim wurde der vertraute Leibarzt des späteren Kurfürsten Joachim Friedrich, der jenes Bündnis von 1605 abschloß. Er ist auch als brandenburgischer Geschichtsschreiber seiner Zeit hervorgetreten.52 An der Elbe, an der Spree und an der Oder finden wir in jenen Jahren Drucke der Schriften von Lipsius. 1599 erschien in dem von den Hohenzollern beherrschten Erzstift Magdeburg eine Samm49 Kalvinismus und Staatsrson in Brandenburg zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift, Bd. 144, jetzt in: O. Hintze: Gesammelte Abhandlungen III, Regierung und Verwaltung, 19672. S. 255 – 312. 50 R. Koser: Geschichte der brandenburgischen Politik bis zum Westflischen Frieden von 1648, 1913, S. 337 ff. 51 J. Lipsii Epistolarum Centuria Secunda nunc primum edita, 1591, ep. 76 s.d. Die erste Ausgabe der ersten 100 Briefe war 1589 dem Magistrat von Utrecht gewidmet, die der zweiten 100 Briefe 1590 dem Praefekten Burg. 52 Von Hildesheim stammen die ersten Biographien des Kurfürsten Joachim II. (1535 – 71) und des Markgrafen Johann von Küstrin (1535 – 1571) sowie der großen Kanzler beider Herrscher L. Distelmeier und M. Albinus. Vgl. z. B. MGP XXXIV, 1906, öfter. Die Lebensläufe der im Folgenden behandelten Personen sind in der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB) oder der Neuen Deutschen Biographie (NDB) nachzuschlagen. Verwiesen sei auch auf meine Herrscher-Biographie: Der Große Kurfrst, die Kçnige Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I., in: NDB V, 1961, S. 495 – 501 bzw. 536 – 546 mit entsprechender Literatur.

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lung aus den Hauptschriften zur praktischen Philosophie, den Politica und der Constantia: die Flores totius philosophiae Justi Lipsii. Sechs Jahre später erschien eine neue Auswahl. Sie wurde dem früheren brandenburgischen Kanzler Christian Distelmeier, dem Berater des Kurprinzen Johann Sigismund, gewidmet. Leider ist der Katalog der berühmten Bibliothek Distelmeiers nicht erhalten. Die Gratulationsverse zu dem Melleficium von 1605 zeigen, daß das gebildete Bürgertum Berlins, kurfürstliche Räte, Gerichtsnotare und, was zu beachten ist, die Lehrer des Gymnasiums, sich für die neustoisch-humanistische Ideenwelt begeisterte und für ihre Verbreitung einsetzte. Auch an der kurmärkischen Landesuniversität Frankfurt/Oder wurde wie an anderen deutschen Hochschulen die Staatslehre von Lipsius gelehrt. Der Historiker und Jurist Cyriacus Herdesianus (1581 – 1631) hatte in Holland studiert und dort 1613 seine ersten Arbeiten veröffentlicht. 1612 druckte sogar ein Frankfurter Verleger das Hauptwerk des politischen Neustoizismus sicherlich für den politischen Unterricht der Akademie, obwohl Jahr für Jahr neue Auflagen erschienen (bisher 22 lateinische Ausgaben und zwei deutsche Übersetzungen). Für die Verbreitung calvinistisch-niederländischen Geistes sind auch die Eintragungen in den Stammbüchern der Hohenzollernprinzen sehr interessant. Gewiß läßt sich über den Wert dieser Quelle für die Aussage geistesgeschichtlicher Verbindungen streiten, so wie es problematisch ist, aus der Zusammensetzung einer Bibliothek bestimmte Einflüsse zu erforschen. Aber selbst wenn es sich nur um Modesentenzen handelt, so sehe ich doch etwas mehr darin als nur die „Verbreitung allgemeiner Bildung“, wie Ranke es tat. Vornehmlich Mitglieder des nassau-oranischen Fürstenhauses trugen die Sprüche ein, die uns die weltanschaulichen Denkinhalte in den regierenden Schichten verlebendigen. Mehrfach belegt ist der neustoische Topos: constantia patientia. Die Tochter Wilhelms I. von Oranien wählte den Sinnspruch: Gott dienen, das heißt herrschen. Ranke meinte dazu noch: resigniert, aber großartig. Doch von Resignation kann nicht die Rede sein, auch nicht bei der Devise Senecas: Gott gehorchen ist Freiheit. Schon 1590 lautet eine Eintragung: pietas cum robore coniuncta, Gottesfurcht verbunden mit Gemütsstärke, dem robur animi des Lipsius. Der noch durch Calvin zitierte Satz Ciceros, pietas coniuncta justitia, wurde so im Sinne der sechs Jahre zuvor veröffentlichten Constantia verändert. Diese Entfaltung und Entwicklung aller Energien kündigte sich ins Politische übertragen durch neue Prinzipien an, die eine Ablösung des bisherigen altterritorialen Stillebens mit seiner Sorge für die reine Lehre und die

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liebe Justiz bedeuteten. In jenen Jahren erfolgten die ersten Versuche einer Neuordnung der brandenburgischen Wehrverfassung durch Räte und Offiziere, die in der niederländischen Armee gedient hatten. Die späteren Beziehungen der brandenburgischen Dynastie zu den Niederlanden sind oft geschildert worden. Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640 – 1688) lernte als Kurprinz in seinem 14. bis 18. Lebensjahr die niederländische Kultur und Politik von der statthalterlichen Seite her, am oranischen Hofe und im Lager Friedrich Heinrichs, kennen. 1636 studierte er auch kurze Zeit direkt an der Universität Leiden. Das Erlebnis des in seiner vollen militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kraft stehenden Staatswesens hat ihn sein Leben lang bestimmt. Der Kurfürst hat die engen persönlichen und wissenschaftlichen Beziehungen zu den Niederlanden, die durch die Eheschließung mit der Tochter des Prinzen Friedrich Heinrich, Luise Henriette, verstärkt wurden, bewahrt. Die Hauptstadt Berlin „verholländerte“ in der äußeren Gestaltung wie im geistigen Zuschnitt. Friedrich Wilhelm betrachtete in der Wirtschafts-, Finanz-, Handels- und Kolonialpolitik, im Kanal-, Stadt- und Festungsbau, in Kunst und Wissenschaft Holland stets als Leitbild, er sammelte die militärischen Schriften der Nassau-Oranier durch Vermittlung seines Statthalters in Cleve, Johann Moritz von Nassau-Siegen.53 Männer der Niederländischen Bewegung wurden offizielle Historiographen oder Hochschullehrer. Zu der persönlichen Umgebung des Kurfürsten gehörten die Leibärzte, die allgemein im 17. Jahrhundert als humanistische Berater die theologischen vielfach ablösten; sie hatten an niederländischen Universitäten studiert oder waren selbst Holländer wie der Schüler von Arnold Geulincx, Cornelius Bontekoe (1640 – 85), der zugleich in Frankfurt/Oder lehrte.54 Wir sahen schon am Beispiel des Leibarztes Hildesheim die gelehrten Beziehungen dieser Schicht. Auch die Mehrzahl der reformierten Hof-

53 Dazu O. Meinardus: Eigenhndige Briefe des Großen Kurfrsten an Johann Moritz von Nassau, in: Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte, Bd. 19 (1906). 54 Vgl. auch F. Sassen, S. 155 u. 158. Bontekoe veröffentlichte u. a. 1675 in Leiden die neustoisch bestimmte Ethik von Geulincx; er gehörte zu den kräftigsten Verbreitern des Gedankengutes seines früh verstorbenen Lehrers. Als Metaphysiker war Bontekoe aber Cartesianer, vgl. Max Wundt: Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, 1939, S. 92.

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prediger Brandenburg-Preußens hat ihr Haupt- oder ein Nachstudium in Holland durchgeführt.55 In der kurfürstlichen Bürokratie wird der niederländische Einfluß spürbar. Nur einige Beispiele: Nikolaus Ernst von Platen, der Begründer und erste Leiter des brandenburgischen Generalkriegskommissariats (1655 – 1669), jener für Brandenburg-Preußens Verwaltung und wirtschaftliche Entwicklung so charakteristischen Behörde, hat in Leiden studiert und in Groningen promoviert. Der bekannte Minister der Spätzeit des Großen Kurfürsten und Friedrichs I., Paul Fuchs, sozusagen der erste Kulturminister Brandenburg-Preußens und Mitbegründer der Universität Halle, studierte in Leiden und Franeker und war vor seinem Eintritt in die unmittelbaren Dienste Friedrich Wilhelms Lehrer des Naturrechts an der Universität Duisburg, einer Gründung des Großen Kurfürsten.56 Bei einer weiteren Anzahl von hohen Beamten ist das Studium oder die Peregrinatio academica in den Niederlanden nachzuweisen. Der Statthalter in Ostpreußen, Fürst Boguslaus Radziwill, studierte in Groningen und Utrecht Mathematik und Befestigungslehre und kämpfte dann im Heere Friedrich Heinrichs von Oranien.57 Auch aus niederländischen Diensten kam der Graf von Waldeck, dessen berühmte Denkschriften zuerst den aktiven Geist der niederländischen politischen Lehren atmen wie später viele politische Schriften des Kurfürsten selbst. Das neue preußische Beamtentum ist schon während des Studiums an den deutschen Universitäten mit dem staats- und moralphilosophischen Gedankengut der Niederländischen Bewegung in Berührung gekommen. Die Studienorte Straßburg, Helmstedt, Altdorf, Heidelberg, Jena usw. sprechen für sich.58 Der Kurfürst ließ zudem die Söhne seiner Beamten gern auf seine Kosten im 55 R. von Thadden: Die brandenburg-preußischen Hofprediger im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur absolutistischen Staatsgesellschaft in Brandenburg-Preußen, 1959. Es finden sich 17 Hofprediger, die zwischen der Dordrechter Synode und der Mitte des 18. Jahrhunderts in Holland waren. Alle Lebensläufe mit den Studienorten S. 170 ff. 56 Vgl. meinen Artikel über Fuchs, NDB V, 1961, S. 682 f. 57 Jörg Jacoby: Boguslaus Radziwill. Der Statthalter des Großen Kurfrsten in Ostpreußen, 19602, S. 13. 58 Die 5 Leiter des Generalkriegskommissariats im 17. Jahrhundert haben in Leipzig, Rostock, Leiden, Groningen, Orléans (N. E. v. Platen), Straßburg (F. Meinders), Helmstedt (B. v. Gladebeck), Rostock ( J. E. v. Grumbkow), Heidelberg (D. L. Danckelman) studiert. In der Leichenpredigt Platens hieß es, daß er sich in Leyden des „Status Ecclesiastici und Politici aufs genaueste“ erkundigte.

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Ausland, d. h. dann in den Niederlanden, sich weiterbilden. Diese Zusammenhänge sind bisher nur in zahlreichen Einzelfällen erkannt, sie müssen noch systematisch erforscht werden, wie jüngst die Schicht der Hofprediger im Rahmen der reformierten Hofgesellschaft und Bürokratie durch von Thadden untersucht worden ist. Wie sehr der Kurfürst persönlich hinter solchen Studienplänen stand, zeigt sein Gespräch mit dem bekannten Utrechter Philologen Graevius, der darüber berichtet hat.59 Der Kurfürst unterhielt sich mit ihm über verschiedene Fragen der Wissenschaftsorganisation, auch über seine Sorge um eine neue Universitätsgründung für den Landesteil Magdeburg-Halle gleich seiner Universitätsgründung Duisburg für den westlichen Landesteil. Graevius war schon 1667 beteiligt gewesen an dem nicht ausgeführten Projekt einer Universaluniversität. Diese sollte für die Lehrer und die Lehre aller christlichen Bekenntnisse und aller Weltreligionen offen sein und in Tangermünde an der Elbe erstehen. Der Plan einer Academia Gentium war von Bengt Skytte, dem an niederländischen Universitäten gebildeten Sohn des schwedischen Reichsrats Johann Skytte, für alle libertatis amantes entworfen, die „schuldlos durch ein ,Scherbengericht‘ aus der Heimat verbannt oder von Haus und Hof vertrieben“ sind, wie es in der vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm unterzeichneten Berliner Urkunde vom April 1667 hieß. Die Gründung der Universitas Brandenburgica Gentium, Scientiarum et Artium, die Religionsfreiheit und Steuerfreiheit für die Gelehrten und Künstler vorsah, ist an der Schwierigkeit des Unternehmens, nicht zuletzt wohl auch an der Geldfrage gescheitert.60 Wir haben gesehen, wie die Niederländische Bewegung in Brandenburg unter dem Großen Kurfürsten am Hof, im Beamtentum und auch an den Hochschulen vertreten ist. Einer seiner Historiographen, Martin Schoock (1614 – 1669), vermutlich ein Sohn Utrechts, Professor 59 J. G. Graevius: Luciani Samosatensis Opera, 2 T., 1687. Dedicatio an den Kurfürsten p. 6 v: „In alias artes ingenuas & decus informantur, non minus curae & liberalitatis confers … In tanto numero novam doctrinae liberaliorius officiam Te moliri in Magdeburgensi dioecesi …“ Graevius spricht auch von den großen Kosten, die der Kurfürst „in Bibliotheca locupletanda“ in Berlin aufwendet. 60 Zuletzt darüber C. Hinrichs: Die Idee des geistigen Mittelpunktes Europas im 17. und 18. Jahrhundert, in: Preußen als historisches Problem, Ges. Abh. hg. v. G. Oestreich, 1964, S. 289 – 291. Grundlegend F. Arnheim: Freiherr Benedict Skytte (1614 – 1683), der Urheber des Planes einer brandenburgischen „UniversalUniversitt der Vçlker, Wissenschaften und Knste“, in: Festschrift f. G. Schmoller, 1908, S. 65 – 99.

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für Geschichte an der Landeshochschule Frankfurt, gab die Arcana Imperii (1605) des Tacitisten Arnold Clapmarius mit einer Widmung an die brandenburgischen Geheimen Räte heraus. Noch neben seinem Vater wirkte der Sohn Isaac Schoockius als Professor Ethicae et Politicae (1665 – 1681). Clapmar nun hatte als erster Deutscher erfolgreich an die holländische Staatslehre angeknüpft61, und ebenso deutlich schilderte M. Schoockius in der Vorrede seiner Ausgabe unter dem Titel Politicus Pius die Eigenschaften eines Staatsmannes mit den Worten des Lipsius. Die Definitionen der Constantia und Pietas waren wörtlich übernommen, ohne daß Schoockius seinen Vorgänger nannte. Vor seiner brandenburgischen Tätigkeit war Schoockius von 1638 bis 1664 Professor in Utrecht bzw. Groningen.62 Hier hielt er bereits eine Rede über den Politicus Pius. Das Beispiel zeigt, daß um diese Zeit in den Niederlanden die neustoische Wertlehre von einem Cartesianer vorgetragen wurde, wenn auch ohne Nennung des Urhebers, und daß zweitens diese neustoische Staatslehre auch von der brandenburgischen Landeshochschule verkündet wurde. Verfolgt man dieses Beispiel weiter, kommt man zu der Lehre vom Politicus Pius bei August Hermann Francke, dem Begründer des preußischen Pietismus in Halle.63 Der Nachfolger von Schoockius aber berief sich direkt auf die Historiographen Lipsius und Isaac Vossius, um den auszeichnenden Titel eines brandenburgischen Historiographus zu erhalten. Die Verbindung von Geschichtsschreibung und politischer Lehre als Charakteristikum der Niederländischen Bewegung wird wieder bestätigt. Der Kurfürst diktierte eines Tages seinem Sohn als Maxime den Satz: „Sic gesturus sum principatum, ut rem populi esse sciam, non meam privatam“. Lipsius hatte diesen Ausspruch Hadrians mehrmals zitiert, u. a. auch in seiner Politik und in seinem Fürstenspiegel, der 61 Vgl. über ihn meinen Artikel in NDB III, 1957. 62 Über den Philosophen Sch. Jetzt Dibon, S. 180 ff. und Sassen, S. 133 f. Dibon spricht auf S. 183 vom „véritable Schoock“, der sich in seinen historisch-politischen Schriften offenbare. Zur politischen Lehre seiner Schriften in der niederländischen Zeit vgl. Kossmann, S. 26 ff. Nach unseren heutigen Begriffen ist Schoock politisch unentschieden zu nennen. Der junge Sch. richtete in Deventer als Professor eloquentiae et historiae am Gymnasium Illustre ein Collegium politicum ein. Die Anfänge seiner Biographie des Großen Kurfürsten (bis 1642) sind nicht veröffentlicht worden. Der Text des Clapmarius erschien „magnam partem correctus, auctus et vestigatus“ in Frankfurt/Oder 1668. 63 Diese Auffassung trug Francke in der Einleitung vor zu Johannes Brunnemann: Meditationes sacrae, ed. Samuel Strykius, 1700.

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Auslegung des Panegyricus Plinii. In den Notae zur Politik bemerkte er in seiner Marginalie zu dieser Hadrian-Stelle: „Reipublicae Princeps servit“. Das ist fast wörtlich die Devise Friedrichs II. von Preußen: „Le Prince est le premier serviteur de l’état“. Nachdem ein Jahr zuvor die 40. Auflage der Monita et exempla politica im preußischen Wesel veröffentlicht worden war, erschien 1675 eine letzte Auflage der Opera Omnia des Lipsius im selben Verlag. Sie war dem brandenburgischen Kurprinzen Friedrich vom Verleger gewidmet, der besonders auf die Wichtigkeit der militärischen und politischen Teile hinwies. Die preiswerte Ausgabe sollte einer weiten Verbreitung der Gedanken des Magnus Lipsius dienen. Nicht nur in den Bibliotheken der Magnaten und Gelehrten sollten seine Werke stehen, sie sollten künftig auch in den Händen aller Studenten sein: „Ex officina mea in vulgus exit!“ Noch in der Bibliothek von Goethes Vater stand ein Exemplar dieser Gesamtausgabe. Friedrich I. war von Eberhard Danckelman, dem späteren ersten Minister, erzogen worden, der in den Niederlanden studiert und in Utrecht seinen Lic. jur. erworben hatte. Am Beginn des 18. Jahrhunderts wurde dem neuen Könige Preußens ein zweiter Lipsius-Druck gewidmet. Ein Berliner und ein Wittenberger Verleger brachten eine zweibändige, überreich kommentierte und ergänzte Quart-Ausgabe der lipsianischen Politik heraus unter dem bezeichnenden Titel Theatrum prudentiae elegantioris, um gleichzeitig auf die elegante Jurisprudenz der Niederländischen Bewegung anzuspielen. Im Titelbild trugen vier Säulen symbolisch den modernen Staat. Sie waren für Preußens Stellung und Selbstverständnis charakteristisch: Militia, Justitia, Religio, Politica. Die Fundamente des älteren Gemeinwesens, Gerechtigkeit und Religion, wurden ergänzt durch die moderne Prudentia militaris et togata, Militär und Politik.64 Kurz vor dem Tode des Großen Kurfürsten traf der große Naturrechtsdenker Samuel von Pufendorf, ein führender Kopf der Niederländischen Bewegung, aus Schweden in der brandenburgischen Hauptstadt ein. Er starb in Berlin sechs Jahre später als Hofhistoriograph 64 Der Verfasser dieses großen Kommentars zu Lipsius, wie er zu Grotius und Pufendorf damals üblich war, ist J. F. Reinhardt. In Berlin geboren, hatte R. bei Conring in Helmstedt, Boecler in Straßburg und Graevius in Utrecht studiert. Er wechselte später zwischen brandenburgischen und sächsischen Diensten. Seine bekannteste Leistung ist die Organisation des Dresdener Archivwesens unter August dem Starken. Dazu W. Ohnsorge: Das „kurschsische Archiv“ im Zeitalter des Absolutismus und J. F. Reinhardt, in: Forschungen aus mitteldeutschen Archiven. Kretzschmar-Festschrift, 1953, S. 80 – 103.

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und Geheimer Rat. Sein Schüler Christian Thomasius setzte seine Ideen als bedeutender Lehrer an der neuen preußischen Landesuniversität Halle fort.65 Den Großen Kurfürsten umgab das geistige Klima neustoisch-arminianischen Strebens und grotianisch-naturrechtlichen Denkens. Beide Phasen der Niederländischen Bewegung bilden eine wesentliche Voraussetzung zum Aufstieg Preußens im 18. Jahrhundert. Nicht allein die Dynastie brachte die neue Berufs- und Staatsauffassung nach Brandenburg-Preußen, vielmehr wirkte eine große Schicht von tätigen Ratgebern, von Ministern und Erziehern in diesem Sinne. Zu den besonderen Vermittlern der niederländischen Ideen gehört – gleich den Skyttes in Schweden – das Geschlecht der (ost)preußischen Burggrafen zu Dohna. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte Abraham von Dohna, vertrauter Berater des Kurfürsten Johann Sigismund, die militärische Ausbildung – wie seine Brüder und Vettern – unter Moritz von Oranien erhalten und alle Bildungsmöglichkeiten genutzt.66 Er ist der Verfasser des einzigen erhaltenen Kataloges der Bibliothek des Prinzen Moritz. In seiner eigenen Bibliothek auf seinem ostpreußischen Schloß finden wir fast sämtliche Werke von Lipsius in Einzelausgaben, die Politik und ihre katholische Fortsetzung, die Monita et exempla politica von 1605, die Constantia, die militärischen Werke Militia Romana und Poliorceticon sowie die Ausgaben der römischen Historiker. Aber auch die Schriften von Baudius, Heinsius, Philipp Marnix, Merula, Meteranus, Meursius usw. standen auf seinem Bücherbord.67 Abrahams Bruder Christoph, der an der Universität Heidelberg bei Janus Gruterus studiert hatte, war gleichfalls ein ungewöhnlich begabter Mann. Er zählte 1617 zu den Mitbegründern der berühmten Fruchtbringenden Gesellschaft, die neben ihrer Tätigkeit als Sprachgesellschaft auch moderne politische Ideen und eine protestantische Toleranz in Deutschland 65 Für Pufendorf und Thomasius verweise ich auf die schöne Darstellung beider von E. Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 19634, S. 311 – 370 und 371 – 423, mit der neuesten Literatur. 66 Über ihn und sein Geschlecht jetzt Lothar Graf zu Dohna: Die Dohnas und Schlobitten, in: Grommet-von Mertens: Das Dohnasche Schloß Schlobitten in Ostpreußen, 1963, S. 374 ff. mit Literatur. 67 H. Schellhorn: Bcherverzeichnis der Majorats-Bibliothek Schlobitten, 1858. Die meisten Schriften von Lipsius waren jeweils zusammengebunden, die Exemplare stammten aus den Jahren 1589 – 1607, die Verlagsorte waren Leiden oder Antwerpen. Es handelt sich also um Käufe am Ort, keine Drucke in Deutschland. Die Einsicht in den Buchkatalog verdanke ich der Freundlichkeit Sr. Durchlaucht A. Fürst zu Dohna. Von Abraham Dohna stammt die große Denkschrift zur Neuorganisation des Kriegswesens in Brandenburg 1615.

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vertrat. Bei einer ähnlichen Gesellschaft deuten schon der Name: ,Constantia‘ und die Devise: „Semper constans“ die allgemeine Tendenz an. Mitglieder dieser weltanschaulichen Sprachvereinigungen wurden die Hohenzollern selbst, darunter zwei Kurfürsten, Teile ihres Adels, so der Erzieher des Kurprinzen Friedrich Wilhelm, zwei seiner leitenden Minister, C. von Burgsdorf und O. von Schwerin, dazu die preußischen Dohnas, die märkischen Schulenburgs und Gänse zu Putlitz. Die Fruchtbringende Gesellschaft unterhielt enge persönliche Beziehungen zu dem Kreis um die Oranier sowie zu den holländischen Gelehrten. Der Sohn jenes Christoph von Dohna, Christian Albrecht, ein Vetter der Kurfürstin Luise Henriette, bekleidete am brandenburgischen Hofe eine hervorragende Stellung. Als Gouverneur von Küstrin und Generalleutnant bemühte er sich, den Geist der niederländischen Heeresreform in der jungen brandenburgischen Armee zu stärken. Der Neffe Christophs, Alexander zu Dohna, wurde Oberhofmeister des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, d. h. der Erzieher des sogenannten Soldatenkönigs. Im Wechsel von politischen und militärischen Stellungen, den wir bei fast allen Dohnas feststellen, bewahrte der Feldmarschall das oranisch-niederländische Erbe. Nach der Schilderung des Biographen Friedrich Wilhelms I. beeinflußte er durch peinliche soldatische Gewissenhaftigkeit die zukünftige Haltung des Königs wesentlich.68 Asketisch und methodisch in der Lebensführung, voll ernster Berufstreue, in Selbstkontrolle und Pflichtbewußtsein wurde dieser Dohna zu einem Vorbild des guten preußischen Offiziers. Damit wird die Frage des Militärs in Preußen angeschnitten. In der Organisation, der Disziplin, dem Geist ist die brandenburg-preußische Armee dem niederländischen Vorbild, der späthumanistischen Wissenschaft und der nassauischen Praxis zutiefst verpflichtet. Die Beeinflussung konnte auch hier teils direkt, teils indirekt erfolgen. Die angeführten Beispiele der Dohnas lassen sich vermehren durch die Offiziere des brandenburgischen Heeres, die zuvor in holländischen Diensten gekämpft hatten. Vieles sagt auch die Literatur aus. 1665 erschien zum erstenmal der maßgebende Kommentar zum brandenburgischen Kriegsrecht; sein Verfasser, der Generalauditeur E. Hoyer, berief sich sechsmal auf die Militia Romana des Lipsius, obwohl er sonst nur juristische Literatur anzuführen pflegte. Er schilderte z. B., gestützt 68 C. Hinrichs: Friedrich Wilhelm I. Kçnig in Preußen, I ( Jugend und Aufstieg), 1941, S. 22 ff.

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auf jenes Werk, sehr eindringlich die tiefe religiöse Verehrung der Römer für ihre Feldzeichen. Gustav Adolf hatte die neuen, unter dem Einfluß des Späthumanismus verfaßten holländischen Kriegsartikel von 1590 zur Grundlage der Kriegsartikel für seine Heereskörper genommen. Das schwedische Kriegsrecht wiederum übernahm der Große Kurfürst 1656 für die brandenburgische Armee, deren erstes Exerzierreglement sich direkt auf die holländische Kommandogebung stützte.69 Und für die geistig-moralische Bildung des Offiziers blieb die Literatur der römischen Stoa das hohe Vorbild, wie die militär- und staatswissenschaftlichen Schriften und Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts zahlreich belegen. Ihr Studium bei einer geplanten Untersuchung über das Verhältnis von neuer Staatlichkeit und älterer Militärverfassung im deutschen Absolutismus regte mich erst zu den Forschungen über den niederländischen Späthumanismus an. Der Herausgeber eines jener Riesenwälzer, des Corpus iuris militaris (1723), entwickelte den Plan einer Universalbibliothek vor einen gelehrten Offizier. J. C. Lüning führte darin, natürlich in französischer Übersetzung, die Werke der römischen Stoiker auf: Les œuvres de Sénèque, Les offices de Cicéron, L’esprit de Sénèque, La morale d’Épictète. Noch im dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts galten diese als eine Grundlage der Weltanschauung und Lebensführung des deutschen Offiziers im absolutistischen Heer. Für die Fragen des Kriegsrechts verwies Lüning neben den nicht genannten „Scriptores Juris Gentium“ ausdrücklich auf die Politik des Lipsius und des Frankfurter Professors für Geschichte und Politik J. C. Becman (1681 – 1717). Gewiß, unmittelbar werden die lateinischen Philosophen und Lipsius wohl nur von wenigen preußischen Offizieren und Beamten gelesen worden sein. Doch die schöne Literatur genauso wie das wissenschaftliche Schrifttum der Zeit waren voll von Anspielungen auf dies antike Geistesgut. Nach der stärkeren Verbreitung epikureischer Ideen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde der Stoizismus verengt, verflacht. Vielfach fand sich schon eine platte Weltnützlichkeitslehre vor: nur die praktische Ver-

69 Vgl. C. Jany: Geschichte der Kçniglich Preußischen Armee, I, 1928, S. 161 ff., 175 f., 179. Es handelt sich um das kleine Buch von S. Berndt: Heutige Teutsche Krieges-Waffenhandlung zu Fuß, c. 1654/55, 16662, 16743. In dem Titel Zur Handhabung der Waffen heißt es: „Nach Anweisung des Durchläuchtigen Printzen Mauritzen von Uranien“. Bei Jany weitere zahlreiche Beispiele für die Nachwirkung des holländischen Vorbildes.

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wendbarkeit der Wissenschaft galt, zweckfreie Bildung wurde weithin abgelehnt. Der Weg führte von Lipsius abwärts über Gracián zu dem preußischen Staatsdenker, dem Hallenser Professor Christian Thomasius, der die deutsche Aufklärung anführte. Ihn schätzte Friedrich Wilhelm I. ungemein. Der König lehnte jede philosophische Spekulation ab, mit seinem praktischen Verstand mochte er ihr auch nicht folgen können. Er ahnte kaum die tieferen humanistischen Grundlagen, auf denen er sein politisches Werk, die Verwaltungsorganisation, das Beamtentum und das Heer, aufbaute. Für ihn wurde vielmehr der auf dem religiösen Erlebnis ruhende, zur Tätigkeit aufrufende Pietismus zur seelischen Stütze. Auch diese politisch-soziale Reformbewegung der lutherischen Kirche hatte gewiß ebenso wie der Puritanismus in England bereits Impulse vom Neustoizismus erhalten und sich anverwandelt. Die gewaltige pädagogische Kraft, das Gefühl der strengen Verantwortung, der Wille zum aktiven Einsatz und zur beständigen Arbeit, die methodische Übung und ständige Selbstkontrolle, der Kampf gegen jede falsche moralische Sicherheit, die Mahnung zur Mäßigung, Selbstbeherrschung und Askese waren allen Bewegungen gemeinsam. In ihnen drängten die „bürgerlichen“ Tugenden nach vorn, die auch Friedrich Wilhelm I. anzogen. Sie pflegte er nach der Einordnung des Pietismus in seinen Staat in allen Bereichen. In der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle „sind die Werke des großen Niederländers Lipsius in zahlreichen Ausgaben vertreten“, stellte die jüngste Biographie über den Begründer des preußischen Pietismus, August Hermann Francke, fest. Der Verfasser weist auf drei Ausgaben der Constantia und sieben der Politica hin.70 Francke kannte die Niederlande persönlich, er wurde auch durch 70 E. Beyreuther: August Hermann Francke und die Anfnge der çkumenischen Bewegung, 1957, S. 298 f. Eine neue Zusammenstellung aller in der Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen vorhandenen Schriften von Lipsius, die insgesamt in 53 Ausgaben vertreten sind, verdanke ich der freundlichen Mühewaltung des Leiters des Archivs der Franckeschen Stiftungen, Herrn J. Storz. Danach ergeben sich einige Korrekturen der Angaben von Beyreuther. Die Constantia ist 5mal, die Monita et exempla sind 3mal vorhanden, in Übersetzung je 1mal. Die Daten dieser Ausgaben, auch der Politik, stimmen bei Beyreuther nicht. Die Monita sind 1605 zum erstenmal erschienen, es kann also keine Auflage von 1590 existieren. Die Opera Omnia von 1637 und 1675 sowie andere Gesamtausgaben sind gleichfalls vorhanden. Es fehlen eigenartigerweise die beiden Darstellungen der Stoa vom Jahre 1604. Die große Anzahl der Lipsiana, darunter auch manche in Bibliographie Lipsienne nicht aufgeführte, erklärt sich z. T. durch den Erwerb der Bibliothek eines holländischen Theologen. – Die bür-

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den Herzog Ernst den Frommen von Gotha, dieses Muster eines fortschrittlichen Landesherrn, auf die späthumanistische Gedankenwelt hingewiesen. Hatte doch der Herzog den Sohn seines Rates Seckendorff, Veit Ludwig, in Straßburg bei Johann Heinrich Boecler studieren lassen. Seckendorff, der Verfasser von zwei sehr bedeutsamen Schriften zur deutschen Staatsbildung, wurde wiederum der erste Kurator der neuen preußischen Universität Halle. Alle diese Zusammenhänge sind in ihrer Bedeutung für die Vermittlung niederländischen Geistesgutes noch gar nicht untersucht. Ich kann daher auf diesen Forschungsfeldern nur Aphorismen bieten. Als die kirchliche und schulische Bewegung des Pietismus eine größere soziale Unterlage gewann, konnte die Erziehung zu Fleiß und Leistung in Brandenburg-Preußen in breiteren Schichten wirksam werden. Die Träger der nun gesellschaftlich sich umstrukturierenden Niederländischen Bewegung, die humanistisch Gebildeten in Adel und Bürgertum, in Bürokratie und Offizierskorps, waren im 18. Jahrhundert nicht mehr zahlreich genug, um den personellen Engpaß zu überwinden. Neue Schichten rückten in die wachsende Staatsverwaltung und die aufblühende Wirtschaft ein. Für sie schuf Friedrich Wilhelm als erster europäischer Monarch besondere staatswissenschaftliche Lehrstühle an seinen Universitäten, die 1727 begründeten Professuren für Ökonomie, Polizei und Kammersachen, wobei unter Polizei damals die innere Politik überhaupt zu verstehen ist. Gegenüber der überragenden Rolle der humanistischen Philologie und Philosophie im Studiengang während der historisch-politischen Phase der Niederländischen Bewegung ließ also der Anteil der Philologen entschieden nach. Die naturrechtliche Staats- und Rechtskultur der zweiten Phase der Niederländischen Bewegung wurde in Preußen ergänzt durch die staats- und wirtschaftspädagogische Wirksamkeit und die alle Berufe erreichende Tätigkeit der pietistischen Pfarrer und Lehrer. Noch in der Zeit Friedrich Wilhelms I. finden wir auch interessante Bezüge auf die römische Stoa. Der König ließ das Kriegsreglement des Spaniers Sala y Abarca übersetzen und jedem Offizier ein Exemplar überreichen. Der Geist der stoisch-naturrechtlichen Vorrede des Verlegers wurde durch die Embleme des Titelkupfers bestätigt: Auf der mit gerlichen Züge im Werk Franckes haben C. Hinrichs in mehreren Arbeiten und K. Deppermann herausgearbeitet. Sie werden besonders stark in der marxistischen Geschichtsschreibung betont, wofür ich nenne A. H. Francke: Festreden und Kolloquium aus Anlaß der 300. Wiederkehr seines Geburtstages 22. Mrz 1963, Hallesche Universitätsreden, 1964.

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Regimentsfahnen und Waffen geschmückten Säule prangte das Bild des Monarchen, zu Füßen der schwarze Adlerorden mit der römischrechtlichen Devise „Suum cuique“. Auf der Tafel davor stand in großen Lettern die Sentenz: „Omnis in ferro est Salus. Seneca“. Der Zusammenhang der kriegerischen Moral Preußens mit der römischen Philosophie war noch einmal deutlich. Der neunjährige Prinz hatte einst über das Kriegswesen gesagt, es sei die Basis des Staates. Nun wurde der Satz Senecas, das Wohl des Staates ruht auf seinen Waffen, gleichsam zur Devise Preußens. Der Verleger erläuterte sie aber einschränkend: Seneca sei nur so zu verstehen, „daß die Verfassungen, welche zum Kriege gehören, wenn sie recht eingerichtet sind, dem gemeinen Wesen wichtigen Vorteil bringen“. Keineswegs müsse zu allen Zeiten Krieg geführt werden. Diese Auslegung war ganz im Sinne des Königs, der seine wachsende Kriegsmacht nicht mehr einsetzte. Blinder Gehorsam und jede Brutalität werden vom Verfasser abgelehnt, williger Gehorsam, Tugend, Verstand und Wissen gefordert. Gewiß lag in diesen Worten mehr das Ideal als die Wirklichkeit des preußischen und überhaupt des europäischen Heeres jener Zeit! Wer jetzt in voller Kenntnis des niederländischen Späthumanismus die vom preußischen „Kultusminister“ Fuchs 1695 entworfene Vorschrift für die Erziehung des Kurprinzen Friedrich Wilhelm noch einmal studiert und den Unterricht des Erziehers Rebeur verfolgt, stellt bestimmte Einwirkungen dieser Richtung fest. Die beiden holländischen Bildungsreisen bedeuteten wenig für die geistig-wissenschaftliche Entwicklung des Kronprinzen, aber viel für seine persönliche Lebensführung, das wirtschaftlich-bürgerliche Interesse, das seine Herrschaft charakterisiert. Und sein Biograph Hinrichs schildert die Nachwirkung der Reisen: „Für ihn war Holland nicht mehr (wie für den jungen Kurfürsten Friedrich Wilhelm) das schmerzliche Erlebnis von Blüte gegen Verfall, von Macht gegen Ohnmacht, nicht so sehr ein Erlebnis der politischen Bildung, sondern der äußeren Gesittung und Kultur. Diese waren ihm vom gemeinsamen protestantisch-puritanischen Boden her so gemäß, daß holländisches Wesen ein Element des von ihm begründeten preußischen Militärstaates werden sollte.“ Der bedeutendste Mitarbeiter und Vertraute des Königs war sein langjähriger Minister Friedrich Wilhelm von Grumbkow. Er war der letzte Generalkriegskommissar, dessen Amt aufgehoben wurde, und der neue Chef im 1. Departement des Generaldirektoriums, der 1723 begründeten obersten Behörde Preußens, die die älteren Zweige der ländlichen und der städtischen Steuerverwaltung und Wirtschaftspflege

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vereinigte. Grumbkow, in sittlicher Auffassung dem Könige so vielfach entgegengesetzt, hatte in den Niederlanden in Utrecht und Leiden studiert. Die Instruktion für den ihn begleitenden Hofmeister forderte das Lesen der Zeitungen und der kleinen Bücher, „so in Holland von Zeit zu Zeit heraufkommen und mit schönen politischen Reflexionen angefüllet sind“.71 Der Verfasser der Instruktion war der Stiefvater Grumbkows, der Geheime Rat Franz Meinders, der selbst in der Straßburger Lipsius-Schule studiert hatte. Sollte er sich nicht aus seiner Studienzeit an die Taschenbücher der Res publicae-Serie Elzeviers erinnert haben? An den preußischen Universitäten wurden die naturrechtlichen Lehren im Gewande einer gemäßigten Staatsallmacht vorgetragen. Die spezifische Bedeutung von Hugo Grotius für das Rechts- und Staatsdenken Preußens ist noch zu wenig erforscht worden.72 Daß aber Cocceji und Thomasius, Heineccius und Wolff unter dem beherrschenden Einfluß des Niederländers standen, zeigt jeder Blick in ihre Werke. Das wird auch von der neueren Forschung bestätigt.73 Die vollständige Publikation der Vorträge, die der Schöpfer der großen Rechtskodifikation des Allgemeinen Landrechts von 1794, Svarez, dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm (III). 1791/92 gehalten hat, läßt die

71 Die Instruktion für das Studium in Leiden bei A. Strecker: Franz von Meinders, 1892, S. 145 ff. Punkt 13 S. 149. 72 W. Dilthey hat als erster das preußische Naturrecht im Zusammenhang geschildert, vornehmlich als Voraussetzung zum Allgemeinen Landrecht von 1794. Dilthey: Das Allgemeine Landrecht, in: Schriften, XII, 1936, S. 131 – 204, Kap. II (Das Preußische Naturrecht). H. Thieme: Die Zeit des spten Naturrechts, in: Zs. Sav. Stift. Rechtsgesch., Bd. 56 (1936); ders.: Die preußische Kodifikation, ebda, Bd. 57 (1937). 73 Neben den Darstellungen bei E. Wolf (Anm. 65) vgl. die Arbeiten von E. Reibstein: Von Grotius zu Bynkerhoek, in: Arch. d. Völkerrechts, Jg. 4 (1953/ 54), S. 1 – 28. Hier der wichtige Hinweis auf die Neuausgabe von U. Hubers Hauptwerk De jure Civitatis, Halle 1708, durch Christian Thomasius. Thomasius sah überhaupt alles Licht der Wissenschaft aus Holland kommen. Ferner ders.: Deutsche Grotius-Kommentatoren bis zu Christian Wolff, in: Zs. f. ausl. öff. Recht und Völkerrecht, Bd. 15 (1953/54), S. 76 – 102. Der Übergang Wolffs von der theoretischen zur praktischen Philosophie stand ganz im Zeichen von Grotius, dessen Hauptwerk er zu diesem Zeitpunkt (1734) neu herausgab. Zu Heineccius: Reibstein (Anm. 34).

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Bedeutung des späten Naturrechtsdenkens für die früh einsetzende Entwicklung Preußens zum modernen Rechtsstaat deutlich werden.74 Auch die Toleranzpolitik, die seit dem Großen Kurfürsten ein Kennzeichen des preußischen Staates war, muß im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Niederländischen Bewegung gesehen werden. Gewiß weisen die kirchliche Lage der von drei Konfessionen, Lutheranern, Katholiken und Reformierten, bevölkerten Länder und das merkantilistische Machtstreben auf eine gewisse Duldung hin. Aber nicht nur die Staatsräson und die Wirtschaftsräson haben ihren Anteil an der Beschützung zahlreicher protestantischer Sekten, sondern auch das holländisch-späthumanistische Vorbild und die naturrechtlichen Lehren. Dabei mußten sich die Fürsten und ihre Ratgeber gegenüber den unduldsamen Ständen durchsetzen, die auch jede Unionspolitik der einzelnen Hohenzollern ablehnten. Die starken Neigungen für das anglikanische Kirchenwesen bei den Einigungsversuchen unter Friedrich I. erinnern an die Sympathien des Grotius. Während noch in anderen deutschen Staaten der Landesherr das Reichsrecht der alleinigen Konfessionsbestimmung in Anspruch nahm und Andersgläubige vertrieb, herrschte schon seit jenem Projekt einer welttoleranten Universaluniversität und dem Potsdamer Edikt konfessionelle Freiheit. Die Hugenotten verstärkten das calvinistische Element in Preußen; ihre Gelehrten aber führten älteres Kulturgut mit sich – auch aus der Zeit des Neustoizismus in Frankreich, wie die Geschichtsschreibung eines Antoine de Teissier beweist, der zum Hofhistoriographen Friedrichs I. ernannt wurde. Manuskripte seiner Werke befanden sich in der Bibliothek der Grafen von Dohna. Der Erzieher Friedrichs des Großen, Duhan de Jandun, nahm seinen Weg über das Haus des Grafen Alexander von Dohna. Ob er den Kronprinzen mit den Stoikern bereits bekannt gemacht hat, ist nicht zu erweisen. Jedenfalls wird für Friedrich II. die heidnisch-antike Stoa wieder zur Lebensauffassung. Eduard Spranger erklärt zum Schluß seiner grundlegenden Untersuchung über die Philosophie des Königs: „Die stoische Seelenhaltung erweist sich also als das letzte, wozu der Philosoph von Sanssouci gelangt. Aber er spürt selbst, daß dieser Stoizismus eben für das letzte nicht zulangt“.75 Die Wendung von Seneca zu 74 H. Conrad und G. Kleinheyer (Hg.): Vortrge ber Recht und Staat von Carl Gottlieb Svarez (1746 – 1798), 1960. Außer den Schriften der beiden Herausgeber auch E. Wolf, S. 146, Anm. 81: Carl Gottlieb Svarez, S. 424 ff. 75 E. Spranger: Der Philosoph von Sanssouci, 1942, S. 32.

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Marc Aurel, dem Lieblingsphilosophen des Königs, bedeutete dabei für den Philosophe stoïcien wohl die persönliche Wendung von der religiösen pietas zur mehr philosophischen humanité. Daß er indirekt auch dem Neustoizismus verpflichtet war, wußte er nicht mehr. Vielmehr machte er gerade die lateinische Gelehrtensprache des Späthumanismus für die Nicht-Ausformung der deutschen Sprache und für die Unbildung der Masse verantwortlich. Dabei nannte er ausdrücklich Lipsius, Freinsheim, Gronovius und Graevius.76 Im ersten Regierungsjahr Friedrichs las der hochgeachtete Kanzler der Universität Halle, J. P. Ludewig, ein politisch-kameralistisches Kolleg. In ihm empfahl er des Lipsii Politica. Sie „ist unvergleichlich und wird von vielen ministren als ein Handbuch gebraucht; indessen enthält es doch nur generalia“.77 Welche Minister meinte der über den Hof wohlunterrichtete Professor? Rechnete er den vorhin erwähnten Grumbkow unter sie? Über 150 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen wurde die Politik des Lipsius gelobt – von einem führenden Vertreter der preußischen Universität Halle, die mit 1500 Studenten gerade die höchste Frequenz einer deutschen Hochschule im 18. Jahrhundert erreichte. Zehn Jahre später erlebte das Werk noch zwei lateinische Auflagen in Wien. Die tiefe Wirkung der Niederländischen Bewegung ist also wie in anderen europäischen Staaten auch in Brandenburg-Preußen zu verfolgen, wenn wir dies zunächst auch nur auf einigen Gebieten des Staats- und Rechtslebens verdeutlichen konnten. Was bedeutet dies? Die neu ausgezogenen Verbindungslinien zwischen den Niederlanden 76 ber die deutsche Literatur (1780), in: Die Werke Friedrichs des Großen, VIII, 1913, S. 97. Friedrich sprach von den urteilslosen Pedanten, den „schwerfälligen Wiederkäuern einiger dunkler Phrasen, die sie in den alten Handschriften fanden“. Vielleicht handelte es sich um Reminiszenzen aus seiner Jugenderziehung. Duhan de Jandun dürfte diese Gelehrten geschätzt haben. Daß Freinsheim erwähnt wird, deutet etwas auf die Politik-Ausgabe des Lipsius hin, die Freinsheim 1641 nach der Einrichtung seines Schwiegervaters Matthias Bernegger, des Begründers der Straßburger Lipsius-Schule, herausbrachte. Sie erlebte 1704 eine vierte Neuauflage. Doch die Frage, ob Friedrich die Politik des Lipsius kennengelernt hat, wie W. Hubatsch: Das Problem der Staatsrson bei Friedrich dem Großen, 1956, S. 16 f. in Fortführung meiner Arbeiten annimmt, kann bisher nicht beantwortet werden. 77 Aus einem Kollegheft des späteren Göttinger Professors für Natur- und Völkerrecht und Politik G. Achenwall. U. B. Göttingen, Hs. Abtl. Nachl. Achenwall 210 a, Nachschrift von Joh. Pet. Ludewig, Erluterung zu des Herrn von Seckendorff Teutschem Frstenstaat. Halle 1741, § 3.

Justus Lipsius und der politische Neustoizismus in Europa

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und Brandenburg-Preußen überraschen gewiß. Vom 18. Jahrhundert aus gesehen erscheinen sie willkürlich und unlogisch. Das lockere föderative Gebilde der bürgerlich-republikanischen Niederlande, das seine Weltgeltung an England abgetreten hatte, und der auf Vereinheitlichung drängende monarchische Militärstaat, der eine Stellung unter den europäischen Mächten erringen will, haben auf den ersten Blick nichts miteinander gemein. Können diese beiden so verschiedenen politischen Körper doch durch die neustoisch-naturrechtliche Strömung verbunden sein? Im Brandenburg-Preußen des Jahrhunderts von 1640 bis 1740 herrschte eine starke bürgerliche Tendenz. Sie erscheint weniger bei dem höfisch-barocken Glanz eines Friedrichs I., wird aber deutlich bei dem Großen Kurfürsten und Friedrich Wilhelm I. Gerade der „Soldatenkönig“ schätzte bürgerliche Eigenschaften. Der Zuschnitt seiner Lebensführung und seines Hofes war bürgerlich, so auch die ganz unhöfische Deftigkeit seiner Späße und Vergnügungen im Tabakskollegium, seine Förderung der städtischen Finanzkraft, die teilweise brutale Domestizierung des Adels. Neben dieser zutiefst bürgerlichen Lebensauffassung stand bei ihm die alles überragende Sorge für das Militär, um durch eine übergroße Rüstung die in der Mitte Europas weit auseinanderliegenden Staatsteile zu schützen. Das Ansehen des verachteten Heeres sollte mit einer Riesenanstrengung gefestigt werden. Der Monarch konzentrierte das Sozialprestige beim einheimischen Offizier, beim domestizierten Schwert- und Dienstadel. In der Staatswirtschaft rangen die bürgerlich-kaufmännischen und die staatlich-reglementierenden Tendenzen miteinander. Nicht der am holländischen Vorbild sich orientierende Kammerpräsident Hille siegte dabei, sondern der strenge Staatsmerkantilist Reinhardt.78 Diese Entscheidung gegen die Förderung des Handels und des Großkaufmannsstandes scheint mir für das Wachsen des Geistes staatlicher Bevormundung und Lenkung in Preußen von nicht geringer Bedeutung zu sein. Die absolutistische Staatsgesellschaft blieb ohne das Gegengewicht eines starken Großbürgertums. Der Monarch forderte die militärische Disziplin schließlich von seinem Beamtentum. „Ich habe Kommando bei meiner Armee und soll nit Kommando haben bei die tausend sakramentsche Blakisten (Tintenkleckser)!“ Die königliche Verwaltung, die ständische Gesell78 C. Hinrichs: Hille und Reinhardt, zwei Wirtschafts- und Sozialpolitiker des preußischen Absolutismus, in: Preußen als historisches Problem. Ges. Abh., hg. von G. Oestreich, Berlin 1964, S. 161 – 170.

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schaft und die vom Staat entwickelte und gelenkte Wirtschaft standen weithin, wenn auch nicht ausschließlich, im Dienste des Unterhaltes der Armee. Welch anderes Bild bieten die Niederlande in jener Zeit! Dank der finanziellen Kraft ihres Handelskapitalismus und Kolonialeinkommens konnten die Generalstaaten jeden Einfluß des Militärs auf Staat und Gesellschaft verhindern. Die Regenten besaßen alle notwendigen Mittel ohne Änderung des politischen Gefüges und der sozialen oder ökonomischen Struktur. In den klassischen Ländern des kontinentalen Militarismus, in Frankreich und in Preußen, haben die aus der Militärverwaltung stammenden Sonderbeamten, die Intendanten und Kriegskommissare, schließlich die bürgerliche Initiative, die sie wecken wollten, durch ihre Reglementierung ökonomisch und politisch erstickt. In Preußen wurde das Militär aus dem dienenden Stand zum herrschenden Faktor. So blieb Holland im 18. Jahrhundert vor jeglichem Militarismus bewahrt, während in Brandenburg-Preußen die Forderung nach einem starken, allzeit gerüsteten Staat und einem militärischen Berufsstand zur politischen und sozialen Erscheinung des monarchischen Militarismus führte. Dennoch ist in Brandenburg-Preußen und in vielen anderen europäischen Staaten der Einfluß der historisch-politischen Schule der Niederländischen Bewegung nicht zu leugnen. Nur haben die jeweiligen allgemeinen Landes-Bedingungen, auf die diese Lehren trafen, und die handelnden Persönlichkeiten sehr verschiedene politisch-militärische Gebilde erstehen lassen. So nur möchte es zu erklären sein, daß im Zentrum der historisch-politischen Schule, in den Niederlanden selbst, eine Nachwirkung über die Mitte des 17. Jahrhunderts am wenigsten zu spüren ist. Die Magistratenfamilien der holländischen Städte nahmen den Geist der straffen Ordnung, der mit der modernen Staatlichkeit verbunden war, nicht auf, während die europäischen Beamten der fürstlichen Verwaltungen ihren eigenen Aufstieg mit dem des modernen Staates aufs engste verknüpften. Denn nicht allein um die Monarchie und die Unterweisung des Monarchen ging es in dieser Literatur, sondern um die Grundlagen eines jeden Gemeinwesens, welcher Staatsform es auch sei.79 Das Ziel war der moderne Staat.

79 Hierzu vgl. die Selbstinterpretation von Lipsius: Ad libros Politicorum Breves Notae, 1591. Vorspruch: „Nam etsi proprie de Principatu agimus & eius instructio mihi scopus: tamen & librorum prior pars velut comune pqoa¼kiom ad quamque Remp. est: passim praecepta ad omnem Civilem vitam“.

Das Leben als Krieg Eine Leitmetapher bei Seneca und Lipsius* von Andreas Urs Sommer … es ist aber bei weitem das Wichtigste, dass man Metaphern zu finden weiss. Denn dies ist das Einzige, das man nicht von einem andern erlernen kann, und ein Zeichen von Begabung ist. Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, dass man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag. Aristoteles: Poetik 1459a.

Metaphern sind lebensprägend und wirklichkeitsgestaltend. Dies freilich stimmt Philosophen gewöhnlich misstrauisch. Denn ihnen ist es meist um die Klarheit des Begriffs, die Eindeutigkeit der Wahrheit, die Unbeirrbarkeit der Vernunft zu tun. Metaphern jedoch verunklaren den Begriff, machen Wahrheit vieldeutig und führen die Vernunft in die Irre. Entsprechend wäre zu erwarten, dass die als rationalistisch charakterisierte Philosophie der Stoa sich in hohem Maße metaphernasketisch gibt oder Metaphern doch nur zu pädagogischen Zwecken, als Propädeutik des Begriffs einsetzt. Karl-Hermann Rolke stellt in seiner Monographie zu den „bildhaften Vergleichen“ in der Alten Stoa1 heraus, dass die Philosophen von Zenon bis Panaitios sich strenge Disziplin im Gebrauch von Metaphern auferlegt haben: Dieser Gebrauch ist rein funktional gesteuert, so sehr das Repertoire der Metaphern auch in die Breite geht. „Schon ein flüchtiger Überblick über die behandelten Einzelbilder zeigt, daß die stoische Bildersprache frei von eigentlich poetischen Zügen ist. Sie appelliert im allgemeinen auch

1

* Dieser Beitrag beruht auf: Andreas Urs Sommer: Vivere militare est. Die Funktion und philosophische Tragweite militrischer Metaphern bei Seneca und Lipsius, in: Archiv für Begriffsgeschichte 43, 2001, S. 59 – 82. Wer theoretische Erörterungen zur Metaphorologie im vorliegenden Text vermisst, wird sie dort finden. Karl-Hermann Rolke: Die bildhaften Vergleiche in den Fragmenten der Stoiker von Zenon bis Panaitios, Hildesheim / New York 1975.

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nicht an das Gefühl; die Bilder regen nicht eine Vielfalt von Assoziationen an, die oft ein gefühlsmäßiges Verstehen in einer viel tieferen Schicht des Bewußtseins ermöglichen als eine theoretische Darlegung: dieses intuitive Element, das besonders die platonischen Mythen auszeichnet, findet sich ganz selten in der stoischen Bildersprache“.2 So spricht Rolke von der demonstrativen und von der illustrativen Funktion der bildhaften Vergleiche in der altstoischen Lehrpraxis. Wenn der Vergleich etwas demonstrieren soll, dann muss freilich das Demonstrandum nach Maßgabe der stoischen Logos-Orientierung möglichst umgehend rational eingeholt, das Bild in Begriff übersetzt werden. Wenn der Vergleich etwas illustrieren soll, dann ist von vornherein der Begriff die Hauptsache, zur der sich das Bild nur um des mnemotechnischen Effektes willen hinzugesellt. Folgt man Rolke, dann bedienen sich die Autoren, die in den von ihm als Materialbasis zugrunde gelegten Stoicorum Veterum Fragmenta zu Wort kommen, zwar eines breiten metaphorischen Repertoires. Aber dieses Repertoire verrät doch keine poetisch-metaphorische Tiefendimension des stoischen Denkens jenseits begrifflicher Festschreibung – eine Tiefendimension, die sich demgegenüber im metaphorischen Sprechen der Platonischen Mythen sehr wohl ausmachen lässt. Rolke unterteilt seine Topologie der bildhaften Vergleiche in den „Bereich des Menschen“ und den „Bereich der Natur“ und fügt noch einen Abschnitt zu den „Abstrakta“ Rechtzeitigkeit und Raum an. Dabei zeigt sich, dass die Stoiker zwar aus vielen Gebieten des menschlichen Lebens und der außermenschlichen Welt Metaphern beziehen. Jedoch hat der Leser – zumal Rolke minutiös die Abhängigkeit der stoischen Metaphernwahl von älterer philosophischer Überlieferung nachzeichnet – erhebliche Mühe, typisch stoische Metaphern zu identifizieren. Offensichtlich sind die von den älteren Stoikern verwendeten bildhaften Vergleiche über weite Strecken Gemeingut aller hellenistischen Philosophenschulen. Angesichts der Logos-Orientierung wird die fehlende Originalität in der altstoischen Metaphernprägung auch nicht überraschen. Metaphern sind da eben protreptisch hilfreiches, aber eigentlich lästiges Beiwerk zur Arbeit am Begriff. Dieser Befund lässt zunächst die metaphorologische Arbeit am stoischen Denken als wenig erkenntnisträchtig erscheinen. Aber dieser Schluss könnte vorschnell sein – nicht nur, weil sich seit Hans Blu2

Ebd., S. 500.

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menbergs 1960 erstmals erschienenen Paradigmen zu einer Metaphorologie 3 die philosophische und philosophiehistorische Metaphernforschung zu einem eigenständigen Forschungsgebiet entwickelt hat, das im Wçrterbuch der philosophischen Metaphern jüngst eine eindrückliche Konsolidierung fand.4 Vielmehr scheint gerade die stoische Philosophie in ihren späteren Entwicklungsphasen einen Metaphernschatz anzuhäufen, der sie einerseits von anderen Philosophien markant unterscheidet, der andererseits auch ein Anzeichen für die Auflösung eines strikten, im Kern metaphernfeindlichen Rationalismus zu sein scheint, für den prinzipiell jede philosophische Aussage nicht nur in Begriffe übersetzbar ist, sondern in Begriffen optimal ausdrückt wird. Das Metaphernfeld, dem ich mich hier zuwenden will, zeichnet gerade aus, dass es nicht einfach terminologisch aufgelöst werden kann: Für die Metapher „Leben als Krieg“ ist charakteristisch, dass sie sich gegen die Übersetzung in nichtmetaphorische Begriffssprache einigermaßen resistent erweist. Militärische Metaphern werden zur Charakterisierung des Weltgeschehens bereits bei den Vorsokratikern, vor allem bei Heraklit und Empedokles herangezogen.5 Dass Erkennen als ein nicht zu schlichtender Krieg konkurrierender Urteile zu begreifen sei und daher wohl unmöglich bleibe, wird im Pyrrhonismus zumindest erwogen.6 Hingegen wird das militärische Metaphernfeld erst mit der römischen Inkulturation der Stoa ethisch besetzt – was zu allerlei Spekulationen über spätgriechische Irenik und römischen Bellizismus Anlass geben könnte. Vertraut man Rolkes Untersuchung der bildhaften Vergleiche von Zenon bis Panaitios, so spielen militärische Vergleiche in der älteren Stoa keine Rolle. Unter dem Obertitel der Athletik kommen gerade mal Bogenschiessen und Fechten vor,7 ansonsten gibt sich die altstoische Metaphorik auch in ihrer Bildwahl entschieden friedliebend. Militärische Metaphern begegnen erst im Schriftenkorpus Senecas auf Schritt und Tritt. „Er spricht mit Begeisterung von Schlachten, Belagerungen, Festungen, vom Lagerleben, Gehorsam, von der Treue 3 4 5 6 7

Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main 1999. Wçrterbuch der philosophischen Metaphern, hg. von Ralf Konersmann, Darmstadt 2007. Dazu ausführlich Andreas Urs Sommer: Streiten, in: Wçrterbuch der philosophischen Metaphern, hg. von Ralf Konersmann, Darmstadt 2007, S. 432 – 443, hier S 433 f. Ebd., S. 436. Rolke: Die bildhaften Vergleiche, S. 86 f. und 88 f.

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und Zeltgemeinschaft, kurz, von allen Tätigkeiten und Begriffen des Kriegswesens, während für Epiktet das Soldatische eine fremde Macht vertritt, die Schrecken verbreitet.“8 Epiktet zieht Spielmetaphern entschieden vor und sieht seinen göttlichen Befehlsgeber eher als Sportlehrer denn als Feldherrn.9 Dem einzigen Feldherrn unter den römischen stoischen Philosophen, Marc Aurel, kommen Eroberungsgelüste (mitsamt seinen eigenen Eroberungen) mitunter reichlich kindisch vor.10 Er lässt sich von der Umgebung, in der er seine stoischen Exerzitien vollzieht,11 dem Heerlager im Donauraum,12 nicht zu einem übermässigen Gebrauch militärischer Metaphorik verleiten. Zur Erklärung der metaphorischen Präferenzen Senecas mag man sich mit einem pauschalen Hinweis auf einen diffus bleibenden ,römischen Militarismus‘ behelfen. Aber ist nicht gerade Senecas Philosophie der individuellen Selbstgestaltung aller ,obrigkeitlichen‘ Disziplinierung und militärischen Instrumentalisierung des einzelnen Menschen aus ,Staatsräson‘ prinzipiell entgegengesetzt? Zwar wäre Seneca in seiner Position als Prinzenerzieher und danach als regierender Minister von Kaiser Nero ex officio beinahe dazu prädestiniert gewesen, dem Imperium ein ideologisches Korsett auf den Leib zu schneidern.13 Wie auch immer man Senecas persönliche Integrität im Dunstkreis der Macht beurteilt, wird man nicht einmal seinem Fürstenspiegel für Kaiser Nero – der um 55 n. Chr. entstandenen Schrift De clementia – vorwerfen können, es werde darin das Ideal eines Herrschers propagiert, der die Menschen nur als Mittel, nicht als Zweck betrachtet. Auch der Kaiser

8 Gerhard Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547 – 1606). Der Stoizismus als politische Bewegung [1954], hg. und eingeleitet von Nicolette Mout, Göttingen 1989, S. 67, im Blick auf Seneca unter Berufung auf Otto Regenbogen: Seneca als Denker rçmischer Welthaltung, in: Die Antike 12, 1936, S. 107 – 130, hier S. 113 f. und 122. 9 Epiktet / Arrian: Diatriben I 24, 1 ff. 10 Vgl. Marc Aurel: Selbstbetrachtungen X 10. 11 Zum Charakter der Selbstbetrachtungen als Exerzitien erhellend Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit. Aus dem Französischen von Ilsetraut Hadot und Christiane Marsch, Frankfurt am Main 2 2005, S. 69 – 98. 12 Marc Aurel: Selbstbetrachtungen I 17, 23 und II 17, 5. 13 Vgl. Miriam T. Griffin: Seneca. A Philosopher in Politics, Oxford 1976, S. 129 – 171 („ideology for a new regime“).

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hält sich nach Seneca mit Vorteil an die naturae lex, hat diese ihn doch eingesetzt.14 Wie aber verträgt sich das jungstoische Individualitätspathos, das Pochen auf Autonomie und Souveränität des Einzelnen mit der Uniformierung der Individuen in einer mittels Disziplinierung zur Homogenität gezwungenen Gruppe, sei sie nun ein Staatswesen oder sei sie ein militärischer Verband? Ist die stoische Freiheit zur Selbstgestaltung nicht jeder Kollektivierung prinzipiell abhold, und hat die stoische Philosophie, wenigstens in ihrer kaiserzeitlichen Phase, nicht einen starken Rückzugscharakter? Als Antwort auf diese Fragen reicht es nicht, auf die Schuldifferenz zwischen Stoa und Epikureismus hinzuweisen, derzufolge sich der Stoiker im Unterschied zum Epikureer stets politisch engagiert und sich um das bonum commune tatkräftig sorgt. Im Falle des kaiserzeitlichen und vielleicht auch des früneuzeitlichen Stoizismus15 haben wir es mit Philosophien zu tun, die nicht so sehr auf einem elaborierten Begriffssystem (wie die ältere und mittlere Stoa), sondern auf Metaphern sowie auf der rhetorischen Überzeugungskraft ihres Gebrauchs ruhen. Diese Vernachlässigung des philosophischen Systembaus ist es, was die traditionelle Philosophiegeschichtsschreibung mit Geringschätzung gerade auf Seneca hat blicken lassen, den sie gern der Philologie überliess. Indessen: Nur als Begriffsphilosophie betrachtet, ist die jüngere Stoa armselig und von rein antiquarischem Belang. Nimmt man sie hingegen als rhetorisch formierte Philosophie 14 Lucius Annaeus Seneca: De Clementia I 19, 1 – 2 (Neue Gliederung von Manfred Rosenbach: III 17, 1 – 2). 15 Dazu vgl. – pars pro toto – Günter Abel: Stoizismus und Frhe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin / New York 1978, sowie die Beiträge in: Le stocisme au XVIe et au XVIIe sicle. Le retour des philosophies antiques  l’ffge classique, hg. von Pierre-François Moreau, tome 1, Paris 1999, namentlich auch den Einleitungsaufsatz des Herausgebers: Pierre-François Moreau, Les trois tapes du stocisme moderne, ebd., S. 11 – 28. Die politische Relevanz des Neustoizismus arbeitet – abgesehen von Gerhard Oestreich und seinen Schülern, darunter namentlich Karl Siedschlag: Der Einfluss der niederlndisch-neustoischen Ethik in der politischen Theorie zur Zeit Sullys und Richelieus, Berlin 1978 – Quentin Skinner: The Foundations of Modern Political Thought, 2 Bde., Cambridge 1978, heraus. Kontinuitätslinien zum christlichen Stoizismus des Mittelalters macht William J. Bouwsma: The Two Faces of Humanism. Stoicism and Augustinianism in Renaissance Thought, in: Itinerarium Italicum. The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of Its European Transformations, hg. von Heiko A. Oberman / Thomas A. Brady jr., Leiden 1975, S. 3 – 60, augenfällig.

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mit einer Vorliebe für einprägsame Metaphern, als eine Philosophie, die unter Aufbietung aller sprachlich zu Gebote stehenden Mittel ein bestimmtes Ziel, die Festigung der sittlichen Persönlichkeit, die Seelenruhe erreichen will, ist diese jüngere Stoa erstaunlich reich. In seiner kaiserzeitlichen Phase erscheint der Stoizismus als Versuch, dem Menschen zu helfen bei einem Minimum an (metaphysischem) Trost. Wir müssen nicht über die Ersten und Letzten Dinge unterrichtet sein, um uns zu helfen zu wissen. Gerade Senecas Stoizismus stellt sich nicht als moralisierende Dekadenz der stoischen Hoch-Zeit in der hellenistischen Periode, sondern vielmehr als eine in der hellenistischen Diatribik schon vorgezeichnete Dynamisierung und Entscholastisierung der stoischen Dogmatik dar, und zwar als Dynamisierung der Philosophie mittels Literarisierung. Nimmt Lipsius in einem Brief an Jean Woverius vom 3. November 1603 stolz für sich in Anspruch: „ego e Philologia Philosophiam feci“,16 „ich habe aus der Philologie Philosophie gemacht“, so wird man für Seneca sagen müssen, dass er die (stoische) Philosophie gerettet habe, indem er sie zur Literatur machte (obwohl er einmal kritisch bemerkt, dass zur Philologie geworden sei, was einst Philosophie war).17 Senecas Texte bieten weniger begrifflich sedimentierte und allseits systematisch integrierte Definitionen der Dinge, von denen sie handeln – Milde (De clementia), Seelenruhe (De tranquillitate animi), Standhaftigkeit (De constantia sapientis), Vorsehung (De providentia) zum Beispiel –, als Annäherungen an diese begrifflich nie ganz fassbaren Dinge über eine Vielzahl von Metaphern. Paul Barth hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Senecas philosophischer Schriftstellerei bemerkt: „Es ist, als ob er überall in Heraklits Geiste den ewigen Kampf und Gegensatz der Dinge, der das Leben erzeugt und erhält, veranschaulichen wollte. Was nicht antithetisch gesagt ist, gilt ihm stumpf und matt.“18 Tatsächlich pulsiert durch fast jede Zeile Senecas das, was man die agonale Dynamisierung des stoischen Systems nennen könnte. Kein Wunder also, dass sich bei dieser 16 Zitiert nach Aloïs Gerlo: Les tudes lipsiennes: tat de la question, in: Juste Lipse (1547 – 1606). Colloque international en mars 1987, hg. von Aloïs Gerlo, Brüssel 1988, S. 18. Die umfangreiche Korrespondenz von Lipsius wird mittlerweile im (meist lateinischen) Original und mit flämischen (!) Abstracts kritisch ediert: Iustus Lipsius: Epistolae, hg. von Aloïs Gerlo, Marcel A. Nauwelaerts u. a., Brüssel 1978 ff. 17 Seneca: Epistulae morales ad Lucilium XVII/XVIII 108, 23. 18 Paul Barth: Die Stoa. Zweite, durchgesehene und sehr erweiterte Auflage, Stuttgart 1908, S. 27.

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kämpferischen Stimmung militärische Metaphern unentwegt aufdrängen. Greifen wir einige Stellen heraus, beginnend mit der Trostschrift an die Mutter Helvia, die Seneca, scheinbar von aller Welt verlassen, im Exil auf Korsika verfasst. Dort beschreibt er, wie er, selbst noch keineswegs ein Weiser und zu schwach, sich selbst zu helfen, ins Heerlager derjenigen Weisen seine Zuflucht genommen habe („in aliena castra confugi“), die ohne Mühe sich und die Ihren schützen. Sie haben mir befohlen, unablässig standzuhalten, wie auf Posten gestellt [stare assidue velut in praesidio positum], und alle Versuche des Schicksals, alle Angriffe im voraus zu erkennen [omnes impetus prospicere], viel eher, als sie anstürmen. Für jene ist es schwer, für die es überraschend kommt; leicht hält es auf, wer es stets erwartet hat. Denn auch der Feinde Angriff streckt die nieder, die er ahnungslos überwältigt hat; hingegen die, die sich für einen künftigen Krieg vor dem Krieg gewappnet haben, fangen geordnet und gerüstet den Stoss, der am verwirrendsten ist, leicht ab [qui futuro se bello ante bellum paraverunt compositi et aptati primum, qui tumultuosissimus est, ictum facile excipiunt].19

Hier finden wir bereits wesentliche Elemente des Senecaischen Gebrauchs militärischer Metaphern versammelt. Aber in den späteren Schriften ist es Seneca selbst, der die Befehlsgewalt übernimmt und den direkten Adressaten seiner Werke ebenso wie den mittelbaren Lesern im eindringlichen Ton seiner protreptischen Prosa Direktiven erteilt. Natürlich gibt schon in der Trostschrift an die Mutter Helvia der Schreibende selbst die Anweisungen aus, auch wenn er sich noch ausdrücklich unter das Oberkommando seiner Lehrer, der Stoiker, stellt. Diese scheinen, wie Senecas letztem grossem philosophischem Werk, den Briefen an Lucilius, zu entnehmen ist, bereits eine Vorliebe für militärische Vergleiche gehabt zu haben. So heisst es von Quintus Sextius (geboren um 70 v. Chr.), zu dessen mittelbarer Schülerschaft Seneca gehörte, einem „scharfsinnigen Autor, der in griechischer Sprache, aber römischer Haltung [Romanis moribus] philosophiert“, er gebrauche „ein Bild“ („imago“), das ihn, Seneca, beschäftige: In Schlachtordnung marschiert die Armee [ire quadrato agmine exercitum], sobald der Feind auf jeder Seite gesichtet ist, zum Kampfe bereit. ,Dasselbe‘, sagt er [sc. Sextius], ,muss der Weise tun: alle seine charakterlichen Fähigkeiten halte er allseits bereit, damit, wo immer eine Bedrohung aufkommt, dort Schutz bereit sei und auf einen Wink des Be19 Lucius Annaeus Seneca: Ad Helviam matrem de consolatione V 2 f.

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fehlshabers [regens] ohne Verwirrung zur Verfügung stehe.‘ Was wir bei den Armeen, die bedeutende Feldherren [imperatores magni] kommandieren, geschehen sehen, dass den Befehl des Generals [dux] zugleich alle Truppenteile wahrnehmen, so aufgestellt, dass das Signal [signum], von einem gegeben, Infanterie und Reiterei zugleich durchläuft [peditem simul equitem percurrat]: das, sagt er, ist gelegentlich mehr noch nötig für uns. […] Der Weise [sapiens] aber ist gegen jeden Angriff gerüstet [ad omnem incursum munitus], innerlich eingestellt; nicht wenn Armut, nicht wenn Trauer, nicht wenn Entehrung, nicht wenn Schmerz einen Angriff unternimmt, wird er zurückweichen: Unerschrocken wird er gegen diese Bedrohungen vorgehen und mitten unter sie.20

Die Stoa ist also im Verständnis des Sextius (und des Seneca) eine Philosophie der permanenten Mobilmachung – und zwar der Mobilmachung gegen die Anfeindungen des Schicksals, die überall lauern, insbesondere da, wo man sie am wenigsten erwartet hätte. Selbst im Spätwerk verzichtet Seneca für sich und seinen Briefpartner Lucilius darauf, die Weisheit und damit die vollständige Unerschütterlichkeit zu reklamieren: „Uns bindet vieles, vieles schwächt uns“,21 lautet die illusionslose Erkenntnis gleich im Anschluss an den zitierten Passus. Entsprechend ist eine stete Einübung der Widerstandskräfte dasjenige, was unbedingt nottut: Das Leben wird zum Exerzierplatz, auf dem der Ernstfall, nämlich ein Anschlag von Seiten des Schicksals, jederzeit unverhofft eintreten kann. Unmittelbar vor der Sextius-Passage schaltet Seneca einige Überlegungen zum Sinn von metaphorischen Vergleichen („imagines“) ein: Sie seien, mit Bedacht angewendet, geradezu unentbehrlich („necessariae“), nämlich als „Stützen für unsere Schwächen“, „damit sie den Sprechenden und den Hörenden in einen Sachverhalt einführen“: „Jene, die schlicht und zur Bezeichnung eines Sachverhalts [demonstrandae rei causa] zu sprechen pflegten, sind voll von Vergleichen [parabolis], die ich für unverzichtbar halte“.22 Diese Selbstreflexionen machen deutlich, dass es ohne Metaphern keinen Zugang zu den ,Dingen selbst‘ gibt, zumindest nicht für diejenigen, die am Anfang ihres Erkenntnis- und Tugendweges stehen. Ja, Seneca verzichtet ganz auf einen Hinweis darauf, dass nach der metaphorischen Erkenntnis auf einer höheren Stufe die begriffliche nachfolgen müsse. Tatsächlich ist

20 Seneca: Epistulae VI 59, 7 f. 21 Ebd., VI 59, 9. 22 Ebd., VI 59, 6.

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sein eigenes Philosophieren viel eher eine Arbeit an der Metapher als eine Arbeit am Begriff. In den bisher herangezogenen Beispielen ist eine Grundfunktion der Kriegsmetapher im engeren Sinn schon offenkundig geworden: Sie hat die Aufgabe, die Realität des menschlichen Lebens vor den Augen des Individuums zu enthüllen. Unser Leben ist kein in ruhigen Bahnen sich bewegendes Geschehen, sondern eine beständige Fallgrube, der permanente Ausnahmezustand, ein unablässiger, nie endenwollender Krieg mit Phasen intensiverer und weniger intensiver Kampfaktivität. Wer das Leben als ununterbrochenen Krieg betrachtet, sieht sich in dauerndem Zugzwang; in einem als Krieg verstandenen Leben steht alles zur Disposition. Wie kann man im Zeichen des Krieges noch ernsthaft ein glückliches Leben führen? Auch wenn Seneca in der dieser Frage gewidmeten Abhandlung langatmig seinen eigenen, von Widersachern scharf kritisierten Reichtum rechtfertigt, ist er doch um eine Antwort nicht verlegen: Dorthin also steige das höchste Gut [summum bonum] auf, wo es keine Gewalt herabziehen kann, damit weder Schmerz noch Hoffnung noch Furcht Zugang habe noch sonst etwas, was das Recht des höchsten Gutes geringer macht; aufsteigen kann dorthin allein die sittliche Vollkommenheit [virtus]. Mit ihrem Schritt muss man diesen Gipfel erobern; sie wird tapfer standhalten und, was immer geschieht, tragen, es nicht nur erduldend, sondern auch wollend, und alle Schwierigkeit der Zeitläufte, wird sie wissen, ist Gesetz der Natur, und wie ein guter Soldat wird sie ertragen Wunden, aufzählen Narben und, durchbohrt von Geschossen, noch im Tode ihn lieben, für den sie fallen wird, ihren Feldherrn; jenen alten Rat wird sie im Sinne haben: folge Gott. Wer immer aber klagt und jammert und stöhnt – das Befohlene auszuführen wird er mit Gewalt gezwungen, und gegen seinen Willen wird er zum Gehorsam gebracht, trotz allem. Welch Wahnsinn aber ist es, eher sich wegschleppen zu lassen als zu folgen! 23

Es gibt also einen Bereich, der selber von allen Angriffen und Anfechtungen vollkommen verschont bleibt, nämlich den des summum bonum. Dieses höchste Gut ist das glückliche Leben, die eudaimonia 23 Lucius Annaeus Seneca: De vita beata XV 5 f. Vgl. zu den Stellen aus dieser Schrift den sorgfältigen Kommentar von Gabriele Kuen: Die Philosophie als „dux vitae“. Die Verknpfung von Gehalt, Intention und Darstellungsweise im philosophischen Werk Senecas am Beispiel des Dialogs „De vita beata“. Einleitung, Wortkommentar und systematische Darstellung, Heidelberg 1994. Kuen führt S. 418 f. die militärischen Metaphern in De vita beata tabellarisch vor.

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selbst. Es bedeutet die Übereinstimmung des Menschen mit seinem eigenen Wesen, das in erster Linie ein rationales Wesen ist, und zeitigt Gelassenheit, Seelenruhe. Aber offenbar ist dieses höchste Gut nicht leicht zu erlangen, sondern will erkämpft sein. Leben bedeutet in einem emphatischen Sinne Kriegsdienst leisten: „Atqui vivere, Lucili, militare est.“24 Das, was zählt, ist Aktivität, ist unermüdliches Streben nach dem höchsten Gut, ungeachtet all der Widerstände, die einen ständig am Fortkommen hindern. Was dieses Kriegführen zur Disposition stellt, ist nicht schlechterdings alles, sondern nur alles Unwesentliche, alles, was nicht wirklich zur Übereinstimmung mit dem eigenen Wesen, mit der eigenen Bestimmung beiträgt. Stoizismus bedeutet nicht, sich gegen alles zu immunisieren und alles zu vergleichgültigen, sondern eine Einschränkung auf das, worauf es wirklich ankommt, nämlich das höchste Gut, das vollständig von äusseren Gütern unabhängig ist. Und nur diese letzteren können im chaotischen Lebensschlachtgetümmel untergehen. So ist zwar soldatische Härte im Verzicht angesagt, zugleich aber auch die Aussicht gegeben, den Gipfel der Glückseligkeit zu erstürmen – wiewohl dies, nach dem eben zitierten Passus, in diesem Leben kaum zu gelingen scheint. Diejenigen, die in Resignation versinken könnten, ruft Seneca, als philosophischer Weltschmerz-Therapeut mit zumindest provisorischer Befehlsgewalt ausgestattet, sogleich zur Ordnung: Was immer auf Grund des Zustandes der Welt zu erdulden ist, nehme man mit hohem Mut [magno animo] auf sich: diesen Fahneneid [sacramentum] haben wir geleistet, zu ertragen die Verhältnisse der Sterblichkeit und uns nicht verwirren zu lassen durch das, dem zu entgehen nicht in unserer Macht steht. In einer Monarchie sind wir geboren worden: dem Gotte zu gehorchen ist Freiheit [deo parere libertas est].25

Immerhin wird man zurückfragen, wann man denn gefragt worden sei, ob man in dieser Welt und dieses Leben leben wolle; und an anderen Stellen äussert gerade Seneca viel Verständnis für diejenigen, die dieses ihr Leben lieber nicht leben.26 Aber es geht hier, wie eine Parallelstelle demonstriert, weniger darum, das Leben zu leben oder es zu lassen, als darum, das faktisch gelebte Leben auch im Sinne der virtus zu leben, 24 Seneca: Epistulae XVI 96, 5. 25 Seneca: De vita beata XV 7. 26 Siehe z. B. die schöne Stelle Epistulae VIII 70, 12: „Nichts Besseres hat das ewige Gesetz geleistet, als dass es uns einen einzigen Eingang [unum introitum] in das Leben gegeben, Ausgänge viele [exitus multos].“

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also nicht einfach die Hände in den Schoss zu legen oder sich mit irgendwelchem äusserlichen Tand die Zeit zu vertreiben, und so nie sein eigenes Wesen in Harmonie zu bringen. Es ist der Weise oder nach Weisheit Strebende, der, „wie durch einen Fahneneid gebunden, sein Leben als Kriegsdienst ansieht [hoc quod vivit stipendium putat]“.27 „Nimm hinzu: für die Gesamtheit ist es von Gewinn, dass gerade der Beste, um so zu sprechen, das Leben eines Soldaten führt und Leistungen auf sich nimmt [militare et edere operas].“28 Die Freiheit, die in De vita beata mit Gottesgehorsam in eins fällt, ist ersichtlich nicht die Willkürfreiheit, als die man sich die Freiheit in der Moderne gerne ausmalt. Vielmehr meint Freiheit gerade jene Übereinstimmung mit dem eigenen Wesen, das jener weltregierende Gott wenigstens mittelbar so eingerichtet hat.29 Die Freiheit, die Seneca meint, ist nicht die Flucht vor der eigenen, rationalen Natur, sondern die Unabhängigkeit von Geschick und Zufall – von all den Dingen, die einem vom Wesentlichen fernhalten.30 Wir sehen nun auch genauer, wer ausser der sehr formellen und mehr höflichkeitshalber zugestandenen Obersten Kriegsherrschaft des weltregierenden Gottes den Oberbefehl in diesem Kampfe innehat. Nämlich das Individuum selbst, das sich entschliesst, um sein höchstes Gut und somit paradoxerweise um seine Seelenruhe zu kämpfen. Da soll der nach Weisheit Strebende unbeirrbar Standhaftigkeit beweisen. „Auch wenn man gegen dich anstürmt und mit feindlicher Gewalt bedrängt – zu weichen ist dennoch eine Schande: den von der Natur angewiesenen Platz behaupte [assignatum a natura locum tuere]. Du fragst, welcher Platz das sei? Der eines Mannes.“31 Der geistige Bellizismus Senecas reicht im Spätwerk ber die Vorsehung schliesslich so weit, dass sich „grosse Männer gelegentlich über das Unglück freuen,

27 Ebd., VII 65, 18. 28 Lucius Annaeus Seneca: De providentia V 1. 29 Vgl. die Wiederholung dieser Idee soldatischen Gottesgehorsams in Epistulae XVII/XVIII 107, 9. 30 Dies ist auch die Quintessenz des Aufsatzes von Gerda Busch: Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca [1961], in: Seneca als Philosoph, hg. von Gregor Maurach. Zweite mit neuer Einleitung und Bibliographie versehene Auflage, Darmstadt 1987, S. 53 – 94, besonders S. 94. Busch untersucht Senecas Aufforderung, dem Schicksal mannhaft Widerstand zu leisten, auf dem Hintergrund der gesamten antiken Schicksalsproblematik. 31 Seneca: De constantia sapientis XIX 4.

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nicht anders als tapfere Soldaten über den Krieg“.32 Aber dieser Bellizismus ist ein rhetorischer, ein ,welt- und lebensanschaulicher‘, kein politischer. Die militärischen Metaphern bezeichnen bei Seneca eine Struktur des Lebens, die nicht oder zumindest nicht im Argumentationskontext – Senecas Adressaten sind nicht Fachphilosophen, sondern meist in Militär und Politik avancierte Männer – auf Begriffe zurückbuchstabiert werden kann. Dabei metaphorisiert „Krieg“ jedoch weniger eine allgemeine metaphysische Wahrheit etwa im Stile des Herakliteischen Krieges als des Vaters aller Dinge; ebensowenig evoziert „Krieg“ bei Seneca hauptsächlich das Chaotische, Nicht-Rationalisierbare der Welt. Dieses findet der Philosoph in einem vernünftigen Kosmos durchaus noch aufgehoben. Vielmehr ist der Krieg das, worin sich der philosophisch Strebende auszuzeichnen hat, worin er probatio erlangt. Senecas philosophischer Krieger ist auf der höchsten Stufe seiner Entwicklung auch vollständig ruhig, vollständig unbeeindruckbar von den Kriegen, die er selber führt, um Seelenruhe zu erreichen. Der Effekt der militärischen Metaphern liegt nicht etwa in einer Anstachelung zu einem imperialrömischen Militarismus, sondern paradoxerweise in der Neutralisierung des faktischen Militarismus durch Privatisierung. Der Kampf wird zu einer innerseelischen Angelegenheit erklärt. Seneca arbeitet unentwegt heraus, dass all die Güter, um die in der ,Welt da draussen‘ Krieg geführt wird, keinen einzigen Blutstropfen lohnen, weil sie nichts zur virtus und nichts zum summum bonum beitragen. In dieser neutralisierenden Privatisierung des Militärischen hin zum Tugendkampf zeigt sich noch einmal sehr deutlich, inwiefern der Stoizismus wesentlich eine Philosophie der Distanznahme ist. Die Metapher distanziert nicht nur vom Gegenstand, auf den sie angewandt wird, sondern sie entfremdet – im fraglichen Fall – auch vom Gegenstandsbereich, dem sie entstammt: Wenn ich das Leben als Kampf um die Seelenruhe begreife, kann ich den Kampf um Karthago als Kampf nicht mehr wirklich ernstnehmen. Wenn der wahre Krieg nur der Krieg um die Harmonie der Person ist, um die der allein sich selber Rechenschaft schuldige Partisan der geistigen Selbstverteidigung ringt, dann bleibt für reale Kriege in der Welt nur noch Ironie übrig. Kriegführen lehrt, Kräfte zu konzentrieren – aber nur auf Dinge, die solcher Konzentration wert sind. Stoizismus lehrt, dass uns die meisten Dinge, die uns begegnen, – nichts angehen. Distanznehmen heisst dann 32 Seneca: De providentia IV 4.

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Übersicht gewinnen, um so souverän zu werden. So übt sich der philosophische Krieger – höchste Form der Befehlsgewalt – im Verfgen ber die eigenen Mçglichkeitsbedingungen. Gegenüber der Welt ist der Stoizismus eine Philosophie des Generalvorbehalts: „Wenn ihr nicht kämpfen wollt, könnt ihr fliehen.“33 Stand Justus Lipsius in der retrospektiven Wahrnehmung lange Zeit im Schatten scheinbar viel originellerer Gründergestalten der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft, so haben im Gefolge Wilhelm Diltheys historische Untersuchungen in den letzten Jahrzehnten die überragende Bedeutung von Lipsius’ Konzepten für die intellektuelle Selbstverständigung des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts herausgestellt.34 Selbst die Rechtswissenschaft hat Lipsius als Inspirator und Rationalisierer ihrer Disziplin wiederentdeckt.35 Nur das genuin philosophische Interesse an Lipsius ist nach wie vor gering geblieben. Auch fehlen

33 Seneca: De providentia VI 7. 34 Einen reichen Überblick geben vier neuere Tagungsbände: Juste Lipse (1547 – 1606). Colloque international en mars 1987, hg. von Aloïs Gerlo, Brüssel 1988; Juste Lipse (1547 – 1606) en son temps. Actes du colloque de Strasbourg 1994, hg. von Christian Mouchel, Paris 1996; The World of Justus Lipsius. A Contribution towards His Intellectual Biography. Proceedings of a Colloquium Held under the Auspices of the Belgian Historical Institute in Rome (Rome, 22 – 24 May 1997) = Bulletin de l’Institut historique de Rome 68, hg. von Marc Laureys, Brüssel / Rom 1998; Iustus Lipsius, Europae lumen et columen. Proceedings of the International Colloquium Leuven 17 – 19 September 1997, hg. von Gilbert Tournoy / Jeanine de Landtsheer / Jan Papy, Leuven 1999. Besonders hilfreich sind die Forschungsberichte, die Gerlo S. 9 – 24 in dem von ihm herausgegebenen Band, sowie Rudolf De Smet im Anschluss daran in: The World of Justus Lipsius, S. 15 – 42, bieten. Aufschluss über die Traditionszusammenhänge geben auch Karl A. E. Enenkel: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frhneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin / New York 2008, sowie der Katalog von Lipsius’ Bibliothek: Bibliotheca Lipsiana Bruxellensis. Les livres de Juste Lipse conservs  la Bibliothque Royale de Belgique. Publis  l’occasion de l’exposition Constance et inconstance organise au Muse de la Maison d’Erasme du 1er dcembre 2006 au 4 fvrier 2007. Catalogue et inventaire édités par Renaud Adam et Marcus De Schepper, avant-propos par Patrick Lefèvre et Alexandre Vanautgaerden, Turnhout / Bruxelles 2007. 35 Vgl. Michael Stolleis: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, in ders.: Staat und Staatsrson in der frhen Neuzeit. Studien zur Geschichte des çffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1990, S. 232 – 267, der freilich die akademisch-universitäre Wirkung des Neustoizismus im Vergleich zur aristotelischen Spätscholastik nicht überbewertet wissen will.

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eingehende Untersuchungen zu De militia Romana libri quique (1596) 36 oder zum Poliorceticon sive de machinis, tormentis, telis libri quinque (1596),37 zwei der militärtheoretisch einschlägigen Werke – ersteres eigentlich ein Kommentar zu Polybius, letzteres eine Abhandlung über (antike) Kriegstechnik. Entschädigt wird man für diesen Mangel immerhin durch die Studien Gerhard Oestreichs zum Zusammenhang zwischen dem Diszplinierungsdenken des Lipsius und der nassau-oranischen Heeresreform.38 Die letzten beiden Bücher von Lipsius’ Politicorum seu civilis doctrinae libri sex (Politica) aus dem Jahr 1589 – beinahe 100 verschiedene Ausgaben und Übersetzungen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dokumentieren den Erfolg dieses Werkes39 – stellen das Kriegswesen umfassend dar, während die vorangehenden Bücher eine stoisch angeleitete Tugend- und Verhaltenslehre für den Herrscher entwerfen, die Anregungen aus Senecas De clementia bezogen hat. Seneca ist für Lipsius der Philosoph schlechthin, dem er nicht nur in seinen eigenen philosophischen Schriften nacheifert, sondern den er 1605 in einer lange maßgeblichen Gesamtausgabe auch philologisch ins rechte Licht rückt.40

36 Eine kurze Werk- und Editions-Autopsie von Jeanine De Landtsheer findet sich in: Justus Lipsius (1547 – 1606) en het Plantijnse Huis = Publicaties van het Museum Plantin-Moretus en het Stedelijk Prentenkabinet 37, Antwerpen 1997, S. 176 – 178. 37 Vgl. ebd. 178 f. 38 Namentlich die einschlägigen Beiträge in Gerhard Oestreich: Geist und Gestalt des frhmodernen Staates. Ausgewhlte Aufstze, Berlin 1969, S. 11 – 156 sowie 311 – 355 (Graf Johann VII. und sein Verteidigungsbuch für Nassau-Dillenburg). Siehe auch schon Werner Hahlweg: Die Heeresreform der Oranier und die Antike, Berlin 1941. 39 Welchen Effekt die Politica beispielsweise auf Ben Jonson hatten, zeigt die kommentierte Ausgabe seiner Marginalien zu diesem Werk: Robert C. Evans: Jonson, Lipsius and the Politics of Renaissance Stoicism, Durango, Colorado 1992. Vgl. jetzt auch die kommentierte Neuausgabe des Werkes: Justus Lipsius: Politica. Six books of Politics or Political Instruction, ed. with translation and introduction by Jan Waszink, Assen 2004. 40 Detaillierter Auskunft geben darüber z. B. Jean Jehasse: Juste Lipse et la critique littraire d’aprs le Snque (1605). In: Juste Lipse (1547 – 1606). Colloque international en mars 1987, hg. von Aloïs Gerlo, Brüssel 1988, S. 127 – 132, und Maxim Marin: L’influence de Snque sur Juste Lipse, ebd., S. 119 – 126.

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Die Politica erscheinen zunächst einmal als eine Sentenzensammlung aus den Historikern und Philosophen des Altertums41 – mit Tacitus und Seneca in der ersten Reihe.42 So wenig dieses Kompendium auf der begrifflichen Ebene radikal neue Einsichten ins Politische eröffnet, so folgenreich war es doch für die Formierung des absolutistischen Machtstaates.43 Lipsius unterwirft die Politik einem umfassenden Disziplinierungsprogramm, das freilich bei der Selbstdisziplinierung der Adressaten des Buches, nämlich der potentiellen und der faktischen Herrscher seinen Ausgang nehmen und sein Zentrum haben muss. So lautet ein Seneca entnommener Vorspruch zu den Politica: „si vis omnia tibi subicere, te subice rationi“, „wenn Du Dir alles unterwerfen willst, unterwirf Dich der Vernunft!“44 Zwar gibt es in Lipsius’ Werk nach wie vor eine prinzipielle „Rollendifferenz von Regierenden und Regierten“, aber „das auf unerschütterliche Selbstbeherrschung in einer unsicheren Umwelt programmierte Individuum“ wird „in eine gewisse Distanz gebracht zu Erfolg oder Misserfolg in seinen Rollen als Fürst oder als Untertan; […] gerade diese Distanz setzt ein personales Verständnis dieser Rollen voraus und verbindet sie dadurch, dass sich in 41 Siehe auch Ann Moss: Vision fragmente et unitaire: les „Politiques“ et les recueils de lieux communs, in: Juste Lipse (1547 – 1606) en son temps. Actes du colloque de Strasbourg 1994, hg. von Christian Mouchel, Paris 1996, S. 471 – 478. 42 Tacitus verdankte der junge, textkritische Philologe Lipsius seinen ersten Ruhm: Die Werke des römischen Historikers hat er 1574 in nach wie vor mustergültiger Weise herausgegeben, diese Ausgabe ständig verbessert und erweitert, schließlich die Annalen eingehend kommentiert. Unter dem Eindruck dieses gelehrtengeschichtlichen Ereignisses wird der Tacitismus in Europa große Mode. Rubens hat auf seinem prächtigen Titelblatt für die Opera omnia des Lipsius von 1637 deutlich gemacht, dass dessen Schaffen auf Tacitus und Seneca ruhte: Ihre Hermen sind da die tragenden Pfeiler der Gesamtarchitektur (siehe Mark Morford: Stoics and Neostoics. Rubens and the Circle of Lipsius, Princeton 1991, S. 139 und Abbildung 17, und Klaus Mönig: Peter Paul Rubens und die stoische Philosophie des Justus Lipsius, im vorliegenden Band). 43 Zur Struktur des Werkes siehe – neben Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat, S. 106 – 212; Oestreich: Geist und Gestalt, S. 50 – 63 und Abel: Stoizismus und Frhe Neuzeit, S. 78 – 113 – auch Michel Senellart: Le stocisme dans la constitution de la pense politique. Les ,Politiques’ de Juste Lipse (1589), in: Le stocisme au XVIe et au XVIIe sicle. Le retour des philosophies antiques  l’ffge classique, hg. von Pierre-François Moreau, tome 1, Paris 1999, S. 117 – 139. 44 Seneca: Epistulae IV 37, 4, zitiert bei Justus Lipsius: Opera omnia, postremum ad ipso aucta et recensita nunc primum copioso rerum indice illustrata, Bd. 4, Wesel 1675, unpag. Fol. *4 verso. Diese Ausgabe ist die letzte und vollständigste LipsiusWerkedition, daher noch immer die Standardreferenz.

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ihnen ein gleichartiger ethischer habitus manifestiert“.45 Die dem äusseren und inneren Krieg gewidmeten Bücher 5 und 6 der Politica zeigen den damaligen Leidener Professor – der sich zunächst einmal dafür entschuldigen zu müssen glaubt, als Nichtmilitär über militärische Dinge zu schreiben46 – als entschiedenen Fürsprecher militärischer Reformen. Reformen, die sein Schüler Moritz von Oranien und dessen Vettern energisch durchführen sollten.47 Oestreich hebt als die zwei für das Militärwesen bedeutsamen Leistungen des Universalgelehrten48 Lipsius – der mit Krieg immer nur als Leidtragender, nie als aktiver Teilnehmer in Berührung gekommen ist49 – hervor: „einen DisziplinBegriff, der zur Grundlage einer Reform werden konnte“, sowie „die römisch-stoische Ethik als moralisch-weltanschauliche Haltung des neuen Heeres“.50 Virtus als militärische Tugend könne nur durch gute Auswahl, dilectus und disciplina verwirklicht werden.51 Dieser Disziplin geht Lipsius einige Kapitel später auf den Grund, muss er doch feststellen, dass es in zeitgenössischen Heeren überhaupt keine gebe. Sie wird unter Rückgriff auf antike Vorbilder als „severa conformatio militis ad robur et virtutem“ definiert.52 Dabei umschreiben die Elemente 45 Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main 1989, S. 108, im Anschluss an Abel: Stoizismus und Frhe Neuzeit, S. 78 ff. 46 Justus Lipsius: Politicorum seu civilis doctrinae libri sex. Qui ad principatum maxime spectant, Leiden 1589, V 1 (Opera omnia, Bd. 4, S. 122 – 124). 47 Vgl. auch Wolfgang Reinhard: Humanismus und Militarismus. Antike-Rezeption und Kriegshandwerk in der oranischen Heeresreform, in: Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus, hg. von Franz Josef Worstbrock, Weinheim 1986, S. 185 – 204, insbesondere S. 191 – 193. 48 Dazu lesenswert Gerhard Oestreich: Justus Lipsius als Universalgelehrter zwischen Renaissance und Barock, in: ders.: Strukturprobleme der frhen Neuzeit. Ausgewhlte Aufstze, hg. von Brigitta Oestreich, Berlin 1980, S. 318 – 357. 49 Zum Bürger- und Religionskriegshintergrund der Politica siehe Jan H. Waszink: Virtuous Deception. The Politica and the Wars in the Low Countries and France, 1559 – 1589, in: Iustus Lipsius, Europae lumen et columen. Proceedings of the International Colloquium Leuven 17 – 19 September 1997, hg. von Gilbert Tournoy / Jeanine de Landtsheer / Jan Papy, Leuven 1999, S. 248 – 267. 50 Oestreich: Geist und Gestalt, S. 19. 51 Lipsius: Politicorum seu civilis doctrinae libri sex V 8 (Opera omnia, Bd. 4, S. 134 f.). Vgl. dazu Gerhard Oestreich: Soldatenbild, Heeresreform und Heeresgestaltung im Zeitalter des Absolutismus, in: Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politischhistorischer Bildung, hg. vom Bundesministerium für Verteidigung, Innere Führung. Bd. 1, Tübingen 1957, S. 295 – 321, besonders S. 305 f. 52 Lipsius: Politicorum seu civilis doctrinae libri sex V 13 (Opera omnia, Bd. 4, S. 144).

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exercitium, ordo, coercitio und exempla den Rahmen, in dem sich diese Disziplin militärisch auszugestalten hat. Disziplin bedeutet nicht einfach grausame Bestrafung fehlbarer militärischer Individuen, sondern ein umfassendes Programm kollektiver Erziehung. Wenn man sich die plündernden, notzüchtigenden, mordenden Landsknechtshaufen des 16. Jahrhunderts vergegenwärtigt, erkennt man, welche Innovation Lipsius’ konkreter Entwurf bedeutet haben muss. „Sein Ziel war eine sittliche Erneuerung der verrohten Soldateska überhaupt, und zwar auf der Grundlage eines neuen Ethos.“53 Meuternde Söldnerscharen sollen so durch den miles perpetuus abgelöst werden; die neue Wehrtheorie weist das anarchische Gewaltpotential herkömmlicher militärischer Verbände in Schranken.54 Damit steht Lipsius im Mittelpunkt einer umfassenden Disziplinierungsbewegung, die im ganzen 16. und 17. Jahrhundert „Technologien methodischer Lebensfhrung“ entwirft, um der „Ubiquität der Gewalt“ zu entgehen.55 Disziplinierung in streng militärischem Geist ist etwa auch vom Jesuitenorden auf ein hohes Niveau gebracht worden. In ihm hatte Lipsius – einst Kölner Jesuitenschüler und kurze Zeit sogar jesuitischer Novize – ein Exempel gelingender Disziplinierungspraxis vor Augen. Zur Zeit der Abfassung der Politica gehörte Lipsius freilich der reformierten Kirche an, bevor er ein paar Jahre später ein letztes, drittes Mal (und diesmal wieder zurück zum Katholizismus) konvertierte, um einen Lehrstuhl an der Universität Löwen anzutreten.56 Man hat Lipsius aufgrund seiner mehrfachen, offenbar jeweils durch Karriereüberlegungen bedingten Konfessionswechsel lange Zeit als moralisch anrüchigen Charakter verunglimpft („Lipsius Proteus“). Tatsache ist, dass er dennoch oder erst recht von allen konfessionellen Parteien begierig studiert wurde. Lipsius’ konfessionelle Indifferenz, die nur in den letzten Jahren seines Lebens von einer etwas abergläubischen Frömmigkeit unterwandert worden zu sein scheint – der sonst so rationalistische Neustoiker, der freilich immer Gottes souveräne Macht konzediert 53 Oestreich: Geist und Gestalt, S. 21. 54 Zur zeitgenössischen Erfahrung meuternder Söldner gerade im Befreiungskrieg der Niederlande, in dessen Kontext man die Politica des Lipsius zu sehen hat, vgl. z. B. Ulrich Bröckling: Disziplin. Soziologie und Geschichte militrischer Gehorsamsproduktion, München 1997, S. 35 – 38. 55 Ebd., 39, inspiriert von Michel Foucault. 56 Zur Löwener Zeit vgl. Lipsius en Leuven, hg. von Gilbert Tournoy / Jan Papy / Jeanine de Landtsheer, Löwen 1997, wo sich auf S. 1 – 7 übrigens eine nützliche Zusammenstellung von Lipsius’ Lebensdaten findet.

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hatte, Wunder gegen die Naturordnung zu wirken, schreibt Traktätchen über allerhand Marienerscheinungen —, diese Indifferenz ist in einem Zeitalter der religiösen Bürgerkriege ja schon fast wieder Anzeichen von Mut. Jedenfalls soll Lipsius, der als Professor in Jena Lutheraner war, nachher in Leiden Calvinist, seinem ehemaligen Jenenser Kollegen Konrad Schlüsselburg nach dessen Vorhaltungen beschieden haben: „Nam omnis religio et nulla religio mihi unum et idem. Et apud me lutherana et calvinistarum doctrina pari passu ambulant.“57 Man beachte die protomilitärische Disziplinierungsmetapher vom Gleichschritt. Lipsius würde indes gründlich missverstanden, legte man ihm die konfessionelle Indifferenz als religiöses Desinteresse oder gar als atheismusnahe Freigeisterei aus.58 Seine Indifferenz betrifft die Sonderlehren, durch die sich die christlichen Konfessionen voneinander unterscheiden und derentwegen sie sich befehden; nicht aber die Grundfesten der monotheistischen Rationaltheologie,59 die er ebenso im Stoizismus wie im Christentum findet.60 Die Personalität und Machtvollkommenheit Gottes gewinnt in seinem philosophischen Denken überdies viel stärker Gestalt als selbst bei den ,frömmsten‘ antiken Stoikern. Was Lipsius sichtlich fasziniert, ist das ordnungsstiftende Vermögen der positiven Religion – ein Vermögen, das sich für Lipsius bei den Jesuiten am 57 „Jede Religion und keine Religion sind mir nämlich ein und dasselbe. Und nach mir gehen die lutherische und die calvinistische Lehre im Gleichschritt.“ Thomas Crenius: Animadversiones philologicarum et historicarum, pars VII, Leiden 1700, S. 55. 58 Der theoretisch ausformulierte, bekennende Atheismus ist zur Zeit des Lipsius noch nicht einmal erfunden, vgl. Winfried Schröder: Ursprnge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 59 Vgl. auch Jacqueline Lagrée: Juste Lipse: thorie des principes et thologie naturelle, in: Juste Lipse (1547 – 1606) en son temps. Actes du colloque de Strasbourg 1994, hg. von Christian Mouchel, Paris 1996, S. 31 – 47. 60 Wie sehr Lipsius Stoa und Christentum annähert, zeigt sich etwa auch in der Widmung seiner Seneca-Ausgabe von 1605 an Papst Paul V., worin er übrigens nicht davor zurückschreckt, eine Freundschaft zwischen Seneca und dem Apostel Paulus zu behaupten, während doch bereits Erasmus von Rotterdam in seiner Seneca-Ausgabe von 1529 den überlieferten, stilistisch erbärmlichen Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus als Fälschung entlarvt hatte. Da der Zweck die Mittel heiligt, wirft der eminente Textkritiker Lipsius hier alle textkritischen Bedenken unter Rekurs auf Kirchenväterautorität über Bord. Vgl. Charles Béné: Juste Lipse  travers sa correspondance conserve au Muse PlantinMoretus, in: Juste Lipse (1547 – 1606). Colloque international en mars 1987, hg. von Aloïs Gerlo, Brüssel 1988, S. 69 – 84, hier S. 76 f.

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reinsten zeigt.61 Den in die Religion abgewanderten, ,römischen Militarismus‘ – eben den der Jesuiten – führt Lipsius nun im 5. und 6. Buch der Politica wieder zurück in seinen angestammten Bereich, das Militärwesen. „Es ist, als wenn damals der Geist der Scipionen in das nassauoranische Heerlager einzieht. Das Bündnis zwischen Soldat und Philosoph, das einst der jüngere Scipio, das Sinnbild römischer Tugenden, mit den Stoikern Panaitios und Polybios schloss, ist zwischen den Nassau-Oraniern und den Neustoikern erneuert worden.“62 Bei adligen Schülern des Leidener und später Löwener Professors wird die Antike ganz im Sinne des Humanismus in praxi wirkkräftig – wenngleich keine attisch-demokratische, sondern eine römisch-autoritäre Antike, deren Devise „Disziplin“ heisst. Diese darf man sich freilich nicht allzu eng vorstellen: „Disciplina est humanitatis & bonorum morum nutricula“,63 heisst es lapidar bei Lipsius’ französischem Neustoiker-Kollegen, dem Diplomaten Charles Paschal (1547 – 1625). Ein düsteres, von politischen und religiösen Gegensätzen zerrissenes Jahrhundert sog die stoische Rede von der Standhaftigkeit, die der Leidener Professor 1584 in seinem berühmtesten Buch lancierte, begierig in sich auf. Jenseits aller konfessionellen, politischen, sozialen und ökonomischen Gegensätze schien diese Standhaftigkeit64 Verlässlichkeit und vielleicht auch ein wenig Erholung zu versprechen. Von ihr und von der Schönheit des Kosmos handelt der Anfang des zweiten Buches von De Constantia, wo das Gespräch über die Standhaftigkeit im Garten des Carolus Langius (1521 – 1573) fortgesetzt und beendet wird. Dieser blühende Garten65 steht in denkbar starkem Kontrast zur niederländischen Bürgerkriegsszenerie, aus der Lipsius 1572 nach Wien fliehen will und bei Langius in Lüttich haltmacht, um sich da stoisch katechisieren zu lassen: Dies ist der Rahmen des philosophischen Dialogs De con61 Freilich ist es doch wohl eine zu moderne Sicht, wenn man Lipsius unterstellt, Religion als reines Sozialdisziplinierungsinstrument zu begreifen – wozu Bröckling: Disziplin, S. 47, neigt. 62 Oestreich: Geist und Gestalt, S. 23. 63 „Die Disziplin ist die Nährmutter der Humanität und der guten Sitten.“ Carolus Paschalius: Virtutes et vitia, hoc est virtutum et vitiorum definitiones descriptiones characteres opus, Paris 1615, S. 43. 64 Vgl. zur Begriffsgeschichte Jacqueline Lagrée: La vertu stocienne de constance, in: Le stocisme au XVIe et au XVIIe sicle. Le retour des philosophies antiques  l’ffge classique, hg. von Pierre-François Moreau, tome 1, Paris 1999, S. 94 – 116. 65 Vgl. Nathalie Dauvois-Lavialle: Juste Lipse et l’esthtique du jardin, in: Juste Lipse (1547 – 1606) en son temps. Actes du colloque de Strasbourg 1994, hg. von Christian Mouchel, Paris 1996, S. 215 – 228.

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stantia, in dem Langius als Lehrerfigur auftritt, um die Zweifel seines Gesprächspartners, des jungen Lipsius, zu zerstreuen und ihn davon zu überzeugen, dass inmitten des Waffengeklirrs Frieden sein könne, nämlich der Frieden der Seele.66 Wenn man irgendwo metaphorischen Militarismus in Reinkultur sucht, dann wird man in De constantia fündig. Alles, was sich militärisch metaphorisieren lässt, wird vom doch so ganz zivilen und friedlieben66 Justus Lipsius: De constantia libri duo. Qui alloquium praecipu continent in Publicis malis, Leiden 1584, I 1 (Opera omnia, Bd. 4, S. 526 f.). Die neue deutsche Übersetzung, die ich hier mit einigen eigenen Übersetzungsmodifikationen heranziehe, ist zwar recht akkurat und an sich sehr verdienstvoll, aber die mitgegebene Edition des lateinischen Textes nur bedingt befriedigend ( Justus Lipsius: De Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch – deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann, Mainz 1998). Der Herausgeber lässt neben den Marginalien ohne jede Erklärung die in frühneuzeitlichen Büchern so wichtigen Paratexte weg: Ein „Ad lectorem pro constantia mea praescriptio“, ein Widmungsschreiben an „Consulibus et Senatui“ Antwerpens, sodann „Ad lectorem de consilio meo scriptionis et fine“ sowie einige Gedichte in griechischer und lateinischer Sprache finden sich in allen alten Ausgaben, die ich einer Autopsie habe unterziehen können, selbst in der Miniaturausgabe (328) von Leyden 1605. Den vollständigen Titel der Schrift – auf dessen Wichtigkeit Gerhard Oestreich: Das politische Anliegen von Justus Lipsius’ ,De constantia … in publicis malis’ (1584), in: ders.: Strukturprobleme der frhen Neuzeit, S. 298 – 317, doch eindringlich hingewiesen hat – erwähnt der Herausgeber immerhin in seinem informativen Nachwort; er unterlässt es aber, seine Leser darüber aufzuklären, auf welche Textgrundlage sich seine eigene Edition stützt. Diese Unterlassung ist nicht nur eine reichlich seltsame Reverenz gegenüber einem Mann, der immerhin als einer der Begründer der modernen philologischen Textkritik gilt, sondern überdies ein Problem, da Lipsius selber noch eine „editio castigata“ seiner Schrift hergestellt hat, um die katholische Zensur milde zu stimmen (vgl. z. B. Oestreich: Antiker Geist, S. 94), und der Leser von Neumanns Ausgabe nun nicht weiss, ob er die zensierte Fassung liest. Dass man hier auch keinerlei Hinweise auf die neuere oder ältere Forschungsliteratur findet, überrascht bei alledem nicht weiter. Leider ist diese Ausgabe symptomatisch für den Zustand der Lipsius-Editorik, die sich mit ernsthaftem wissenschaftlichem Anspruch bisher fast nur an die Briefe herangewagt hat. Ironischerweise haben wir von der deutschen Übersetzung, die Andreas Viritius 1599 von De Constantia anfertigte, eine Druckvarianten berücksichtigende, fast schon kritisch zu nennende Ausgabe ( Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit [De Constantia]. Faksimiledruck der deutschen bersetzung des Andreas Viritius nach der zweiten Auflage von c. 1601 mit den wichtigsten Lesarten der ersten Auflage von 1599, hg. von Leonard Forster, Stuttgart 1965). Wenig ertragreich ist übrigens der Kommentar von Karl Beuth: Weisheit und Geistesstrke. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur „Constantia“ des Justus Lipsius, Frankfurt am Main / Bern / New York / Paris 1990.

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den67 Philologen, der mit seinem philosophischen Erstling gleich ungeheuer erfolgreich ist,68 militärisch metaphorisiert. Schon der Primärzustand der Seele ist der Krieg, nämlich derjenige der chaotischen Affekte, wie Langius schonungslos diagnostiziert: ,Dein Wegziehen wird dir nichts helfen, nichts, , denn du wirst bei dir in dieser Kammer deinen Feind finden‘ (wobei er mir auf die Brust schlug). ,Was nützt es, wenn du an noch so friedliche Orte kommst. Du schleppst den Krieg mit dir [bellum trahis tecum]. […] Und wie diejenigen, die aus Furcht dem Feind den Rücken bieten, um zu fliehen, sich in grösste Gefahr begeben, weil sie ungedeckt und den Feinden abgewandt sind, so geht es auch den Umherreisenden und Neulingen, die niemals gegen die Affekte gekämpft, sondern jederzeit vor ihnen Reissaus genommen haben. Du, Jüngling, aber, wenn du mich hören willst, solltest bleiben und deine Stellung gegenüber diesem Schmerzensfeind festigen. Dazu brauchst Du vor allem Standhaftigkeit [Constantia] Ausserdem: Mit Kämpfen wird man zum Sieger, nicht mit Fliehen [victor aliquis pugnando evasit, nemo fugiendo].‘69

Langius bietet sich also als Exerzitienmeister und imperator70 im Krieg gegen die kriegerische Unordnung der Seele an – ein Angebot, das der junge Lipsius nur allzu gerne annimmt. Tatsächlich kann dieser dann gegen all die Heerscharen nicht standhalten, die Langius aufmarschieren lässt,71 indem er jeweils detailliert die gegen die Irrtümer und Verstocktheiten des Lipsius in Anschlag gebrachten Truppengattungen und Kriegsgeräte schildert. Ziel von Langius’ Feldzug ist constantia als „eine rechtmässige und unbewegliche Stärke des Gemüts, die von nichts Äusserlichem oder Zufälligem hinweggehoben oder unterdrückt wird“.72 Constantia immunisiert also gegen Kontingenz; sie ist Aus67 „Christiani sumus, sacerdotes pacis“, heisst es in einem späten Brief an Florent van den Haer, zitiert nach Béné: Juste Lipse, S. 79 (La correspondance de Juste Lipse conserve au Muse Plantin-Moretus, hg. von Aloïs Gerlo / H. D. L. Vervliet, Anvers 1967, lettre 204, S. 234). 68 Über dreissig Übersetzungen und insgesamt fast achtzig Ausgaben zählt Oestreich: Antiker Geist, S. 213 – 215. Zum unmittelbaren Echo auf die Erstausgabe vgl. René Hoven: Les ractions de Juste Lipse aux critiques suscites par la publication du ,De constantia’, in: Juste Lipse (1547 – 1606) en son temps. Actes du colloque de Strasbourg 1994, hg. von Christian Mouchel, Paris 1996, S. 413 – 422. 69 Lipsius: De constantia I 3 (Opera omnia, Bd. 4, S. 530). 70 Vgl. ebd., I 8 (Opera omnia, Bd. 4, S. 436). 71 Siehe z. B. ebd., II 6 (Opera omnia, Bd. 4, S. 572). 72 Ebd., I 4 (Opera omnia, Bd. 4, S. 530).

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druck der Unberührbarkeit durch die äusseren Dinge, die für das Wohl der Seele letztlich gänzlich unerheblich sind. So heisst es nach langen Erörterungen über die scheinbaren Übel (mala), von denen schon der Titel des Werkes spricht, und die sich in dieser „politischen Theodizee“73 allesamt als gerechtfertigt erweisen, insofern Gott sie zur Erziehung oder zur Züchtigung in die Welt gesetzt hat: „All diese Haufen von Kriegsleuten, all diese drohenden Schwerter werden dir nicht mehr und nicht weniger tun als ein Fieber, als eine Weinbeere, als ein Würmchen.“74 Die Kriege in der Welt, die uns solchen Schrecken einjagen, uns um Gut, Leib und Leben bringen, sind in Wahrheit ganz ohne Belang, denn es kommt ja nicht darauf an, zu leben oder nicht zu leben, sondern vielmehr darauf, gut zu leben. Die souveräne Missachtung all dessen, was einem Menschen normalerweise am Herzen liegt, verleiht der Kriegstaktik des Langius (alias Lipsius) einen grandiosen Zug. Auch heute noch ist leicht nachvollziehbar, wie beruhigend De constantia auf ein Europa wirken musste, das seinen Trost nicht mehr ausschliesslich aus christlichen Quellen zu schöpfen wusste, zumal Reformation und Gegenreformation das Vertrauen in die Reinheit der jeweils zur Verfügung stehenden Quellen hüben wie drüben erschüttert hatten. Weshalb es also nicht mit einem ganz neuen, von konfessionellen Gegensätzen unanfechtbaren Trostangebot versuchen,75 dessen genial einfacher Lösungsvorschlag für die drängenden Probleme der Zeit zunächst einmal darin bestand, den Problemcharakter dieser Probleme zu leugnen? Die Kriege, die die Menschen untereinander ausfechten, sind zwar gottgesandte Geisseln der Menschheit, aber im Blick auf die menschliche Möglichkeit der constantia nur Bewährungsproben, keineswegs Hinderungen. Worauf wir hinarbeiten müssen, ist, genau diese theoretische Einsicht in eine praktische zu verwandeln und uns von den vermeintlichen Übeln nichts mehr anhaben zu lassen. Der Krieg, gegen den Langius seine Truppen aufbietet, ist derjenige, der im Innern wütet. Dieser begrifflich nicht stillegbare, seelische 73 Oestreich: Das politische Anliegen von Justus Lipsius’ ,De constantia’, S. 310 u. ö. Zum Leben als Kampf und Drill vgl. auch Oestreich: Antiker Geist, S. 102 f. 74 Lipsius: De constantia II 19 (Opera omnia, Bd. 4, S. 595). Der Tod gehört also zu den Adiaphora. 75 Vgl. auch Jeanine de Landtsheer: Lipsius’s Letters of Comfort. A Tribute to Consolatio in Cicero and Seneca. In: Iustus Lipsius, Europae lumen et columen. Proceedings of the International Colloquium Leuven 17 – 19 September 1997, hg. von Gilbert Tournoy / Jeanine de Landtsheer / Jan Papy, Leuven 1999, S. 17 – 33.

Das Leben als Krieg Eine Leitmetapher bei Seneca und Lipsius

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Bürgerkrieg zwischen ratio und opinio76 kann nur dann zugunsten der ratio entschieden werden, wenn diese von den Legionen des Langius, also der christianisierten Stoa tatkräftig unterstützt wird. Der Schilderung dieses Feldzuges gegen den seelischen Bürgerkrieg sind die beiden Bücher De constantia gewidmet. Es handelt sich um eine Disziplinierungsexpedition, die im Fall des einzelnen Individuums das vorexerziert, was für den Fall der Gesellschaft ein paar Jahre später Lipsius’ Politica durchspielen.

76 Lipsius: De constantia I 5 (Opera omnia, Bd. 4, S. 531 – 533).

Peter Paul Rubens und die stoische Philosophie des Justus Lipsius von Klaus Mönig Es mag überraschen, in einem Sammelband zur Stoa einen Beitrag über Peter Paul Rubens (1577 – 1640) zu finden, den man weithin als Maler üppiger Leiber und barocker Leidenschaften in Erinnerung hat, ja geradezu als Repräsentanten einer turbulenten Gegenwelt zum Reich der tranquillitas animi. Der junge Rubens war jedoch geprägt von den Ideen und Haltungen der Stoa, die in den politisch-religiösen Wirren des 16. Jahrhunderts ein neues philosophisches Interesse gefunden und eine kompensatorische Funktion erhalten hatten. Wie sein älterer Bruder, der Rechtsgelehrte, Latinist und Althistoriker Philipp Rubens (1574 – 1611), stand auch der Maler Peter Paul Rubens dem Kreis um den Humanisten Justus Lipsius (1547 – 1606) nahe, der in seinem Hauptwerk De Constantia Libri Duo eine auf Lucius Annaeus Seneca gegründete stoizistische Weltanschauung vertrat und sie als Remedium gegen die öffentlichen Übel seiner Zeit empfahl: in publicis malis. 1 Philipp Rubens, den Lipsius als gebildeten Schüler und möglichen Nachfolger auf seiner Professur in Löwen besonders schätzte, führte die Anregungen des Mentors – bisweilen kontrovers – in den kulturgeschichtlich-altphilologischen Studien seiner Electorum Libri Duo (Antwerpen 1608) weiter aus. Er dankt in diesem Werk seinem Bruder, daß er ihm erheblich – non parum – geholfen habe: artifici manu – durch Zeichnungen von der Hand des Künstlers – und acri certoque iudicio – mit dem scharfen und zuverlässigen Urteil des Altertumsexperten, zu dem sich der Maler 1

Justus Lipsius: De Constantia Libri Duo, Qui Alloquium Praecipue Continent in Publicis Malis. Antwerpen und Leiden 1584, 1591 und 1621; englisch 1594, deutsch 1599. Mit seinem Titel knüpft Lipsius an Senecas Schrift De Constantia Sapientis an. Im Zusammenhang mit seiner 1605 erschienenen Edition der philosophischen Werke Senecas veröffentlichte Lipsius zwei weitere ausführliche Studien zur Stoa: eine Einführung unter dem Titel Manuductionis ad Stoicam Philosophiam Libri Tres und die Physiologiae Stoicorum Libri Tres (beide Antwerpen 1604). Lipsius wurde intensiv rezipiert und international als spiritus rector des Neostoizismus anerkannt.

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während seines achtjährigen Aufenthalts in den kulturellen Zentren Italiens ausgebildet hatte.2 Überzeugt vom Vorbildcharakter antiker Bildhauerkunst,3 hielt Peter Paul Rubens bedeutende Werke der römischen Sammlungen in zahlreichen Skizzen fest, darunter auch die Laokoon-Gruppe, die schon in der Antike als exemplum doloris galt und später durch Johann Joachim Winckelmann eine stoische Deutung erfuhr.4 Unter Rubens’ AntikenZeichnungen befinden sich mehrere, die von dem besonderen, durch Lipsius vorgeprägten Interesse des Künstlers an Seneca zeugen. Sorgfältig und detailliert zeichnet er Bildwerke ab, die er – wie seine Zeitgenossen – für Darstellungen des berühmtesten römischen Stoikers hielt. Die erste der von Rubens als Seneca-Bildnisse skizzierten Skulpturen ist die Kopie einer hellenistischen Statue, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Rom aufgefunden wurde. Das schwarze Marmorstandbild zeigt einen vorgebeugten Mann, der körperlich erschöpft 2

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Vgl. Mark Morford: Stoics and Neostoics. Rubens and the Circle of Lipsius. Princeton 1991, S. 38 ff.) – Peter Paul Rubens war in außergewöhnlichem Maße ein pictor doctus. Seine Gelehrsamkeit, die aus den kompetent zusammengetragenen Beständen seiner großen Humanistenbibliothek hervorgeht (Dazu: La Passion des Livres. Rubens et sa Bibliothque. Katalog einer Ausstellung im Musée Plantin-Moretus. Hg. v. Francine de Nave. Antwerpen 2004), zeigt sich vor allem in seiner umfangreichen Korrespondenz. Seine größtenteils italienisch geschriebenen und rhetorisch kunstvoll geformten Briefe greifen im intellektuellen Austausch mit bedeutenden Gelehrten und Diplomaten immer wieder souverän auf klassische Bildung zurück. (Correspondance de Rubens et Documents pistolaires concernant sa vie et ses œuvres. Publiés, traduits, annotés par Max Rooses et feu Ch. Ruelens. Antwerpen 1887 – 1909). Seine theoretischen Überlegungen zur maßgeblichen Bedeutung der antiken Skulptur für die Ausdrucksgestaltung der zeitgenössischen Kunst sind nur mittelbar durch den französischen Kunsttheoretiker Roger de Piles (1635 – 1709) überliefert. Dieser frühe Rubensbiograph, der noch Verbindung zu Rubens’ Sohn Albert hatte, zitiert in seinem Handbuch Cours de peintre par principes (1708) unter dem Titel Ex Rubenio. De Imitatione Antiquarum Statuarum eine Passage aus einer Abhandlung des Malers, die vermutlich zusammen mit seinem italienischen Skizzenbuch im 18. Jahrhundert bei einem Brand zerstört wurde. Rubens’ Zeichnungen zum Laokoon sind abgebildet in: Ludwig Burchard: Corpus Rubenianum. Part XXIII: Copies after the Antique in three volumes. Volume III, ed. by Arnout Balis. London 1995 Abb. 145, 150, 153, 163, 164. – Zur stoischen Deutung des Bildwerks durch Winckelmann vgl. Barbara Neymeyr: Laokoon als Prototyp stoischer Schmerzbewltigung? Winckelmanns Deutung im Kontext sthetischer Kontroversen (im vorliegenden Sammelband).

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zu sein scheint, sein Reden aber dennoch mit ruhigen und ausdrucksvollen Gesten begleitet.5 Die Unterschenkel sind auf gleicher Höhe abgebrochen und verloren gegangen. Dies führte dazu, daß man das Bildwerk in Erinnerung an den monumentalen Bericht des Tacitus über den Tod des Philosophen (Annalen XV, 60 – 65) als Seneca-Bildnis identifizierte: Man ging nämlich davon aus, daß der fehlende untere Teil der Skulptur das mit warmem Wasser gefüllte Becken wiedergegeben hatte, in das sich der durch Nero zum Selbstmord gezwungene Seneca hineinstellte, um das Abfließen seines Blutes zu beschleunigen. Dieser Deutung entsprechend ließ man die Figur für die Sammlung Farnese durch eine rötliche Porphyrwanne ergänzen und präsentierte sie als Bild der radikalsten Verwirklichung stoischer Lebenshaltung: Seneca nimmt mit ruhigem Geiste und philosophischem Habitus den Tod an und bewahrt seine Gelassenheit sogar im Sterben.6 Diese – vermeintliche – Veranschaulichung eines zentralen Themas der Stoa scheint Rubens fasziniert zu haben. Er zeichnet die Statue in mindestens sechs Ansichten, verfeinert hierbei ihre groben Züge und vergeistigt ihren Blick. Mit dieser bedeutenden Abwandlung übernimmt er das römische Standbild und dessen spätere Ergänzung unverkennbar in sein Gemälde Der Tod des Seneca (München, Alte Pinakothek) und schreibt ihm eine Botschaft zu: Ein junger Mann notiert eifrig Senecas Rede, deren letztes Wort abbricht: „VIRT“. Rubens inszeniert den Tod Senecas, indem er ihm den nicht mehr zu Ende gesprochenen, aber im Sterben noch propagierten stoischen Zentralbegriff virtus als Vermächtnis in den Mund legt.7 5

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Abgebildet in: Ludwig Burchard: Corpus Rubenianum. Part XXIII: Copies after the Antique in three volumes. Volume III, ed. by Arnout Balis. London 1995. Abb. 19. Rubens’ Zeichnungen sind unter den Nummern 21, 24, 26 – 28, 30 wiedergegeben. Die Statue befand sich nach 1600 in der Antiken-Sammlung des Kardinals Scipio Borghese. – Vgl. Peter Paul Rubens 1577 – 1640. Rubens in Italien. Gemlde, lskizzen, Zeichnungen. Katalog einer Ausstellung des WallrafRichartz-Museums. Köln 1977, S. 246 f. Die Skulptur, die Rubens in Rom in der durch das erwähnte Porphyrbecken ergänzten Form als Seneca-Bildnis gesehen hatte, ließ Napoleon 1807 in den Louvre bringen, ihren heutigen Standort. Man hat ihre Wanne entfernt, ihre Identifizierung aufgegeben und sie wegen ihrer negroiden Züge zu einem afrikanischen Fischer erklärt. Martin Warnkes Deutung, mit dieser Darstellung präsentiere sich „die heiligste stoische Vokabel im Angesicht des Todes als ein unverständliches Wortstück“ (Martin Warnke: Kommentare zu Rubens. Berlin 1965, S. 26), scheint mir bei allem Vorbehalt, den Rubens später gegenüber einer orthodoxen Stoa zum

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Die zweite Skulptur, die Rubens als Seneca-Darstellung ansah und zeichnerisch studierte, ist eine antike Büste aus weißem Marmor.8 Der Maler erwarb eine Replik und integrierte sie in verschiedene Bildzusammenhänge.9 So erscheint sie 1637 auf dem Titelblatt der Opera Omnia des Justus Lipsius, für das Rubens die Kupferstichvorlage entwarf: Aus der Perspektive des niederländischen Seneca-Interpreten entfaltet er den geistigen Kosmos der Stoa mit ihren zentralen Figuren, Allegorien, Symbolen und Requisiten.10 Gut zu erkennen ist die Büste auch in dem um 1610/11 entstandenen doppelten Brustbild Seneca und Nero (London, Privatbesitz) 11, einer Charakterstudie, in der Rubens das markante Profil und den ruhig

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Ausdruck bringt, ebenso übertrieben antistoisch wie seine Vermutung, der Maler habe mit der Wahl einer Marmorstatue als Vorlage für seine SenecaFigur möglicherweise die steinerne Kälte des stoischen Philosophen zum Ausdruck bringen wollen. Rubens hat in Gemälden wiederholt seine Zeichnungen antiker Skulpturen als Vorlagen für Gestalten herangezogen, die keineswegs als steinern oder kalt gedeutet werden können. Fulvio Orsini, der Bibliothekar der Farnese-Sammlungen, mit dem Lipsius bei seinem zweijährigen Romaufenthalt (1568 – 70) in enger Verbindung stand, bestimmte die Büste in seinem 1598 erschienenen Werk Illustrium Imagines als Porträt Senecas. Als solches fand das Bildwerk große Beachtung: Das geht u. a. daraus hervor, daß Nicolas-Claude Fabri de Peiresc, der Pariser Gelehrte und Briefpartner bedeutender Intellektueller wie Galileo und Bacon, anläßlich eines Inventars über Rubens’Antikensammlung schreibt, man könne ihren Reichtum nicht genug bewundern; er wünsche sie zu sehen, vor allem „cez belles testes de Cicéron, de Sénèque et de Chrysippos“ (Correspondance de Rubens (wie Anm. 2). Bd. II, S. 240 / 17. 1. 1620); später teilt er mit, wie glücklich er sei, daß Rubens ihm Zeichnungen von den drei genannten Büsten versprochen habe (ebd., S.257 / 3. 10. 1620). Deren letztere verweist auch auf das stoizistische Interesse des Malers, insofern sie mit Chrysippos einen einflußreichen Denker der älteren Stoa repräsentiert. Erst Johann Joachim Winckelmann bezweifelte die Identität des nicht zuletzt durch Rubens verbreiteten PseudoSeneca. Vgl. Wolfram Prinz: The „Four Philosophers“ by Rubens and the PseudoSeneca in Seventeenth-Century Painting. In: The Art-Bulletin, LV, 1973, S. 428. Die Büste ist abgebildet in: Ludwig Burchard: Corpus Rubenianum. Part XXIII: Copies after the Antique in three volumes. Volume III, ed. by Arnout Balis. London 1995, Abb. 218. Rubens’ Zeichnung ist dort unter der Nummer 224 wiedergegeben. Das Titelblatt ist abgebildet in: Ludwig Burchard: Corpus Rubenianum. Part XXI: Book Illustrations and Title-Pages. Volume II, ed. by J. Richard Judson and Carl van de Velde. Brüssel 1977, Abb. 246 – 249; dazu der Kommentar S. 301 – 303. Vgl. Justus Müller Hofstede: Beitrge zum zeichnerischen Werk von Rubens. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch XXVII, 1965, S. 259 – 356 (hier S. 281 – 284, Abb. 201).

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C. Galle: Titelblatt zu Justus Lipsius: Opera omnia, nach einer Zeichnung von Rubens

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resoluten Blick Senecas dem en face vorgeführten fleischigen Gesicht Neros entgegensetzt. Die pathologisch durchtriebene Sinnlichkeit und der diffuse Blick des tyrannischen Seneca-Schülers werden durch diese Konfrontation anschaulich als fatale Antithese zur Haltung des Stoikers zum Ausdruck gebracht. Eine hervorgehobene Position hat die Seneca-Büste in einem Gruppenbildnis, das in der Rubensliteratur als Lipsius und seine Schler oder als Die vier Philosophen bezeichnet wird (Öl auf Holztafel, 164 x 139; Florenz, Palazzo Pitti, Kat. Nr. 85). Das Gemälde entstand wahrscheinlich bald nach dem Tod des erst siebenunddreißigjährigen Philipp Rubens, der 1611, nur fünf Jahre nach seinem Lehrer, starb. Allem Anschein nach ist es keine Auftragsarbeit, sondern ein privates Memorialbild, in dem Peter Paul Rubens das Verhältnis seines Bruders zu Lipsius und zur stoisch-antiken Welt reflektiert und dabei auch seine eigene Position bestimmt. Aus der Nahsicht eines Halbfigurenporträts stellt er Lipsius zusammen mit Philipp Rubens und dessen Mitschüler Woverius an einem Tisch mit Büchern dar und fügt sich selbst in diese fiktive Szene ein. Aus einer Position über der Gelehrtenrunde beherrscht der prominente Seneca-Kopf als lebensgroße Nischen-Büste den Raum. Die antikisierte Nischenwand wird in Anspielung auf die Säulenhalle der ersten stoischen Philosophen durch eine mächtige Marmorsäule begrenzt. Daneben fällt der Blick frei auf die Ruinen des Palatin und die weite Hügellandschaft um Rom. Durch eine kontrastvolle Belichtung expressiv in Szene gesetzt, repräsentiert die Seneca-Büste den dominierenden Geist dieses Symposions. Ihre Bedeutung wird dadurch unterstrichen, daß die vier Gelehrten zu Ehren Senecas eine elegante Vase mit vier Tulpen vor ihr aufgestellt haben, mit jener Blumenart also, die erst kurz zuvor aus der Türkei in die Niederlande eingeführt worden war und als sehr wertvoll, sogar als Spekulationsobjekt galt. Zwei der Tulpen sind noch verschlossen, die beiden anderen aufgeblüht und bereits dem Verwelken nahe. Indem Rubens auf diese Weise ein Stilleben ins Bild einfügt, bringt er das in dieser genuin niederländischen Bildgattung immer wieder reflektierte Thema der Vergänglichkeit ins Spiel, deutet retrospektiv an, daß zwei der Porträtierten schon bald nicht mehr leben werden, und evoziert zugleich eine Bedeutungskonvention, die Arthur Schopenhauer später mit gutem Grund auf einen quasi-stoischen Begriff

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Rubens: Justus Lipsius und seine Schüler. Florenz, Palazzo Pitti

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bringen wird, indem er das Stilleben als „Denkmal [der] Geistesruhe“ und des „ruhigen, stillen, willensfreien Gemütszustands“12 definiert. Die unter dem Zeichen der Seneca-Büste und des Stillebens versammelten Gelehrten hat Rubens in einer Weise angeordnet, die den Betrachter zu spannungsvollen Gruppierungsvarianten provoziert. Die drei Philologen, die Schulter an Schulter in einem Halbkreis um den Tisch sitzen, erscheinen zunächst als die zentrale Figurengruppe. Sie haben sich offensichtlich über eine von Lipsius nachdrücklich mit dem Zeigefinger demonstrierte Textstelle eines schweren Folianten ausgetauscht, aber die Schüler wenden sich davon ab; die drei Männer sind gestisch noch involviert, ohne sich jedoch anzuschauen und ohne Anzeichen eines Gesprächs, eher nachdenklich verstummt. Wenn auch mit Recht festgestellt wurde, daß Rubens – anders als Rembrandt – nicht in erster Linie ein Maler des Gesprächs ist13, zeigt ein Blick auf sein nur wenig später entstandenes Gemälde Der Unglaube des Thomas (1612 – 1615, Antwerpen, Konijnglik Museum voor Schone Kunsten) doch, wie sehr auch er es versteht, Menschen als Gesprächsgruppe darzustellen, indem er Sprechhandlungen und ihre Wirkungen intensiv und differenziert zur Anschauung bringt. Bei Lipsius und seinen Schülern hingegen verzichtet Rubens darauf, eine lebendige Unterredung zu inszenieren. Die drei Figuren sind – trotz ihrer Nähe zueinander – in einer melancholischen, bei Lipsius sogar blicklosen Nachdenklichkeit vereinzelt. So wird in dem ehrerbietigen Memorialbild auch ein schwermütiger Vorbehalt gegenüber der neostoizistischen Welt des Lipsius deutlich. Mehrere Indizien erhärten diese Annahme. Die Säule und der Landschaftsausschnitt, an der Mittelsenkrechte der Bildfläche scharf konturiert, betonen eine antithetische Struktur des Gemäldes: Sie separieren Philipp Rubens von seinen beiden Stoa-Gefährten und bewirken, daß man ihn, vereint mit seinem Bruder, 12 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Drittes Buch § 38. Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Stuttgart/Frankfurt a.M. 31987, Band 1, S. 281. Im Sinne dieser Affinität von Stilleben und Stoa übernimmt der holländische Maler Matheus Withoos (1627 – 1703) Rubens’ prominente Seneca-Büste in zwei Stilleben mit Seneca. In einem dieser Gemälde erscheint sie als Beruhigung suggerierendes Denkmal inmitten einer schauerlichen Todeslandschaft. Vgl. Wolfram Prinz: The Four Philosophers (wie Anm. 8) S. 426 und Abb. 24 und 26. 13 Dazu: Julius Held: Das gesprochene Wort bei Rembrandt. In: Neue Beiträge zur Rembrandt-Forschung, hg. von Otto von Simson und Jan Kelch. Berlin 1973, S. 111 – 125.

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gleichsam auf der anderen Seite sieht. Die gleiche Wendung ihrer Köpfe zum Betrachter und die übereinstimmenden Blicke aus dem Bild heraus festigen den Eindruck, der Maler hebe seinen Bruder und sich selbst von den beiden anderen Personen ab. Dem Bruderpaar parallel zugeordnet und ihm zugleich auch gegenüber, schließen sich Lipsius und Woverius mit der Seneca-Büste zu einer Trias zusammen. Diese Gruppierung der Bildfiguren bringt eine Reihe von Gegensätzen in den Blick, die sich vor allem auf Philipp Rubens und seinen Lehrer konzentrieren und so in der Mitte des Gemäldes markante Antithesen hervorheben. Eine kontrastive Synopse der beiden Mittelfiguren drängt sich nicht zuletzt auch dadurch auf, daß Rubens an zentraler Stelle mit der Verschränkung ihrer Hände ihre Sympathie füreinander und zugleich ihre Differenz ausdrückt: Sie scheinen einander fast zu berühren, ihre Gesten aber geben die unterschiedlichen Persönlichkeiten zu erkennen. Auf der Basis der so konstituierten Spannung zwischen den beiden zentralen Protagonisten werden die Gegensätze besonders deutlich: Philipp Rubens ist lebendig weltzugewandt; Lipsius hingegen blickt ins Leere; er ist in sich gekehrt und wohl auch dogmatisch insistierend, ein Buchgelehrter – die Richtung seines Kopfes wiederholt die des steinernen Seneca. Während er mit seinen Händen noch Aufmerksamkeit einfordert, wenn auch sein Blick schon erstarrt wirkt, zeigt Philipps lässige Handhaltung, daß er seine Feder eher spielerisch nachdenklich als zum Schreiben in den Fingern hält. Im Kontrast zu den aufgeschlagenen und für die Lektüre angehobenen Büchern von Lipsius und Wowerius liegen die beiden Bände vor Philipp geschlossen und etwas abgerückt. Hinter ihm öffnet sich im warmen Licht die antike Landschaft, vor der sein Maler-Bruder den schweren Vorhang des Säulenraums, der Stoa, zu öffnen scheint. Der Künstlichkeit des Stillebens vor der geschlossenen Wand auf der Lipsius- und Seneca-Seite stellt Rubens ein lebendig rankendes Blattgewächs auf der Seite der Brüder entgegen. Was in dem gerade beschriebenen Bildkontext symbolisch lesbar ist, hat biographische Bezüge: Beide Rubens-Brüder lebten lange Zeit in Rom, mehr als ein Jahr auch in einer gemeinsamen Wohnung; die Antike, insbesondere Seneca und seine neostoizistische Vermittlung durch Lipsius waren zweifellos ein wichtiges Thema ihrer Gespräche. Schon 1601 schreibt Philipp Rubens aus Löwen, aus unmittelbarer Nähe zu Lipsius, an seinen Bruder in Rom einen Brief, in welchem der Siebenundzwanzigjährige temperamentvoll gegen ein zentrales Postulat in der Philosophie seines berühmten Meisters angeht:

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Sic loquor, mi frater, et istud verbum usurpare nullas vereor, quod stultorum tantum et amentium esse deblaterant: qui dum omni prorsus affectu mentem humanam exui posse putant, suae profecto duritatem an diritatem produnt. Apage !p\heiam illam quae reddit hominem non hominem sed ferrum, sed scopulum, illoque in fabulis, quod etiam sic lacrymis manat, Niobaeo saxo duriorem.14 Ich scheue mich nicht, mein Bruder, zu sagen, daß diejenigen, die immer noch glauben, sie könnten den menschlichen Sinn ganz und gar von allen Affekten freihalten, nach Art der Irren und Toren einfach etwas daherplappern und ihre Härte und Grausamkeit an den Tag legen. Weg mit jener !p\heia, die den Menschen nicht zum Menschen, sondern zu Eisen macht, zu einem Felsen, der härter ist als der niobeische Felsen der Mythologie, der doch vor Tränen triefte.

Philipp Rubens leitet mit seinem Brief keineswegs einen Bruch mit Lipsius ein – dagegen sprechen die liebevollen Erinnerungen an den väterlichen Lehrer und der Schmerz über dessen Tod, die der bevorzugte Schüler noch 1608 in Philippi Rubenii ad Justum Lipsium Poemata im Kontext der Electorum Libri öffentlich zum Ausdruck bringt. Der Stil dieser privaten Briefstelle und ihr literarisches Kostüm aus Torenschelte und mythologischen Reminiszenzen heben die Kritik an der Stoa geistreich in einem alten Topos auf. Diesem hatte Erasmus von Rotterdam fast ein Jahrhundert zuvor im Lob der Torheit (1509 – 1514) einen humorvollen Rahmen gegeben. Aus der Perspektive der viel Kluges redenden Stultitia äußert der Humanist Erasmus sein Urteil über den „Oberstoiker Seneca“ („bis Stoicus Seneca“): qui prorsum omnem affectum adimit sapienti. Verum cum id facit, iam ne hominem quidem relinquit […]: imo ut apertius dicam, marmoreum hominis simulacrum constituit, stupidum et ab omni prorsus humano sensu alienum.15 Er treibt seinen Weisen jede Leidenschaft aus. Nur schade: damit läßt er uns gar keinen Menschen mehr übrig […]: um es noch unverhohlener zu sagen, er errichtet vor uns ein Menschenbild aus Marmor, starr, fern von allem menschlichen Empfinden. 14 Correspondance de Rubens (wie Anm. 2) Bd. I., S. 5 f (21. 5. 1601). Mit der folgenden Übersetzung zitiert in Martin Warnke: Kommentare (wie Anm. 7) S. 21. 15 Stultitiae Laus Desiderii Erasmi Roterodami declamatio. Das Lob der Torheit. In: Erasmus von Rotterdam: Ausgewhlte Schriften. Ausgabe in acht Bänden. Hg. v. Werner Welzig. Band II. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wendelin Schmidt-Dengler. Darmstadt 1975, S. 64 – 67. (Die Übersetzung wurde von mir leicht modifiziert).

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Philipp Rubens variiert die Bildlichkeit sowie den Stil des Erasmus, verschiebt aber das Ziel der überkommenen Polemik von Seneca auf die eigenen Zeitgenossen, die dessen Stoizismus beharrlich propagieren: Lipsius ist gewiß mitgemeint, wenn auch sein Name nicht fällt. Eine Randnotiz an der zitierten Briefstelle lautet: „Apathiae auctores Stilponenses, a Stilpone, non Stoici“16. Sie behauptet, das Ziel der Kritik sei das historisch weit entfernte Apatheia-Konzept Stilpons von Megara (um 380-um 300). Indem diese Notiz vordergründig von der aktuellen Apatheia-Debatte um Lipsius ablenkt und den stoischen Kontext expressis verbis negiert, legt sie hintergründig doch gerade nahe, die Kritik am uralten Apatheia-Postulat auch im Hinblick auf die Doktrin des Neostoizismus, und das heißt auf den ebenso dezent wie demonstrativ verschwiegenen Lipsius hin zu reflektieren. Eine Antwort des Malers auf diesen Brief ist nicht bekannt, Peter Paul Rubens sah ihn aber als bedeutsam und charakteristisch für das Temperament und die Einstellung seines Bruders an und fand wahrscheinlich auch eigene Ansichten darin wieder. So bewahrte er ihn auf und ließ ihn vierzehn Jahre später im Anhang zu Philipps S. Asterii Amaseae Homiliae (Antwerpen 1615) abdrucken. Das Lipsius-Porträt in Rubens’ Memorialgemälde erinnert an die Kritik aus Philipps Brief und an den ihr zugrunde liegenden Topos: Ihre Spuren finden sich in Lipsius’ statuarischer Monumentalität, in seinem fixierten Blick und dem insistierenden Pochen auf den gedruckten Text, vor allem aber in seiner Verbindung mit dem steinernen Seneca hinter ihm. Dessen römische Büste sowie der in gleicher Ausrichtung gemalte Kopf des niederländischen Neostoikers und seine angespannte Hand liegen auf einer Linie; der Maler und sein Bruder mit der in besinnlichem Fingerspiel erhobenen Feder bilden die Gegendiagonale; diese führt antithetisch zu den fast blockartig mit Büchern verbundenen Händen der Dogmatiker. Lipsius findet keinen lebendigen Gesprächsund Schreibkontakt mehr, seine Gestik bekommt keine Resonanz: Anders als der eifrige Schüler im Münchener Gemälde Der Tod des Seneca scheint Philipp vorerst nicht daran zu denken, weitere Lehren zu notieren; auch Wowerius hat seine Schreibfedern abgelegt, und der Maler selbst schaut wie im Vorübergehen über die Gruppe hinweg.17 16 Correspondance de Rubens (wie Anm. 2) Bd. I., S. 5. 17 Die Vorbehalte der beiden Rubens-Brüder gegenüber Lipsius und seiner Lehre werden bei aller Deutlichkeit des Briefes wie des Gemäldes von Sympathie getragen. Das Gemälde zeigt eben auch Philipps persönliche Zuneigung zu

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Im Gedenkbild für seinen Bruder und Justus Lipsius hat Peter Paul Rubens seine eigene Haltung zur Stoa visuell formuliert: Er steht in größter Nähe hinter Philipp, unmittelbar am Rande, aber doch außerhalb des innersten Zirkels der Stoiker mit ihren Büchern und ihrem Schreibzeug. Es ist vermutlich nicht allein die Ehrfurcht, die den Maler davon abhält, sich ganz in die Stoikerszene einzufügen. Seine Selbstpositionierung drückt innere Distanz zur Stoa aus. Rubens stellt sich in einer Ausdrucksgebärde dar, die schon den Tod der beiden im Gemälde vergegenwärtigten Gefährten reflektiert: nicht in stoischer Indifferenz, sondern melancholisch und in offener Trauer. Woverius hatte ihm zu Philipps Tod, ganz nach stoischem Ritual, die philosophische Trostschrift De Consolatione ad Petrum Paullum Rubenium Liber 18 verfaßt, die für den Maler von großer Bedeutung war. Das Gemälde aber setzt andere Akzente. Mit seinem Selbstbild im Bild des Lipsius und seiner Schüler weist Rubens über die Welt des Wortes und den Trost der stoischen Philosophie hinaus. Er steht wie zum Schritt ins Freie bereit, und vor ihm entfaltet sich die sinnliche Fülle der im Abendlicht leuchtenden römischen Landschaft, die er in persönlichen Erinnerungen mit dem verstorbenen Bruder verbindet. Als Maler enthüllt er sie wie ein Gemälde, das die antike Geschichte – angedeutet in den Ruinen des Palatin – mit der lebendig gegenwärtigen Natur vereint. Diese in der Bildmitte eröffnete Weite des Blicks und der künstlerischen Weltwahrnehmung symbolisiert ein Korrektiv gegenüber einem Neostoizismus, der wortlastig und eng den moribus antiquis 19 anhängt, die Sicht auf die Antike seinem Lehrer, den der Maler seinerseits auf anekdotische Weise menschlich nahebringt: Indem er den Philosophen einen Hund beigibt, nimmt er zwar eine Tradition auf, die in diesem Tier einen traditionellen Begleiter des Gelehrten sieht, wie beispielsweise in Dürers Kupferstichen Hieronymus im Gehuse (1514) und Melencolia I (1514), in denen der Hund jeweils den unterschiedlichen Figurationen von Wissenschaft und Leben entspricht: dem in sich ruhenden Hieronymus und der sich auszehrenden Melancholie. Rubens spielt aber vor allem humorvoll auf den von Lipsius’ Freunden und Gegnern gern kommentierten Eifer an, mit dem der Gelehrte bildungsgesättigte Briefe, Gedichte und sogar eine Abhandlung über seine Hunde und den Hund im Allgemeinen schrieb. – Justus Lipsius: Von der wunderbaren Natur und Eygenschaft der Hunde. (Deutsch 1614). 18 Zur stoischen Konsolationsliteratur vgl. den Beitrag von Bernhard Zimmerman im vorliegenden Werk. 19 So lautet ein Lipsius-Motto, das auch im Porträt-Medaillon des Gelehrten in dem auf Rubens zurückgehenden Titelkupfer der Opera omnia erscheint (Vgl. Anm. 10).

Rubens und die stoische Philosophie des Justus Lipsius

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einschränkt und sich mit einer dogmatisierten Apatheia aus dem Leben zurückzieht. Nicht von ungefähr präsentiert Rubens die Antike in seinem späteren Werk in einem figurenreichen und weiten Spektrum intensiver Affekte und Leidenschaften, die er mit der ihm eigenen Verve als conditio humana vor Augen führt. Über die Äußerung von Affekten als Ausdruck von Menschlichkeit schreibt Rubens in einem Brief vom 19. 7. 1626, in dem er einen Monat nach dem Tod seiner Frau, Isabella Brant, seine Erschütterung durch diesen Verlust nicht verbirgt. In der vertraulich persönlichen Antwort auf die Consolatio seines langjährigen Pariser Briefpartners, des gebildeten königlichen Bibliothekars und Richelieu-Beraters Pierre Dupuy, rechtfertigt der Maler seine tiefe seelische Bewegtheit und stellt die Erfahrung des Lebens gegen die Ideologie einer rigiden Apatheia: V. S. fa bene di rimettermi alla necessità del fato che non si piega alle nostre passioni, y come un effetto della suprema potenza non é obligato di render conto né ragione à noi delle sue attioni. Tocca a lui il dominio assoluto d’ogni cosa, et a noi il servire et ubidire; né resta altro, al parer mio, che di rendere questa servitù […] col assenso voluntario; ma non mi pare negocio tanto leggiero ne pratticabile al instante et perció V. S. prudentissimamente mi racomanda il tempo, il quale, spero, fará in me quello che doverebbe far la ragione; perché io non ho pretentioni d’arrivar giamai alla impassibilità stoica ne penso d’esser impropria all’ huomo alcuna qualità humana congrua al suo oggetto, né tutte le cose di questo mondo esser ugualmente indifferenti, sed aliqua esse quae potius sunt extra vitia quam cum virtutibus, et che si vindicano mentalmente qualcunque sentimento nel animo nostro citra reprehensionem. Io veramente ho perso una buonissima compagna, che si poteva ansi doveva amar con raggione, […] Et un tal danno mi par degno di gran sentimento […].20 Vostra Signoria tun gut daran, mich an die Nötigung durch das Schicksal zu erinnern, das sich nicht um unsere Gefühle kümmert und als Wirkung der höchsten Macht uns weder Rechenschaft noch eine Erklärung geben muß für seine Taten. Ihm steht die absolute Herrschaft über alles zu, und wir müssen dienen und gehorchen; und es bleibt uns, denke ich, nichts anderes, als diesen […] Dienst mit freiwilliger Zustimmung zu leisten; aber mir scheint, die Pflicht ist nicht leicht und augenblicklich für mich nicht zu erfüllen, und daher, Euer Wohlgeboren, ist es sehr klug von Ihnen, mich auf die Zeit zu verweisen, die, so hoffe ich, in mir das tun wird, was die Vernunft tun müßte; ich habe daher nicht den anmaßenden Anspruch, jemals zum stoischen Gleichmut zu gelangen, und glaube nicht, daß dem Menschen ein seiner Situation angemessenes Empfinden nicht geziemt, noch auch, daß alles in dieser Welt gleichgültig ist, sondern daß es auch etwas 20 Correspondance de Rubens (Anm. 2), Band VI, S. 444 f. (15. 7. 1626).

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Klaus Mönig

gibt, das eher dem Laster fern als der Tugend nahe liegt, und das von uns eine emotionale Anteilnahme fordert, die ber allen Tadel erhaben ist.21 Ich habe wahrhaftig eine sehr gute Gefährtin verloren, die man mit Vernunft lieben konnte, ja mußte […]. Und solch ein Verlust scheint mir eines großen Gefühls würdig […]

Am Beginn dieses Briefes stimmt Rubens der für die stoischen Consolationes üblichen Rede vom Fatum und von der Pflicht zur Schicksalsergebenheit zu. Dann aber formuliert er seine Einwände, nicht – wie sein Bruder – prinzipiell und in rhetorischem Spiel mit einer längst formierten Tradition der Apatheia-Kritik, sondern als Summe ganz persönlicher Erlebnisse und als Ausdruck augenblicklicher Befindlichkeit. Bis zum Datum seines Briefes hatte Rubens eine Reihe von Schicksalsschlägen hinnehmen müssen: 1608 den Tod der Mutter, für die er Italien – zu spät – verlassen hatte; 1610 den Tod seines römischen Malerfreundes Adam Elsheimer; 1611 starb sein Bruder, 1623 seine zwölfjährige Tochter Clara Serena, 1626 folgte der plötzliche Tod seiner Frau – und immer wurde er von seinen Freunden mit stoizistischen Consolationes getröstet und ermahnt.22 Die ihnen zugrunde liegenden Leitvorstellungen bezweifelt er nun, nicht apodiktisch, sondern in Form eines existentiellen Credos: Dem Fatum aus freien Stücken zuzustimmen ist bisweilen eine Überforderung; auf die Trostkraft der Vernunft kann man nicht rechnen, eher noch auf die heilende Wirkung der Zeit; die Begriffe von Tugend und Laster gelten nicht universell; gegen das Prinzip der Indifferentia steht der Glaube an das Recht zum jeweils angemessenen Empfinden; besonders die Erfahrung des Todes ist eines großen Schmerzes, einer tiefen Trauer und auch ihrer Äußerung würdig; der Anspruch, das Ideal der Apatheia zu verwirklichen, kann Anmaßung bedeuten. In diesen subjektiven und doch auch schon fast systematischen Einwendungen gegen Grundprinzipien stoischer 21 Mit dem Zitat aus Tacitus’ Historiae I, 49 betont Rubens, daß die Phänomene, von denen er hier spricht, mit den stoischen Begriffen von Tugend und Laster nicht zu erfassen und zu beurteilen sind. 22 In einer solchen Consolatio zu Clara Serenas Tod äußert der französische Gelehrte Nicolas-Claude Fabri de Peiresc (1580 – 1637) den stoischen Gedanken, angesichts der „fragilità del genere umano“ könne man über eine frühe Befreiung vom Leben auch froh sein (Correspondance de Rubens (Anm. 2), Band III, S. 268). Rubens’ Florentiner Bildnis der Isabella Brant wäre im Zusammenhang damit wie eine Entgegnung zu betrachten: Es zeigt „die Mutter gramverzehrt, sichtlich gealtert, in Trauerstellung verharrend“ (Martin Warnke: Kommentare (wie Anm. 7) S. 26 f.).

Rubens und die stoische Philosophie des Justus Lipsius

669

Welthaltung gebraucht Rubens nicht den ihm durchaus vertrauten und naheliegenden Begriff der Apatheia, den Philipp in seinem Brief an ihn in griechischer Schreibweise als philosophisches Konzept zitiert. Der Maler wählt stattdessen das allgemeinere italienische Wort „impassibilità“; er bleibt im persönlichen Idiom seines Briefes und in der lebendigen Sprache seiner existentiellen Erfahrung. Indem er die „impassibilità“ aber mit dem Adjektiv „stoica“ qualifiziert, stellt er sie explizit in den Horizont der neostoizistischen Philosophie, deren Grundsätze er umschreibt, um sie zugunsten eines humaneren Menschenbilds in Frage zu stellen.23 Seine Kritik negiert die Stoa zwar nicht absolut, sie verlangt jedoch nach einer menschlichen Korrektur der neostoizistischen Tendenz zur starren Apatheia-Ideologie. In diesem humanen Sinn relativiert Rubens die mit Senecas Formel contemnere utramque fortunam 24 eingeforderte Verachtung des Leids wie auch des Glücks. So formuliert er 1634 im Hochgefühl seiner neuen Ehe mit der jungen und lebensfrohen Helena Fourment zwar vordergründig seine Zustimmung zum Ideal der Apatheia, er unterläuft sie jedoch subversiv, wenn er in einer paradoxen Ergänzung die Sinnesfreude rehabilitiert, wie er sie in seinen zahlreichen Helena-Fourment-Gemälden fulminant zum Ausdruck bringt: „et si come primas damus alla mortificatione fruimur licita voluptate cum gratiarum actione“25 – „und wenn wir auch die Abtötung der Affekte als das Erste ansehen, genießen wir dankbar die uns vergönnte Lust“.

23 Auch die in der Fortsetzung der hier zitierten Briefstelle geäußerte Art, mit dem erlittenen Leid umzugehen, widerspricht den Anleitungen der Stoiker: „la vera medicina di tutti mali è l’oblivione figlia del Tempo“ (die wahre Medizin gegen allen Schmerz ist das Vergessen, die Tochter der Zeit) und „Io crederei un viaggio esser proprio per levarmi“ (Ich möchte glauben, daß eine Reise geeignet ist, mich aufzurichten). Gegen letzteres galt in der stoischen Lehre die auf Sokrates zurückgehende Sentenz: quod mecum peregrinabor et me ipsum circumferam (daß ich mit mir reise und mich selbst mit herumschleppe). Rubens zitiert sie, konstatiert ihre prinzipielle Gültigkeit, trifft aber für sich eine andere Entscheidung. 24 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales. 71,37. 25 Correspondance de Rubens (wie Anm. 2) Bd. VI, S. 82. (18. 12. 1634, Brief an Nicolas-Claude Fabri de Peiresc).

Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik Band 2



Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne Herausgegeben von

Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann

Band 2

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020405-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Inhalt

ZWEITER BAND IV. Stoizismus in der Literatur des 17. Jahrhunderts Paul Goetsch Shakespeare und die englische Rezeption des Stoizismus . . . . .

673

Achim Aurnhammer Martin Opitz’ Trost-Getichte: ein Gründungstext der deutschen Nationalliteratur aus dem Geist des Stoizismus .

711

Katharina Grätz Seneca christianus. Transformationen stoischer Vorstellungen in Andreas Gryphius’ Märtyrerdramen Catharina von Georgien und Papinian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

731

Jochen Schmidt Petrarkismus und Stoizismus: Die Kreuzung konträrer Diskurse in Paul Flemings Liebeslyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

771

Barbara Neymeyr Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett An sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

787

Jochen Schmidt Eine stoische meditatio mortis: Paul Flemings Grabschrift auf sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

807

Thorsten Fitzon Von müßigen Geschäften und freiheitlichem Stand. Stoische Tradition in der Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

833

VI

Inhalt

V. Stoische Konzepte in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Romantik Dieter Martin Wielands Auseinandersetzung mit dem Stoizismus aus dem Geist skeptischer Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

855

Barbara Neymeyr Navigation mit Virtus und Fortuna. Goethes Gedicht Seefahrt und seine stoische Grundkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

875

Barbara Neymeyr „Seelenstärke“ und „Gemütsfreiheit“. Stoisches Ethos in Schillers ästhetischen Schriften und in seinem Drama Maria Stuart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

897

Jochen Schmidt Stoischer Pantheismus als Medium des Säkularisierungsprozesses und als Psychotherapeutikum um 1800: Hölderlins Hyperion . .

927

Jochen Schmidt Die poetologische Transformation der stoischen Euthymie: Marc Aurel und Hölderlins Ode Dichtermut . . . . . . . . . . . . . . .

951

Jochen Schmidt Die Aktualisierung des preußisch-stoischen Erbes: Kleists Prinz Friedrich von Homburg als patriotischer Appell am Vorabend der Befreiungskriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

963

VI. Der Stoizismus in der philosophischen Diskussion vom 17. bis zum 19. Jahrhundert Wilhelm Dilthey Die Autonomie des Denkens im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . .

977

Hanna Klessinger Spinozas Stoizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

997

Lothar Willms Pascals Auseinandersetzung mit der Stoa. Zwischen Paradox und Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1017

VII

Inhalt

Friedrich A. Uehlein „Stoisch, wahrhaft sokratisch“. Epiktet und Marc Aurel in der Philosophie Shaftesburys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1047

Sabine Föllinger Der Einfluß der stoischen Philosophie auf die Grundlagen der modernen Wirtschaftstheorie bei Adam Smith . . . . . . . . . .

1063

Christoph Horn Kant und die Stoiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1081

Maximilian Forschner Die Synthese epikureischer und stoischer Elemente in John Stuart Mills Utilitarianism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1105

Barbara Neymeyr Ataraxie und Rigorismus. Schopenhauers ambivalentes Verhältnis zur stoischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1141

Barbara Neymeyr „Selbst-Tyrannei“ und „Bildsäulenkälte“. Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit der stoischen Moral . . . . . . . . . . . . . .

1165

VII. Stoische Anthropologie im kulturellen Spektrum des 20. Jahrhunderts Frank Pauly Vom Überleben in heillosen Zeiten. Stoizismus in der Weltliteratur vom Fin de siècle bis zur Gegenwart . . . . . . . . .

1201

Frank Pauly Der Stoiker als komischer Typus. Stoa-Parodien in Literatur und Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1267

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1297

VIII

Inhalt

ERSTER BAND I. Überblick und Basiskonzepte Jochen Schmidt Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Dorothea Frede Determinismus in der Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

Maximilian Forschner Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung . . . . . . . .

169

Bernhard Zimmermann Philosophie als Psychotherapie. Die griechisch-römische Consolationsliteratur . . . . . . . . . . . . .

193

Jochen Schmidt Stoische Naturphilosophie und ihre Psychologisierung: Feuer als Prinzip des Schaffens und Zerstörens von der Antike bis zu Goethe und Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Sebastian Kaufmann Die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

II. Mythologische und historische Paradigmata Jochen Schmidt Herakles als Ideal stoischer Virtus. Antike Tradition und neuzeitliche Inszenierung von der Renaissance bis 1800. . . . . .

295

Barbara Neymeyr Laokoon als Prototyp stoischer Schmerzbewältigung? Winckelmanns Deutung im Kontext ästhetischer Kontroversen

343

Barbara Beßlich Cato als Repräsentant stoisch formierten Republikanertums von der Antike bis zur Französischen Revolution . . . . . . . . . .

365

Inhalt

Bernhard Zimmermann Der Tod des Philosophen Seneca. Stoische probatio in Literatur, Kunst und Musik . . . . . . . . . . .

IX

393

III. Humanismus und Stoa Marlene Meuer Petrarcas Begründung der humanistischen Moralphilosophie: Rezeption und Relativierung der stoischen Tradition . . . . . . .

425

Klaus Mönig Kritische Reflexionen über die Stoa: Leon Battista Albertis Profugiorum ab aerumna libri III . . . . . . . .

453

Klaus Mönig Zenons glücklicher Schiffbruch am Felsen der Weisheit: Eine stoische Allegorie im Dom zu Siena . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

Peter Walter „Nihil enim huius praeceptis sanctius“ Das Seneca-Bild des Erasmus von Rotterdam . . . . . . . . . . . . .

501

Hugo Friedrich Montaignes skeptische Stoa-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

525

Günter Frank Stoa und frühneuzeitliche Rationalität: Philipp Melanchthons Konzept der Geistphilosophie . . . . . . . .

549

Gerhard Oestreich Justus Lipsius und der politische Neustoizismus in Europa . . . .

575

Andreas Urs Sommer Das Leben als Krieg. Eine Leitmetapher bei Seneca und Lipsius

631

Klaus Mönig Peter Paul Rubens und die stoische Philosophie des Justus Lipsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

655

IV. Stoizismus in der Literatur des 17. Jahrhunderts

Shakespeare und die englische Rezeption des Stoizismus von Paul Goetsch Die Rezeption des Stoizismus in der Shakespeare-Zeit Obgleich Augustin 410 meinte, die Asche des Epikureismus wie des Stoizismus sei längst erkaltet,1 gerieten beide philosophischen Schulen im Mittelalter nicht in Vergessenheit. Größere Bedeutung gewann der Stoizismus jedoch erst wieder im Humanismus der frühen Neuzeit. Während die Epikureer im 15. und 16. Jahrhundert als materialistisch und atheistisch verschrien waren, fand der Stoizismus neben Gegnern relativ viele Befürworter. Nach Ansicht von William J. Bowsma stellte er sogar einen der beiden Pole dar, um die sich die Kultur der Renaissance drehte; als den anderen Pol bezeichnet Bowsma die Lehren Augustins.2 Die Anziehungskraft des Stoizismus gründete u. a. auf seiner Betonung der Vernunft und der naturgegebenen Ordnung, seiner Mischung von pantheistischen, theistischen und polytheistischen Elementen und nicht zuletzt seiner vermeintlichen Nähe zum Christentum.3 Wurde diese Affinität von Kritikern der stoischen Bewegung bestritten, so bemühten sich Neustoiker wie Justus Lipsius und Guillaume Du Vair, stoische und christliche Vorstellungen miteinander in Einklang zu bringen. Schwierigkeiten bereiteten vor allem die stoische Konzeption von clementia und fatum sowie die Einstellung zum Selbstmord. In De constantia akzeptierte Lipsius beispielsweise die Milde bzw. Güte in Anlehnung an Seneca als männlich, tolerierte die Barmherzigkeit, ver1 2 3

Vgl. Michael Erler: Epikur – Die Schule Epikurs. Lukrez, in: Die Philosophie der Antike, Bd. 4: Die Hellenistische Philosophie, hg. von Hellmuth Flashar, Basel 1994, S. 203 – 490, dort S. 189. Vgl. William J. Bowsma: A Usable Past: Essays in European Cultural History, Berkeley 1975, S. 19 – 73. Vgl. The Cambridge Companion to the Stoics, hg. von Brad Inwood. Cambridge 2003.

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Paul Goetsch

warf aber das Mitleid als weibisch.4 Andererseits glaubte er an die göttliche Vorsehung und lehnte den Selbstmord ab. Die Neustoiker vernachlässigten die organische Einheit von Logik, Physik und Ethik, die die alte Stoa postuliert hatte. Statt dessen konzentrierten sie sich auf die Ethik. Lipsius verstand den Stoizismus als einen Verhaltenskodex, der dem Individuum, unabhängig von seiner Konfessionszugehörigkeit, in der Zeit der Religionskriege und des Absolutismus einen Halt bieten und die Anpassung an widrige Verhältnisse erleichtern konnte.5 Zur selektiven Wahrnehmung und Aneignung der älteren Stoa trug auch die Tatsache bei, daß aufgrund der Textüberlieferung neben dem StoaSympathisanten Cicero Seneca weitaus bekannter war als andere römische und griechische Stoiker. Die Rezeption des Stoizismus in der Shakespeare-Zeit wurde vorbereitet und dann begleitet von einer regen Editions- und Übersetzungstätigkeit.6 Diese setzte um 1535 ein und erreichte einen Höhepunkt im Zeitraum von 1590 bis 1615. Übersetzt wurden z. B. Ciceros De officiis (1534) und Paradoxa (1540), Epitekts Handbuch der Moral (1567, 1610), Mark Aurels Meditationes (1534, 10 Auflagen bis 1586), Senecas De beneficiis (1578) und seine philosophischen Schriften insgesamt (1614, 1620). Lipsius’ weit verbreitetes Werk De constantia (1584) und sein Buch Politicorum, sive civilis doctrinae libri sex (1589) erschienen 1594 auf englisch, Du Vairs La philosophie morale des Stoiques (1585) im Jahre 1598. Von Boethius’ Consolatio philosophiae, einem Werk, das stoisches Gedankengut enthält, legte u. a. Königin Elisabeth 1593 eine Übersetzung vor, die anscheinend am Hof zirkulierte.7 Daß der Stoizismus besonders in Kreisen des Adels und des Hofes Beachtung fand, dokumentieren auch zeitgenössische Fürstenspiegel und Traktate. In The Boke Named the Governor (1531) beruft sich 4 5

6

7

Vgl. Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit (De constantia), hg. von Leonard Forster, Stuttgart 1965, S. 35. Vgl. Gerhard Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547 – 1606): Der Neustoizismus als politische Bewegung, Göttingen 1989; Adriana McCrea: Constant Minds: Political Virtue and the Lipsian Paradigm in England, 1584 – 1650, Toronto 1997. Justus Lipsius: Two Bokes of Constancie, hg. von Rudolf Kirk, New Brunswick 1939, S. 13 – 32; Earl Miner: Patterns of Stoicism in Thought and Prose Styles, 1530 – 1700, in: Publications of the Modern Language Association of America 85, 1970, S. 1023 – 1034. Vgl. Lysbeth Benkert: Translation as Image-Making: Elizabeth I’s Translation of Boethius’s „Consolation of Philosophy“, in: Early Modern Literary Studies 6, 2001, 2.1 – 20.

Shakespeare und die englische Rezeption des Stoizismus

675

Thomas Elyot in dem Kapitel „Of Constancie or Stabilitie“ auf Cicero und Cato, assoziiert constantia mit Vernunft und Männlichkeit und bezeichnet Selbstbeherrschung und Mäßigung als Haupttugenden. In Basilikon Doron (1599), einer an den Kronprinzen adressierten Schrift, äußert der spätere englische König James I. konventionelle Vorbehalte gegen rebellische Puritaner und stoische Masken tragende, karrieresüchtige Höflinge. Er fordert seinen Sohn auf, kein stoischer ,Stock‘8 zu werden, sich andererseits aber nicht von Gefühlen zu unvernünftigen Handlungen hinreißen zu lassen. Zu den fürstlichen Tugenden zählt er Güte, Großherzigkeit, Beständigkeit und Demut.9 In Krisensituationen sind besonders kühle Planung, Entschlußkraft, Beständigkeit und schnelles Handeln gefragt. Als Vorbilder nennt James die tugendhaften alten Römer. Sich selbst ließ er später in Umzügen und Maskenspielen als Nachfahre der römischen Caesaren feiern. Mit Traktaten, Satiren, Episteln, Charakterskizzen, Essays und Predigten suchte der Bischof Joseph Hall den Hof und eine größere Öffentlichkeit zu erreichen. Als der bedeutendste Neustoiker Englands im 17. Jahrhundert imitierte er in Publikationen wie Characters of Virtues and Vices (1608) immer wieder Seneca und huldigte dem Stoizismus. Er ließ aber keinen Zweifel an der Überlegenheit des Christentums. Im Vorwort zu Heaven upon Earth (1606) erklärte er 1627, als Philosoph sei er Seneca gefolgt, doch als Christ und Seelsorger über ihn hinausgegangen.10 Gleichwohl hielt er wie andere zeitgenössische Geistliche die antiken Morallehren nach wie vor für relevant. Vorstellungen des Stoizismus und Neustoizismus drangen gelegentlich auch in die Lyrik ein, so etwa in Ben Jonsons Gedichte und Shakespeares Sonett 94. In Satiren dienten sie des öfteren als Maßstab der Bewertung und als Mittel moralischer Belehrung. Zur Popularisierung stoischen Gedankenguts trug vor allem das elisabethanische und frühe jakobäische Drama bei. Verantwortlich war dafür nicht der große 8 Wegen des ähnlichen Klangs der Wörter begegnet die abschätzig gemeinte Gleichsetzung von ,Stoics‘ und ,stocks‘ häufig. Die Stoiker gleichen wegen ihrer Gefühlskontrolle oder -kälte dem ,Gefangenenstock‘ (siehe Grimms Deutsches Wçrterbuch) oder dem im Holzblock an Händen, Füßen, seltener am Hals eingesperrten Delinquenten. 9 Vgl. The Political Works of James I, hg. von Charles Howard McIlvain, New York 1965, S. 38. Vgl. ebda., S. 42. 10 Vgl. Philip A. Smith: Bishop Hall, „Our English Seneca,“ in: Publications of the Modern Language Association of America 63, 1948, S. 1191 – 1204, dort S. 1198.

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Paul Goetsch

Einfluß der Stücke Senecas auf die zeitgenössische englische Tragödie, denn daß der Dramatiker Seneca mit dem Philosophen identisch ist, war den englischen Autoren nicht unbedingt bewußt. Ausschlaggebend war vielmehr, daß in der Rezeption des Stoizismus ethische Fragestellungen dominierten.11 Die Gattung Drama bot sich an, um den Verhaltenskodex, die Entscheidungen und Handlungen sich zum Stoizismus bekennender Figuren zu veranschaulichen und verschiedene stoische Themen zu gestalten, auf die Probe zu stellen und ggf. zu kritisieren. Nahe lag das u. a. in Römer-Dramen, deren Beliebtheit – aus der Zeit von 1585 bis 1635 sind 43 Stücke über Rom12 erhalten – mit der Neigung der Elisabethaner und Jakobäer zusammenhängt, England als Nachfolger des römischen Imperiums zu verstehen und politische Probleme der eigenen Zeit, etwa das der absolutistischen Herrschaft, auf die römische Geschichte zu projizieren. In manchen Römer-Dramen ist es kaum möglich, zwischen romanitas, römischen Ehrvorstellungen und stoizistischen Gedankengängen zu differenzieren. Damit ist eine grundsätzliche Schwierigkeit angesprochen, mit der alle Rezeptionsstudien zu ringen haben. Der Stoizismus gleicht einem Chamäleon, das sich der jeweiligen Umgebung anpaßt. Zu enge Definitionen des Stoizismus sind deshalb ebenso problematisch wie die Vernachlässigung des Kontextes. Zum Forschungsstand Zur Aufnahme der Dramen Senecas und des Stoizismus in der Shakespeare-Zeit liegen zahlreiche Untersuchungen vor. Erwiesenermaßen haben sich George Chapman und Ben Jonson intensiv mit Lipsius und der Stoa auseinandergesetzt und entsprechend orientierte Stücke und Maskenspiele verfaßt. Bei anderen Dramatikern sind zumindest stoizistische Einflüsse registriert worden. Zu ihnen gehört auch Shakespeare. Wenn dieser im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht, dann sind dafür drei Gründe verantwortlich: erstens sein Rang als Dramatiker, zweitens die Tatsache, daß er sich in mehreren Arten des Dramas auf den Stoizismus einläßt und so verschiedene Möglichkeiten 11 Dazu, daß Senecas Dramen und einige englische Stücke auch kosmologische Annahmen der Stoiker illustrieren, vgl. T. G. Rosenmeyer: Senecan Tragedy and Stoic Cosmology, Berkeley 1989. 12 Vgl. Clifford Ronan: „Antike Roman“. Power Symbology and the Roman Play in Early Modern England, 1585 – 1635, Athens, GA, 1995, S. 2.

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des Umgangs mit ihm illustriert, und drittens seine immer noch kontrovers beurteilte Beziehung zu philosophischen Strömungen. In dem Essay Shakespeare and the Stoicism of Seneca meinte T. S. Eliot 1927 spöttisch, nach der Behandlung des Verhältnisses von Shakespeare und Montaigne bzw. Machiavelli sei die Zeit für das Thema Shakespeare und der Stoizismus gekommen.13 Eliots Polemik richtete sich gegen die positivistische Einflußforschung, aber auch gegen die Auffassung, Shakespeare und andere große Schriftsteller seien in erster Linie Denker und Philosophen, nicht aber Dichter, deren Aufgabe es sei, menschliche Probleme und Einstellungen emotional, nicht intellektuell auszudrücken. An Eliots Thesen und seinen anregenden Beobachtungen zum Thema arbeiten sich die Kritiker bis heute ab. Einige Interpreten bewerten den Einfluß von Eliots Essay negativ. Alfred Harbage behauptet, Shakespeare sei kein Stoiker, und hält die Verwendung des Begriffs Stoizismus nur dann für sinnvoll, wenn er isoliert oder im Gegensatz zum Christentum gesehen werde.14 Gilles D. Monsarrat geht ebenfalls von einem engen Verständnis des Stoizismus aus. Er führt die Dramatiker Chapman, Ford, Marston und Massinger als Beweis für seine These an, daß stoische Figuren und Motive über den Hof hinaus die Gebildeten ansprachen, doch erklärt er, zu Shakespeare und dem Stoizismus gebe es wenig zu sagen.15 Andere Kritiker halten dagegen den Einfluß des Stoizismus für beträchtlich und weisen beispielsweise auf die Römer-Dramen hin. In Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre herrscht die Meinung vor, Shakespeare knüpfe an die zeitgenössische antistoische Tradition an und verurteile den Stolz, die Arroganz und Unmenschlichkeit der Stoiker. So stelle er etwa Caesar als zu Stein erstarrte Verkörperung stoischen Stolzes oder Brutus als geistesverwirrten Gewalttäter dar.16 13 Vgl. T.S. Eliot: Shakespeare and the Stoicism of Seneca, in: Shakespeare’s Tragedies: An Anthology of Modern Criticism, hg. von Laurence Lerner, Harmondsworth 1968, S. 301 – 313. 14 Vgl. Alfred Harbage: Shakespeare and the Rival Traditions, Bloomington 1970, S. 154 f. 15 Vgl. Gilles D. Monsarrat: Light from the Torch. Stoicism and English Renaissance Literature, Paris 1984, S. 137. 16 Vgl. John Anson: „Julius Caesar“: The Politics of the Hardened Heart, in: Shakespeare Studies 2, 1966, S. 11 – 33; Martin L. Vawter: „Division ‘tween Our Souls“: Shakespeare’s Stoic Brutus, in: Shakespeare Studies 7, 1974, S. 173 – 195, dort S. 182 („[Brutus] unleashes his demented mind upon the already sickened world.“). Vgl. auch die Forschungsskizze von Geoffrey Miles: Shakespeare and the Constant Romans, Oxford 1996, S. 1 – 5.

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In neueren Studien wird ein komplexeres Bild entworfen. Eliots Beobachtung, daß der Stoizismus eine von mehreren miteinander konkurrierenden Weltanschauungen der elisabethanischen Zeit war, wird ebenso berücksichtigt wie die Neudeutung des Stoizismus aus christlicher Sicht. Darüber hinaus wird beachtet, daß Shakespeare den Stoizismus zwar nicht so gut kannte wie Chapman und Jonson, aber durchaus mit der zeitgenössischen Diskussion über das Für und Wider der constantia und anderer Aspekte der stoischen Morallehre vertraut war. Nach Charles und Michelle Martindale verfolgt Shakespeare keine didaktische Absicht und verzichtet deshalb auf die Erschaffung vorbildlicher stoischer Helden. Er interessiert sich statt dessen dafür, wie Figuren mit stoischen Gemeinplätzen und Normen umgehen und sich ggf. aus psychologischen Gründen über stoische und andere weltanschauliche Glaubenssätze und Bindungen hinwegsetzen. Shakespeare nutzt aus einem ,künstlerischen Opportunismus‘ heraus („creative opportunism“) stoische Vorstellungen für die Zwecke seiner Dramen.17 Demgegenüber macht Geoffrey Miles geltend, daß Shakespeare den Stoizismus widersprüchlich bewertet und sich wegen seiner Mischung von Bewunderung und Kritik in eine Tradition einordnet, die Cicero, Erasmus und Montaigne einschließt und nicht einfach der antistoischen Bewegung zugerechnet werden sollte.18 Miles nimmt Shakespeares Auseinandersetzung mit dem Stoizismus ernster als T. S. Eliot. Aus der Perspektive der Martindales wäre einzuwenden, daß Shakespeare in einer Reihe von Stücken nicht die Ambivalenz des Stoizismus aufdeckt, sondern als Eklektiker stoische und antistoische Klischees aufruft, um kurz Einstellungen zu etikettieren und Figuren zu typisieren. Wie schon Eliot behauptete, benutzt Shakespeare in vielen Fällen den Neustoizismus so wie die Ideen Machiavellis oder den Skeptizismus eines Montaigne, nämlich als Arsenal von Anregungen für die Charakterisierung und Handlungsführung. Wegen seiner oft gerühmten Objektivität – Stanley Wells nennt ihn den superben Bauchredner („supreme ventriloquist“) 19 – ist seine eigene Meinung nicht immer erkennbar. Im folgenden wird der Umgang Shakespeares mit einigen stoischen Themen erörtert. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, daß der 17 Vgl. Charles und Michelle Martindale: Shakespeare and the Uses of Antiquity, London 1990, S. 167. 18 Vgl. Geoffrey Miles (wie Anm. 16), S. 5. 19 Stanley Wells: Current Issues in Shakespeare-Biography, in: In the Footsteps of William Shakespeare, hg. von Christa Jansohn, Münster 2005, S. 14.

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Autor in den Dramenarten Komödie, Romanze, Tragödie und dem Genre Römerdrama z. T. unterschiedliche Aspekte des Stoizismus betont.20 Shakespeares Komödien In Erasmus’ Lob der Torheit (1509) setzt sich die Titelgestalt mit den ,Fröschen der Stoa‘ auseinander, die gegen sie anquaken und ihr „Abhängigkeit vom Drang der Leidenschaften“ vorwerfen.21 Die Torheit charakterisiert die Stoiker als stolze Menschen, die sich den Göttern am nächsten dünken, ferner als Heuchler, die bei Vergnügungen als Spielverderber auftreten und in ein „brütendes Schweigen“ versinken oder, wie z. B. Cato, das Theater verlassen müssen, wenn sie ihre finstere Miene nicht ablegen wollen. Kurzum: der Torheit erscheinen die Stoiker als ,marmorne‘ Menschen – „stumpf und ohne jedes menschliche Gefühl“. Erfreulicherweise, so merkt die Torheit an, sind stoische Weise, so es sie denn überhaupt gibt, recht selten.22 Erasmus’ Torheit ist Klischeevorstellungen verpflichtet, die auch in den Komödien Shakespeares und seiner Zeitgenossen begegnen. Die Komödien heben die Widersprüchlichkeit der Menschen und die große Bedeutung von Gefühlen und Emotionen hervor und stellen wie Erasmus’ Torheit die Frage, „welcher Teil des Lebens denn nicht traurig, freudlos, unansehnlich, witzlos und beschwerlich ist, wenn man das Vergnügen, die Würze der Torheit, davon wegnimmt.“23 Für die Komödien ist der stoische Weise, den Beständigkeit, Vernunft und Affektbeherrschung auszeichnen, allenfalls – das hatte aber auch schon Seneca erkannt24 – eine Idealgestalt. In The Two Gentlemen of Verona ringt sich der unbeständige Liebhaber Proteus zu der Schlußfolgerung durch, daß allein die constantia den vollkommenen Mann schaffen 20 Shakespeare wird im folgenden zitiert nach: William Shakespeare: The Complete Works, hg. von Peter Alexander, London 1951. Die deutschen Übersetzungen werden nach den zweisprachigen dtv-Ausgaben zitiert, im Falle von Coriolanus, Love’s Labour Lost, Richard II und The Winter’s Tale nach: William Shakespeare: Werke in zwei Bnden, hg. von L.L. Schücking, München [1955]. 21 Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, übers. von Anton J. Gail, Stuttgart 1973, S. 21. 22 Ebda., S. 30, 36. 23 Ebda., S. 14. 24 Vgl. T. G. Rosenmeyer (wie Anm. 11), S. 2.

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könnte.25 Daß eine derartige Vollkommenheit jedoch problematisch wäre, drücken in den Komödien zum Beispiel Vergleiche mit Steinen oder Gefängnisstöcken aus. In Much Ado about Nothing greift Leonato einen anderen alten Einwand gegen die Stoiker – ihre Unfähigkeit, Zahnweh oder andere Schmerzen gelassen zu ertragen, – auf und akzeptiert die Gebrechlichkeit, aber auch Lebendigkeit des eigenen Körpers und damit seine Menschlichkeit („I will be flesh and blood.“ 5.1.34). Der stoische Weise rückt dagegen wegen seiner Affektkontrolle, seiner Sittenstrenge und seiner Abneigung gegen Vergnügungen in die Nähe des Theater, Feste und Spiele gleichermaßen verachtenden ,Puritaners‘. Ein amüsantes Beispiel ist das satirische Porträt des Richters Overdo in Ben Jonsons Komödie Bartholomew Fair (1614). Der selbstgefällige, aber naive puritanische Eiferer regt sich über die Jahrmarktsvergnügungen auf und stellt in der Verkleidung eines Narren (d. h. einer Parodie auf die verkleideten Herzöge in Measure for Measure und anderen Komödien) den Missetätern und kleinen Sündern nach, ohne Verständnis und Mitleid für die Schwächen der Menschen aufzubringen. Als er in den Gefängnisstock gesperrt wird (4.1.), ergeht er sich – immer noch im Narrenkostüm – in stoischen Klischees und glaubt, daß seine unerschütterliche Haltung ihm die Achtung auch seiner Feinde eintragen werde. Er provoziert jedoch nur eine andere Figur zu dem Kommentar, der Stoiker in dem Stock sei wohl ein Narr, der sich in einen Philosophen verwandelt habe.26 Als Vorbilder für Overdo, der schließlich aus seiner öffentlichen Demütigung lernt, sind zeitgenössische Londoner Bürgermeister genannt worden, ferner der gute Magistratsbeamte calvinistisch-stoizistischen Zuschnitts in Bischof Halls Characters of Virtues and Vices.27 Für Shakespeares Komödien ist alles in allem charakteristisch, daß sie – um eine Bemerkung Violas in Twelfth Night aufzunehmen – sich lieber mit weisen Narren und töricht handelnden weisen Männern („wise men, folly-fall’n“, 3.1.65) befassen als mit dem Ideal des stoischen Helden.

25 „O heaven, were man/but constant, he were perfect.“ (5. 4. 110f.). 26 „What’s here! A stoic i‘ the stocks? The fool is turned philosopher.“ (4.6.91). 27 Siehe Geoffrey Aggeler: Ben Jonson’s Justice Overdo and Joseph Hall’s Good Magistrate, in: English Studies 76, 1995, S. 434 – 442; Leah S. Marcus: The Politics of Mirth. Jonson, Herrick, Milton, Marvell, and the Defense of Old Holiday Pastimes, Chicago 1986, S. 38 – 63.

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In einigen Stücken werden die Zweifel am rigiden Verhaltenskodex der Stoiker in Handlung umgesetzt. In The Taming of the Shrew kommt Lucentio nach Padua in der Absicht, Ethik, besonders den Zusammenhang von Tugend und Glück, zu studieren. Sein Diener Tranio wendet gegen diesen Plan ein, daß die Tugendhaftigkeit zwar bewundernswert, aber kein Grund sei, zu Stoikern und ,Stöcken‘ zu werden (1.1.31), denn man lerne am besten, wenn das Studium Vergnügen bereite. Dieses Argument überzeugt Lucentio und stimmt den Zuschauer auf den unterhaltsamen, spielerisch-derben Erziehungsprozeß ein, dem die widerspenstige Kate unterworfen wird. Sowohl Kate als auch ihr Bändiger Petruchio erinnern an Kentauren und müssen lernen, ihre Triebnatur zu beherrschen. Diese Disziplinierung, die der Zähmung eines Pferdes oder Falken ähnelt, wird als Petruchios herkuleische Aufgabe charakterisiert. Daß der Erziehungsprozeß gelingt (wenn er auch aus feministischer Sicht problematisch bleibt), verdankt sich der erwachenden Liebe und Partnerschaft von Lehrer und Schülerin. Die völlige Unterwerfung Kates wird nur im spielerischen Wettstreit mit den anderen Liebespaaren gefordert. Entsprechend gleicht die erwartete Selbstdisziplinierung eher der traditionellen Vorstellung der Mäßigung als dem stoischen Verhaltenskodex. Wie in The Taming of the Shrew steht auch am Anfang von Love’s Labour Lost der Plan, Philosophie zu studieren. Der König von Navarra gründet eine Akademie, in der er und seine Höflinge sich drei Jahre lang der philosophischen Reflexion und der mönchischen Askese widmen wollen. Ein Hauptziel ist – das militärische Vokabular erinnert an Seneca – der Krieg gegen die eigenen Gefühle und Emotionen und das große Heer weltlicher Verlockungen und Versuchungen.28 Berownes Einwand, eine erfolgreiche Affektkontrolle sei Resultat der Gnade, nicht der Gewalt, wird ebenso mißachtet wie sein Zweifel am Sinn des bloßen Bücherstudiums. Kaum ist die Akademie gegründet, da müssen ihre Mitglieder bereits gegen ihr Gelübde, keine Frauen zu sehen, verstoßen, denn die Prinzessin von Frankreich und ihre Hofdamen kommen zu einem schon lange angekündigten Besuch. Anstatt ihre Gefühle zu unterdrücken, verwandeln sich die verhinderten Gelehrten in Soldaten der Liebe („affection’s men-at-arms“, 4. 3. 286). Dies wird in einer antistoischen Wendung deshalb begrüßt, weil die Durchführung des ursprünglichen Plans einen Verrat an der Natur der jungen 28 „That war against your own affections/and the huge army of the world’s desires.“ (1.1.9 f.).

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Männer bedeutet hätte.29 Wenn in Berownes Worten die Augen der Geliebten an die Stelle der Bücher treten, das Studium der Liebe an jenes der Philosophie, so heißt das nicht, daß die Akademiemitglieder von vorneherein fähig wären, sich spontan-natürlich zu verhalten. Die jungen Männer müssen sich von der affektierten Sprache der höfischen Liebe lösen und lernen, ein natürliches Verhältnis zur Liebe und Lebenswirklichkeit zu entwickeln. Dazu trägt die einjährige Probezeit bei, die ihnen von den Frauen infolge eines Todesfalls auferlegt wird. Erst am Ende des Jahres wird sich zeigen, ob die Liebe die Unbeständigkeit und andere Mängel der Liebenden vergessen machen kann. An einer Stelle des Stückes erklärt Rosaline: „Nie brennt der Jugend Blut so wild empört/Als strenger Ernst, wenn Mutwill’ ihn betört.“30 Diese Aussage umreißt die Einstellung Angelos im ersten Teil von Measure for Measure. Wie den Bemerkungen anderer Figuren zu entnehmen ist, vereint er in sich einige Merkmale des Puritaners und des Stoikers. Anstatt Blut hat er „Eiswasser im Leib“ (1.4.57 f.), sein Hunger sucht eher Steine als Brot (1.3.52 f.), und im Fleisch hat er nie „den Stich und Sinnenkitzel“ gespürt („The wanton stings and motions of the sense.“1.4.59). Da er den Ruf eines sittenstrengen Moralisten genießt, überträgt ihm der Herzog von Wien die Aufgabe, als Statthalter die lasche Moral der Bevökerung zu bekämpfen. Nicht nur aus „Amtsernst“ („gravity“, 2.4.9), sondern auch aufgrund einer puritanischen Aversion gegen Sexualität geht Angelo rigoros gegen Unzucht vor und verurteilt Claudio wegen einer vorehelichen Beziehung zum Tode. Als dessen Schwester Isabella um Gnade bittet, gibt sich Angelo (der Jahre zuvor seine Verlobte sitzen ließ, als keine Aussteuer mehr zu erwarten war) zunächst hart und abweisend, verliebt sich dann aber in die junge Frau und versucht, sie sexuell zu erpressen. Der Versuch scheitert, denn Isabella stellt in Formulierungen, die „sexuell gefärbt“ sind, das Ideal der Keuschheit über das Leben ihres Bruders. Isabella und Angelo gleichen einander in ihrer Sittenstrenge und ihren sexualpathologischen Zügen. Beide sind „Fundamentalisten“, die „nicht den eigenen, selbstgerecht vertretenen Dogmen“ genügen.31 Angelos positives Selbstbild bricht zusammen: „Die Tat löst mich ganz auf, macht mich verschwommen/ 29 „Flat treason ‘gainst the kingly state of youth.“ (4. 3. 289). 30 „The blood of youth burns not with such excess/As gravity’s revolt to wantonness.“ (5.2.73 f.). 31 Frank Günther: Aus der bersetzerwerkstatt, in: William Shakespeare, „Maß fr Maß“, hg. von Frank Günther, München 2000, S. 220 – 246, dort S. 239 f.

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Und stumpf von allem Handeln.“32 Isabella kann ihrerseits nicht so stoisch-geduldig reagieren, wie das der Herzog fordert. Um den tragischen Ausgang seines Herrschaftsexperiments abzuwenden und die Handlung in ein komödienhaftes Happy-End einmünden zu lassen, bedient sich der Herzog des moralischen Appells an die Beteiligten und im Falle Claudios einer langen Trostrede (3.1.5 ff.), die stoische und christliche Argumente miteinander verbindet, aber Claudios Lebenswillen unterschätzt. Darüber hinaus setzt der Herzog in machiavellistischer Manier die Mittel der Verstellung und Intrige ein. Wenn er am Schluß überraschend Isabella heiratet, so mag dies als Verbindung von Weisheit und Recht angesehen werden, als Ausdruck der Einsicht, bei der Anwendung des Rechts bis zu einem gewissen Grade die menschliche Unzulänglichkeit und Unbeständigkeit akzeptieren und vergeben zu müssen.33 Viele Kritiker halten jedoch das Ende des Stückes für problematisch und rechnen deshalb Measure for Measure eher zu den sog. Problemstücken als zu den romantischen Komödien. Daß in Shakespeares Komödien nicht nur die stoische Einstellung zu Vernunft, Gefühlen und Emotionen getestet wird, illustriert As You Like It. Dieses Werk kontrastiert verschiedene Auffassungen der Liebe miteinander, wendet sich darüber hinaus aber auch der Frage zu, wie Menschen sich mit Schicksalsschlägen und der Wirkung des Zufalls auseinandersetzen. Der Herzog und einige Adlige sind vom Hof vertrieben worden und haben sich in den Wald von Arden geflüchtet; Zuflucht suchen dort auch andere Opfer politischer Willkür oder gemeiner Intrigen sowie weitere Anhänger des Herzogs. Wie sich der Herzog und andere Figuren mit ihrem Schicksal abfinden, erinnert an die stoische Morallehre. Charles und Michelle Martindale haben die Renaissance-Version des Stoizismus als eine therapeutische Philosophie bezeichnet, die dem Individuum helfen soll, die Wechselfälle des Lebens zu ertragen und gefaßt, ja gelassen mit ihnen umzugehen.34 In As You Like It tritt der 32 „This deed unshapes me quite, makes me unpregnant/And dull to all proceedings.“ (4.4.18 f.). 33 Vgl. Barbara Tovey: Wisdom and the Law: Thoughts on the Political Philosophy of „Measure for Measure“, in: Shakespeare’s Political Pageant, hg. von Joseph Alulis, V. Sullivan, Lanham, MD, 1996, S. 61 – 75. Siehe aber auch Ernst T. Sehrt: Vergebung und Gnade bei Shakespeare, Stuttgart 1952, S. 132 – 97. Zum Herrschaftsexperiment siehe Kurt Tetzeli von Rosador: Vom Herrschen, in: Frank Günther (wie Anm. 31), S. 151 – 170. 34 Vgl. Charles und Michelle Martindale (wie Anm. 17), S. 169.

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Herzog als Anwalt und Sprachrohr einer solchen Philosophie auf. Im Sinne von Senecas De tranquillitate animi hadert er nicht mit dem Schicksal und zieht sich nicht in einen Schmollwinkel zurück. Er gewöhnt sich vielmehr an das Leben in Arden (2.1.2). Daß die Gewöhnung als „Erleichterung für unser Ungemach“35 aufzufassen ist, zeigt des Herzogs Bereitschaft, aus seiner Situation das beste zu machen. Seinen Höflingen erklärt er: „Reich ist der Nutzen eines Schicksalsschlags“ („Sweet are the uses of adversity […].“ 2.1.12). Danach zählt er einige der Vorzüge des Lebens in der Wildnis auf, als wolle er die folgende These Senecas illlustrieren: „In jeder Lebenslage wirst du Möglichkeiten zu Freude, Entspannung und Vergnügen finden, wenn du dich dreinschickst, das Unglück lieber für unbedeutend zu halten, anstatt es unerträglich zu machen.“36 Der Herzog legt eine derartige seelische Ausgeglichenheit an den Tag, daß ihn sein Begleiter Amiens als glücklichen Menschen bezeichnet, der die widerspenstige Fortuna zu bändigen vermag (2.1.18 ff.). Zur Göttin Fortuna werden neben dem Herzog auch andere Figuren in Beziehung gesetzt. Beispielsweise distanziert sich die Protagonistin Rosalind durch ihre witzige Kritik von der Glücksgöttin und vertraut auf ihre Intelligenz und ihren Mut, als sie ins Exil gehen muß. Um mit Mark Aurel zu sprechen: sie weiß, daß „die Lebenskunst mit der Fechtkunst mehr Ähnlichkeit als mit der Tanzkunst“ hat, „insofern man auch auf unvorhergesehene Streiche gerüstet sein und unerschütterlich fest stehen muß.“37 Wie John Shaw beobachtet hat,38 werden jene Gestalten, die Fortuna für ihre eigenen egoistischen Ziele einspannen wollen, enttäuscht und bestraft. Wer hingegen Fortuna nicht so viel Einfluß über sein Leben einräumt und Kraft aus seinem Inneren schöpft, wird belohnt. So dürfen die Exilanten schließlich die Wildnis verlassen und an den Hof zurückkehren. Daß es auf die richtige Einstellung zur Fortuna ankommt, verdeutlichen die Ausführungen der Philosophie in Boethius’ Trost der Philosophie oder auch Senecas Bemerkung: „Zwar ist es niemals möglich, Zufälligkeiten von so großer Vielfalt und Ungunst abzuwenden, aber viele Stürme fallen nur über 35 L. Annaeus Seneca: De tranquillitate animi. ber die Ausgeglichenheit der Seele, hg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 1984, S. 47. 36 Ebda., S. 47. 37 Des Kaisers Marcus Aurelius Antoninus Selbstbetrachtungen, hg. von Albert Wittstock, Stuttgart 2003, S. 106 (7.61). 38 Vgl. John Shaw: Fortune and Nature in „As You Like It,“ in: Shakespeare Quarterly 6, 1955, S. 45 – 50.

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diejenigen her, die ihre Segel zu weit ausspannen. Man muß wenig Angriffsfläche bieten, damit die Pfeile ihr Ziel verfehlen.“39 Ein denkbarer Einwand gegen die vorgetragene Deutung ist, daß die Lage der Exilanten nicht so beklagenswert ist, wie der Rekurs auf stoizistische Trostargumente suggeriert: Schließlich erinnert Arden zeitweise an das Goldene Zeitalter und die pastorale Idylle und scheint ein einfacheres und zugleich besseres Leben zu erlauben als der Hof. Übersehen wird hierbei dreierlei. Erstens macht Shakespeare auf negative Aspekte des Lebens in Arden aufmerksam – vom Wetter bis hin zu Armut, Gewalt und Tod – und nimmt so ansatzweise Erfahrungen vorweg, die König Lear in den Heideszenen sammelt. Zweitens zeigt er am Beispiel des Hofnarren Touchstone und des Melancholikers Jaques, daß negative Reaktionen auf Arden möglich sind und deshalb die stoische Akzeptanz der Verhältnisse dem Herzog und anderen Gestalten nicht zufällt, sondern errungen werden muß. Im Gespräch mit Orlando gibt der Herzog zu, daß er selbst unter den Lebensbedingungen leidet, sucht dann aber Zuflucht zu einem anderen Trostargument, nämlich dem Vergleich mit Menschen, denen es noch wesentlich schlechter geht (2. 7. 136ff.). Der Melancholiker Jaques nimmt dies zum Anlaß, eine pessimistische Interpretation der sieben Lebensalter zu geben und die Rollen zu definieren, die Menschen auf der Bühne des Lebens nacheinander spielen müssen. Seine Bemerkungen deuten auf ein drittes Argument hin, das stoizistische Rollenverständnis. In Arden müssen die Exilanten unter neuen und erschwerten Bedingungen die Rollen weiterspielen, die ihnen das Leben zugewiesen hat und die ihrer Natur entsprechen. So muß der Herzog seine Gefolgschaft aufrichten und weiterhin seine Pflicht erfüllen. Daß er und seine Anhänger, sowie sich die Gelegenheit bietet, gern an den Hof zurückkehren, ist nicht verwunderlich. Der Aufenthalt in Arden darf eben nicht einfach mit Ferien vom Ich und einer festtäglichen Stimmung verwechselt werden.40 Er bringt Aufgaben mit sich, die sich an einem reformierten Hof leichter und besser durchführen lassen. Ein Rückzug in das Private und das kontemplative Leben ist zwar auch für Stoiker denkbar, doch ist der

39 Seneca (wie Anm. 35), S. 43. 40 Siehe dagegen C. J. Barber: The Alliance of Seriousness and Levity in „As You Like It“, in: Shakespeare’s Comedies: An Anthology of Modern Criticism, hg. von Laurence Lerner, Harmondsworth 1967, S. 227 – 244.

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aktive, verantwortungsbewußte Einsatz für die Gesellschaft wünschenswerter.41 Wie As You Like It nahelegt, bewährt sich die stoizistische Therapiefunktion zumindest im Rahmen der Komödie. In den Tragödien spielt sie dagegen nur am Rande eine Rolle.

Shakespeares Tragödien In einigen Tragödien Shakespeares, einschließlich der Römer-Dramen, tauchen nicht nur von Stoizisten gern behandelte Themen auf. Erwähnt seien hier das Verhältnis von Zufall und Vorsehung, das Für und Wider der Pflicht zur Rache, die Beschäftigung mit Trostgründen für erlittenes Leid, die Vorbereitung auf den Tod, das Problem des Selbstmordes und die Frage des Nachruhms. Bei diesen Themen kommt es bisweilen zu einer engen Verbindung von stoischen und christlichen Argumenten. Das ist eine Interpretationsschwierigkeit, eine zweite ist, daß die Argumente häufig Gemeinplätze bleiben und nicht weiter entfaltet werden. Eine weiteres Interpretationsproblem ergibt sich aus Shakespeares Handhabung der Tragödienform Der philosophische Aspekt einer Tragödie kann wie folgt bestimmt werden: „Das tragische Drama ist der Ort einer Reflexion über Handlungs- und Entscheidungsprobleme. Es stellt die komplexe Handlungswirklichkeit und die Motivationsstruktur menschlichen Handelns dar, wobei Konflikte zwischen unterschiedlichen Arten von Gründen und Impulsen des Handelns aufgezeigt werden.“42 Ein kurzer Vergleich von Chapmans Clermont und Shakespeares Hamlet als Rächerfiguren mag diese Definition veranschaulichen. George Chapman hat in den Mittelpunkt seiner Rachetragödie Revenge of Bussy D’Ambois (gedruckt 1613) eine Figur gestellt, die stoische und christliche Züge trägt. Clermont ist nicht ganz ohne Schwächen, doch zeichnen ihn constantia und Affektkontrolle aus. Er 41 Vgl. Seneca (wie Anm. 31), S. 23, 29; Die Philosophie der Stoa. Ausgewhlte Texte, hg. von Wolfgang Weinkauf, Stuttgart 2001, S. 14, 26. Zum Einfluß stoizistischer Zeitauffassungen auf As You Like It und Twelfth Night vgl. Frederick Turner: Shakespeare and the Nature of Time, Oxford 1971, bes. S. 65. 42 Dieter Teichert: Praktische Vernunft, Emotion und Dilemma: Philosophische Tragçdie, in: Philosophie in Literatur, hg. von Christiane Schildknecht, Dieter Teichert, Frankfurt 1996, S. 202 – 229, dort S. 205.

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reflektiert über den Racheauftrag, den ihm der Geist seines Bruders erteilt, und macht sich dabei Gedanken zu eigen, die an Senecas De ira, Epiktet und einige christliche Kommentatoren erinnern.43 Er bedauert, daß er impulsiv geschworen hat, den Bruder zu rächen. Er erwägt das Für und Wider der Rache und faßt sie nur dann als berechtigt auf, wenn sie nicht aus Zorn erfolgt, sondern rational begründet und im öffentlichen Interesse ist. Er gelangt zu dem Schluß, daß die Rache deshalb eine ihm vom Schicksal auferlegte Pflicht ist, weil der König es versäumt, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Er sucht deshalb ein Duell mit Montsurry, den Mörder seines Bruders. Als Montsurry sterbend sich reuig zeigt und dem Rächer vergibt, ist Clermont von der moralischen Regeneration des Mörders überzeugt. Ein anderes Opfer politischer Intrigen, den Guisen, rächt er nicht, weil dies bedeuten würde, daß er sich am König und damit an der göttlich begründeten staatlichen Ordnung vergehen müßte. Er zieht es vor, Selbstmord zu verüben, und wählt so den „stoischen Ausweg aus einer Welt, die er nicht verbessern kann.“44 Chapmans Rachetragödie, die wohl mit Absicht andere Wege geht als Hamlet und andere Werke des Genres, kann als gescheitertes didaktisches Bühnenexperiment angesehen werden, denn die Rache wird auf ein philosophisches Problem reduziert und allenfalls beiläufig psychologisch motiviert. Demgegenüber betont Shakespeare die Interdependenz von emotionalen und rationalen Beweggründen und Handlungen. Der Tod des Vaters und die Wiederverheiratung der Mutter stürzen Hamlet in eine tiefe seelische Krise. Der Racheauftrag des Geistes ist für Hamlet nicht nur deshalb problematisch, weil ihn wie Clermont eine Zeitlang die Frage beschäftigt, von welcher Natur der Geist ist. Vielmehr weckt der Racheauftrag Zweifel an der Weltordnung sowie am Sinn persönlicher Beziehungen und Bindungen und konfrontiert Hamlet mit Vergänglichkeit und Tod. Er zwingt überdies den Prinzen zu einem Rollenspiel am Hofe, das ihn sich selbst und anderen Menschen entfremdet. Ein rational-nüchternes Abwägen von Argumenten ist ihm im Unterschied zu Clermont nur gelegentlich möglich. Er verändert sich zwar, leistet Trauerarbeit, überwindet seine Melancholie und findet gegen Ende zu einer gelasseneren Einstellung. Doch wird auch diese – wie der Streit mit Laertes an Ophelias Grab und 43 Vgl. Ronald Broude: George Chapman’s Stoic-Christian Revenger, in: Studies in Philology 70, 1973, S. 51 – 61, dort S. 43 f. 44 Ebda., S. 61 („the Stoic alternative to existence in a world he cannot better“).

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einige Momente in der Duellszene anzeigen – von Momenten persönlicher Betroffenheit und emotionaler Aufwallung durchbrochen. Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß Shakespeares tragische Hauptfiguren keine in sich ruhenden Stoiker in der Art von Clermont sind. Othello mag zu Beginn des nach ihm benannten Stückes mit stoischer Gelassenheit auf Kritik und Vorwürfe reagieren, doch fällt es Iago relativ leicht, Othellos Pose zu erschüttern. In den Worten Hamlets sind Shakespeares tragische Helden Sklaven ihrer Emotionen und Leidenschaften (3.2.70) und stehen Senecas Dramenhelden näher als den Idealgestalten in Senecas philosophischen Schriften. Ihre tragische Erfahrung verändert sie jedoch. In diesem Zusammenhang ist der Stoizismus, der durch die Einstellung und das Verhalten einer Nebenfigur repräsentiert werden kann, eine von mehreren miteinander konkurrierenden Weltdeutungen, die für die Protagonisten wichtig werden können. Dies sei an Hamlet und King Lear illustriert. Aus der Perspektive dieser Studie ist für das Verständnis von Hamlets Entwicklung sein Verhältnis zum Studienfreund Horatio wichtig. Horatio ist ein Renaissance-Mensch, der eine stoizistischchristliche Position einnimmt und durch sein Verhalten und seine Meinungsäußerungen, aber auch durch sein Schweigen direkt und indirekt Hamlets Entwicklung verdeutlicht. Zu Beginn des Stückes ist er vor allem Kontrastfigur. In der ersten Szene tritt Horatio als skeptischer Rationalist auf, der an der Existenz des Geistes zweifelt. Als er durch dessen Erscheinung eines Besseren belehrt wird, erinnert er sich an die übernatürlichen Ereignisse im Zusammenhang mit Julius Caesars Tod und fragt wie die alten Stoiker nach der politischen Bedeutung solcher Omina. Das Verhalten des Geistes interpretiert er dann u. a. mit Hilfe der Konzeption des christlichen Fegefeuers. Später versucht er, den Freund von der intimen Aussprache mit dem Geist abzuhalten, und beurteilt Hamlets wilde Entschlossenheit, den Geist zu sprechen, als Ausdruck einer verzweifelten Imagination (1.4.87). Nach dem Treffen Hamlets mit dem Geist kritisiert er die zügellose Sprache des Freundes (1. 5. 133), muß sich aber von diesem sagen lassen, es gebe mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als Horatios Philosophie zulasse (1. 5. 166f.). In den anschließenden Szenen zweifelt Hamlet an der vernünftigen Ordnung der Welt, wühlt sich in seine Melancholie hinein und legt sich die Maske eines Geistesverwirrten zu, die ihm Schutz gewährt, aber auch die Möglichkeit gibt, seinen Weltekel zu formulieren.

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Unterdessen verschwindet Horatio vorerst von der Bühne. Dies kann als ein Beleg für die innere Entfernung zwischen den Freunden gedeutet werden. Ein Indiz, das dafür spricht, ist die Stimmungsabhängigkeit von Hamlets Reden. Ein anderes Indiz sind des Prinzen Zweifel an dem idealistischen Menschenbild der Renaissance und sein fehlendes Vertrauen auf die Macht der Vernunft: „Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie ausdrucksvoll und wunderwürdig! Im Handeln wie ähnlich einem Engel! Im Begreifen wie ähnlich einem Gott! Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staube?“45 Der berühmte „To be or not be“-Monolog geht zwar von der stoizistischen Frage46 aus, ob es edler sei, Schicksalsschläge passiv zu ertragen oder gegen sie anzukämpfen, doch irren dann Hamlets Gedanken ab und drehen sich um seine Todessehnsucht und seine Furcht davor, was den Menschen nach dem Tod erwartet. Als Hamlet bei der Vorbereitung des Spiels im Spiel wieder mit Horatio zusammentrifft, knüpft er an seine Überlegungen vom Anfang des „To be or not to be“-Monologs an und rühmt den Freund als einen Mann, der Fortunas Schläge, Strafen und Belohnungen mit Gleichmut ertragen und sich ihrem Einfluß widersetzt habe (3.2.64 – 66). Der Stoiker Horatio erscheint ihm jetzt als Vorbild: „Gebt mir den Mann, den seine Leidenschaft/ Nicht macht zum Sklaven, und ich will ihn hegen/ Im Herzensgrund, ja in des Herzens Herzen,/Wie ich dich hege.“47 Dieses Lob und die Tatsache, daß Hamlet den Freund bittet, mit ihm zusammen die Reaktionen des Königs auf die Theateraufführung zu beobachten, sprechen für eine gewisse Annäherung an Horatios Position. Die Theateraufführung selbst zeugt zumindest von Hamlets Versuch, die ihn hauptsächlich bewegenden Probleme distanziert in der Form des Spiels zu artikulieren. Dies legt auch der spätere Vorsatz nahe, sich in der Aussprache mit der Mutter zu beherrschen und sich nicht wie ein Nero unnatürlich und grausam zu verhalten (3.2.383 – 386). 45 „What a piece of work is man! How noble in reason! how infinite in faculties! in form and moving, how express and admirable! in action, how like an angel! in apprehension, how like a god! the beauty of the world! the paragon of animals! And yet, to me, what is this quintessence of dust.“ (2.2.307 ff.) 46 Vgl. Geoffrey Aggeler: Hamlet and the Stoic Sage, in: Hamlet Studies 9, 1987, 1 – 2: S. 21 – 33, dort S. 21 f. 47 „Give me that Man/ that is not passion’s slave, and I will wear him/ In my heart’s core, ay, in my heart of heart,/As I do thee.“ (3.2.69 – 72)

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Freilich ist Hamlet noch nicht fähig, sich an solche Verhaltensregeln zu halten, denn er ist immer noch Sklave seiner Gefühle und Emotionen. Obgleich er sich als Instrument des Himmels (3. 4. 175) zu begreifen beginnt, bedrückt ihn der unerledigte Racheauftrag nach wie vor. Als Hamlet nach der Seereise Horatio wiedersieht, verwandelt sich dieser für ihn von einer Kontrast- beinahe in eine Spiegelfigur. In der Totengräberszene setzt sich Hamlet unpersönlicher als zuvor mit der Sterblichkeit des Menschen auseinander. Am Anfang des Stückes hatte er die stoizistischen Trostargumente des Königs und der Königin ironisiert. Jetzt stellt er ähnliche Überlegungen an und bittet Horatio um Zustimmung.48 Die weltanschauliche Annäherung Hamlets an den Renaissance-Stoiker Horatio wird dann nochmals im Gespräch vor dem Duell sichtbar. Hamlets These „[…] das lehr’ uns/ Daß eine Gottheit unsre Zwecke formt“49 stimmt Horatio vorbehaltlos zu. Den Bericht über Hamlets Gegenintrige, die Rosencrantz und Guildenstern das Leben kostete, nimmt er kommentarlos zur Kenntnis. Immerhin beurteilt er aber Claudius kritisch und unterstellt dessen Schuld. Hamlets Rechtfertigung seines Racheplans billigt er nicht ausdrücklich, doch warnt er den Freund vor den ihm drohenden Gefahren. Schließlich akzeptiert er schweigend Hamlets Absicht, das, was ihm widerfahren wird, hinzunehmen: Ich trotze allen Vorbedeutungen: es waltet eine besondere Vorsehung über den Fall eines Sperlings. Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft; geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt; geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles. Da kein Mensch wirklich besitzt, was er verläßt, was kommt darauf an, frühzeitig zu verlassen? Mag’s sein.50

Die Wendung „the fall of the sparrow“ spielt auf Matthäus 10, 28 – 31, an; „the readiness is all“ erinnert an stoizistische wie christliche For48 Zu den stoischen und christlichen Aspekten der Szene vgl. Roland Mushat Frye: The Renaissance Hamlet: Issues and Responses in 1600, Princeton 1984, S. 205 f., 252. Zur Entwicklung Hamlets siehe auch Paul Goetsch: Regie als Thema in „Hamlet“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch (Görres-Gesellschaft) 44, 2003, S. 65 – 81. 49 „There’s a divinity that shapes our ends.“ (5.2.10). 50 „[…] we defy augury; there is a special providence in the fall of a sparrow. If it be now, ‘tis not to come; if it be not to come, it will be now; if it be not now, yet it will come – the readiness is all. Since no man owes of aught he leaves, what is’t to leave betimes? Let be.“ (5. 2. 211ff.)

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mulierungen.51 In Hamlets Aussage verbinden sich die stoisch gelassene Annahme des Schicksals und die Todesbereitschaft mit dem Vertrauen darauf, daß die Vorsehung ihm die Gelegenheit zum Handeln geben wird. Hamlet hat seine Melancholie und seinen Montaigneschen Pessimismus hinter sich gelassen und nimmt sich jetzt christliche Stoiker zum Vorbild. Als der Freund ihm nach dem Muster der alten Römer in den Tod folgen will, hält er ihn davon ab und bittet ihn, die Ereignisse der Nachwelt zu überliefern. Horatio erklärt sich dazu bereit und wünscht dem Freund: „Engelscharen singen dich zur Ruh‘!“52 Hamlet ist kein Stoiker, doch zeigt seine Aussprache mit Horatio, daß er kurz vor Ende seines Lebens einen stoisch-christlichen Standpunkt einnimmt. Das unterscheidet ihn von Richard II. Der zur Abdankung gezwungene Tyrann denkt im Kerker über seine hoffnungslose Lage nach und wird sich stärker als zuvor bewußt, daß er die Königswürde verscherzt hat. Das Gefängnis ist das, was ihm von der Welt geblieben ist. Er stellt sich vor, wie er seine Zelle mit Gedanken bevölkert, die auf verschiedene Lebensformen – christliche, realpolitische, stoizistische – verweisen. Selbst in der Vorstellung findet er an keiner dieser Lebensformen und Überlegungen einen Halt. Die stoizistische Einstellung verwirft er mit den Worten: „Die auf Gemütsruh’ zielen, schmeicheln sich,/ Daß sie des Glückes erste Sklaven nicht/ noch auch die letzten sind; wie arme Toren,/ Die, in den Stock gelegt, der Schmach entgehen,/ Weil vielen das geschah und noch geschehn wird./ In dem Gedanken finden sie dann Trost,/ Ihr eignes Unglück tragend auf dem Rücken/ Von andern, die zuvor das gleiche traf.“53 Anders als in Richard II setzt sich Shakespeare in King Lear intensiv mit stoizistischem Gedankengut auseinander. Hierzu sowie zum Einfluß von Boethius und Montaigne liegen mehrere Studien vor. Hervorgehoben sei vor allem die gründliche Arbeit von William R. Elton, die allerdings manchmal die Quellen überstrapaziert und den Einfluß des

51 Vgl. z. B. Alan Sinfield: Hamlet’s Special Providence, in: Shakespeare Survey 33, 1980, S. 89 – 97. 52 „[…] flights of angels sing thee to thy rest!“ (5.2.352) 53 „Thoughts tending to content flatter themselves/ That they are not the first of fortune’s slaves,/ Nor shall not be the last; like silly beggars/ Who sitting in the stocks, refuge their shame,/ That many have and others must sit there;/ And in this thought they find a kind of ease,/ Bearing their own misfortunes on the back/ Of such as have before endur’d the like.“ (5.5.23 – 30)

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Neustoizismus vernachlässigt.54 Angesichts des Forschungsstandes soll hier nur auf drei Aspekte aufmerksam gemacht werden. Das Stück führt wie die Römer-Dramen in eine pagane Welt. Es stellt den Leidens- und Lernprozeß von Lear und Gloucester dar, zwei Heiden, die den Glauben an ihre Götter verlieren. Gloucester, der sich mit den politischen Machthabern solange wie möglich arrangiert, gelangt schließlich zu der Ansicht, daß die Götter so willkürlich mit den Menschen umspringen wie böse Buben mit Fliegen (4.1.37 f.). Aus Verzweiflung möchte er Selbstmord begehen. Lear ermahnt sich zwar immer wieder zur Geduld und nimmt sich an einer Stelle vor, Muster aller Geduld zu werden und (wie eine Statue) zu schweigen (3.2.37 f.). Er kann jedoch seine Wut auf die Töchter nicht unterdrücken. Sein Geist verwirrt sich. In einer der Heideszenen strengt er ein Gerichtsverfahren an.55 Goneril und Regan sitzen auf der imaginären Anklagebank. Zu Beisitzern werden Edgar in der Maske des geistesverwirrten Tom of Bedlam, der Hofnarr und Kent bestellt. Lear selbst übernimmt den Vorsitz und spielt zugleich den Ankläger. Die farcenhaft-absurde Gerichtsszene bringt Lears Verlangen nach Gerechtigkeit zur Anschauung, stellt aber auch eine Art Selbstgericht dar. Das Verfahren endet im Durcheinander, denn das, worum es Lear geht, ist kaum justiziabel, nämlich die Frage „Gibt’s in der Natur irgendeine Ursache, die diese harten Herzen macht?“56 Beachtenswert ist allerdings, daß Kent, Edgar und der Hofnarr mitspielen – nicht nur weil sie wie der König Ausgestoßene sind, sondern auch weil sie Lear von seinem Kummer ablenken und ihm helfen wollen. Kent und Edgar sind mit stoizistischen Vorstellungen vertraut. Edgars Bemerkungen deuten gelegentlich auf einen christlichen Neustoiker hin. Wie das Verhalten beider Figuren nahelegt, kann der Stoizismus – das ist der erste Aspekt, der Beachtung verdient – noch eine Therapiefunktion übernehmen. Kent, ein offenherziger, ehrlicher Gefolgsmann Lears, ergreift die Partei des Königs, obwohl dies riskant ist und erst zu seiner Verbannung, dann zur öffentlichen Bestrafung im Gefangenenstock führt. Die Strafe nimmt er geduldig auf sich: „Vorerst mal schlaf ich, danach pfeif ich eins./ Auch bei ’nem braven Kerl hinkt’s Glück manchmal […]/ 54 Vgl. William R. Elton: King Lear and the Gods, San Marino 1966. 55 Vgl. Horst Oppel: Die Gerichtsszene in „King Lear“, Mainz 1968. 56 „Is there any cause in nature that makes these hard hearts?“ (3.6.76 f.)

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[…] Fortuna. Gut Nacht; lächel noch einmal; dreh dein Rad.“57 Später redet er wiederholt beruhigend auf Lear ein und begleitet ihn auf die Heide. Dort stößt Edgar, Tom of Bedlam, hinzu. Der verwirrte Lear redet den frierenden Edgar mehrmals als Philosophen an und wünscht Auskunft über die Natur des Donners. Vielleicht wird hier das Klischee des trotz seiner Philosophie leidenden Stoikers ins Positive gewendet. Denn wie zuvor der frierende Hofnarr lenkt Edgar jetzt die Aufmerksamkeit Lears auf menschliches Leiden und fördert so seinen Lernprozeß. Bei späterer Gelegenheit macht Edgar seinem Vater, dem geblendeten Gloucester, mit stoizistischen Überlegungen Mut (4.1.1 – 9; 4.6.80). Bemerkenswerterweise werden beiden Nebenfiguren angesichts des Leidens der beiden Hauptfiguren die Grenzen ihres stoizistischen Verhaltenskodexes bewußt. Zwar spielen Edgar und Kent Lear zuliebe beim Gerichtsverfahren mit, werden aber von Lears Verzweiflung zutiefst ergriffen. Kent empfindet Mitleid („pity“, 3.6.57) und fragt: „Sir, wo ist jetzt die Geduld,/ Von der Sie oft prahlten, daß sie währt?“58 Und Edgar bekennt, daß er vor lauter Betroffenheit und Mitleid seine Rolle als Tom kaum noch spielen könne (3.6.59 f.). In der Dover-Szene bringt Edgar durch die Vortäuschung eines Sprunges von den Klippen seinen Vater vom Selbstmord ab. Wieder zweifelt er daran, daß er seine Maskerade durchhalten kann (4.1.52). Auch muß er sich daran erinnern, daß er mit der Verzweiflung des Vaters spielt, um sie zu heilen (4.6.33 f.). Als er das Wiedersehen von Gloucester und Lear miterlebt, ist er so sehr gerührt, daß er meint, sein Herz würde brechen (4. 6. 142). Mit anderen Worten: Kent und Edgar nehmen stoizistische Posen an, sind aber emotional stark engagiert und lenken die Zuschauersympathien zugunsten von Lear und Gloucester. Im Gegensatz zu Goneril, Regan und Edmund haben sie im Sinne von Lears Worten keine harten Herzen (3.6.77) und sind nicht wie aus Stein (5. 3. 256). Liebe und Mitleid haben für sie wie auch für den Fool und Cordelia eine größere Bedeutung als für Seneca, Lipsius und andere Stoiker und Neustoiker. Dieser zweite Aspekt der Stoizismusrezeption in King Lear hat viele christliche Interpretationen des Stückes inspiriert. Die Kritiker betonen 57 „Some time I shall sleep out, the rest I’ll whistle./ A goodman’s fortune may grow out at heels […] Fortune, good night; smile once more; turn thy wheel.“ (2. 2. 151f., 166) 58 „[…] where is the patience now/ That you so oft have boasted to retain?“ (3.6.57 f.)

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die Bedeutung von Liebe und Mitleid, fassen Cordelia als eine Christus ähnelnde Erlösergestalt auf, erklären den Schluß des Stückes mit dem Walten der göttlichen Vorsehung und charakterisieren Lear als Protagonisten einer optimistischen christlichen Tragödie, dessen Seele nach dem symbolischen Gang durch das Fegefeuer gerettet wird.59 Demgegenüber rücken Regisseure und andere Interpreten das Werk in die Nähe des absurden Theaters in der Art von Becketts Endgame. In struktureller Hinsicht weist King Lear besonders auf Ionescos Le roi se meurt voraus, weil es an Lear und Gloucester die einzelnen Stationen des Macht- und Autoritätsverlusts und des Zusammenbruchs ihrer Identität demonstriert. Elton ist der Meinung, daß christlich-religiöse Deutungen in die Irre führen. Indem das Stück zeigt, wie zwei abergläubische Heiden den Glauben an ihre Götter verlieren, dürfte es aber, so Eltons These, zwei Gruppen von Zuschauern angesprochen haben: jene, die an die Überlegenheit der Christen über die Heiden glaubten und deshalb auf Motive wie Liebe und Mitleid achteten, und andere, die in der Entwicklung von Lear und Gloucester die eigenen Glaubenszweifel, vor allem den Verlust des Vertrauens in eine gütige Vorsehung, gespiegelt sahen.60 Für diese Offenheit des Stückes – und das ist der dritte erwähnenswerte Aspekt – spricht die ,ironische Struktur‘ der Handlung.61 Nicht nur Kent und Edgar, sondern auch andere Gestalten treten wiederholt als Kommentatoren auf, die gerade Erlebtes und Beobachtetes erklären und bewerten. Ihr jeweiliges Fazit wird jedoch durch neue Ereignisse unterlaufen. Beispielsweise versucht Edgar zu Beginn der Heideszenen, sich mit seinem Los abzufinden: „Das ärmste, glückverstoßenste Geschöpf/ Bleibt ewig hoffnungsvoll, lebt nicht in Furcht:/ Traurig ist Wandel nur vom Glückszustand;/ Vom Elend geht’s nur froher.“62 Als sein geblendeter Vater zu ihm stößt, sagt er sich: „Und geht’s noch schlimmer; ’s Schlimmste ist noch nicht/ Er59 Siehe z. B. Paul N. Siegel: Adversity and the Miracle of Love in „King Lear“, in: Shakespeare Quarterly 6, 1955, S. 325 – 336. Zu weiteren Beispielen siehe William Elton (wie Anm. 54), S. 3 – 6. 60 Vgl. William Elton (wie Anm. 54), S. 338. 61 Vgl. ebda., S.329 ff. Siehe auch Rowland Wymer: Suicide and Despair in the Jacobean Drama, Brighton 1986, S. 70 f. 62 „The lowest and most dejected thing of Fortune/ Stands still in esperance, lives not in fear:/ The lamentable change is from the best;/ The worst returns to laughter.“ (4.1.2 – 5)

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reicht, solang man sagen kann, das ist/ Das Schlimmste.“63 Später rettet er zwar den Vater vor der Verzweiflung, indem er seinen Selbstmord verhindert; sein Versprechen, ihm bei der Rückkehr Trost mitzubringen, kann er freilich nicht erfüllen, denn ihn erreicht eine neue Hiobsbotschaft, die Nachricht von Lears und Cordelias Gefangennahme. Statt Trost zu spenden, kann er nur den stoizistischen Ratschlag geben: „Aushalten muß der Mensch/ Sein Abgehn aus der Welt wie seine Ankunft/ Reif sein ist alles.“64 Diese Ausdauer aufzubringen, ist aber Gloucester nicht möglich. Vergeblich ist auch Lears Ringen um Geduld. Offenbar sind „manche Erfahrungen so schrecklich, daß tugendhaftes Verhalten unmöglich ist“.65 Die ironische Handlungsstruktur, die die Diskrepanz zwischen dem Erleben und den Kommentaren der Figuren hervortreibt, lenkt die Aufmerksamkeit darauf, daß das tragische Geschehen sich der Fixierung durch weltanschauliche Erklärungsmuster widersetzt. Die Römer-Dramen In den Römer-Dramen verfolgt Shakespeare Gestaltungsabsichten, die aus den anderen Tragödien bekannt sind. Allerdings braucht er in den Stücken über das antike Rom nicht im selben Ausmaß auf die Normen seiner Zeit Rücksicht zu nehmen. Das hat verschiedene Konsequenzen. Während Macbeth, Banquo, Horatio und Hamlet unterschiedlich und zeitweise skeptisch auf übernatürliche Erscheinungen reagieren, wird als römisch akzeptiert, was in den Bereich der Weissagungen und Omina fällt. Das erinnert daran, daß die Stoiker fast alle Formen der Weissagung verteidigten und Epitekt lediglich davor warnte, ständig die Weissager zu befragen.66 Als römisch gilt ferner der würdige Freitod. Der schottische Krieger Macbeth kämpft in einer aussichtslosen Situation lieber weiter, als den römischen Narren zu spielen und Selbstmord zu verüben (5.8.1 f.). Als 63 „The worse I may be yet; the worst is not/ So long as we can say ,This is the worst.‘“ (4.1.26 f.) 64 „Men must endure/ Their going hence, even as their coming hither:/ Ripeness is all.“ (5.2.9 – 11) 65 Robert K. Presson: Boethius, King Lear, and „Maystresse Philosophie“, in: Journal of English and Germanic Philology 64, 1965, S. 406 – 424, dort S. 419: „[…] some experiences in their horror are so excessive that virtue is an impossibility.“ 66 Vgl. Wolfgang Weinkauf (wie Anm. 41), S. 150, 155.

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Christ verwirft Hamlet den Selbstmord (1. 2. 131f.) und bleibt dennoch lange auf ihn melancholisch fixiert. Demgegenüber wird in den Römer-Dramen selbst Cleopatra ein Tod in der hohen römischen Manier („after the high Roman fashion“, 4.15.87) vergönnt. Wie Brutus tötet sie sich selbst, um der Schmach, im Triumphzug durch Rom geführt zu werden, zu entgehen. Dies entspricht Mark Aurels Rat, sich der moralischen Demütigung durch den Tod zu entziehen, und deckt sich mit der stoischen Auffassung, daß der begründete und wohlerwogene Freitod ein moralisches Recht sei.67 Risikoloser als bei Stoffen aus der englischen Geschichte war für den Dramatiker auch die Beschäftigung mit Motiven wie dem politischen Attentat, der Rebellion und der absolutistischen Herrschaft. Trotz der Ansätze zur Historisierung gehen aber auch die RömerDramen einen engen Bezug zur Zeit ihrer Entstehung ein. Sichtbar wird dies aus der hier gewählten Perspektive vor allem daran, wie Shakespeare mit dem Ideal der romanitas umgeht. Aus Raumgründen steht im folgenden der Rollenaspekt der romanitas im Mittelpunkt. Wie T.S. Eliot beobachtet hat, neigen Shakespeares tragische Helden zur Selbstdramatisierung. Diese sei, erläutert Eliot, Ausdruck eines neuartigen elisabethanischen Selbstbewußtseins („self-consciousness“), das dem durch den Stoizismus artikulierten Selbstbewußtsein der Römer-Zeit ähnele.68 In der Tat haben die alten Stoiker ein ebenso großes Interesse am individuellen Rollenspiel wie die Elisabethaner. Verschiedene Stoiker fordern, daß man die Rolle suchen solle, die der eigenen Natur gemäß sei; gleichzeitig erwarten sie aber, daß der Einzelne die Fähigkeit entwickelt, die vom Schicksal zugewiesene Rolle zu spielen: „Erinnere dich, daß du ein Schauspieler in einem Drama bist; deine Rolle verdankst du dem Schauspieldirektor. Spiele sie […]. Wenn er verlangt, daß du einen Bettler darstellst, so spiele auch diesen angemessen […]. […] Denn das allein ist deine Aufgabe: die dir zugeteilte Rolle gut zu spielen; sie auszuwählen, ist Sache eines anderen.“69 Wie Äußerungen Senecas belegen, ist er sich bewußt, daß solche Schauspielerei mit qualvoller Selbstbeobachtung einhergehen und jegliche 67 Vgl. Albert Wittstock (wie Anm. 37), S. 149 (10: 8); Epitekt, Teles und Musonius, Wege zum Glck, hg. von Rainer Nickel, Darmstadt 1987, S. 300. 68 T.S. Eliot (wie Anm. 13), S. 304 ff. Zur Selbstdramatisierung vgl. vor allem Gordon Braden: Renaissance Tragedy and the Senecan Tradition: Anger’s Privilege. New Haven 1985. 69 Rainer Nickel (wie Anm. 67), S. 25 f. (Epitekt).

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Spontaneität auslöschen kann.70 Gleichwohl hält er es für notwendig, daß sich der Weise den Verhältnissen anpaßt. Dies gilt wohl vor allem für den Bereich der Politik, den Mark Aurel als immer dasselbe, von wechselnden Personen aufgeführte Schauspiel bezeichnet hat.71 Solche Überlegungen waren der Shakespeare-Zeit nicht fremd. Die theatrum-mundi-Vorstellung, die das mittelalterliche Drama gestaltet hatte, war immer noch lebendig. Die enge Verbindung der Theatertruppen zum Hof schärfte den Blick der Dramatiker für symbolische Politik und politische Theatralik ebenso wie die Ausführungen Machiavellis zum Wesen des Herrschers. James I., der Theaterformen wie das Maskenspiel und den Umzug gern zu politischen Zwecken einsetzte, sah Könige als Personen des öffentlichen Interesses an, die auf einer Bühne vor den Augen ihres Volkes agieren müssen („set […] upon a public stage, in the sight of all the people.“).72 Vor dem skizzierten Hintergrund wird verständlich, warum das Rollenspiel der Hauptfiguren in den Römer-Dramen besonders interessierte. Zur romanitas gehört ein männlicher Verhaltenskodex, der auf Ehre, öffentliches Ansehen, Beständigkeit und soldatische Tugenden Wert legt und hinsichtlich der Gefühlsdisziplinierung und der Annahme der eigenen Rolle wie des Schicksals Berührungspunkte mit dem Stoizismus aufweist. Coriolanus erscheint in den Augen seiner Mutter Volumnia, die ihn zum Krieger erzogen hat, als eine Verkörperung dieser romanitas. Er wird als Kriegsheld geehrt und identifiziert sich mit seiner soldatischen Rolle so sehr, daß er seine Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung verkennt73 und sich nicht dazu herablassen möchte, um die Gunst der Menge wie ein Politiker zu werben: „’s eine Rolle,/ Die ich errötend spiel’; auch wär’ es gut,/ Dem Volke dies zu nehmen.“74 Ironischerweise beginnt Coriolanus, der die Schauspielerei verachtet, die soldatische Rolle, mit der er verwachsen zu sein scheint, als Theaterspiel zu begreifen.75 Seiner vorwurfsvollen Mutter erklärt er:

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Seneca (wie Anm. 35), S. 69, 72. Vgl. Albert Wittstock (wie Anm. 37), S. 155 (10: 27). Charles McIlvain (wie Anm. 9), S. 5. Zum möglichen Einfluß von Senecas De beneficiis vgl. John M. Wallace: The Senecan Context of „Coriolanus“, in: Modern Philology 90, 1993, S. 465 – 478. 74 „It is a part/ That I shall blush in acting, and might well/ Be taken from the people.“ (2.2.142 – 144) 75 Vgl. Geoffrey Miles (wie Anm. 16), S. 159.

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„Weshalb wünscht Ihr mich milder? Soll ich falsch sein/ Der eignen Seele? Lieber sagt, ich spiele/ Den Mann nur, der ich bin.“76 Er entfremdet sich selbst, der Mutter und dem von ihr verkörperten Rom. Krampfhaft versucht er, an seiner alten Identität festzuhalten, indem er zu den Feinden Roms übergeht. Freilich ist der Frontwechsel eher Ausdruck des Trotzes und des beleidigten Stolzes als der constantia.77 In politischer Hinsicht scheitert Coriolanus, weil er die Zeichen der Zeit verkennt und aus Patrizierstolz keine Rücksicht auf das Volk nimmt. Wegen seiner Verachtung der machiavellistischen Realpolitik, die ihn von Henry V., Shakespeares Porträt eines anderen Kriegshelden, unterscheidet, ist er ähnlich wie Brutus eine unzeitgemäße Gestalt. Aus elisabethanischer Sicht dürfte auch sein männlichmilitärischer Verhaltenskodex problematisch erschienen sein, jedenfalls in der Welt des Königshofes.78 Ironischerweise ist Coriolanus Produkt der einseitigen Erziehung durch Volumnia und ähnelt als ein von einer Frau angetriebener Kriegsheld Macbeth. In Antony and Cleopatra kommen andere Aspekte der romanitas in Shakespeares Blickfeld. Antony weiß, daß er, wenn er seine Ehre verliert, sich selbst verliert (3.4.22 f.), doch gewinnt die Liebe zu Cleopatra Macht über seinen Verstand (3.13.3 f.). Hin- und hergerissen zwischen Rom und Ägypten, Vernunft und Leidenschaft, Pflicht und Begehren,79 entfremdet er sich selbst und Rom und läßt constantia vermissen. Cleopatra, deren Wandelbarkeit („infinite variety“, 2. 2. 240) ihre Attraktivität erhöht, beobachtet einmal, daß Gedanken an Rom Antony von Vergnügungen abbringen (1.2.79 f.). Obwohl Antony nach Rom zurückkehrt und sich dort verheiratet, hält es ihn nicht lange in der römischen Welt. Diese hat, wie die ausgelassene Feier in 2.3 demonstriert, sich ihrerseits von einer idealen romanitas entfernt und ist kaum weniger dekadent als Ägypten. Der Verfall des Imperiums deutet sich an, denn in der modernen Realpolitik haben ältere republikanische Vorstellungen von Ehre, auf die sich Pompey noch beruft, ihre Bedeutung verloren. 76 „Why did you wish me milder? Would you have me/ False to my nature? Rather say I Play/ The man I am.“ (3.2.14 – 16) 77 Charles and Michelle Martindale (wie in Anm. 17), S. 184. 78 Vgl. Coppélia Kahn: Roman Shakespeare: Warriors, Wounds, and Women, London 1997, S. 1 – 26, 144 – 159. 79 Zu epikureischen Aspekten des Stückes vgl. Barbara Bono: Literary Transformations: From Vergilian Epic to Shakespearian Tragicomedy, Berkeley 1984, S. 173 – 183.

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In Julius Caesar kommt es erneut zu einem Konflikt zwischen republikanischen Auffassungen und moderner Politik. Julius Caesar und Brutus haben überraschend viele Gemeinsamkeiten: ihren Stolz, ihre selbstgefällige Art, die eigene Meinung als die einzig richtige durchzusetzen, ihr Bedürfnis, in der Öffentlichkeit selbstbewußt aufzutreten, und die Neigung, Warnungen zurückzuweisen. Darüber hinaus nehmen beide, zumindest in der Öffentlichkeit, Beständigkeit und Prinzipientreue für sich in Anspruch; Caesar erklärt, er sei so unwandelbar wie der Polarstern (3.1.60). Trotzdem unterscheiden sich beide in ihrer Einstellung zur Politik. Caesar ist Realpolitiker. Er weiß, daß es darauf ankommt, die Zustimmung des Volkes zu erhalten. Deshalb lehnt er – nach Cascas Beobachtung allerdings etwas verärgert – die angebotene Krone ab, als das Volk dies zu erwarten scheint. Obgleich er abergläubisch ist, läßt er sich leicht dazu überreden, auf das Forum zu gehen und seinen Rollenpflichten nachzukommen. Dies kostet ihn das Leben. Sein gelehriger Schüler Antony tritt sein Erbe an, indem er erfolgreich die Menge manipuliert, Caesar als Freund des Volkes darstellt und dem Caesarismus zum Sieg verhilft. Brutus ist Aristokrat und alten republikanischen Prinzipien verpflichtet. Wegen seines untadeligen Rufes ist er das Aushängeschild, das die Verschwörer für die Rechtfertigung ihres Tuns benötigen. Von Cassius für die Verschwörung gewonnen, setzt sich Brutus an deren Spitze und versucht, das Attentat als moralische Tat im Sinne der republikanischen Tradition auszugeben. Einen wirklichen Beweis für Caesars Streben nach der Krone hat er nicht. Persönlich verdankt er Caesar viel und hegt, wie er betont, positive Gefühle für ihn. Diese dürfen aber seiner Meinung nach bei der Entscheidung für das Attentat keine Rolle spielen. Grundsätzlich beruft sich Brutus immer wieder auf seine Prinzipien. Beispielsweise redet er sich ein, daß das Attentat keine Metzelei sein dürfe, sondern ein würdiges Ritual darstellen müsse (2. 1. 166). Als Cassius die Verschwörer auffordert, als echte Römer zu handeln, fügt Brutus hinzu, sie sollten sich wie römische Schauspieler verstellen: „Gebt euch nur frisch und fröhlich, meine Herrn./ Tragt unsern Plan nicht im Gesicht spazieren,/ Zeigt euch vielmehr, wie’s die Tragöden Roms tun,/ In wachem Geist und würdevoller Pose.“80 80 „Good gentlemen, look fresh and merrily./ Let not our looks put on our purposes,/ But bear it as our Roman actors do, / With untir’d spirits and formal constancy.“ (2.1.224 – 227)

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Anscheinend ist sich Brutus gar nicht bewußt, daß diese Schauspielerei gegen die von ihm beschworenen Prinzipien verstößt. Daß er die historische Situation verkennt und politische Klugheit vermissen läßt, wird erneut auf dem Forum sichtbar. In seiner Rede an das Volk spricht er wie ein Aristokrat zu Aristokraten und setzt voraus, daß man ihn als vir bonus achtet und deshalb das Attentat akzeptiert. Ironischerweise möchte ihn das von seiner Rede durchaus beeindruckte Volk zum König ausrufen. Wenig später verwendet Antony das Argument des ehrenwerten Brutus gegen ihn. Antony spricht stärker als Brutus die Gefühle der Menge an. Unter Anlehnung an antistoische Phrasen erklärt er, seine Zuhörer seien weder aus Holz noch aus Stein, sondern Menschen (3. 2. 142), und weckt dann ihr Mitleid für Caesar und schließlich ihren Zorn auf die Attentäter. Trotz der negativen Entwicklung der Ereignisse behält Brutus die Pose des tugendhaften und stoischen Republikaners bei. Die Pose wird jedoch brüchiger. In einem Streit mit Cassius, der als Epikureer die moralische Stärke des Freundes bewundert, vertritt Brutus dezidiert die Auffassung, es sei unmoralisch, die Bauern auszubeuten und so das Heer zu finanzieren. Gleichwohl bittet er Cassius plötzlich, an seiner Stelle die Finanzierung der Legionen zu übernehmen. Nach der Aussöhnung mit dem Freund gesteht Brutus: „[…] ich krank an so manchem Leid“ („I am sick of many griefs.“ 4. 3. 143), und erwähnt den Tod seiner Frau. Er legt dabei die von Cassius erwartete stoische Selbstbeherrschung an den Tag (4. 3. 144f.). Daß diese nicht selbstverständlich ist, zeigen der Hinweis auf seinen Kummer und die Tatsache an, daß er, als kurz darauf Messala die für ihn nicht mehr neue Nachricht vom Tod seiner Frau überbringt, die Rolle des Stoikers und Anführers schon viel besser zu spielen vermag (4.3.188 – 190). Hier und an anderen Stellen scheint sich hinter der Maske des Stoikers und Republikaners ein Mensch zu verbergen, der leidet und zweifelt und vielleicht sogar, wie manche Kritiker spekulieren, höchst persönliche Gründe für sein Attentat auf Caesar hat. Zusammenfassend läßt sich die These vertreten, daß der Stoizismus Brutus ein Rollenspiel ermöglicht, mit dem er „zum Teil wenigstens sich selbst und die Öffentlichkeit täuscht.“81 Instruktiv sind die Parallelen zwischen Caesars und Brutus’ Tod. Aus der intendierten republikanischen Opferzeremonie wird in der Tat eine blutige Metzelei. 81 Allan Bloom: Shakespeare’s Politics, New York 1964, S. 75 – 112, dort S. 102: „largely a public display which he uses to deceive others and himself.“

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Analog dazu ist der Freitod von Brutus kein würdevolles Ritual. Während Cleopatra sich Zeit nimmt und in der Hoffnung in den Tod geht, durch die Verwandlung in ,Marmor‘ der Zeitlichkeit zu entrinnen, scheut Brutus erst vor dem Freitod zurück und hat dann Mühe, jemanden zu finden, der für ihn das Schwert hält. Der Ausgang dient einerseits der Vermenschlichung des stoischen Helden. Andererseits weist Brutus’ fragwürdiges Ende auf die Ermordung Caesars zurück und unterstreicht die ideologische Problematik der romanitas-Prinzipien in einer veränderten Welt.82 Diese Problematik taucht auch in anderen zeitgenössischen RömerDramen auf. Einflußreich war ferner die Bedeutung, die Shakespeare den Gefühlen und Emotionen des tragischen Helden beimaß. Pandulpho, eine Figur in John Marstons Antonio’s Revenge (1602), bringt die Tatsache, daß sich die Emotionen immer wieder der Disziplinierung widersetzen, auf die Formel, der Mensch werde die Maske des Philosophen ablegen müssen („Man will break out, despite philosophy.“ 4.5.46). Shakespeares Romanzen Die Romanzen greifen Probleme und Themen der vorausgegangenen Dramen auf. Zum Beispiel erinnert The Winter’s Tale wegen der grundlosen Eifersucht des Protagonisten und des ,Todes‘ seiner unschuldigen Frau an Othello; allerdings sorgt die Zeit nach sechzehn Jahren für eine Lösung der ehelichen Probleme. Mögen sich auch die Themen ähneln, so gehen die Romanzen doch anders mit ihnen um. Sie verwenden häufiger als die Komödien traditionelle Romanzenmotive – von Schiffbrüchen, der Trennung und Zusammenführung von Familienmitgliedern bis hin zu überraschenden Zufällen, günstigen Wendungen und Erkennungsszenen. Darüber hinaus lehnen sie sich an pastorale Dichtungen, Maskenspiele und mythische Erzählungen an und erschaffen phantastische, traumähnliche Welten, in denen Konflikte und psychologische Auseinandersetzungen zugunsten der Feier des Lebens und seiner positiven Entwicklungsmöglichkeiten zurücktreten. Die Probleme der Komödien und Tragödien werden gleichsam eingerahmt 82 Zur Selbstdramatisierung von Brutus vgl. Joseph L. Simmons: Shakespeare’s Pagan World, Charlottesville 1973, S. 90 ff.; Shakespeare: „Julius Caesar“, hg. von Richard Wilson, Basingstoke 2002, S. 77 – 91, 92 – 107.

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und einer harmonischen Lösung zugeführt, die auf mythische Handlungsmuster und Symbolik vertraut und positive Wirkungen der Zeit veranschaulicht. Allerdings verlieren sich die Romanzen nicht völlig an die anderen Wirklichkeiten, sondern bleiben durchaus auf die zeitgenössische Realität bezogen. Bei der Darstellung der positiven Wirkung der Zeit gibt es einige Berührungspunkte mit stoischen Vorstellungen.83 Sieht man davon ab, so spielt der Stoizismus eine geringe Rolle bei der Entfaltung von Konflikten und der Handlungsführung. Wohl aber markiert er Einstellungen einzelner Figuren. In The Winter’s Tale bittet Leontes, der König von Sizilien, seinen Jugendfreund Polixenes, seinen Besuch zu verlängern, und fordert seine Frau Hermione auf, diesen Wunsch zu unterstützen. Als Hermiones Überredungskunst Erfolg hat, wird ihr Mann plötzlich rasend vor Eifersucht. Gegen die Einwände seiner Ratgeber plant er einen Anschlag auf den Jugendfreund, wirft seine schwangere Frau ins Gefängnis, macht ihr den Prozeß und läßt die im Gefängnis geborene Tochter Perdita in einer Wüstenei aussetzen. Seine tyrannische Leidenschaft (2.3.28) verfliegt und macht der Reue Platz, als das Orakel von Delphi die Grundlosigkeit seiner Eifersucht bestätigt. Zu diesem Zeitpunkt gilt Hermione aufgrund einer Falschmeldung als tot. Erst Jahre später, als Perdita herangewachsen ist, kommt es gemäß dem Orakelspruch zu einem Wiedersehen von Vater und Tochter, aber auch zur ,Auferstehung‘ Hermiones von den ,Toten‘. Diese wird von Paulina in Anlehnung an höfische Maskenspiele als Belebung einer von Julio Romano erschaffenen Statue und damit als ein gleichsam übernatürliches Ereignis inszeniert, das die Ordnung der Familie und des Staates wiederherstellt. Shakespeares Abwandlung der Pygmalion-Mythe und seine Anspielungen auf die Geschichte von Orpheus und Eurydice weisen auf die Fähigkeit der Kunst hin, die Vergangenheit zu beschwören und ihre Bedeutung für die Gegenwart zu veranschaulichen.84 Aus heutiger feministischer Sicht dramatisiert das Stück den Konflikt zwischen männlicher und weiblicher Rhetorik. Leontes ist nicht zuletzt eifersüchtig auf Hermiones Überredungskunst und will sie zum Schweigen 83 Vgl. Frederick Turner (wie Anm.41); G. F. Waller: The Strong Necessity of Time: The Philosophy of Time in Shakespeare and Elizabethan Literature, The Hague 1976, S. 137 – 168. 84 Vgl. Lynn Enterline: The Rhetoric of the Body from Ovid to Shakespeare, Cambridge 2000, S. 198–226.

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bringen. Sie entzieht sich ihm, indem sie verstummt und durch ihren ,Tod‘ Leontes ins Unrecht setzt. Ihr Schweigen ist deshalb nicht Zeichen ihrer Machtlosigkeit, sondern dient als wirkungsvolle Waffe. Wenn Perdita in Hermiones Kapelle vor der Statue ihrer Mutter niederkniet und betet, dann erinnert diese Anspielung auf den katholischen Marienkult an die Bedeutung der im Patriarchat unterdrückten Mütterlichkeit. Am Schluß dominiert gleichwohl die Versöhnung der Geschlechter, wenn Hermione ihren Mann umarmt. Die zeitgenössische Aktualität des Stückes, dessen Handlung mehrmals als alte Fabel charakterisiert wird, dürfte sich primär aus den politischen Implikationen der Pygmalion-Geschichte ergeben. Als eifersüchtiger König benimmt sich Leontes wie ein Tyrann. Seine ungezügelte Leidenschaft gefährdet Familie, Freundschaft und Staat gleichermaßen. Da Hermione vergeblich versucht, seine Vorwürfe zu entkräften, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die ,männliche‘ Pose eines Stoikers einzunehmen. Sie erklärt: Es herrscht ein bös’ Gestirn Ich muß geduldig sein, bis der Aspekt Am Himmel günst’ger ist.– Ihr guten Herrn, Ich weine nicht so schnell, wie mein Geschlecht Wohl pflegt; der Mangel dieses eiteln Taues Macht wohl eu’r Mitleid wecken; doch hier wohnt Der ehrenwerte Schmerz, der heft’ger brennt, Als daß ihn Tränen löschten […].85

Symbolisch gesprochen, versteinert Hermione und bleibt solange ,statuesk‘, bis im Laufe der Zeit positive Veränderungen eintreten, die die extreme Affektbeherrschung überflüssig machen und die Rückkehr in die Öffentlichkeit ermöglichen. Das antistoische Klischee der Versteinerung wird nach dieser Deutung positiv als Möglichkeit interpretiert, dem wütenden Tyrannen zu begegnen. Wie Amelia Zurcher meint, ist Hermiones Stoizismus taktischer Natur, denn er fungiert in erster Linie als Mittel, den Monarchen zur

85 „There’s some ill planet reigns./ I must be patient till the heavens look/ With an aspect more favorable. Good my lords,/ I am prone to weeping, as our sex/ Commonly are – the want of which vain dew/ Perchance shall dry your pities – but I have/ That honourable grief lodg’d here which burns/ Worse than tears drown.“ (2.1.105 – 112)

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Einsicht und politischen Verantwortung zu führen.86 Für diese These spricht Leontes’ Reaktion beim Anblick der Statue: Er fragt sich, ob er nicht versteinerter, d. h. gefühloser, gewesen sei als die Statue (5.2.37 f.). Neben dieser erzieherischen Funktion muß aber beachtet werden, daß die stoizistische Pose auch eine Form der Rebellion und der existenziellen Selbstbehauptung darstellt. Hermione mag dabei passiv sein; Paulina, die die Verwandlungen Hermiones arrangiert, ist jedoch aktiv und riskiert bei ihrem Einsatz für die Königin ihr Leben. Nicht zufällig erscheint sie dem eifersüchtigen Leontes als Hexe, dem geläuterten König als Magierin. Laut Zurcher erinnert Paulina an die gleichnamige Frau Senecas, die zusammen mit ihrem Mann Selbstmord verüben wollte, was Nero jedoch vereitelte. Ergänzend sei angemerkt, daß De clementia, Senecas an den jungen Nero gerichtete Schrift, eine Reihe von Ratschlägen enthält, die Leontes in seiner tyrannischen Phase zum Schaden des Gemeinwohls ebenso mißachtet wie Nero. The Tempest stellt wie Measure for Measure einen Herzog vor, der die Staatsgeschäfte vernachlässigt. Im Falle der Romanze hat dies sogar seine Entmachtung zur Folge.87 Beide Herzöge erhalten jedoch eine zweite Chance und nutzen diese zur Etablierung politischer Ordnung. Prospero wird zusammen mit seiner Tochter auf eine Insel verschlagen und baut dort unter großen Schwierigkeiten ein funktionierendes Gemeinwesen auf. Es handelt sich entgegen der Meinung mancher Kritiker nicht um einen Idealstaat. Prospero mag gelegentlich von einer idealen Welt träumen, doch wird ihm immer wieder bewußt, daß die von ihm geschaffene Ordnung von innen wie außen bedroht ist. So muß er mit der Auflehnung seines Sklaven Caliban und der Freiheitsliebe seines dienstbaren Geistes Ariel rechnen und die Liebenden Miranda und Ferdinand vor sich selbst schützen, d. h. Sexualität und Liebe regulieren. Außerdem wird er gezwungen, sich mit seinen früheren Feinden auseinanderzusetzen. Mark Aurel erklärt in seinen Selbstbetrachtungen: „Hoffe auch nicht auf einen platonischen Staat, sondern sei zufrieden, wenn es auch nur ein klein wenig vorwärtsgeht, und halte auch einen 86 Vgl. Amelia Zurcher: Untimely Monuments: Stoicism, History, and the Problem of Utility in „The Winter’s Tale“ and „Pericles“, in: English Literary History 70, 2003, S. 903 – 927. 87 Im folgenden übernehme ich einige Gedanken und Formulierungen meines Aufsatzes Die Grenzen der Macht: Prosperos dialogisches Verhalten in „The Tempest“, in: Dialogische Strukturen, Dialogic Structures. Festschrift fr Willi Erzgrber zum 70. Geburtstag, hg. von Thomas Kühn und Ursula Schaefer, Tübingen 1996, S. 69 – 88.

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kleinen Fortschritt nicht für unbedeutend. Denn wer kann die Grundsätze der Leute ändern? Was ist aber ohne eine Änderung der Grundsätze anders zu erwarten als ein Knechtsdienst unter Seufzen, ein erheuchelter Gehorsam?“88 Im Sinne dieser Bemerkungen geht Prospero wie der Herzog in Measure for Measure von der Unzulänglichkeit der Menschen, auch der eigenen, aus und versucht, sie zu bekämpfen. Wegen seiner dominanten Rolle in der Handlung sowie der engen Beziehung und der Parallelen zwischen ihm, Caliban und Ariel haben einige Kritiker das Figurentrio als drei verschiedene Aspekte einer Persönlichkeit aufgefaßt. Donald Stauffer identifiziert Caliban mit Instinkt und Emotionen, Ariel mit der Imagination und Prospero mit der Vernunft. James E. Phillips schlägt dagegen vor, die zeitgenössische, mit der Vorstellung der Seinskette verbundene Dreiteilung der Seele zu übernehmen und die vegetative, die animalische und die rationale Seele Caliban, Ariel bzw. Prospero zuzuordnen.89 Es bedarf einer derartigen Allegorisierung nicht unbedingt, um zu erkennen, daß Prospero auf der Insel lernt, sich selbst zu disziplinieren und über andere zu herrschen. Als politischer Machthaber greift er ebenso hart durch wie der Herzog in Measure for Measure. Er arbeitet mit Drohungen, Einschüchterungen, Strafen, Versprechungen und Belohnungen. Die Mittel machiavellistischer Realpolitik sind ihm nicht mehr fremd. Ein besonderes Machtmittel ist die Magie. Im Hinblick auf die Politik kann sie als Sammelbegriff für Prosperos Charisma, seine symbolische Politik und die eindrucksvollen von ihm inszenierten Spektakel und Maskenspiele dienen. Prospero gelingt es, Caliban in Schach zu halten, Ariel zur Loyalität zu bewegen, einen Aufstand niederzuschlagen, eine Intrige zu unterbinden und seine früheren Feinde wenigstens vorübergehend zu entmachten. Schließlich regelt er die politischen Verhältnisse in Mailand neu und bereitet so die Rückkehr in die Heimat vor. Obwohl er weiß, daß zumindest Sebastian und Antonio keine Einsicht und Reue zeigen, vergibt er seinen Feinden und veranstaltet eine ,Show‘ der Aussöhnung, nachdem er Sebastian und Antonio zu Wohlverhalten gezwungen hat. Seine Bereitschaft zur Versöhnung ist nicht Ausdruck von Weisheit oder Schwäche, sondern Zeichen politischer Stärke.

88 Albert Wittstock (wie Anm. 37), S. 139 (9: 21). 89 Vgl. Donald Stauffer: Shakespeare’s World of Images, New York 1949, S. 304 f.; James E. Phillips: „The Tempest“and the Renaissance Idea of Man, in: Shakespeare Quarterly 15, 1964, S. 147 – 159.

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Eine Voraussetzung seiner erfolgreichen Machtausübung ist, daß er auch gelernt hat, sich selbst zu beherrschen. Wie schon erwähnt, gleicht er zeitweise noch dem Träumer und Idealisten, der wegen seiner Bücherstudien den Kontakt zur politischen Realität Mailands verlor. Während des Inselaufenthalts hat er aber, wie an seiner Beziehung zu Ariel besonders deutlich wird, Interesse an politischer Gestaltung und politischer Regie entwickelt. Problematisch ist jedoch seine Abhängigkeit von Gefühlen und Emotionen. Wie King Lear wird er leicht wütend, zornig und ungeduldig. Lange Zeit scheint das Handlungsziel des Stückes Prosperos Rache an den Feinden zu sein. Nachdem er am Ende des 4. Aktes seine Enttäuschung über die Unvollkommenheit des Menschen an Caliban und dessen Kumpanen abreagiert hat, wendet er sich im 5. Akt seinen Feinden aus Italien zu und unterdrückt seine Rachegefühle. Als Ariel meint, wer die Gefangenen beobachte, werde Mitgefühl empfinden, erklärt er: Hast du, der du nur Luft bist, Sinn, Gespür Für ihre Leiden, und soll da ich selbst, Ein Mensch, der gleich fein fühlt wie sie, Duldet wie sie, nicht menschlicher als du empfinden? Zwar ihre Schandtat traf mich bis ins Mark, Jedoch mit meiner besseren Vernunft Ergreif ich gegen meine Wut Partei. Das Köstlichere liegt im Sittlichsein Als im Vergeltungsuchen.90

Wie Eleanor Prosser dargelegt hat, ähneln diese Ausführungen über Tugend und Rache den Formulierungen, die Montaigne der englischen Übersetzung Florios zufolge in seinem Essay über die Grausamkeit gebraucht.91 Wie Montaigne spricht Prospero nicht von christlicher Vergebung, sondern akzentuiert die Rolle der Vernunft. Obgleich er immer noch Wut verspürt, entscheidet er sich für Vernunft und Geduld und gegen eine Rache. Er ist gewiß keine gefühllose stoische Idealgestalt, aber entgegen der Meinung Prossers doch ein Mensch, der sich zu einer Position durchringt, die nicht nur christlich, sondern auch stoisch 90 „Hast thou, which are but air, a touch, a feeling/ Of their afflictions, and shall not myself,/ One of their kind, that relish all as sharply/ Passion as they, be kindlier mov’d than thou art?/ Though with their high wrongs I am struck to th‘ quick,/ Yet with my nobler reason ’gainst my fury/ Do I take part: the rarer action is / In virtue than in vengeance […].“ (5.1.21 ff.) 91 Vgl. Eleanor Prosser: Shakespeare, Montaigne, and the Rarer Action, in: Shakespeare Studies 1, 1965, S. 261 – 264.

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genannt werden kann. Mark Aurel erklärt einmal, die „beste Art, sich an jemand zu rächen“, sei „die, nicht Böses mit Bösem zu vergelten.“ Epiktet verweist in diesem Zusammenhang auf Lykurg: Dieser ,rächte‘ sich an einem jungen Mann, der ihm ein Auge ausgeschlagen hatte, indem er ihn zu einem verantwortungsbewußten Bürger erzog.92 Eine ähnliche erzieherische Einstellung leitet Prospero, als er kurz darauf die Versöhnung inszeniert. Wie das Ende des Stückes nahelegt, wird Prospero nach der Macht und Ohnmacht des Politikers die menschliche Ohnmacht angesichts des Todes erfahren. Vor der Verzweiflung können ihn, wenn man den an das Theaterpublikum gerichteten Epilog auf seine religiöse Stimmung am Ende der Handlung beziehen darf, nur Gebet und Gnade bewahren. Diese eindeutig christliche Wendung wird in dem Moment möglich, als Prospero seine Rolle als Regisseur im theatrum mundi niederlegt und seine eigene Unzulänglichkeit voll anerkennt. Wie The Tempest erneut zeigt, läßt sich Shakespeare auf den Stoizismus ein, verzichtet aber darauf, ihn als Weltanschauung zu propagieren. Statt dessen weist er auf seine Relevanz für menschliches Verhalten hin und macht auf seine Grenzen und Schwächen aufmerksam. Dieser aspektreiche und nicht unkritische Umgang mit dem Stoizismus ist für das zeitgenössische Drama typisch, wenn man von einigen Versuchen, etwa bei Chapman, absieht, stoizistische Lehrmeinungen didaktisch auf der Bühne in Handlung umzusetzen, d. h. Philosophie zu literarisieren.

Die englische Literatur und der Stoizismus in der Zeit nach Shakespeare Fällt die Shakespeare-Zeit mit der ersten Phase der Rezeption des Stoizismus zusammen, so umspannt die zweite Phase den Zeitraum von etwa 1620 bis 1688, also die Konflikte zwischen Krone und Parlament, den Bürgerkrieg und die Restaurationszeit. Auch für diese Phase ist eine breite Editions- und Übersetzungstätigkeit charakteristisch. Neue Übersetzungen von Lipsius’ De constantia erschienen 1653, 1654 und 1670. Du Vairs La philosophie morale des Stoiques wurde 1664 erneut übersetzt, verschiedene Texte von Epitekt 1692 und 1700. Großen Einfluß hatte die englische Ausgabe der Werke 92 Vgl. Albert Wittstock (wie Anm 37), S. 75 (6: 6); Rainer Nickel (wie Anm 67), S. 53.

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von Mark Aurel durch Casaubon (1634, 1635). Wie zuvor wurden stoische Maximen durch das Drama popularisiert. Stoische Themen und Probleme erreichten häufiger als in der Shakespeare-Zeit auch die Lyrik. Beispielsweise fragten sich Dichter wie Andrew Marvell (The Garden) in der Zeit der politischen Wirren, ob es nicht ratsam sei, sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen. Nicht nur bei diesem Thema wurden zunehmend epikureische und stoische Grundsätze miteinander kontrastiert. Die Rehabilitation der Epikureer betrieben in der Zeit der frühen Stuarts Autoren wie Robert Burton und Thomas Browne. Allerdings zog der Stoizismus bis zum Bürgerkrieg, wie Reid Barbour in einer Überblicksdarstellung feststellt, stärker die Aufmerksamkeit auf sich; erst in der Restaurationsepoche drängten die Lehren Epikurs zumindest am Hof den Stoizismus zurück.93 Ein weiteres Charakteristikum der zweiten Rezeptionsphase ist, daß stoisches und epikureisches Gedankengut gleichermaßen Argumente für die Anhänger des absolutistischen Zentralstaates wie für seine Gegner lieferten. Wenn Quentin Skinner in Foundations of Modern Political Thought (1978/9) behauptet, der Stoizismus von Montaigne, Du Vair und Lipsius habe zur Unterwerfung unter den Absolutismus ermutigt, nicht aber zur Rebellion, dann trifft das vielleicht auf die elisabethanische Zeit zu, nicht aber auf die Epoche des Bürgerkrieges.94 Entsprechend scheint Gerhard Oestreichs These, der Stoizismus habe besonders klassisch gebildete Offiziere und den Verhaltenskodex von Militärs beeinflußt, für England nicht oder nur bedingt Gültigkeit zu besitzen.95 Lipsius, Boethius, Aurel und andere haben die aus der Politik verdrängten Royalisten in den beiden Dekaden vor der Restauration getröstet; sie haben aber auch die Gegner der Monarchie zu politischem Engagement bewogen. Beispielsweise schätzte John Milton Mark Aurel sehr. Obgleich er sich allmählich vom Stoizismus distanzierte, dürfte es kein Zufall sein, daß in Paradise Regained (1671) Jesus den Stoizismus ausführlicher würdigt als andere antike Weltanschauungslehren (IV.272 – 321). Nach der Glorious Revolution von 1688 setzte der Niedergang des Stoizismus in der englischen Literatur ein. Stoisches Gedankengut 93 Siehe Reid Barbour: English Epicures and Stoics. Ancient Legacies in Early Stuart Culture, Amherst, MA 1998. 94 Vgl. Andrew Shifflett: Stoicism, Politics and Literature in the Age of Milton, Cambridge 1998, S.1 ff. 95 Vgl. ebda., S. 31 ff.

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spielte zwar in der zeitgenössischen Rhetorik und Belletristik durchaus noch eine Rolle, z. B. in Erörterungen über die Vernunft, den gesunden Menschenverstand und die angeborenen Eigenschaften des Menschen. Trotzdem verlor der Stoizismus an Bedeutung. So waren bürgerliche Moralisten nicht mehr bereit, stoische Vorstellungen mit christlichen zu harmonisieren. In dem Traktat Christian Hero (1701) wendet sich Richard Steele als Offizier primär an Soldaten in der Absicht, die Überlegenheit christlicher über antike Helden zu demonstrieren. Er betont den Egoismus, die moralische Schwäche, die mangelnde Vernunft sowie die Abhängigkeit des Menschen von Emotionen und bewertet den stoischen Heiligen Cato und auch Gestalten wie Brutus und Caesar negativ. Joseph Addison deutet in der Tragödie Cato (1713) den Protagonisten als freiheitsliebenden Stoiker. Unmittelbar vor seinem Freitod liest Cato Platos Ausführungen über die Unsterblichkeit der Seele und stellt die Richtigkeit seines Entschlusses zum Selbstmord und damit seine früheren Überzeugungen in Frage. George Lillo, der Addisons Stück bewunderte, geht in Fatal Curiosity (1736) einen Schritt weiter, indem er die Hauptfigur Old Wilmot mit Merkmalen ausstattet, die an Karikaturen des Stoikers in der antistoischen Tradition erinnern. Wilmots Selbstmord ist kein moralischer Triumph, sondern versinnbildlicht „das Scheitern einer nicht christlich überformten Ethik.“96 Auch im Roman des 18. Jahrhunderts, etwa in Henry Fieldings Amelia (1751) oder Oliver Goldsmiths The Vicar of Wakefield (1766), werden stoische und christliche Einstellungen miteinander verglichen. Christliche Nächstenliebe, Benevolenz, bürgerliche Tugenden, Emotionen und Gefühle wurden für die Entwicklung hin zur empfindsamen Literatur immer wichtiger. Eine der Quellen für den neuen sentimentalen Heldentyp („man of feeling“) ist die antistoische Tradition.97 Eine andere Quelle ist der auch christlich motivierte Zweifel an der menschlichen Vernunft. Jonathan Swift betont im 4. Buch von Gullivers Travels (1726) die menschliche Triebnatur. Während er den Menschen der Vernunft allenfalls für fähig hält, projiziert er Merkmale des stoi96 Stephen L. Trainor: Suicide and Seneca in Two Eighteenth Century Tragedies, in: Drama and the Classical Heritage, hg. von Clifford Davidson, Rand Johnson, John H. Stroupe, New York 1993, S. 227 – 240, dort S. 227: „the moral bankruptcy of an ethical system operating without God“. Zur Rezeption Catos vgl. Ian Donaldson: The Rapes of Lucretia. A Myth and Its Transformation, Oxford 1982, S. 147 – 168. 97 Vgl. R.S. Crane: Suggestions toward a Genealogy of the „Man of Feeling“, in: English Literary History 1, 1934, S. 214 – 220.

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schen Weisen – Stolz, Vernunft, Gefühlskälte, Leidenschaftslosigkeit – auf die auf Gulliver herabsehenden Pferde. Freilich sind die Pferde von Natur aus vernünftig und brauchen sich weder um Selbstbeherrschung zu bemühen noch sich gedanklich oder gar philosophisch anzustrengen. Der Dynamik des menschlichen Lebens und der Geschichte sind diese satirisch-utopischen Gestalten offenbar nicht gewachsen. Die für das 18. Jahrhundert charakteristische Tendenz, den tatsächlich oder scheinbar gefühlskalten, vernunftbetonten Typ negativ zu bewerten, setzte sich im Roman des 19. Jahrhunderts fort98. Der Figurentyp wurde jedoch nicht mehr von Stoikern repräsentiert, sondern von Naturwissenschaftlern wie Mary Shelleys Frankenstein, sich aristokratische Allüren zulegenden Geschäftsleuten wie Dickens’ Dombey und immer wieder von Puritanern. Alles in allem war im 19. und 20. Jahrhundert der Stoizismus nur noch sporadisch für die englische Literatur wichtig. Als Beispiel sei Walter Paters Marius the Epicurean (1885) genannt. Pater spiegelt die Glaubensprobleme der spätviktorianischen Ära in der Zeit Mark Aurels wider und hebt deutlicher als die Quellen hervor, daß Aurel nicht seinen Überzeugungen gemäß mit Gelassenheit auf den Tod seines siebenjährigen Sohnes reagierte. Marius, dessen Werdegang der Roman nachzeichnet, wendet sich von Epikur und der Stoa ab und fühlt sich zum Christentum hingezogen. Er bleibt aber Agnostiker, weil er die Jenseitsgläubigkeit der Christen nicht zu teilen vermag. Manche stoischen Klischeevorstellungen, so etwa der tapfer sein Schicksal ertragende Held, kehren bis heute in Abenteuerromanen und Indianergeschichten wieder. Selbst die Werke von Kipling, Conrad und Hemingway, in denen sich der Verhaltenskodex kleiner disziplinierter Gruppen in Krisensituationen bewähren muß, dürften aber kaum von einer intensiveren Beschäftigung mit dem Stoizismus zeugen. Sie werden deshalb heute häufig aus einer an Camus und Sartre erinnernden existenzialistischen Perspektive interpretiert, die sich nur in einigen Punkten mit dem Stoizismus berührt.

98 Vgl. z. B. Jana Gohrisch: Brgerliche Gefhlsdispositionen in der englischen Prosa des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2005.

Martin Opitz’ Trost-Getichte: ein Gründungstext der deutschen Nationalliteratur aus dem Geist des Stoizismus von Achim Aurnhammer Schon in seinem lateinischen Frühwerk orientierte sich der späthumanistische Dichter Martin Opitz an der Stoa.1 Neben Seneca2 schätzte er vor allem die niederländischen Neustoiker Justus Lipsius und Daniel Heinsius.3 Heinsius nacheifernd, den er im Jahre 1620 persönlich in Leiden aufsuchte, wählte Opitz sich Seneca zum dramatischen Vorbild: Seine Übersetzung von Senecas stoischen Trojanerinnen [Troades, dt.] aus dem Jahre 1625 lieferte das Muster für das Märtyrerdrama im deutschen Barock.4 Auch die selbständigen poetischen Werke, mit denen Opitz 1 2

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Vgl. dazu jetzt Jörg Robert: Martin Opitz und die Konstitution der Deutschen Poetik. Norm, Tradition und Kontinuitt zwischen „Aristarch“ und „Buch von der Deutschen Poeterey“, in: Euphorion 98 (2004), S. 281 – 322. Zum Einfluß Senecas vgl. neben dem Überblick von Eduard Stemplinger: Martin Opitz und der Philosoph Seneca, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 8 (1905), S. 334 – 344, die gründliche und noch nicht überholte Studie von Paul Stachel: Seneca und das deutsche Renaissancedrama: Studien zur Literatur- und Stilgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin 1907 (Palaestra 46). Inwieweit Opitz vom niederländischen Neustoizismus geprägt war, erörtert im Anschluß an die frühe Studie von Kurt Wels: Opitz und die stoische Philosophie, in: Euphorion 21 (1914), S. 86 – 102, William L. Cunningham: Martin Opitz. Poems of consolation in adversities of war. Bonn 1974 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 134). Die rezeptionsgeschichtliche Forschung hat sich bislang mehr auf die poetologischen und übersetzerischen als auf die philosophischen Anleihen konzentriert, die Opitz Heinsius verdankt; vgl. J. Bernhard Muth: ber das Verhltnis von Martin Opitz zu Dan[iel] Heinsius. Leipzig 1872, Ulrich Bornemann: Anlehnung und Abgrenzung. Untersuchungen zur Rezeption der niederlndischen Literatur in der deutschen Dichtungsreform des siebzehnten Jahrhunderts. Assen 1976, bes. S. 86 ff. Vgl. dazu auch den souveränen Überblick von Guillaume van Gemert: Niederlndische Einflsse auf die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Zwei Aufstze. Trient 1993 (Ricerche di Germanisticha 5). Vgl. dazu die Studie von Hans-Jürgen Schings: Seneca-Rezeption und Theorie der Tragçdie. Martin Opitz’ Vorrede zu den „Trojanerinnen“, in: Historizitt in Sprach-

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das Hochdeutsche zur konkurrenzfähigen Dichtungssprache aufwertete, stehen im Zeichen stoischer Ethik und Didaxe. Als bedeutendstes Zeugnis von Opitzens stoischer Gesinnung gilt sein Versepos TrostGetichte in Widerwertigkeit des Krieges.

Forschungsstand und Beweisziel Die Trost-Getichte in Widerwertigkeit des Krieges hat Martin Opitz zwischen 1620 und 1621 in Jütland verfaßt – dorthin war er vor dem Krieg geflüchtet –, aber erst im Jahre 1633 veröffentlicht. Das Versepos gibt der Forschung bis heute Rätsel auf.5 Der Zeitbezug und die Gattungszugehörigkeit sind ebenso umstritten wie der gedankliche Gehalt und die Kohärenz des Texts. Opitz hat seine Trost-Getichte, die insgesamt 2312 paargereimte Alexandriner umfassen, in vier Bücher geteilt, denen er jeweils eine Inhaltsangabe vorausschickt.6 Im ersten Buch beschreibt Opitz den „Böhmischen Krieg“ als „Schickung Gottes“, das zweite Buch propagiert die stoische Tugend der „Beständigkeit“ als Bewältigungsstrategie. Im dritten Buch wird das „Gewissen“ zum Leitfaden des Handelns erklärt sowie die heroische Variante der Beständigkeit in Form des Freiheitskampfes propagiert. Das vierte Buch nennt stoische Formen der Schmerzlinderung und relativiert die gegenwärtige Bedrängnis vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit und des Jüngsten Gerichts.

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und Literaturwissenschaft, hg. von Walter Müller-Seidel, München 1974, S. 521 – 537. Im folgenden zitiere ich nach der kritischen Ausgabe: Martin Opitz: [Nr. 44] Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges, in: M. O.: Gesammelte Werke [GW], hg. von George Schulz-Behrend, Bd. 1: Die Werke von 1614 bis 1621, Stuttgart 1968 (BLVS 295), S. 187 – 266. Auf diese Ausgabe beziehen sich die eingeklammerten Angaben im Text (TG, Buch, Vers). Die Unklarheiten beginnen schon mit dem Titelwort „Trost-Getichte“, das zwar überwiegend als Pluralform, gelegentlich aber auch als Singular verstanden wird. Der Zweitdruck von 1638 hat im übergeordneten Titel die Singularform „Trostgedicht“, verwendet aber in den Untertiteln vor den einzelnen Büchern die Pluralform „Trostgedichte“. Der Herausgeber Schulz-Behrend gebraucht als Kolumnentitel die Einzahl „Trostgedicht“. Das erste und das vierte Buch umfassen übereinstimmend jeweils 568 Verse, während das zweite Buch etwas länger (616 Verse), das dritte etwas kürzer ist (560 Verse).

Martin Opitz’ Trost-Getichte

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Die Trost-Getichte lassen viele Deutungen zu: Liegt überhaupt ein ,Lehrgedicht‘ vor, oder weicht die „Didaktik der Epideiktik“? 7 Handelt es sich um eine „politisch-moralische Versdichtung“8 oder die „Statuierung christlich-neustoizistischer Werte“9, um eine quietistisch-erbauliche Schrift10, eine oratorische Kampf- wie Trostschrift für die protestantische Sache11 oder eine theologische „Verschleierung des brisanten politischen Inhalts“12 ? Da eine einläßliche quellenkritische Untersuchung aussteht, ist auch der stoische Diskurs des Versepos umstritten: Die frühe These von Kurt Wels, Opitz habe in den TrostGetichten mehr den lipsianischen Neustoizismus als die antike Stoa verarbeitet, hat Cunningham erhärtet und Stalder begriffsgeschichtlich fortgeschrieben.13 Dagegen schwächte Barbara Becker-Cantarino den 7 Diese These vertritt L. L. Albertsen: Das Lehrgedicht. Eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur mit einem Gedicht Albrecht von Hallers. Aarhus 1967, bes. S. 88 – 94. 8 Wilhelm Kühlmann: Martin Opitz. Deutsche Literatur und deutsche Nation. Heidelberg 2001, S. 45. 9 Klaus Garber: Martin Opitz, in: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, hg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese, Berlin 1984, S. 116 – 184, hier S. 153. Die stoische Faktur wird in verschiedenen Studien betont: Jörg-Ulrich Fechner: Martin Opitz’ „Trostgedichte“ in der Nachfolge von Petrarcas „De remediis utriusque fortunae“? Eine methodische berlegung, in: Martin Opitz und seine Welt. FS George Schulz-Behrend, hg. von Barbara Becker-Cantarino und J.–U. Fechner, Amsterdam 1990 (Chloë 10), S. 157 – 172, geht nur knapp und thesenhaft auf eine mögliche Vermittlung stoischen Gedankenguts durch Petrarcas ,Glückbuch‘ ein; vgl. auch Jean Charue: Les „Trost-Gedichte“ d’Opitz, in: Le texte et l’idée 10 (1995), S. 45 – 61. 10 Vgl. Wolfgang Ulrich: Studien zur Geschichte des deutschen Lehrgedichts im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. Kiel 1960. (zit. nach Albertsen [wie Anm. 7], S. 93, Anm. 41). 11 Die Rhetorizität des Textes betont Andreas Solbach: Rhetorik des Trostes: Opitz’ „Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges“ (1621/33), in: Martin Opitz (1597 – 1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt, hg. von Thomas Borgstedt und Walter Schmitz, Tübingen 2002, S. 222 – 235. 12 Garber (wie Anm. 9), S. 157. 13 Vgl. Cunningham (wie Anm. 3), bes. die verdienstvolle Zusammenstellung der Parallelen zwischen Lipsius und Opitz S. 63 – 107 (vgl. die vernichtende Rezension von Wilhelm Kühlmann in: Daphnis 4 [1975], S. 217 ff.), und Xaver Stalder: Formen des barocken Stoizismus. Der Einfluß der Stoa auf die deutsche Barockdichtung – Martin Opitz, Andreas Gryphius und Catharina Regina von Greiffenberg. Bonn 1976 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 39). Da sich Stalder ohne zeitlich zu differenzieren auf das Gesamtwerk von Opitz bezieht, spielen die Trost-Getichte in seiner Argumentation nur eine Nebenrolle.

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Einfluß von Lipsius zugunsten von Daniel Heinsius ab,14 Jörg-Ulrich Fechner empfahl, die stoische Orientierung auf eine breitere Tradition zu beziehen,15 während Klaus Garber die calvinistische Prägung betonte.16 Im folgenden möchte ich zunächst anhand der komplexen intertextuellen Kommunikation die stoische Poetik präzisieren, die den Trost-Getichten zugrunde liegt. Anschließend gilt es festzustellen, ob die Trost-Getichte ihrem eigenen Programm genügen und im stoischen Diskurs bruchlos aufgehen.

Stoisches Dichtungsprogramm in intertextueller aemulatio mit Vergil Die Gliederung der Trost-Getichte in vier etwa gleichlange Bücher entspricht Vergils Georgica. Auf diese Parallele weist Opitz selbst hin. Denn in seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) illustriert er typische Merkmale des „Heroisch getichte“ mit dem Incipit seines Epos, das er synoptisch mit dem Anfang von Vergils Georgica präsentiert. Tatsächlich gehen die intertextuellen Bezüge über äußerliche Übereinstimmungen hinaus. Die entscheidende Parallele liegt in der ähnlichen Redesituation: Wie Vergil das Landleben vor dem Hintergrund des römischen Bürgerkrieges preist, ruft Opitz zur Tugend in den Widrigkeiten des Dreißigjährigen Krieges auf. Opitz markiert seine 14 Barabara Becker-Cantarino: Daniel Heinsius’ „De contemptu mortis“ und Opitz’ „Trostgedichte“, in: Opitz und seine Welt. FS George Schulz-Behrend, hg. von Barbara Becker-Cantarino und Jörg-Ulrich Fechner, Atlanta 1990, S. 37 – 56. 15 Fechner (wie Anm. 9). 16 Garber (wie Anm. 9), bes. S. 145, 151 f. und 159. – Schon der Titel TrostGetichte deutet auf einen wesentlichen Bezug des Werks zum stoischen consolatio-Programm hin. Dieser Teil der stoischen Lehre spielt in der frühneuzeitlichen Rezeption der Stoa eine zentrale Rolle. Besonders in Kriegszeiten hatten stoisch gefärbte Trostschriften Konjunktur. So verspricht Justus Lipsius’ Traktat De constantia schon im Untertitel „Zuspruch bei öffentlichem Unglück“ (alloquium […] in publicis malis). Guillaume du Vairs 1590 während der Belagerung von Paris entstandene Schrift De la constance et consolation s calamits publiques (Paris 1594) verfolgt dasselbe Programm. Der frühneuzeitlichen consolatio-Literatur geht eine lange Phase der Verschmelzung stoischen und christlichen Gedankenguts voraus. Vgl. dazu die Studien von Rudolf Kassel: Untersuchungen zur griechischen und rçmischen Konsolationsliteratur. München 1958, und von Peter von Moos: Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur ber den Tod und zum Problem der christlichen Trauer. 4 Bde. München 1971 – 1972.

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intertextuellen Anleihen bei Vergils Landleben-Dichtung onomastisch, wenn er Vergils Einleitung der ersten Ecloga, welche bekanntlich der Schlußvers der Georgica aufgreift, imitiert: So wundert sich bei Vergil der Bürgerkriegsflüchtling Meliboeus über das Friedensglück des Hirten Tityrus, der Flöte spielt, Liebeslieder singt und sich freut, wenn ihm die Wälder den Namen der Geliebten als Echo zurückgeben: […] tu, Tityre, lentus in umbra formosam resonare doces Amaryllida silvas.17

Opitz zitiert diese Verse, versetzt sie jedoch in die Vergangenheit und intensiviert damit zeitlich („vorhin“ / „jetzt“) den antithetischen Kontrast zum aktuellen Kriegslärm, der alles erfaßt und weder ländliche Idylle noch Gesang zuläßt: Wo Tityrus vorhin im Schatten pflag zu singen/ Vnd ließ von Galathee Wald/ Thal vnd Berg erklingen/ […] Ach! ach! da hört man jetzt die grawsamen Posaunen/ Den Donner vnd den Plitz der fewrigen Carthaunen/ Das wilde Feldgeschrey: […] (TG I, 81 – 87)

Opitz macht durch das Zitat den Abstand deutlich, der es ihm verbietet, unter den aktuellen Daseinsbedingungen noch ein ,Lob des Landlebens‘ wie Vergil zu singen. Darüber hinaus thematisiert er die Rolle der Kunst in Zeiten des Krieges. Diese ästhetische Distanz zu Vergil findet ihr programmatisches Pendant in dem Eingang der Trost-Getichte, der einen Bruch mit der Tradition inszeniert. Hier ist die aemulatio mit Vergil in ein Programm umgemünzt, wie es die Synopse im Buch von der Deutschen Poeterey andeutet. Dabei teilt Opitz selbst je nach Redefunktion die ersten 36 Verse seines Epos in drei Passagen auf: Das Incipit exemplifiziert den gattungstypischen thematischen Einsatz. Während Vergil in seiner Dichtung das Landleben lehrt, nimmt sich Opitz die Kriegsrealität zum Gegenstand: DEs schweren Krieges/ den Deutschland jetzt empfindet/ Vnd daß Gott nicht vmbsonst so hefftig angezündet 17 Vergil: Ecloga 1, 4 – 5: [„(…) Du aber, geruhsam im Schatten, j Tityrus, lehrst die Wälder den Widerhall: ,Schön’ Amaryllis!“]. Die deutsche Übersetzung wird zitiert nach: Vergil: Landleben (Bucolica, Georgica, Catalepton), hg. von Johannes und Maria Götte / Vergil-Viten, hg. von Karl Bayer. Lateinisch und deutsch, München 21977.

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Den Eyfer seiner Macht/ auch wo in solcher Pein Trost her zu holen ist/ sol mein Getichte seyn. (TG I, 1 – 4)

Statt die antiken Musen anzurufen, bittet Opitz den Heiligen Geist um Beistand (TG I, 5 – 12) und betont selbstbewußt in einer epanaleptischen Deixis die Neuheit eines historischen Leidens- und Trostepos: Gib meiner Zungen doch mit deiner Glut zu brennen/ Regiere meine Faust/ laß meine Jugend rennen Durch diese wüste Bahn/ durch dieses newe Feld/ Darauff noch keiner hat für mir den Fuß gestellt. (TG I, 9 – 12)

Indem er den Heiligen Geist zur Inspirationsinstanz erklärt, betont Opitz die stoisch-christliche Konvergenz seiner Trost-Getichte. Denn in der Bibel – etwa in der Verheißung des Heiligen Geistes in Johannes 14,16 – 26 – ist der Heilige Geist ja der „Tröster“ (paq\jkgtor).18 Mit mehreren rhetorischen Fragen lehnt Opitz die „bekandt[en]“ antiken Dichtungsarten wie Liebeslyrik, Panegyrik und Mythologie ausdrücklich ab, und stellt ihnen prägnant seinen stoischen Dichtungsvorsatz entgegen: […] Ich bin Begierde voll Zu schreiben wie man sich im Creutz’ auch frewen sol/ Seyn Meister seiner selbst. (TG I, 27 – 29)

Neben der thematischen Neuheit, nämlich das Leiden zum Zweck stoischer Selbstkontrolle zu beschreiben, hebt Opitz die literarische Neuheit seines Unternehmens hervor. Sein Gedicht soll eine ,translatio Musarum‘ initiieren, mit der Opitz die Hoffnung auf eine sprachlichkulturelle Blüte im künftigen Nachkriegsdeutschland verbindet. Die Hoffnung, seinerseits durch die aemulatio eines „geschickteren“ Nachfolgers übertroffen zu werden, unterstreicht nur, welch hohen Rang Opitz seinen eigenen Trost-Getichten zumißt, wenn er sie als Beginn einer deutschen Nationalliteratur veranschlagt: […] Ich will die Pierinnen/ Die nie auff vnser Teutsch noch haben reden können/ Sampt jhrem Helicon mit dieser meiner Hand Versetzen biß hieher in vnser Vaterland. Es wird in künfftig noch die Bahn so ich gebrochen Der so geschickter ist nach mir zu bessern suchen/ Wann dieser harte Krieg wird werden hingelegt/ Vnd die gewündschte Ruh zu Land’ vnd See gehegt. (TG I, 29 – 36) 18 Vgl. die Große Konkordanz zur Lutherbibel. Stuttgart 31993, s. v. ,Tröster‘.

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Ein weiterer Unterschied, der die intertextuelle aemulatio mit Vergil verdeutlicht, ist der Verzicht auf die klassische Dedikation. Während Vergil in seinen Georgica den künftigen Cäsar Augustus als Friedensherrscher und Schirmherr seines Epos apostrophiert, bewahrt Opitz seine poetische Autonomie, indem er nur Gott um Beistand für sein poetisches Unternehmen bittet. Unbeachtet blieb bisher die theoretische Begründung der stoischen Poetik des Martin Opitz, seine erklärte Absage an rhetorischen Selbstzweck und Ornatus. Auch wenn die Stoa keine eigene Poetik entwickelte,19 favorisierte sie eine nüchtern-schlichte Rhetorik, welche ihrer erzieherischen Absicht und dem Ideal der Wahrhaftigkeit am ehesten entspricht. Vor dem Hintergrund dieses stoischen Prinzips erklärt sich die poetologische Reflexion, die das zweite Buch der Trost-Getichte einleitet: Zwar hält Opitz, allein um die Dichtung zu nobilitieren, an der neuplatonischen Genietheorie fest und reklamiert für sich selbst poetische Begabung und Inspiration, wirft aber vielen Dichtern vor, die Kriterien „Weißheit“ und Trost sträflich zu vernachlässigen: Poeten sollen mir Bericht von Weißheit geben/ Vnd sagen wie ich doch in diesem armen Leben Die bösen Lüsten fliehn/ das Creutze tragen sol/ So sind sie Eitelkeit vnd falscher Meinung voll: (TG II, 13 – 16)

Zentralbegriffe dieses Passus sind neben „Weißheit“ die klassischen Antonyme des stoischen Ideals: „Eitelkeit“ und „falsche Meinung“. Daraus erhellt prägnant das Opitzische Programm: Dichtung zu stoisieren. Die anschließenden Gegenbeispiele, mit denen Opitz ein falsches Dichtungsverständnis illustriert, sind Episoden aus antiken Versepen, in denen berühmte Helden wie Achilles und Odysseus ihre Pflicht vergessen oder Affekte zeigen, die dem stoischen Ideal des Gleichmuts widersprechen.20 Solche unheldischen Episoden und süße Persuasions19 Vgl. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Bd. 1, Göttingen 5 1978, bes. S. 52 ff. („Die Rhetorik“): „Die Poetik hat in der Stoa keine feste Stätte gefunden, so gern man sich auf die Dichter als auf die Träger volkstümlicher Erkenntnis berief“ (S. 53). 20 Dabei werden Idealhelden der stoischen Tradition angeführt wie Odysseus und Herkules, dessen Leiden im Nessus-Gewand Seneca (Hercules furens) dramatisiert hat: Da steht der weise Mann Vlysses/ seufftzt vnd klagt/ Er werde gar zu weit vom Vater weggejagt/ Vnd wolte gerne heimb: Da ligt der Kern der Helden Ihr starcker Hercules/ vnd fluchet/ wie sie melden/

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rhetorik verwirft Opitz mit epanaleptischer Vehemenz zugunsten der stoischen Wirkungsabsicht: O weg mit solcher Kunst/ weg/ weg mit solchen Sachen/ So die Gemüther nur verzagt vnd weibisch machen/ Die leichtlich wie man will durch der Getichte Schein Vnd eusserlichen Glantz zu vberreden seyn. Ich lasse dieses mal die Zuckerworte bleiben/ Wil auff mein Deutsches hier von Deutscher Tugend schreiben/ Von Mannheit welche steht; wil machen offenbar Wie keiner vnter vns in Nöthen und Gefahr Die jetzt für Augen schwebt/ so gäntzlich sey verlassen/ Daß er nicht wiederumb ein Hertze solle fassen. (TG II, 29 – 38)

Die konsolatorische Wirkung, die Opitz poetisch bei seinen Landsleuten erzielen will, erhöht die Trost-Getichte zu einem patriotischen Dienst. Die Opitzischen Trost-Getichte erschöpfen sich jedoch nicht – so meine These – in dieser stoischen ,militia‘. Vielmehr geht die Opitzische Dichtung über das stoische Programm ihres Dichters hinaus: In den Trost-Getichten werden die stoischen Diskurskonventionen nicht bruch- und ,subjektlos‘ erfüllt, sondern geraten vielmehr in Unordnung, konfligieren mit Nebendiskursen oder werden in solchen Nebendiskursen relativiert. Prüfen möchte ich diese These am Kriegs- und am Tugend-Diskurs.

Stoische Entaktualisierung des Kriegs und christliches Mitleid Stoischer Wirkungsabsicht entsprechend, hat Opitz den Krieg entaktualisiert und entpersonalisiert. In sämtlichen vier Büchern der TrostGetichte bleiben die kriegsführenden Parteien unbezeichnet: Kein Kriegsheld, kein Kriegsschauplatz, kein Datum des böhmisch-pfälzischen Kriegs (1618 – 1623) wird explizit genannt. Der stoischen Entaktualisierung widerstreiten auch kaum die vier neueren historischen Beispiele, auf die sich das Verständnis der TrostGetichte als tendenziöser ,Zeitdichtung‘ stützt. Sie stellen einen merkwürdigen Kompromiß zwischen Aktualität und Historizität dar, entstammen doch zwei davon noch dem 16. Jahrhundert: die Bartholomäusnacht von 1572 (TG III, 109 – 160) und die Belagerung von LeiAuff seiner Frawen List/ vnd das vergiffte Kleid Durch das er sterben muß/ weynt/ seufftzet/ heult vnd schreyt. (TG II, 23 – 28)

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den 1574 (TG III, 293 – 308). Die beiden Bespiele aus dem 17. Jahrhundert, die Belagerung von Ostende (1601 – 1604) im niederländischen Befreiungskrieg (TG III, 309 – 320) und die Schlacht bei Gibraltar von 1607, bei welcher der holländische Seefahrer Jan van Heemskerck umkam (TG III, 322 – 340), lagen bei Abfassung des Epos immerhin auch schon 14 Jahre zurück. Zudem vermitteln mythologische Vergleiche die realistische Schilderung und verallgemeinern moralische Digressionen die antikatholische Tendenz. Die distanzierende Vermittlung erklärt sich mit aus dem Umstand, daß Opitz – dies ist jedenfalls für drei der vier Episoden nachgewiesen – vorgängige literarische Gestaltungen verarbeitet. So hat Opitz alle drei historischen Muster heldenhaften Widerstands aus dem Niederländischen Befreiungskrieg Dichtungen von Daniel Heinsius nachgebildet, zum Teil sogar wörtlich übersetzt.21 Doch trotz der Intertextualität fügen sich die ,neueren‘ Episoden aus ,zweiter Hand‘ nicht völlig in das stoische Prinzip der Entaktualisierung und konfligieren in ihrer Wirkungsabsicht: Zum einen sollen sie – ganz im Sinne von Justus Lipsius – nachweisen, daß selbst außerordentliche Gewalttaten wie die Bartholomäusnacht den ,notwendigen Gang des Ganzen‘ nicht entscheidend verändern können, zum andern ist ihr aktueller Anspruch und impliziter Appell nicht zu verkennen: Mit den historischen Beispielen will Opitz davor warnen, „die Hände in den Schoß zu legen“, wie es bei Justus Lipsius heißt, und speziell die Deutschen dazu ermuntern, sich nach dem Vorbild der Niederlande gemeinsam der fremden Soldateska zu erwehren. Neben zeitgenössischen Prätexten (Lipsius, Heinsius) greift Opitz für seine Darstellungen von Leid und Krieg vor allem auf antike Muster (Lucan, Vergil) zurück. Da die Leidensbeschreibungen auf diese Weise intertextuell aufgeladen, antikisiert und topisch präformiert sind, wirken sie weniger realistisch als literarisch und überzeitlich. So gehört die Vision der Erinye Tisiphone, die als gräßliche Pestgöttin das ganze Land heimsucht und nichts unverschont läßt, zu den Anleihen bei Vergil, die Opitz in seiner Kriegs- und Leidensdarstellung 21 Die Belagerung von Leiden 1574 (TG III, 293 – 308) ist Daniel Heinsius’ Gedicht Aen Leyden nachgebildet, die Belagerung von Ostende (1601 – 1604) (TG III, 309 – 320) ahmt Heinsius’ Op […] Oostende nach, und die Schlacht bei Gibraltar von 1607 (TG III, 322 – 340) verarbeitet Heinsius’ Gedicht Op de Doot […] van […] Iacob Heemskerck. Ungeklärt ist bislang, ob auch die Schilderung der Bartholomäusnacht (TG III, 109 – 160) auf einen Prätext zurückgeht. Erwähnt wird sie übrigens als stoisches Argument von dem Dialogpartner Lang in Lipsius’ De constantia.

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verarbeitet. Vergils Seuchenschilderung, die den dritten Gesang der Georgica bestimmt, gipfelt in einer apokalyptischen Todesvision, die das friedliche Landleben umkehrt, sogar Wasser und Luft erfaßt, daß Fische und Vögel verenden, bis schließlich nur noch Leichen den Plan bevölkern: […] timidi dammae cervique fugaces nunc interque canes et circum tecta vagantur. 540 iam maris immensi prolem et genus omne natantum litore in extremo ceu naufraga corpora fluctus proluit; […] ipsis est aër avibus non aequus, et illae praecipites alta vitam sub nube relinquunt. […] quaesitaeque nocent artes; cessere magistri Phillyrides Chiron Amythaoniusque Melampus. 550 saevit et in lucem Stygiis emissa tenebris pallida Tisiphone Morbos agit ante Metumque, inque dies avidum surgens caput altius effert.22

Vergils Seuchenvision greift Opitz zu Beginn seines dritten Buches auf. Er markiert die Anlehnung deutlich, indem er die geschundenen Tiere des Walds, des Wassers und der Luft und die der Nachtwelt entstiegene Tisiphone benennt: Erwacht der strenge Mars/ da bleibt nichts vnversehret/ Gar keine Gesetze gilt/ kein Recht wird mehr gehöret/ Weil Waffen vnd Gewehr zu groß Getümmel macht: Die Frömmigkeit reißt aus/ die Zucht gibt gute Nacht. 22 Vergil: Georgica, III, 539 – 553: ,[…] Selbst furchtsames Damwild, flüchtige Hirsche treiben sich jetzt zwischen Hunden umher und umkreisen die Häuser. Ja, des unendlichen Meeres Brut, die wimmelnden Fische, warf, wie Leichen vom Wrack, die Flut am äußersten Ufer aus. […] Vögeln selbst wird giftig die Luft. So stürzen sie jählings ab und lassen dort droben noch hoch unter Wolken ihr Leben. […] künstliche Mittel sind schädlich. Dahin sind die Meister der Heilkunst, Chiron, Philyras Sohn, und der Sohn Amythaos, Melampus. Grausig wütet, ans Licht entsandt aus höllischer Nacht, die bleiche Tisiphone, treibt vor sich her die Todesdämonen Seuchen und Angst, reckt gierig ihr Haupt stets höher und höher.‘

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Was können aber doch die armen Künste machen? Was kann Apollo thun bey solchem wilden Krachen? Dringt auch der Musen Thon vnd lieblicher Gesang Durch solches Feld-Geschrey/ vnd durch der Paucken Klang? Die starcke Schwefelglut/ der Schall von den Geschützen/ Von denen Jupiter auch könnte lernen plitzen/ Macht daß die Vögel sich begeben in die Flucht/ Daß Fisch vnd Wild entrinnt/ vnd newe Wohnung sucht. Es kehrt sich alles vmb/ muß vber Hauffen fallen; Und was am schlimmsten noch ist vnter diesen allen/ Der fühlet offtermals am meisten in der That/ Der an dem Wesen selbst am minsten Theiles hat. Tisiphone wird loß/ kömpt an den Tag gegangen/ Gefärbt mit Pech und Rauch/ vmbkrönt mit schwartzen Schlangen/ Leßt jhren Acheron den brennenden Morast/ Hat Zwietracht/ Grambschafft/ Neid/ Haß/ Zanck vnd Mord gefaßt/ Vnd wirfft sie auff den Plan: […] (TG III, 17 – 37)

Aus Vergils Seuchenvision macht Opitz eine Kriegsszenerie. Doch indem er Krankheitsbilder in ein Kriegstableau überführt, deutet Opitz seinerseits den Krieg als ein von Gott gesandtes Unheil, ein äußeres Fatum. Mit dem Kriegsgott Mars und der Furie Tisiphone rahmen mythologische Instanzen die Leichenszenerie. Dies verstärkt den fatalen Charakter des Kriegstableaus im Sinne der ,Heimarmene‘. Zugleich erscheint der Krieg durch die göttlichen Instanzen als überzeitliches Geschehen: Aus dem realen Krieg und politischen Geschehen wird so ein idealtypischer Krieg, völlig losgelöst von Kriegsgrund und kriegführenden Akteuren. Wie Opitz den Vergilischen Prätext stoisiert, indem er ihn lediglich partiell umbesetzt, zeigt exemplarisch die Allegorie der Tisiphone23 : Herkunft (der Unterwelt entstiegen) und Äußeres („bleich“ bzw. mit „Pech und Rauch schwarzgefärbt“) übernimmt Opitz von Vergil, lediglich die Entourage der Furie tauscht er aus: die allgemeinen unverschuldeten Bedrohungen im Hendiadyoin „Krankheit und Furcht“ („Tisiphone Morbos agit ante Metumque“ [III, 552]) erweitert und intensiviert Opitz zu einer sechsgliedrigen syn23 In der römischen Epik wird das gräßliche Aussehen der Tisiphone, einer der drei Erinyen, breit ausgemalt; vgl. Vergil: Aeneis 6, 555 ff. (und 273 ff.). Daniel Heinsius lehnt sie im zweiten Buch seiner Schrift De contemptu mortis als Beispiel einer heidnischen Allegorie des Todes ab: „[…] wie Tisiphone, wenn sie der Eifer bleht, j Den Schwarm der Bösen schilt, indem viel rege Schlangen j Zum fürchterlichen Schmuck an ihren Haaren hangen.“ Zit. nach: Vier Bcher von der Verachtung des Todes. Aus dem Lateinischen des Gerhmten Daniel Heinsius bersetzt [von] Friedrich Hudemann. Wismar [u.a.] 1749, S. 34.

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onymischen Reihe zwischenmenschlicher Konflikte: „Zwietracht/ Grambschafft/ Neid/ Haß/ Zanck vnd Mord“ (TG III, 36). Da der „Mord“ als letztes Glied der monosyndetischen Reihe kaum hervorgehoben ist, sondern wie eine logische Folge der Zwietracht wirkt, erscheint auch der mörderische Krieg als notwendiges Fatum, das nicht im Belieben des Menschen steht. In der distanzierten stoischen Kriegsdarstellung scheint jedoch ein subjektives Moment auf, welches der gezielten Entaktualisierung zuwiderläuft. Erneut reflektiert der Dichter die eigene Schreibsituation: Während Vergil nur beiläufig erwähnt, daß bei einer Seuche keine Künste mehr nützen („quaesitaeque nocent artes“), und das Ende der Heilkunst durch Nennung ,verblichener Meister‘ antonomastisch beklagt, verdoppelt und verallgemeinert Opitz das Vergilische Verspaar zu einer Klage über die Not der Kunst in Kriegszeiten: Was können aber doch die armen Künste machen? Was kan Apollo thun bey solchem wilden Krachen? Dringt auch der Musen Thon vnd lieblicher Gesang Durch solches Feld-Geschrey/ vnd durch der Paucken Klang? (TG III, 21 – 24)

In drei rhetorischen Fragen beklagt Opitz die Unvereinbarkeit von Kunst und Krieg. Die ersten beiden allgemeinen, anaphorischen und parallel gehaltenen Fragesätze kulminieren in der zweigliedrigen Antithese der dritten Frage: wieder wird der Gegensatz von Krieg und Kunst in unverträglichen Klangbildern illustriert. Die unverkennbar subjektive wie selbstreflexive Klage relativiert die stoische Distanzierung des Kriegs. Das erste Buch der Georgica schließt mit der Apostrophe an den Cäsar Augustus, er möge als neuer Friedensfürst die durch Krieg verkehrte Welt befrieden. Denn, so klagt Vergil: […] non ullus aratro dignus honos, squalent abductis arva colonis, et curvae rigidum falces conflantur in ensem.24

24 Vergil: Georgica, I, 506 – 508 [,Niemand ehrt noch den Pflug. Fort muß der Bauer, die Fluren j liegen verödet. Man glüht zum mordenden Schwerte die Sichel.‘]. Das Lob des Landlebens, das Vergil in den Georgica singt, ist geprägt von der Überzeugung, die Welt verschlechtere sich sukzessive und wir lebten nurmehr im ,eisernen Zeitalter‘. Kontrastiert wird die Erfahrung einer depravierten Gegenwart durch die kollektive Erinnerung an das überzeitliche Landleben des Bauern, aus der sich die Hoffnung auf die augusteische Frie-

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Opitz zitiert die Klage Vergils über das von Krieg verwüstete Land, amplifiziert aber die lateinischen Lakonismen über den darniederliegenden Bauernstand zu einer langen drastischen Diärese: Der arme Bawersmann hat alles lassen ligen/ […] Sein Gut ist weg geraubt/ sein Hoff hinweg gebrandt/ Sein Vieh hindurch gebracht/ die Schewren vmbgeschmissen/ Der edle Rebenstock tyrannisch außgerissen/ Die Bäume stehn nicht mehr/ die Gärten sind verheert; Die Sichel vnd der Pflug sind jetzt ein scharffes Schwerdt. Vnd dieses ist das Dorff: Wer aber wil doch sagen Der Städte schwere Noth/ den Jammer/ Weh/ vnd Klagen So männiglich geführt/ das vnerhörte Leid/ Des Feindes Vbermuth vnd harte Grawsamkeit? (TG I, 89 – 100)

Eingang und Schluß der Diärese (,Der fliehende Bauer‘ und die zum ,Schwert umgeschmiedete Sichel‘) alludieren den Prätext. Während Vergil die Gefahren, die dem Landleben aus dem Krieg erwachsen, nur metonymisch andeutet, detailliert Opitz sie szenisch, um die Folgen des aktuellen Krieges für „das Dorff“ zu veranschaulichen.25 Zugleich stellt Opitz selbst rhetorisch in Frage, inwieweit der Prätext hinreicht, „der Städte schwere Noth“ zu beschreiben. Läßt sich das Leid der Bauern noch mit Vergils allgemeinem Muster fassen, so versagt das epische Vorbild, wenn es darum geht, das „unerhörte Leid“ der Stadtbevölkerung, „der Städte schwere Noth“ zu „sagen“. So reflektiert Opitz in seinen Leidensschilderungen die Neuheit der Redebedingungen, unter denen er mit seinen Trost-Getichten antritt: Doch wirkt die Dubitatio mehr wie eine stoische Selbstermahnung, die realistische Schilderung der Greuel und des Leidens performativ zu dämpfen. Auch wenn in der Darstellung der städtischen Kriegsgreuel das stilistische Moment der Distanzierung überwiegt – impersonale ,Man‘-Konstruktionen, bestimmte Artikel, Pluralformen –, unterminieren immer wieder subjektive Schreibreflexionen die stoische Selbstdisziplin:

denszeit speist. Diese triadische Zeitstruktur – glückliche Vergangenheit, leidvolle Gegenwart und glückliche Zukunft – bestimmt die politische Utopie der Georgica. 25 So eröffnet das Lob des friedlichen Landlebens am Ende des zweiten Buches eine Opposition zu Streitigkeiten und Krieg, den „res Romanae“ (V. 498). Ist diese Opposition bei Vergil aber synchron, so invertiert Opitz die Negation in seinem Epos zu einem diachronen ,Vorher‘/,Nachher‘: Die vormalige deutsche Idylle ist durch den Krieg in das Gegenteil verkehrt worden.

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Der Mann hat seine Fraw beweynt/ die Fraw den Mann/ Vnd was ich weiter nicht aus Wehmuth sagen kan. (TG I, 119 – 120)

Solche sprechenden Auslassungen und Interventionen übermitteln dem Leser das Mitleid des Dichters, welches die stoische Philosophie bekanntlich als falschen Affekt bekämpft. So kommt es in den Opitzischen Kriegsschilderungen immer wieder zu empathetischen Digressionen und sprachlichen Wendungen (etwa die durch Epitheton und Diminutiv sentimentalisierten „kleinen Kinderlein“ [TG I, 115]), die erkennen lassen, wie mühsam sich das schreibende Ich die stoische Entpersonalisierung und Verallgemeinerung abringen muß. Die christliche Paränese ist auf diese Weise im stoischen Diskurs der Trost-Getichte – mindestens als Nebendiskurs – präsent.

Stoische ,Tugend‘ und humanistischer Unsterblichkeitstopos Mit zahlreichen historischen und mythologischen Exempla verfolgt Opitz in den Trost-Getichten ein doppeltes Ziel: die Wechselfälle des Glücks ebenso zu erweisen wie die Notwendigkeit, sich davon unabhängig zu machen. Denn den notwendigen ,Gang der Dinge‘, die ,Heimarmene‘, kann der Mensch kaum beeinflußen: […] Es ist der Lauff der Welt/ Diß fällt vnd jenes steigt/ diß steigt vnd jenes fällt. (TG II, 211 f.)

Das zur ,Tugend‘ verallgemeinerte stoische Verhalten wird als Gegenkraft zum transitorischen Wechsel des Lebens begründet, den das zweite Buch mit allen gängigen stoischen Exempla durchspielt. Das Naturgesetz des Werdens und Vergehens überträgt Opitz wie Justus Lipsius in De constantia auf die Historie und beglaubigt paradigmatisch das Lebensprinzip des ,Stirb und Werde‘ als historisches Gesetz. Die Liste untergegangener Weltreiche und Städte ergänzt Opitz eigenständig um den Katalog der antiken Weltwunder (TG II, 133 – 142). Doch wohnt der Opitzischen Aneignung stoischer Geschichtsphilosophie eine Interpretation inne, die bisher übersehen wurde. Sie deutet sich bereits eingangs der Passage an, welche die Vergänglichkeit als geschichtliches Prinzip erweist: Wo ist der Perser Krafft? Wo ist die Macht der Griechen? Wo ist doch jhr Athen/ wo Sparta hin gewichen? Wo manches edles Reich vnd altes Regiment?

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Ach GOtt! sie werden kaum in Büchern noch genennt. (TG II, 129 – 132)

Die verfallenen Weltreiche, die in fünf anaphorischen Fragesätzen beschworen werden, sind, wie die religiös-elegische Exclamatio andeutet, zwar „kaum“, aber doch „noch“, „in Büchern“ überliefert. Damit erkennt Opitz implizit der Literatur eine bewahrende Funktion zu, wie sie der stoische Prätext nicht vorsieht. Diese Differenz zeigt sich noch deutlicher in der topischen Rom-Klage, die unverkennbar von Lipsius angeregt ist. Bei Lipsius, der das seit Cicero topische Bild der ,StädteKadaver‘ sarkastisch auf eben das Rom Ciceros anwendet, heißt es: Wo ist die mechtige Stadt Rom selbst/ die vber alle Länder Vnnd Völcker zu gebieten gehabt/ vnnd von welcher die Römischen Poeten felschlich geweissaget/ das sie ewig sein und weeren würde? Sie ist zerrissen/ mit Koht verschüttet/ verbrennet/ vberflösset/ und auff mancherley weise umbs leben gebracht/ also/ […] das man dieselbige heut […] nicht finden kan.26

Opitz imitiert die deutsche Prosaversion sprachlich, syntaktisch und bildlich (Personifikation der ,toten Roma‘), bevor er die ,tote Roma‘ in einer eigenen Diärese noch einmal Revue passieren läßt: Wo ist das schöne Rom/ dem nichts auff Erden gleiche/ […] Ihr Aaß ist noch zu sehn/ sie selber ist gefällt. (TG II, 153 – 156)

Bezeichnenderweise läßt die Opitzische Erweiterung aber den lipsianischen Vorwurf gegen die Dichter weg und erinnert stattdessen namentlich an die stoischen Weisen des alten Rom, Cicero und Vergil: Wo Cicero der Faust mit Worten widerstrebt/ Wo Maro/ wo sein Fürst Octavius gelebt/ (TG II, 163 – 164)

Erneut kombiniert Opitz die stoische Relativierung geschichtlicher Größe mit dem genuin humanistischen Ruhmes- und Unsterblichkeitstopos, denn im Unterschied zu den Bauten Roms leben die Namen der Geistesgrößen im kulturellen Gedächtnis fort. Mit den unvermeidlichen Wechseln des Lebens begründet Opitz nach Lipsius die stoische Tugend: Eine eindrucksvolle Epiploke, in der 26 Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit [De constantia, dt.], übers. von Andreas Viritius. Faks. der dt. Übersetzung nach der zweiten Auflage von ca. 1601 mit den wichtigsten Lesarten der ersten Auflage von 1599, hg. von Leonard Forster, Stuttgart 1965, S. 46b–47a. Vgl. Cunningham (wie Anm. 3), S. 82 f.

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jeweils eine Feindestat durch eine schlimmere überboten wird, führt mit stoischer Logik zu der Einsicht: […] Die Tugend gibt kein Blut; Man mag sie wie man wil/ verfolgen/ neiden/ hassen/ Sie helt jhr grosses Wort: Sich nicht bewegen lassen. (TG II, 604 – 606 [kursiv vom Vf.])

„Sich nicht bewegen lassen“, die sentenzhaft hervorgehobene Lebensregel der ,Beständigkeit‘,27 läßt sich nach Opitz auf zweierlei Weise verwirklichen, heroisch wie intellektuell. Beiden Repräsentanten stoischer Tugend, dem ,vir sapiens‘ wie dem ,vir impavidus‘, dem ,Helden‘ und dem ,weisen Mann‘, gebührt dasselbe Verdienst: den prospektiven „Helden“ einer nationalen Erhebung gegen den „Feind“ verspricht Opitz dauerhaften Ruhm als Lohn: Der Nutz ist offenbar: Die Freyheit zu erwerben/ Für GOttes Wort zu stehn/ vnd ob man müste sterben/ Zu kriegen solches Lob das nimmer vntergeht/ Das hier mit dieser Welt wie in der Wette steht. Diß/ diß ist der Gewinn vnd süsse Lohn der Zeiten/ So allen Helden bleibt die rittermessig streiten. (TG III, 361 – 366)

Doch die Dauer des Heldenruhms verdankt sich erst dem Dichter. So preisen die Trost-Getichte in einer bisher unbeachtet gebliebenen Variation des Horazischen „Exegi monumentum“ den Dichter, der erst stiftet, was bleibet: Ein auffgewachtes Hertz’ vnd prächtiger Verstand Begehrt gerühmt zu seyn durch die gelehrte Hand Die nicht verschwinden kan: Die Städte zwar veralten/ Die Mawren fallen vmb: kein Stein kan jmmer halten: Was ein sinnreicher Geist mit seiner Feder pflantzt Ist vor der Zeit Gewalt versichert vnd verschantzt. (TG III, 383 – 388)

27 Die Bedeutung der stoischen ,constantia‘ für die Tugend der ,Beständigkeit‘ mustert Werner Welzig: Constantia und barocke Bestndigkeit, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961), S. 416 – 432. Vgl. auch Gerhard Oestreich: Das politische Anliegen von Justus Lipsius’ „De constantia … in publicis malis“ (1584). In: FS fr Hermann Heimpel, hg. von den Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 1, Göttingen 1971 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36/I), S. 618 – 637.

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Solchermaßen nobilitiert Opitz die Dichtung, mit der er als ,vir sapiens‘, als inspirierter Dichter, stoischen Helden den Ruhm sichert.28 Der Unsterblichkeitstopos, den Opitz hier der stoischen Philosophie aufpfropft, verleugnet seine genuin humanistische Prägung ebensowenig wie die daraus abgeleitete Allianz von Feder und Schwert: Deren Dignität verbürgt Opitz mit der Wertschätzung, die Alexander der Große für Homer hegte und am Grab Achills bekundete, „den der Poete hat mit solcher Art gepriesen“ (TG III, 414). Entsprechend ausführlich bekräftigt Opitz die Wissen tradierende wie Kultur bewahrende Funktion der „Bücher“ gerade in Zeiten, in denen „Parnassus […] gantz in Barbarey erstickt“ ist (TG III, 436). Doch macht sich die humanistische Provenienz dieser Zutat zur stoischen Tugend im Fortgang der Argumentation geltend. Denn Opitz forciert nun in humanistischer 28 Zur Stoisierung des Verewigungstopos vgl. Wilhelm Kühlmann: Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Flemings „Grabschrifft“, in: Gedichte und Interpretationen, Bd. 1: Renaissance und Barock, hg. von Volker Meid, Stuttgart 1982, S. 167 – 175, und prononciert Jochen Schmidt: Der Tod des Dichters und die Unsterblichkeit seines Ruhms. Paul Flemings stoische „Grabschrift auf sich selbst“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 45 – 61. Fleming scheint mir in seiner eigenen Grabschrift aber die humanistische Selbstverewigung zu widerrufen. Zwar zitiert er zunächst im Oktett des Grabschrift-Sonetts fast wörtlich Opitzens Übersetzung der Horazischen Ode III, 30 „Horatii: Exegi monumentum“: […] Man wird mich nennen hören. Biß daß die letzte Glut diß alles wird verstören (V. 6 – 7) Der Opitzische Prätext hat folgenden Wortlaut: […] man wird mich rühmen hören So lange man zu Rom den Jupiter wird ehren. (V. 5 – 6) Doch Fleming scheint im Sextett den humanistischen Unsterblichkeitstopos gewissermaßen zu entkräften, indem er dialektisch der ,Vanitas‘ humanistischer Selbstverewigung das Sterben des gläubigen Christenmenschen entgegenstellt, der das Diesseits gern verläßt im Wissen: „An mir ist minder nichts/ das lebet/ als mein Leben“ (V. 14). Während Opitz in Vers 6 Horazens Bild des römischen Kults („dum Capitolium j scandet cum tacita virgine pontifex“ [V. 8 – 9]) beibehält, ersetzt Fleming diesen Ewigkeitstopos durch die Beschwörung eines weltgeschichtlichen Endpunkts in der „letzte[n] Glut“ und erinnert somit an die Vergänglichkeit des Lebens wie des Ruhms des Dichters. Die Vorstellung von der Vernichtung alles Weltlichen am Ende der Zeiten, die „annihilatio mundi“, war ein zentraler theologischer Begriff in der lutherischen Orthodoxie zu Flemings Zeit (vgl. Konrad Stock: Annihilatio mundi. Johann Gerhards Eschatologie der Welt. München 1971). Auch an die stoische Idee des zyklischen Weltenbrands (1jp¼qysir) ist zu denken (siehe Cicero, De natura deorum, II, 118). Möglicherweise konvergieren bei Fleming beide Lehren.

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Achim Aurnhammer

Tradition die patriotische Intention, die er zuvor stoisch relativiert hatte: Hatte er noch unter Berufung auf ein von Lipsius überliefertes sokratisches Diktum übertriebene Vaterlandsliebe als ,falschen Wahn‘ kritisiert – Was spricht dein Socrates/ nach dem er sol bekennen/ Von welcher Gegendt er sich pflege her zu nennen? Ich? sagt er: von der Welt. […] (TG II, 541 – 543) 29

– stellt Opitz nach diesem stoisch-sokratischen Bekenntnis zum Weltbürgertum nun deutschen Freiheitskämpfern literarische Verewigung in Aussicht: Was kan doch schöner seyn/ als vnter vielen Helden/ Von derer Tapfferkeit die Bücher ewig melden/ Auch auffgeschrieben stehn mit Schrifft die nicht verlischt/ (TG III, 473 – 475)

Zwei große Apostrophen an die deutschen Landsleute – jeweils mit der parallelen Anrede „O werthes Volck“ (TG III, 451 und 535) – mahnen im kulturpatriotischen Diskurs des deutschen Humanismus zum Kampf gegen „den frembden Stoltz“ (TG III, 541) unter Berufung auf die ,germanischen Tugenden‘, „daß wir von Deutscher Art vnd AlleMänner seyn“ (TG III, 556).

Zusammenfassung Martin Opitz liefert mit den Trost-Getichten, der ersten konkurrenzfähigen Versdichtung deutscher Sprache, einen Gründungstext der deutschen Nationalliteratur. Angesichts der kulturellen Ausnahmesituation, des Dreißigjährigen Krieges, entwirft Opitz in intertextueller aemulatio mit antiken Vorbildern eine spezifisch stoische Poetik, welche die deutschen Landsleute in ihrem Patriotismus stärken und zugleich erbauen soll. Das stoische Dichtungsprogramm bestimmt die sprachlichstilistische Faktur des Versepos in einer Entaktualisierung und Entpersonalisierung bis hin zum distanziert-nüchternen Sprachstil. Doch gehen die Trost-Getichte nicht im stoischen Diskurs auf. Sie kollidieren mit der 29 Vgl. den Prätext des Justus Lipsius: De constantia (wie Anm. 26), Bl. 23b : „Der Socrates hat vorzeiten/ als jhn einer gefraget/ wo er zu Haus horete/ gar herrlich geantwortet: In der Welt.“ Vgl. dazu Cunningham (wie Anm. 3), S. 74 f. Der Beleg geht zurück auf Cicero: Tusculanae disputationes, V, 37.

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christlichen Paränese, der lutherischen Leidens- und Mitleidstheologie, dem humanistischen Unsterblichkeitsgedanken wie dem humanistischen Kulturpatriotismus und mit der autobiographischen Beglaubigung: Nicht zufällig folgt am Ende des Versepos dem stoischen Credo ein christliches Bußgebet. Mögen die Diskurskonflikte und -transgressionen der Trost-Getichte auch einen ästhetischen Mangel bedeuten, der sich in der uneinheitlichen Faktur und Heterogenität des Werks manifestiert, so drückt dieser Mangel doch auch die Krise des frühmodernen Subjekts aus, das sich in keinem Diskurs mehr, auch nicht im stoischen Diskurs, bruchlos aufgehoben fühlt.

Seneca christianus. Transformationen stoischer Vorstellungen in Andreas Gryphius’ Märtyrerdramen Catharina von Georgien und Papinian von Katharina Grätz Jndem unser gantzes Vaterland sich nuhmehr in seine eigene Aschen verscharret / und in einen Schauplatz der Eitelkeit verwandelt; bin ich geflissen dir die Vergängligkeit Menschlicher Sachen in gegenwertigem / und etlich folgenden Trauerspilen vorzustellen. Nicht zwar / weil ich nicht etwas anders und dir villeicht angenehmers unter Händen habe: Sondern weil mir noch dieses mal etwas anders vorzubringen so wenig geliebet / als erlaubet.1

Diese Hinweise an den Leser, die Gryphius dem Drama Leo Armenius voranstellte und deren Geltung er vorausgreifend auf „etlich folgende Trauerspile“ ausdehnte, gewähren Einblick in sein Selbstverständnis als Tragödienschreiber. Sie zeigen, daß die Gattungs- und Stoffwahl für ihn keinen Akt künstlerischer Freiheit bildete, sondern eine für notwendig erachtete Reaktion auf die aktuelle historische Situation. Gryphius verstand seine Tragödien als Produkte einer Krisenzeit, als Antwort auf die Zerstörungen und Verwüstungen des 30jährigen Krieges. Gleichzeitig läßt das Zitat die für die Barockzeit charakteristische Verallgemeinerung der aktuellen Krisenerfahrung erkennen: Die düstere Zeitstimmung weitet sich aus zum Bewußtsein von der grundsätzlichen Nichtigkeit „menschlicher Sachen“ und zu einem radikal pessimistischen Geschichtsverständnis. Historisch-Besonderes und HistorischAllgemeines rücken damit in ein Entsprechungsverhältnis. So erscheint die von Zerstörung und Desorientierung bestimmte Gegenwart als exemplarisch für eine Geschichte, die von der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit menschlichen Tuns zeugt, und umgekehrt bietet die Historie Exempla zur Veranschaulichung der aktuellen Situation. Mit seinen Trauerspielen nutzt Gryphius historische Stoffe und Figuren als Deutungsmodelle für die aktuelle Gegenwart. Die dramatischen Hauptfiguren – alle stellen sie historische Persönlichkeiten vor – veranschaulichen mustergültige Haltungen in einer Zeit, in der sich die 1

Andreas Gryphius: Dramen, hg. von Eberhard Mannack, Frankfurt a. M. 1991 [künftig: FA], hier S. 11.

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Brüchigkeit menschlicher Lebenszusammenhänge und Werte offenbart. Zwar sind die Dramenfiguren nicht in der Lage, verändernd und handelnd in die Geschichte einzugreifen, aber sie vermögen sich dem historischen Vernichtungsgeschehen innerlich zu entziehen. In der Unerschütterlichkeit, mit der sie auf Leid- und Verlusterfahrungen reagieren, gründet ihr Vorbildcharakter. Ausgestattet mit stoischen Tugenden, vor allem mit der Tugend der constantia, liefern sie der Gegenwart Beispiele für äußerste Standhaftigkeit in gesellschaftlichen und politischen Krisenzeiten. Gryphius greift auf die antike Verhaltensund Tugendlehre zurück, weil sie dem Individuum in einer Zeit des allgemeinen Orientierungsschwunds verbindliche Verhaltensmuster vorgibt. Sein Interesse an stoischen Verhaltensmustern entspringt also aktueller Motivation. Mit der aktualisierenden Anknüpfung an die stoische Philosophie bewegt er sich im Rahmen seiner Zeit. Daß insbesondere die Vorstellung der constantia epochale Bedeutung erlangte, ja zu einer „Signatur der Epoche“2 werden konnte, erklärt sich aus ihrer antithetischen Relation zum krisenhaften Zeitbewußtsein. Angesichts historischer Kontingenzerfahrungen und der christlichen Auffassung von der Unbeständigkeit alles Irdischen bot die Idee der constantia einen verlockenden Gegenentwurf, ein Stabilität verheißendes Orientierungsmuster. In diesem Sinn fordert etwa Paul Flemings Ode Entsagung zu Gleichmut gegenüber allen Wechselfällen des Lebens auf: Kein beßrer Rat ist, als ertragen Diß, was man doch nicht ändern kan. Ein feiger Mut hebt an zu zagen. Beständig sein, das tut ein Man, sieht Beides an, gleich in Geberden: erfreuet und betrübet werden.3

Die Renaissance der stoischen Philosophie im 16. und 17. Jahrhundert vollzog sich nicht als eine bloße Wiederaufnahme antiker Ideen, sondern als ein komplexer Aneignungsprozeß, der zu aktualisierenden Umformungen führte.4 Das stoische Denken gewann in der gewan2 3 4

Werner Welzig: Constantia und barocke Bestndigkeit, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 35, 1961, S. 416 432, hier S. 416. Paul Fleming: Deutsche Gedichte, hg. von Johann Martin Lappenberg, Stuttgart 1865. Oden V: Von Liebesgesngen, Nr. 17, S. 407 f. Auch Günter Abel betont, „daß der Stoizismus der Frühen Neuzeit nicht einfach Erneuerung der antiken Stoa ist“ (Günter Abel: Stoizismus und frhe

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delten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Konstellation eine neue Funktion. In einer Zeit der Orientierungslosigkeit erschien der Stoizismus als Möglichkeit, das Leben zu meistern. Positiv läßt sich die Aufnahme stoischer Vorstellungen als eine Form der Orientierungssuche beschreiben, negativ als Indikator eines Orientierungsdefizits. Die Stoa-Rezeption in der Zeit des Barock weist drei spezifische Besonderheiten auf: 1. Das eklektizistische Moment der Traditionsaneignung: Nicht alle Elemente der stoischen Philosophie wurden aufgegriffen, sondern zuvörderst diejenigen, denen vor dem Hintergrund aktueller Krisenerfahrung eine sinnstiftende Potenz erwuchs. Der Neustoizismus war weniger an der antiken Kosmologie und der Naturphilosophie interessiert als an den ethischen und rationalen Konzepten der Stoa. 2. Die Vielschichtigkeit der Übernahmen, wie sie insbesondere in der Seneca-Rezeption zu beobachten ist: Auch wenn ethische Aspekte die Rezeption dominierten, fand Seneca nicht nur als Moralist und Philosoph, sondern auch als Hofmann und Politiker, als Erzieher und Tragiker Beachtung. 3. Die Komplexität der Vermittlungsprozesse: Die Renaissance der stoischen Philosophie im 16. und 17. Jahrhundert führte zu einer Verbindung von christlichem und stoischem Gedankengut, die selbst wiederum an die Rezeption der stoischen Ethik im frühen Christentum anschloß,5 so daß es zu vielfältigen Überlagerungen unter-

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Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin u. a. 1978, S. 2). Zeugnis hierfür ist ein wahrscheinlich aus dem 4. Jahrhundert stammender fingierter, aber lange Zeit für echt gehaltener Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. Auf ihn gründete Hieronymus seine Auffassung von weitreichenden Übereinstimmungen zwischen Stoizismus und Christentum: „Stoici nostro dogmati in plerisque concordant“ (Hieronymus: Commentarium in Isaiam Prophetam lib. IV, cap. XI; in: Jacques-Paul Migne: Patrologiae cursus completus, series latina, Paris 1844 1855 [PL] 24, S. 147). Insbesondere in der Idee der Askese zeigten sich Konvergenzen zwischen Stoa und Christentum. In der stoischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal und in der Verachtung der weltlichen Güter trafen die Kirchenväter auf Vorstellungen, die ihren eigenen zu entsprechen schienen. So konnte das Encheiridion (um 100 n. Chr.) des Epiktet, das Grundgedanken der Ethik der neueren Stoa zusammenfaßte, mit einigen geringfügigen Änderungen zu einem Handbuch christlicher Askese werden. Eine andere wichtige Quelle, aus der die Theologie und Philosophie des frühen Mittelalters stoisches Gedankengut schöpfte, ist Boethius’ Trostbuch Philosophiae consolationis libri V (um 524). Die Schrift, die der unter Theoderich dem Großen tätige Staatsmann und Philosoph

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schiedlicher Traditions- und Aneignungsprozesse kam. Weil sich zentrale Konzepte der stoischen Philosophie, vor allem ihr monistischer Pantheismus, nicht mit dem christlichen Weltentwurf vereinbaren ließen, verlief der Aneignungsprozeß diskontinuierlich: Stoische Vorstellungen wurden in das christliche Denken integriert, sie wurden aber auch als unintegrierbar zurückgewiesen. Eine entscheidende Vermittlungsrolle für die barocke Stoa-Rezeption kam Justus Lipsius’ Traktat De constantia libri duo (1584) zu, einer produktiven Aufnahme von Senecas Dialog De constantia sapientis. Lipsius’ Schrift untermauert die Einschätzung des Neustoizismus als einer Krisenphilosophie, denn seine Überlegungen nehmen ihren Ausgang von der Erfahrung der niederländischen Bürgerkriege. Dem politischen Ordnungsschwund setzt er eine praktische Philosophie entgegen, welche die Ideale der Apathie und Ataraxie, die Beständigkeit allen Schicksalsschlägen gegenüber propagiert. Lipsius stellt stoische und christliche Vorstellungen als vereinbar vor; er sieht den Menschen befähigt, sich kraft seiner (göttlich verankerten) Vernunft über die Wirren des Weltgeschehens zu erheben.6 So konnte De constantia libri duo zum Hauptwerk des sich auf Seneca berufenden christlichen Neustoizismus werden. Die Schrift fand weite Verbreitung und trug wesentlich dazu bei, daß sich der Stoizismus zur Popularphilosophie des 17. Jahrhunderts entwickelte. Da Lipsius konfessionelle Streitfragen umging, fanden seine Gedanken in den unterschiedlichen religiösen Lagern Aufnahme. Auch Gryphs Stoa-Rezeption ist wesentlich durch Lipsius vermittelt, mit dessen Schriften er bereits in Schlesien in Kontakt gekommen war.7 In der Leidener Studienzeit dürfte sich der Einfluß intensiviert haben. Denn mit dem Besuch der calvinistischen Universität in Leiden, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts als eine der liberalsten und fort-

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Boethius in Kerkerhaft verfaßte, während er, ungerechtfertigt zum Tod verurteilt, auf seine Hinrichtung wartete, wurde zu einer der bedeutendsten Konsolationsschriften des Mittelalters. Sie wurde mehrfach übersetzt und kommentiert. In deutlicher Anlehnung an Seneca entwirft Boethius das Bild des Mannes, den sein Schicksal nicht schreckt, weil er sich durch die bewußte Orientierung auf Gott der unbeständigen Welt zu entziehen vermag. „Die Vernunft hat ihren Ursprung vom Himmel, ja von Gott selbst“ – „Rationi origo a caelo, imo a deo est“ ( Justus Lipsius: De constantia. Lateinisch – deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann, Mainz 1998, S. 32). Stefan Kiedrón: Andreas Gryphius und die Niederlande. Niederlndische Einflsse auf sein Leben und Schaffen, Wroclaw 1993, S. 106.

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schrittlichsten in Europa galt, begab sich Gryphius in die unmittelbare Wirkungssphäre von Lipsius, der von 1579 bis 1591 in Leiden gelehrt hatte. Als Gryphius 1638 an die Universität kam, nutzte er das vielfältige Angebot zu breit angelegten Studien in verschiedensten Wissensgebieten.8 Viele der erworbenen Kenntnisse fanden Eingang in das literarische Werk, und insbesondere die Beschäftigung mit stoischen und neustoischen Quellen hinterließ ihre Spuren in den poetischen Texten: zum einen in Form der gelehrten Anmerkungen und Quellenhinweise, die Gryphius selbst seinen Dramen beifügte, zum andern in einer Vielzahl von Anspielungen, Zitaten und intertextuellen Verweisen auf antike und neustoische Quellen. Hans-Jürgen Schings konnte mit seiner Untersuchung Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius zeigen, welch starken Reflex die Kirchenväterliteratur, die ein Bindeglied darstellte zwischen Antike und Christentum, in den Dramen und den Dissertationes funebres gefunden hat.9 Indem Schings ein ausgedehntes Netz von Referenzen auf patristische Autoren freilegte, schärfte er die Aufmerksamkeit für einen spezifisch ,christlichen Stoizismus’. Im folgenden soll gezeigt werden, wie sich stoisches und neustoisches Gedankengut in den Dramen niederschlägt und in welcher Weise es sich mit christlich-protestantischen Vorstellungen amalgamiert. Insbesondere die Vorstellung der constantia, die wichtigste Gelenkstelle zwischen antiker und christlicher Gedankenwelt, läßt erkennen, wie christliche und stoische Vorstellungen ineinanderspielen und sich wechselseitig überlagern.10 Ich stelle zunächst die Gattung der Märtyrertragödie vor, die als ein wichtiges Medium bei der Zusammenführung von stoischen und christlichen Vorstellungen fungierte und die zudem das Gattungsmuster abgab, an dem sich Gryphius mit seinen Tragödien orientiert. Vor diesem Hintergrund werde ich dann die Tragödien Catharina von Georgien und Papinian eingehender untersuchen, wobei das Augenmerk auf dem stoischen Gehalt der Dramen und dessen Funktion für die dramatische Gesamtkonzeption liegt. 8 Vgl. Kiedrón: Gryphius und die Niederlande, S. 27. 9 Es gibt, so formuliert Schings pointiert, „einen ,patristischen ‘ Gryphius, den man über dem ,stoischen ‘ Gryphius übersehen hat“ (Hans-Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen, Köln u. a. 1966, S. 20). 10 Welzig wies darauf hin, daß barocke constantia dadurch zu einem vielschichtigen und schillernden Begriff wurde, dessen Bedeutungsspektrum sich in den literarischen Texten von „unbewegter Leidenschaftslosigkeit“ zu „vorwärtsdringender Tapferkeit“ erstrecken konnte (Welzig: Constantia, S. 419).

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Das Märtyrerdrama Der Gattung der Tragödie kam eine wichtige Rolle bei der Entfaltung und Verbreitung des stoisch-christlichen Tugendmodells zu. Sie besaß die Überzeugungskraft des anschaulichen Beispiels und vermochte philosophische Ideen auf dem Feld der theatralischen Praxis zu erproben. Die lebenspraktische Bedeutung, die der Tragödie zugeschrieben wurde, spiegelt sich in den Poetiken des 16. Jahrhunderts. Unter dem Einfluß Senecas – wie er sich beispielsweise in Antonio Minturnos Poetiken De Poeta (1559) und L’arte poetica (1564) dokumentiert – wurde der aristotelische Katharsisbegriff in signifikanter Weise umgedeutet.11 Die Tragödientheorie übernahm einen Grundzug der neustoizistischen Morallehre: Abhärtung gegenüber den Wechselfällen des Lebens, gegenüber der Erfahrung von Schmerz und Leid wurde zum wichtigsten Ziel der Tragödie erklärt. Ein deutlicher Reflex darauf zeigt sich bei Opitz, wenn er constantia als rezeptionsästhetische Kategorie vorstellt.12 In der Vorrede zur Übersetzung der Trojanerinnen (1625) beschreibt Opitz unter Berufung auf Epiktet die Aufgabe der Tragödie folgendermaßen: „wir lernen […] auch aus der stetigen besichtigung so vielen Creutzes vnd Vbels das andern begegnet ist / das vnserige / welches vns begegnen möchte / weniger fürchten vnd besser erdulden.“13 Das dramatische Geschehen soll den Zuschauer gegen Leiderfahrung wappnen; das Ziel ist Abhärtung.14 Durch die „praemeditatio malorum“ sollen die Rezipienten ihr

11 Zur Auslegung der Katharsis in den Poetiken des 16. und 17. Jahrhunderts ausführlich Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels, in: Deutsche Dramentheorien. Beitrge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, hg. von Reinhold Grimm, Bd. I, Frankfurt a. Main 1971, S. 1 – 44. 12 Als mögliches Vorbild von Opitz’ Argumentation vermutet Schings (Consolatio Tragoediae, S. 20) das Vorwort des Jesuiten Delrius zur Ausgabe von Senecas Tragödien (1589). 13 Martin Opitz: An den Leser. Vorrede: Trojanerinnen, in: Ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 1 4, hg. von George Schulz-Behrend, Stuttgart 1968 – 1990, hier Bd. 2: Die Werke von 1621 bis 1626, Teil 2, 1979, S. 430. 14 Vgl. Hans-Jürgen Schings: Seneca-Rezeption und Theorie der Tragçdie. Martin Opitz’ Vorrede zu den „Trojanerinnen“, in: Historizitt in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, hg. von Walter Müller-Seidel, München 1974, S. 521 537, hier S. 535.

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eigenes Unglück ertragen lernen.15 In der Forschung hat man die barocke Tragödie als eine „Affektübung“16 beschrieben, die durch die Betrachtung und Analyse der Wechselhaftigkeit des Daseins Beständigkeit zu vermitteln strebt. „Constantia“ und „magnanimitas“ lauten die beiden Tugenden, auf die sich das barocke Trauerspiel konzentriert – Tugenden, die dem zeitgenössischen Zuschauer über die Wirren des Krieges und die Bedrängnisse der schlesischen Gegenreformation hinweghelfen sollen. Georg Philipp Harsdörffer gibt 1648 im Poetischen Trichter folgende Bestimmung des tragischen Helden: Der Held / welchen der Poet in dem Trauerspiel aufführet / soll ein Exempel seyn aller vollkomenen Tugenden/ und von der Untreue seiner Freunde/ und Feinde betrübet werden; jedoch dergestalt / daß er sich in allen Begebenheiten großmütig erweise und den Schmertzen / welche mit Seufftzen / Erhebung der Stimm / und vielen Klagworten hervonbricht [sic!] / mit Tapfferkeit überwinde.17

Harsdörffers Charakterisierung verdeutlicht die Differenz zur Poetik des Aristoteles: Er fordert keine gemischten Charaktere, sondern verlangt Helden, die in ihrer moralischen Vollkommenheit vorbildlich sind. Bemerkenswert ist zudem die Passivität, die Harsdörffer dem tragischen Helden zuweist: Nicht von ihm gehen Handlungsimpulse aus, sondern von seiner Umwelt, die ihn „betrübet“. In der Haltung des passiven Duldens läßt sich das stoische Ideal der constantia erkennen. Standhafte Tapferkeit zeichnet den tragischen Helden aus – er bewährt sich nicht im Handeln, sondern im Leiden.18 Gleiches gilt für den Märtyrer: Größte Qualen und Schmerzen können ihn nicht bezwingen; unbeirrbar tritt er mit dem Tod für seine Überzeugung ein und formt auf diese Weise das individuelle Dasein zur beispielhaften „imitatio Christi“ aus. Das Märtyrerdrama, das die „theatralische Vorstellung der Passion eines Märtyrers“19 in den Mittelpunkt rückt, avancierte zum paradigmatischen Gattungsmuster der 15 Dem Zuschauer, so formuliert Opitz, werde „Beständigkeit […] durch beschawung der Mißligkeit des Menschlichen Lebens in den Tragedien zu föderst eingepflantzet“ (Opitz: An den Leser. Vorrede: Trojanerinnen, S. 430). 16 Schings: Seneca-Rezeption, S. 534. 17 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter, Reprint Darmstadt 1969, hier: Poetischen Trichters Zweyter Theil, Nürnberg 1648, S. 84. 18 Ähnlich Raimund Neuß: Tugend und Toleranz. Die Krise der Gattung Mrtyrerdrama im 18. Jahrhundert, Bonn 1989 (Literatur und Wirklichkeit; 25), S. 48. 19 Neuß: Tugend und Toleranz, S. 47.

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Barockdichtung.20 Die verherrlichende Darstellung des Lebens und Leidens verfolgter Christen, die um ihres Glaubens willen den Opfertod auf sich nahmen, wurde in den religiösen Auseinandersetzungen der Reformationszeit von beiden Lagern zur konfessionellen Propaganda eingesetzt.21 Im Zuge der Reformation und ihrer blutigen Verfolgung durch die katholische Inquisition kam es zunächst zu einer Welle antikatholischer Märtyrerstilisierungen.22 Aber auch die gegenreformatorische Agitation führte Märtyrer ins Feld. Dramatiker aus dem Jesuitenorden, etwa Jacob Bidermann und Nicolaus Caussin, gestalteten zu Beginn des 17. Jahrhunderts dramatische Märtyrerpassionen, um die abtrünnige Christenheit wiederzugewinnen.23 Protestantische Autoren, allen voran Gryphius, griffen das Gattungsmodell der Märtyrertragödie auf. Wohl zu recht wurden seine Dramen in der Forschung verstanden als Reaktion auf die forcierte Rekatholisierungspolitik und die bedrängte Situation der Protestanten im Schlesien der Gegenreformation.24 Daß es trotzdem nicht angemessen ist, Gryphius zum Anwalt des Protestantismus zu erklären, signalisiert schon das früheste bekannte Zeugnis für sein Interesse am Märtyrerdrama: Er übersetzte die Heilige Felicitas (1620) des Jesuiten Nicolaus Caussin (1570 – 1651). Die Märtyrergestalten von Gryphs eigenen Dramen bilden keine Propagandainstrumente im Streit der Konfessionen, sondern verweisen, wie es im Vorwort zur Catharina heißt, in erster Linie als „Beyspill[e] unaussprechlicher Beständigkeit“25 20 Nach Schings treffen im Märtyrerdrama „die bedeutendsten Tendenzen der Barocktragödie“ zusammen (Schings: Consolatio Tragoediae, S. 1). 21 Neuß: Tugend und Toleranz, S. 65. 22 Den Auftakt bildeten die beiden Augustinermönche Johannes van Esschen und Hendrik Voes, die 1523 als erste Opfer der Inquisition in Brüssel auf dem Scheiterhaufen verbrannten und unmittelbar danach in einem anonymen Flugblatt zu Märtyrern erklärt wurden (Neuß: Tugend und Toleranz, S. 37). 23 Zwar stützten sie sich, um den konkurrierenden protestantischen Anspruch durch das Argument der Tradition abzuwehren, überwiegend auf die traditionellen Märtyrergestalten der alten christlichen Legenden, mitunter bearbeiteten sie aber auch aktuelle Stoffe. Ein Beispiel dafür ist die Märtyrertragödie Maria Stuart (1646) des niederländischen Dichters Joost van den Vondel (1587 – 1679), der die Gestalt der Maria polemisch gegen die protestantische Königin Elisabeth I. ausspielt, die damals in den Niederlanden auf allgemeine Sympathie stieß. 24 So v. a. Elida Maria Szarota: Knstler, Grbler und Rebellen. Studien zum europischen Mrtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, Bern u. a. 1967, bes. S. 206 215. 25 FA S. 119.

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auf eine dem menschlichen Handeln entzogene „transpersonale Sphäre der Werte“26. Obwohl die Vorstellung des Martyriums seit dem 2. Jahrhundert christlich geprägt ist, finden sich wichtige Vorbilder für die Entwicklung der Märtyrertragödie schon in der Antike. Einige der Dramen Senecas zeigen Züge stoischer Bewährung im Leiden, etwa der selbst gewählte Flammentod in Hercules Oetaeus oder die freiwillige Annahme des verhängten Todes durch Polyxena in den Troades. In den literarischen Märtyrergestalten des 16. und 17. Jahrhunderts fließen christliche und antik-stoische Traditionen zusammen: „Der Beständige als der vorbildliche Mensch der Barockdichtung trägt die Züge des stoischen Weisen, den bereits die Kirchenväter mit dem vollkommenen Christen zu identifizieren bemüht waren.“27 Es sollte jedoch nicht vergessen werden, daß es sich bei dieser Gleichsetzung um eine nachträgliche Konstruktion handelt, die eine fundamentale Differenz ausblendet: Christliche und stoische constantia können nicht von gleicher Qualität sein, da sie auf dem je unterschiedlichen Fundament einer immanenten und einer transzendenten Weltanschauung beruhen. Der Stoiker überwindet die Qualen des Daseins aus eigener Kraft in einem Akt der Selbstbewährung. Der Christ hingegen erträgt das irdische Leid mit Gottes Beistand und in Erwartung ewigen Heils.28 So vollzieht sich an der Vorstellung der constantia eine Überblendung unterschiedlicher Traditionen; es kommt zu einer Identifikation analoger Verhaltensmuster, die aber aus antiker und christlicher Perspektive jeweils unterschiedlich motiviert sind. An Gryphs Dramen ist das abzulesen und auch die Spannungen, die daraus resultieren, haben in ihnen Niederschlag gefunden. Gleich für drei seiner Trauerspiele ist das Modell des Märtyrerdramas grundlegend: Für die Catharina von Georgien (geschrieben zwischen 1647 und 1650, erschienen 1657), für das politische Drama Carolus Stuardus (geschrieben 1649/50, veröffentlicht 1657 und 1663 in zwei voneinander abweichenden Fassungen) und für den zuletzt entstandenen Papinian (zwischen 1657 und 1659 entstanden, 1659 veröffent26 Gerhard Kaiser: Leo Armenius, in: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen, hg. von Gerhard Kaiser, Stuttgart 1968, S. 32. 27 Welzig: Constantia, S. 429. 28 Vgl. Welzig: Constantia, S. 422.

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licht).29 Allen drei Dramen ist gemein, daß sie das Schicksal historischer Persönlichkeiten behandeln, die der Willkür politischer Herrscher zum Opfer fallen und einen grausamen Tod erleiden: Der englische König Carolus Stuardus wird vom eigenen Volk hingerichtet, der Jurist Papinian auf Veranlassung des römischen Kaisers Bassian geköpft, die georgische Königin Catharina wird zunächst der „erschreckliche[n] Marter der glüenden Zangen“30 unterworfen und schließlich bei lebendigem Leib verbrannt. In allen drei Dramen orientiert sich Gryphius an historischen Quellen.31 Er nimmt den Stoff seiner Trauerspiele aus dem großen Gewaltzusammenhang der Geschichte und stellt dramatische Hauptfiguren vor, die dem historischen Geschehen ausgeliefert sind32 und sich mit unbeirrbarer Standhaftigkeit in ihre Lage fügen. Das bestimmende Handlungsmuster bei Gryphius (wie grundsätzlich in der barocken Märtyrertragödie) bildet der Antagonismus von gutem Märtyrer und bösem Tyrannen.33 Mit dieser Opposition ist nicht allein der Handlungsrahmen, sondern auch die Bedeutung des dramatischen Spiels weitgehend festgelegt. Daher gewährt das Gattungsmodell der Märtyrertragödie dem Autor nur beschränkte Gestaltungsmöglichkeiten. Wenn Gryphius gleich mehrere Märtyrerdramen schreibt, so stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen – handelt es sich lediglich um Variationen mit gleichem Aussagegehalt? Durch die vergleichende Gegenüberstellung der Tragödien Catharina von Georgien und Papinian läßt sich zeigen, daß Gryphius dem Gattungsmuster der Märtyrertragödie einen eigenen Gestaltungsspielraum abgewinnt.34 Die 29 In der Forschung wird auch der Leo Armenius immer wieder als Märtyrerdrama eingestuft. 30 So steht es in Gryphs Inhaltsübersicht, FA S. 121. 31 Den aktuellsten Stoff behandelt das Drama Carolus Stuardus, das unmittelbare politische Wirkung intendierte. Indem Gryphius Karl als Figura Christi entwirft, bedient er sich eines Modells politischer Typologie, das die Herrschaft des englischen Königs auf die eschatologische Königsherrschaft Christi bezieht. Historisch am weitesten in der Vergangenheit liegt das Martyrium des Papinian. 32 Vgl. Harald Steinhagen: Geschichte als Mythos. Zu den Trauerspielen des Andreas Gryphius, in: Die deutsche Tragçdie. Neue Lektren einer Gattung im europischen Kontext, hg. von Volker C. Dörr und Helmut J. Schneider, Bielefeld 2006, S. 59 – 67, hier: S. 65. 33 So schon Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. von Rolf Tiedemann, 7. Aufl. Frankfurt a. Main 1996, S. 53 – 55. 34 Dem entsprechen Positionen der Forschung, die darauf hinwiesen, daß Gryphs Tragödien sich nicht widerstandslos dem Muster der Märtyrertragödie einfügen, daß sie nicht in der konsolatorischen Funktion aufgehen. Nach Born-

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Differenz zwischen beiden Dramen hängt wesentlich von der unterschiedlichen Integration stoischer und christlicher Vorstellungen ab.

Catharina von Georgien Catharina von Georgien gilt als Modell des protestantischen Märtyrerdramas schlechthin35 und Catharina als „vollkommene Märtyrerin“36. Die Spuren prägender Vorbilder sind unverkennbar. Das Drama steht in der Nachfolge der Märtyrerdramen des niederländischen Dichters Joost van den Vondel und des Jesuiten Nicolas Caussin. Am stärksten ist der Einfluß von Caussins Heiliger Felicitas, die Gryphius zwischen 1634 und 1644 übersetzt hatte. Doch handhabt Gryphius das Muster der Märtyrertragödie eigenständig und souverän. Das zeigt schon der viel beachtete Prolog, der nicht an dramatische Vorbilder anschließt, sondern Motive und Argumentationsfiguren aufgreift, die durch die Konsolationsliteratur37 vermittelt sind und ihren Ursprung vor allem bei Seneca haben.38 Damit rückt der Prolog das

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scheuer beispielsweise handelt es sich primär um „Tragödien des Zerfalls der politischen Theologie“, die den „Verlust heilsgeschichtlicher Evidenz im Raum der Politik“ zur Anschauung bringen (Lothar Bornscheuer: Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphius’ historischpolitischen Trauerspielen, in: Die Affekte und ihre Reprsentation in der deutschen Literatur der Frhen Neuzeit, hg. von Jean-Daniel Krebs, Bern 1996 ( Jahrbuch für internationale Germanistik: Reihe A, Kongreßberichte 42), S. 207 222, hier S. 219). Von einem „Modell-Drama“ spricht Peter Burschel: Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frhen Neuzeit, München 2004, S. 91, 83. Vgl. auch Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frhen Neuzeit. 1495 1773, Tübingen 2005, S. 171. Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. 2., vollst. neubearb. Aufl., Stuttgart 1986, S. 62. Selbst Bornscheuer, der die Verbindlichkeit des Gattungsmusters ,Märtyrerdrama ‘ für Gryphius in Frage stellt, sieht in der Catharina das Drama, das „dem Gattungstypus […] zweifellos am nächsten steht“ (Bornscheuer: Zur Gattungsproblematik, S. 209). Vgl. hierzu das Standardwerk von Peter von Moos: Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur ber den Tod und zum Problem der christlichen Trauer, 4 Bde., München 1971/72, und den Beitrag von Bernhard Zimmermann im vorliegenden Werk. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Bestndigkeit, in: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen, hg. von Gerhard Kaiser, Stuttgart 1968, S. 35 72. Gryphs Quellenkenntnisse

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dramatische Geschehen in den Horizont des christlichen Neustoizismus. Gleich in seiner ersten Anmerkung macht Gryphius aufmerksam auf eine explizite Übernahme aus Senecas De tranquillitate animi. 39 Sein Kommentar bezieht sich auf zwei Verse, die das Motiv des Fürstensturzes behandeln: „Offt hat der mit gekröntem Haupt beherrschter Länder Macht erschüttert / Jn einem Nu / vor frembden Stull in angeschloss’nem Stahl erzittert“ (I, 17 f.). Gryphius gibt dem Leser nicht allein zu verstehen, daß es sich hier um eine unmittelbare Anleihe aus dem 11. Kapitel von Senecas Schrift handelt,40 sondern fordert ihn ausdrücklich auf: „Besihe das gantze Capitel durch und durch“41. Worauf will er aufmerksam machen? Zwei Gedanken aus Senecas De tranquillitate animi finden im Prolog ihren Niederschlag: Zum einen der Gedanke der Unbeständigkeit weltlicher Herrschaft und des irdischen Daseins – „versabilis“ und „versatio“ bilden Schlüsselvorstellungen der vom Prolog geleisteten Weltdeutung.42 Zum andern die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich gegen diese Unbeständigkeit zu wappnen, die das Leben jedes Einzelnen betrifft. Nach Seneca läßt sich die Gewalt des Unglücks dadurch brechen, daß man es voraussieht.43 Das wird zur zentralen Vorstellung auch im Prolog: Leid und Unglück sind vorhersehbar, der Mensch muß sich auf sie einstellen, denn sie bilden ein Konstituens seines Daseins. Freilich zieht Gryphius daraus seine eigenen Konsequenzen, da er von einem

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lassen sich detaillierter an seinen Dissertationes funebres nachvollziehen. Hierzu Schings: Die patristische und stoische Tradition, S. 22 – 181. Für Schings handelt es sich hier um „eine der deutlichsten Kontaktstellen zwischen Seneca und Gryphius“ (Schings: Catharina, S. 49). „Welches Königtum gibt es, dem nicht bereitet wäre Sturz und Zerschmetterung, Tyrann und Henker?“ – „[Q]uod regnum est, cui non parata sit ruina et proculcatio et dominus et carnifex?“ (Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch, hg. von Manfred Rosenbach, Bd.2: Dialoge VII–XII, Darmstadt 1993, De tranquillitate animi, XI,9, S. 150). FA S. 223. „Wissen sollst du also, jede Situation ist veränderlich, und was immer gegen einen losbricht, kann auch gegen dich losbrechen. – “Scito ergo omnem condicionem versabilim esse et quicquid in ullum incurrit posse in te quoque incurrere“ (Seneca: De tranquillitate animi, XI,10, S. 150). „Bei einem derartigen Auf und Ab der Dinge: wenn du nicht, was immer geschehen kann, für bevorstehend hältst, gibst du in deinem Inneren Gewalt dem Unglück, die gebrochen hat, wer immer es zuerst gesehen hat.“ – „In tanta rerum sursum ac deorsum euntium versatione, si non quicquid fieri potest pro futuro habes, das in te vires rebus adversis, quas infregit quisquis prior vidit“ (Seneca: De tranquillitate animi, XI,12, S. 152).

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christlichen Fundament aus argumentiert; an die Stelle von stoischem Vernunftoptimismus tritt bei ihm christlicher Heilsglaube. Die SenecaReferenz betont deshalb nicht allein den stoisch-christlichen Sinnhorizont des Trauerspiels, sondern verweist zugleich auf das spannungsvolle Verhältnis zwischen stoischer Tradition und christlicher Umdeutung. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang bereits die erste Regieanweisung. Während das Personen- und Ortsverzeichnis „die Königliche Hoffhaltung zu Schiras in Persen“ (S. 124) als Handlungsort angibt, enthält sich die Regieanweisung derart konkreter Angaben und verlegt den „Schau-Platz“ zwischen „Himmel“ und „Helle“ (S. 125) – also in die Sphäre des irdischen Daseins, das seinerseits in eine „kosmische Heils-Topographie“44 eingebettet ist. Die Regieanweisung beschreibt keinen spezifischen, sondern einen allegorischen Ort der Vergänglichkeit: „Der Schauplatz liget voll Leichen / Bilder / Cronen / Zepter / Schwerdter etc.“ (S. 125). So wird bereits vor Beginn der dramatischen Handlung signalisiert, daß das Geschehen sich in einer Sphäre vollzieht, die durch Zerstörung und Verwüstung bestimmt ist. Das Trümmerfeld menschlicher Herrschaftszeichen deutet ein Geschichtsverständnis an, für das Vorstellungen von Gewalt, Untergang und Unbeständigkeit prägend sind. So entwirft die erste Regieanweisung einen Deutungsrahmen für das nachfolgende dramatische Geschehen: Zum einen weist sie darauf hin, daß die Handlung unter dem Signum der Vanitas steht. Alles Diesseitige ist der Zeit verfallen, ist unbeständig, unberechenbar und hinfällig. Zum andern signalisiert sie einen heilsgeschichtlichen Anspruch, indem sie das dramatische Geschehen in das Koordinatensystem eines christlichen Weltverständnisses stellt, das bestimmt ist durch die Spannung zwischen Diesseits und Jenseits, Vergänglichkeit und Ewigkeit. Indem der Prolog die durch die Regieanweisung vorgegebenen Verständnismuster aufgreift und entfaltet, indem er die Opposition von Endlichkeit und Ewigkeit allegorisch in Szene setzt, entwirft er einen Horizont, der sich nicht schärfer von der immanenten Ausrichtung des stoischen Denkens abheben könnte. In einer ungewohnten Verkehrung der menschlichen Perspektive läßt der Prolog die Transzendenz zu Wort kommen und setzt sie zum Maßstab für die Beurteilung des irdischen Daseins: Die „Ewigkeit“ steigt vom Himmel herab und hält kritische Umschau. Sie enthüllt den illusionären Charakter menschli44 Schings: Catharina, S. 60.

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chen Strebens und entlarvt die irdische Existenz als eine folgenreiche Täuschung: Verstrickt in den Wahn, Erfüllung im Diesseits zu erlangen, so der Vorwurf der Ewigkeit, erfrischen die Menschen sich „bey den Pfützen […] an stat der Quell’“ (I, 8); anstelle der „Wahrheit“ begnügen sie sich mit „falsche[n] Träum’“ (I, 9). So leben sie in Verkennung der wahren, der ewigen Werte und klammern sich an vergängliche Güter. Die „Ewigkeit“ exemplifiziert diese Verkennung der „vanitas mundi“ an verschiedenen Bereichen des menschlichen Daseins. Sie weist hin auf die Wandelbarkeit von Glück, Ansehen und Reichtum, von politischer Herrschaft, aber auch auf den Irrtum, durch literarischen Ruhm ewiges Leben zu erstreben: Hoffnungslos ist das Unterfangen, sich durch der „Feder Macht“ (I, 36) verewigen zu wollen („die Ewikeit beruht nicht auff Papir“ I, 38), und auch wissenschaftlicher Entdeckergeist führt in die Irre: Setzt Bilder auff! durchlaufft die grosse See! Entdeckt ein wildes Land / setzt Namen auff den Schnee! Nennt Vfer / nennet Berg nach der Geschlechter Tittel Ja schreibet Freund und euch ans Monden Rand und Mittel! Doch glaubt diß auch darbey; Daß auch diß was ihr besitzet euch noch recht bekant nicht sey. Daß ihr / was Ewig ist hir noch nicht habt gefunden; Daß euch nur Eitelkeit und Wahnwitz angebunden. (I, 57 – 64)

Die „Ewigkeit“ entwertet alles, was aus der Perspektive des irdischen Daseins bedeutend erscheint, indem sie es als illusionär und trügerisch entlarvt. Damit erweist der Prolog sich als ein „machtvoller Contemptus mundi mit allen Eigentümlichkeiten dieser Gattung“45 ; konsequent mündet er in den topischen Gestus der Weltverachtung: Vor mir ligt Printz und Crone Jch trett’ auff Zepter und auff Stab und steh auff Vater und dem Sohne. Schmuck / Bild / Metall und ein gelehrt Papir; Jst nichts als Sprew und leichter Staub vor mir. (I, 67 – 70)

Zwar ist die Metaphorik des ,Zertretens ‘ aller weltlichen Dinge durch Senecas „calcare mundum“ zum festen motivischen Bestandteil des christlichen Contemptus mundi geworden,46 trotzdem geht der Prolog nicht in der Entwertung des irdischen Diesseits auf. Denn zugleich 45 Schings: Catharina, S. 37. Als typische Züge der Gattung hebt Schings die pointierte Gegenüberstellung von irdischer Vanitas und ewigem Heil sowie den Übergang von der Vanitas-Meditation in das Memento mori hervor (ebd.). 46 Vgl. Schings: Catharina, S. 37.

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präsentiert er den „Schauplatz der Sterblichkeit“ als entscheidende Durchgangssphäre. Darunter wartet, wie es schon in der Regieanweisung heißt, die „Helle“, darüber aber „öffnet sich der Himmel“. Damit sind die beiden Optionen benannt, die sich nach christlicher Vorstellung für das menschliche Dasein ergeben. Die „Ewigkeit“ fordert zur bewußten Entscheidung auf, zur Wahl zwischen Heil oder Verderben: „Wehlt / was ihr wündschet zu besitzen. / […] Schaut des Himmels Wollust an! hir ist nichts denn Trost und Wonne / Schaut den Kercker des Verderbens / hir ist nichts denn Ach und Klage!“ (I, 73 – 76). Der Schauplatz des tragischen Geschehens wird also zum Ort der Entscheidung und Bewährung. Daraus erwächst die übergeordnete Bedeutung des dramatischen Spiels, es appelliert an den Zuschauer, sein zukünftiges Heil zu sichern. Wenn der Prolog am Ende zum dramatischen Geschehen überleitet, indem er auf das Martyrium Catharinas vorausdeutet, intensiviert er zugleich seine appellative Funktion. Er erklärt die Märtyrerin zum Vorbild und ruft auf zur „imitatio martyris“: Verlacht mit ihr / was hir vergeht. Last so wie Sie das wehrte Blutt zu Pfand: Vnd lebt und sterbt getrost für Gott und Ehr und Land. (I, 86 – 88)

Der Prolog exponiert den Charakter des Trauerspiels in seiner Entwicklungslosigkeit, der ausgeprägten Typisierung und dem beharrlichen Insistieren auf dem Vanitas-Gedanken. Dabei treten Nähe, aber auch Differenz zu stoischen Vorstellungen deutlich hervor: So ist die Unempfindlichkeit gegenüber der Welt und ihrem Leid hier unauflöslich verbunden mit der Hinwendung zum Jenseits. In Opposition zum stoischen Denken steht die Kompromißlosigkeit, mit der menschliche Rationalität als Irrweg abgestempelt wird. Was sich im Prolog abzeichnet, bestätigt der Blick auf das gesamte Drama: Gryphius bewegt sich im Denkhorizont seiner Zeit und setzt doch zugleich eigene Akzente. Das zeigt sich auch in der Wahl des dramatischen Stoffes. Zwar gab es bereits einige von Jesuiten verfaßte Catharina-Dramen, aber sie gestalteten die Geschichte der Catharina von Alexandrien – die Geschichte einer gelehrten Königstochter, die zahlreiche Heiden im philosophischen Disput von der Wahrheit der christlichen Religion überzeugte und dafür enthauptet wurde. Gryphius hingegen greift auf das Martyrium der Catharina von Georgien zurück, die 1624 durch Abas, den Schah von Persien, nach jahrelanger Gefan-

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genschaft ermordet wurde.47 Die dramatische Darstellung konzentriert sich auf das Martyrium Catharinas, auf ihr Leiden und standhaftes Erdulden. Catharina erscheint als Exempel der constantia und zugleich als christliche Märtyrerin: Unempfänglich für die Nachstellungen und Drohungen des heidnischen Tyrannen opfert sie sich ihrem Volk und ihrer Religion. Zum Muster des barocken Märtyrerdramas gehört die drastische Zeichnung des „horror passionis“.48 Die Gewalt gegen Catharina erreicht ihren Höhepunkt mit der zwar bloß indirekt, aber doch ausgiebig geschilderten Folterung.49 Die Folterszenen befriedigen mit ihren blutrünstigen Details nicht bloß eine zeitgenössische Vorliebe für Grausamkeit, sondern erfüllen eine zentrale Funktion im Drama. Sie inszenieren die Qualen des irdischen Daseins, und zugleich beschwören sie im Gegenzug die „Bewehrte Beständigkeit“, die der Titel des Trauerspiels verheißt. Catharinas Martyrium kommt in doppelter Hinsicht exemplarische Bedeutung zu. Einerseits wird die gefangene, erniedrigte und verstümmelte Herrscherin zur Exponentin irdischer Hinfälligkeit, der „vanitas mundi“. So wie der Prolog einen Schauplatz präsentiert, der vom Wirken destruktiver Kräfte bestimmt ist, so erscheint auch ihr Körper als Kriegsschauplatz, er wird verwüstet durch die Werkzeuge der Folterknechte. Andererseits liefern die Folterszenen nicht nur eindrückliche Bilder für die Hinfälligkeit der menschlichen Existenz, sondern lassen auch ermessen, wie groß Catharinas Triumph ist, da sie sich über derartige Qualen erhebt. Sie ist sowohl Exempel irdischer Vergänglichkeit als auch Exempel für die Möglichkeit der Erhebung über diese Vergänglichkeit. In drastischen Worten formuliert 47 Über das Geschehen berichteten mehrere Zeitgenossen; unter anderem der französische Historiker Claude Malingre, Sieur de Saint-Lazare, in den Histoires tragiques de nostre temps (erschienen 1635 und 1641). Die 16. Erzählung dieser Geschichtensammlung, die Histoire de Catherine Reyne de Georgie et des Princes Georgiques mis  mort par commandement de Cha-Abas Roy de Perse, benutzte Gryphius als Quelle (Mannack: Andreas Gryphius, S. 62). 48 Nicht minder grausam ist die Darstellung in Caussins Heiliger Felicitas. 49 Das Motiv der Folter benutzt Gryphius häufig als Metapher zur Kennzeichnung der irdischen Existenz: Die Welt „ist die Folter=Kammer / darinnen man nichts höret als das Dräuen der Richter / das Anschreyen der Hencker / das klägliche Winseln der Gemarterten /den Klang der Ketten / und den Stanck der angesteckten Schwefel=Kertzen“, heißt es in der Leichabdankung Uberdruß Menschlichen Lebens (Gryphius: Dissertationes Funebres Oder LeichAbdankungen Bey Unterschiedlichen hoch- und ansehnlichen Leich-Begngnssen gehalten, Leipzig 1683, S. 260).

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sie selbst ihre Abwendung von der Welt: „Die Erden stinckt uns an / wir gehn in Himmel ein“ (IV, 427). Wie für den Märtyrer grundsätzlich, gilt auch für sie, daß sich ihre Größe an ihrer Leidensfähigkeit erweist. Daher geht sie aus den schlimmsten Folterungen zuletzt gestärkt und in Erwartung des ewigen Heils hervor, was sie schon vorab prophezeit: Schaut! JEsus geht voran! ein Augenblick beschwert / Die Ewigkeit erquickt. Creutz / Messer / Zang’ und Herdt Sind Staffeln zu der Ehr’. (IV, 351 – 353)

Die Protagonistin selbst verkündet den Exempel-Charakter ihres Todes und stellt sich in die Nachfolge Christi. In Analogie zu den Einsetzungsworten der Abendmahlszene fordert sie ihre weiblichen Getreuen zum bewahrenden Gedächtnis auf: „Vnd denckt an vnsern Tod.“ (IV, 389) Die dramatische Darstellung greift Bilder und Vergleiche aus der Leidensgeschichte Christi auf, um sie mit dem Schicksal Catharinas zu verweben. Zugleich zeigt sich in der Darstellung ihres Martyriums eine für die Barockzeit übliche geschlechtsspezifische historiographische Stilisierung50 – die weibliche Variante des traditionellen Märtyrerschemas. So zielen die Berichte über Catharinas Folterungen weniger auf die imitatio Christi als vielmehr auf eine ersehnte Vermählung mit Christus.51 Der Tod wird zur lustvollen Vereinigung mit dem „Bräut’gam“ (IV, 336): „Ach JEsu komm!“ (V, 123) ruft Catharina beschwörend aus – und der Priester bestätigt: „Er komm’t er reicht ihr seine Händ’ / Er beut ihr seinen Kuß!“ (V, 123 f.). Catharina interessiert nicht als Individuum, sondern, wie es in der Vorrede an den Leser heißt, als „Beyspill unaussprechlicher Beständigkeit“ (S. 119). Im Drama selbst wird diese Beispielfunktion wiederholt explizit gemacht. Etwa, wenn der Prolog zur Nachfolge des Martyriums auffordert oder, wenn der Chor am Ende des ersten Akts die Opposition von Endlichkeit und Ewigkeit aufgreift, um die Beständigkeit der Märtyrerin von der Unbeständigkeit der Welt abzugrenzen: Ein Gott verlobter Geist verleurt nichts wenn die Welt Gleich über hauffen fält! Er hat sein Reich in sich / und herrschet wenn die Crone Von dem besteinten Har gerissen. 50 So Niefanger: Geschichtsdrama, S. 171. 51 Analog stellt Gryphius auch in den Leichenpredigten Catharina als Exempel einer Braut Christi vor. Vgl. Gryphius: Dissertationes Funebres, S. 344 – 368, bes. S. 344 f.

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Er sitzt auff unbewegtem Throne: Wenn aller Printzen Stül in grauen Staub geschmissen. (I, 867 – 872)

Der Grundgedanke des Dramas, daß die Märtyrerin sich durch constantia über die Hinfälligkeit der Welt erhebt, wird hier mit der Vorstellung von einem inneren „Reich“ der Beständigkeit verknüpft.52 Catharina vermag sich der Nichtigkeit des irdischen Daseins zu entziehen, indem sie sich aus den Wirren des äußeren geschichtlichen und politischen Lebens auf ein beständiges Inneres zurückzieht und somit der Welt einen eigenen individuellen Freiraum abringt. Dieser Gedanke der individuellen Standhaftigkeit steht dem stoischen Denken wesentlich näher als der Prolog in seiner Ausrichtung auf das Jenseits. Gleichwohl darf man den Aspekt des Individuellen nicht zu sehr betonen, denn nicht eine Freiheit durch (individuelle) Verstandeskraft ist gemeint, sondern eine Freiheit, die aus der Kraft des Glaubens resultiert. Freilich führt sie – und darin wiederum entspricht sie stoischen Vorstellungen – dazu, daß sich der Geist vom Körper emanzipiert.53 Catharina scheint keineswegs von Beginn an gegen alle Anfechtungen gefeit. Sie hadert mit ihrem Schicksal („wie lange sol ich leiden?“ I, 229) und sieht den bevorstehenden Folterqualen voller Furcht entgegen: „Mein Leben ist beschlossen; / Doch schnaub’ ich in der Angst“ (I, 293 f.), bekennt sie. Gryphius zeigt also keine Märtyrerin, die den Bedingungen der irdischen Existenz enthoben ist und gelassen ihrem Schicksal entgegensieht.54 Statt ihrem Unglück mit der Abgeklärtheit eines stoischen Weisen zu begegnen, läßt Catharina sich von Schmerz und Leid überwältigen. Doch gelingt es ihr, sich darüber zu erheben und gerade dadurch wird ihre heroische Standhaftigkeit evident. Die Überwindung der Angst kennzeichnet den Märtyrer: „Es wird durch diß was Menschen schrecket; / Sein unverzagter Mutt entdecket“ (I, 873 f.), verkündet pointiert der Chor. In Opposition zum stoischen Apathie-Ideal wie zum neustoischen Vernunftoptimismus, wie ihn Lipsius propagiert, entwirft Gryphius Angst als Ausgangsgrund

52 Eine analoge Formulierung findet sich im „Reyen der gefangenen Jungfrauen“ am Ende des dritten Akts. Dort heißt es, daß Catharina, „ob sie gleich gebunden / Reich / und sich / in sich gefunden“ (III, 513 f.). 53 „Das zarte Fleisch bebt ob den Plagen! / Vnd zittert für der rauhen Noth; / Der frische Geist rufft nach dem Tod / Behertzt der ängsten Angst zu tragen!“ (IV, 273 – 276). 54 Vgl. Bornscheuer: Zur Gattungsproblematik, S. 209 – 212.

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der Beständigkeit.55 In der großen Bedeutung, die er der Angst zuweist, reflektiert sich eine aus christlicher Perspektive vorgebrachte, im 16. und 17. Jahrhundert neue Aktualität erlangende Kritik am Modell des stoischen Weisen. Die menschliche Qualität des tapferen Ausharrens, so gab Augustinus in Umkehrung der stoischen Argumentation zu bedenken, sei gerade kein Beleg für das Vermögen des Menschen, sich aus eigener Kraft von den Qualen des Daseins zu emanzipieren, sondern im Gegenteil ein Beleg für die menschliche Hinfälligkeit.56 Die Differenzen zwischen christlichem Märtyrer und stoischem Weisen wurzeln in der unterschiedlichen Bedeutung, die dem Tod im jeweiligen Denken zukommt. Im Christentum erhält der Tod zentrale Bedeutung, denn er bildet die entscheidende Schwelle zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit. An ihr vollzieht sich – wie es der Prolog der Catharina prägnant vor Augen rückt – der Übergang zu ewigem Heil oder ewiger Verdammnis. Die stoische Tradition hingegen versteht den Tod nicht als Zäsur. Der Tod, so argumentiert die Stoa, kann den Menschen in seinem Kern nicht berühren. Nach Seneca ist er an sich neutral („indifferentia“57) und gewinnt allein die Bedeutung, die ihm der Mensch zumißt. Daher gelte es, die Todesfurcht durch „sittliche Vollkommenheit und eine Gesinnung, die Äußerlichkeiten verachtet“ („virtus et animus externa contemnens“) 58, zu überwinden. An diese Argumentation schließt Lipsius an, wenn er den Tod zu den „Falsa mala“59 zählt, zu den Übeln, die äußerlich bleiben und daher dem Menschen nicht wirklich schaden können. Auch Lipsius möchte davon überzeugen, daß Furcht sich durch Vernunft bewältigen läßt, auch er betrachtet Todesangst als einen Vernunftdefekt. Gryphius dagegen stellt die Angst der Märtyrerin nicht als Makel dar, sondern als angemessene Reaktion auf ihre bedrängte Lage und das erfahrene Leid. Während der stoische und neustoische Vernunftoptimismus davon ausgeht, daß die Welt sich durch das Individuum bewältigen läßt, entwirft Gryphius ein „Angsthauß“ (IV, 59), ein Diesseits, das durch menschliche Gebrechlichkeit und Ohnmacht gekennzeichnet 55 Zur Bedeutung der Angst s. Schings: Die patristische und stoische Tradition, S. 254 – 264. 56 „Jam vero illa virtus, cujus nomen est fortitudo […] evidentissima testis est humanorum malorum, quae compellitur patientiae tolerare“ (Augustinus: De civitate Dei XIX,4; in: PL 41,629). 57 Seneca: Epist. 82,10 und 82,14. 58 Seneca: Epist. 82,14. 59 Lipsius: De Constantia, S. 44.

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ist. Entsprechend resultiert Catharinas constantia nicht aus einer eigenen Vernunftentscheidung, sondern formiert sich in der Reaktion auf ein äußeres Ereignis (von persönlicher Bewährung läßt sich daher nur in eingeschränktem Sinn sprechen). Die Nachricht von der Rettung ihres Sohnes Tamaras, genauer: die Nachricht, daß dieser wieder als Herrscher in Georgien regiert, bewirkt den Umschwung ihrer Haltung. Erst dieses, als Gnadenerweis Gottes aufgefaßte Geschehen schafft die Voraussetzung dafür, daß die stoische Ethik im Drama wirksam wird. Zunächst reagiert Catharina, was von der Forschung zumeist übergangen wird, als politische Herrscherin: „Mein Sohn! nu du regirst nun bin ich nicht gefangen!“ (I, 370). Sie versöhnt sich mit ihrem Schicksal, weil sie den Sohn als Stellvertreter betrachtet, der ihren eigenen Anspruch auf Herrschaft realisiert. Wenig später zeigt sich eine übergeordnete Dimension ihrer neuen Schicksalsergebenheit; sie wendet sich an Gott: Wolan! Jch wil das Joch der Plagen Daß du auff meinen Hals gelegt; Mit unverzagtem Mutt’ ertragen / Nach dem mein Weinen dich bewegt. (I, 397 – 400)

Catharina akzeptiert ihr Schicksal, weil sie darin nun den Willen eines gnädigen, ihrem Leid gegenüber aufgeschlossenen Gottes erkennt; jetzt ist sie „in Angst genesen“ (III, 507). Die bewußte Annahme des qualvollen Todes wird ihr – wie das charakteristisch ist für die christliche Konsolationsliteratur – möglich durch die Erfahrung der Zuwendung Gottes. Im Unterschied zum stoischen Weisen überwindet Catharina die Todesfurcht also nicht aus eigener Kraft, sondern durch Gottes Beistand: „Alleine bin ich vil zu schwach / Mit dir wil ich durch Angst und Ach / Den Sig / das Licht / den Weg / zu dir / Erlöser finden“ (IV, 294 – 296). Damit hebt sich ihre Beständigkeit signifikant vom stoischen Apathie-Ideal ab. Sie entspringt nicht der Selbstüberwindung, sondern gründet in dem Vertrauen auf die göttliche providentia. Gerade hierin zeigen sich deutliche Parallelen zum Neustoizismus, wie ihn Lipsius vertreten hat. In dessen Argumentation, die einem stoischen Fundament christliche Denkmuster aufpropft, sind Unglücksfälle nicht allein zu bewältigen, sondern zu begrüßen, weil sie gottgesandte Prüfungen vorstellen.60 Catharina gelangt zu einer entsprechenden Einsicht 60 „Der Ursprung dieses Unheils nämlich liegt sicherlich […] bei Gott“ – „Origo enim certe harum cladium […] a deo“ (Lipsius: De Constantia, S. 208). „Von ihrem Ursprung her gesehen sind die Unglücksfälle also gut. Und ich sage auch:

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und gibt sie als Botschaft an die Nachwelt weiter, indem sie zur Imitatio ihres Martyriums auffordert.61 So erweist sich Lipsius’ christlich gefärbter Stoizismus als Verbindungsglied zum stoisch gefärbten Christentum der Tragödie, das auf der Vorstellung göttlicher Schickung basiert. Während Catharina der Folter stand hält und über das irdische Dasein siegt, verläßt ihr scheinbar mächtiger Gegenspieler Chach Abas als inwendig Vernichteter die Bühne. Zwar handelt er bedenkenlos nach machiavellistischer Maxime: „Was Abas schafft muß Recht / dafern es Vnrecht / werden“ (I, 784), am Ende jedoch verliert er seine Souveränität und fällt den eigenen Affekten zum Opfer. Als dramatische Figur, die im Gegensatz zu der eindimensional konzipierten Catharina durch Widersprüche gekennzeichnet ist, zog Chach Abas die besondere Aufmerksamkeit der Forschung auf sich. Einige Interpreten erklärten ihn zur konfliktreichsten und interessantesten Figur des Dramas, zur „tragischen Figur im modernen Sinne“62. Zu Recht hat sich Schings gegen eine solche Aufwertung des Tyrannen ausgesprochen. Er wies darauf hin, daß auch Abas modellhaft, nämlich nach dem stoischen Muster der Affektkritik gestaltet ist.63 Sein Schicksal bildet das genaue Kontrastmodell zu dem Catharinas; auch er ist nicht als individueller Charakter gezeichnet. Gryphius stellte dem wahren Martyrium Catharinas mit der Gestalt des Schahs ein ,Anti-Martyrium der Leidenschaft‘ gegenüber.64 Den realen Folterungen, denen Catharina durch den Tyrann ausgesetzt wird, korrespondieren die inneren Folterqualen, die der Tyrann durch Catharina, die „Tyrannin unser Seel“ (II, 185), zu erleiden meint. In dem vom Prolog entworfenen Koordinatensystem zwischen Endlichkeit und Ewigkeit bewegen sich Catharina und Chach Abas im Verlauf der tragischen Handlung genau gegenläufig: Catharina wendet sich von der Welt ab, Abas verfällt ihr; Catharina erhebt sich über die irdischen Verstrickungen, Abas verfängt sich in ihnen. Zu

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im Hinblick auf ihr Ziel. Denn sie sind allezeit zum Guten und auf unser Heil hin ausgerichtet“ – „Origine igitur Clades bonae: aio etiam Fine, quia ad bonum directae semper & salutem“ (Lipsius: De Constantia, S. 210). Vgl. IV, 173 – 180. So Clemens Heselhaus: Andreas Gryphius. Catharina von Georgien, in: Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen, hg. von Benno von Wiese, Düsseldorf 1968, S. 35 – 60, hier S. 54. Anstelle einer exzeptionellen erkannte Schings Chach Abas lediglich eine „integrierende Rolle […] im Koordinatensystem des Märtyrerspiels“ zu (Schings: Catharina, S. 51). Vgl. Schings: Catharina, S. 58.

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Beginn des Dramas, als er auf dem Höhepunkt seiner Herrschaft steht, erscheint er als Personifikation weltlicher Macht – am Ende erweist sich an ihm deren Nichtigkeit. Gepeinigt von unerfülltem Liebesverlangen läßt Abas die Geliebte foltern und töten. Indem er das Objekt seiner Begierde zerstört, bestraft er sich selbst – und liefert ein Beispiel für die desorientierenden und selbstzerstörerischen Konsequenzen einer affektbeherrschten Existenz.65 Nach stoischer Lehre ist der Affekt der Sitz aller Unbeständigkeit. Lipsius erklärt den „Wahn“ – die „opinio“ der Stoiker – zur Ursache allen Übels: „Daß die Affekte uns immer wieder ablenken, kommt von ihm“ („quod adfectus distrahant, ab hac [est]“) 66. Chachs Handeln sprengt also nicht den Rahmen der zeitgenössischen Anthropologie, sondern setzt dramatisch um, was die neostoische Affektenlehre vorgibt. Im Drama Catharina von Georgien findet sich ein dichtes Netz von Bezügen auf stoische Vorstellungen, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: Die Referenzen reichen von einzelnen Bildern und Motiven über die Figurenkonzeption bis hin zur Ausgestaltung von Catharinas Märtyrertum. Dadurch wird die Tragödie zum Beispielfall für die eigentümliche Verschränkung stoischer und christlicher Vorstellungen im Neustoizismus. Sie verknüpft die stoische Tugend mit der Mystik der „sponsa christi“, verschmilzt heroische Standhaftigkeit und himmlische Liebe zu Christus. Die stoischen Ideen und Verhaltensmuster, so läßt sich zusammenfassen, werden der christlichen Weltdeutung untergeordnet und in ihren Dienst gestellt. Indem die Tragödie christliche Transzendenz an die Stelle stoischer Immanenz setzt, etabliert sie das christliche Heilsverständnis als übergreifenden Rahmen, innerhalb dessen die stoische Ethik wirksam wird. Stoische Tugenden entfalten keine eigene Verbindlichkeit, keine das Verhalten normierende Kraft. Vielmehr erscheinen sie als dem christlichen Glaubenshorizont eingeschmolzene Elemente. Als solche unterhöhlen sie die christliche Märtyrerhaltung nicht, sondern stärken sie. 65 Die Perversion seiner Liebesleidenschaft erhält auch sprachlichen Ausdruck. Gryphius legt seinem Tyrannen sprachliche Formeln und Vergleiche in den Mund, die der Tradition des Petrarkismus entstammen. Wenn der grausame Tyrann sich einer galanten Rede bedient, dann bedeutet das nicht nur einen Verstoß gegen die poetologische Norm der Angemessenheit, sondern zugleich kann man hierin eine Kritik an der Dichtung der Galanten sehen, die, so der implizite Vorwurf, einen Beitrag leistet zur schädlichen Emanzipation der Affekte. 66 Lipsius: De Constantia, S. 38.

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Dieser Befund erfährt bei Schings seine Zuspitzung. Er resümiert, daß Gryphius mit seiner Tragödie eine „stoische ,Hohlform’“ aufgreife, um sie mit einem eigenen, einem „gänzlich unstoischen“, „eminent christliche[n] Gehalt“ zu füllen.67 Diese Argumentation, die mit der Opposition von stoischem Modell und christlichem Inhalt operiert, wirkt freilich sehr schematisch. Sie läßt keinen Raum für das dynamische und produktive Moment, das grundsätzlich in der Übernahme von Traditionen liegt. Auch erscheint die Rede von einer ,stoischen Hohlform‘ problematisch, da das Drama ja kein antikes Strukturmodell aufgreift, sondern in erster Linie an ethische Kategorien der Stoa anschließt, insbesondere an die Tugend der constantia. Man kann die Argumentation von Schings auch umkehren und den Rückgriff auf stoische Vorstellungen als Ausdruck eines Defizits werten: Vom Christentum geprägte Autoren wie Gryphius übernehmen antik-stoische Vorstellungen, um den christlichen Glauben und das christliche Menschenbild ,auszustatten’, ihm zusätzliche Legitimität zu verschaffen durch die Verankerung in einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition. Indem aber die christliche Weltdeutung Bestandteile der stoischen Anthropologie in sich aufnimmt, lagert sie sich etwas Wesensfremdes ein, das Ideen und Denkweisen Ansatzpunkte bietet, die aus dem christlichen Vorstellungshorizont hinausführen, weil sie den Fokus auf diesseitige individuelle Bewährung richten.

Papinian Daß stoische Vorstellungen die Konzeption des Papinian-Dramas und seiner Hauptfigur bestimmen, daß Papinian sich in seiner weltüberlegenen Haltung der Gestalt des stoischen Weisen annähert, daß er die stoischen Tugenden der constantia und der magnanimitas auf sich vereint (schon der vollständige Titel Großmtiger Rechtsgelehrter oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus hebt ja ausdrücklich den ,Großmut‘ als Eigenschaft Papinians hervor) 68, wird in der Forschung nicht in 67 Schings: Catharina, S. 66, 70. 68 ,Magnanimitas‘ bildet nach Seneca die Grundlage des glücklichen Lebens, denn sie ermöglicht die Überwindung der vergänglichen Fortuna-Welt: „Was ist das glückliche Leben? Sorgenlosigkeit und beständige innere Ruhe. Das wird dir geben die Seelengröße, wird dir geben die Beständigkeit, die an dem für Recht Erkannten festhält.“ – „Quid est beata vita? Securitas et perpetua transquillitas.

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Zweifel gezogen. Auch herrscht Konsens darüber, daß sich stoische Vorstellungen nicht auf einzelne Reminiszenzen oder motivische Anleihen beschränken, sondern den Sinngehalt wesentlich bestimmen. Doch in der Frage, worin dieser Sinngehalt besteht, in der Deutung also, gehen die Ansichten auseinander: Schon seit Jahrzehnten entzündet sich am Papinian eine Interpretationskontroverse, mit der eine kontroverse Deutung des stoischen Gehalts verbunden ist. Nun hatte Gryphius mit dem Trauerspiel Catharina von Georgien ja bereits eine Märtyrerfigur vorgestellt, die in weitreichender Anlehnung an das stoische Tugendsystem gestaltet ist. Worin liegt also die Besonderheit des Papinian-Dramas? Zunächst ist eine werkgeschichtliche Sonderstellung zu vermerken, denn beim Papinian, dessen Text wohl 1659 im Druck erschien,69 handelt es sich um das letzte Theaterstück von Gryphius. Diese Tatsache betonen alle die Interpreten, die im Papinian einen Höhe- oder gar Wendepunkt im Schaffen des Autors erkennen wollen. Ein beweiskräftiges Indiz für eine gedankliche oder konzeptionelle Ausnahmeposition bildet die späte Entstehung freilich nicht. Jedoch hebt sich das Drama durch eine stoffliche Differenz markant von der vorhergehenden Trauerspielproduktion ab. Zwar greift Gryphius wie schon in den früheren Dramen einen historischen Stoff auf, diesmal aber bezieht er ihn nicht aus der christlichen Geschichte, sondern wählt Ereignisse aus einer Epoche der römischen Kaiserzeit, die vom Christentum noch weitgehend unbeeinflußt war.70 Für die Deutung birgt das einigen Sprengstoff: Einerseits ist auch der Papinian dem Muster des Märtyrerdramas verpflichtet, andererseits ist der Märtyrer hier ein Heide71, und das heilsgeschichtliche Geschehen vollzieht sich ohne heilsgeschichtlichen Hintergrund. Papinian stirbt nicht im Namen des Glaubens, sondern des Rechts. Deshalb betont Wilfried Barner die „komplizierten Konfigurationen“72 der Tragödie: Das Spätwerk unterscheidet sich von der Catharina durch eine span-

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Hanc dabit animi magnitudo, dabit constantia bene iudicati tenax“ (Seneca: Epist. 92,3). Die lateinische Widmungsvorrede ist auf den 23. September 1659 datiert. Anhänger der frühchristlichen Religion werden im Drama erwähnt, es kommt ihnen aber keine handlungsbestimmende Rolle zu. Wilfried Barner: Der Jurist als Mrtyrer: Andreas Gryphius’ „Papinianus“, in: Literatur und Recht. Literarische Rechtsflle von der Antike bis in die Gegenwart; hg. von Ulrich Mölk, Göttingen 1996 (Kolloquium der Akademie der Wissenschaften in Göttingen im Februar 1995), S. 229 242, hier S. 230. Barner: Der Jurist als Mrtyrer, S. 230.

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nungsvollere Verbindung von christlichen Glaubensvorstellungen, antik-historischem Stoff und stoischem Gedankengut. Die eigentümliche Verschränkung antik-christlicher Tradition bildet die eigentliche Herausforderung für die Interpretation. Die Forschung hat darauf unterschiedlich reagiert; wobei sich die Positionen (vereinfachend) auf zwei konträre Deutungsansätze zuspitzen lassen: Eine Reihe von Interpretationen betont die leitende Funktion christlicher Denkmuster und faßt das christologische Märtyrer-Schema als integrierenden Rahmen, dem alle anderen Aspekte des Trauerspiels untergeordnet sind. Eine gegenläufige Deutungsrichtung begründete Walter Benjamin mit seinem Trauerspielbuch von 1928, in dem er die Tragödien von Andreas Gryphius als Ausdruck einer Säkularisationsbewegung bewertete, aus ihnen eine grundsätzliche Verlagerung des Autorinteresses von der ‘Transzendenz’ zur ‘Immanenz’ ablas und gerade die Konzeption der Märtyrerfiguren als Beleg dieser Umorientierung anführte.73 Daran anschließend deutete Herbert Heckmann die Figur des Papinian in einer Studie von 1959 als säkularisierten Heiligen, der beispielhaft die Möglichkeit autonomen menschlichen Handelns vor Augen rücke, da es ihm gelinge, durch Tugend sein Selbst zu retten.74 In den beiden Deutungsrichtungen erhalten stoische Ideen gegensätzliche Bedeutung zugeschrieben: Auf der einen Seite wird, im Anschluß an Benjamin, der Rekurs auf stoisches Gedankengut als Impuls für einen Säkularisationsprozeß begriffen, der den christlichen Denkhorizont durchstößt und eine Emanzipation des Menschen einleitet. Auf der anderen Seite werden die stoischen Tugenden als dem christlichen Glaubenshorizont eingeschmolzene Elemente gedeutet, 73 Der Märtyrer des barocken Trauerspiels ist nach Benjamin „ein radikaler Stoiker“, nicht religiösen Vorstellungen, sondern der Immanenz verpflichtet (Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 55). 74 Heckmann erklärt mit deutlich existentialistischem Akzent den Märtyrer zur Figur der Selbstbehauptung, „zum Prototyp des Menschen […], der sein Ich gegen die Zufälligkeit und Vergängnis der Welt bis in den Tod trotzig behauptet“; durch die Tugend der constantia wird „das Ich gerettet“ (Herbert Heckmann: Elemente des barocken Trauerspiels am Beispiel des „Papinian“ von Andreas Gryphius, Darmstadt 1959, S. 51). Harald Steinhagen führt diesen Ansatz weiter. Er faßt den Papinian als Geburtsstunde des modernen „autonomen Subjekts“, das in Übereinstimmung mit seinem Inneren handelt und mit der Haltung der constantia einen „Spielraum selbständiger Verantwortung gewinnt“ (Harald Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama. Historisch-sthetische Studien zum Trauerspiel des Andreas Gryphius, Tübingen 1977, S. 219, 242).

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welche die christliche Märtyrerhaltung nicht unterhöhlen, sondern im Gegenteil stärken.75 Im Papinian überkreuzen und verbinden sich unterschiedliche Denktraditionen auf komplexe Weise. Ausgehend von der Standhaftigkeit des Protagonisten lassen sich wesentliche Bedeutungsdimensionen des Dramas erschließen. Denn constantia begegnet hier in dreifacher Gestalt: als stoische constantia, als christliche Standhaftigkeit und als juristisches Widerstandsrecht. Verglichen mit der Catharina von Georgien erweitert das Papinian-Drama den stoischen Zentralbegriff der constantia also noch um eine politisch-staatstheoretische Dimension. Die juristische und politische Bedeutung des Dramas wurde in der Forschung lange Zeit kaum beachtet und war doch bereits durch die Wahl des Stoffes vorgegeben, den Gryphius aus den antiken Quellen des Herodian, des Cassius Dio und der Historia Augusta bezog.76 Mit Papinian stellte Gryphius, der selbst gelernter und praktizierender Jurist war, einen der bedeutendsten Juristen des römischen Imperiums in den Mittelpunkt, dessen Hauptwerke in die Digesten eingegangen sind.77 Papinian diente unter Marc Aurel und Caracalla und stieg vom ,advocatus fisci‘ in hohe Staatsämter auf. Im Jahr 203 wurde er ,praefectus praetorio’. Unter den Doppelkaisern Geta und Caracalla bekleidete er die Stelle des höchsten kaiserlichen Beamten. Im Jahr 212 jedoch kam es zu Ereignissen, welche die politische Karriere und das Leben Papinians abrupt beendeten: Der nach Alleinherrschaft strebende Caracalla ließ seinen Bruder ermorden. Um die im Gefolge dieser Tat aufkommende öffentliche Unruhe zu beschwichtigen, verlangte er von dem angese75 Neben diesen beiden gegensätzlichen Bewertungen stoischer Tradition wurde neuerdings die These einer dramenimmanenten Stoizismuskritik vorgebracht: Arend versucht in ihrer Studie nachzuweisen, daß das Muster des standhaften Märtyrers und Stoikers Papinian im Drama selbst in Frage gestellt wird. Papinian, so ihre Argumentation, wird zur „Zielscheibe“ einer Kritik, die sich aus stoischen Vorstellungen speist (vgl. Stefanie Arend: Rastlose Weltgestaltung: Senecaische Kulturkritik in den Tragçdien Gryphius’ und Lohensteins, Tübingen 2003, S. 146). 76 Diese Quellen werden von Gryphius selbst genannt, vgl. seine „Anmerckungen“: FA S. 107 f.; vgl. auch den Kommentar: FA S. 1007 f. 77 Spätestens bei seinen juristischen Studien in Leiden wurde Gryphius auszugsweise mit dem Werk Papinians bekannt. Es gilt aber als wahrscheinlich, daß ihm die Gestalt des römischen Beamten bereits zur Schulzeit begegnete, nämlich durch die Vermittlung von Boethius’ Consolatio Philosophiae, dem Standardwerk der zeitgenössischen Konsolationsliteratur, das neben Seneca auch Papinian als moralische Beispielfigur anführte (FA S. 1013).

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henen Juristen Papinian die Rechtfertigung des Brudermords. Da Papinian sich weigerte, wurde er hingerichtet. Auf diese Ereignisse konzentriert sich das Drama; die Forderung des Kaisers und der beharrliche passive Widerstand Papinians bilden den Angelpunkt der Handlung. Papinian soll seinen Einfluß geltend machen, um die Stimmung im Staat zu Gunsten Caracallas zu wenden, er soll die prekäre Situation „mit Rath und Reden heilen“ (III, 437), soll das Geschehene durch seine Reden ,ausstreichen’78. Der Kaiser erwartet also nicht weniger von ihm als die Manipulation der öffentlichen Meinung. Er verlangt von dem öffentlich geachteten Staatsmann und Juristen, daß er den skrupellosen absolutistischen Akt der Herrschaftssicherung im Nachhinein rechtfertigt. Damit wird der Brudermord im Drama zum Rechtsfall. Einerseits legitimiert Papinian seine Weigerung, indem er sich auf ein dem Souverän übergeordnetes „ewig Recht“ (III, 486) beruft, das der stoischen Konzeption des Naturrechts nahesteht. Andererseits provoziert sein Widerstand den Kaiser und seine Gefolgsleute dazu, ihre Auffassung von der uneingeschränkten Souveränität des Herrschers darzulegen. So behandelt das Papinian-Drama die drängenden Probleme des frühneuzeitlichen Absolutismus im antiken Gewand: Es fragt nach den rechtlichen und moralischen Schranken, die dem Herrscher auferlegt sind. Es diskutiert die Legitimität politischen Widerstands und reflektiert die Möglichkeit des Tyrannensturzes. Wie die Catharina ist auch das Papinian-Drama durch ein antagonistisches Handlungsschema geprägt: Dem Machtstreben und den grellen Leidenschaften der Höflinge steht Papinians Affektverneinung und Lebensentsagung gegenüber.79 Als leuchtendes Gegenbeispiel hebt er sich ab von der höfischen Sphäre, dem Spielfeld der Leidenschaften, Intrigen und Grausamkeiten. Das Ansinnen des Kaisers weist er allen Versuchungen und Drohungen zum Trotz von sich und erduldet die Konsequenzen. Papinian nimmt seinen Tod gelassen und geradezu dankbar an; im Gegensatz zu Catharina wird er zu keiner Zeit von Ängsten geplagt. Standhaftigkeit ist die Haupteigenschaft dieses Dramenhelden, der, wie es in des Autors eigener Inhaltsangabe heißt, „ungeachtet alles Versprechens Eigen-Nutzes / angedräueter Gefahr / Verlusts der Ehre und Güter / ungeachtet aller einrede der Anverwandten / Freunde / 78 Vgl. V, 228. 79 Als warnendes Gegenexempel ist das grausame Sterben des Laetus entworfen, der seinen Affekten bis zuletzt unterworfen bleibt.

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und Käysers Bassiani selbst / großmütig verwidert“ dessen „hochschändliche Unthat zu beschönen“ (S. 312). Auf alle Drohungen und Angriffe reagiert Papinian mit unerschütterlicher Ruhe. Als er seiner Ämter enthoben wird und dem kaiserlichen Beamten das Gesetzbuch aushändigen muß, kommentiert er diesen Vorgang mit den Worten: „Verlir Jch höchst erfreut mein Ambt-Recht / nemt es hin. Schätzt jhr diß vor Verlust? Jch halt es vor Gewin“ (IV, 341 f). Und selbst die bevorstehende Hinrichtung seines Sohns entlockt ihm lediglich die Worte: „Wol! Wol! so stirb mein Kind! weil es der Käyser heist!“ (V, 257). Papinian gewinnt seine unanfechtbare Position dadurch, daß er sich innerlich von seiner irdischen Existenz löst und für den Tod entscheidet: „so wüntsch Ich mit verlangen / den höchst-gelibten Tod“ (V, 228 f.). Dadurch macht er sich unangreifbar für alle Wechselfälle des Lebens, wie er sie schon zu Beginn des Dramas in seinem einführenden Monolog voraussieht. Vergleichbar dem Prolog zur Catharina von Georgien ist auch Papinians Eingangsmonolog von grundsätzlicher Bedeutung und steckt den Rahmen ab, in dem sich das nachfolgende dramatische Geschehen bewegt. Während aber in der Catharina die Perspektive der transzendenten „Ewigkeit“ diese Überschau leistet, nimmt hier die dramatische Hauptfigur selbst ahnend ihr Schicksal vorweg und stellt sich damit von Beginn an außerhalb der Zeit. Alles Irdische erachtet Papinian als unbeständig, der unberechenbaren Fortuna und der Vanitas unterworfen. Die eigene Existenz nimmt er davon nicht aus. Obwohl er im Moment des Sprechens noch von „der stoltzen Höh / Der reichen Ehre“ (I, 1 f.) hinabsehen kann, ist seine Rede von der Erkenntnis durchdrungen, daß Neid und Verleumdung seine herausgehobene Stellung bereits unterhöhlen. Papinian weiß um die besondere Gefährdung, die mit seiner exponierten politischen Funktion verbunden ist; er lebt im Bewußtsein drohender Gewalt und bevorstehenden Unheils. Indem er den Mechanismus von Erhebung und Fall auf die eigene Existenz anwendet, nimmt er in der Situation größten öffentlichen Ruhmes visionär seinen Untergang vorweg: „Mir ahnts! es wil sich wittern / Jch schaw deß Brudern Faust im brüderlichen Haar / Die grosse Stadt in noth / die Länder in gefahr / Die Flott in lichtem brand / den hohen Thron zustücket / Und mich durch eines Fall (doch ohne Schuld) erdrücket“ (I, 48 – 52). Ebenso wie Catharina gelingt es auch Papinian, im Untergang sein Inneres zu bewahren. Er entwindet sich der Gewalt der Fortuna und stellt sich außerhalb des historischen Vernichtungsgeschehens. Meta-

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phorisch beschreibt er sich selbst als ruhenden Punkt in der bewegten Zeit: „die stoltze klippe steht. / Ob Amfitriten Schaum gleich über Gipffel geht“ (IV, 289 f.).80 Das Bild des Felsens und das im Monolog unmittelbar vorangehende des Diamanten („ein reiner Demant bleibt“, IV, 289) gehören zur traditionellen Emblematik stoischer Unerschütterlichkeit.81 Schon Seneca kennzeichnete mit den Metaphern von Fels und Diamant die standhafte Haltung des Weisen, wenn er Sokrates die Worte in den Mund legte: „Ich bin gleich einem einsamen Felsen in seichtem Meer, den die Wogen von allen Seiten umtosen und den sie doch nicht von der Stelle rücken oder zerstören können.“82 Auch die spezifische Verwendung des Wortes ,Stehen‘ geht bei Gryphius auf das Muster Senecas zurück, auf das „fortiter stare“, das den stoischen Heroismus bezeichnet.83 Das ,Stehen‘ wird zum Schlüsselwort für Papinians Zeitenthobenheit; es bildet das semantische Zentrum, um das sich eine ganze Reihe von Tugendbegriffen gruppiert.84 Diese Tugenden gewinnen eine politische Dimension, weil sie die ethische Grundlage abgeben für Papinians Widerstand gegen den Kaiser. Mit der Gestaltung der Papinian-Figur reiht sich Gryphius (anders als im Fall der Catharina von Georgien, deren Schicksal er als erster dramatisch gestaltet) in eine bereits bestehende Deutungstradition ein: Schon in Boethius’ Consolatio Philosophiae begegnet Papinian als exemplum, als Präfiguration eines christlich-stoischen Märtyrers. Und auch Justus Lipsius führt in seinem Traktat De constantia libri duo den römischen Juristen als Muster tugendhafter Unerschütterlichkeit an und erklärt sein Sterben für die Gerechtigkeit zum Vorbild, das anderen

80 Vgl. auch V, 150. 81 Vgl. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 1964, S. 100 f., 112 f., 133 f., 210 f. 82 Seneca: De vita beata XXVII, 3: „Praebeo me non aliter quam rupes aliqua in vadoso mari destitua, quam fluctus non desinunt undecumque moti sunt verberare, nec ideo aut loco eam movent aut per tot aetates crebro incursu suo consumunt“. Vgl. auch De constantia sap. III, 5. 83 Vgl. Schings: Die patristische und stoische Tradition, S. 239; hier finden sich auch Belegstellen. 84 Als nahezu synonym zu verstehende Ausdrücke gehören zu diesem Wortfeld ferner „Geduld“ sowie die Verbindungen „unbewegter“, „steiffer“, „unerschreckter“, „unverzagter“ „Muth“. Lateinische Äquivalente und Ursprünge sind neben constantia deren Synonyme „stabilitas“, „firmitas“ und „perseverantia“ (Schings: Die patristische und stoische Tradition, S. 239).

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Menschen zur Nachahmung dienen könnte.85 Und doch war die Deutung Papinians nicht eindimensional auf stoische constantia festgelegt. Vielmehr entzündete sich an seinem Fall eine staatsrechtliche Kontroverse um die Alternative von Naturrecht und politischer Klugheit.86 In dieser Auseinandersetzung markieren Philipp Melanchthon und Jean Bodin konträre Positionen. Melanchthon sah in Papinian die Exempelfigur einer nicht nur christlichen, sondern im Naturgesetz schlechthin verankerten Sozialethik. Er deutete Papinian vor der Folie des Protestantismus und erklärte ihn zum Beispiel einer Gehorsamsverweigerung, wie sie der lutherische Protestantismus als einzige Form des politischen Widerstands erlaubte.87 Während er den antiken Juristen aufgrund seines unbestechlichen Verhaltens zum Vorbild einer „auf den fürstlichen Beamten zugeschnittenen Amtsethik“88 aufwertete, prangerten Bodins Six livres de la rpublique (1576) genau diese Unnachgiebigkeit als kurzsichtig und staatsschädigend an: „Papinian durfte den Staat nicht eines solchen Mannes, d. h. seiner selbst berauben, sondern hätte sich – dem Fürsten oder vielmehr seinem Schmerz nachgebend – den Staat und sich dem Staat bewahren müssen.“89 Bodin argumentiert pragmatisch auf das Wohl des Staates bezogen. Aus dieser Perspektive erscheint der stoische Heroismus, mit dem Papinian den Tod auf sich nimmt, als Eigensinn, durch den er sich dem Gemeinwohl dienlicher Handlungsmöglichkeiten entzieht. Im Drama vertritt Papinians Vater Hostilius diese Position, wenn er den Sohn zu einer flexibleren Haltung zu überreden sucht: 85 „Papinianus ist von einem Tyrannen umgebracht worden, aber das Beil, mit dem er getötet wurde, schlägt die Sicherheit in uns hinein, für die Gerechtigkeit sterben zu können“ – „Papinianus a Tyranno caeditur: sed securis illa securitatem nobis imprimit pro Iustitia moriendi“ (Lipsius: De Constantia, S. 226). 86 Dieter Nörr: Papinian und Gryphius. Zum Nachleben Papinians, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung, 83, 1966, S. 308 333. Wilhelm Kühlmann: Der Fall Papinian. Ein Konfliktmodell absolutistischer Politik im akademischen Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Daphnis 11, 1982, S. 223 – 252. 87 Vgl. Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 233. 88 Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 233. 89 Wortlaut der lateinischen Fassung: „Non debuit Papinianus tanto viro, id est se ipso Rempublicam orbare, sed Principi vel potius suo dolore indulgendo, sibi Remp. ac seipsum Reipubl. servare: fortiter quidem & sapienter facturus, si nondum parricidium fuisset admissum“ (De Republica Libri Sex, Latine ab Auctore Redditi […], Editio Tertia, Frankfurt 1594, Buch III, Kap. 4, S. 469; zit. nach Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 229).

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„Schön ists / mit einem Wort / den Geist vors Recht hingeben / Doch schöner Recht und Reich erretten durch sein Leben. / Wer vor die Tugend fällt: thut wol. Der noch vilmehr / Der vor die Tugend steht“ (V, 87 – 90). Mit der Figur des Papinian griff Gryphius also eine historische Gestalt auf,90 die in der Deutungstradition nicht bloß zu einem Paradigma des stoischen Heroismus geworden war, sondern an die sich überdies eine zeitgenössische Diskussion von moralphilosophischer und staatsrechtlicher Brisanz knüpfte.91 Diese Diskussion stellte einen Reflex dar auf konkrete zeitgeschichtliche Krisenerfahrungen, auf die Wirren der Bürgerkriege und außen- und innenpolitische Instabilität. Vor dem Hintergrund allgemeiner Verunsicherung verloren im 16. und 17. Jahrhundert normative Staatsideen ihre Anziehungskraft. An ihre Stelle traten Utilitätserwägungen und die Idee der Staatsräson. Vorrangig war der Wunsch nach einem starken Staat und einem starken Souverän, der in der Lage sein sollte, den Bürgern Sicherheit, Ordnung und Frieden zu gewährleisten. Angesichts extremer Konzeptionen des neuzeitlichen Machtstaats, wie sie etwa Niccolò Machiavellis Staatsphilosophie vorstellte, drängte sich aber auch die Frage nach den Grenzen der Machtbefugnisse des Staates und des Souveräns auf. In diesem Zusammenhang wurde die Rolle des Naturrechts, der christlichen Gebote und des individuellen Gewissens diskutiert: Hat sich der Souverän einem übergeordneten Gesetz zu beugen? Gibt es für den Untertan ein Recht auf Widerstand? Das sind auch die entscheidenden Fragen des Dramas. Papinians unnachgiebiges Verhalten macht ihn geradezu zur „Demonstrationsfigur eines ethisch-naturrechtlichen Rechtsverständnisses“92. Als man ihn seiner Amtswürde entkleidet und ihm das kaiserliche Gesetzbuch abnimmt, spielt er zwei Formen des Rechts gegeneinander aus: Umb das Jch nicht verletze Das allgemeine Recht daß der die grosse Welt Hat in Jhr Wesen bracht und in dem Stand erhält / Nicht jrgend auff Papir / auff stetes Ertz getriben / Nein / sondern das er hat der Seelen eingeschriben / Verlir Jch höchst erfreut mein Ambt-Recht / nemt es hin. (IV, 336 – 341) 90 Bereits in zwei „Leichabdanckungen“ aus den Jahren 1652 und 1653 verwies Gryphius auf die exemplarische Gestalt des Papinian. 91 So Barner: Der Jurist als Mrtyrer, S. 234. 92 Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 233.

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Dem an das Staatsamt gebundenen, konkreten und schriftlich kodifizierten Recht setzt Papinian ein nicht von Menschen geschaffenes, sondern von einer göttlichen Instanz in die „Seelen“ eingeschriebenes ewiges Recht entgegen. Deutlich klingt hier das stoische Naturrechtsdenken an, das ein ewiges Weltgesetz (lex aeterna) annimmt, dem unabhängig von dem von Menschen gesetzten positiven Recht universale Gültigkeit zukommt und das seine Entsprechung findet im Gesetz der menschlichen Natur (lex naturalis). Die stoische Lehre vom natürlichen Gesetz wurde von einigen Kirchenvätern aufgenommen und hatte entscheidenden Einfluß auf das rechtsphilosophische Denken der Neuzeit. Eine wichtige Stufe in der Rezeption stellt Augustinus vor. Er setzte der göttlichen lex aeterna ein veränderlich gedachtes positives Recht, eine lex humana entgegen. Bedeutsam für das Papinian-Drama ist vor allem Augustinus’ christliche Umdeutung der lex naturalis, die er nicht allein in der menschlichen Ratio begründet sah, sondern auf die Gnade Gottes zurückführte.93 Wenn nach Augustinus das Gesetz der Natur dem Menschen durch das Siegel der lex aeterna in das Wachs seines Herzens eingeprägt ist,94 so findet das bei Gryphius seine Entsprechung in der Metapher vom Recht, das der „Seele eingeschriben“ ist. Die zentrale Bedeutung, die dem politisch-juristischen Diskurs in der Tragödie zukommt, wird dadurch unterstrichen, daß verschiedene staatsrechtliche Auffassungen im Verlauf der dramatischen Handlung eine Stimme erhalten und dialogisch miteinander konfrontiert werden: So steht Papinians absoluter Rechtsvorstellung der Utilitarismus des Vaters Hostilius gegenüber – „Man geb umb etwas nach“95 lautet sein Motto – sowie die machiavellistische Rechtsauffassung des Laetus: „Ein Fürst ist von dem Recht und allen Banden frey“96 ; mit diesen Worten stiftet er Bassian zum Brudermord an. Besonderes Gewicht erhält Cleanders Argumentation, die auf die absolutistische Rechtfertigung Caracallas zielt. Das Streitgespräch zwischen Papinian und Cleander, das Argumente der Kontroverse zwischen Melanchthon und Bodin aufgreift, bildet die 93 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl., Tübingen 2006, S. 201 – 209. 94 Vgl. hierzu den Beitrag zur stoischen Naturrechtslehre von Sebastian Kaufmann im vorliegenden Werk. 95 V, 104. 96 II, 69.

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Mittelachse des Dramas. Der Dialog ist als Stichomythie gestaltet, als ein Schlagabtausch von Argumenten, die schroff gegeneinander gesetzt werden. Dabei ist Cleander der aktive, impulsgebende Dialogpartner, der Papinian zur Reaktion herausfordert, da er ihn zur Änderung seiner Haltung bewegen möchte. Cleander verteidigt Caracallas Handeln, er vertritt die Position der Staatsräson, die dem Erhalt des Staates höchste Priorität einräumt. So stellt er die Entscheidung über Recht und Unrecht in das Ermessen des Souveräns, der an keine andere Instanz gebunden ist. „Der Recht und Satzung gibt / hebt offt die Satzung auff“ (III, 483), formuliert Cleander bündig, und: „Die Stat-Sucht wischt das Recht bey allen Völckern auß“ (III, 491). Wenn Cleander den Brudermord zu einer für das Staatswohl notwendigen Tat erklärt – „Die Noth zwingt Fürsten offt was auß der Bahn zu gehn!“ (III, 419) – dann bewegt er sich im Rahmen der Theorie der „prudentia mixta“, die dem Souverän in bestimmten Notstandssituationen die Möglichkeit des gesetzwidrigen Handelns zugesteht.97 In der zeitgenössischen Kontroverse um die Prudentiamixta-Maxime stehen sich der Wunsch nach der Etablierung einer stabilen Herrschaftsform und die Forderung nach einer ethischen Verpflichtung des Fürsten gegenüber. Dieser Zwiespalt spiegelt sich auch in Bodins Souveränitätslehre, die eine Gratwanderung versucht, indem sie einerseits für „prudentia mixta“ eintritt, den Fürsten aber andererseits auf die göttlichen Gebote verpflichten möchte. Cleander greift Argumente des zeitgenössischen Diskurses auf, freilich ohne eine konsistente staatspolitische Position zu vertreten. Vielmehr ist deutlich zu erkennen, daß seine Rede interessengeleitet ist; er bedient sich unterschiedlicher Argumentationsmuster, um Papinian umzustimmen. Zunächst rechtfertigt er den Brudermord ganz im Rahmen der Prudentia-mixta-Lehre als staatserhaltende Tat, unmittelbar darauf aber entschuldigt er ihn als affektgeleitete Kurzschlußhandlung („Er hat in heissem Zorn die harte That vollzogen“, III, 421). 97 Lipsius sprach sich in De Politicorum sive civilis doctrinae libri sex (1595), seiner Grundlegung des absolutistischen Staates, für die prudentia mixta aus. Freilich wollte er nur leichten und mittelschweren Betrug (levis fraus, media fraus) zulassen, schweren Betrug (magna fraus) lehnte er hingegen ab. Eine vergleichbare Differenzierung zwischen schweren und leichten Vergehen bestimmt Papinians Rechtfertigung gegenüber seinem Vater. „Man muß je Fürsten was zuweilen übersehen! (V, 119), gesteht er grundsätzlich zu. In seinem Fall jedoch, so betont er, erlaube die besondere Schwere der Tat („ein Stück ob dem die Welt erzittert“ V, 123) solche Nachsicht nicht.

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Papinian läßt sich davon nicht beeindrucken; er argumentiert stoisch, indem er dem schädlichen Affekt die „Vernunfft“ (III, 422) entgegensetzt. Cleander wendet eine Vielfalt von Strategien an, um Papinian zu überreden: Er appelliert an seine Einsicht und sein Pflichtbewußtsein, stellt ihm das historische Vorbild Senecas vor Augen, der Neros Mord an Britannicus schriftlich rechtfertigte, und sucht sein Verantwortungsbewußtsein zu mobilisieren, indem er ihn an den Kummer der Ehefrau erinnert, an den bevorstehenden Tod des Sohnes, an den drohenden Untergang der gesamten Familie – um am Ende frustriert auszurufen: „Jst denn Papinian durch gar nichts zu bewegen?“ (III, 509). Cleander muß erkennen, daß seine ganze Rhetorik an Papinian abprallt, weil dieser sich in seinem Handeln von übergeordneten Prinzipien leiten läßt. Während Cleander von Argument zu Argument springt, bleibt Papinian unerschütterlich seiner Linie treu. Dem Pragmatismus Cleanders und dem Eigennutz Caracallas – Papinian sieht den Kaiser lediglich um den eigenen „Ruhm und Stand“ (III, 439) besorgt – hält er absolute Instanzen und Werte entgegen. Er beruft sich auf „Wahrheit“ (III, 504), „Ewigkeit“ (III, 496), der „Götter ewig Recht“ (III, 486) und auf das „Gewissen“ (III, 488) als entscheidende ethische Instanz98. Deshalb laufen Cleanders Überredungskünste ins Leere: Papinian ist für eine pragmatisch-situationsgebunde Argumentation unzugänglich, da er sich zu keiner Zeit auf die realen politischen Verwicklungen einläßt, sondern sein Handeln an Prinzipien ausrichtet. Er verschließt sich dem Rechtfertigungsmuster der Prudentia-mixta-Lehre und setzt ihr die Vorstellung eines dem Souverän übergeordneten ,heiligen Rechts‘ entgegen: „ein unerschreckter Geist / Thut willig: was uns nur das Heilge Recht erlaubet“ (V, 258 f.). Papinian sieht sich in erster Linie diesem übergeordneten Recht und erst in zweiter Linie dem Kaiser verpflichtet. Allegorische Repräsentanz findet die übergeordnete lex divina in Gestalt der „[h]eilge[n] Themis“, die Papinian kurz vor seinem Tod als legitimierende Instanz aller weltlichen Rechtssetzung anruft: „die du Sitten / Jns Geblütt hast eingepflantzet; / […] der grimmen Völcker wütten / Durch gemeines Recht umbschantzet; / Und durch diß was du gesetzt / Dein gelibtes Rom ergetzt“ (V, 343 – 348). Themis gewährleistet demnach den übergreifenden Zusammenhang zwischen ewigem und positivem Recht, sie stiftet die staatsrechtlich-politische Ordnung, verbürgt die transzendente Verankerung moralischer Gesetze, 98 „Es wird / wenn alles hin / in den Gewissen stehn“ (III, 488).

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des Völkerrechts und der Gesetze des Staates. Caracalla entfernt sich jedoch durch seine „krumme[n] Gäng“ (V, 230) aus den Bahnen des ,heiligen Rechts‘ und verliert damit den Legitimitätsgrund seines Handelns. Für Papinian hat das zur Folge, daß die Verpflichtung gegenüber dem weltlichen Souverän sich nicht mit der Verpflichtung gegenüber dem ,heiligen Recht‘ vereinbaren läßt. Papinians „Gewissen“ (V, 223) bindet ihn an die übergeordnete Rechtsinstanz der Themis.99 Im Gegensatz zu Catharina kann Papinian zwischen aktivem und passivem Widerstand wählen. Die Heerführer bieten ihm an, den Tyrannen zu stürzen; sie brennen darauf, ihm „[d]eß Caracallen Kopff“ (IV, 384) zu präsentieren. Dabei untermauern auch sie ihre Haltung mit staatsrechtlichen Argumenten: Herr unser Pflicht verstarb durch deß Entleibten Wunden. […] Der ander hat sich selbst der hohen Macht entsetzet. Als Er durch Bruder-Mord Gott / Blutt und Recht verletzet. Man schaw auch auff den Bund: Wer ists der jhn zuriß? […] Der Fürst hat was uns band und hilt nun fast zubrochen. (IV, 396 – 404)

Die Hauptleute legitimieren ihre Bereitschaft zum Sturz des Herrschers, indem sie sich auf eine vertragstheoretische Staatskonzeption beziehen. Sie bezichtigen den Kaiser des Vertragsbruchs; er selbst habe den „Bund“ mit den Untertanen zerrissen und damit die Verpflichtung zum Gehorsam außer Kraft gesetzt. Papinian schließt sich dieser Rechtfertigungsstrategie nicht an, sondern belehrt die Hauptleute im Gegenteil über das Unrechtmäßige ihrer Haltung: Jhr jrrt ach Libst / Jhr jrrt. Der Fürst ists der uns schafft. Gesetzt auch daß Er feil. Ein unbepfählte Krafft Kan zwar (es ist nicht ohn) in tiffste Laster rennen: Doch darff ob seiner Schuld kein Unterthan erkennen. Die Götter sitzen nur (dafern Sie was verbricht Und auß den Schrancken reist) vollmächtig Blut-Gericht. (IV, 405 – 410)

99 Schon zu Beginn des Dramas verweist Papinian auf die bindende Kraft des Gewissens: „Deß strengen Himmels Gabe / Jst diß was in uns wacht / das jhr Gewissen heist; / Das uns von innen warnt / und nagt / und reitzt / und beist“ (I, 224 – 226).

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Hier ist deutlich zu sehen, daß Papinians staatsrechtliches Verständnis nicht auf der Idee einer Vertragsschließung zwischen Untertanen und Souverän beruht. Das Abhängigkeits- und Gehorsamsverhältnis ist in Papinians Augen ein einseitiges und kann daher nicht aufgekündigt werden; nur eine göttliche Instanz darf über den Souverän richten. Gleichzeitig sieht Papinian beide Seiten – Untertanen und Fürst – einer übergeordneten göttlichen Macht unterworfen; allein ihr ist nach seinem Verständnis das Recht der Urteilssprechung vorbehalten. Deshalb lehnt sich Papinian nicht aktiv gegen den Kaiser auf, sondern verweigert sich dessen Forderung, den Riß zwischen Brudermord und göttlichem Recht zu übertünchen. Man hat diese Konstruktion, die lediglich den passiven Widerstand des Leidenden zuläßt, als eindeutige Stellungnahme für Luthers Staatsverständnis gewertet.100 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß Papinians Argumentation insofern von Luthers ,Zwei-Reiche-Lehre‘ abweicht, als sie das ,heilige Recht‘ als umfassende, ,beide Reiche‘ überwölbende Instanz vorstellt. Papinians passiver Widerstand erscheint nicht als eine private Angelegenheit, sondern als Widerstand einer öffentlichen Persönlichkeit, die Unruhe in das Staatswesen trägt, weil sie das alle Rechtsnormen überschreitende Handeln des Souveräns ins allgemeine Bewußtsein rückt. Im Gegensatz zur lutherischen Staatslehre demonstriert der Fall Papinian, wie ihn das Drama entfaltet, daß sich die strikte Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre nicht aufrechterhalten läßt. In Übereinstimmung mit Luthers Auffassung steht die Konzeption des Widerstandsrechts, die freilich an sich problematisch ist. Wie Luther so betrachtet auch Papinian den Souverän als unantastbar. Damit negiert er jeden Handlungsspielraum und verdammt die Menschen zum ohnmächtigen Ertragen einer tyrannischen Herrschaft.101 Im Drama wird das allerdings nicht als Problem reflektiert. Denn die Handlung läßt keinen Zweifel daran, daß die Repräsentanten der weltlichen Macht ihre gerechte Strafe finden werden. So tritt Themis als rächende Instanz auf und so verweist der Reyen der Hofleute, der die dritte Abhandlung beschließt, nicht allein auf die Folterqualen des Gewissens, sondern kündigt ein abschließendes Weltgericht an, das jedem den „längst 100 So schreibt auch Mannack im Kommentar, daß Papinians Haltung dem lutherischen Staatsverständnis entspreche, das „der religiös-moralischen Integrität des einzelnen Untertanen höchste Dignität verlieh“ (FA S. 1018). 101 Peter Michelsen: Vom Recht auf Widerstand in Andreas Gryphius’ „Aemilius Paulus Papinianus“, in: Simpliciana 17, 1995, S. 45 70, hier S. 59.

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verdinte[n] Lohn“ (III, 684) zumessen wird. Die Ausrichtung des irdischen Daseins auf das Jenseits, wie sie auch für die Catharina grundlegend ist, findet sich im Papinian auf den Bereich des Rechts übertragen. Betont wird die begrenzte Reichweite des positiven, von Menschen geschaffenen Rechts: „Die hir das Recht erwischt die strafft es kurtze Zeit; / Dort quält die ewig’ Ewigkeit“ (III, 709 f.). Die für das Märtyrerdrama charakteristische Opposition von Diesseits und Jenseits wird im Papinian konsequent auf dem Gebiet des Rechts durchgespielt. Die Themis erscheint als oberste Instanz im Drama. Sie wird als Göttin exponiert, die im zweiten Reyen „unter dem Klang der Trompeten auß den Wolcken auff die Erden“ (nach II 516) steigt und als transzendente Macht das Geschehen bestimmt. Sie erhält exzeptionellen Rang, indem sie als Autorinstanz, als Begründerin des Trauerspiels aufgerufen wird: Jch werd ein Traur-spil stifften: Das mit gewalt und leid / Wird die bestürtzte Zeit / Erschrecken und vergifften. (II, 525 – 528)

Auch das Ende des Dramas steht im Zeichen der Themis, denn an sie richtet Papinian seine letzten Worte als Gebet (V, 343 – 346). So stirbt er nicht als Märtyrer des Glaubens, sondern als Märtyrer des Rechts.102 Wie das zu bewerten ist, darüber gehen die Forschungsmeinungen auseinander: Kühlmann betont, daß das Drama keinen „spezifisch christlichen Lehrgehalt“ vermittle, sondern die „transhistorische, nicht an den christlichen Aeon gebundene Verbindlichkeit des Naturrechts“103 beglaubige. Ähnlich konstatiert Barner, „daß ein transzendentaler Rechtsbegriff als höchster Normbegriff fungiert“104. Andere halten dem entgegen, man dürfe die Rechtsthematik nicht gegen Glaubensinhalte ausspielen, da der Rechtsbegriff des Dramas dem christlichen Denkhorizont eingepaßt sei. Habersetzer untermauert diese Argumentation, indem er die Deutungsgeschichte der Themis nachzeichnet und darlegt, wie der griechisch-römische Rechtsmythos, der sich um die Göttin Themis rankte, in der christlichen Tradition auf102 „Wir folgen grosser Mann höchst-klagend und gedencken / Das Recht mit deiner Leich und Sohn ins Grab zu sencken“ (V, 541 f.), lauten die letzten beiden, vom Reyen der Frauen vorgebrachten Verse der Tragödie. 103 Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 250. 104 Barner: Der Jurist als Mrtyrer, S. 240.

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gegriffen und zur „themis christiana“ umgedeutet wurde.105 Als Beispiel dafür führt er die Schrift Themis Dea, seu de lege divina (1568) des italienischen Humanisten Stephanus Pighius an. Phigius bestimmt christliche Themis als ewiges und weltumfassendes göttliches Gesetz, als Naturrecht und Gewissensinstanz.106 Deutlich zu erkennen sind die Analogien zu dem im Papinian entfalteten Themis-Verständnis, das sich also durchaus im Rahmen des zeitgenössischen christlichen Denkens bewegte. Auf der Grundlage des Modells der „themis christiana“ deutete Mannack die Themis im Papinian-Drama nicht als Bruchstelle zwischen antik-stoischen und christlichen Vorstellungen, sondern als Integrationskonzept: Themis sorge für die „nahtlose Verknüpfung“ von Märtyrertragödie und politischem Trauerspiel, so daß die „Alternativfrage politisches oder religiöses Drama sich erledigt“107. Ohne Zweifel ist es berechtigt, die Themis-Konzeption als Beispiel für den neustoischen Transformationsprozeß zu verstehen, der antikes Gedankengut dem eigenen, religiös bestimmten Verstehenshorizont einpaßt. Trotzdem scheint mir Mannacks Deutung zu stark harmonisierend, machen doch gerade die Spannungen den Charakter und Reiz des Dramas aus. Gegen Ende der tragischen Handlung kommt es zu einer Engführung von stoischen und christlichen Vorstellungen, durch die der Synkretismus der Konstruktion deutlich zu Tage tritt. Einerseits erscheint Papinian immer mehr als „antike Figur“108, da sein Schicksal 105 Habersetzer: Politische Typologie und dramatisches Exemplum, S. 71 – 82. 106 Der Traktat, gestaltet als Lehrdialog vor einer Statue der Themis, beschreibt Themis als ewige Emanation des unabänderlichen Willens Gottes („Lex aeterna in summa Dei mente“), als das von Gott gesetzte Naturrecht („Themis est ipsa lex aeterna universalis, quam velut edictum perpetuum Deus mundo ac rerum naturae praescripsit“), aber auch als im Menschen verankerte Instanz („lex in mente hominis“). (Stephan Pighius: Themis Dea / seu de lege divina, Antwerpen 1568, S. 190, 61 f., 76, zit. nach Karl-Heinz Habersetzer: Politische Typologie und dramatisches Exemplum. Studien zum historisch-sthetischen Horizont des barocken Trauerspiels am Beispiel von Andreas Gryphius’ „Carolus Stuardus“ und „Papinianus“, Stuttgart 1985, S. 195). 107 FA S. 1020. 108 So vor allem Okko Behrends: „Wie der Sokrates der Apologie für die Gesetze der Polis, die ihn ernährt und gesichert haben, das ungerechte aber formell gültige Urteil auf sich nehmen will, so stirbt dieser Papinian für die Göttin der Gerechtigkeit, der er gedient hat, als Opfer eines Willkürurteils. Und was Sokrates als Bürger und Philosoph getan, wiederholt der Papinian des Dramas als Staatsmann und Jurist“ (Okko Behrends: Papinians Verweigerung oder die Moral eines Juristen, in: Literatur und Recht. Literarische Rechtsflle von der Antike bis

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immer stärker dem des Sokrates angenähert wird. Andererseits werden die Referenzen auf christliche Vorstellungen dichter und intensiver; Papinians stoische „constantia“ zielt unmittelbar aufs Jenseits: „Wer hir beständig steht; trotzt Fleisch und Fall und Zeit. / Vermählt noch in der Welt sich mit der Ewigkeit / Und höhnt den Acheron.“ (IV, 233 – 235). Wie Catharina so löst sich auch Papinian mit der Ausrichtung auf die Ewigkeit109 aus dem Kontext der stoischen Philosophie;110 auch seine Standhaftigkeit erscheint transzendent verankert. Das spricht gegen die Säkularisierungsthese, wie sie in der Nachfolge Benjamins immer wieder vorgebracht wurde. Das Papinian-Drama liefert kein Beispiel für eine von stoischen Vorstellungen angetriebene Emanzipation des Menschen aus religiösen Bindungen, vielmehr läßt sich gerade umgekehrt beobachten, wie christliche Weltdeutungsmuster zur nachträglichen Umdeutung des historischen, nicht-christlichen Stoffes eingesetzt werden. Nicht zu übersehen ist, daß Gryphius sich darum bemühte, den antiken Juristen als anima naturaliter christiana zu zeichnen. So schrieb er seiner Figur, ohne eine Quellengrundlage hierfür zu haben, eine kritische Haltung gegenüber der Christenverfolgung zu (V, 86 – 98). Und der Schluß der Tragödie, so sehr er im Zeichen von Trauer und Rache steht, macht doch auch unmißverständlich deutlich, daß Papinians standhaft ertragenes Leiden im Jenseits entlohnt wird. Papinians Tod wird als ,Neugeburt‘ bezeichnet, die ihm „die Ewigkeit bescheret“ (V, 67); er „[b]esteigt der Himmel Burg“ (V, 442), ihn ruft die „Ewigkeit in jhre Festen“ (V, 540). Das Spezifische der Tragödie liegt gerade nicht darin, daß sie die Traditionen „nahtlos“ verschmilzt, sondern im Gegenteil darin, daß sie den Umdeutungsprozeß vorführt, die christliche Überformung des antiken Stoffes sichtbar macht. Am Ende des Dramas gewinnt ein christlicher Stoizismus Kontur, in dem die christlichen Vorstellungsgehalte insofern dominant erscheinen, als sie dem dramatischen Gein die Gegenwart, hg. von Ulrich Mölk, Göttingen 1996 (Kolloquium der Akademie der Wissenschaften in Göttingen im Februar 1995), S. 243 291, hier S. 246). 109 Schings: Die patristische und stoische Tradition, S. 245. 110 Schings weist in diesem Zusammenhang auf eine Bedeutungsdifferenz des constantia-Begriffs bei Lipsius und Gryphius hin: Lipsius verbindet constantia mit rationaler Affekt-Nihilierung, mit Apathie. Er setzt constantia und tranquillitas animi gleich – der Weise ist jeder Erschütterung enthoben. Er ist von vorneherein gegen alle Schicksalsschläge immun. Auf Gryphs Märtyrerfiguren trifft das nach Schings nicht zu, ihnen ist strikte Apathie fremd. (Vgl. Schings: Die patristische und stoische Tradition, S. 240 f.)

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schehen mit der Hoffnung auf Ewigkeit eine Sinnperspektive eröffnen. Damit nähert sich das Trauerspiel zwar der christlichen Märtyrertragödie an, allerdings ohne bruchlos in ihr aufzugehen. Denn anders als in der Catharina von Georgien knüpfen sich an die stoische constantia im Papinian unterschiedliche Diskurse, die in einem unaufgelöst spannungsvollen Verhältnis zueinander bleiben. Der constantia als einer dem eigenen Gewissen verpflichteten Verhaltensweise gegenüber dem Souverän steht eine constantia gegenüber, die auf die Lossagung von allem Irdischen zielt. Deshalb ist das Drama nicht mit dem Dualismus von Immanenz und Transzendenz zu erfassen, mit dem die Mehrzahl der Forscher operiert. Die Aufnahme unterschiedlicher Traditionen, die Vielfalt der Diskurse schafft eine ideengeschichtliche Konstellation, die durch ein spannungsvolles Nebeneinander gekennzeichnet ist und den geschlossenen Sinnhorizont des barocken Trauerspiels öffnet.

Petrarkismus und Stoizismus: Die Kreuzung konträrer Diskurse in Paul Flemings Liebeslyrik von Jochen Schmidt Flemings Liebeslyrik1 ist eine Spätform der in Italien und Frankreich bereits mehrere Generationen früher kultivierten Mischung von petrarkistischen und antipetrarkistischen Gedichten. Auch für die Überkreuzung petrarkistischer und antipetrarkistischer Elemente in ein und demselben Gedicht gab es schon Muster. Der petrarkistischen Inszenierung unerfüllter Liebe, deren Unglück der Liebende gleichwohl lustvoll auskostet, stellt Fleming in seinen antipetrarkistischen Gedichten die ebenso inszenierte Erfahrung der erfüllten und glücklichen Liebe entgegen. Dem selbstquälerischen Kult innerer Zerrissenheit antwortet die vom Sensualismus der römischen Liebeselegie mitbestimmte Darstellung des Liebesgenusses und die stabilisierende Gewißheit einer festen Bindung, die schon Tibull in seiner ersten Elegie als „foedus aeternum“ gepriesen hatte; statt der Klage kommt die Freude zu Wort; dem von den Petrarkisten topisch be1

Das grundlegende Werk zu diesem Thema hat Hans Pyritz geschrieben. Sein im Jahre 1932 als Band 180 der Reihe PALAESTRA gedrucktes Buch erschien später in einer stark erweiterten Fassung: H.P.: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus, Göttingen 1963. Richard Alewyn, Paul Böckmann und Jörg-Ulrich Fechner (Der Antipetrarkismus. Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik, Heidelberg 1966, S. 73 – 75) haben die Darstellung kritisch eingeschränkt, indem sie ihr biographisches Entwicklungsschema vom Petrarkismus zum Antipetrarkismus mit dem Hinweis in Frage stellten, daß sich petrarkistische und antipetrarkistische Gedichte Flemings auch gleichzeitig finden; ferner indem sie die Perspektivierung der antipetrarkistischen Gedichte Flemings auf die moderne Erlebnisdichtung in Zweifel zogen. Einen informativen Überblick über die petrarkistische Lyrik (mit Einschluß des Antipetrarkismus) gibt Gerhart Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik. Stuttgart 1973 (Sammlung Metzler 119). – Der vorliegende Beitrag ist eine veränderte Fassung meines Aufsatzes Petrarkismus und Stoizismus: Die Kreuzung zweier Diskurse in Paul Flemings Lyrik, in: Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik, hg. von Achim Aurnhammer und Dieter Martin, Tübingen 2006 (Frhe Neuzeit, Bd. 118), S. 211 – 221.

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schworenen Selbstverlust setzt Fleming die Selbstversicherung durch unerschütterliche gegenseitige Treue entgegen. Das Schlüsselwort aller Liebeslyrik, das „Herz“, ist nicht mehr Inbegriff des Unsteten, Schwankenden und der hilflosen Ausgeliefertheit an alle Affekte, sondern ganz im Gegenteil der Sitz der Beständigkeit. Fleming pointiert den konzeptionellen Gegensatz, indem er petrarkistische Formeln und Begriffe auf überraschende Weise umkodiert, so daß sie das petrarkistische Vorstellungsmuster repräsentieren und zugleich konterkarieren. Auf diese virtuose Suspendierung des Petrarkismus weise ich im Folgenden nur gelegentlich hin. Das Erkenntnisinteresse gilt vor allem der noch nicht untersuchten Einbeziehung des stoischen Diskurses, der die antipetrarkistische Tendenz verstärkt und den Gedichten auch eine ethische Dimension verleiht. Den historischen Hintergrund des frühneuzeitlichen Stoizismus, der seine Leitfigur in Justus Lipsius fand und im 17. Jahrhundert weit über das literarisch-philosophische Feld hinaus seine Wirkung entfaltete, bildeten die europäischen Religionskriege, zuletzt der Dreißigjährige Krieg. Wie die Vertreter des Neustoizismus immer wieder selbst bezeugen, sollte das stoische Ethos die Menschen zu Ataraxie und Autarkie, zu constantia und Selbstbefestigung erziehen, um sie gegen das Chaos des Zeitgeschehens wenigstens seelisch zu immunisieren. Die nur durch die Besiegung der Affekte zu erlangende Ataraxie – das war geradezu ein Kontrastprogramm zum Petrarkismus, der den von Affekten zerrissenen Menschen vorführte und am liebsten sogar den Paroxysmus der Affekte zelebrierte. Paul Fleming hatte wie Gryphius und viele andere an der damals führenden europäischen Universität in Leiden studiert, an der Justus Lipsius gewirkt hatte, und er war dort intensiv in die geistige Sphäre des Neustoizismus eingetaucht. Daher lag es für ihn nahe, gerade den Stoizismus zum bevorzugten Medium seines Antipetrarkismus zu machen. Unabhängig von einer solchen Strategie kultivierte Fleming in zahlreichen deutschen und lateinischen Gedichten die stoische Geisteshaltung samt ihrem vor allem durch die SenecaRezeption vermittelten terminologischen Repertoire. Dazu gehören seine berühmte Grabschrift auf sich selbst und sein bedeutendes, in der Tradition des stoischen ,Ad se ipsum‘ stehendes Sonett An sich. Ob erst Fleming Antipetrarkismus und Stoizismus miteinander verquickte oder ob es sich um ein bereits vorgebahntes Verfahren handelt – diese Frage zu beantworten ist eine eigene, noch unerledigte Forschungsaufgabe. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß schon Petrarcas Werk selbst eine dialektische Konstellation von affektbekämpfendem

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Stoizismus und jener affektinszenierenden Methode erkennen läßt, die sich später die petrarkistische Literaturmode einseitig und manieristisch zu eigen machte. Aus den Prosaschriften Petrarcas geht hervor, daß er die stoische Überlieferung intensiv rezipierte. In seiner Hinwendung zu den antiken Autoren, mit der er sich selbst als Begründer des „studium humanitatis“ verstand, gewannen gerade die stoischen Schriften der Antike zentrale Bedeutung. In der stoischen Philosophie fand Petrarca das für ihn fundamentale Problem der Lebensbewältigung und der rechten Lebensführung wenn nicht gelöst, so doch in entscheidender Weise gestellt, und Augustinus und Boethius boten ihm eine christliche Bestätigung. Die für ihn maßgebenden, als geistige Leitfiguren zitierten und sogar zu fiktiven Brieffreunden erhobenen Autoren Cicero und Seneca sind die Hauptinstanzen der stoischen Tradition.2 2

Bezeichnenderweise stellt Petrarca Cicero und Seneca an den Anfang des 24. Buches seiner Epistolae familiares, in dem er „vertraute“ Zwiesprache mit den großen Geistern der alten Welt hält (vgl. jetzt die zweisprachige Ausgabe: Francesco Petrarca: Epistolae familiares XXIV. Vertrauliche Briefe. LateinischDeutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann, Mainz 1999). Oft zitiert er die stoischen Werke Ciceros und Senecas direkt, so in der Schrift De vita solitaria Ciceros Gesprche in Tusculum und Senecas stoische Hauptwerke, die Briefe an Lucilius und die Schrift Von der Seelenruhe (De tranquillitate animi). In seiner vollständig stoisch formierten Abhandlung De remediis utriusque fortunae beruft sich Petrarca immer wieder und ausführlich zitierend ebenfalls auf Cicero und insbesondere auf Senecas Briefe an Lucilius sowie auf die Schrift De tranquillitate animi. Dabei bringt er auch voll die psychagogische und therapeutische Intention des römischen Stoizismus zur Geltung. Als ein charakteristisches Beispiel zitiere ich einen Passus aus dem Kapitel De tristitia et miseria, in dem es wie im ganzen zweiten Teil der Schrift De remediis utriusque fortunae um die Besiegung der durch die mala fortuna hervorgerufenen negativen Affekte geht. Die „Betrübnis der Seele“, die tristitia oder aegritudo animi, ist einer dieser negativen Affekte. Petrarca schreibt: „Um aber (erstens) die ,Betrübnis der Seele‘ – so nennen es die Philosophen – zu vertreiben und (zweitens) die Seelenruhe zurückzubringen, wird es von Nutzen sein zu wissen, was Cicero im dritten Buch seiner Tusculanen zum ersten Punkt [also zur ,Betrübnis der Seele‘] ausführt und was Seneca in seiner Schrift Von der Ruhe der Seele zum zweiten Punkt [also zur Seelenruhe] beibringt“. Und dann folgt die für den Stoizismus insbesondere Senecas so charakteristische therapeutische Wendung – Petrarca fährt fort: „Mir, der ich zu anderem eile und schon das Laufziel sehe, bleibt nicht die Muße zu umfassender Erörterung. Immerhin: soweit es meine Zeit erlaubte, habe ich die Wunde verbunden und auf die Seelenärzte [medici animorum] hingewiesen, die du, wenn dir dies nicht genügt, hinzuziehen kannst“. (Francesco Petrarca: Heilmittel gegen Glck und Unglck. De remediis utriusque fortunae. Lateinisch-deutsche Ausgabe in Auswahl

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Die umfangreichste und bis ins 17. Jahrhundert am weitesten verbreitete, den modernen Leser aber am wenigsten ansprechende Schrift Petrarcas, seine Abhandlung De remediis utriusque fortunae3, ist vollkommen aus dem Problemhorizont stoischen Denkens konzipiert. Ihre Grundstruktur übernahm Petrarca, wie er in der Vorrede an Azzo da Correggio selbst hervorhebt, von der Schrift Senecas De remediis fortuitorum, auf die er schon in seiner Titelformulierung anspielt. Den positiven Affekten („passiones animi“) Hoffnung und Freude sowie den negativen Affekten Furcht und Schmerz läßt er in einem Dialog die Vernunft, die (recta) ratio der Stoiker antworten – auf der einen Seite zügelnd und mäßigend, auf der anderen tröstend. Wie sehr Petrarca selbst bestrebt ist, sich die stoische ratio anzueignen, verrät er in einem kryptischen Wortspiel am Ende seiner Vorrede. Den zweiten Teil seines Namens, den er absichtsvoll von Petracco in Petrarca umgeändert hatte, ließ er immer wieder in seinen Werken an ähnliche lateinische Worte anklingen, so daß nicht bloß ein paronomastisches Spektrum, sondern ein mehrfacher Schriftsinn, eine Polysemie entsteht – ähnlich wie in den bekannteren Wortspielen, die er im Canzoniere mit dem Namen Laura unternimmt. Gegen Ende der Vorrede an Azzo da Correggio also versichert Petrarca, in seinem Werk De remediis werde die Vernunft in der von ihr bewohnten Festung über das feindlich heranstürmende Heer der Affekte die Oberhand behalten – sie sei die „Burgherrin“: „quae vero arci praesidet ratio“ (S. 64). Petrarca unternimmt hier nicht bloß ein stoisch formiertes Wortspiel mit seinem eigenen Namen. Schon in der Tradition verband sich die Vorstellung der Burg (arx) sogar ausdrücklich mit den Stoikern. Cicero sagt in seiner Schrift De divinatione (I 10): „du verteidigst die Burg der Stoiker“ – „arcem stoicorum defendis“. Ähnlich formuliert er in den Tusculanen (II 58): „[…] in eandem arcem confugiendum est“ – „[…] in derselben Burg muß man Zuflucht suchen [vor den Affekten]“. Die Petrarca-Forschung hat diese Herkunft des Namens Petrarca, den der Dichter sich statt seines Geburtsnamens Petracco wählte, bisher nicht erkannt. Sie konnte daher auch nicht die naheliegende Schlußfolgerung ziehen: daß Petrarca damit seine intensive, wenn nicht sogar identifikatorische Befassung mit der stoischen Ethik zum Ausdruck

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übersetzt und kommentiert von Rudolph Schottlaender, hg. von Eckhard Keßler, München 1988, S. 201/203.) Zusammenfassend: Franz Josef Worstbrock: Francesco Petrarca, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 7, hg. v. Kurt Ruh, Berlin 1992, Sp. 471 – 490, hier Sp. 479 – 490, mit weiterführenden Literaturangaben.

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brachte. Das Wortspiel in der Vorrede zu De remediis gewinnt in diesem Zusammenhang eine weitreichende Bedeutung. Am Beginn der gleichen Vorrede beruft sich Petrarca auf Herkules, die Leitfigur stoischer virtus. Im Canzoniere tritt, und das ist auch eine Frage der Gattungsdifferenz, nicht wie in den Prosaschriften die stoische virtus und ratio, sondern die affektive Betroffenheit in den Vordergrund. Aber abgesehen von den Vorstellungsmustern, die aus der Trobadour-Dichtung, aus Dante und dem Dolce stil nuovo in den Canzoniere hereinwirken, relativiert schon das Eröffnungssonett auf programmatische Weise die Sphäre der Affekte. Und trotz deren klarer Dominanz ruft der Canzoniere immer wieder die Gegenkräfte Vernunft und virtus auf den Plan. Er fordert sie durch die Intensität der affektiven Betroffenheit auch indirekt heraus. Seit jeher sind in den stoischen Schriften, auch in denjenigen Petrarcas, die Affekte immer mit im Spiele. Denn erst die affektive Bedrängnis macht die stoische Gegenwehr und die entsprechenden Heilungsversuche notwendig. In einem umgekehrten Größenverhältnis hat auch der Canzoniere sein geistiges Gegenprofil. Der eine Diskurs ruft immer den anderen hervor4, direkt oder indirekt, weil beide in einem strukturell notwendigen dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Angesichts der Extrem-Sonette Petrarcas, die im vielstimmigen Ganzen des Canzoniere nur eine kleine, aber für den sogenannten Petrarkismus maßgebliche Minderheit bilden, ist zu fragen, 4

Dies zeigt sich sogar in metaphorischen Wendungen des Canzoniere, die direkt auf das Repertoire der Stoa zurückgehen. In dem von Opitz an zu zahlreichen Nachgestaltungen anregenden Sonett S’amor non  (Nr. 132) evoziert Petrarca das in der Stoa und insbesondere bei Seneca topisch fixierte Bild vom unerschütterlich durch das stürmische Meer steuernden Schiffer e contrario: Steuerlos treibt das von den Winden hin und her getriebene Ich auf dem offenen Meer: „Fra si contrari venti in frale barca / mi trovo in alto mar senza governo“. Vgl. die stoische Wertung bei Seneca (Epist. 108,37): „In stürmischer Flut muß man das Steuer festhalten, mit dem Meere selbst gilt es zu kämpfen, dem Wind sind die Segel zu entziehen“ – „Tenendum rapiente fluctu gubernaculum, luctandum cum ipso mari, eripienda sunt vento vela“; noch entschiedener Ad Marciam de consolatione 6,3: „Schimpflich ist der Kapitän, dem die Flut das Steuerruder entriß“ – „Turpis est navigii rector cui gubernacula fluctus eripuit“. Bezeichnenderweise schließt Lipsius, De Constantia, seine Ausführungen über die Affekte mit der Feststellung: „Gleich wie ein ledig Schiff durch allerley wind hin und wider im Meer umbgeworffen wird: so gehets auch unserm unbestendigen Gemüte“ ( Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit: De constantia, hg. von Leonard Forster. Faksimiledruck der deutschen Übersetzung, Stuttgart 1965, S. 15).

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ob sie nicht Affekt-Inszenierungen sind, die immer schon aus dem Bewußtsein des Gegendiskurses und aus dem Wissen von dessen Omnipräsenz bei den gebildeten Zeitgenossen unternommen wurden. In der Vorrede zu De remediis bemerkt Petrarca im Hinblick auf die ihm selbst als Muster dienende, aber auch in mancherlei Weise variierte und umakzentuierte Schrift Senecas De remediis fortuitorum, sie sei ja in jedermanns Händen: „Is libellus passim in manibus vulgi est“.5 „Das selb büchlin“, heißt es in der illustrierten deutschen Ausgabe von 1532, zu der Sebastian Brant eine eigene Vorrede beisteuerte, „Das selb büchlin wirt uberal ummzogen in den henden der menschen“.6 Daß Paul Fleming seine antipetrarkistischen Gedichte stoisch einfärbt, dürfte demnach nicht nur mit dem von ihm aufgenommenen und mitgetragenen Neustoizismus, sondern auch mit der genuinen Petrarca-Tradition und deren stoischen Elementen zusammenhängen. Bevor ich Flemings artistisches Verfahren in einigen seiner Gedichte skizziere, gebe ich ein einfaches Beispiel des stoisch eingefärbten Antipetrarkismus. Es stammt von einem Zeitgenossen Paul Flemings, von Johann Rist, den 1644 Kaiser Ferdinand III. zum Dichter krönte. Rists Gedicht ist eine Teil-Kontrafaktur des Petrarca-Sonetts Nr. 132, das Martin Opitz in seinem Sonett Francisci Petrarchae frei übersetzt hatte; Rist erweiterte sie um eine zusätzliche Detail-Kontrafaktur zu Petrarcas nächstem Sonett im Canzoniere (Nr. 133). Während Petrarca die innere Zerrissenheit und Unbeständigkeit des Liebenden thematisiert, der sich wie ein steuerloses Schiff von den Wellen hin und hergeworfen fühlt und orientierungslos dahintreibt, ja den (im 133. Sonett) die Leidenschaft wie Wachs in der Glut schmilzt, negiert Johann Rist in seinem antipetrarkistischen Rollengedicht all diese Vorstellungen. Seine Negationen stellt er unter den stoischen Begriff der ,constantia’, der durch die außerordentlich erfolgreiche Schrift De constantia des Justus Lipsius zu einem Leitbegriff auch für Gryphius wurde, wie bereits der Untertitel seines Trauerspiels Catharina von Georgien zeigt: Oder Bewehrete Bestendikeit. Mit dem Titel Sie rhmet ihre Bestendigkeit kündigt Rist ein 5

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Francesco Petrarca: Heilmittel gegen Glck und Unglck. De remediis utriusque fortunae. Lateinisch-deutsche Ausgabe in Auswahl übersetzt und kommentiert von Rudolf Schottlaender, hg. von Eckhard Keßler. Mit den zugehörigen Abbildungen aus der deutschen Ausgabe Augsburg 1532. München 1988, S. 52. Franciscus Petrarcha: Von der Artzney bayder Glck / des guten und widerwertigen. Neudruck der Ausgabe Heinrich Steiner (Augsburg 1532), herausgegeben und kommentiert von Manfred Lemmer, Edition Leipzig 1984, S. 4.

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Rollengedicht von weiblicher Liebestreue an. Ich zitiere lediglich die ersten Zeilen: Mein Hertz ist nicht von Wachs / mein Hertz ist nicht zugleichen Den Winden / die bald Ost bald West herummer schleichen / Es ist nicht wie ein Schiff / das nach der Wellen Lust Bald hie / bald dort einlaeufft; Ach! mir ist nichts bewust Als nur bestendig seyn. […].7

Von diesem holzschnittartig einfachen Antipetrarkismus heben sich die Gedichte Flemings umso lebendiger ab. Er verwendet stoische Vorstellungen nicht, um die petrarkistischen bloß zu negieren oder zu ersetzen. Doch wie schon in der antipetrarkistischen Grundtendenz stimmt Fleming mit Rist insofern überein, als er nicht etwa auf ein stoisches Bekenntnis zielt. Denn daß beide Poeten gerade Liebesgedichte mit stoischen Vorstellungen durchmischen, widerspricht schon der stoischen Abwehr alles Affektiven. Der Stoizismus hat deshalb die stärkste Leidenschaft, die Liebe, nie im positiven Sinn in sein Wertungssystem einbezogen, sondern von Cicero und Seneca bis zu Montaigne nur die Freundschaft hoch geschätzt. Demnach bleibt im Hinblick auf diejenigen antipetrarkistischen Liebesgedichte, in die Fleming stoische Elemente einstreut, zunächst nur die Folgerung, daß er damit nicht etwa sinnwidrig Liebesdichtung stoisch zu formieren versucht. Vielmehr handelt es sich um eine antipetrarkistische Subversion, in der sich der bloß operativ eingesetzte stoische Diskurs selbst auflöst. Er wird ebenso zum artistisch verfügbaren Spieleinsatz wie die petrarkistischen Vorstellungen. Beide Diskurse, der petrarkistische und der stoische, entgrenzen sich. Das klingt nahezu dekonstruktivistisch, ist es aber nicht, denn klar zeichnet sich das Aussageziel ab, das schon längst durch den europäischen, vor allem den französischen Antipetrarkismus vorgegeben war. Zu nennen ist zunächst die Leitfigur der Pléiade, Joaquim du Bellay. Trotz eigener petrarkistischer Dichtungen verfaßte er als ein „jeu d’esprit“ die antipetrarkistische Schrift  une dame, die er im Jahre 1558 unter dem neuen, programmatischen Titel Contre les ptrarquistes veröffentlichte. Was Du Bellay theoretisch formulierte, löste sein Freund Ronsard im großen Stil dichterisch ein, und dies umso wirkungsvoller, als er auch die zukunftsträchtige Form des Sonetts, das „sonnet régulier“ entwickelte. Obwohl Ronsard noch oft das petrar7

Gedichte des Barock, hg. von Ulrich Maché und Volker Meid, Stuttgart 1980, S. 71.

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kistische Muster übernimmt, ist er in einem entscheidenden Punkt immer wieder Antipetrarkist: Er wendet sich gegen die unerwiderte Liebe in Sonetten, die zunächst den petrarkistischen Liebesdiskurs inszenieren, um ihn dann zu suspendieren.8 Statt die unerfüllte und deshalb zu endlosen Klagen führende Liebessehnsucht Petrarcas und der Petrarkisten zu adaptieren, preisen auch Flemings antipetrarkistische Gedichte die gegenseitige und erfüllte Liebe, die Herzensbindung zweier Liebender, die allenfalls eine vorübergehende äußere Trennung schmerzt, aber die Gewißheit des erotisch erfüllten Wiedersehens schon zum Voraus freudig stimmt. In den beiden antipetrarkistischen Gedichten Flemings, denen ich mich jetzt zuwende, in dem Lied Ein getreues Hertze wissen … und in dem Gedicht Es ist ummsonst / das klagen …, löst die Freude den Schmerz und das Klagen ab. Noch Goethe distanzierte sich vom Kult schmerzlicher Introspektion, den er bei Petrarca fand, mit den Versen Petrarcas Liebe, die unendlich hohe, War leider unbelohnt und gar zu traurig, Ein Herzensweh, ein ewiger Karfreitag.9

Ich werfe zunächst einen Blick auf die in trochäischen Vierhebern geschriebenen Strophen des Liedes Ein getreues Hertze wissen, dessen aus den Anfangsbuchstaben jeder Strophe gebildetes Akrostichon ELSGEN der geliebten Elsabe Niehusen gilt. Ein getreues Hertze wissen / hat deß höchsten Schatzes Preiß. Der ist seelig zu begrüssen / der ein treues Hertze weiß. 5 Mir ist wol bey höchstem Schmertze / denn ich weiß ein treues Hertze. Läufft das Glücke gleich zu zeiten anders als man will und meynt / ein getreues Hertz’ hilfft streiten / 10 wieder alles / was ist feind Mir ist wol bey höchstem Schmertze / 8

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Vgl. hierzu: Klaus W. Hempfer: Intertextualitt, Systemreferenz und Strukturwandel: die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und franzçsischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard), in: Modelle des literarischen Strukturwandels, hg. von Michael Titzmann, Tübingen 1991, S. 7 – 43, hier besonders S. 31 – 37. Sonette XVI, in: Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 1800 – 1832, hg. von Karl Eibl, in: Smtliche Werke, Bd. 2, Frankfurt 1988, S. 259.

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denn ich weiß ein treues Hertze. Sein vergnügen steht alleine in deß andern Redligkeit. Hält deß andern Noth für seine. Weicht nicht auch bey böser Zeit. Mir ist wol bey höchstem Schmertze / denn ich weiß ein treues Hertze. Gunst die kehrt sich nach dem Glücke. Geld und Reichthum das zersteubt. Schönheit läst uns bald zu rücke. Ein getreues Hertze bleibt. Mir ist wol bey höchstem Schmertze / denn ich weiß ein treues Hertze. Eins ist da seyn / und geschieden. Ein getreues Hertze hält. Giebt sich allezeit zu frieden. Steht auff / wenn es nieder fällt. Ich bin froh bey höchstem Schmertze / denn ich weiß ein treues Hertze. Nichts ist süßers / als zwey Treue / wenn sie eines worden seyn. Diß ists / das ich mich erfreue. Und Sie giebt ihr Ja auch drein. Mir ist wol bey höchstem Schmertze / denn ich weiß ein treues Hertze.

Der ausgeprägt liedhafte Refrain „Mir ist wol bey höchstem Schmertze / denn ich weiß ein treues Hertze“ exponiert eines der im Petrarkismus so beliebten Oxymora, die dazu dienen, die „contrari affetti“ und die innere Zerrissenheit des unglücklich Liebenden auszudrücken: das „dolce amaro“, die „dolce pena“ und wie alle die Formeln Petrarcas lauten, die auf das „dulce malum“ in Ovids Amores (II, 9, V. 26), auf Catulls „dulcis amarities“ und letztlich bis zu Sapphos ckuj¼pijqom zurückreichen. Fleming wandelt aber mit antipetrarkistischer Absicht die Schmerzliebe des unglücklich Liebenden ins Gegenteil um: Er konstatiert, daß ihm trotz des Schmerzes, den hier eine lediglich vorübergehende äußere Trennung verursacht, „wohl“ ist, und zwar aus der Gewißheit treuer Liebe. Mit denkbar stärkstem Nachdruck hebt die Schlußstrophe die erfüllte, weil auf Gegenseitigkeit beruhende und durch ein Treueverhältnis besiegelte Liebe hervor. Der Refrain, der mit dem Formelrepertoire des Petrarkismus spielt, kehrt nicht nur prononciert den petrarkistischen Liebesschmerz ins Positive um; nachdrücklich markiert er auch eine Selbstbefestigung, während das lyrische Ich Petrarcas und der Petrarkisten sich immer

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mehr selbst untergräbt. Daß der Refrain am Ende der vorletzten Strophe ein einziges Mal abweicht, kündigt eine entscheidende Pointe an. In diesem vorletzten Refrain heißt es nämlich nicht „Mir ist wol bey höchstem Schmertze“, sondern „Ich bin froh bey höchstem Schmertze“. Dieses „froh“ macht den vorletzten Refrain zum Schwellenvers für die letzte Strophe, in der das lyrische Ich sagt (V. 33): „Diß ists / das ich mich erfreue“. Petrarcas lyrisches Ich und noch mehr dasjenige der Petrarkisten schwelgt im Klagen, stereotyp kehrt das „lamento“ und die Verlautbarung „io piango“ wieder – Flemings lyrisches Ich hingegen versichert, daß es sich freue. Wie der petrarkistische Diskurs wird auch der stoizistische eingesetzt und zugleich unterminiert. Von den beiden Hauptinstanzen Fortuna und Fatum, gegen die sich der stoisch formierte Geist als autark und unerschütterlich zu bewähren hat, erscheint wie in dem stoisch geprägten Sonett An sich alsbald Fortuna, das „Glück“ in seiner doppelten Gestalt. In dem Lied vom treuen Herzen heißt es am Anfang der zweiten Strophe: „Läufft das Glücke gleich zu zeiten anders als man will und meynt / ein getreues Hertz’ hilfft streiten / wieder alles / was ist feind“. Diese Verse stimmen mit der stoischen Forderung überein, man müsse der Fortuna widerstehen – Senecas klassische Losung lautet: „fortunae resistere“. Nicht stoisch ist aber die Berufung auf das „getreue Herz“, denn der stoische Geist bewährt sich, indem er sich als autark erweist. Er beruft sich nicht auf einen andern und schon gar nicht auf das Herz, sondern auf ratio und voluntas. Eine ähnliche Umkodierung des stoischen Diskurses verrät die dritte Strophe. Der Begriff des ,Vergnügens‘ hat bei Fleming noch nicht den heutigen Sinn, sondern den des ,Genügens‘, entspricht also der stoischen ,Autarkeia‘. In diesem Sinne heißt es am Beginn des stoischen Sonetts An sich: „Weich keinem Glücke nicht […] Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid / hat sich gleich wieder dich Glück’ / Ort / und Zeit verschworen“.10 In der dritten Strophe unseres Lieds erscheint zwar wieder dieser Begriff des ,Vergnügens‘, aber er ist nicht selbstbezüglich, sondern wird auf die Beziehung zum, wie es wörtlich heißt, „andern“ übertragen. Zweimal ist prononciert vom „andern“ die Rede: von des „andern Redligkeit“ und „des andern Not“. Damit löst sich der stoische Begriff der Autarkie, indem er noch verwendet wird, auf. Wenn das stoische Muster-Sonett An sich die Selbstermahnung formuliert: „Weich keinem Glücke nicht“, so gilt diese Mahnung nur dem Standhalten des ganz auf sich selbst 10 Paul Fleming: Gedichte, hg. von Volker Meid, Stuttgart 1986, S. 114.

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gestellten Ichs gegenüber der Fortuna. Dieses Nichtweichen, dieses Standhalten meint den stoischen Zentralbegriff der constantia. Das Lied vom treuen Herzen evoziert ihn zwar wieder mit der Formel des Nichtweichens im vierten Vers der dritten Strophe: „Weicht nicht auch bey böser Zeit“, aber hier ist, nachdem vom Treueverhältnis zum „andern“ die Rede war, die Beständigkeit in diesem Verhältnis zum andern gemeint, nicht das stoische Gefestigtsein in sich selbst. Über zwei weitere Strophen hinweg bestätigt sich diese Neudimensionierung der constantia: „Ein getreues Hertze bleibt“, heißt es in der fünften Strophe, und in der sechsten: „Ein getreues Hertze hlt“. Die Hauptpointe des ganzen Gedichts liegt darin, daß die mit dem Leitmotiv des treuen Herzens beschworene Treue mit der constantia identisch wird. Der stoische Diskurs entgrenzt sich hier, und zugleich verschmilzt er mit dem antipetrarkistischen Diskurs. Das andere markant antipetrarkistische Gedicht Es ist ummsonst / das klagen, dessen Akrostichon ELSABE wiederum Elsabe Niehusen gilt, setzt dem petrarkistischen Liebesschmerz, den von ihm hervorgerufenen Klagen und der von Petrarca selbst schon beschworenen „Pein“ (pena) noch entschiedener die Freude entgegen:

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Es ist ummsonst / das klagen / das du umm mich / und ich umm dich / wir umeinander tragen. Sie ist ummsonst / die harte Pein / mit der wir itzt ummfangen seyn. Laß das Verhängnüß walten. Was dich dort ziehrt / und mich hier führt / das wird uns doch erhalten. Diß / was uns itzt so sehr betrübt / ists dennoch das uns Freude giebt. Sey unterdessen meine / mein mehr als ich / und schau’ auff mich / daß ich bin ewig deine. Vertraute Liebe weichet nicht. Hält allzeit / was sie einmahl spricht. Auff alle meine Treue sag’ ich dirs zu / du bist es / du / der ich mich einig freue. Mein Hertze / das sich itzt so quählt /

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hat dich / und keine sonst erwählt. 25 Bleib / wie ich dich verlassen / daß ich dich einst / die du itzt weinst / mit lachen mag ummfassen. Diß soll für diese kurtze Pein 30 uns ewig unsre Freude seyn. Eilt / laufft / ihr trüben Tage / eilt / laufft / vorbey. Eilt macht mich frey von aller meiner Plage. 35 Eilt / kommt ihr hellen Stunden ihr / die mich gewehren aller Zier.

Sofort exponiert das lyrische Ich „das Klagen“ (V. 1) und (in V. 5) die „harte Pein“, aber nur, um dann aus der Gewißheit einer erfüllten Liebe mehrfach seine „Freude“ auszudrücken. Am Ende der zweiten Strophe (V. 12) bringt es diese „Freude“ ebenso zur Sprache wie am Ende der vorletzten, und dazwischen, in der vierten Strophe, reimt sich die Feststellung, daß es sich „freue“ (V. 22), auf den zentralen Begriff der „Treue“. Dabei übernimmt Fleming zwar wieder das petrarkistische Muster der „contrari affetti“, aber nur, um es sogleich aufzulösen. Dem petrarkistischen Schema entsprechend verbindet sich schon am Ende der zweiten Strophe die Betrübnis mit dem Gegen-Affekt der Freude: „Diß / was uns itzt so sehr betrübt / ists dennoch das uns Freude giebt“; in den letzten Versen der vierten Strophe verbinden sich Freuen und Quälen; die fünfte Strophe verdoppelt das Schema: ihre beiden Mittelverse bringen Lachen und Weinen zusammen, die beiden letzten Verse „Pein“ und „Freude“. In dieser vorletzten Strophe erst wird offenkundig, mit welcher Strategie Fleming dieses so eindringlich inszenierte petrarkistische Syndrom antipetrarkistisch unterläuft. Petrarca und die Petrarkisten stellen die sich widerstreitenden Affekte als simultanes Gefühlserlebnis dar, Fleming dagegen löst diese petrarkistische Synchronie in ein zeitliches Nacheinander auf, das dem Leiden an der gegenwärtigen räumlichen Trennung die frohe Gewißheit künftigen Zusammenseins folgen läßt. Nur die Trennung der Liebenden in der Gegenwart verursacht Pein, eben weil sie sich lieben, aber das bevorstehende Wiedersehen wird ihnen Freude bescheren. Der Anfang der vorletzten Strophe signalisiert diesen zeitlichen Aspekt, indem er den Abschied mit dem künftigen Wiedersehen konfrontiert: „Bleib / wie ich dich verlassen / daß ich dich einst / die du itzt weinst / mit lachen mag ummfassen“. Die Schlußstrophe erweitert dann kunstvoll die

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zeitliche Amplitude und erledigt damit definitiv das petrarkistische Affektsyndrom. Den „trüben Tagen“ der Gegenwart, in der die Liebenden getrennt sind, setzt sie im vorletzten Vers die „hellen Stunden“ nach dem künftigen Wiedersehen entgegen. Die kühnste Volte des antipetrarkistischen Duktus plaziert Fleming schon am Beginn des Gedichts. Denn mit dem ersten Vers spannt er einen petrarkistischen Erwartungshorizont auf, um den an die petrarkistische Lesart gewöhnten Leser, der hier als impliziter Leser präsent ist, in die Irre laufen zu lassen. Nach der gängigen petrarkistischen Lesart nämlich besagt der erste Vers „Es ist ummsonst / das klagen“, daß die Liebesklage zu nichts führt, weil die geliebte Frau unerreichbar bleibt. Und auf das gegenseitige Verhältnis bezogen, auf das die folgenden Verse weisen, würde die entsprechende Lesart der vergeblichen Liebesklage zweier Liebender gelten, die für immer einander unerreichbar sind. Doch führt dieses Verständnis, so ergibt sich im weiteren Verlauf des Gedichts, auf eine ebenso gewohnte wie falsche Spur. Fleming, auch sonst ein Meister extremer Figuren, der nicht spart mit Paradoxon und Enthymema, inszeniert hier eine täuschende Erwartung, um damit anschließend den Effekt des Unerwarteten zu erzeugen – in der Sprache der literarischen Rhetorik: ein Aprosdoketon. Dessen Funktion besteht darin, das petrarkistische Schema für den Leser als ein eingefahrenes, nun aber überholtes performativ zu markieren. Ähnlich Unerwartetes produziert der stoische Diskurs am Beginn der zweiten Strophe: „Laß das Verhängnüß walten“. „Verhängnüß“ ist die – noch keineswegs einseitig negativ gemeinte – Übersetzung für „Fatum“. Neben Fortuna ist ja das Fatum die zweite Hauptinstanz, gegen die sich das stoisch formierte Ethos zu bewähren hat. Flemings stoisches Muster-Sonett An sich ruft denn auch, nach dem „Glück“ im ersten Quartett, im zweiten Quartett das Fatum als das naturgesetzlich Bestimmte an, das deshalb akzeptiert werden muß11: „Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren. / Nim dein Verhängnüß an […]“. Das Gedicht „Es ist ummsonst / das klagen“ spielt nach der Aufforderung „Laß das Verhängnüß walten“ sogar auf den bekannten Vers an, den Seneca in seinem stoischen Hauptwerk, in den Briefen an Lucilius zitiert: „Ducunt volentem fata / nolentem trahunt“.12 Denn das lyrische Ich 11 Vgl. hierzu die Analyse von Barbara Neymeyr: Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett ,An sich‘. In diesem Band S. 787 – 805. 12 Epist. 107,11.

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weiß, daß das „Verhängnüß“ es „führt“ (V. 9), ganz dem „ducunt“ im lateinischen Subtext entsprechend. Aber, und das ist nun das Unerwartete, es führt ihn letztlich wieder mit der Geliebten zusammen. Sogar das heroische „Dennoch“, das für die stoische Bewährung vor dem Schicksal in seiner Doppelerscheinung als Fortuna und Fatum charakteristisch ist, bringt Fleming in die zweite Strophe ein, wenn er mit geändertem Richtungssinn vom Fatum sagt: „das wird uns doch erhalten. / Diß / was uns itzt so sehr betrübt / ists dennoch das uns Freude giebt“. Wieder bildet das stoische Sonett An sich den Vergleichstext. Es setzt mit einem doppelten heroischen „Dennoch“ angesichts von Fortuna und Fatum ein: „Sei dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren“.13 In der dritten Strophe des antipetrarkistischen Gedichts Es ist ummsonst / das klagen setzt sich der stoische Diskurs fort. Die Anfangsverse „Sey unterdessen meine / mein mehr als ich“ spielen auf die bis in die Anfänge der Stoa zurückreichende Lehre von der Oikeiosis, von der ,Zueignung‘ und ,Aneignung‘ des eignen Ichs an, die Seneca intensiv thematisiert hatte. Sie intendiert ein stabilisierendes Selbstverhältnis. Eine gelungene Selbstaneignung führt dazu, daß der Mensch, wie Seneca an Lucilius schreibt, ein „securus possessor sui“14 ist und von sich selbst sagen kann, er sei ganz „sein“ („suus“). Vor allem der 20. Brief an Lucilius legt dieses Konzept eindringlich dar. Immer wieder exponiert Fleming in seinen Gedichten die stoische Selbstaneignung, die der Selbstbefestigung dienen soll. Nach dem Vorbild von Senecas lapidarem „suus“ verdichtet er das Oikeiosis-Axiom in dem formelhaft isolierten, aus jedem adjektivischen Bezug gelösten Possessivpronomen „sein“ – im Munde des lyrischen Ichs verwandelt es sich in die ebenso prägnante Abbreviatur „mein“. Am eindrucksvollsten erscheint sie am Beginn der Grabschrift, die Fleming drei Tage vor seinem Tod auf sich selbst schrieb.15 Die Oikeiosis, die den Menschen zum „securus possessor sui“ formiert, richtet sich darin letztlich auf das stoische Autarkie-Ideal: „Ich war an Kunst / und Gut / und Stande groß und reich. / Deß Glückes lieber Sohn. Von Eltern guter Ehren. / Frey; Meine“.16 Eine ganze Reihe petrarkistischer und antipetrarkistischer Gedichte Flemings läßt 13 Paul Fleming: Gedichte, hg. von Volker Meid, Stuttgart 1986, S. 114. 14 Epist. 12,9. 15 Vgl. hierzu Jochen Schmidt: Paul Flemings stoische Grabschrift auf sich selbst. In diesem Band S. 807 – 831. 16 Paul Fleming: Gedichte, hg. von Volker Meid, Stuttgart 1986, S. 112.

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erkennen, daß gerade die aus einer gelungenen Oikeiosis abgeleitete stoische Selbstbefestigung und Autarkie in entschiedener Opposition zu dem petrarkistischen Selbstverlust steht, den der von Amor Verwundete oder sogar sich selbst Entrissene erleidet. Seit Petrarca ist ja die Erfahrung des Selbstverlusts ein topisches Grundelement des Petrarkismus – so wie die auf Autarkie zielende Selbstfindung und Selbstbefestigung ein Grundelement des Stoizismus ist. Beispielhaft zeichnet sich hier ab, warum der stoische Diskurs und der petrarkistische wie geschaffen waren, gegeneinander ausgespielt zu werden; nicht weniger auch, warum sich der stoische Diskurs dem antipetrarkistischen inkorporieren ließ. Aber da Flemings antipetrarkistisches Gedicht Es ist ummsonst / das klagen als Liebesgedicht der stoischen Geisteshaltung prinzipiell nicht kompatibel ist, reiben sich die beiden Diskurse weitgehend aneinander auf. Dabei bildet sich eine neue Mitte heraus, die vom petrarkistischen Liebesunglück ebenso weit entfernt ist wie von der stoischen Affektverneinung. Als Kennwort dieser neuen Mitte fungiert die „Treue“; in ihr kommt das Zentralthema der Liebe aus der Sphäre des Petrarkismus mit dem gerade im Neustoizismus zentralen Thema der constantia doch noch überein. Diese neue Mitte hat Fleming in dem Gedicht Es ist ummsonst / das klagen auch kompositorisch markiert. Am Ende der dritten Strophe, mit der zugleich die erste Hälfte des sechsstrophigen Gedichts endet, wandert die nun nicht mehr stoisch gehärtete constantia in die Sphäre der Liebe ein, wenn es heißt: „Vertraute Liebe weichet nicht. / Hlt allzeit / was sie einmahl spricht“. Am Beginn der zweiten Gedichthälfte schließen sich dann Liebe und constantia im Begriff der Treue zusammen.

Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett An sich 1 von Barbara Neymeyr An Sich. Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren. Weich keinem Glücke nicht. Steh’ höher als der Neid. Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid / hat sich gleich wieder dich Glück’ / Ort / und Zeit verschworen. Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren. Nim dein Verhängnüß an. Laß’ alles unbereut. Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut. Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren. Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an. Diß alles ist in dir / laß deinen eiteln Wahn / und eh du förder gehst / so geh’ in dich zu rücke. Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan / dem ist die weite Welt und alles unterthan.

Schon der Titel dieses im Jahre 1641 erstmals publizierten Gedichts2 steht in stoischer Tradition: An sich (T± eQr 2autºm) hat bereits Marc 1 2

Überarbeitete Version eines bereits publizierten Aufsatzes. Erstveröffentlichung in: Daphnis 31, 2002, S. 235 – 254. Erstdruck des Gedichts: Paul Fleming: Poetischer Gedichten / so nach seinem Tode haben sollen herauß gegeben werden Prodromus. Hamburg 1641. Text nach folgender Ausgabe: Paul Flemings Tetsche Poemata. Lübeck [1646]. Repr. Hildesheim 1969, S. 576. Auch in: Paul Fleming: Deutsche Gedichte, hg. von Volker Meid, Stuttgart 1986, S. 114. Aus der Forschung ist vor allem die Interpretation des Gedichts durch Wilhelm Kühlmann zu nennen: Selbstbehauptung und Selbstdisziplin. Zu Paul Flemings „An sich“, in: Gedichte und Interpretationen. Band 1: Renaissance und Barock, hg. von Volker Meid, Stuttgart 1982, S. 160 – 166. Unergiebig hingegen sind die knappen Darlegungen von Johannes Pfeiffer: Paul Fleming: An sich, in: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Frhromantik, hg. von Benno von Wiese. Düsseldorf 1956, S. 131 – 132. Zur Bedeutung der Stoa für Fleming generell vgl. Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjhrigen Krieg. Leipzig 1989, S. 308 – 380.

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Aurel, der Philosoph auf dem Kaiserthron, seine als Selbstgespräch angelegte Schrift genannt. Seit dem ersten Druck durch den Schweizer Humanisten Conrad Gesner im Jahre 1559 entfaltete sie eine intensive Wirkung über Jahrhunderte. Die Konzeption dieses Werks ist durch das harmonisierende Kosmosvertrauen der mittleren Stoa geprägt; sie unterscheidet sich von der im 17. Jahrhundert dominierenden heroischen Variante in der Tradition Senecas.3 Der Titel wurde in der Barockzeit immer wieder adaptiert. Gryphius verfaßte ein Sonett An sich selbst, und Fleming hatte schon vor seinem deutschen Sonett lateinische Gedichte mit den Titeln Ad se ipsum und Ad se versehen.4 Das programmatische An sich entspricht dem für die stoische Philosophie insgesamt charakteristischen Gestus der Selbstzuwendung und Selbstsorge. Montaigne, der Seneca und Plutarch bewunderte5, formulierte die für die Stoa typische Tendenz zur Verinnerlichung so: „Nous avons une ame contournable en soy mesme“6. Die ad se ipsum gerichteten Verse im letzten Terzett von Flemings Sonett „geh’ in dich zu rücke“ gelten dem Ich als einem Refugium der Innerlichkeit, das Sicherheit und Souveränität verleiht. Auch in Flemings Liebeslyrik ist das ,Selbst‘ von zentraler Bedeutung. Während die petrarkistisch formierten Gedichte den Selbst-Verlust durch die unwiderstehliche Macht der Liebe thematisieren, die das Ich sich selbst entreißt, gestalten die antipetrarkistischen Gedichte7 ein Kontrastprogramm, das mit stoischen Anleihen die durch die Liebe ermöglichte tiefere Selbstfindung reflektiert. So steht das stoische Sonett An sich zugleich in einem übergreifenden, vielfältig ausdifferenzierten Gedankenzusammenhang. 3 4

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Während die aus der alten Stoa stammende rigide Ethik die Affekt-Abtötung bis zur „Apatheia“ fordert, kultiviert die mittlere Stoa die „Sympatheia“, indem sie die kosmische Verwandtschaft aller Wesen betont. Paul Flemings Lateinische Gedichte, hg. von J. M. Lappenberg (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart LXXIII), Stuttgart 1863, Manes Glogeriani IV, Nr. 26 (S. 255) und Epigrammata: Epigrammatum Liber I, Nr. 30 (S. 342); vgl. Epigr. L. V, Nr. 26: Secum und Epigr. L. IX, Nr. 40: Sibi. Vgl. Anna Maria Carpi: Paul Fleming. De se ipso ad se ipsum. Mailand 1973. Vgl. Montaigne: Essais, II 32. Montaigne: Essais, I 39, in: Montaigne: Oeuvres compltes. Textes établis par Albert Thibaudet et Maurice Rat. Paris 1962 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 235. Vgl. hierzu Hans Pyritz: Paul Flemings deutsche Liebeslyrik. Leipzig 1932. Neudruck New York 1967.

Das stoische Ethos in Flemings Sonett An sich

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Besondere Intensität erhält die Selbstermahnung durch die zahlreichen Imperative, die vor allem in den Quartetten dominieren. In den Terzetten werden sie durch zwei Sentenzen eingerahmt: „Sein Unglück und sein Glücke / ist ihm ein ieder selbst“ – „Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan / dem ist die weite Welt und alles unterthan“. Diese beiden Sentenzen erheben einen Anspruch auf prinzipielle Gültigkeit. Der imperativische Gestus der Selbstermahnungen wird durch lapidare Kurzsätze noch intensiviert. Da sich die Autonomie des Subjekts in einem Widerstand gegen äußere Störfaktoren allererst zu bewähren hat, sind solche Selbstermahnungen notwendig. Schon im doppelten „dennoch“ des ersten Verses zeichnet sich das Moment der Konfrontation ab. Gefährdet ist die Autonomie des Ich vor allem durch Affekte, mithin durch die äußeren Konstellationen, die sie hervorrufen. Weil der Mensch durch seine direkten emotionalen Reaktionen innerlich abhängig zu werden droht, soll er seine Geistes- und Willenskräfte dagegen mobilisieren: Die stoische Haltung ist nicht als fester Habitus verfügbar, sondern muß in immer neuen heroischen Anstrengungen allererst errungen werden. Da ein entsprechendes Ethos der steten Selbstdisziplinierung bedarf, ist der von Fleming aus der stoischen Tradition übernommene Duktus der Ermahnung viel mehr als bloß eine rhetorische Form. Seneca, der für Fleming und den barocken Stoizismus überhaupt wichtigste Repräsentant der stoischen Geisteshaltung, praktiziert diese Strategie der Ermahnung in seinen Epistulae morales, indem er ein Du anspricht, das auch für das eigene Ich steht. Ähnlich wie Fleming in seinen imperativischen Selbstanreden rückt schon Seneca seine brieflichen Ermahnungen in die Nähe eines Befehls. Ausdrücklich analogisiert Seneca den Nutzen, den man durch einen Befehl hat, mit der Hilfestellung durch eine Ermahnung („Si imperio proficitur, et admonitione“).8 Und er fährt fort: „Ergo si recta actio virtuti necessaria est, rectas autem actiones admonitio demonstrat, et admonitio necessaria est. Duae res plurimum roboris animo dant, fides veri et fiducia: utramque admonitio facit“ („Wenn also das rechte Handeln für die sittliche Voll8

Senecas Werk Ad Lucilium epistulae morales (künftig abgekürzt als Epist.) wird zitiert nach Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. 5 Bände, hg., übersetzt und eingeleitet von Manfred Rosenbach, Darmstadt 1980 – 1989. Bd. 1 – 2: Dialoge. Bd. 3 – 4: Ad Lucilium epistulae morales. Bd. 5: De clementia, De beneficiis. – Epist. 94,44.

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kommenheit notwendig ist, rechte Handlungen aber die Ermahnung zeigt, ist auch Ermahnung notwendig. Zwei Dinge verleihen der Seele am meisten Kraft: Vertrauen auf die Wahrheit und Selbstvertrauen: beides bewirkt Ermahnung“).9 Dem stoischen Denken entsprechend steht Flemings Sonett im Spannungsraum von Fortuna und Fatum. Die gedankliche Konzeption bildet sich konturenscharf in der strophischen Struktur ab. Das erste Quartett konzentriert sich auf Fortuna; das Wort ,Glück‘ im zweiten Vers („Weich keinem Glücke nicht“) und im vierten Vers („hat sich gleich wieder dich Glück‘ / Ort / und Zeit verschworen“) ist nicht im Sinne des modernen Glücksbegriffs zu verstehen, sondern als Äquivalent zur lateinischen ,Fortuna‘. Fortuna gilt als Inbegriff des Unkalkulierbaren, Zufälligen und Instabilen; sie beschert sowohl Glück als auch Unglück, ist also ambivalent. Das zweite Quartett in Flemings Gedicht gilt dem Fatum, der vorherbestimmten Notwendigkeit, die er als „Verhängnüß“ bezeichnet.10 Die Terzette heben die Fortuna im souveränen ,Selbst‘ des autarken und autonomen Subjekts auf. Während das zur Selbständigkeit gelangte Ich das bloß Zufällige der Fortuna durch die Wendung ins eigene Innere zu überwinden vermag, kann es die Herrschaft des Fatums durch die Herrschaft über sich selbst zwar nicht brechen, aber doch immerhin neutralisieren. Das letzte Terzett pointiert den Gedankengang, indem es das Ethos der Selbst-Beherrschung ins Spiel bringt. 9 Seneca: Epist. 94,45 – 46. 10 Trotz dieser Differenz waren die Begriffe ,Fatum‘ und ,Fortuna‘ in der römischen Kaiserzeit eng miteinander verflochten. Vgl. Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Gçttin des Glcks im Wandel der Zeiten. München/Berlin 1997, S. 18 – 19. Die allegorische Fortuna-Gestalt als ambivalente Schicksalsmacht fand im Laufe der Jahrhunderte in Bild- und Textüberlieferung einen facettenreichen Ausdruck. Sofern Fortuna als eine unbeständige, unberechenbare und unbeeinflußbare Macht aufgefaßt wird, als Ursache für das zufallsbedingte Auf und Ab im Leben des Menschen, liegt bereits eine Verschmelzung der ursprünglich positiv konnotierten römischen Wunsch- und Glücksgöttin mit der griechischen Schicksalsgöttin Tyche vor. Fortuna-Tyche galt als Personifikation des unkalkulierbaren blinden Zufalls (vgl. Meyer-Landrut S. 12 – 26). In bildlichen Darstellungen erscheint die Göttin Fortuna oft mit einem den materiellen Wohlstand repräsentierenden Füllhorn in der linken und einem Steuerruder in der rechten Hand – als Attribut der Herrscherin über die Meere und über die Welt schlechthin. Häufig ist das Ruder an eine Kugel gelehnt, die entweder Fortunas Macht über den Erdball oder ihre Unbeständigkeit und Wankelmütigkeit symbolisiert, vor allem dann, wenn Fortuna auf einer Kugel steht (vgl. Meyer-Landrut S. 179).

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Die Thematik der Fortuna ist im Barock allgegenwärtig.11 Im religiösen Horizont entspricht ihr die Unbeständigkeit, ,Eitelkeit‘ und Nichtigkeit des Irdischen. Autoren wie Gryphius versuchten mit dem Verdikt über sie den Menschen per negationem auf das Ewige auszurichten.12 Fleming hingegen läßt in seinem Gedicht An sich keine solche Tendenz erkennen. Denn hier gewinnt das Subjekt angesichts der unbeständigen oder sogar feindlichen Fortuna nicht durch Gott Orientierung und Halt, sondern allein durch den Blick ins eigene Innere, der ihm zu genuinem Selbstbewußtsein verhilft.13 Nicht in Gott, sondern in sich selbst findet das Ich eine feste Position. Sie garantiert dann auch Beständigkeit, Constantia, gegenüber dem Unbeständig-Wechselhaften der Fortuna. Während der Mensch in der religiösen Tradition als heteronom, mithin als abhängig von einer transzendenten Instanz begriffen wird und nur im Bewußtsein seiner Hinwendung zum Jenseits Constantia zu gewinnen vermag, erscheint er in Flemings stoisch konzipiertem Sonett zur Autonomie bestimmt: Er soll ganz er „selbst“ werden. In vielfältigen Formulierungen hatte bereits Flemings antikes Vorbild Seneca dieses Programm entworfen. Seinem Freund Lucilius schreibt er, absolute Freiheit („absoluta libertas“), also Autonomie, bestehe darin, über sich selbst vollkommene Gewalt zu haben („in se ipsum habere maximam potestatem“).14 – Flemings Echo im letzten Terzett lautet: „Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan […]“. Im Rückgriff auf die Oikeiosis-Theorie der griechischen Stoa, die Theorie der ,Zueignung‘ und ,Selbstaneignung‘, fordert Seneca immer wieder mit Nachdruck ein stabilisierendes Selbstverhältnis. Nur derjenige kann mit stoischer Ruhe in die Zukunft blicken, der ein 11 Vgl. hierzu Gottfried Kirchner: Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs. Stuttgart 1970. Zur Fortuna im stoischen Kontext vgl. Wilfried Barner: Die gezhmte Fortuna. Stoizistische Modelle nach 1600, in: Fortuna, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1995 (Fortuna Vitrea Bd. 15), S. 311 – 343. Vgl. im gleichen Band auch den Beitrag von Nicolette Mout: Trost im Unglck? Justus Lipsius und Fortuna (S. 295 – 310). 12 Vgl. Ferdinand van Ingen: Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen 1966. 13 Auch Goethes Gedicht Seefahrt steht in dieser stoischen Tradition. Vgl. dazu meinen Aufsatz im vorliegenden Sammelwerk. 14 Seneca: Epist. 75,18. Zur Oikeiosis vgl. die Abhandlung von Maximilian Forschner in diesem Werk.

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„securus possessor sui“ ist.15 Einen seiner Briefe eröffnet Seneca mit der Erklärung: „Wenn es dir gut geht und du dich für wert hältst, eines Tages dein Eigentum zu werden, freue ich mich“ („Si vales et te dignum putas, qui aliquando fias tuus, gaudeo“) 16 ; einen anderen beschließt er mit den Worten: „Opto tibi tui facultatem“ („Ich wünsche dir Verfügung über dich selbst“).17 Den 75. Brief läßt er mit der Sentenz enden: „inaestimabile bonum est suum fieri“ („Ein unschätzbares Gut besteht darin, Eigentum seiner selbst zu werden“).18 Indem Seneca das Thema der ,Selbstaneignung‘ wiederholt am Anfang oder am Ende seiner Briefe exponiert, unterstreicht er seine besondere Bedeutung. Fleming adaptiert dieses Verfahren Senecas, indem er die auf die SelbstKonstitution konzentrierten Aussagen der beiden einzigen Sentenzen seines Gedichts in den abschließenden Terzetten plaziert: „Sein Unglück und sein Glücke / ist ihm ein ieder selbst“ und „Wer sein selbst Meister ist […]“. Von Anfang an ist die Auseinandersetzung mit Fortuna und Fatum auf dieses Ende hin perspektiviert. In der gesamten stoischen Überlieferung gilt die Autarkie als Unabhängigkeit von Fortuna: sowohl von Glück als auch von Unglück. In Senecas klassischer Formulierung: „Quando continget contemnere utramque fortunam […]?“ („Wann wird es gelingen, beides zu verachten: Glück und Unglück?“) 19 So weit geht Fleming nicht; das erste Quartett in seinem Sonett wirkt defensiver: „Weich keinem Glücke nicht […] und acht es für kein Leid / hat sich gleich wieder dich Glück / Ort / und Zeit verschworen“. Aber Fleming hält an der stoischen Überzeugung fest, die Seneca in einem anderen Brief an Lucilius formuliert: „Valentior enim omni fortuna animus est“ („der Geist des Menschen ist stärker als alles Glück“).20 Unter dieser Prämisse Senecas formuliert auch Fleming seine Imperative. Ja, mit seiner Aufforderung, der Fortuna nicht zu weichen, zitiert er nahezu wörtlich den römischen Philosophen, nach dessen Überzeugung der Geist so gekräftigt werden kann, daß er die Schläge der Fortuna unbesiegt hinnimmt („animus conrobari […], ut fortunae ictus invictus excipiat“). Der Fortuna nicht zu weichen, sondern ihr zu wiSeneca: Epist. 12,9. Seneca: Epist. 20,1. Seneca: Epist. 32,5. Seneca: Epist. 75,18. Seneca: Epist. 71,37. Vgl. auch Epist. 93,4 sowie 76,21, wo Seneca gerade in der Geringschätzung („contemptu“) der Fortuna die Virtus erblickt. 20 Seneca: Epist. 98,2. Vgl. auch Cicero: De officiis 3,56.

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derstehen, betrachtet er als die Leistung der Vernunft, der „ratio perfecta“: Sie allein hält dem Schicksal stand („stat contra fortunam“).21 Damit erschließt sich auch der weitere stoische Diskurs, der für die frühe Neuzeit durch die 1468 erstmals gedruckte Schrift des Petrarca De remediis utriusque fortunae maßgeblich formiert worden war.22 Flemings Postulat, der Fortuna nicht zu weichen, setzt voraus, daß er der Ratio und der Virtus eine solche Fähigkeit prinzipiell zutraut. Sein Gedicht An sich, das auf das autarke und autonome ,Selbst‘ zielt, basiert also auf einem entsprechenden Selbstverständnis des Subjekts als conditio sine qua non. Es ist nach dem Ideal des Weisen formiert, der gemäß der stoischen und neustoischen Auffassung nicht nur über geistige Überlegenheit verfügt, sondern sich auch durch Seelenstärke (fortitudo) auszeichnet. Mithilfe seiner Ratio und Virtus vermag er der Fortuna standzuhalten.23 Seneca schreibt: „Sapiens quidem vincit virtute fortunam“.24 In seiner Schrift De constantia sapientis bezeichnet er die Virtus des Weisen als frei, unverletzlich, unveränderlich und unerschütterlich („libera est, inviolabilis, immota, inconcussa“).25 Flemings Gedicht formuliert den Appell, dem Ethos des stoischen Weisen zu entsprechen. Dazu gehört wesentlich die Autarkie, also die Unabhängigkeit von Fortuna als dem Inbegriff des Äußerlich-Zufälligen. In diese Richtung weist schon der Imperativ der ersten Strophe „Vergnüge dich an dir“, der nicht etwa zu einem idyllisch ,vergnügten‘ Lebensgenuß, sondern – dem älteren Sprachgebrauch gemäß – zum 21 Seneca: Epist. 92,2. Zur stoischen Devise ,fortunae resistere‘ vgl. Gerda Busch: Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca, in: Seneca als Philosoph, hg. von Gregor Maurach, 2. Aufl. Darmstadt 1987 (Wege der Forschung, Bd. 414), S. 53 – 94. 22 Die lateinische Erstausgabe des zwischen 1354 und 1366 entstandenen und auch schon handschriftlich sehr weit verbreiteten Werks erschien in Straßburg. Zu den deutschen Übersetzungen vgl. Joachim Knape: Die ltesten deutschen bersetzungen von Petrarcas ,Glcksbuch‘. Bamberg 1986. Vgl. auch die zweisprachige Auswahlausgabe: Francesco Petrarca: De remediis utriusque fortunae. Übersetzt und kommentiert von Rudolf Schottlaender. Bibliographie von Eckhard Keßler. München 1975. 23 Petrarca adaptierte auch die seit der antiken Stoa etablierte Opposition von Virtus und Fortuna. Vgl. hierzu: Klaus Heitmann: Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit. Köln/Graz 1958. 24 Seneca: Epist. 71,30. Für diese Auffassung finden sich in Senecas Werken zahlreiche Belege, vgl. z. B. Epist. 99,22; 85,37 – 40; 71,8; 78,16; 99,32 („contra fortunam tolleres animos et omnia eius tela“); 104,29. 25 Seneca: De constantia sapientis 5,4. Analog: Epist. 59,18.

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Gengen an sich selbst auffordert: zur Autarkie und damit zur Unabhängigkeit von allen äußeren Einflüssen. Seneca attestiert dem Weisen, daß er sich selbst genug ist („se ipso contentus“),26 daß er nicht von Sachfremdem abhängt und nicht mit der Gunst des Schicksals oder eines Menschen rechnet („Non enim ex alieno pendet nec favorem fortunae aut hominis expectat“).27 Deshalb findet der Weise sein Glück ganz im eigenen Inneren. Bei diesem Glück handelt es sich nicht um fortuna (wie im ersten Quartett von Flemings Sonett), sondern um felicitas oder beatitudo. Mit der Sentenz am Anfang des ersten Terzetts: „Sein Unglück und sein Glücke / ist ihm ein ieder selbst“ folgt Fleming exakt der Konzeption Senecas, der in den Epistulae morales über das innerliche Glück schreibt, daß es die Seele verlassen würde, wenn es von außen käme: in ihr entsteht es („Domestica illi felicitas est; exiret ex animo, si intraret: ibi nascitur“).28 Und am Anfang des 98. Briefes kontrastiert er das fragile Glück des Menschen, der von Äußerlichkeiten abhängig ist, mit der anhaltenden Freude, die von innen stammt („ex se ortum“).29 Flemings Sentenz „Sein Unglück und sein Glücke / ist ihm ein ieder selbst“ entspricht exakt der Formulierung Senecas: „Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas ducit beataeque ac miserae vitae sibi causa est“ („Stärker nämlich als alles Glück ist der Geist des Menschen, und in beide Richtungen führt er selbst seine Dinge und ist sich eines glücklichen und eines elendigen Lebens Ursache“).30 Aus dieser Einsicht zieht Fleming im letzten Terzett seines Sonetts die Konsequenz, und zwar durch die Forderung, sich nicht auf die bloß äußerlich-zufällige Fortuna auszurichten, sondern sich nach innen zu begeben: „und eh du förder gehst / so geh‘ in dich zu rücke“. Laut Seneca bedarf das wahre Glück keiner externen Hilfsmittel: Es wird im Innern gepflegt und besteht ganz aus sich selbst („ex se totum est“).31 Seiner Schrift De tranquillitate animi zufolge kommt es auf die Abkehr

26 27 28 29 30 31

Seneca: Seneca: Seneca: Seneca: Seneca: Seneca:

Epist. 9,15. Epist. 72,4. Epist. 72,4. Epist. 98,1. Epist. 98,2. Epist. 9,15.

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von allen Äußerlichkeiten an; nur so ist seelische Harmonie zu erlangen.32 Daß die Absage an die Fortuna zugunsten einer zur Autonomie führenden Wendung nach innen, zum Selbst, in der stoischen Tradition von zentraler Bedeutung ist, erhellt auch aus dem nach Senecas Abhandlungen wirkungsreichsten stoischen Text, aus der im 6. Jahrhundert entstandenen Schrift De consolatione philosophiae des Boethius; deren zweites Buch widmet sich ganz der Abwertung der Fortuna durch die (stoische) „Philosophia“. „Warum also, o ihr Sterblichen“, läßt Boethius seine allegorische Figur der Philosophia sagen, „sucht ihr draußen ein Glück, das in euch liegt? Irrtum und Unwissenheit verwirren euch. Ich will euch kurz den Angelpunkt des höchsten Glückes zeigen. Ist dir etwas kostbarer als du selbst? – Nichts, wirst du sagen. Wenn du also deiner mächtig wärest, würdest du besitzen, was du weder jemals verlieren willst noch Fortuna dir rauben kann.“33 Nicht immer unterscheidet die stoische Tradition terminologisch exakt zwischen Fortuna und Fatum, und die Übersetzung durch das deutsche Wort ,Schicksal‘ kann die präzise begriffliche Differenz leicht verwischen: Genau genommen bezeichnet Fortuna (Tyche) die Oberflächenstruktur der Wirklichkeit, das Zufällige und Äußerliche, Fatum dagegen die Tiefenstruktur des naturgesetzlich Notwendigen, das in kausaler Funktionalität alles bestimmt und oft mit dem Logos gleichgesetzt wird, der das Weltganze als einheitlichen Lebenszusammenhang durchwaltet, oder sogar mit der (pantheistisch gedeuteten) göttlichen Vorsehung.34 Infolgedessen kann man zwar der Fortuna widerstehen, nicht aber dem Fatum. Als das naturgesetzlich Gegebene muß man es gemäß der Maxime „secundum naturam vivere“ durch die 32 Seneca: De tranquillitate animi 14,2: „Utique animus ab omnibus externis in se revocandus est: sibi confidat, se gaudeat, sua suspiciat, recedat quantum potest ab alienis, et se sibi applicet“. 33 Eigene Übersetzung, nach Boethius: Consolationis Philosophiae Libri quinque. II 4,30: „Quid igitur, o mortales, extra petitis intra vos positam felicitatem? Error vos inscitiaque confundit. Ostendam breviter tibi summae cardinem felicitatis. Estne aliquid tibi te ipso pretiosius? Nihil, inquies. Igitur si tui compos fueris, possidebis, quod nec tu amittere umquam velis nec fortuna possit auferre.“ 34 Zur stoischen Philosophie vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. 2. erweiterte Aufl. Darmstadt 1995. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 2 Bände. Göttingen 1943/47. 4. Aufl. 1970. Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, hg. von Heinz Heimsoeth. 17. Aufl. Tübingen 1980. S. 140 – 168.

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Vernunft akzeptieren. Diese antike Fatum-Vorstellung erfuhr im Neustoizismus eine intensive Rezeption. Verschiedene Lehrmeinungen zum Thema Fatum erörtert Justus Lipsius in seiner einflußreichen Programmschrift De constantia, die zahlreiche Zitate aus den Schriften der römischen und der griechischen Stoiker enthält. Das erste der beiden Bücher dieses Werks kulminiert in mehreren Kapiteln über das Fatum. Daß Fleming die Begriffe ,Fatum‘ und ,Fortuna‘ keineswegs koinzidieren läßt, geht aus den kategorialen Differenzierungen in den beiden Quartetten hervor. Im zweiten Quartett, das sich auf das „Verhängnüß“, mithin auf das Fatum konzentriert, ist der zeitliche Aspekt relevant. Er bestimmt die gesamte Strophe und läßt erkennen, wie genau Fleming die Positionen der stoischen Philosophie reflektiert und welche Prägnanz dadurch jede einzelne seiner Aussagen erhält. Überlieferten Zeugnissen zufolge lehrte Chrysipp, einer der Hauptvertreter der griechischen Stoa, daß die ,Heimarmene‘, das terminologisch fixierte griechische Pendant zum römischen ,Fatum‘, der ,Logos des Kosmos‘ und damit Ursprung alles Seienden ist.35 Cicero, der zu den wichtigsten Vermittlern der griechischen Stoa gehörte und als Klassiker der Latinität eine herausragende Rolle auch für ihre Rezeption in der frühen Neuzeit spielte, hatte eine Schrift mit dem Titel De fato verfaßt. Auch in seiner wirkungsreichen Abhandlung De divinatione reflektierte er das Problem des Fatums. Hier präsentiert er zunächst die naturphilosophische Definition, derzufolge die Heimarmene mit dem Kausalnexus identisch ist, der naturgesetzlich alles bestimmt36 : „Fatum autem id appello, quod Graeci eRlaql´mgm, id est ordinem seriemque causarum, cum causa causae nexa rem ex se gignat“ („Fatum nenne ich aber das, was die Griechen Heimarmene nennen: die Ordnung und Reihenfolge der Ursachen, wo der Kausalnexus etwas aus sich hervorbringt“). Anschließend leitet Cicero von der kausalen Determination zur temporalen Dimension über, und zwar mit dem Argument, die Natur bringe aus den in der Vergangenheit liegenden Ursachen, den „causae efficientes“, die Zukunft hervor. Cicero betont, 35 Stobaeus: Eclog. I 79,1 in: STOICORUM VETERUM FRAGMENTA. Ed. Ioannes ab Arnim. 4 Bde. Stuttgart 1902 – 1924. Nachdruck Stuttgart 1964 (Künftig zitiert als SVF). Vol. II, 264, 18 – 21. Vgl. auch Xaver Stalder: Formen des barocken Stoizismus. Der Einfluß der Stoa auf die deutsche Barockdichtung – Martin Opitz, Andreas Gryphius und Catharina Regina von Greiffenberg. Bonn 1976, S. 17. 36 Cicero: De divinatione I 55, 125; SVF Vol. II, 266,12 ff.

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das Fatum sei nicht eine Ausgeburt des Aberglaubens, sondern eine naturgesetzliche Angelegenheit („ut fatum sit non id quod superstitiose, sed id quod physice dicitur“). Dann entfaltet er, der Definition Chrysipps entsprechend, die drei zeitlichen Dimensionen des Fatums, das dadurch den naturgesetzlichen Kausalzusammenhang übergreift: als ewiger Grund der Dinge, aus dem das Vergangene und das Gegenwärtige entstanden sind und das Zukünftige hervorgehen wird („fatum […] causa aeterna rerum, cur et ea quae praeterierunt facta sint, et quae instant fiant, et quae sequentur futura sint“).37 Fleming wurde vermutlich durch Cicero oder durch eine der Darstellungen der stoischen Philosophie inspiriert, die schon zu seiner Zeit verbreitet waren.38 Die drei zeitlichen Dimensionen des Fatums integriert er in das zweite Quartett seines Sonetts, indem er sie auf den vom Zeitbewußtsein mitbestimmten Affekthaushalt des Menschen bezieht und ihn der Kontrolle durch ein stoisches Ethos unterwirft. Stoischen Prinzipien folgend, verbindet er naturphilosophische Vorstellungen mit ethischen Konzepten: Der erste Vers des zweiten Quartetts zielt auf eine Neutralisierung der Affekte, und zwar mit der Begründung, daß alles grundsätzlich durch das Fatum vorherbestimmt ist, das auch die Dimension der Vergangenheit einschließt: „Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.“ Daraus resultiert die zentrale Forderung, das Fatum zu akzeptieren: „Nim dein Verhängnüß an.“ Ihr entspricht die Haltung des stoischen Weisen. In seinem Gedicht In grooß Neugart der Reussen wählt Fleming eine analoge Formulierung, in der er zugleich die zeitliche Dimension des Fatums betont und den Bezug zum Weisen ausdrücklich herstellt: „Ein Weiser dient der Zeit. Nimmt sein Verhängnüß auff / wie es die Hand ihm beut“. Mit dieser Aussage und mit dem Imperativ „Nim dein Verhängnüß an“ im Sonett An sich spielt Fleming wohl auf die berühmten Verse aus dem griechischen Zeushymnus des Stoikers Kleanthes an, die Seneca in der lateinischen Übersetzung Ciceros zitiert: „Ducunt volentem fata, nolentem trahunt“.39 Seneca leitet daraus das Programm der Schicksalsergebenheit ab, die den „magnus animus“ des Weisen auszeichnet.40 37 Cicero: De divinatione I 55, 126. SVF Vol. II, 266, 17 – 20. 38 Zu nennen ist hier vor allem Justus Lipsius: Manuductionis ad stoicam philosophiam libri tres, Lucio Annaeo Senecae aliisque scriptoribus illustrandibus. Zu Lipsius und seinem philosophischen Kontext: Jason Lewis Saunders: Justus Lipsius. The Philosophy of Renaissance Stoicism. New York 1955. 39 Seneca: Epist. 107,11: „Den Wollenden führt das Schicksal, den Nichtwollenden zieht es.“

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In expressiver Wiederaufnahme des Allheitsaspekts aus der Formulierung „halt alles für erkohren“ pointiert der Imperativ „Laß‘ alles unbereut“ die Vergangenheitsdimension des Fatums. Wenn alles „erkohren“, mithin unumgängliches Fatum ist, dann kann auch in der Retrospektive auf die Vergangenheit nichts als verfehlt erscheinen. Im Allzusammenhang der Dinge, den nach stoischer Lehre das Fatum durch den Kausalnexus bestimmt, ist jedes Ereignis notwendig. Zugleich markiert die Selbstermahnung „Laß‘ alles unbereut“ die Differenz des stoischen Denkens gegenüber dem Christentum, zu dem wesentlich die entgegengesetzte Aufforderung gehört: letamoe?te, „denkt um!“ Obwohl Fleming zahlreiche religiöse Gedichte verfaßte41, folgt er in seinem Sonett An sich und in seiner Grabschrifft so weitgehend dem stoischen Diskurs, daß er in eine markante Opposition zur christlichen Grundüberzeugung von der Sündhaftigkeit des Menschen gerät. Schon das Ideal des durch Autonomie und Souveränität ausgezeichneten stoischen Weisen widerspricht prinzipiell dem christlichen Menschenbild. Flemings Selbstaufforderung „Laß‘ alles unbereut“ steht im Horizont der stoischen Konzeption des Fatums und adaptiert zugleich ein wichtiges Prädikat des Weisen, der in der stoischen Überlieferung aufgrund seiner souveränen Einsicht und Lebenshaltung die menschliche Vollkommenheit repräsentiert. Weil er über alle menschlichen Irrtümer und Fehler erhaben ist, hat er auch nie etwas zu bereuen, zumal er weiß, daß alles Wesentliche durch das Fatum bestimmt ist. Diese Auffassung ist schon für die ältere Stoa in griechischen Texten bezeugt.42 Später referiert Cicero die Meinung Zenons, des Begründers der Stoa, der Weise brauche nichts zu bereuen („sapientem […] nullius rei paenitere“).43 Unter Rekurs auf Zenons Position erinnert Seneca daran, daß einen Weisen seine Tat niemals reut („numquam sapientem facti sui paenitere“) und daß er seine Entscheidungen auch nicht revidiert.44 Welche Bedeutung dieses Thema schon vor Fleming in der frühneuzeitlichen Rezeption der Stoa hatte, zeigt einer der eindrucksvollsten Essais Montaignes, der eine profunde Selbstanalyse bietet. Er 40 Seneca: Epist. 107,12. 41 Vgl. hierzu: Anna Maria Carpi: La lirica religiosa di Paul Fleming. In: Studi di letteratura religiosa tedesca in memoria di Sergio Lupi. Florenz 1972, S. 315 – 351. 42 Vgl. SVF I 16,32; I 17,8. 43 Cicero: Pro Murena, Kap. 61. 44 Seneca: De beneficiis IV 34,4.

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trägt den Titel Von der Reue 45 und reflektiert zustimmend die Position der Stoiker. Dabei beruft sich Montaigne gemäß der stoischen Argumentation auf das Fatum, dessen Kausalnexus alles Geschehen notwendig erscheinen läßt, so daß die Ordnung der Dinge auch in Vergangenheit und Zukunft fixiert ist. In diesem Gedankengang reflektiert auch Montaigne die zeitlichen Dimensionen des Fatums, das Bedauern und Reue im Hinblick auf die Vergangenheit unangebracht erscheinen läßt: „En tous affaires, quand ils sont passés, comment que ce soit, j’ay peu de regret. Car cette imagination me met hors de peine, qu’ils devoyent ainsi passer: les voylà dans le grand cours de l’univers et dans l’encheineure des causes Stozques; vostre fantasie n’en peut, par souhait et imagination, remuer un point, que tout l’ordre des choses ne renverse, et le passé, et l’advenir“.46 Auf die Vergangenheitsdimension des Fatums in Flemings Imperativ „Laß‘ alles unbereut“ folgt die Hinwendung zu der ebenfalls vom Fatum bestimmten Gegenwart: „Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut“. In dem auf das Fatum konzentrierten zweiten Quartett richtet sich abschließend der Blick in die Zukunft: „Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren“. Nicht von der Hoffnung schlechthin ist hier die Rede, sondern von dem, was das sich selbst als Du ansprechende Ich vernünftigerweise hoffen kann. Denn das Fatum beruht auf der naturgesetzlichen Verkettung der Ursachen und entspricht damit dem Logos als immanenter Weltvernunft. Die Terzette eröffnet Fleming mit der einzigen Frage des Gedichts: „Was klagt / was lobt man doch?“ Ihr kommt eine doppelte Funktion zu. Erstens spitzt sie das in den Quartetten imperativisch Geforderte resümierend zu: Wenn man sich über die Fortuna souverän erhebt und alles notwendigerweise Geschehende als Fatum hinzunehmen vermag, dann besteht weder Anlaß zu ,klagen‘ noch zu ,loben‘. Die rhetorische Frage: „Was klagt / was lobt man doch?“ umschließt durch die Polarität von Klage und Lob implizit den gesamten Bereich der Affekte und 45 Montaigne: Essais III, 2: Du repentir. 46 Ebd., in: Montaigne: Oeuvres completes, Textes établis par Albert Thibaudet et Maurice Rat, Paris 1962 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 793: „In allem, was der Vergangenheit angehört, was es auch sei, empfinde ich wenig Bedauern. Denn die Vorstellung, daß es so geschehen mußte, entlastet mich: Es entspricht dem großen Gang des Universums und der von den Stoikern konstatierten Verkettung der Ursachen; eure Vorstellung vermag weder durch Wunsch noch durch Einbildungskraft irgendetwas zu verändern, sei es in der Vergangenheit oder in der Zukunft, ohne daß die ganze Ordnung der Dinge einstürzt.“

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korrespondiert dadurch mit dem Beginn des zweiten Quartetts: „Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.“ Die zweite Funktion dieser rhetorischen Frage besteht offensichtlich darin, in Gestalt der Terzette Antworten zu provozieren und ihnen durch den sentenzhaften Charakter besonderes Gewicht zu verleihen. Das gilt schon für die erste dieser Sentenzen: „Sein Unglück und sein Glücke / ist ihm ein ieder selbst“. Schon im ersten Quartett stand die Thematik der ambivalenten Fortuna im Vordergrund. Hier ist mit ,Glück‘ im Gegensatz zur bloß äußerlichen Fortuna allerdings das innere Glück gemeint, das die stoischen Texte meist als felicitas oder beatitudo bezeichnen. Entsprechendes gilt für das ,Unglück‘ als sein negatives Pendant. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang das mehrfach hervorgehobene ,Selbst‘. Die sentenzhafte Verallgemeinerung reicht über das individuelle Ich hinaus: „ein ieder“ hat Glück und Unglück in sich „selbst“ und ist daher autonom. Eine Radikalisierung erfährt diese typisch stoische Autonomie-Behauptung durch den anschließenden Imperativ „Schau alle Sachen an“ und durch die Aussage „Diß alles ist in dir“, die das Selbst als ein allumfassendes, ja universelles definiert. Nicht allein durch die Wendung nach Innen kommt also die Autonomie des Ich zustande, sondern auch durch seine „alles“ umspannende Kapazität und mentale Kompetenz. Hier tritt eine der Paradoxien des stoischen Weisen hervor, die schon die antiken Stoiker geradezu systematisch traktierten: Einerseits erweist sich der Weise als souverän, autark und autonom, weil er aufgrund seiner Bedürfnislosigkeit, die sich auch in der Freiheit von Sorgen und Wünschen zeigt, immer schon „alles“ hat. Andererseits aber wird ihm dennoch „alles“ im objektiven Sinn zugeschrieben, weil er dem Logos und dem Nomos entspricht, der das Weltganze vollkommen durchwaltet. Auf diese Vorstellung greift Fleming mit seiner Aufforderung zurück: „Schau alle Sachen an. / Diß alles ist in dir“47. Die Autarkie und Autonomie des stoischen Weisen, der als Leitbild die gesamte Selbstansprache des Gedichts bestimmt, besteht demzufolge sowohl in der Eigenständigkeit des ,Selbst‘, das die Terzette exponieren, als auch in einer ebenso auffällig pointierten Totalität. Ja, Identität wird hier sogar als Totalität definiert. ,Alles‘ (,omnia‘) vereint schon nach der 47 Wilhelm Kühlmann bezieht dieses Zitat „auf die Korrespondenz von Mikrokosmos und Makrokosmos“ (vgl. Anm. 1: S. 164). Gemäß der stoischen Konzeption setzt sich der Mensch durch vernunftgemäßes Handeln „in Einklang mit dem weltdurchwaltenden Logos“ (ebd.).

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antiken Überlieferung der stoische Weise in sich. Zu den Grundtexten des Neustoizismus in Flemings Zeit gehört die stoisch geprägte Schrift De finibus bonorum et malorum, in der Cicero den stoischen Weisen durch die paradoxe Aussage charakterisiert: „recte eius omnia dicentur, qui scit uti solus omnibus“.48 An anderer Stelle schreibt Cicero: „omnia, quae ubique essent, sapientis esse“.49 Der spätantike Kompilator Diogenes Laertius referiert die stoische Ansicht, den Weisen komme „alles“ zu (t_m sov_m d³ p²mta eWmai), weil ihnen in außerordentlicher Weise der Bezug zum Nomos gegeben sei.50 Der letzte Imperativ zieht die Konsequenz aus allem Vorhergehenden: „laß deinen eiteln Wahn / und eh du förder gehst / so geh‘ in dich zu rücke“. Im Zusammenhang mit der Feststellung, daß alles im Innern sei, und der Aufforderung, in sich selbst „zu rücke“ zu gehn, kann mit dem „eiteln Wahn“ nur der Irrtum gemeint sein, das Glück sei in der äußeren Wirklichkeit zu finden. Erst aus dieser falschen Vorstellung entstehen die Wünsche und Intentionen, die zur Selbstentfremdung des Menschen führen. Als Sammelbegriff für derartige Tendenzen, die Fleming als „eiteln Wahn“ bezeichnet, verwendet die stoische Philosophie das Wort dºna, opinio. Ursprünglich war damit nur gemeint, daß der wahrhaft Weise sich nicht auf bloße Meinungen jenseits des bestimmten Wissens und der vernünftigen Gewißheit einläßt.51 Darüber hinaus bezeichnet ,opinio‘ aber auch Vorurteile, realitätsferne Wahnvorstellungen und auf Äußerlichkeiten fixierte Wünsche. In den Epistulae morales beruft sich Seneca auf ein Diktum Epikurs: „Si ad naturam vives, numquam eris pauper: si ad opiniones, numquam eris dives“ („Wenn du nach der Natur lebst, wirst du niemals arm sein: wenn nach Wunschvorstellungen, wirst du niemals reich sein“).52 In einem anderen Brief an Lucilius stellt er fest, daß wir öfter unter einer Vorerwartung leiden als unter der Wirklichkeit („saepius opinione quam re laboramus“).53 Seneca sieht die Menschen von wahnhaften Illusionen bestimmt, vor allem von der Faszination durch Überflüssiges, ,Eitles‘. Er glaubt gegen die Vorurteile (opiniones) der ganzen III 75; SVF III 27. Acad. Pr. II 136; SVF III 156,12. Diogenes Laertius VII 125; SVF III 154,22 f . Vgl. die Stellensammlung SVF I 16,29; 16,32; 17,1: „sapientem nihil opinari“; 17,7 f. 52 Seneca: Epist. 16,7. 53 Seneca: Epist. 13,4. 48 49 50 51

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Menschheit die Stimme erheben zu müssen.54 Gegen eine solche wahnhafte Verfallenheit an Äußerliches formuliert Fleming den Imperativ: „und eh du förder gehst / so geh‘ in dich zu rücke“. Auch diese Ermahnung korrespondiert mit Senecas Überzeugung: er fordert einen Geist, der sich von Äußerlichkeiten abkehrt und dem eigenen Wesen zuwendet („animum ab externis ad sua reversum“).55 Eine noch größere Bedeutung als in der antiken Stoa erhält der ,Wahn‘ im Neustoizismus, nicht zuletzt bei dessen Leitfigur Justus Lipsius, auf den Fleming einen rühmenden Nachruf dichtete.56 Der wirkungsmächtigste Text des frühneuzeitlichen Stoizismus, die Schrift De constantia des Humanisten Justus Lipsius, die 1584 erstmals erschien, 1599 unter dem Titel Von der Bestendigkeit auch in deutscher Sprache publiziert wurde und zusammen mit zahlreichen Übersetzungsauflagen 76 Ausgaben hatte, setzt sich ausführlich mit dem ,Wahn‘, der ,Opinio‘, auseinander. Die Definitionen in den grundlegenden Anfangskapiteln machen deutlich, in welchem kategorialen Horizont die ,Opinio‘ steht. Der hier entwickelte begriffliche Kontext, den Flemings Gedicht mit dem Begriff des ,Wahns‘ beim zeitgenössischen Leser evozierte, bedarf heute einer historischen Rekonstruktion. Erst durch die Einordnung in eine Hierarchie von Definitionen und Werten erhält der ,Wahn‘ sein konzeptionelles Profil, das zugleich einen markanten Kontrast zu anderen Begriffen erkennen läßt. Den obersten hierarchischen Rang nimmt bei Lipsius die Constantia ein, die Standhaftigkeit, die er als „eine rechtmäßige und unbewegliche Stärke des Gemüts“ definiert, „die von nichts Äußerlichem oder Zufälligem hinweggehoben oder unterdrückt wird“.57 Der Stellenwert des ,Wahns‘ erhellt daraus, daß Lipsius ihn unmittelbar im Anschluß an diese Definition des Titelbegriffs ,Constantia‘ thematisiert: Unter 54 Seneca: Epist. 87,5: „Contra totius generis humani opiniones mittenda vox erat: ,Insanitis, erratis, stupetis ad supervacua, neminem aestimatis suo“ („Verrückt seid ihr, in die Irre geht ihr, betäubt seid ihr angesichts von überflüssigen Dingen, niemanden schätzt ihr nach seinem Wesen ein“). 55 Seneca: Epist. 94,72. 56 Vgl. Paul Flemings Lateinische Gedichte, hg. von J. M. Lappenberg. Stuttgart 1863 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart LXXIII), S. 280: „Justi Lipsii, viri inimitabilis“. 57 Justus Lipsius: De constantia. Von der Standhaftigkeit: Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann. Mainz 1998, S. 26/28: „CONSTANTIAM hic appello, RECTUM ET IMMOTUM ANIMI ROBUR, NON ELATI EXTERNIS AUT FORTUITIS, NON DEPRESSI“.

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,Constantia‘ versteht er eine innere Festigkeit des Gemüts, die nicht auf einem Wahn, sondern auf der rechten Vernunft basiert („recta Ratione“).58 Demnach erhält der ,Wahn‘ (Opinio) seine begriffliche Kontur durch den Gegenbegriff der ,rechten Vernunft‘ (recta Ratio). Und da die recta Ratio die Basis der Constantia ist, bildet die Opinio, der Wahn, die schlimmste Gefahr für die Constantia. Ausführlich beschreibt Lipsius das zerstörerische Potential des ,Wahns‘, der aus der Sphäre des Körpers und der Sinne kommt, allem Höheren widerstreitet, ja Vernunft und Standhaftigkeit untergräbt. Er ist „verworfen und gemein […]. Er ist auch zu nichts nutze, ist ungewiß, betrügerisch, rät zu nichts Gutem, urteilt nicht gut und nimmt dem Gemüt vor allem die Standhaftigkeit und Wahrhaftigkeit. Heute begehrt er etwas, morgen verachtet er es; er tut nichts aus rechtmäßigem Urteil, sondern ist nur in allen Dingen dem Leib und den Sinnen zu Willen. Und so wie das Auge, wenn es durch einen Nebel oder durch Wasser sieht, die Dinge falsch bemißt, so tut es auch das Gemüt, das durch die Wolken des Wahns sieht. Der Wahn ist, wenn du es recht bedenkst, der Vater allen Übels. Er ist der Urheber unseres konfusen und verwirrten Lebens. Daß uns die Sorgen plagen, kommt von ihm. Daß uns die Affekte immer wieder ablenken, kommt von ihm. Daß uns die Laster befehligen, kommt von ihm. Deshalb: so wie diejenigen, die die Tyrannei aus der Bürgerschaft entfernt haben wollen, vor allen Dingen die Festung beseitigen und zerstören, so müssen auch wir, wenn wir ernsthaft nach einem gesunden Gemüt streben, dieses Kastell der Wahnvorstellungen schleifen.“59 In der Schlußsentenz „Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan / dem ist die weite Welt und alles unterthan“ läßt Fleming sein Sonett kulminieren. Die ausgeprägte antithetische Struktur 58 Lipsius: ebd., S. 28/29. 59 „ideoque abiecta & vilis, non erigitur, non attollitur, nec altum aliquid aut aethereum spectat. Vana eadem, incerta, fallax, male consulens, male iudicans Constantia inprimis animum spoliat & Veritate, Hoc cupit hodie, cras spernit: hoc probat, hoc damnat: nihil iudicio, sed corpori sensibusque gratificans omnia & indulgens. Atque vt oculus, qui per nebulam aut aquam inspicit, res metitur falso modo: sic animus, qui per Opinionis nubem. Haec homini, si consideras, malorum mater: haec auctor in nobis confusae & perturbatae vitae. Quod curae nos exerceant, ab hac est: quod vitia nobis imperent, ab ista. Itaque vt ij qui Tyrannidem sublatam e civitate volunt, tollunt ante omnia evertuntque arcem: sic nobis, si serio ad Bonam mentem pergimus, deijciendum castellum hoc Opinionum“ (ebd., S. 36/38).

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des Gedichts, mit der formal die zumeist harten Zäsuren in der Mitte der alexandrinischen Verse, also nach jeweils drei von insgesamt sechs Jamben, korrespondieren, mündet im letzten Verspaar in einen harmonisierenden Duktus: Die Zäsuren werden durch die Konjunktion ,und‘ elegant überspielt. Die Sentenz greift die Akzentsetzungen der vorausgehenden Verse auf: einerseits die Konzentration auf das ,Selbst‘ als das Wesentliche, das „ein ieder selbst“ in sich trägt, andererseits die Beziehung zu ,allem‘, die zuerst in den Imperativen „halt alles für erkohren […] Laß‘ alles unbereut“ betont wurde. Sie erscheint in den zusätzlichen Aufforderungen „Schau alle Sachen an. / Diß alles ist in dir“ potenziert: Weil in der Innerlichkeit des zur Autonomie berufenen Menschen bereits „alles“ vorhanden ist, erfährt er es nicht mehr als das äußerliche Ziel seiner Wünsche. Während es dem im ,Wahn‘ befangenen Subjekt als erstrebenswert erschien, verliert es für den, der „sein selbst Meister ist“, an Bedeutung, weil er alle Affekte, nicht zuletzt alles Wünschen und Begehren domestiziert. Da er sich selbst beherrscht, kann er auch über alles andere souverän verfügen. Dieses Ethos eines autarken und autonomen Ich ist das eigentliche Ziel des Gedichts. Auch damit steht Flemings Sonett An sich in der stoischen Tradition, die nicht nur Autarkie und Autonomie propagiert, sondern für den stoisch formierten ,Geist‘ des Weisen zugleich Souveränität beansprucht: Sofern er Herrschaft („dominium“) über alles hat, kommt ihm ein singulärer Rang zu. Seneca schreibt in seinen Epistulae morales: „Hunc [animum] inponere dominio rerum omnium licet, hunc in possessionem rerum naturae inducere ut sua orientis occidentisque terminis finiat deorumque ritu cuncta possideat“.60 In einem anderen Brief heißt es lapidar: „ omnium est, supra omnia est“ („Herr über alles ist er, über allem steht er“).61 In der Retrospektive auf Flemings Sonett An sich erscheint das stoische Ethos, zu dem sich das lyrische Ich durch seine imperativische Selbstansprache zu formieren versucht, als eine ideale Wunschvorstellung. Sie orientiert sich am Leitbild des stoischen Weisen, das die Konzepte der antiken Stoa und die Positionen des Neustoizismus als utopische Idee bestimmt. Da sie in der Lebensrealität nahezu uner60 Seneca: Epist. 92,32: „Den Geist kann man zum Herrn aller Dinge einsetzen, man kann ihn zum Besitzer der Natur machen, so daß sein Reich vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang reicht und er nach Art der Götter alles besitzt.“ 61 Seneca: Epist. 104,24.

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reichbar ist, kann von einem stoischen Ethos nicht im Sinne eines konstant verfügbaren Habitus die Rede sein. Vielmehr bedarf das in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna nach Souveränität und Autonomie strebende Subjekt der steten Selbstermahnung und voluntativen Anspannung. Der heroische Gestus von Flemings Gedicht ist maßgeblich durch das Ethos der römischen Stoiker geprägt, insbesondere durch Seneca, gewinnt zugleich aber eine neue Authentizität angesichts der traumatischen Erfahrungen im Dreißigjährigen Krieg. Ähnlich wie schon in den theoretischen Schriften des Neustoizismus erscheint auch bei Fleming der Rückzug auf ein autonomes, in sich selbst gefestigtes Ich als einzige Sicherheit – in einem antagonistischen Reflex gegen das durch äußere Lebensumstände drohende Chaos.

Eine stoische meditatio mortis: Paul Flemings Grabschrift auf sich selbst von Jochen Schmidt Herrn Pauli Flemingi der Med. Doct. Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht in Hamburg / den xxiix. Tag deß Mertzens m. dc. xl. auff seinem Todtbette drey Tage vor seinem seel: Absterben. Ich war an Kunst / und Gut / und Stande groß und reich. Deß Glückes lieber Sohn. Von Eltern guter Ehren. Frey; Meine. Kunte mich aus meinen Mitteln nehren. Mein Schall floh überweit. Kein Landsmann sang mir gleich. Von reisen hochgepreist; für keiner Mühe bleich. Jung / wachsam / unbesorgt. Man wird mich nennen hören / Biß daß die letzte Glut diß alles wird verstören. Diß / Deutsche Klarien / diß gantze danck’ ich Euch. Verzeiht mir / bin ichs werth / Gott / Vater / Liebste / Freunde. Ich sag’ Euch gute Nacht / und trette willig ab. Sonst alles ist gethan / biß an das schwartze Grab. Was frey dem Tode steht / das thu er seinem Feinde. Was bin ich viel besorgt / den Othem auffzugeben? An mir ist minder nichts / das lebet / als mein Leben.1

I Poetische Grabschriften waren im Barock ein beliebtes Genre.2 Das poetisierte Epitaphium, dessen Tradition weit in die griechische Antike zurückreicht, ist eine Facette aus dem großen Spektrum der für die 1

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Paul Fleming: Tetsche Poemata, Lübeck [1646], Nachdruck Hildesheim 1969, S. 670 [künftig: Tetsche Poemata]. Auch in: Paul Fleming: Gedichte, hg. von Volker Meid, Stuttgart 1986, S. 112. Für wertvolle Anregungen zu den folgenden Ausführungen danke ich Dieter Martin und Bernhard Zimmermann. Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel: Der Tod des Dichters und die Unsterblichkeit seines Ruhms. Paul Flemings stoische Grabschrift auf sich selbst, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 123, 2004, S. 161 – 182. Vgl. hierzu: Wulf Segebrecht: Steh, Leser, still! Prolegomena zu einer situationsbezogenen Poetik der Lyrik, entwickelt am Beispiel von poetischen Grabschriften und

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frühe Neuzeit charakteristischen Gelegenheitsgedichte. Zumeist galten sie den privaten Hauptstationen des menschlichen Lebens: Geburt, Hochzeit, Tod; ferner großen öffentlichen Anlässen wie Friedensschlüssen oder Festen; endlich auch ,Gelegenheiten‘ im weiteren Sinne, darunter den Hauptstationen des Kirchenjahres, den Tageszeiten und Jahreszeiten. So ist das einzelne Gelegenheitsgedicht immer schon ein Exemplar eines bestimmten und bekannten Genres, in dem Stereotype verwendet und Variationen wahrgenommen werden. Noch Johann Christian Günther (1695 – 1723) hat am Ende der Barockzeit und an der Schwelle zu einer subjektiv gestimmten und schließlich auf Originalität ausgehenden Lyrik die Kasualpoesie gepflegt, und Paul Fleming selbst schrieb in dem kurzen Zeitraum seines Lebens (1609 – 1640) Hunderte von Gelegenheitsgedichten aller Art.3 Der Grabschrift, dem Epitaphium,4 steht das Begräbnisgedicht nahe, das Epicedium. Während dieses sich allerdings an eine Trauergemeinde richtet und dem feststehenden Schema: Lob des Verstorbenen, Klage, Trost (laudatio, lamentatio, consolatio) folgt,5 beschränkt sich das Epi-

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Grabschriftenvorschlgen in Leichencarmina des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52, 1978, S. 230 – 268. Segebrecht führt zahlreiche Einzelbeispiele und auch Sammlungen barocker Grabschriften an. Er verfolgt die Ablösung von der Zweckform und die Strategien der Poetisierung und Fiktionalisierung. Beispiele bietet auch der Band: Das Zeitalter des Barock: Texte und Zeugnisse, hg. von Albrecht Schöne (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse, Bd. 3), München 1963, 3. Aufl. 1988, S. 727 – 731, Flemings Sonett ebd., S. 719. Um nur einige der bedeutenderen Beispiele aus seinen Tetschen Poemata zu nennen: Hochzeitsgedichte: Auff ihr Verbndniß, Auf H. Johann Friedrich Schrçters und Marien Magdalenen Weinmans Hochzeit, Gedichte Auff des … Herrn Reineri Brochmans … und der Erbarn … Jungfrawen Dorotheen Temme / Hochzeit; Gedichte auf Todesfälle: Auf H. Georg Glogers … Ableben, ber Herrn Martin Opitzen … sein Ableben; Gedichte auf Namenstage und Neujahrstage; Gedichte auf die Stationen seiner großen Reise nach Rußland und Persien, so An die große Stadt Moskaw / als er schiede, Auff den lustigen Flecken Rubar in Gilan, nicht zuletzt das Nowgorod-Gedicht In grooß Neugart der Reussen. In seinen lateinischen Gedichten hat Fleming immer wieder die Bezeichnung „Epitaphium“ als Überschrift verwendet. In seiner Teutschen Rede-bind und Dicht-Kunst von 1679 hält Sigmund von Birken das Dispositionsschema folgendermaßen fest: „In den Leich-Gedichten oder Epicediis, ist hauptsächlich dreyerlei zu beobachten / des Verstorbenen Lob / die Klage / und der Trost für die Hinterbliebenen“ (Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1679, Hildesheim / New York 1973, S. 226). Zum Epicedium ausführlich: Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und

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taphium meistens auf das Lob des Verstorbenen. Handelt es sich um große Männer, dann gehört zu den Topoi der Gedanke des Fortlebens durch dauernden Ruhm, der sich allerdings nicht in der laudatio erschöpfen muß, sondern auch die consolatio einschließen kann. Zu den Grabgedichten auf große Männer zählen auch diejenigen auf bedeutende Dichter, in denen der Ruhm eine besondere Rolle spielt, weil ihn die Fortdauer des Werks verbürgt. Schon von ihrem Verwendungszweck her mußten Grabgedichte im Wortsinn ,lapidar‘, wie in Stein gemeißelt sein. Oft haben sie daher epigrammatischen Charakter. Ursprünglich war das Epigramm6 häufig geradezu synonym mit einer Grabschrift, denn unter 1p¸cqalla verstanden die Griechen zuerst nur das, was dieser Begriff, wörtlich übersetzt, bedeutet: eine ,Aufschrift‘. Solche kurzen und prägnanten ,Aufschriften‘ befanden sich vorzugsweise auf Weihegeschenken und Grabmälern. Das berühmteste Epigramm der griechischen Überlieferung ist erstmals im fünften vorchristlichen Jahrhundert bei Herodot bezeugt (hist. 7. 228): eine Grabschrift auf die im Abwehrkampf der Griechen gegen die Perser bei den Thermopylen gefallenen Spartiaten. Bezeichnenderweise enthält die in byzantinischer Zeit zusammengetragene große Sammlung griechischer Epigramme, die im 16. und 17. Jahrhundert weit verbreitete Anthologia Graeca, ein eigenes Buch mit Grabschriften, das schon auf eine analoge antike Sammlung zurückgeht.7 Auch die Geschichte des lateinischen Epigramms beginnt mit

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deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18, 1974, S. 89 – 147. Zahlreiche Beispiele befinden sich sowohl in Flemings Tetschen Poemata wie in seinen lateinischen Gedichten, in denen er auch oft die Gattungsbezeichnung „Epicedium“ als Überschrift wählt. Eine weitausgreifende und gut fundierte, wenn auch sozialgeschichtlich von ideologischen Vorurteilen bestimmte Darstellung bietet Walter Dietze: Abriß einer Geschichte des deutschen Epigramms, in: Walter Dietze: Erbe und Gegenwart. Aufstze zur vergleichenden Literaturwissenschaft, Berlin und Weimar 1972, S. 247 – 391; einen informativen und auch zahlreiche Spezialforschungen anführenden Überblick gibt Wilfried Barner: Vergngen, Erkenntnis, Kritik. Zum Epigramm und seiner Tradition in der Neuzeit, in: Gymnasium 92 (1985), S. 350 – 371. Zusammenfassend und mit ausführlicher Bibliographie: Peter Hess: Epigramm, Stuttgart 1989. Die Anthologia Graeca ist in zwei verschiedenen Textzeugen überliefert. Um 980 entstand die größere Sammlung, die nach ihrem Aufbewahrungsort Heidelberg benannte Anthologia Palatina mit 3700 Epigrammen. Am Ende des 13. Jahrhunderts stellte der Mönch Maximos Planudes in Konstantinopel die Anthologia Planudea zusammen, die 2400 Epigramme enthält und in ihrem 3. Buch die Grabschriften (Epitymbia) versammelt. Sie allein lag zu Flemings Zeit ge-

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Aufschriften auf Grabmälern: Zu den ältesten Zeugnissen gehören die ,elogia‘ (Epitaphien) auf den Sarkophagen der Scipionen, die im Jahre 1780 an der Via Appia entdeckt wurden. Während in der Antike das elegische Distichon das bevorzugte Metrum des Epigramms war, aber auch Vierzeiler und andere Formen in Frage kamen, wählten die Dichter des 17. Jahrhunderts nicht selten das Sonett als epigrammatische Form8 und nach dem Vorbild französischer Poetiken des 16. Jahrhunderts bestimmten auch bekannte Barockpoetiken wie August Buchners Anleitung zur deutschen Poeterey das Sonett geradezu als epigrammatisches Genre – dem entsprach seine Verwendung als Grabschrift. Fleming selbst kultivierte das Epigramm über den Bereich der Grabschriften hinaus, wie seine Epigrammata zeigen,9 mit deren Komposition in zwölf Büchern er den im 17. Jahrhundert in Bestseller-Auflagen gedruckten Epigrammaton libri XII Martials (40 – 102 n. Chr.) folgte.10 Seit Scaligers Martial-Deutung in seinen für lange Zeit maßgebenden Poetices libri VII (1561) war Martials Epigrammkorpus, in dem sich ebenfalls Grabschriften befinden, das klassische Muster für die Gestaltung des Epigramms und die entsprechend lakonische argutia (scharfsinnige Pointierung). Auch Flemings Zeitgedruckt vor. Von ihrer großen Beliebtheit zeugt es, daß schon bis zum Jahre 1600 elf große Ausgaben sowie zahlreiche Auswahlausgaben gedruckt wurden (Nachweise: Lexicon bibliographicum sive Index editionum et interpretationum Scriptorum Graecorum tum sacrorum tum profanorum. Cura et studio S.F.G. Hoffmann: Band 1, Leipzig 1832, S. 167 ff. – F.L.A. Schweiger: Handbuch der classischen Bibliographie. Erster Teil: Griechische Schriftsteller, Leipzig 1830, S. 30 ff.). Moderne Ausgaben der Anthologia Graeca: Hermann Beckby: Anthologia Graeca. Griechisch-Deutsch, 4 Bände, 2. Aufl. München 1965 – 1967 (Tusculum-Bücherei); William R. Paton: The Greek Anthology. With an English Translation, 5 Bände, London/Cambridge, MA, 1916 – 1918, Neudruck 1979 – 1993 (Loeb Classical Library). 8 Zur Spannweite der Epigrammatik vgl. Jutta Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1979. 9 In: Paul Flemings Lateinische Gedichte, hg. von Johann M. Lappenberg, Stuttgart 1863, S. 285 – 475 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart LXIII). 10 Der Bibliographie in der Zweibrücker Martial-Ausgabe (Biponti 1784) zufolge erschienen Martials Werke im 17. Jahrhundert nicht weniger als dreiundfünzig Mal. Moderne Ausgaben: M. Val. Martialis Epigrammata. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Wallace M. Lindsay, Oxford 1903 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis); Martial Epigrams. Edited and Translated by David R. Shackleton Bailey, 3 Bände, Cambridge, MA/London 1993 (Loeb Classical Library); Paul Barié/Winfried Schindler: M. Valerius Martialis: Epigramme. Lateinisch-Deutsch, Düsseldorf/Zürich 1999 (Sammlung Tusculum).

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nossen orientierten sich mit Vorliebe an diesem Vorbild.11 Hinzukam der bedeutende englische Epigramm-Dichter John Owen, ein Neulateiner, auf dessen Tod Fleming selbst ein Epigramm schrieb. Darin pries er Owens Kunst der „brevitas“.12 Auch poetische Grabschriften fr Dichter, in denen ihr Ruhm verkündet wurde, gehörten schon zur Tradition. Die Anthologia Graeca enthält zahlreiche derartige Grabschriften auf Homer, Sophokles und Euripides. Unter den deutschen Grabschriften auf Dichter, ihre Leistung und ihren fortdauernden Ruhm bilden die knappen Vierzeiler von Quirinus Kuhlmann besonders markante Beispiele. Er schrieb sie auf Opitz, Gryphius und Friedrich von Logau: Grab Martin Opitzens / des Schlesiens Homerus, Grab Andreas Gryphens / des Teutschen Sophocles, Grab Friedrichs von Logau / des Schlesischen Martialens 13. Bereits die Überschriften sind von lapidarer Prägnanz. Mit der jeweiligen Nennung eines dichterischen Pendants aus der Antike soll ein Wesenszug getroffen werden und zugleich sind diese topischen Gleichungen auch Ausdruck eines kulturpatriotischen Ehrgeizes, der auf Ebenbürtigkeit der deutschen mit der antiken Dichtung zielt: Der Vergleich Opitzens mit Homer, der Gründergestalt der griechischen und überhaupt der europäischen Dichtung, rühmt die Neubegründung der deutschen Poesie durch das bahnbrechende Normensystem in Opitzens Buch von der Deutschen Poeterey (1624); der Vergleich mit Sophokles stellt Andreas Gryphius als Verfasser von ,Trauerspielen‘ an die Seite des großen griechischen Tragikers; der Vergleich mit Martial erhebt Friedrich von Logau mit seinen geschliffenen Sinnsprüchen zum Rang des römischen Epigrammatikers. Derartige Verse sind nicht für eine tatsächliche Verwendung als Grabschrift gedacht. Es handelt sich um fiktionalisierte ,Gelegenheiten‘, die dazu dienen, das Andenken und den Ruhm großer Männer zu verewigen. Gerade die Fiktionalisierung und die damit verbundene Literarisierung von 11 Epigramm-Sammlungen gibt es von Martin Opitz, Johann Rist, Daniel von Czepko, Johann Michael Moscherosch, Andreas Gryphius, Christian Hofmann von Hofmannswaldau, Angelus Silesius, vor allem von Friedrich von Logau (Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend, 1654) und Christian Wernicke. 12 Oweni exspiratio, in: Epigrammatum liber V, Nr. 80, in: Paul Flemings Lateinische Gedichte, S. 376. Auf seine Hochschätzung Owens weist auch sein deutsches Epigramm Aus dem Owen, in: Tetsche Poemata, S. 274. 13 In: Gedichte des Barock, hg. von Ulrich Maché und Volker Meid, Stuttgart 1980, S. 266. (Aus der Sammlung: 100 Spilersinnliche Virzeilige Grab-Schrifften, 2. Aufl. 1671).

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Grabschriften eröffnete auch die Möglichkeit zu Variationen, die jeder konkreten Verwendung widersprachen, ja den ernsten Ton in sein Gegenteil, ins Spielerische verkehrten, ihn ins Satirische wendeten oder parodistisch trivialisierten. Ein gutes Beispiel solcher unterhaltsamen Formen bietet eine anonyme Grabschrift auf Wallenstein, in der neben dem später von Schiller dramatisch ausgestalteten Moment des ,Temporisierens‘ Wallensteins Spleens zur Sprache kommen, etwa sein Sternglaube und seine pathologische Geräuschempfindlichkeit:

Wallensteins Epitaphium Hie liegt und fault mit Haut und Bein Der Grosse KriegsFürst Wallenstein. Der groß Kriegsmacht zusamen bracht / Doch nie gelieffert recht ein Schlacht. Groß Gut thet er gar vielen schencken / Dargeg’n auch viel unschuldig hencken. Durch Sterngucken und lang tractiren / Thet er viel Land und Leuth verliehren. Gar zahrt war ihm sein Böhmisch Hirn / Kont nicht leyden der Sporn Kirrn. Han / Hennen / Hund / er bandisirt / Aller Orten wo er losirt. Doch mußt er gehn deß Todtes Strassen / D‘ Han krähn / und d‘ Hund bellen lassen.14

Fleming selbst spielte mit dem Genre, indem er eine Grab-schrifft Eines jungen Bhren 15 und die Grabschrift eines Hundes 16 verfaßte, ja er reflektierte das Serielle und Stereotype, das im menschlichen Dasein selbst gründet, in einem Vierzeiler mit der lakonischen Überschrift Grab=schrifft: Freund / was du liesest hier von mir / hab ich von andern offt gelesen. So wird man lesen auch von dir. Was du bist / bin auch ich gewesen.17

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Gedichte Tetsche Tetsche Tetsche

des Barock, S. 55. Poemata, S. 177. Poemata, S. 277. Poemata, S. 272.

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II Von solchen spielerischen Variationen denkbar weit entfernt ist die Grabschrift, die Fleming auf sich selbst in Erwartung des Todes schrieb. In den beiden Quartetten nimmt sie den Duktus der rühmenden Grabschrift auf. Indem Fleming sich selbst als großen Dichter rühmt, überbietet er allerdings nicht in unerhörter Weise das auf die laudatio eines toten Dichters angelegte Epigramm. Denn schon einer der Begründer des Epigramms in lateinischer Sprache, der römische Dichter Ennius (239 – 169 v. Chr.), verkündete in einem „elogium“ auf sich selbst seinen unsterblichen Dichterruhm:18 „Nemo me dacrumis decoret nec funera fletu / faxit. Quor? Volito vivos per ora virom“. – „Niemand soll mich mit Tränen ehren noch mein Begräbnis mit Weinen begehen. Warum? Ich fliege als Lebender bei den Männern von Mund zu Mund.“ Auch Martial stellte in den poetologischen Epigrammen, mit denen er seine Epigrammaton libri XII eröffnet, sich selbst als berühmten Dichter dar. Schon lebend (vivens), so schreibt er selbstbewußt gleich im allerersten Epigramm, sei er der „in der ganzen Welt bekannte Martial“ („toto notus in orbe Martialis“). Vergils Grabschrift ist in der Sueton-Vita überliefert und Ovid plazierte in den Tristien (3,3,73 – 76) eine proleptische Grabschrift auf sich selbst. Mit dem schon bei den antiken Vorbildern erkennbaren und insofern topisch fixierten Gestus der Selbstrühmung verbindet sich bei Fleming die aus der stoischen Tradition stammende existentielle Selbstzuwendung. Bereits in dem Sonett An sich 19, mit dem Fleming die Selbst-Ansprache in der stoischen Tradition des ,Ad se ipsum‘ gestaltet, dominiert eine derartige Selbstzuwendung. Den Vorbildern der Stoa entsprechend aber hält er dieses frühere Gedicht nicht im Ton der rühmenden Selbst-Darstellung, sondern gestaltet es als Selbst-Ermahnung. Zwar folgt diese der Leitvorstellung des stoischen Weisen, der durch die Erringung von Autarkie und Autonomie zu einem höchsten Selbstbewußtsein findet – aber es handelt sich um ein Ziel, das zu erreichen Anstrengung und Selbstdisziplin kostet, wie sie sich im Aufwand zahlreicher Imperative ausdrückt. Die Grabschrift dagegen zielt notwendigerweise nicht mehr auf eine Zukunft, es sei denn die des Dichterruhms. Aus der Retrospektive erscheint nun das Leben selbst 18 Johannes Vahlen: Ennianae poesis reliquiae, 2. Aufl. Leipzig 1928, Nachdruck: Amsterdam 1967, S. 215. Vgl. Horaz, Oden 3, 30; Ovid, Amores 1, 15. 19 Vgl. den voranstehenden Aufsatz von Barbara Neymeyr.

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schon als gelungen, der Dichterruhm für alle Zeiten gesichert. Vor allem: Das souveräne Selbstbewußtsein, das in dem Sonett An sich die Idealvorstellung bildet, auf die hin die Selbstermahnung das eigene Ich formieren soll, wird nun zum performativen Akt. Jeder Vers bringt es zur Geltung. Ein im Alter von 31 Jahren zu Ende gehendes Leben fängt das Herannahen des frühen Todes durch die Inszenierung eines Selbstbewußtseins auf, welches das Leben dennoch mit dem Siegel des Gültigen und Vollendeten versieht. Daß es sich auch hier um einen poetischen Akt der Selbstformierung handelt, legt der Kontrast zu einem lateinischen Grabgedicht nahe, das Fleming einige Jahre zuvor in artistisch spielerischem Umgang mit diesem Genre ebenfalls schon auf sich selbst geschrieben hatte. In diesem Epitaphium Sibi vivo 20 vertritt er genau die entgegengesetzte Wertung angesichts des fiktional vergegenwärtigten Todes. Einleitend exponiert er mit einem Wortspiel – virtuose Wortspiele waren ein besonderes Merkmal von Owens Epigrammen – seine doppelte Identität als Arzt („medicus“) und Dichter („melicus“), dann erscheint alles als ,Nichts‘ („omne, quod est, nihil est“), und dies mit stärkstem, durch extreme Häufung des Wortes „Nihil“ erzeugtem Nachdruck. Das Leben, das in der späteren deutschen Grabschrift so wertvoll, geglückt und gelungen erscheint, verfällt dem Nichts („vita nihil“), und auch sein Höchstes, die Kunst, erweist sich als ein Nichts („nihil ars“), ja selbst der Dichterruhm, den er in der deutschen Grabschrift selbstbewußt hervorhebt und als irdische Unsterblichkeit verherrlicht, gilt ihm – metonymisch repräsentiert durch den ,Olymp‘ – als ebenso nichtig wie alles andere: „Omne, quod est, nihil est, orbis, olympus, homo / vita nihil, mors nil“. Dieser auf Epikur zurückgehende letzte Gedanke nun allerdings, daß der Tod ein Nichts ist, führt zu der im Sinne des argutia-Ideals artistisch zugeschliffenen Schlußpointe, der Tod könne nichts Furchtbares haben, weil er, selbst schon ein Nichts, allem anderen, das ja auch nichts ist, mit nichts schaden kann: „[…] Quid obire verebar, amici? / Nil nihilo nihilum posse nocere, scio“. Auch wenn diese Verse nicht im Sinne des modernen Nihilismus zu verstehen sind: Die Verschmelzung des für die Barockzeit universellen Vanitas-Gedankens, der den christlichen contemptus mundi radikalisiert, mit der stoischen Todesverachtung markiert auch eine völlige Entwertung des Lebens und aller seiner Errungenschaften, nicht zuletzt der Ehre und des Ruhms. 20 Paul Flemings Lateinische Gedichte, hg. von Johann M. Lappenberg, Stuttgart 1863, S. 391.

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Die deutsche Grabschrift, die Fleming drei Tage vor seinem Tod für sich selbst verfaßte, stimmt mit der früheren nur in der stoischen Abweisung der Todesfurcht am Ende überein. Sonst aber, vor allem mit ihrer Berufung auf den zeitüberdauernden Dichterruhm, ist sie vollständig anders orientiert. Obwohl die Terzette dem Abschied und der angemessenen Haltung in Erwartung des Todes gelten, wertet der Lebensrückblick in den beiden Quartetten das Vergangene nicht als das Vergängliche ab. Ganz im Gegenteil, die Retrospektive wird zum Medium eines sich gerade im Angesicht des Todes seines Werts versichernden Ichs. Es ist nicht ein Ich, das in der Wahrnehmung des universellen, auch das eigene Leben und Werk einschließenden Nichts sich selbst gleichsam schon hinter sich gelassen hat wie am Anfang des lateinischen Epitaphs, wo es sich nach dem Vorbild von Ovids Lebensrückblick in Trist. 4,10,1 zweimal distanziert als „ille ego“ bezeichnet, vielmehr ein Ich, das sich sogleich präsentiert und seine Energie schon grammatikalisch beweist, indem es über die Grenze des ersten Satzes hinweg eine ganze Reihe von Aussagen bis in das zweite Quartett hinein als elliptisches, immer mitzudenkendes Subjekt regiert. Dieser auf Expansion angelegten Stilisierung entspricht konzeptionell die Überbietung des stoischen Oikeiosis-Axioms in den beiden Quartetten. Die bis in die Anfänge der griechischen Stoa zurückreichende Lehre von der Oikeiosis, von der ,Zueignung‘ und ,Aneignung‘ des eigenen Ichs, war auch durch Seneca intensiv vermittelt worden. Sie zielt auf die Gewinnung eines stabilisierenden Selbstverhältnisses. Eine gelungene Selbstaneignung führt dazu, daß der Mensch ein „securus possessor sui“ ist21 und von sich selbst sagen kann, er sei ganz ,sein‘.22 Im ersten Quartett seiner Grabschrift verleiht Fleming diesem Gedanken besonderen Nachdruck, indem er ihn zugleich mit dem stoischen Ideal der Autarkie verbindet: „Ich war […] Meine. Kunte mich aus meinen Mitteln nehren“. Doch überbietet er das stoische Konzept, indem er die Oikeiosis neu disponiert: als im Angesicht des Todes vollzogene und zur vorbehaltlos positiven Anerkennung gesteigerte Aneignung seines ganzen, ihm nun im Rückblick vollendet erscheinenden Lebens. Zu Flemings Strategie der Überbietung gehört es auch, daß er die Oikeiosis bereits am Anfang expansiv gegen eine andere stoische Grundposition ausspielt. Noch in seinem Sonett An sich hatte er sie vertreten: die Absage an Fortuna als den Inbegriff des Äußerlich-Un21 Seneca: Epist. 12, 9. 22 Vgl. hierzu vor allem Senecas 20. Brief an Lucilius.

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wesentlichen, vor allem des Zufälligen, gegen das sich das autonome Ich zu immunisieren hat. Schon Horaz aber hatte die Formel ,Fortunae filius‘ als beliebte Prägung zitiert,23 und so rühmt Fleming sich als „des Glückes lieber Sohn“, und er preist die von den Stoikern immer wieder als bloß äußerlich abgewerteten Glücksgüter im einzelnen: „Gut“ und „Stand“ sowie die Herkunft „von Eltern guter Ehren“. Im Rückblick auf das ans Ende gelangte Leben bezieht Fleming sogar Fortuna in die Oikeiosis ein! Er rechnet sie seiner Identität zu, indem er sich als des Glückes „lieber Sohn“ bezeichnet. Genau genommen trägt die Berufung auf die Gaben der Fortuna nicht weit: Die Aussage, daß er an „Gut und Stande groß und reich“ gewesen sei, scheint nur bedingt den biographischen Tatsachen zu entsprechen. Fleming war der Sohn eines Pfarrers, seine Mutter diente vor ihrer Heirat als Kammerjungfer bei der Gräfin Katharina von Schönberg auf Burg Hartenstein im Sächsischen. Nach Studienjahren in Leipzig nahm der Vierundzwanzigjährige auf Einladung seines Freundes Olearius an einer sechs Jahre dauernden Gesandtschaftsreise nach Persien teil. Nach der Rückkehr und nach dem medizinischen Doktor-Abschluß an der damals führenden Universität Leiden reiste er nach Reval, um seine dort lebende Verlobte zu heiraten und das Amt des Revaler Stadtarztes zu übernehmen. Unterwegs, in Hamburg, starb er an einer Lungenentzündung. Auf dem Hintergrund reputierlicher, aber keineswegs ,großer‘ und ,reicher‘ Verhältnisse und im Hinblick auf ein noch gar nicht begonnenes Berufsleben kann die dichterische Selbstinszenierung des gerade Einunddreißigjährigen für seine Grabschrift wohl nur als programmatischer Rollenentwurf verstanden werden, der auf die Demonstration von Selbstbewußtsein abzielt. Sie erreicht ihre größte Intensität in der lapidaren, durch den Hebungsprall emphatisch gesteigerten Abbreviatur: „Frey; Meine“. In ihr artikuliert sich diese souveräne Freiheit auch als diejenige vom poetischen Regelzwang des Metrums.

23 Horaz: Serm. 2, 6, 49. Besonders gut läßt sich an Flemings lateinischen Gedichten die Übernahme derartiger Prägungen verfolgen. Hierzu Paul Rave: Paul Flemings lateinische Lyrik, I. Teil: Technik der imitatio antiker Autoren, Diss. Heidelberg 1925.

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III Zur stoischen Autarkie gehört die Freiheit. Der im stoischen Geist Vollendete erscheint ,frei‘ sowohl von aller Fremdbestimmung als auch von Affekten und Begierden. Dieser schon in den Anfängen der Stoa bei Zenon bezeugte Freiheitsgedanke findet auch in der lateinischen Tradition entschiedenen Ausdruck. Cicero nennt den stoisch vollendeten Geist, den wahrhaft Weisen, einen ,freien‘, weil er weder fremder Herrschaft gehorcht noch den Zwängen des Körpers unterliegt.24 In seiner Schrift Paradoxa Stoicorum 25 stellt er ein ganzes Kapitel unter das schon in der Überschrift exponierte Thema „Nur der [stoische] Weise ist frei“.26 Der Freiheitsgedanke hat bei Fleming allerdings auch einen realhistorischen Hintergrund. Wilhelm Kühlmann zitiert in seiner Interpretation der Grabschrift27 andere Dichtungen Flemings, in denen er sowohl das Ideal politischer Freiheit wie sogar der Meinungsfreiheit im Rahmen des bestehenden Herrschaftssystems vertritt.28 Aufschlußreich weist Kühlmann auch darauf hin, daß Fleming Freiheit als Grundbedingung schöpferischen Tuns verstand und daß dies in der Grabschrift, die vor allem auf die Größe und den Ruhm des Dichters abhebt, von besonderer Bedeutung sei. In einem Gedicht An Herrn Olearien […] heißt es: „Ein Geist muß in der Lust der sichern Freiheit leben, der etwas Freies tun und an den Tag soll geben, muß still‘ und seine sein und dieses fassen wol, was Zedern würdig sein und ewig bleiben sol“.29 So reicht die lapidare, vom prinzipiellen stoischen Freiheitspostulat 24 Cicero: De finibus bonorum et malorum III 75: „[…] recte solus liber nec dominationi cuiusquam parens nec oboediens cupiditati, recte invictus, cuius etiamsi corpus constringatur, animo tamen vincula inici nulla possint“. 25 Wie Cicero in der Einleitung erläutert, heißen die stoischen Leitsätze, die er zu explizieren unternimmt, Paradoxa, „weil diese Aussagen Verwunderung hervorrufen und im Widerspruch zur allgemeinen Meinung stehen“, und er fügt hinzu: „Die Stoiker selbst bezeichnen sie sogar als ,Paradoxa‘“ (Cicero: Paradoxa Stoicorum, Prooemium 4: „Quae quia sunt admirabilia contraque opinionem omnium (ab ipsis etiam paq²dona appellantur) […]“). 26 Cicero: Paradoxa Stoicorum, Paradoxon V: „nti lºmor b sov¹r 1ke¼heqor […], Solum sapientem esse liberum […]“. 27 Wilhelm Kühlmann: Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Flemings „Grabschrift“, in: Gedichte und Interpretationen, Band 1: Renaissance und Barock, hg. von Volker Meid, Stuttgart 1982, S. 167 – 175. 28 Auf Herzogen Friedriches zu Schleswig-Holstein […] Abgesandten seinen Namenstag, 1638: „Er weiß ein freies Volk, will freie Zungen haben […]“. 29 Vgl. Kühlmann (wie Anm. 27), S. 172 f.

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unterlegte Aussage der Grabschrift, er sei „frey“ gewesen, weit über die Feststellung der Freiheit von Dienstbarkeit und der ökonomischen Unabhängigkeit hinaus, auf der Fleming mit den Worten insistiert: „Kunte mich aus meinen Mitteln nehren“. „Von reisen hochgepreist“ nennt sich Fleming in der Erinnerung an das exotische Hauptereignis seines Lebens, die nicht weniger als sechs Jahre seines kurzen Lebens dauernde Reise nach Persien. Daß er sich stolz auf diese Reise beruft und sie zu einem Element seines Selbstbewußtseins macht, kann nicht mit dem ergebnislosen Verlauf dieser zur Eröffnung eines neuen Handelsweges unternommenen Expedition zusammenhängen, wohl auch nicht nur mit der Tatsache, daß sie in Europa viel beachtet wurde. Die berühmte Reisebeschreibung des Olearius erschien ohnehin erst nach Flemings Tod, erstmals im Jahre 1647, dann in einer vermehrten Auflage 1656.30 Obwohl gerade in der stoischen Tradition und auch noch im Neustoizismus das Reisen unter die Kategorie des Äußerlichen und Unwesentlichen fällt,31 galt seit dem Humanismus Reisen als Zeichen der Weltoffenheit und eines ins Weite gehenden Erfahrungs- und Wissensanspruchs. Diese Wertung hatte sich schon in einem eigenen humanistischen Literatur-Genre, in Reisebeschreibungen niedergeschlagen. So konnte Olearius im ersten Kapitel seiner Reisebeschreibung – Von Nutzbarkeit der frembden Reysen – vermelden, Reisen sei der „Natur eines tapffern Gemüthes“ angemessen: „Nur Leute von schlechter geringer Natur und Gemüthe haben Lust hinter dem Ofen zu sitzen / und in ihrem Vaterlande gleich als angebundene zu bleiben / aber die seynd Edeler und voller Geist / welche dem Himmel folgen / und zur bewegung lust haben.“32 Fleming selbst schreibt in einem andern Gedicht: „Was gilt bey uns ein Mann / der nicht gereiset hat“.33 Wie schon mit der Berufung auf sein ,Glück‘ scheint er mit der selbstbewußten Erinnerung an seine große Reise, die gerade nicht der stoischen Tradition entspricht, eine gewisse Spannung in das stoische Grundkonzept seiner Grabschrift zu bringen. In seinem Nowgorod-Gedicht In grooß Neugart der Reussen, das er während der Reise schrieb, hatte er diese Spannung aufzulösen 30 Adam Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen und Persischen Reyse. Schleswig 1656, hg. von Dieter Lohmeier, Tübingen 1971. 31 Vgl. Seneca: Epist. 104, 13 – 14; Justus Lipsius: De Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann, Mainz 1998, S. 12 – 21. 32 Adam Olearius (wie Anm. 30), S. 1. 33 Tetsche Poemata, S. 202.

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versucht, indem er die Expedition auch als einen Weg zum eigenen ,Selbst‘ sowie als einen Weg zur Erkenntnis der – ganz im Sinne der Stoa definierten – wahren menschlichen Werte darstellte.34 Der Stolz auf die große Reise, auf die bestandenen Abenteuer, darunter Tataren-Überfälle, blutige Auseinandersetzungen, ein in mehreren Gedichten thematisierter Schiffbruch35 und gewaltige Strapazen – das alles schwingt in den Wendungen mit, die im zweiten Quartett auf die Feststellung folgen, er sei „von reisen hochgepreist; für keiner Mühe bleich. Jung / wachsam / unbesorgt. Man wird mich nennen hören“. In diesen auf bejahendes Selbstbewußtsein angelegten Formulierungen bleibt allerdings auch vieles ausgeschlossen: das Leiden an den Schrecknissen der Reise, denen er einmal in einem auf den April 1638 datierten Reisegedicht unter dem bezeichnenden Titel Terrores 36 Ausdruck gab; das ihn oft überkommende Heimweh nach dem Vaterland in einer unwirtlichen Fremde;37 nicht zuletzt die große Enttäuschung während der Reise: daß sich seine erste Verlobte während seiner Abwesenheit einem anderen Mann verband. Fleming muß gewußt haben, daß sein Freund Olearius, der schon während der Reise genaue Berichte verfaßte, eine Reisebeschreibung vorbereitete, in der er auch ihn, Fleming, immer wieder rühmend ,nannte‘. Olearius rückte sogar Gedichte Flemings, darunter das große Nowgorod-Gedicht, in seine Reisebeschreibung ein und pries ihn als Dichter. Im engeren Kontext des Reise-Themas dürfte daher die Wendung „Man wird mich nennen hören“ zunächst auf die Erwartung solcher ,Nennungen‘ in der Reisebeschreibung anspielen. Darüber hinaus weist sie – besonders als wörtliche Übersetzung des „dicar“ in Horazens berühmter Ode Exegi monumentum aere perennius (3,30,10) – auf den Dichterruhm allgemein, dessen Außerordentlichkeit die abschließenden Verse des zweiten Quartetts wieder thematisieren, nachdem er schon ein zentraler Aspekt 34 Vgl. Jochen Schmidt: „Du selbst bist dir die Welt“. Die Reise nach Utopia als Fahrt zum stoisch verfaßten Ich. Paul Flemings Gedicht ,In grooß Neugart der Reussen‘, in: Daphnis 31, 2002, S. 215 – 233. 35 Vgl. E naufragio liberi 1636 (November 15), in: Paul Flemings Lateinische Gedichte, S. 366; Nisovae Medorum […], a.a.O. S. 399; Als die Frstl. Holsteinischen Gesandten nach erlittener Schiffbruch auff Hohe Land ankommen, in: Tetsche Poemata, S. 457 f. 36 Paul Flemings Lateinische Gedichte, S. 401. 37 Bezeichnend hierfür sind Gedichte wie Ut redeat in patriam optat, Patriae se oblivisci non posse, Angitur desiderio patriae, Patriae desiderium, Patriam desiderat, Somniat se patriae rediisse, in: Paul Flemings Lateinische Gedichte, S. 370, 371, 373.

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des ersten Quartetts war. „Man wird mich nennen hören“, schreibt Fleming, „biß daß die letzte Glut diß alles wird verstören“. In einem artistischen Concetto überbietet er mit dieser Vorstellung zunächst die Schlußverse von Ovids großem Gedicht über die Unsterblichkeit des Dichterruhms (Trist. 1,15,42 f.): Während Ovid argumentiert, er werde im Dichterruhm fortleben, auch wenn ihn einst „die letzte Glut“ verzehrt haben werde („cum me supremus adederit ignis“), und so auf die Einäscherung nach seinem Lebensende anspielt, macht Fleming aus der „letzten Glut“ die des Weltendes. Damit greift er nicht nur auf die biblische Apokalypse, sondern auch auf eine Leitvorstellung der stoischen Kosmologie zurück. Die Stoiker verstanden den Kosmos als eine aus den vier Elementen gemischte All-Natur, die vom Urelement des Feuers durchwaltet wird, wie schon Heraklit in seiner pantheistischen Kosmologie lehrte. Darüberhinaus entwickelten die Stoiker die Vorstellung, der Kosmos gehe, wenn ihn das feurige Urelement zerstörerisch ergreift, in einem großen Zeitenrhythmus immer wieder zugrunde, um sich dann ganz neu zu konstituieren. Das Ende eines Weltalters im alles zerstörenden Feuer nannten schon die Hauptrepräsentanten der alten Stoa, Zeno, Kleanthes und Chrysippos, und dann zahlreiche Nachfolger mit einem terminologisch feststehenden Ausdruck ,Ekpyrosis‘38. Als zentraler Bestandteil der stoischen Naturphilosophie ging die Vorstellung der Ekpyrosis auch in die römische Stoa ein, so daß sie im frühneuzeitlichen Stoizismus nicht als exotisch gelehrte Anspielung, sondern als bekanntes Element der Tradition gelten kann. In einem Sammelbecken stoischen Denkens, das zugleich ein lateinischer Grundtext der Zeit war, in Ciceros Schrift De natura deorum heißt es, „daß am Ende der ganze Kosmos verbrennt“ („ut ad extremum omnis mundus ignesceret“), „so daß nichts außer dem Feuer zurückbleibt“ („ita relinqui nihil praeter ignem“).39 Wenn Flemings Vers „Biß daß die letzte Glut diß alles wird verstören“ statt eindeutig und ausschließlich christlicher Endzeitvorstellungen, wie etwa derjenigen vom Jüngsten Gericht, dieses Grundelement der stoischen Naturphilosophie mindestens synkretistisch miteinbezieht, scheint dies nicht nur ein humanistisch-gelehrtes Detail zu sein. Denn außer der knappen Nennung Gottes in der Bitte um Verzeihung, die sich im ersten Terzett an „Gott/Vater/Liebste/Freunde“ richtet, bleiben seine 38 Vgl. Stoicorum Veterum Fragmenta, ed. Ioannes ab Arnim. 4 Bde, Stuttgart 1902 – 1904 (Nachdruck Stuttgart 1964), Bd. II, Nr. 590 – 593, Nr. 596 – 630. 39 Cicero: De natura deorum II 118.

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im Angesicht des Todes geschriebenen Verse insgesamt erstaunlich diesseitig. Und dies steht in der Konsequenz der Gesamtkonzeption, deren Zentrum ein Selbstbewußtsein ist, das sich ausschließlich dem diesseitigen ,Glück‘ und der diesseitigen Leistung, insbesondere dem dichterischen Werk verdankt.

IV Den Cantus firmus der beiden Quartette bildet die Berufung auf den fortdauernden, bis zur irdischen Unsterblichkeit reichenden DichterRuhm. Der abschließende Vers: „Diß Deutsche Klarien / diß gantze danck‘ ich Euch“ hebt mit dem Anruf der Musen („Klarien“) nicht nur in bereits konventionalisierter humanistischer Manier auf ein inspiriertes Dichten und damit auf den außerordentlichen Rang des ,Gesangs‘ ab. Mit dem Dank an die ,deutschen‘ Musen pointiert er auch ein kulturpatriotisches Engagement, dessen Wurzeln im Humanismus liegen. Nachdem schon die römischen Autoren die Vorstellung einer ,translatio artium‘, einer Übertragung und Verpflanzung der Künste aus Griechenland nach Rom40 entwickelt hatten, schritt Conrad Celtis, die Leitfigur der humanistischen Lyrik in Deutschland, in diesen Spuren weiter, als er im Jahre 1486 seine Ode an Apoll verfaßte, „den Erfinder der Dichtkunst, daß er aus Italien nach Deutschland kommen möge“ – so wie er einst mit den Musen von Griechenland über das Meer nach Rom gekommen sei41. Ein Jahrhundert später griff Paulus Melissus auf die gleiche Vorstellung zurück, indem er anerkannte, Conrad Celtis, der deutsche Erzhumanist, habe „als erster den Helikon erschlossen und die Musen, meine Gottheiten, ins Land der Deutschen geführt“.42 Aus dem Kontext von Flemings Werk geht hervor, daß der Dank an die ,deutschen‘ Musen sich nicht nur allgemein auf eine aus humanistischer Tradition erneuerte Dichtung in Deutschland bezieht, sondern spezieller noch einer Dichtung in deutscher Sprache gilt. Conrad Celtis hatte in seiner Ode an Apoll abschließend noch den Wunsch formuliert, die „Barbarensprache“ („barbarus sermo“) möge fliehen. Als deutscher 40 Vgl. Lukrez: De rerum natura 1,117 f; Vergil: Georgica 3,10 f. 41 Ode ad Apollinem repertorem poetices: ut ab Italis cum lyra ad Germanos veniat, V. 17 – 20. Text, Übersetzung und aufschlußreiche Interpretation von Eckart Schäfer, in: Gedichte und Interpretationen, Band 1, Renaissance und Barock, hg. von Volker Meid, Stuttgart 1982, S. 81 – 93. 42 Zitiert nach Eckart Schäfer, S. 93.

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Horaz, der er sein wollte, schrieb er immer noch Latein. Diesem Ideal huldigten die neulateinischen Lyriker in Deutschland durch das ganze sechzehnte Jahrhundert hindurch. Dann aber setzte die programmatische Wendung zur Kunstdichtung in deutscher Sprache ein. Die 1617 gegründete ,Fruchtbringende Gesellschaft‘ propagierte „die rechte der deutschen hoch-prächtigen zungen“43 und Opitz wirkte in entscheidender Weise auf das Entstehen einer muttersprachlichen Lyrik hin, wie sie die anderen europäischen Nationen schon früher entwickelt hatten. In einem Gedicht Auff Danielis Heinsii Niederlndische Pomata rühmte Opitz dessen Hinwendung zur Volkssprache und forderte sie auch für die Dichtung in Deutschland, nachdem sie zugunsten des Lateins lange verleugnet worden war: Die Deutsche Poesie war gantz und gar verlohren Wir wusten selber kaum von wannen wir gebohren; Die Sprache vor der viel Feind‘ erschrocken sin Vergassen wir mit Fleiß‘ und schlugen sie in Wind Biß ewer grosses Hertz ist endlich ausgerissen Und hat uns klar gemacht / wie schendlich wir verliesse Was allen doch gebührt: wir redten gut Latein Und wolte keiner nicht für Deutsch gescholten seyn.44

Nachdem Opitz dann seine erste programmatische Kritik an der Bevorzugung des Lateinischen statt des Deutschen – noch lateinisch! – in seiner 1617 erschienenen Schrift Aristarchus sive De Contemptu Linguae Teutonicae vorgetragen hatte, folgte 1624 sein bahnbrechendes Buch von der Deutschen Poeterey. Fleming, der ebenfalls noch zahlreiche Gedichte in Latein schrieb, vollzog diese Wendung zur deutschsprachigen Lyrik nach, und er thematisierte sie auch immer wieder, so in den Versen: „Wir haben wohl getauscht […] Rohm ist nun Rohm gewesen. / Das edle Latien wird hoochdeutsch itzt gelesen […]“.45 Wie sehr er sich hiermit dem Schlesier Opitz als seinem Vorbild verpflichtet sah, geht aus folgenden Versen hervor: Ich habe satt gelebt. Dis bleibt mir ungestorben / was ich durch Fleiß und Schweiß mir habe nun erworben / Den Ruhm der Poesie / die Schlesiens Smaragd zu allerersten hat in Hochdeutsch auffgebracht. 43 Gedichte des Barock, hg. von Ulrich Maché und Volker Meid, Stuttgart 1980, S. 139. 44 Gedichte des Barock, hg. von Ulrich Maché und Volker Meid, Stuttgart 1980, S. 19. 45 Tetsche Poemata, S. 93 f.

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Ich schwer‘ es Vater-Land bey Kindes-Pflicht und Treuen / Dein Lob ists / welches mich heist keine Mühe scheuen.46

Das im engeren Sinn patriotische Motiv tritt hier in der abschließenden Anrufung des ,Vaterlandes‘ hervor. Immer wieder lassen seine Gedichte dieses patriotische Engagement erkennen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges, der Deutschland verheerte. Wenn er also in der Grabschrift seinen Dichterruhm den „Deutsche[n] Klarien“ verdankt, so handelt es sich um eine vermächtnishaft knappe Zusammenfassung aller drei Momente: Die Anspielung auf die translatio artium verbindet sich mit dem Gedanken an eine Dichtung in der Muttersprache und mit einem übergreifenden patriotischen Anliegen. Wie sehr Flemings eigener Anspruch mit der Einschätzung durch die Zeitgenossen übereinstimmte, geht aus einem Gedicht aus dem Jahre 1667 hervor, in dem Fleming den ersten Rang als lyrischer Dichter erhält und damit auf diesem Feld von der Bedeutung der „teutschen Muse“ zeugt. Dieses Gedicht verfaßte Leibniz: Was lobt man viel die Griechen; Sie müssen sich verkriechen, Wenn sich die teutsche Muse regt. Was sonst die Römer gaben, Kan man zu Hause haben, Nachdem sich Mars bey uns gelegt. Horaz im Fleming lebet, In Opiz Naso schwebet, Im Greiff Senezens Trauerspiel. Nur Maro wird gemisset; Hier hat man eingebüsset.47

V Indem der Lebensrückblick der beiden Quartette die „Kunst“ und den durch sie erlangten Dichterruhm als das Wesentliche und Höchste wertet, drückt er das dichterische Selbstbewußtsein aus. Ebensosehr aber gilt er der durch die äußerste Erfahrung von Vergänglichkeit hervorgerufenen Besinnung auf das Unvergängliche. Und noch in anderer 46 Tetsche Poemata, S. 201. 47 Leibnizens geschichtliche Aufstze und Gedichte, hg. von Georg Heinrich Pertz, in: Gesammelte Werke, 1. Folge, 4. Bd., Hannover 1847, S. 269. Vgl. Peter Krahé: Flemming, unsrer Tichter Wonn: Paul Flemings literarischer Nachruhm, in: Archiv für Kulturgeschichte 71, 1989, S. 71 – 89.

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Hinsicht rückt die Demonstration dichterischen Selbstbewußtseins in einen weiteren Horizont: Was einer naiven Lektüre als beinahe provozierendes Gefühl eines sich seines individuellen Wertes sicheren Ichs erscheint, ist vorgängig schon historisch-topisch kodiert und insofern überindividuell. Es war ein längst tradierter Topos, daß die Kunst allein die Zeiten überdauere, daß insbesondere die Dichtung irdische Unsterblichkeit verleihe. Horazens „exegi monumentum aere perennius“ (Oden 3,30) tönt bei Fleming vernehmbar nach. In einer epigrammatischen Apostrophe an die Muse der Dichtkunst hatte er es geradezu zitiert: Thalia / reiche mier ein taurendes Pappier / Denn seine schwäche geht dem starken Marmel für. Mein Denkmal sol ein Brief / ein Blat seyn / vol mit Zeilen/ Das trutz beuth / Jupiter / auch deinen Donner-keilen. Das steiffer / als Demant und Gold im Feuer hällt / Und endlich mit der Welt inn einen Hauffen fält.48

Nimmt man dieses historische Muster wahr, das von der Antike über Shakespeares Sonette bis zu Hölderlins „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ reicht, dann liegt es nahe, auch die andere Dimension der beiden Quartette historisch-topisch zu verstehen: die selbstbewußte Berufung auf ein trotz seiner Kürze dennoch gelebtes und erfülltes, ja vom ,Glück‘ begünstigtes Leben. Denn die Kürze dieses einen Lebens steht pars pro toto für die Kürze des Lebens überhaupt, über die, für die stoische Tradition maßgebend, Seneca in seiner Schrift De brevitate vitae reflektiert hatte. Angesichts der Kürze des Lebens, so lehrte die römische Verschmelzung epikureischer und stoischer Gedanken, wie sie sich bei Horaz und dann in Senecas Briefen an Lucilius findet, kommt es auf den erfüllten Augenblick an, denn nur wer im Leben Genüge gefunden hat, ist dem Tode gegenüber frei. „Deswegen eile zu leben“, schreibt Seneca an Lucilius, „und bedenke, jeder einzelne Tag ist ein Leben für sich („vivere et singulos dies singulas vitas puta“). Wer sich auf diese Weise rüstet, wer sein Leben täglich ganz gelebt hat, ist frei von Sorgen“ („cui vita sua cotidie fuit tota, securus est“).49 Horazens stärker epikureisch gefärbter Wunsch war es, das Gastmahl des Lebens satt zu verlassen: „ut conviva satur“. Seneca bot eine besonders für Fleming interessante Differenzierung mit dem Argument: „daß wir genug gelebt haben („ut satis vixerimus“), bewirken weder 48 Tetsche Poemata, S. 93. 49 Seneca: Epist. 101, 10.

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Jahre noch Tage, sondern die Seele“.50 In den schon zitierten Versen, in denen Fleming sich mit seiner Wendung zum Hochdeutschen auf Opitz beruft, gibt er mit der Versicherung, er habe „satt gelebt,“ geradezu ein Echo, indem er an das „satur“ und „satis“ sein „satt“ anklingen läßt. Wie schon in diesen Versen verbinden sich in der Grabschrift beide Topoi: Die Berufung auf ein selbstbewußt in seinem Wert wahrgenommenes Leben und auf die Dauer des Dichterruhms. Und beide Topoi stehen ganz im Zeichen des Todes. Sie dienen der stoischen Selbstbefestigung und Selbstermutigung im Hinblick auf die letzte, äußerste Herausforderung. So folgt auch die Demonstration des Selbstbewußtseins, die Rede vom gelungenen und geglückten Leben, dem für die stoische Lebensphilosophie typischen Rollenmuster. Ob es sich über diese auch rhetorisch mustergültige Selbststilisierung hinaus um eine Füllung mit wirklich individuellem Selbstbewußtsein handelt, muß dahingestellt bleiben. Nachdem schon der Lebensrückblick in den beiden Quartetten ganz auf das Bestehen des Todesschicksals hin formiert war, wenden sich die Terzette dem bevorstehenden Tod zu: Das gefestigte Ich bewährt sich in stoischer Haltung gegenüber dem Tod (probatio). Eingeleitet wird diese Schlußpartie durch die feststehende Formel der ,Valedictio‘: „Ich sag‘ Euch gute Nacht“, die auch Gryphius des öfteren in Erwartung des Todes verwendet. Allerdings enthält die sich mit der Valedictio verbindende Bitte um Verzeihung ein ungewöhnliches Element insofern, als Fleming sie mit dem Zusatz „bin ichs werth“ rhetorisch einschränkt. Dies ist eine letzte Demonstration des Selbstbewußtseins. Verzeihung wird nicht von der Großmut, Liebe oder Gnade der darum Gebetenen – zu denen immerhin Gott gehört – , sondern vom eigenen Wert abhängig gemacht! Und diesen Wert, der sich schon im Ruhm des Dichters manifestiert, bewährt das rollenhaft formierte Ich vollends durch die stoisch-bereitwillige Annahme des Todes: „[…] und trette willig ab“. Es entspricht damit dem fundamentalen stoischen Postulat ,secundum naturam vivere‘, denn naturgemäß leben heißt auch das naturgesetzlich notwendige Schicksal des Todes akzeptieren. Diesem Ziel gilt die stoische Psychagogie, und Senecas Briefe an Lucilius verfolgen es konsequent. Schon am Anfang schreibt er: „Darauf sei täglich bedacht, daß du die Kraft habest, mit Gleichmut das Leben zu verlassen“ („Hoc cotidie meditare, ut possis aequo animo vitam relinquere“51). Die 50 Seneca: Epist. 61, 48. 51 Seneca: Epist. 4, 5.

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Philosophie selbst bestehe darin, „den Tod zu lernen“ („mortem condiscere“52). Das Echo in Montaignes Essais lautet: „Que philosopher, c’est apprendre à mourir“. „Gut sterben“, „bene mori“, ist die Losung, die Seneca im Gefolge Demokrits wiederholt ausgibt.53 „Schlecht lebt, wer nicht gut zu sterben versteht“, formuliert er in der Schrift De tranquillitate animi,54 und gut sterben heißt ohne Furcht, ja mit innerer Bereitschaft dem Tod entgegengehen. Indem Fleming erklärt, er „trette willig ab“, zitiert er geradezu Senecas Fazit: „gut zu sterben, heißt aber, bereitwillig zu sterben“ („bene autem mori est libenter mori“55). Flemings „willig“ erinnert gerade in seiner voluntativen Dimension an das psychagogische Programm, das Seneca im Hinblick auf den Tod entwickelt: „Nicht wer auf Befehl etwas tut, ist unglücklich, sondern wer es gegen seinen Willen tut („qui invitus facit“). Daher wollen wir so die Seele formen („animum componamus“), was immer die Sachlage fordert, zu wollen („id velimus“) und besonders an unser Ende ohne Traurigkeit zu denken„.56 Flemings ganze Grabschrift dient solcher Seelenformung. Sie ist nicht bloß – wenn überhaupt – als die gewünschte Aufschrift für sein Grabmal zu lesen, vielmehr als eine Selbstbesinnung, die der stoischen Bewältigung des bevorstehenden Todes dienen soll. Das letzte Terzett überbietet noch die stoische Programmatik des vorausgehenden. Zuerst, indem es Tod und Leben wie außerhalb der Ich-Sphäre agierende feindliche Mächte figurenhaft verselbständigt, so daß das Ich davon beinahe unberührt erscheint. Der ,Feind‘ in dem Vers: „Was frey dem Tode steht / das thu er seinem Feinde“ ist das Leben. Die rhetorische Frage „Was bin ich viel besorgt / den Othem aufzugeben?“ nimmt die stoische Abweisung der Sorge aus dem zweiten Quartett steigernd auf, wo das Ich sich „Jung, wachsam, unbesorgt“ nennt. Die Freiheit von Sorge, se-curitas, verbindet sich in der Stoa eng mit der Ruhe des Gemütes, der tranquillitas animi. In den Briefen an Lucilius preist Seneca häufig solche Freiheit von Sorge.57 Die Schrift De tranquillitate animi gipfelt und endet mit einer Absage an die Sorge: „cura circumit animum labentem“.58 Fleming, der sich diesem 52 53 54 55 56 57 58

Seneca: Epist. 26, 9. Demokrit, Fragment 205 (Diels / Kranz). Seneca: De tranquillitate animi 11,4: „Male vivet quisquis nesciet bene mori“. Seneca: Epist. 61, 2. Seneca: Epist. 61, 3. Vgl. Epist. 92,3; 101,10 u. ö. Kap. 17,12.

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Thema auch in anderen stoisch konzipierten Gedichten zuwendet, nimmt es hier in die rhetorische Frage auf, um nach überliefertem epigrammatischem Muster eine Antwort zu provozieren,59 welche die im vorangehenden Terzett ausgedrückte Todesbereitschaft in einem finalen Concetto überbietet. Als nahezu gleichgültig, wenn nicht sogar verachtenswert erscheint nun der Tod, und dies, weil das Leben – nicht das schon gelebte, bereits als glücklich gepriesene Leben, sondern die bloße physische Existenz – selbst keinen Wert darstellt. Auch das ist gut stoisch. Das Leben sei unter die Dinge minderen Ranges („inter vilia“) zu zählen, heißt es in der Schrift De tranquillitate animi im Hinblick auf die geforderte Bereitschaft zu sterben;60 und nach einer langen Reihe anderer diätetisch-therapeutischer Ratschläge empfiehlt Seneca in seinen Epistulae morales dem Freunde Lucilius als „Heilmittel im ganzen Leben: verachte den Tod“ („[…] totius vitae remedium […] contemne mortem“61). Dies ist der eine Aspekt des Schlußverses: „An mir ist minder nichts / das lebet / als mein Leben“. Am Ende des Gedichts, das den Dichterruhm als höchste, bis ans Ende der Welt dauernde Aus59 Diese Kunst der finalen Zuspitzung durch eine rhetorische Frage, welche die entscheidende Antwort provoziert, läßt sich schon im Epigramm des Ennius auf sein Fortleben im Dichterruhm (vgl. S. 813) und in einer Reihe von Martials Epigrammen erkennen. 60 Seneca: De tranquillitate animi 11, 4. 61 Seneca: Epist. 78, 5. Diese Extremposition, die zugleich eine Grundposition des Stoizismus ist, provozierte skeptische Gegenreaktionen. Geradezu programmatisch ausgeprägt ist sie bei La Rochefoucauld. Auf dem Frontispiz der Erstausgabe seiner Aphorismensammlung zieht ein geflügelter Amor als Diener der Wahrheit der Büste Senecas die Maske vom Gesicht. Seine heroische virtus soll als unrealistisch und scheinhaft bloßgestellt werden. In der Schlußmaxime Nr. 504 wird gerade die für die Stoa zentrale Todesverachtung als unaufrichtig kritisiert. In der zeitgenössischen Übersetzung von Talander [d. i. August Bohse]: „ […] Und die Vernunfft / in der man glaubet / sich so viel zu erholen / ist in dieser Begegnung viel zu schwach / uns dasjenige zu überreden / was wir gerne wollen. Vielmehr ist sie es / die uns zum öfftern verräth / und welche / an statt die Verachtung des Todes uns einzugeben / dazu dienet / das jenige zu entdecken / was an ihm abscheuliches und entsetzliches ist“ (Gemths-Spiegel / durch die kçstlichsten moralischen Betrachtungen Lehrsprche und Maximen die Erkntniß seiner selbst und anderer Leute zeigend […]. Leipzig 1699). Vgl. Margot Kruse: Die franzçsischen Moralisten des 17. Jahrhunderts, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 10, 2: Renaissance und Barock, hg. von August Buck, Frankfurt 1972, S. 280 – 300; sowie Jürgen von Stackelberg: Franzçsische Moralistik im europischen Kontext, Darmstadt 1982 (Erträge der Forschung 172), S. 117 f.

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zeichnung preist, weist er aber auch, und nun mit dem Pathos des Indirekten, auf diesen Stolz des gelebten Lebens hin. Es ginge wohl zu weit, wollte man Fleming, der auch zahlreiche religiöse Gedichte verfaßte, eine Distanzierung von christlicher Glaubenshaltung und Jenseitshoffnung zuschreiben. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß der Schlußvers einen dreifachen ,Schriftsinn‘ besitzt: einen stoischen, insofern er der Todesverachtung Ausdruck verleiht, einen auf die irdische Unsterblichkeit des Dichterruhms abhebenden, schließlich noch einen christlichen, insofern das sterbliche Leben in Anbetracht der Unsterblichkeit der Seele gering zu achten ist. Aber der gesamte Kontext des Gedichts, das von Anfang an durch die selbstbewußte Berufung auf das diesseitig in seinem vollen Wert anerkannte Leben und auf den irdischen Dichterruhm bestimmt ist, läßt die Präferenzen unzweideutig erkennen. Daß es sich nicht um irgendein Gedicht, auch nicht nur um eine der von einer fiktiven Inszenierung ausgehenden modischen Grabschriften, sondern um Verse handelt, die Fleming in unmittelbarer Erwartung seines eigenen Todes niederschrieb, verleiht dieser konzeptionellen Entscheidung besonderes Gewicht.

VI Artistisch schließt das letzte Terzett und damit das ganze Gedicht, indem es den in den beiden Quartetten explizit zur Sprache gebrachten dichterischen Ruhm, der sich am Ende des ersten Quartetts bereits zur irdischen Unsterblichkeit steigerte, nun implizit zum höchsten Wert erklärt. Rhetorisch dient dieser emphatischen Pointierung des Endes die gedankliche Auslassungsfigur des Enthymema62 im Verein mit der Fi62 Da die von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit äußerst verwickelte Geschichte des Begriffs ,Enthymema‘, in dem sich logische und rhetorische Aspekte mischen (hierzu zusammenfassend M. Kraus: Enthymem, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Band 2, Darmstadt 1994, Sp. 1197 – 1222.) zu keiner festen und einheitlichen Definition geführt hat, lege ich hier nicht die von Aristoteles etablierte und in der Antike dominierende eigentliche Wortbedeutung zugrunde, der zufolge ein Enthymema eine „im Sinn“ (1m hul`) zu behaltende explizite Aussage ist, in der lediglich ein syllogistisch notwendiges Glied fehlt, vielmehr die seit dem Mittelalter durch die ganze Neuzeit hindurch verbreitete Deutung des Enthymema, der zufolge man das Unausgesprochene, aber implizit Gemeinte „im Sinne“ (1m hul`) behalten soll. Das Enthymema enthält damit einen Appell an den selbständig

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gura etymologica („An mir ist minder nichts/das lebet/als mein Leben“). Argumentativ führt die stoische Todesbereitschaft, die sich nun zu einer entsprechenden Abwertung des physischen Lebens radikalisiert, zur Höchstwertung des dichterischen Ruhms, in dem der Dichter über sein ,Leben‘ hinaus ,leben‘ wird. Eigentümlich ambivalent aber wirkt der Schlußvers, indem diese argumentative Strategie zugleich eine innere Gegenläufigkeit erkennen läßt: Die implizite Berufung auf das Fortleben im Dichterruhm bestärkt und erleichtert die stoische Todesbereitschaft. Insofern fungiert sie auch als consolatio. Diese Mehrdimensionalität des Schlußverses läßt ihn vollends als Musterstück jenes Ideals der scharfsinnigen Kombinationsgabe und Kunst der Zuspitzung: der argutia erscheinen, die für die Epigrammatik so bezeichnend ist. Schon Martials programmatische Verse, die seine zwölf Epigrammbücher eröffnen und in denen er, wie dann eineinhalb Jahrtausende später Fleming, von seinem durch die ganze Welt verbreiteten Ruhm spricht, heben die argutia als Hauptqualität hervor: Hic est quem legis ille, quem requiris, toto notus in orbe Martialis argutis epigrammaton libellis […] 63

Die durch Jahrhunderte immer von neuem zitierte Zentral-Aussage Scaligers im Epigrammkapitel seiner Poetik lautet: „Epigramatis duae virtutes peculiares: brevitas & argutia […] Brevitas proprium quiddam est. Argutia, anima, ac quasi forma“.64 Direkt aus Scaliger übersetzend schrieb Martin Opitz im fünften Kapitel seines 1624 erschienenen Buchs von der Deutschen Poeterey über das Epigramm: „Denn die kürtze [brevitas] ist seine eigenschafft, und die spitzfindigkeit [argutia] gleichsam seine seele und gestallt; die sonderlich an dem ende erscheinet, das denkenden Leser; rhetorisch ist es durch brevitas ausgezeichnet (die durch Aussparung zustandekommt), gelegentlich wird zu seinen Kennzeichen eine bis zum (Schein-) Widerspruch getriebene Gegensätzlichkeit gerechnet – auch dies Merkmale von Flemings letztem Vers. Die gedankliche Struktur des Enthymems erhält er durch die Notwendigkeit, die der conclusio „An mir ist minder nichts / das lebet / als mein Leben“ zugrundeliegende, aber hier ausgesparte Prämisse sich ,im Sinn‘ zu vergegenwärtigen, was nach der Lektüre der Quartette unschwer zu leisten ist: daß nämlich das vergängliche physische „Leben“ unter der Voraussetzung unwesentlich ist, daß der Dichter in seinem Ruhm schon unvergängliches Leben gewonnen hat. 63 Martial: Epigrammaton libri XII, 1. 1. V. 1 – 3. 64 Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Lyon 1561 (Faks.–Neudruck, hg. von August Buck, Stuttgart-Bad Canstatt 1964), 170 C.

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allezeit anders als wir verhoffet hetten gefallen soll: in welchem auch die spitzfindigkeit vornemlich bestehet“. Daß die argutia „sonderlich an dem Ende“, im Schlußvers von Flemings Grabschrift nicht nur durch die Figura etymologica zur Geltung gelangt, sondern auch durch das Enthymema den Leser zum Auffinden des nicht ausgesprochenen entscheidenden Gedankens durch eigenes Nachdenken stimuliert, macht es auch zum ,Sinngedicht‘: Es reizt zum Nachsinnen an, wie es die zeitgenössischen Dichtungsprogramme vor allem für epigrammatische Formen empfahlen. Das von Morhof und Kuhlmann als Schatzkammer der Epigrammatik gepriesene Florilegium Politicum von Johann Christoph Lehmann läßt einen seiner Sprüche mit dem Satz enden: „Hanc nemo nisi mens ingeniosa legit“ und fügt auf deutsch hinzu: „Durch besinnen / kann mans ersinnen“.65 Kaspar Ziegler brachte diese auf die geistige Aktivierung des Lesers zielende Eigenschaft epigrammatischen Dichtens auf den Nenner: „Denn es ist m. E. eines epigrammatis und also auch eines Madrigals größte Zierde, daß sie wenig Worte und weitläuftige Meinungen mit sich führen, dadurch sie mit einer sonderbaren und artigen Spitzfindigkeit in den Gemütern ein ferneres Nachsinnen verursachen […]“.66 So erscheinen die epigrammatischen „Sinngedichte“ als entschiedenste Ausprägung jenes spezifisch artistisch-„ingeniösen“ argutia-Ideals, das Baltasar Gracián schon im Titel seiner berühmten Schrift Agudeza y arte de ingenio (1642) programmatisch formulierte und das 1649 zu Jacob Masens Schlüsselschrift Ars nova argutiarum führte. Indem sich die argutia durch das Enthymema in Flemings Schlußvers auch als eine Kunst geistreicher Aussparung manifestiert, entspricht sie zugleich einem allgemeineren Stil-Ideal des stoisch formierten Barockhumanismus: In einer Gegenwendung gegen den oratorisch weitausschwingenden und wortreichen Periodenstil Ciceros, dem schon 65 Johann Christoph Lehmann: Florilegium Politicum Auctum. Das ist: Ernewerter Politischer Blumengarten, Franckfurt 1640, S. 4. 66 Kaspar Ziegler: Von den Madrigalen. Wittenberg 1653, Ausg. von 1685, S. 5 f. Zu diesem Zusammenhang: Günther C. Rimbach: Das Epigramm und die Barockpoetik. Anstze zu einer Wirkungssthetik fr das Zeitalter, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 100 – 130, hier S. 100 – 102. Hier auch der Hinweis, daß noch Gottsched das „Sinngedicht“ so definiert: „Wir geben ihnen [d.i. den Sinngedichten] im Deutschen diesen Namen, weil sie gemeiniglich etwas scharfsinniges, oder besser etwas Sinnreiches in sich haben, das dem Leser ein angenehmes Nachsinnen erwecket“ ( Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, Leipzig 1730, 4. vermehrte Auflage 1751, Neudruck Darmstadt 1962, S. 681).

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Montaigne kritisch „trop de vent“ bescheinigt hatte, bildete sich ein ,Tacitismus‘ heraus, der lakonische, oft durch Auslassungsfiguren gekennzeichnete Formulierungen bevorzugte. Einer der Hauptrepräsentanten dieses Tacitismus war der auch für Fleming maßgebliche Vertreter des Neustoizismus: Justus Lipsius. So ist also in Flemings Grabschrift die schon vom epigrammatischen Genre her geforderte brevitas und argutia zugleich eine stoisch approbierte Kunst des Lakonismus. In einer rhetorischen Klimax steigert sie sich von der extrem elliptischen Aussage „Frey; Meine“ im ersten Quartett über das ebenso elliptisch und asyndetisch formierte, aber nun schon dreigliedrige Kolon des zweiten Quartetts: „Jung / wachsam / unbesorgt“ und über das viergliedrige asyndetische Kolon „Gott / Vater / Liebste / Freunde“ am Beginn des ersten Terzetts bis zum Enthymema des Schlußverses.

Von müßigen Geschäften und freiheitlichem Stand Stoische Tradition in der Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts von Thorsten Fitzon Der Stoizismus kommt nicht vom Lande. Er nahm seinen Ursprung in der Athener Säulenmarkthalle in mitten der stadtrepublikanischen Gesellschaft. Deutlicher hätte der topographische Gegensatz zu den Epikureern nicht sein können, die den Rückzug in die Abgeschiedenheit propagierten und die im Garten den bevorzugten Ort des Philosophierens erkannten. In der Bezeichnung Kepos spiegelt sich diese spezifische Differenz des Epikureismus’ als Gartenphilosophie gegenüber der Stoa wider. Trotz dieses vordergründigen Gegensatzes der stoischen vita activa, die in der Öffentlichkeit wirkt, zum Rückzug aus der Gesellschaft in den Garten Epikurs prägte seit dem 16. Jahrhundert stoisches Denken gerade auch die europäische Garten- und Landlebendichtung.1 Nachdem schon Petrarca in seiner Schrift De vita solitaria Land und Garten als stoische Gegenräume zum öffentlichen Leben gewertet hatte, knüpfte auch Justus Lipsius an dieses Vorstellungsmuster an. Im zweiten Kapitel des neustoizistischen Hauptwerks De Constantia lässt sich Lipsius im fiktiven Dialog mit Langius davon überzeugen, dass der Rückzug in den Garten der Haltung eines Stoikers durchaus gemäß ist.2 Ohne auf den Epikureismus hinzuweisen, aktualisiert Langius die Aneignung des Gartens für den Neustoizismus. Nicht nur versetzt Lipsius seinen Dialog in den Garten des Langius’, sondern der Garten erscheint als Spiegel natürlichen Daseins und so als Idealraum einer bewussten vita contemplativa. Lipsius stellt sich in die antike Tradition 1 2

Vgl. zur Geschichte der Landlebendichtung Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille. Studien zum Lob des Landlebens in der Literatur des absolutistischen Zeitalters. Tübingen 1981 (Hermaea NF 44). Justus Lipsius: De Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch/Deutsch, hg. von Florian Neumann. Mainz 1998, S. 172 – 194. Zum Garten des Justus Lipsius vgl. Christiane Lauterbach: Grten der Musen und Grazien. Mensch und Natur im niederlndischen Humanistengarten 1522 – 1655. München und Berlin 2004, hier S. 72 – 84.

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des stoischen Rückzugs, wenn er das negotium in otio mit der Autorität eines bei Cicero überlieferten Ausspruchs des Scipio Africanus maior beglaubigt: Auch bin ich nicht so welk oder, mehr noch: so tot, daß ich mich in den Schatten dieser Gärten einsperre oder vergrabe. Vielmehr mache ich mir auch an diesem müßigen Ort etwas zu schaffen, und das Gemüt stellt dort fest, daß es ohne Handeln tätig ist, ohne Mühe etwas verrichtet. „Ich bin niemals weniger allein“, pflegte jener zu sagen, „als wenn ich allein bin und niemals weniger müßig, als wenn ich müßig bin.“3

Diese Verbindung von Stoa und Garten knüpft auch an Seneca an, der ebenfalls das zurückgezogene Leben des Scipio Africanus lobt.4 In seinen Briefen an Lucilius befürwortet er den zeitweiligen Rückzug zur Muße und weist den Vorwurf einer Annäherung an den epikureischen Eskapismus zurück.5 So versucht Seneca, Lucilius von der Ausübung eines Staatsamtes abzubringen, indem er die vita contemplativa in den Epistulae morales gegenüber einer falsch verstandenen vita activa aufwertet. Der Rückzug ist jedoch nicht selbstzweckhaft, sondern dient dazu, tätige Muße zu üben statt eine zweifelhafte öffentliche Aufgabe um jeden Preis zu erstreben: „Muße“, sagst du, „Seneca, empfiehlst du mir? Zu des Epikur Aussprüchen gleitest du ab.“ – Muße empfehle ich dir, daß du darin Wichtigeres tust und Schöneres, als was du hinter dir gelassen hast: zu klopfen an die hochmütigen Türen der Mächtigen, in Listen einzutragen kinderlose Greise, großen Einfluß zu haben auf das Forum, ist eine missgünstige Macht, kurz und, wenn du sie richtig einschätzt, schmutzig.6 3

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(„Nec idem ille ego tam j marcidus, imo tam mortuus, ut j recondam & velut sepeliam me in his j hortorum umbris. Negotium etiam in j illo otio reperio, & invenit ibi animus, j quod sine actione ulla agat, sine j labore ullo elaboret. Numquam minus j solus sum, aiebat ille, quam cum solus:jnumquam minus otiosus, quam cum jotiosus.“) Justus Justus Lipsius (wie Anm. 2), S. 187 – 189. „Großes Vergnügen also kam mich an, als ich verglich Scipios Lebensweise und unsere“ („Magna ergo me voluptas subiit contemplantem mores Sicipionis ac nostros“) L. Annaeus Seneca: Ad Lucilium epistulae morales I–LXIX. Philosophische Schriften Bd. 4, hg. und übersetzt von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1999, S. 256 f. (Epist. 86, 5). Seneca: Epist. 68, 10. („Otium, inquis, Seneca, commendas mihi? Ad Epicureas voces delaberis.“ „Otium tibi commendo, in quo maiora agas et pulchriora quam quae reliquisti: pulsare superbas potentiorum fores, digerere in litteram senes orbos, plurimum in foro posse invidiosa potentia ac brevis est et, si verum aestimes, sordida.“) Ebd.

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Über das Gartenkapitel in De Constantia vermittelte Lipsius eine stoische Interpretation des Landlebens, die auch die Gartenkultur des 16. Jahrhunderts in starkem Maße beeinflusste.7 Die Humanistengärten, wie etwa der Garten von Peter Paul Rubens,8 beziehen sich auf die von Langius vorgetragene Auffassung und folgen in ihrer Gestaltung der stoischen Programmatik des zeitweiligen Rückzugs zum „negotium in otio“. Für die Gattung der laus ruris hat Anke-Marie Lohmeier gezeigt, dass die Vorstellung eines idealen Landlebens seit dem Humanismus auf die stoische Moralphilosophie, insbesondere auf die Lehre von der tranquillitas animi zurückgeht.9 Ausgehend von einem Textvergleich leitet Lohmeier vier Definitionskriterien für die Landlebendichtung ab: Erstens reflektiert sie immer auf die ländliche Lebensform, zweitens ist sie durch den räumlichen Kontrast zum städtischen und höfischen Leben gekennzeichnet, drittens hebt sie die Autonomie des Einzelnen hervor und viertens schließlich verhandelt sie meist ex negatione die abgelehnte, komplementäre Lebensform.10 Gleiches gilt, wie Christiane Lauterbach am Beispiel der niederländischen Humanistengärten darlegt, in Ermangelung sicherer Landsitze auch für das Lob des rus in urbe, also des Gartens in der Stadt und damit für das Genre der laus horti.11 Die Forschung betont dabei, dass die Landlebendichtung lediglich ein Tugendideal beschreibe, welches trotz des konstitutiven Kontrastes zu Stadt und Hof nicht im Sinne einer Sozialutopie oder Zivilisationskritik verstanden werden dürfe. Vielmehr scheint gerade die Stoa-Rezeption in der laus ruris wie der laus horti zu belegen, dass es sich, so Lohmeier, um „die erwünschte oder fiktiv vollzogene Daseinsform einzelner Menschen handelt“.12 Lohmeiers induktiv-vergleichende Gattungsbestimmung schließt deshalb zunächst alle Texte aus, die zwar Motive des 7 Vgl. Hana Seifertová: Der Garten in den Augen der Humanisten, in: Grten und Hçfe der Rubenszeit im Spiegel der Malerfamilie Brueghel und der Knstler um Peter Paul Rubens, hg. von Ursula Härting. München 2000, S. 25 – 35, hier S. 29. 8 Lipsius’ Aneignung der Stoa für das Konzept einer humanistischen Gartenlehre am Beispiel von Peter Paul Rubens Garten behandelt Ulrich Heinen: Rubens’ Garten und die Gesundheit des Knstlers, in: Wallraff-Richartz-Jahrbuch 65 (2004), S. 71 – 182, hier S. 92 – 100. 9 Anke-Marie Lohmeier (wie Anm. 1), S. 87 – 101. 10 Zur Gattungsbestimmung vgl. Anke-Marie Lohmeier (wie Anm. 1), S. 51 – 56. 11 Christiane Lauterbach (wie Anm. 2), S. 154 f. 12 Anke-Marie Lohmeier (wie Anm. 1), S. 52. Vgl. ebenso Christiane Lauterbach (Anm. 2), S. 90.

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Landlebens aufgreifen, diese aber in einem überindividuellen, gesellschaftskritischen oder visionären Kontext verhandeln. Auch Dichtungen wie Albrecht von Hallers Die Alpen (1732) und Jean-Jacques Rousseaus Roman Julie ou la Nouvelle Hlose (1761) spielen zwar unverkennbar auf die stoische Tradition an, gehören aber nach Lohmeiers Definition im strengen Sinn nicht mehr zur Landlebendichtung.13 Die auffallende Kontinuität der Stoa-Rezeption rechtfertigt jedoch eine heuristische Erweiterung der engen Gattungsvorstellung im Hinblick auf überindividuelle Aspekte, so dass auch die zivilisationskritische Interpretation des zunächst individuell-moralphilosophisch begründeten stoischen Rückzugs in die Natur einzubeziehen ist. Welchen Bedeutungs- und Funktionswandel der Rekurs auf die Stoa in der Landlebendichtung vom 17. zum 18. Jahrhundert erfahren hat, soll ausgehend von Senecas Lob des Landlebens an Texten von Martin Opitz, Andreas Gryphius, Albrecht von Haller und Jean-Jacques Rousseau exemplarisch untersucht werden. In der literarischen Gestaltung des Landlebenideals lässt sich eine sozialutopische Transgression der stoischen laus ruris14 nachzeichnen, die sich weder in einer bloßen Kompensation von zeitgenössischen Disziplinierungszwängen erschöpft15 noch mit einer Abkehr von der stoischen Tradition einhergeht. Über Senecas eigene Gärten ist wenig bekannt. Lediglich davon, dass ihre Größe, Anmut und Pracht einen beachtlichen Reichtum anzeigten, berichten Juvenal und Tacitus gleichermaßen.16 In seinen 13 Lohmeier schließt die genannten Texte daher explizit von ihrer Untersuchung zur laus ruris aus (wie Anm. 1, S. 53 f.). 14 Beispielhaft hat Jochen Schmidt für Paul Flemings Gedicht In grooß Neugart der Reussen (1634) nicht nur die Abhängigkeit von der Stoa nachgezeichnet, sondern auch auf den utopischen Charakter verwiesen, der in dem Vergleich der ländlich lebenden „Reussen“ mit dem Goldenen Zeitalter liegt ( Jochen Schmidt: „Du selbst bist dir die Welt“. Die Reise nach Utopia als Fahrt zum stoisch verfassten Ich. Paul Flemings Gedicht „In Grooß Neugart der Reussen“, in: Daphnis 31, 2002, 215 – 233, hier 233). 15 So beispielsweise der Erklärungsversuch von Kees Schmidt: Hollands buitenleven in de 17de eeuw. 1. De opkomst van de buitenplaatsen, in: Amsterdam Sociologisch Tiijdschrift 4 (1978), S. 436 – 438. 16 Juvenal spricht von den großen Gärten des Seneca („magnos […] hortos“) Vgl. D. Junius Juvenal: Saturae XIV. Fourteen Satires of Juvenal, hg. von James D. Duff. Cambridge 1966, S. 64 (Saturae 10,16). Ebenso berichtet Tacitus davon, dass Seneca „in der Anmut seiner Gärten und der Pracht seiner Landsitze […] gleichsam den Princeps überbieten“ wolle („hortorum quoque amoenitate et villarum magnificentia quasi principem supergrederetur“). P. Cornelius Taci-

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Briefen an Lucilius deutet Seneca aber mehrfach an, dass ein richtig verstandenes Landleben Vorzüge besitze. Nicht der Rückzug auf das Land für sich genommen, sondern die Haltung desjenigen, der die Stadt verlässt, entscheidet darüber, ob der Aufenthalt dem stoischen Grundsatz des secundum naturam vivere dienen kann. So beschreibt er am Beispiel der kampanischen Villa eines Servilius Vatia, dass das Landleben zu verurteilen sei, solange es, wie im Fall des Vatia, lediglich der Flucht vor den Geschäften und Menschen (res et homines fugit) diene. Hingegen suche der Weise die Einsamkeit nicht zur Untätigkeit auf, sondern zur Muße. Der Weise sei es daher, der unabhängig von seiner Umgebung für sich zu leben (scit sibi vivere) und somit überhaupt zu leben wisse (scit vivere). Der in diesem Brief betonten Gleichgültigkeit gegenüber den äußeren Umständen des Ortes für die Ruhe des Gemüts17 steht allerdings schon im nächsten Brief Senecas Leiden an der lärmenden Bäderstadt Baiae entgegen: Ich will zugrundegehen, wenn so notwendig ist, wie es scheint, Stille für den in seine Studien Vertieften. Sieh, von allen Seiten umdröhnt mich vielfältiger Lärm: unmittelbar über einer Badeanstalt wohne ich. Stell dir nun alle Arten von Geräuschen vor, die Haß auf die eigenen Ohren verursachen können.18

Zwar beteuert Seneca, dass weder äußerer Lärm noch nächtliche Ruhe für sich genommen ein Übel oder ein Gut seien, sondern jeweils auf ihre Art die Stärke der Seele auf die Probe zu stellen vermögen, doch schließt er seinen Brief mit der rhetorischen Frage „Ist es gelegentlich nicht bequemer, auch zu verzichten auf Gelärme?“19 Seneca entflieht daraufhin dem Lärm Baiaes und verweist auf Odysseus, der sich den Sirenen schließlich auch nicht mutwillig ausgesetzt habe. Die beiden Episoden zeigen beispielhaft, welchen Stellenwert Seneca dem Rückzug auf das Land oder in die Natur des Gartens einräumt: solange er von der richtigen Haltung getragen wird, ist er hoch tus: Annalen. Lateinisch/Deutsch, hg. von Erich Heller. Düsseldorf 52005, S. 684 f. (Annales 14, 52). 17 Gegenüber Lucilius resümiert Seneca: „Aber nicht viel trägt der Ort zur Ruhe bei: die Seele ist es, die für sich allem den Wert verleiht.“ („Sed non multum tranquillitatem locus confert: animus est, qui sibi commendet omnia“). Seneca: Epist. 55, 8. 18 („Peream, si est tam necessarium quam videtur silentium in studia seposito. Ecce undique me varius clamor circumsonat: supra ipsum balneum habito. Propone nunc tibi omnia genera vocum, quae in odium possunt aures adducere“) Seneca: Epist. 56, 1. 19 („Non aliquando commodius est et carere convicio?“) Seneca: Epist. 56, 15.

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willkommen zum „otium cum dignitate“ im Sinne eines „sibi et secum vivere“. Indes ist nicht jeder Ort dem Weisen gleichermaßen angemessen: „So gibt es auch eine Landschaft, die ein Weiser oder ein zur Weisheit strebender meiden soll als unzuträglich einem sittlichen Charakter.“20 Der römische Lustort Baiae, daran lässt Seneca keinen Zweifel, wird einem nicht einfallen, wenn man an einen angemessenen Rückzugsort denkt.21 Eher entspricht das Landhaus des Scipio Africanus dem Ideal des einfachen Lebens der alten Römer, das ganz auf die Bedürfnisse ländlicher Arbeit ausgerichtet war und das Seneca gerade wegen des Kontrastes zur Überfeinerung der Sitten seiner Zeit erfreute.22 Im siebzehnten Kapitel seiner Schrift De tranquillitate animi empfiehlt er daher, neben dem Bekenntnis zum einfachen Leben „solitudo et frequentia“ gemäß einer auf Ausgleich bedachten Diätetik ins Gleichgewicht zu bringen: Oft muß man sich in sich selbst zurückziehen: der Umgang nämlich mit Andersartigem stört, was wohlgeordnet, und erneuert die heftigen Empfindungen, und was immer Schwaches in der Seele ist und nicht Ausgeheiltes, verschlimmert er. Man muß dennoch beides miteinander verbinden und abwechseln – Einsamkeit und Geselligkeit.23

Am besten gelingt dies auf einsamen Spaziergängen durch die Natur.24 Dabei kommt es auf die richtige Form des Rückzugs an, der nicht 20 („sic regio quoque est, quam sapiens vir aut ad sapientiam tendens declinet tamquam alienam bonis moribus“) Seneca Epist. 51, 2. 21 „Daher wird, wer an zurückgezogenes Leben denkt, niemals Kanopos wählen, obwohl Kanopos niemandem anspruchslos zu leben verbietet, ja nicht einmal Baiae: Aufenthalt von Fehlhaltungen zu sein hat es begonnen.“ („Itaque de secessu cogitans numquam Canopum eliget, quamvis neminem Canopus esse frugi vetet, ne Baias quidem: deversorium vitiorum esse coeperunt.“) Seneca: Epist. 51, 3. 22 Dass die Freuden des Ackerbaus und somit das Landleben „dem Leben eines Weisen am nächsten“ seien („voluptates agricolarum […] mihi ad sapientis vitam proxime videntur accedere“) legt auch Cicero in seiner Rede über das Alter dem Stoiker Cato maior in den Mund. Cicero: Cato maior de senectute. Lateinisch/Deutsch, hg. und übersetzt von Harald Merklin. Stuttgart 1998, S. 72 f. (De senectute 15,51). 23 („Multum et in se recedendum est: conversatio enim dissimilium bene composita disturbat et renovat affectus et quicquid imbecillum in animo nec percuratum est exulcerat. Miscenda tamen ista et alternanda sunt, solitudo et frequentia.“) L. Annaeus Seneca: De tranquillitate animi. Philosophische Schriften. Bd. 2, hg. und übersetzt von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1999, S. 166 f. 24 „Auch muss man Wanderungen in freier Natur unternehmen, damit sich unter freiem Himmel und in frischer Luft kräftige und aufrichte die Seele.“ („Et in

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inszeniert sein soll, damit etwa die Menschen über einen redeten (de te homines loquantur), sondern möglichst unauffällig die Selbstansprache (secum loqui) befördere.25 Mit selbstbezüglicher Blindheit ist das secum vivere keineswegs zu verwechseln. Im Gegenteil: zum naturgemäßen Leben gehört unauflöslich auch die Betrachtung der Natur (contemplatio naturae). Der Mensch steht als Betrachter (spectator) inmitten des Naturschauspiels und ist aufgefordert, die Natur mit seiner Geistesgabe zu erforschen.26 Senecas Schlussfolgerung: Also lebe ich entsprechend der Natur, wenn ich ganz mich an sie hingebe,27 hebt den vermeintlichen Gegensatz zwischen Landleben und vita activa auf und rechtfertigt das naturnahe Leben als ein des Weisen besonders würdiges. In der humanistischen laus ruris des 16. Jahrhunderts wurde das stoische Konzept eines dem Gelehrten angemessenen naturnahen Lebens aufgegriffen. Das einfache Landleben wie auch der Rückzug in den Garten bieten demnach den idealen Ausgleich zu den öffentlichen Geschäften: beide sichern die Freiheit von Fremdbestimmung, schirmen ab von jeglichen Störungen (perturbationes animi) und ermöglichen sowohl die stoische Auseinandersetzung mit sich selbst wie die Erforschung der Natur und Kultur. Das Lobgedicht auf den kleinen siebenbürgischen Ort Zlatna, das Martin Opitz 1623 während seines Aufenthalts am Weißenburger Gymnasium als Dank an den örtlichen Bergwerksleiter Heinrich Lisabon verfasste,28 greift diese neulateinische Tradition des gelehrten Landlebens auf, modifiziert sie aber in christlich-stoizistischer Absicht.29

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ambulationibus apertis vagandum, ut caelo libero et multo spiritu augeat attolatque se animus“) Seneca: Tranq. 17, 8. Vgl. Seneca: Epist. 68, 6. Vgl. L. Annaeus Seneca: De otio. Philosophische Schriften. Bd. 2, hg. und übersetzt von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1999, S. 92 (De otio 5, 3 – 6). („Ergo secundum naturam vivo si totum me illi dedi“) Seneca: De otio. 5, 8. Zu Opitz’ Aufenthalt in Siebenbürgen und dem Programm seiner dort entstandenen Schriften vgl. Achim Aurnhammer: Tristia ex Transsilvana. Martin Opitz’ Ovid-Imitatio und poetische Selbstfindung in Siebenbrgen (1622/23), in: Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen whrend der Renaissance, hg. von Wilhelm Kühlmann und Anton Schindling. Stuttgart 2004, S. 253 – 273. Zur Deutung des Gedichts als Exempel für die Gattung der laus ruris im 17. Jahrhundert vgl. Anke-Marie Lohmeier (Anm. 1), S. 193 – 200 und 220 – 248.

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Das Gedicht Zlatna ist in zwei Fassungen überliefert.30 Die zweite Fassung besteht aus 532 regelmäßigen heroischen Alexandrinern und kann, wie Lohmeier vorschlägt, sinnvoll in drei Abschnitte unterteilt werden:31 in das Lob des Gastgebers und Adressaten Lisabon (V. 1 – 324), in eine Feier des ländlichen Lebens in Siebenbürgen, der eigentlichen laus ruris (V. 325 – 436), und schließlich in die utopische Vision eines Landlebens, in das sich das lyrische Ich versetzt wünscht (V. 437 – 528). Der Wechsel von der dritten Person in die erste Person Singular sowie der Moduswechsel zum Konjunktiv heben den letzten Abschnitt deutlich von den beiden vorangehenden Passagen des Gedichts ab, bevor die Schlussverse sich wieder in direkter Apostrophe an den Adressaten wenden (V. 529 – 532). Trotz dieser Markierung bleiben die ungleichen Teile wechselseitig aufeinander bezogen. Die Doppelstruktur des Titels Zlatna Oder Getichte Von der Ruhe des Gemthes, der Exempel und stoische Lehre aufeinander bezieht, wird bereits in der Widmungsrede wieder aufgegriffen. Opitz schreibt, dass ihm seine Ausflüge nach Zlatna Erholung und Inspiration verschafften, die mildernd auf sein generelles Unbehagen an Siebenbürgen wirkten, wo ihm „Lufft/ Wasser unnd alles/ wessen unsere Dürfftigkeit nicht entbehren kann“ ebenso zuwider schienen wie des Volkes „Sitten/ Sprachen/ Reden und Gedancken“ seiner „Natur gantz entgegen waren“.32 Die „Erlustierung“33 in Zlatna nimmt Opitz zum Anlass, seinen eigenen 30 Vgl. zur Druckgeschichte und den Unterschieden der Fassungen den Kommentar von George Schulze-Behrend in Martin Opitz: Gesammelte Werke. Bd. 2: Die Werke 1621 bis 1626. Teil 1, hg. von George Schulze-Behrend. Stuttgart 1978, S. 60 – 64. 31 In der Forschung werden verschiedene Strukturen der Dichtung diskutiert. Neben der von Anke-Marie Lohmeier vorgeschlagenen Dreiteilung, die zwar inhaltlich überzeugt, formal jedoch den Nachteil eines überproportionalen ersten Teils mit sich bringt, werden auch differenziertere Einteilungen etwa in fünf Sinnabschnitte erwogen (vgl. Horst Nahler: Das Lehrgedicht bei Martin Opitz. Diss. Jena 1961, hier S. 98 – 106) oder vier (Leif Ludwig Albertsen: Das Lehrgedicht. Eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur mit einem unbekannten Gedicht Albrecht von Hallers. Aarhaus 1967, hier S. 99 – 106). Für die Dreigliedrigkeit plädiert Achim Aurnhammer (wie Anm. 28), S. 268: Die Disproportionalität der drei Teile, müsse, so Aurnhammer, zudem nicht gegen eine Dreiteilung sprechen, da sich in ihr der „Prozeß der Individualisierung spiegle, der in der Selbstfindung des Dichters gipfelt“. 32 Martin Opitz: Zlatna oder Getichte von der Ruhe des Gemthes, in ders.: Gedichte. Eine Auswahl, hg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1970, S. 75. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit Verszählung in Klammern zitiert. 33 Ebd., S. 76.

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Affekt gegen den ungeliebten Aufenthalt in Siebenbürgen im stoischen Zusammenhang des Begehrens falscher Güter zu verstehen. Die ins Allgemeine gewendete stoische Programmatik des Gedichtes, die dem ruhelosen Streben nach den Adiaphora die „Ruhe des Gemüthes“ (tranquillitas animi) und Selbstgenügsamkeit (Autarkie) entgegensetzt, muss auch als Ermahnung des Dichters an sich selbst gelesen werden: Die meisten trachten nach dem/ welches zwar Ehr/ Reichthumb/ Wollust und dergleichen genennet wird; aber in Wahrheit so nichtig ist/ daß keiner mit Versicherung der Beständigkeit im minsten darauff fussen kann. Darumb hab ich das Gemüthe/ welches mit sich selber zu frieden ist/ und in seiner Tugend sich einzuhüllen weiß/ für allen Dingen hier gepriesen.34

Die dreigliedrige Argumentation des Gedichts, welche auf die Selbstermahnung des Dichters zuläuft, entwickelt sich von den Vorzügen des Beispiels über eine allgemein begründende laus ruris zum hypothetischen, idealisierten Selbstbild. So wie die Tugendhaftigkeit der Bewohner Zlatnas auf das autarke und affektgereinigte Landleben zurückgeführt wird, imaginiert das lyrische Ich seine ferne ländliche Heimat als parallelen Idealraum gelehrt-stoischen Rückzugs, um dort die Zeit „mit lesen und mit schreiben“ (V. 454) zu verbringen. Autark und Senecas Gebot unauffälliger Selbstergründung entsprechend, will er „Ein Feldt/ ein kleines Feld selbst bawen mit der Hand“ (V. 451) und „Dem Volcke zwar nicht viel/ doch selber mir bekandt“ (V. 452) sein. Der Absage an „alle[r] Eytelkeit“ (V. 459), die in der Form der Negativbeschreibung vergegenwärtigt wird, steht das Studium der menschlichen und göttlichen Natur gegenüber, das direkt zu einem stoisch-christlichen Leben nach der Natur (secundum naturam) führt: Die also auff den Lauff der Welt recht Achtung geben/ Erlernen der Natur hierauß gemesse leben/ Sie bawen auff den Schein des schnöden Wesens nicht/ Das beydes nur die Zeit gebiehrt und zerbricht. Sie werden durch den Wahn/ der wie ein Blinder irret/ Im Fall er die Vernunfft will meistern/ nit verwirret; Sie wissen allen Fall deß Lebens zu bestehen/ Und können unverzagt dem Todt entgegen gehen. Das wolt’ ich gleichfalls thun/ und meines Geistes Kräfften Versuchen allezeit mit müssigen Geschäfften; (V. 501 – 510)

Das Oxymoron „müßige Geschäfte“ greift den Gedanken des „negotium in otio“ in prägnanter Weise auf und hebt den vordergründigen 34 Ebd.

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Widerspruch, den die Engführung stoischer vita activa mit dem otium cum dignitate erzeugt, sprachkünstlerisch auf. Aus Senecas Mahnung, dass ein Müßiggang ohne Studium den Tod bedeute,35 zieht Opitz wie schon Langius in De Constantia 36 den Umkehrschluss: „müssigen Geschäfften“ nachzugehen, heiße eigentlich zu leben. Die dritte Passage beschreibt für das lyrische Ich wie aber auch für jeden Gelehrten die Konsequenz aus den beiden vorausgehenden Teilen, dass nämlich den „müssigen Geschäfften“ vornehmlich auf dem Land, fernab der höfischen Gesellschaft nachgegangen werden kann. Das auffällig von der Naturbeschreibung des realen Zlatna und dem Lob des geselligen Landlebens gesonderte Ideal gelehrter Abgeschiedenheit unterstreicht den utopischen Charakter der durchgehend im Optativ gehaltenen Schlussvision.37 Das „Vaterland“ (V. 525) wird so als, wenn auch moralphilosophische, Utopie eines stoischen Humanistenlebens evoziert, ohne dass damit bereits eine konkrete Kritik am Hof formuliert wäre.38 Der christlich überformte Stoizismus in der laus ruris des 17. Jahrhunderts kommt beispielhaft im ersten Reyen von Andreas Gryphius’ Trauerspiel Großmthiger Rechtsgelehrter oder Sterbender Æmilius Paulus Papinianus (1659) zum Ausdruck.39 Der „Reyen der Hofe-Junckern Papiniani“ besingt in elf Strophen die Vorzüge des Landlebens und entwickelt diese kontrastiv zum höfischen Leben. Das Verhältnis des ersten Reyens zur Haltung Papinians wird in der Forschung kontrovers diskutiert.40 Während es keinen Hinweis darauf gibt, dass der erste 35 „otium sine litteris mors est.“ Seneca: Epist. 82, 3. 36 Vgl. hierzu Justus Lipsius (wie Anm. 3). 37 Lohmeiers Deutung verkennt, dass die Teile des Gedichts dialogisch aufeinander bezogen sind, wenn sie die in der Schlusspassage ganz zurückgenommene Natur darauf zurückführt, dass sich Opitz von der Tradition der neulateinischen vita rustica zugunsten einer christlich-moralischen Legitimation losgesagt habe. Vgl. Anke-Marie Lohmeier (Anm. 1), S. 198. 38 Über das Verhältnis zum Hof und den Kontext der lateinischen Auftragsarbeiten, zu dem das volkssprachige Gedicht Zlatna Korrespondenzen aufweist, informiert ausführlich Aurnhammer (wie Anm. 28), hier 267 f. 39 Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Andreas Gryphius: Grossmttiger RechtsGelehrter/ Oder sterbender Æmilius Paulus Papinianus, in ders.: Dramen, hg. von Eberhard Mannack. Frankfurt 1991, S. 307 – 441 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 3). 40 Stefanie Arend skizziert knapp die verschiedenen Deutungen des Verhältnisses zwischen Reyen und Protagonist, die von der Bezugslosigkeit (Schings) über

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Reyen eine unmittelbare Aussprache der Gedanken Papinians vorstellt,41 deutet die Zuschauerposition der Hof-Juncker und der stoische Gehalt der laus ruris auf Analogien zur Argumentation des Protagonisten hin.42 Die erste Strophe ruft mit der Absage an die falsa bona des Hofes, der Forderung nach einem Leben in „engen Gräntzen“ und der Pflicht, sich in Muße zu ergründen, die Topoi der laus ruris auf. Die Eingangs-Allusion auf die Bergpredigt „Wie selig ist der Hof und Macht […] Auß den vergnügten Sinnen stellt“ (V. 373 – 75) markiert den christlich-stoischen Synkretismus ebenso wie die abschließende Erweiterung der Selbsterkundung um den Zusatz des mit „Gott zu Rathe“-Gehens (V. 378).43 Erst nach einer auf sieben Strophen amplifizierten Charakterisierung des einfachen Landlebens im Kontrast zum Hofleben folgt eine positive Beschreibung des Rückzugs auf das Land. Ähnlich wie bereits bei Opitz zeichnet den Gegentypus des Höflings mehr noch als das ländlich-gesellige Leben die Haltung des zurückgezogenen Forschers aus. Die über drei Strophen hin entwickelte positive Darstellung des ländlichen Lebens im Sinn des stoischen Topos von der aequanimitas („Er lebt vor sich jhm selbst zu gut j Bebaut das vollkommene Entsprechung (Steinhagen) bis zum Gegenmodell (Raffy) reichen. Vgl. Stefanie Arend: Rastlose Weltgestaltung. Senecaische Kulturkritik in den Tragçdien Gryphius’ und Lohensteins. Tübingen 2003, S. 137 f. 41 Den „durch und durch utopischen Charakter des entworfenen Ideals“ im ersten Reyen hebt bereits Schings hervor. Es werde demnach nicht die Meinung Papinians, sondern eine von außen eingebrachte Position vorgestellt. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen. Köln und Graz 1966, S. 242. 42 So schlägt Arend (wie Anm. 40), S. 138 f. vor, in der Offenheit des Reyens eine Parallele zu Papinians Wandel zum Weisen zu sehen, die sich weder auf den Gegensatz von Land- und Hofleben noch auf den Rückzug aus der Gesellschaft reduzieren lasse. Arend plädiert daher für eine Entwicklung von „epikureischen Anleihen“ zur „sapientia“. Der Gedanke der Entwicklung berücksichtigt jedoch zu wenig, dass der Rückzug vom Hof hier weniger als epikureische Anleihe erscheint, als vielmehr wie in Lipsius’ De Constantia als Bedingung für ein stoisches „negotium in otio“ aufzufassen ist. 43 Zur Rezeption des Stoizismus in Gryphius’ Trauerspiel Grossmttiger RechtsGelehrter/ Oder sterbender Æmilius Paulus Papinianus vgl. immer noch HansJürgen Schings (wie Anm. 41). Zur Anverwandlung von Senecas Lehre vgl. außerdem Arend (wie Anm. 40), hier S. 124 – 146 und Winfried Woesler: Gryphius’ ,Papinian’ und Seneca, in: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur, hg. und eingeleitet von Christiane Caemmerer, Amsterdam 2000, S. 253 – 272 (Chloe 33).

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Land mit gleichem Mut“, V. 421 f.) geht in das Studium der Geschichte und Natur über: Vertreibt die bange Traurigkeit; Mit Fällen längst verjährter Zeit. Und was die Reich empört und Throne stürtzen kann Das siht er unverzagt gleich einem Schaw-Spiel an. Er forscht durch Fleiß und sinnen auß Der nassen Amphitriten Haus Versteht wenn Cynthia auffgeh Und Hermes fünckel auß der Höh Erfindet sich in sich und was noch mehr/ die Noth Liegt unter seinem Fuß/ er pocht den grimmen Tod. (V. 423 – 432)

Bereits Seneca erkannte einen Zusammenhang zwischen der wissbegierigen Hingabe an das Studium des Kosmos und der Natur des Menschen. Die Natur habe dem Menschen „aufrecht das Haupt gemacht und auf einen biegsamen Hals gesetzt“, so heißt es in De otio, „damit er vom Aufgang die Sterne bis zum Untergang verfolgen könne und seinen Blick herumschweifen lassen mit dem All“.44 Durch die komplementäre Entsprechung von Naturschauspiel und erforschender Hingabe des Menschen sei am ehesten evident, dass der Mensch göttlichen Geistes sei (maxime probatur homines divini esse spiritus), gleichsam als seien „Funken der Sterne […] auf die Erde herabgesprungen und an fremdem Ort haftengeblieben.“45 Gryphius greift die stoische Vorstellung der himmlischen Abkunft des Menschen für die letzte Strophe des Reyens auf, allerdings in der Modifikation durch Lipsius, der den ethischen Aspekt der Gottverwandtheit betont:46 Sein Hertz ist heilger Götter voll/ Und wenn er hier gesegnen soll Und jhn das Alter rufft zur Ruh; Schleust er gar sannft die Augen zu. 44 („Ut scias illam spectari voluisse, non tantum aspici, vide quem nobis locum dederit: in media nos sui parte constituit et circumspectum omnium nobis dedit; nec erexit tantummodum hominem, sed etiam, habilem contemplationem factura, ut ab ortu sidera in occasum labentia prosequi posset et vultum suum circumferre cum toto, sublime fecit illi caput et collo flexili imposuit.“) Seneca: De otio 5, 4. 45 („partem ac veluti scintillas quasdam astrorum in terram desiluisse atque alieno loco haesisse.“) Seneca: De otio 5, 5. 46 Zur stoischen Metapher vom „Fünklein“ (scintilla animae) und seiner Modifikation durch Lipsius vgl. Hans-Jürgen Schings (wie Anm. 41), S. 281 – 285.

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Wie daß uns denn was hoch/ doch für und für verletzt Vor dem was niedrig ist und stets erquickt/ ergetzt? 47

Die Preisgedichte von Opitz und Gryphius stellen in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen die moralischen Vorzüge des Landlebens für den Einzelnen, insbesondere für den Gelehrten und Dichter heraus, ohne ein gesellschaftliches Gegenmodell zum höfischen Leben zu entwerfen. Die Subjektivierung, die sich insbesondere in Opitz’ Zlatna andeutet,48 schließt allerdings nicht aus, dass die Vorzüge des Landlebens als allgemein gültig erachtet werden können. Vielmehr erscheint das Ideal eines zurückgezogenen Lebens auf dem Land durch die Erfahrung des Einzelnen, insbesondere des Humanisten, in besonderer Weise als universelles beglaubigt. Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen, das 1729 als Frucht einer botanischen Reise durch das Berner Oberland entstand, wendet schließlich das stoische Lob des Landlebens ganz in eine überindividuelle Zivilisationskritik.49 In 49 Strophen aus je zehn Alexandrinern wird das Hirtenleben im Berner Oberland zwar in der Topik der laus ruris besungen,50 von Beginn an jedoch als utopisches Lebensmodell51 dem

47 Andreas Gryphius (wie Anm. 39), S. 333. 48 Aurnhammer zeigt, dass die Siebenbürger Werke von Opitz von einer „Krise der poetischen Identität“ geprägt sind, die Opitz in einer Ovid-Imitatio und -Aemulatio überwindet. Die neustoizistische Subjektivierung geht über traditionelle Diskursmuster der humanistischen Landlebendichtung hinaus. Vgl. Achim Aurnhammer (wie Anm. 28), S. 271 f. 49 Im Folgenden werden die Verse in Klammern zitiert nach Albrecht von Haller: Die Alpen, hg. von Harold T. Betteridge. Berlin 1959 (Studienausgaben zur neueren deutschen Literatur 3). 50 Die vielfältigen intertextuellen Bezüge des Alpengedichts insbesondere zu Horaz, Ovid, Lucrez und Vergil sind nachgewiesen bei Anna Ischer: Albrecht von Haller und das Klassische Altertum. Bern 1928 (Sprache und Dichtung 41), S. 84 – 110. 51 Zum fehlenden Realismus und der Aussparung der Religion in Albrecht von Hallers Die Alpen vgl. Wolfgang Martens: ,Schler der Natur’. Albrecht von Hallers Alpengedicht als Utopie sndloser Existenz, in: Festschrift fr Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Klaus Matzel und Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 1989, S. 419 – 429, hier S. 420 – 425. Dass Haller versuchte, die ursprünglich unbestimmte und allgemein gehaltene Idyllenschilderung seines Gedichts in späteren Bearbeitungen lokal zu konkretisieren, trug dazu bei, dass Reisende im Hirtenleben des Berner Oberlandes die Idylle als reales Lebensmodell aufsuchten und Die Alpen als eine Art Reiseführer in die Utopie lasen. Vgl. Uwe Hentschel: Von Hallers ,Die Alpen’ bis zu Claurens ,Mimili’. Zur Stilisierung und

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Leben in den Städten und Höfen entgegengestellt. Obwohl Haller insbesondere in der letzten Strophe explizit auf Horazens zweite Epode „Beatus ille“ anspielt, ist seine Variation des Prätextes deutlich von derjenigen unterschieden, die etwa Opitz in Zlatna eingeschaltet hat.52 Nicht nur formal kontrastiert Hallers Verknappung mit der Augmentatio in Zlatna, vor allem auch in der Kontextualisierung unterscheidet sich der Traditionsbezug: Während Opitz die laus ruris in die Utopie eines dem Bücherstudium geweihten Rückzugs des Einzelnen münden lässt, spiegelt Haller in den anzitierten Wunsch des Alfius das Leben der Alpenhirten als gesellschaftliches Ideal und erteilt der Gelehrsamkeit eine deutliche Absage: „die Gelehrtheit feilscht hier nicht papierne Schätze, j Man misst die Strassen nicht zu Rom und zu Athen“ (V. 81 f.). So löst Haller die stoische Ethik des sibi vivere vom Idealbild des humanistischen Gelehrten: „O Witz! Des Weisen Tand, wann hast du ihn vergnüget? j Er kennt den Bau der Welt, und stirbt sich unbekannt“ (V. 85 f.).53 Wie der Städter und der Höfling strebt auch der Gelehrte lediglich nach den falsa bona, die ihm kein ,Vergnügen‘ im Sinn eines autonomen Selbstgenügens ermöglichen. Da in den Alpen „die Natur die Lehre recht zu leben j Dem Menschen in das Herz, und nicht ins Hirn gegeben“ (V. 89 f.) hat, ist das stoische secundum naturam vivere nicht mehr durch das Erforschen der Natur zu erzielen, sondern von einer naturnahen Lebensweise abhängig. An die Stelle der vom Verstand geleiteten Ergründung des vernünftigen, weil naturgemäßen Lebens findet Haller bei den Alpenhirten eine naturgegebene Intuition zum stoischen Leben vor:54 Hier herrscht die Vernunft, von der Natur geleitet, Die, was ihr nöthig, sucht, und mehrers hält für Last: Funktionalisierung einer Landschaft in der deutschen Literatur, in: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft e.V. 2002, S. 45 – 65. 52 Vgl. Martin Opitz (Anm. 32), V. 325 – 436. 53 In Hallers Kritik am Gelehrtentum erkennt Ischer eine Hinwendung zum Epikureismus, den Haller über die Schriften des Lucrez rezipiert habe. Vgl. Anna Ischer (wie Anm. 50), S. 97. Daraus jedoch auf eine für den jungen Haller typische Montage stoischer und epikureischer Lehre zu schließen, die schließlich sogar zu Rousseau und „christlichen Anschauungen“ hinübergleite (ebd., S. 98), erscheint ahistorisch und ungenau, da bereits der Neustoizismus, vermittelt durch Lipsius, die epikureische Gartenphilosophie stoisch umgedeutet hat. 54 Martens deutet die Berufung auf antike Philosophen an dieser Stelle als Kennzeichen für die säkulare und heidnisch-philosophische Utopie des Gedichts. Vgl. Wolfgang Martens (wie Anm. 51), S. 424.

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Was Epictet gethan, und Seneca geschrieben, Sieht man hier ungelehrt und ungezwungen üben. (V. 67 – 70) 55

Die Möglichkeit zur Tugendhaftigkeit erscheint in Hallers Stoa-Rezeption weit mehr von gesellschaftlichen Bedingungen eingeschränkt, als dies im humanistischen oder barocken Lob des Landlebens der Fall ist. Nicht die moralische Haltung entscheidet darüber, ob das Leben glückt, sondern Naturnähe und äußere Freiheit werden zu notwendigen wie hinreichenden Bedingungen für Tugendhaftigkeit. Haller deutet die Autonomie zur politischen Freiheit um und leitet stoische Tugenden von der gesellschaftlichen Ordnung ab: Hier herrscht kein Unterschied, den schlauer Stolz erfunden […] Die Freyheit theilt dem Volk, aus milden Mutter-Händen, Mit immer gleichem Maaß, Vergnügen, Ruh und Müh. Kein unzufriedner Sinn zankt sich mit seinem Glücke, Man isst, man schläft, man liebt, und danket dem Geschicke. (V. 71 – 80)

Die Überformung der Alpen zum idealen Lebensraum, in dem die Bedingungen stoischer Tugendhaftigkeit von Natur aus gegeben sind, bestimmt auch den berühmten Brief über die Walliser, den St. Preux im ersten Teil von Jean-Jacques Rousseaus Roman La Nouvelle Hlose an Julie richtet.56 Die dort geschilderten Älpler antizipieren im Romanzusammenhang die Lebensgemeinschaft in Haus und Garten von Clarens. Die Analogie beider Räume wird neben äußerlichen Gemeinsamkeiten57 vor allem dadurch hergestellt, dass die Naturlandschaft der Alpen wie Julies Garten zu einer stoischen Lebenshaltung führt. Die Schlüsselbegriffe, die sowohl den Brief über das Wallis wie die Schil55 Auf die zurückhaltende Kritik an Seneca in Vers 69 hat bereits Anna Ischer (wie Anm. 50), S. 96 hingewiesen. Im Vergleich zu Epiktet, von dessen Leben wenig überliefert ist, stehen Senecas Taten in einem auffallenden Missverhältnis zu seinen Worten. 56 Es handelt sich um den 23. Brief im ersten Teil des Briefromans. Im Folgenden zitiert nach Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Hlose. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Aus dem Französischen übersetzt von Johann Gottfried Gellius. München 32003, hier S. 76 – 83. Auf bemerkenswerte Parallelen zwischen dem Alpengedicht Hallers und Rousseaus Nouvelle Hlose hat die Forschung mehrfach hingewiesen. Erstmals Gonzague de Reynold: Bodmer et l’cole Suisse. Bd. 2: Le Bernois Albert de Haller. Le pome des Alpes. Lausanne 1912, S. 569 – 580, hier S. 574. 57 Zur Entsprechung beider Naturidyllen vgl. auch Berthold Burk: Elemente des idyllischen Lebens. Studien zu Salomon Geßner und Jean-Jacques Rousseau. Frankfurt a.M. und Bern 1981 (Deutsche Sprache und Literatur 426), S. 86.

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derung des „Elysiums“ einleiten, verweisen dabei auf die stoische Grundlegung der Landlebendichtung. So wundert sich St. Preux nach seiner Ankunft im Wallis darüber, dass er unversehens seine Gemütsruhe wiederfindet und die „heftigsten Leidenschaften“ durch die „fühllosesten Dinge“ der Natur gemäßigt werden.58 Die Natur besänftigt die Leidenschaften ähnlich wie schon bei Haller unwillkürlich und ohne eigenes Zutun, so dass die Tugendhaftigkeit von der moralischen Haltung des Einzelnen losgelöst erscheint: In der Tat ist es ein allgemeiner Eindruck, den alle Menschen empfinden, wiewohl sie ihn nicht alle wahrnehmen, daß man auf hohen Bergen, wo die Luft rein und dünn ist, mehr Freiheit zu atmen, mehr Leichtigkeit im Körper, mehr Heiterkeit im Geiste an sich spürt; das Vergnügen ist da nicht so heftig, die Leidenschaften sind gemäßigter. […] und so macht eine glückliche Himmelsgegend die Leidenschaften, die sonst den Menschen peinigen, zu Werkzeugen seines Glücks.59

Die Bewohner des Wallis entsprechen in „ihrer Einfalt, ihrer sich immer gleichen Gemütsart (égalité d’âme) und jener gelassenen Ruhe (paisible tranquillité), die sie mehr durch Befreiung vom Kummer (l’exemption des peines) als durch Geschmack an Vergnügungen (le goût des plaisirs) glücklich macht“60, Hallers Alpenhirten. Auch ihr Stoizismus ist naturgegeben und nicht Folge moralischer Selbsterforschung. 58 Vgl. Jean-Jacques Rousseau (Anm. 56), S. 77. 59 Ebd., S. 77 f. („En effet, c’est une impression générale qu’éprouvent tous les hommes, quoiqu’ils ne l’observent pas tous, que sur les hautes montagnes, où l’air est pur et subtil, on se sent plus de facilité dans la respiration, plus de légèreté dans le corps, plus de sérénité dans l’esprit; les plaisirs y sont moins ardents, les passions plus modérées. […] et c’est ainsi qu’un heureux climat fait servir à la félicité de l’homme les passions qui font ailleurs son tourment.“) JeanJacques Rousseau: Œuvres compltes. Bd. 2 : La Nouvelle Hlose. Thtre – Posies. Essais Littraires, hg. von Henri Coulet und Bernard Guyon. Paris 1964, S. 78. 60 Ebd., S. 79. St. Preux beschreibt die Lebensweise der Hirten mit zentralen Begriffen des Stoizismus. Die Unterscheidung zwischen Autonomie und ,Vergnügen’, die in der Übersetzung scheinbar einen Wandel in der Rezeption markiert, beruht auf einer semantischen Verengung des deutschen Begriffs ,Vergnügen‘ im 18. Jahrhundert. Während Gryphius den Begriff ,Vergnügen‘ noch synonym für das stoische Selbstgenügen, als Übersetzung für Autonomie verwendet, erscheint er hier als Übersetzung für „plaisir“. Die Differenzierung zwischen innerem Selbstgenügen und äußerem Vergnügen, welche die Begriffe ,joie‘ und ,plaisir‘ im Französischen erlaubt, ging im Deutschen durch den historischen Bedeutungswandel verloren, da der Ausdruck ,Vergnügen‘ allein auf seine spätere Bedeutung des „fröhlich Stimmens“ und der Unterhaltung

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Der Brief über Julies „Elysium“ verhält sich zur Schilderung des Wallis, ungeachtet der Perspektivierung durch St. Preux, wie die Einlösung zur Utopie. Die Topik des freien, natürlichen und selbstgenügsamen Landlebens wird auf den künstlichen, aber größtmögliche Natürlichkeit vorspiegelnden Garten übertragen. Julies Garten versinnbildlicht so für St. Preux das Ideal des „zurückgezogenen Leben[s]“ in Clarens und wird von ihm als Ort „süßer Muße“ beschrieben, der im stoischen Sinne der ausbalancierten „Abwechslung von Mühe und Genuß“ diene.61 Dabei verkörpert Julies Garten von der „Hand der Tugend“ die wilde, freie Natur, wie sie etwa von Hippolytus in Senecas Phdra als Urzustand gepriesen wird.62 Das „Elysium“ bricht explizit mit dem stoischen Gartenkonzept der Humanisten. So erteilt Herr von Wolmar, der am ehesten den Typus des homme naturel verkörpert, während einer Führung durch den Garten dem Gelehrtentum ähnlich wie Haller eine Absage: „Alle diese Beobachtungen, die in Studium ausarten, schicken sich nicht für den vernünftigen Mann, der seinem Körper eine maßvolle Bewegung verschaffen oder seinen Geist beim Spaziergange in Unterredungen mit seinen Freunden erholen will.“63 Ansätze einer utopischen Deutung des Landlebens im Anschluß an antike Vorbilder finden sich, wie Jochen Schmidt gezeigt hat, bereits im 17. Jahrhundert in Paul Flemings Reisegedicht In grooß Neugart der Reussen, in dem die Möglichkeit erwogen wird, dass die einfache Lebensform der Russen ungebrochen auf „Saturnus Zeiten“ zurückzuführen sei und am Goldenen Zeitalter, wie es auch Hippolytus besingt, eingeengt wurde (vgl. Deutsches Wçrterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32 Teilbänden]. Leipzig 1854 – 1960, Bd. 25, Sp. 467). 61 Ebd., S. 491. Als Übersetzer war Rousseau mit dem Werk Senecas vertraut. Vgl. Raymond Trousso: Rousseau traducteur de Snque, in: Travaux de Littérature 3 (1990), S. 139 – 151. Zum Nachleben Senecas in Rousseaus Schriften vgl. Georges Pire: De l’influence de Snque sur les thories pdagogiques de J.–J. Rousseau, in: Annales de la Société J.–J. Rousseau 33 (1953 – 1955), S. 57 – 92. Zu Rousseaus Aneignung der stoischen Lehre siehe Gisèle Bretonneau: Stocisme et valeurs chez J.–J. Rousseau. Paris 1977. 62 Das berühmte Lob des Waldlebens, das Hippolytus in Senecas Phdra anstimmt, ruft mit der Ablehnung des städtischen und höfischen Lebens die Topoi der Landlebendichtung auf, um schließlich diesen Idealzustand mit dem ersten Zeitalter der Menschheit zu parallelisieren. Vgl. L. Aenneus Seneca: Phdra, in ders.: Smtliche Tragçdien. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Theodor Thomann. Bd. 1. Zürich und Stuttgart 1961, S. 316 – 401, hier S. 346 – 350 (Seneca: Phdra, V. 483 – 564). 63 Ebd., S. 503.

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Anteil hat.64 Solche rückwärtsgewandten Utopien bilden im 17. Jahrhundert jedoch die Ausnahme. Erst die poetischen Landlebenkonzepte des 18. Jahrhunderts amalgamieren stoische Reminiszenzen aus den Epistulae morales mit der Vision eines natürlichen Urzustandes, wie ihn Hippolytus als „prima […] aetas“ erinnert.65 Die Alpen wie auch Julies „Elysium“ stellen Rückzugsorte dar, wie sie Seneca zur aktiven contemplatio empfiehlt, sie sind aber mehr noch Zukunftsvisionen einer am Vorbild des wildnatürlichen Ursprungs reformierten Gesellschaft, in der Genügsamkeit und Freiheit wie im Goldenen Zeitalter herrschen und die daher als frei von Gier, Neid und Krieg vorgestellt werden. Die Devise secundum naturam vivere wird im 18. Jahrhundert nicht mehr nur im ursprünglichen Sinn als Leben nach der naturgegebenen Vernunft, sondern auch als ein Leben hin zum naturhaften Ursprung verstanden. Rousseau greift die moralphilosophische Grundlegung der laus ruris auf und überträgt sie auf die gesellschaftskritische Idee vom homme naturel, so dass das Ringen um eine stoische Haltung des Einzelnen der Natürlichkeit der Gesellschaftsform nachgeordnet scheint. Diese Umdeutung einzelner Philosopheme vor allem aus der stoischen Ethik ermöglichte es, dass die Landlebendichtung im 18. Jahrhundert zur Sozialutopie umgeformt wurde und bis in die Moralpädagogik der Gartentheorie wirkte. In seiner Schrift Das Landleben von 1767 verquickt Christian Cay Lorenz Hirschfeld das stoische Ideal des Weisen mit einem Programm, das in weiten Teilen der Rousseauschen Zivilisationskritik folgt.66 Die Vorstellung, dass auf dem Land „der Geist frei von der Unruhe der Leidenschaften ist“ und die Menschen „in einer edlen Freiheit mit einander und mit der ganzen Natur umgehen“67, zeigt idealtypisch die Engführung stoischen und sozialutopischen Argumentierens.68 So scheint am Ende des 18. Jahrhunderts nicht 64 Vgl. Jochen Schmidt (wie Anm. 14), S. 233. 65 Seneca: Phdra, V. 525 f. 66 Vgl. Michael Breckwoldt: ,Das Landleben‘ als Grundlage fr eine Gartentheorie. München 1995 (Arbeiten zur sozialwissenschaftlichen Freiraumplanung 14), S. 53 – 74. 67 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Das Landleben. Leipzig 1776, S. 36 f. 68 Hirschfeld nimmt noch in seiner später verfassten Theorie der Gartenkunst explizit Bezug auf die stoische Kritik am Lustort Baiae. So schreibt er mit Blick auf Ciceros Tusculum über das Verhältnis der Römer zu ihren Gärten: „Wenn Baja und andere Lustplätze den ankommenden Gast nur zur Wollust hinrissen, so theilte hingegen der weisere Römer an andern Orten seine Zeit auf dem Lande zwischen Sorge für den Feldbau, der Philosophie und dem mäßigen

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der Stoiker das Land aufzusuchen, sondern umgekehrt das Landleben die Menschen erst in stoischer Tugend zu schulen.

Becher.“ Vgl. Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. 2 Bde, hg. von Hans Foramitti. Bd. 1. Hildesheim, Zürich und New York 1985, S. 13.

V. Stoische Konzepte in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Romantik

Wielands Auseinandersetzung mit dem Stoizismus aus dem Geist skeptischer Aufklärung von Dieter Martin Die Stoa lehrt uns zwar: „wir können, was wir wollen“. Allein dem Pralen bin ich gram. Wieland

Als kritikloser Adept des Stoizismus hat sich Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) zeitlebens sicher nie verstanden, und auch seinen Zeitgenossen – das belegt das im Morgenblatt fr gebildete Stnde vom 11. März 1808 als Motto genutzte Zitat1 – galt Wieland bis in seine späten Jahre als Autorität, die der Gültigkeit und Praktikabilität stoischer Lehre skeptisch gegenüberstand. So wenig Wieland zum Kronzeugen für die Anziehungskraft des Stoizismus im 18. Jahrhundert taugt, so wenig hat er ihn ignoriert oder völlig negiert. Wieland hat zwar kein Werk geschrieben, das sich umfassend oder gar ausschließlich mit dem Stoizismus auseinandersetzte.2 Im Rahmen der für ihn bedeutsamsten 1

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Morgenblatt für gebildete Stände 2 (1808), Nr. 61 vom 11. März 1808, S. 240 (Motto). Das Zitat stammt aus Wielands Versdichtung Aspasia oder Die Platonische Liebe; zuerst unter dem Titel Aspasia. Eine griechische Erzhlung in: Der Teutsche Merkur 1 (1773), Bd. 2, S. 120 – 135, hier nach der Ausgabe letzter Hand: Christoph Martin Wieland: Smmtliche Werke. Bd. 1 – 39. Supplemente. Bd. 1 – 6. Leipzig 1794 – 1810. Reprint, hg. von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Hamburg 1984 [künftig: WSW], Bd. 9, 1795, S. 105 – 126, hier S. 108. – Vgl. hierzu auch die Einschätzung von Johann Wolfgang Goethe: Zu brderlichem Andenken Wielands. In: Ders.: Smtliche Werke, hg. von Ernst Beutler u. a. (Artemis-Gedenkausgabe). Bd. 12: Biographische Einzelschriften. Zürich 21962, S. 693 – 716, hier S. 699: „Er kündigt allem, was sich in der Wirklichkeit nicht immer nachweisen läßt, den Krieg an, zuvörderst also der Platonischen Liebe, sodann aller dogmatisierenden Philosophie, besonders den beiden Extremen, der stoischen und pythagoreischen.“ Daher gibt es, soweit ich sehe, bislang auch keine Spezialforschung zum Thema. Otto Bantel: Christoph Martin Wieland und die griechische Antike. Diss. masch. Tübingen 1952, konzentriert sich in seiner Kapitelsequenz auf die für Wieland zentralen Gestalten wie Xenophon, Sokrates, Demokrit und natürlich Aristipp, um hie und da (bes. S. 254 f., 260 f. und 359 – 361) auf die Stoa zu

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Spannungsfelder von Schwärmerei und Sinnlichkeit, von platonischer und erotischer Liebe, von Spekulation und praktischem Lebensglück hat er aber mindestens flankierend und zunehmend differenziert zur Stoa Stellung genommen. Beides belegen die im Motto angeführten Verse: In Wielands Aspasia oder Die Platonische Liebe ist das Aperçu zur Stoa zwar nur ein Nebengedanke der Exposition, die bereits heftige Zweifel an der Vorstellung nährt, die mit „gepflegten Lenden“, „frischem Blut“ und „blühendem Gesicht“ zur Oberpriesterin der Diana gekürte Aspasia könne ihr Genügen an körperloser Liebe finden.3 Daß aber Wielands auktorial-kommentierender Verserzähler die Stoa selbst in diesem Kontext nicht absolut verwirft, bezeugt die konzedierend-relativierende ,zwar‘-,allein‘-Konstruktion: der mit seinen vorgeblichen Fähigkeiten prahlende Stoiker wird kritisiert, die als stoisch deklarierte Lehre – nämlich das zu „können, was wir wollen“ – jedoch keineswegs grundsätzlich diskreditiert.

Stoa-Kritik in Wielands Frühwerk Zu einem differenzierten und relativierenden Umgang mit dem Stoizismus fand Wieland in der Zeit um 1770, schon in seinen letzten Biberacher Jahren, dann als Professor der Philosophie an der Universität Erfurt (1769 – 1772) und als Prinzenerzieher in Weimar (bis 1775). Allerdings lassen sich bereits zuvor, im vielfältigen und vielfach eklektizistischen Frühwerk der 1750er Jahre, Spuren seiner Beschäftigung mit stoischen oder mindestens der Stoa zugeschriebenen Positionen finden. Schon der jugendliche Klopstock-Enthusiast, der noch nicht wissen konnte, daß der Messias-Dichter mit seinem einstigen Gastgeber Johann Jakob Bodmer zerfallen war und einen Keil zwischen die Vertreter der

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sprechen zu kommen. Punktuell fündig wird man auch in der Aristipp-Abhandlung von Klaus Manger: Klassizismus und Aufklrung. Das Beispiel des spten Wieland. Frankfurt 1991, bes. S. 126 – 152 (Der philosophische Roman), im Wieland-Kapitel von Dorothee Kimmich: Epikureische Aufklrungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. Darmstadt 1993, S. 180 – 210, sowie in der (allerdings stark biographisch ausgerichteten) Arbeit von Klaus Nolting: Die Kunst zu leben oder Die Natur weiß nichts von Idealen. Eine Untersuchung zur Grundhaltung der Mßigung in Werk und Leben Christoph Martin Wielands. Frankfurt u. a. 1995. WSW, Bd. 9, S. 108. Das – dem Untertitel gemäß nicht gegen den Stoizismus, sondern gegen die platonische Liebe gerichtete – Fazit lautet: „wenn ihr je bey Mondenlicht im Grünen j Platonisiren wollt, platonisirt allein!“ (ebd., S. 125)

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altväterischen Ordnung und die Zürcher literarische Jugend getrieben hatte,4 brachte sich in eine heikle Lage, weil er Anfang 1752 eben jene „unmoralische Sittenlehre“ rechtfertigte, die Bodmer anonym in Klopstocks „tibullischem Lied“ gerügt hatte.5 Wenn Wieland „im Nahmen aller Jünglinge“ Klopstock gegen den „catonischen Kritikus“, also Bodmer selbst, verteidigt und den verehrten Dichter, der „empfinden kann wie Hagedorn“, zum „Richter“ zwischen ihnen aufruft,6 dann begeht Wieland nicht nur eine persönlich-strategische Ungeschicklichkeit,7 sondern er weist sich auch als Anhänger eines Sensualismus aus, dem die Apathie des stoischen Cato suspekt sein mußte. Zwar wird man dem jungen, chamäleonhaften Wieland noch keine gefestigte philosophische Haltung zusprechen wollen und durchaus Bodmers Analyse zustimmen, der etwa Wielands Zwçlf moralische Briefe in Versen vom Frühjahr 1752 als „fanatisch, platonisch, stoisch und noch mehr poetisch, ein wenig zu universal und zu unbestimmt“ bezeichnet.8 4

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Am besten informiert über diese Vorgänge, welche die für Klopstock organisierte Fahrt auf dem Zürcher See ausgelöste, Wielands Briefwechsel, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 20 Bde., Berlin 1963 – 2007 [künftig: WBW], hier Bd. 2: Anmerkungen zu Bd. 1 (Briefe vom 1.6.1750 – 2.6.1760) von Hans Werner Seiffert, 1968, bes. S. 166 – 175. WBW Bd. 1, 1963, Nr. 28 (an Bodmer, 19. Jan. 1752), Z. 18 – 52; Bodmers Kritik an Klopstocks Elegie (Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewhlte Werke, hg. von Karl August Schleiden, München 1962, S. 24 – 27, bes. V. 25 – 33), die anonym erschienen war und die Bodmer zunächst nicht Klopstock zugeschrieben hat, wird ebd. zitiert in Bd. 2, S. 52 f. WBW Bd. 1, Nr. 28, Z. 32, 43 f. u. 51 f. (Klopstocks Autorität unterstützt Wieland hier mit einem Zitat aus dessen für Bodmer prekärer Zrchersee-Ode: „Und wir Jünglinge sangen j Und empfanden wie Hagedorn“; Klopstock [wie Anm. 5], S. 53 – 55, hier V. 23 f.). Zum spannungsvollen Lehrer-Schüler-Verhältnis vgl. zuletzt Florian Gelzer: Religiçse Hymnik oder satirische Polemik? Seraphische Hexameterdichtung im Kontext des Literaturstreits zwischen Gottsched und den Schweizern, in: Text & Kontext 27.1 – 2 (2005), S. 183 – 208, und künftig Vf.: Bodmers streitbare Koalition mit Christoph Martin Wieland, in: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europischen Aufklrung, hg. von Barbara Mahlmann-Bauer und Anett Lütteken [im Druck]. WBW Bd. 2, S. 98 (aus dem Regest eines Briefs von Johann Jakob Bodmer an Johann Georg Sulzer vom 28. März 1752). – Für Bodmer selbst stehen die Attribute ,stoisch‘ und ,fanatisch‘ durchaus nicht im Widerspruch zueinander, wie sein Artikel Politisches Trauerspiehl in Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schçnen Knste, 2. Aufl., Bd. 3, Leipzig 1793 [zuerst 1774], S. 710 – 716, hier S. 714, bezeugt: „Die Protagonisten in einem Drama, welches so große Angelegenheiten umfasset, wie die Nationalinteressen sind, müssen nothwendig starke Seelen seyen, die sich gegen allgemeine Vorurtheile, gegen

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Aber eben die Moralischen Briefe, die Wieland noch während seines Tübinger Studiums verfertigte, lassen sowohl Wielands Suche nach bestimmten Grundpositionen als auch die Quellenwerke, die ihn dabei beeinflußten, recht gut erkennen. Wie Wieland, als er im März 1752 seinen bisherigen Bildungsweg resümiert, sich als zeitweiligen Synkretisten und „Materialist[en]“ bezeichnet, den neben Leibniz und Wolff vor allem „Bayles Dictionaire“ und die „lectur“ der Historia critica philosophiae des Johann Jakob Brucker beschäftigt habe,9 so belegen auch die Anmerkungen der gleichzeitigen Moralischen Briefe diesen philosophischen Bildungshintergrund. Prägend dürften dabei vor allem die Schriften seines entfernten Verwandten Brucker gewesen sein. Auf das philosophische Standardwerk des „verehrungswürdigen“ Brucker, der die seit 1700 fortschreitende Rehabilitierung Epikurs in Deutschland entscheidend mitgetragen hat,10 verweist Wieland etwa bei der Frage, wie man die Affekte mit „Epikur-

Übel, die unter hohem Schutze stehen, mit dem Muthe der heroischen Zeiten bewaffnen. Es sind Aristides, Epaminondas, Timoleon, Gracchus, die man in unsern Tagen für Stoiker und Fanatiker hält. Es braucht schon etwas von stoischer Seele dazu, den Fanatisme dieser Männer zu begreifen. Diese Begriffe sind für das Parterre Chimären. In diesem muß man nur Epikurer suchen.“ 9 WBW Bd. 1, Nr. 35 (an Bodmer, 6. März 1752), Z. 147 – 183, bes. Z. 151 und 176 – 179. Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique habe ihm, so Wieland später gegenüber Karl August Böttiger, der Rektor des Internats Klosterbergen ausgeliehen: „W[ieland] borgte sich von dem fast allein vernünftigen Rector des Klosters Knap Bayles Wörterbuch, das ihm dieser nur ungern, u. nach einem langen Examen gab. Heißhungrig fiel W[ieland] über die Artikel Anaxagoras, Leucipp, Epikur her, und gerieth bald in die sonderbarsten Labyrinthe über die Entstehung der Welt“ (Karl August Böttiger: Literarische Zustnde und Zeitgenossen. Begegnungen und Gesprche im klassischen Weimar, hg. von Klaus Gerlach und René Sternke, Berlin 1998, S. 224 [Gespräch vom 16. April 1797]). Klaus-P. Bauch und Maria-B. Schröder: Alphabetisches Verzeichnis der Wieland-Bibliothek, bearbeitet nach dem Verzeichniß der Bibliothek des verewigten Herrn Hofraths Wieland. 1814. Hannover 1993, weisen als Besitz Wielands aus: Nr. 73: Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. 4 Bde. Amsterdam/Leiden 4 1730; Nr. 143.2: Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae. 5 Bde. Leipzig 1742 – 1744. Bd. 6. 21767. – Zur philosophischen Bildung des jungen Wieland vgl. auch Margit Hacker: Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien: Christoph Martin Wielands „Natur der Dinge“, Würzburg 1989, bes. S. 1 – 13 (Polemisches Denken und Materialismuskritik: Die Rezeption antiker Quellen). 10 Vgl. Kimmich (wie Anm. 2), bes. S. 145 – 150 (zu Gottlieb Stolles Historie der heydnischen Morale von 1714, Brucker und ihren französischen Vorbildern).

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scher Kunst“ mildere.11 Bruckers umfangreiche Darstellung der Stoa12 hat Wieland zu den Quellen geleitet, und seinen knappgefaßten Ersten Anfangsgrnden der philosophischen Geschichte (1751) mag Wieland jene der Aufwertung des Epikureismus korrespondierende Diskreditierung des Stoizismus als „Pralerey“ verdanken,13 welche noch in die bündige Formel seiner Aspasia eingeht. Die eingehendste Stoa-Kritik in Wielands Frühwerk, die soziale und sensualistische Argumente gegen eine notwendig misanthropische Apathie ins Feld führt, findet sich im Eingang des dritten der Moralischen Briefe. Unter Mottoversen aus der ersten Satire des Horaz, die zur Vermeidung der Extreme und zur maßhaltenden Wahl des Mittelweges mahnen,14 rät das Ich des Briefs der angeredeten „Freundin“ zu einer 11 Christoph Martin Wieland: Gesammelte Schriften, hg. von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Abt. I – II, Bd. 1 ff., Berlin 1909 ff. [künftig: WAA], I 1, S. 223 – 307, hier S. 225, Anm. 1: „Die Mäßigung in Stillung der Begierden, worinn die gröste Wollust besteht, ist einer der Hauptsätze der Sittenlehre des Weisen Epikurs. Man sehe des verehrungswürdigen Herrn Bruckers Crit. Geschichte der Weltw. Th. I S. 1306. n. 50.“ Die Originalstelle lautet: „Temperantiæ munus est, animum cupientem reprimere, eumque ita regere, ut sequatur rationem in appetendis vel fugiendis rebus iis, quibus tranquillitas paratur & indolentia“ ( Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae. A mundi incunabulis ad nostram usque aetatem deducta. Bd. 1. Leipzig 1742, S. 1306). Auf Brucker bezieht sich Wieland im gleichen Werk ferner WAA I 1, S. 236, Anm. 3. 12 Brucker: Historia (wie Anm. 11), S. 893 – 981: De secta stoica. 13 Johann Jakob Brucker: Erste Anfangsgrnde der Philosophischen Geschichte. Als ein Auszug seiner grçssern Wercke. Ulm 21751 [zuerst 1736 u. d. T. Auszug aus den kurtzen Fragen aus der philosophischen Historie], S. 155: „Was ist von Epicuri Philosophie überhaupt zu mercken? Folgendes: I. Daß die Epicurische Philosophie fürnemlich der Stoischen Pralerey entgegen gesetzet seye.“ Vgl. auch den Hinweis auf Pierre Gassendis Epikur-Vita in Zedlers Universal-Lexicon: „Hingegen Epicur an dem Zeno ausgesetzt, daß seine Philosophie eine blosse Prahlerey seye, die in Worten und Kleydung bestehe, und hinter welcher sonst nichts sey, indem unter dem Stoischen Mantel ebenfalls ein mit Affecten angefüllter Mensch verborgen liege. Man kan nicht ohne Vergnügen hievon nachlesen, was Gaßendus in vita Epicuri L. III, c. 1, p. 79 u. ff. hiervon gar artig beygebracht hat“ (Artikel Zeno, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollstndiges Universal-Lexicon. Bd. 61. Leipzig und Halle 1749, Sp. 1264 – 1271, hier Sp. 1267). 14 „Est inter Tanaim, quidquam socerumque Viselli, j Est modus in rebus, sunt certi denique fines, j Quos ultra citraque nequit consistere rectum“ (WAA I 1, S. 241). Die Verse aus Horaz, sat. I 1, V. 105 – 107, hat Wieland später so übertragen: „Vom glatten Tanais zum Schwiegervater j Visells, liegt, denk’ ich, etwas in der Mitte. j Halt Maß in allem, denn in allem gibt’s j ein Mittel, dessen

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moderat-eudämonistischen Haltung, die weder „Mänius“ noch „Nomentan“ folgt, zwei antipodischen Typen aus der gleichen Horaz-Satire, sondern die „zwischen beyden“ gelegene, von der „Weisheit“ aufgezeigte „Bahn“ nimmt.15 Die „Begierden“ und „der Triebe Regung“ seien als conditio humana, ja als weltbewegende Kräfte zu akzeptieren und daher nicht grundsätzlich zu unterdrücken, sondern lediglich zu kontrollieren: „Nicht der Begierden Tod, den ihnen Zeno dräut, j Nur ihre Mäßigung, macht die Zufriedenheit.“16 Zu diesem Zwischenfazit, das die moralische Lehre des Briefs bündelt, gelangt der Schreiber, indem er eingangs das von dem Stoiker „Chrysipp“ propagierte, aber keinesfalls nachahmenswürdige, weil inhuman-asoziale Bild eines unempfindlichen Weisen entwirft, für das neben Zeno auch die Namen Timon und Cato stehen. Dabei zieht der junge Wieland nicht allein die sprichwörtliche Unempfindlichkeit der Stoiker in Zweifel, indem er den „bekannte[n] Stoische[n] Lehrsatz, daß der Weise auch in Phalaris Ochsen seelig sey“, mit der nicht weniger topischen Anekdote konfrontiert, „Zeno, der Vater der Stoiker“, habe sich – wohl kaum aus „Gelassenheit“ – „auf der Stelle“ erhängt, als er sich „in seinem hohen Alter einen Finger“ gebrochen habe.17 Die Aufdeckung solcher Inkonsequenzen ist jedoch nur eine Seite der Kritik. Entscheidender sind die misanthropischen Konsequenzen der Apathie: „Wer sich bestrebt Linie das Rechte j bezeichnet; dies- und jenseits wird gefehlt“; und er merkt dazu an: „Die Linie des Wahren, Schönen und Guten, die zwischen Exzeß und Defekt gleichsam mitten durch geht, ist die Formel, in welche unser Dichter seine ganze Philosophie einzuschließen pflegt. Alle Philosophischen Sekten, die aus der Sokratischen Schule entstanden, trafen in diesem Punkte zusammen.“ (Christoph Martin Wieland: Werke in zwçlf Bnden, Bd. 9: bersetzung des Horaz, hg. von Manfred Fuhrmann, Frankfurt 1986, S. 599 f. und 610.) 15 WAA I 1, S. 243, V. 41 f. Die angespielte Horaz-Stelle, die den als Motto gebrauchten Versen unmittelbar vorausgeht, lautet: „,Quid mi igitur suades? ut vivam Maenius? aut sic j ut Nomentanus?,‘ – Pergis pugnantia secum j frontibus adversis componere?“ (sat. I 1, V. 101 – 103; Wieland: Horaz [wie Anm. 14], S. 599: „,Wohlan! Was soll ich tun? ein Mnius, j ein Nomentanus werden?‘ – Also immer j von einem Äußersten zum andern!“) 16 WAA I 1, S. 243, V. 57 f. 17 WAA I 1, S. 241, Anm. 1, und S. 242, Anm. 1. Zu Zenos Tod vgl. die reich belegte Darstellung im Universal-Lexicon: „Als er nun einsmahls aus seinem Auditorio gieng, und das Unglück hatte, zu fallen, und einen Finger abzubrechen, soll ihn das bewogen haben, sich entweder durch einen freywilligen Hunger, oder durch den Strick das Leben zu nehmen.“ (Zedler [wie Anm. 13], Sp. 1269.)

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sein Herz Affectenlos zu machen j Wird oft ein Menschenfeind.“18 Die asozialen „Unempfindlichen“, die „ein Gefühl voll Herz j Unfühlbar haben“ wollen, verdienen weder Bewunderung noch Nachahmung; denn sie negieren eine Gesellschaft, die auf sozialem „Umgang“ und menschlichem Mitgefühl gründet, und sie berauben sich durch ihren Stolz zwar der „Menschheit“, ohne sich dadurch aber zur „Gottheit“ zu veredeln.19 Im Zeichen der Empfindsamkeit und im Namen des gerührten Herzens erhebt Wieland auch Einspruch gegen Catos stoischen Heroismus, der „uns im Glük“ blenden mag, der aber, wenn er „nach Rache schnaubt, j Voll Wut den Göttern flucht“ und schließlich Selbstmord begeht, keineswegs überzeugen könne.20 Mit seiner Kritik sucht Wieland zugleich, das zeigt seine diskursive Absicherung in der Fußnote, Anschluß an die zeitgenössische Cato-Debatte und vor allem an die deutsche Rezeption des englischen Sensualismus. Denn als Beleg für seine Einschätzung, daß sich Catos Stoizismus im Suizid nur schlecht bewähre, verweist Wieland auf „die schönen Betrachtungen des scharfsinnigen [Richard] Steele im Christlichen Held“.21 Mit der Abwertung Catos, dessen vorgebliche Beherrschung der Affekte in die Beherrschung durch die Affekte umschlage, und mit der abfälligen Stilisierung Zenos zum asozialen Misanthropen bezieht Wieland schon vor seiner Zürcher Epoche (in der Wieland sich freilich, um seiner Bindung an Bodmer willen, zeitweise selbst zum weltabgewandten Weisen erklärte22) eine eindeutig anti-stoische Position, die von der gefühlsästhetischen Rehabilitierung des Epikureismus bestimmt ist. WAA I 1, S. 242, V. 31 f. WAA I 1, S. 241 f., V. 5, 13 f., 18 und 25 f. WAA I 1, S. 242, V. 24 – 30. WAA I 1, S. 242, Anm. 3; Wieland bezieht sich auf: Richard Steele: Christlicher Held, übersetzt von Jacob Friedrich Lamprecht, in: Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig Eigene Schriften und bersetzungen in gebundener und ungebundener Schreibart. Tl. 2. Leipzig 1734, S. 571 – 661, zu Catos Tod dort bes. S. 575 – 583. Für Johann Christoph Gottsched, den Herausgeber der Leipziger Gesellschaftsschriften, war Steeles Abhandlung fraglos von besonderem Interesse, da sie in Spannung zu Joseph Addisons und zu seinem eigenen Cato-Drama steht. Daß auch Shaftesburys Stoa-Rezeption (hierzu Friedrich A. Uehlein: Kosmos und Subjektivitt. Lord Shaftesburys Philosophical Regimen, Freiburg und München 1976, bes. S. 78 – 87) auf Wieland eingewirkt haben mag, sei wenigstens am Rande erwähnt. 22 Angeführt sei lediglich Wielands versifiziertes Schreiben an Herrn *** von der Wrde und der Bestimmung eines schçnen Geistes (1752), in dem der nicht 18 19 20 21

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Differenzierung um 1770: Vorbericht zum Anti-Cato und Musarion Wielands frühe Adaptation anti-stoischer Positionen und seine karikierende Darstellung vermeintlich leidenschaftsloser Musterhelden grundiert auch seine weitere Auseinandersetzung mit dem Stoizismus. Wie stark die Kontinuität zwischen Wielands Frühwerk und seiner mittleren Schaffensphase gerade in dieser Hinsicht ist, wie deutlich Wieland aber auch zu einer Differenzierung und Relativierung seiner Kritik findet, läßt sich an seinem wenig bekannten Plan eines Anti-Cato und an seinem berühmten Versgedicht Musarion zeigen. Das (nie verwirklichte) Vorhaben, einen Anti-Cato zu schreiben, machte Wieland erstmals im Eröffnungsjahrgang des Teutschen Merkur von 1773 publik.23 Den Anlaß zu diesem Vorbericht zum Anti-Cato bot das anonyme Briefgedicht An Herrn Wieland, ber dessen schlafenden Endymion in der Neuen Braunschweigischen Zeitung von 1773.24 Der Zwanzigjährige dem „Schwärmen[ ] der sinnlosen Jünglinge“ eine kämpferische Absage erteilt und sich stolz zur exklusiven Gemeinschaft der wenigen Weisen auf „einsame[n] Höhen“ bekennt (WAA I 1, S. 457 – 462, bes. V. 75 und 186 – 190). Wie befremdlich diese bald revidierte Stilisierung gewirkt haben muß, bezeugt schlaglichtartig Ewald von Kleist, der den jungen Wieland als „Pinsel“ charakterisiert, „der die Welt reformiren will und noch keinen Bart hat“ (WBW Bd. 2, S. 163 f.; aus einem Schreiben an Johann Wilhelm Ludwig Gleim von 25. Februar 1753). 23 Christoph Martin Wieland: Vorbericht zum Anti-Cato, in: Der Teutsche Merkur 1773, Bd. 3, August, S. 99 – 126; vorangegangen waren zwei Fußnoten Wielands zu Johann Georg Jacobi: Beurtheilung der Poetischen Blumenlese in dem Gçttingischen Musen-Allmanach 1773, in: Der Teutsche Merkur 1773, Bd. 1, Februar, S. 163 – 184, hier S. 173 und 177, zit. S. 173: „Bald hoffe ich die Muße zu finden […], einen schon lang in meinem Kopfe fertig liegenden AntiCato […] völlig aus[zu]arbeiten und [zu] publiciren“ (auch in: WAA I 21, S. 14; Jacobis Verfasserschaft der Beurtheilung ergibt sich aus Wielands Brief an Jacobi vom 20. März 1773, in: WBW Bd. 5, 1983, Nr. 118). Zu einem zehn Jahre früheren, brieflichen Hinweis auf das Anti-Cato-Projekt vgl. unten Anm. 36. 24 Anonymus: An Herrn Wieland, ber dessen schlafenden Endymion im Musenallmanach von 1773. Ein Fragment ber ein Fragment, in: Neue Braunschweigische Zeitung 1773, Nr. 22 f.; unterzeichnet: „Osterwiek, im Halberstädtischen. Q.“; die Versepistel ist auch abgedruckt in: WBW Bd. 6.3, 1995, S. 1208 – 1210. Da Jacobi in seiner Beurtheilung der Poetischen Blumenlese (wie Anm. 23), S. 173 – 177, den anonymen Kritiker ausführlich zurückweist, dankt Wieland am 20. März 1773 Jacobi für seine „Apologie gegen den Braunschweigischen Epistolographen […]. Der Mann muß ein arger Schelm seyn!“ (WBW Bd. 5, 1983, Nr. 118, Z. 14 f.)

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Verfasser dieses Sendschreibens hatte nämlich Anstoß genommen an Wielands fragmentarischen Gedanken bey einem schlafenden Endymion.25 „Man fand sehr ärgerlich“, so faßt Wielands Verteidigungsschrift die gereimten Einwürfe seines Kritikers zusammen, „daß er [Wieland] von Aristipp in einem Tone, der wenigstens keine deutliche Mißbilligung merken läßt“, gedichtet habe; „noch ärgerlicher“ aber habe man gefunden, „daß er sich nicht gescheuet hatte, eine höchstanstößige Vergleichung zwischen dem Tugendhelden Cato, und dem irrenden Ritter Don Quischotte von Mancha, anzustellen“.26 Tatsächlich hatte Wieland seinen poetischen Endymion-Reflexionen27 nicht nur Verse auf „Freund Aristipp“ integriert, die schon auf den um 1774 konzipierten AristippRoman zulaufen.28 Vielmehr inszeniert er im Anschluß daran auch ein auf Cato konzentriertes Streitgespräch zwischen dem aristippischen Lebenskünstler und einem ,neuen Seneca‘. Denn seine Lehre, „daß ein Weiser j Nicht für sich selbst, daß er dem Ganzen lebt“ und daß er „treu zu seyn den ewigen Gesetzen“ sich bestrebe, exemplifiziert der Apologet des Stoizismus mit Catos unerbittlicher Konsequenz.29 Dem entgegnet sein Opponent mit dem topischen Einwand der Prahlerei („Herr Stoiker! Wir kennen uns; du prahlest!“), mit dem Vorwurf, Catos Bild über alle Wahrscheinlichkeit hinaus zu verbrämen („Wir wissen auch, was seyn kann oder nicht, j Und sehn die Dinge gern im offnen Sonnenlicht“), und besonders mit dem Verdacht der Schwärmerei: 25 Christoph Martin Wieland: Gedanken bey einem schlafenden Endymion. Ein Fragment, 1771, in: Musenalmanach 1773, hg. von Heinrich Christian Boie, Göttingen [1772], S. 81 – 96. Zu vergleichen ist die spätere, wesentlich veränderte Fassung unter dem Titel Das Leben ein Traum. Eine Trumerey bey einem Bilde des schlafenden Endymion (in: WSW Bd. 9, 1795, S. 215 – 238 und S. 239 – 267 [Beylage zu dem vorstehenden Gedichte]), welche die erst im Vorbericht zum Anti-Cato veröffentlichten Schlußabschnitte des Fragments integriert. 26 Wieland: Anti-Cato (wie Anm. 23), S. 116. 27 Zur Dichtung und zur Stoffgeschichte vgl. Lieselotte E. Kurth-Voigt: C. M. Wielands Endymion: Variationen eines antiken Mythos, in: Modern Language Notes 97, 1982, S. 470 – 496, bes. S. 490 – 492. 28 Wieland: Gedanken bey einem schlafenden Endymion (wie Anm. 25), S. 88: „eine Lust in Unschuld, die ein Mann, j Wie einen Schmetterling geschwinde, j In seinem Wege haschen kann, j Nicht haschen, hielt der weise Mann [Aristipp], j Aus diesem Grunde bloß, für eine grosse Sünde.“ – Zur Entstehungsgeschichte des Aristipp und zum Konzept von 1774 vgl. Christoph Martin Wieland: Werke in zwçlf Bnden, Bd. 4: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, hg. von Klaus Manger, Frankfurt 1988, S. 1023 – 1129, hier S. 1034 – 1041. 29 Wieland: Gedanken bey einem schlafenden Endymion (wie Anm. 25), S. 89 f.

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Der unbiegsame Mann, der stets nach Regeln handelt, Stets Herr ist von sich selbst, und niemals sich verwandelt, Allein für andre lebt, nichts fürchtet, nichts begehrt, Kurz, nie was menschliches erfährt, Der Mann, wofern er nicht ein Gott ist, ist ein Schwärmer.30

Der Stoiker als Schwärmer – diese Charakterisierung benachbart Cato vielen anderen, meist ,platonisierenden‘ Helden Wielands, die der Desillusionierung bedürfen, um zu wahrer, Sittlichkeit und Sinnlichkeit ausbalancierender Tugend zu gelangen;31 und sie motiviert im Endymion-Gedicht den provokanten Vergleich Catos mit Don Quijote: „Ein Cato war in Csars Tagen, j Was Mancha’s Held, als ihn Cervantes schuf. j […] j Und deine Tugend war nur eine Dulchinee.“32 Mit dieser Pointe schließt Wielands im Musenalmanach fr das Jahr 1773 veröffentlichtes Endymion-Fragment. Gegen die Anschuldigungen seines Kritikers macht Wieland im Vorbericht zum Anti-Cato geltend, daß „seine Rhapsodie“ über die korrelative Entwürdigung der Stoa hinausführen und in einen – für den gereiften Wieland typischen – relativierenden Ausgleich der Positionen münden sollte: „Nicht der Stoiker sollte siegen; aber sein vorgeblicher Aristipp eben so wenig. Der Dichter wollte in seiner eignen Person zwischen sie treten, und Friede unter ihnen machen.“33 Die Kritik indessen, den „großen Cato […] an eines Narren Seite“ gestellt zu haben,34 veranlaßt Wieland dazu, ei-

30 Wieland: Gedanken bey einem schlafenden Endymion (wie Anm. 25), S. 91 f. 31 Vgl. zu diesem Komplex, mit Hinweisen auf ältere Literatur, die Beiträge von Jutta Heinz: Von der Schwrmerkur zur Gesprchstherapie. Symptomatik und Darstellung des Schwrmers in Wielands Don Sylvio und Peregrinus Proteus, in: Wieland-Studien 2 (1994), S. 33 – 53, und Albert Meier: Schwrmer auf dem Prfstand. Shaftesburys ,raillery‘ in der deutschen Moralphilosophie und Dichtung des 18. Jahrhunderts, in: Festschrift fr Erich Trunz zum 90. Geburtstag. Vierzehn Beitrge zur deutschen Literaturgeschichte, hg. von Dietrich Jöns und Dieter Lohmeier, Neumünster 1998, S. 55 – 74. 32 Wieland: Gedanken bey einem schlafenden Endymion (wie Anm. 25), S. 95 f. Mit Cervantes’ Roman war Wieland schon seit jungen Jahren vertraut: Einem 1749/50 besuchten „Collegium über den Don Quixotte“ bei dem Erfurter Mediziner Johann Wilhelm Baumer habe Wieland, nach Böttigers Bericht, „helle Einsichten über Despotie und Pfaffenpolitik, über verjährte Vorurtheile“ zu verdanken (Böttiger [wie Anm. 9], S. 155); Cervantes’ Roman ist dann das entscheidende Muster für Wielands Don Sylvio (zuerst 1764). 33 Wieland: Anti-Cato (wie Anm. 23), S. 109. 34 Anonymus (wie Anm. 24), Nr. 22, Strophe 15.

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nerseits die im Endymion gezogene Parallele zu präzisieren35 und andererseits den schon Jahre zuvor gefaßten Plan eines Anti-Cato zu skizzieren.36 In dieser Schrift, die Wieland vielleicht schon deshalb nicht ausarbeitete, weil er die Parallele zu La Mettries Anti-Snque meiden wollte,37 wäre es ihm darum gegangen, in Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Cato-Diskurs38 „das Ächte von den Schlacken, das Übertriebene von dem Wahren […] abzusondern“ und vorurteilsfrei zu „untersuchen, ob und wie ferne die Tugend Catons als ein Muster angepriesen zu werden verdiene“.39 In der Analyse hätte der aufgeklärte Skeptiker Wieland wohl bekräftigt, daß Catos Versuch, „die Sitten und Grundsätze des hçlzernen Roms in dem marmornern Rom wieder her[zu]stellen“, ähnlich unzeitgemäß war wie Don Quijotes Festhalten am verfallenen Rittertum – ganz so, wie Catos „Freund und Bewunderer“40 Cicero in einem der Briefe an Atticus urteile: „nam Catonem nostrum non tu amas plus quam ego; sed tamen ille optimo animo utens et summa fide nocet interdum rei publicae; dicit enim tamquam in Platonis politeiai, non tamquam in Romuli faece sententiam.“41 35 Wieland: Anti-Cato (wie Anm. 23), S. 118: „Cato machte sich ein Ideal von der politischen Tugend, welches nicht die Tugend eines weisen Staatsmannes, sondern die Tugend eines politischen Schwärmers war; und eben dadurch hörte sie auf, ächte Tugend zu seyn, und wurde für ihn eben das, was Dulcinee für den Ritter von Mancha.“ 36 Wieland: Anti-Cato (wie Anm. 23), S. 125: „Der Verfasser des Endymion hat schon vor mehrern Jahren seinen Freunden von diesem Vorhaben gesprochen“. Die einzige frühere Erwähnung des Vorhabens, die mir bekannt ist, findet sich im Postscriptum zu Wielands Brief an Johann Georg Zimmermann vom 16. März 1763, in dem Wieland „Einige Materien“ zu einer projektierten „Samlung vermischter Abhandlungen aus der Philosophie, Geschichte und Literattur“ auflistet, darunter: „Anti-Cato oder von der Politischen Tugend“ (WBW Bd. 3, 1975, Nr. 156, Z. 45 f. und Z. 56 – 74, hier Z. 70). 37 Julien Offrey de La Mettrie: ber das Glck oder Das Hçchste Gut („Anti-Seneca“), hg. von Bernd A. Laska, Nürnberg 1985; zu den wechselnden Titeln der Originaldrucke ebd., S. XXVII. Zur insgesamt ablehnenden Rezeption der Schrift in Deutschland vgl. Sandra Pott: Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland, Tübingen 2002, S. 154 – 167 (hier nicht zu Wieland). 38 Wieland: Anti-Cato (wie Anm. 23), S. 119, bezieht sich etwa auf Montaignes Essai Du jeune Caton; Michel Eyquem de Montaigne: Œuvres compltes, hg. von Albert Thibaudet u. Maurice Rat, Paris 2002, S. 225 – 228 (Essais I 37). 39 Wieland: Anti-Cato (wie Anm. 23), S. 119 f. und 125. 40 Wieland: Anti-Cato (wie Anm. 23), S. 124. 41 Cicero, ad Atticum II 1; Wielands (viel spätere) Übersetzung der Stelle lautet: „Gewiß du selbst liebst unsern Cato nicht mehr als ich. Und gleichwohl ge-

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Wieland rückte dem zum komischen Typus verzeichneten Stoiker satirisch zu Leibe und versuchte doch gleichzeitig, die stoische Ethik, die er von der Warte einer gemeinschaftsstiftenden Gefühlskultur aus als anachronistisch, elitär und sozial isolierend einstufen mußte, differenziert zu beurteilen. In Musarion, oder die Philosophie der Grazien, Wielands 1768 erstmals gedruckter Verserzählung, springt zunächst die Karikatur des Stoikers ins Auge. Schon das Titelbild des Erstdrucks,42 das die Eingangsszene des zweiten Buchs illustriert, zeigt den „stoische[n] Kleanth“ (V. 679) von unvorteilhafter Seite: vor den Augen Musarions und ihres notgedrungenen Gastgebers Phanias, dem die eigentliche Schwärmerkur des philosophischen Gedichts gilt, ringt der Stoiker mit dem Pythagoräer Theophron – allerdings nicht im geistigen Wettstreit der Argumente, sondern ganz körperlich im Staub vor jener Hütte, in die sich Phanias in verfehlt-misanthropischer Selbststilisierung zurückgezogen hat. Ist damit schon hinreichend belegt, daß Kleanth viel zu unbeherrscht und „hitzig“ (V. 680) zu Werke geht, um seine Philosophie im mindesten glaubhaft verkörpern zu können, so zeigt er sich gleich darauf auch von anderer Seite als anfällig. Ein „Blick“ Musarions genügt, um den Stoiker im „Augenblick“ zu affizieren (V. 684 f.), um „den überraschten Sinn“ des vorgeblich ganz unsinnlichen Kleanth zu überwältigen und „die Ehre j Der Apathie“ zu desavouieren (V. 691 f.). Entsprechend schlecht bewährt sich Kleanths vorgebliche Leidenschaftslosigkeit – ein „Geheimniß“, das den Menschen „zu mehr als Göttern“ mache (V. 908 f.; in der Fußnote belegt mit Seneca, epist. 53 und 73) – beim abendlichen Symposion. Ganz „stolz auf sein gefrornes Blut“, „demonstriert“ er „den Aristipp, und alle j Die seiner Gattung sind, in Circens Stall hinein“ (V. 1041 – 1053), um die gescholtenen Hedonisten und Epikuräer damit ihrem Wappentier, dem Schwein, zuzugesellen. Unkontrollierter Weingenuß jedoch tut ein übriges, und schieht es zuweilen, daß er, mit den reinsten Gesinnungen und den edelsten Absichten, dem Gemeinwesen schadet. Denn er votiert, als ob er mitten in Platons Republik und nicht in den Hefen des Romulus, lebte.“ (WAA II 9, S. 149) Zum Schluß seines Vorberichts bezieht sich Wieland nochmals auf die Autorität des Cicero (ad Atticum XII 4): er empfinde „sehr wohl, daß die Frage: wie fern Cato als ein Beyspiel der Tugend angesehen und nachgeahmet werden könne, nur zu sehr verdiene, von Cicero ein archimedisches Problem genennt zu werden“ (Wieland: Anti-Cato [wie Anm. 23], S. 126). 42 Leicht greifbar in Christoph Martin Wieland: Musarion oder die Philosophie der Grazien. Ein Gedicht in drei Bchern, hg. von Alfred Anger, Stuttgart 1964 u. ö., deren Text (nach der Ausgabe letzter Hand; WSW, Bd. 9, 1795, S. 1 – 104) ich im folgenden durch Versangabe im laufenden Text zitiere.

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Kleanth selbst wird „standsgemäß […] j Mit Bacchischem Triumph in – einen Stall gebracht“ (V. 1070 f.), aus dem sich der bezechte „Faun“ (V. 1260) am nächsten Morgen „vielleicht in eine Tonne“ (natürlich die des Kynikers Diogenes) rettet, jedenfalls aber „nicht mehr gesehn“ ward (V. 1440 f.). Die Exkommunizierung des Stoikers, den Wielands Verserzählung – im Gegensatz zu seinem pythagoräischen Konkurrenten und erst recht im Kontrast zu seinem vormaligen ,Schüler‘ Phanias – als unkurierbaren Fall entläßt, hindert Musarion nicht, der stoischen Lehre mit Respekt zu begegnen. Obschon das stoische „System“ (V. 1265) mit ihrer sittlichsinnlichen Philosophie der Grazien kaum vereinbar ist, warnt Musarion ihren Patienten Phanias doch vor neuem „Übermaß“ (V. 1250), als dieser von unkritischer Bewunderung zu völliger Verdammung umzuschwenken im Begriff ist: Und dennoch ist nichts mächtiger, um Seelen Zu starken Tugenden zu bilden, unsern Muth Zu dieser Festigkeit zu stählen, Die großen Übeln trotzt und große Thaten thut, Als eben dieser Satz, für welchen dein Kleanth Zum Märtyrer sich trank. Die alten Herakliden, Die Männer, die ihr Vaterland Mehr als sich selbst geliebt, die Aristiden, Die Phocion und die Leonidas, Ruhmvolle Nahmen! […] […] Sie haben das erfahren Was Zeno spekuliert; sie haben es gethan! (V. 1266 – 1278)

Sofern ein philosophischer „Satz“ sich praktisch bewährt, zu psychischer Stabilität und zu passiver („Übeln trotzt“) wie aktiver („Thaten thut“) Lebensbewältigung anleitet, zollt ihm Musarion ihre Anerkennung. Indem Wieland ihren Heroenkatalog mit Helden bestückt, die vor Ausbildung der stoischen Lehre lebten, mit Stoikern avant la lettre, nimmt er nicht bloß historische Rücksicht auf die in einem ganz vagen griechischen Altertum angesiedelte Erzählung, sondern er verlegt den Akzent – und darauf kommt es ihm an – von der Spekulation auf die Erfahrung, vom System auf die Tat. Praxis statt Theorie, das ist der Maßstab, nach dem Musarion urteilt, und nach diesem, von Wieland ganz zweifellos mitgetragenen Maßstab läßt sich die Stoa auch von einem sinnenfreudigen Standpunkt aus akzeptieren und mit ihm verbinden.

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Vom Horaz-Kommentar zum Aristipp-Motto Tatsächlich nähert sich die von Musarion repräsentierte Haltung wenigstens in Teilen stoischen Konzepten an, so besonders dem Streben nach Unabhängigkeit von den Wechselfällen des Lebens: „Das wahre Glück, das Eigenthum der Weisen, j Steht fest, indeß Fortunas Kugel rollt“ (V. 420 f.), belehrt Musarion den flüchtig-instabilen Phanias ganz im Sinne der stoischen constantia, um ihm rhetorisch seinen Mangel an Autarkie vorzuwerfen: „Die Farbe deiner Seelen j Ist nur der Wiederschein der Dinge um dich her?“ (V. 409 f.) Gerade in diesem Punkt, in dem Ziel, mit größtmöglicher Selbständigkeit ein gelingendes Leben in Glück und Gemütsruhe zu führen, stehen sich Stoizismus und Epikureismus bekanntlich viel näher,43 als es die antipodische Stellung beider Schulen sowie die klischeehafte Kontrastierung von bedürfnislosem Asketen und hedonistischem Schwelger vermuten läßt. Daher bleibt auch ungewiß, ob Wieland um 1770 Differenz und Nähe der beiden philosophischen Systeme für sich bereits abschließend geklärt hatte. Festen Boden gewann Wieland wohl erst, als er gut ein Jahrzehnt später die Briefe (1782) des Horaz übersetzte und intensiv kommentierte. Gelegenheit zu einem Tour d’horizon durch die antike Philosophie gibt ihm gleich der programmatische Eingangsbrief an Maecenas, in dem Horaz der Nachfrage seines Adressaten vorgreift: Ac ne forte roges quo me duce, quo lare tuter, nullius addictus iurare in verba magistri, quo me cumque rapit tempestas deferor hospes. Nunc agilis fio et mersor civilibus undis, virtutis verae custos rigidusve satelles: nunc in Aristippi furtim praecepta relabor, et mihi res, non me rebus, submittere conor. Fragst du, in welche von den Weisheitsschulen Athens ich eingeschrieben sei, so wisse, in keine! Frei und ohne auf die Worte von einem Meister, wer er sei, zu schwören, bin ich, wie einer, der zu Wasser reiset, 43 Vgl. hierzu Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3: Stoa, Epikureismus und Skepsis, München 21995 (Geschichte der Philosophie 3), bes. S. 102 f., sowie: Antike Glckslehren. Kynismus und Kyrenaismus, Stoa, Epikureismus und Skepsis. Quellen in deutscher Übersetzung mit Einführungen, hg. von Malte Hossenfelder, Stuttgart 1996.

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bald hie bald da, wohin der Wind mich wirft. Bald lauter Tatkraft, treib’ ich in den Wogen des tätigen weltbürgerlichen Lebens, und strenge Tugend, die kein Haarbreit weicht von Recht und Pflicht, ist meine große Göttin: bald sink’ ich unvermerkt in Aristipps System zurück, und statt mich selbst den Dingen zu unterwerfen, seh’ ich, wie ichs mache sie unter mich zu kriegen.44

An diese Verse knüpft Wieland zwei exkursartige Erläuterungen, erstens zu den „Weisheitsschulen j Athens“, die er selbst erst – weit über Horaz’ Wortlaut hinaus konkretisierend – in den Maecenas-Brief eingebracht hat, und zweitens zum Verständnis des die zitierte Passage abschließenden Verses. Einen deutlichen Akzent setzt Wieland in der ersten, allgemeineren Anmerkung (S. 52 – 58) bereits, wenn er die Philosophie der Griechen als „Kunst zu leben“ (S. 52) charakterisiert und damit seine Skepsis gegenüber bloß theoretischen Lehrgebäuden anzeigt. Zwar verzichtet Wieland darauf, die von Zeno und Epikur gestifteten „Schulen“, welche „in allen ihren Begriffen und Grundsätzen Gegenfüßler“ gewesen seien, einläßlich zu bewerten; auch gesteht er der stoischen Morallehre zu, daß sie „den Menschen veredelte, indem sie die vollkommenste Ausübung der Tugend, und die angestrengteste Tätigkeit zum Besten des Vaterlandes und der allgemeinen menschlichen Gesellschaft zur einzigen Bedingung der Glückseligkeit machte“ (S. 53). Doch versagt es sich Wieland nicht, die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis zu markieren, indem er aus Plutarchs De Stoicorum repugnantiis den „Vorwurf“ anführt, daß die Stoa „die Tätigkeit zum Besten des Staats zwar in ihren Schulen und Schriften lehre, die Ausübung ihrer Grundsätze aber andern überlasse“ (S. 53). Entsprechend interpretiert Wieland die stolze Weigerung des Horaz, einer bestimmten philosophischen Lehre zu huldigen, nicht als eklektische Unverbindlichkeit, sondern – ganz zustimmend – als Kritik einer Philosophie, die im Rom des Horaz nur noch „eine müßige Kunst zu grübeln und zu deklamieren“ gewesen sei (S. 56). Indem sich Horaz dem Maecenas gegenüber zu einer philosophischen Praxis bekenne, die er „bloß als eine 44 Wieland: Horaz (wie Anm. 14), S. 39 (ep. I 1, V. 13 – 19). Zitate aus Wielands Kommentar im folgenden nach dieser Ausgabe durch einfache Seitenzahlen im laufenden Text. Vgl. auch Wieland: Aristipp (wie Anm. 28), S. 1041 – 1050, sowie Manger (wie Anm. 2), S. 126 – 131.

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ökonomische Angelegenheit […] und um sich besser zu befinden, treibe“ (S. 57), gehe es ihm nicht darum, grundsätzlich für oder wider Stoizismus oder Epikureismus Stellung zu beziehen, sondern um eine Relativierung beider Standpunkte und um die Rechtfertigung, je nach Lebenssituation der einen oder anderen Lehre zu folgen: „Er [Horaz] läßt der Stoa Gerechtigkeit widerfahren, indem er ziemlich deutlich zu verstehen gibt, daß er, sobald er sich […] in die Wogen des brgerlichen Lebens strze, die Anhänglichkeit an eine strenge unerschütterliche Tugend für die beste Partei halte“ (S. 57). Da – so schließt Wieland in der folgenden Anmerkung (S. 58 – 62) bruchlos an – das „Stoische“ die von Horaz durchaus nicht grundsätzlich diskreditierte „Philosophie eines Staats- und Geschäftsmanns [sei], der als Patriot und Weltbürger seine ganze Tätigkeit dazu anwendet, das allgemeine Beste zu befördern“, ziele Horaz’ Gegenüberstellung mit der „Aristippischen“ Philosophie nicht auf eine wertende Kontrastierung beider Lehren, sondern lediglich auf eine individuelle Begründung, „warum er [als Privatmann] die letztere seiner eignen Lage und Verfassung angemeßner finde“ (S. 58). Doch begnügt sich Wieland nicht damit, Horaz’ Argumentation, die auf eine situative Ethik und eine lebenspraktisch betriebene Philosophie hinauslaufe, zu explizieren und zu plausibilisieren. Vielmehr nimmt er eine zeitgenössische Kommentardebatte, die er im Magazin fr die Philosophie und ihre Geschichte von 1781 kennengelernt haben dürfte,45 zum Anlaß einer Klärung, was „Horaz mit dem Verse Et mihi res, non me rebus, submittere conor eigentlich habe sagen wollen“ (S. 58). Ausgangspunkt der Debatte war die freizügige Umstellung und Umformulierung des Schlußquartetts unserer Passage, das durch das anaphorische „Nunc – nunc“ symmetrisch in zwei Verspaare gegliedert ist (ep. I 1, V. 16 – 19), in der 1728 erstmals 45 Charles Batteux: Entwickelung der Moral Aristipps. Mit Rcksicht auf die Erluterung einer Stelle im Horaz. Aus dem Französischen [von Michael Hißmann], in: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte 4 (1781), S. 221 – 236; vgl. Mangers Hinweis auf diesen Beitrag in Wieland: Aristipp (wie Anm. 28), S. 1053 f. – Ein eindeutiges Indiz, daß Wieland diesen Beitrag rezipiert hat, ergibt sich m. E. aus dem nach Plutarch erhobenen „Vorwurf“, daß die Stoa „die Tätigkeit zum Besten des Staats zwar in ihren Schulen und Schriften lehre, die Ausübung ihrer Grundsätze aber andern berlasse“ (S. 53), der sich bis in den Wortlaut hinein in der Batteux-Übersetzung vorformuliert findet: „der erste Widerspruch, der er [Plutarch] ihnen […] vorrückt, ist dieser, daß sie immer abgesondert für sich gelebt, immer Thätigkeit empfolen, das wirkliche Wirken hingegen andern berlassen haben“ (Batteux, wie oben, S. 227; meine Hervorhebungen).

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erschienenen Horaz-Ausgabe des jesuitischen Gelehrten Abbé Noël Etienne Sanadon: Nunc agilis fio, et mersor civilibus undis: Nunc mihi res, non me rebus, subjungere conor Virtutis veræ custos rigidusque satelles: Nunc in Aristippi furtim præcepta relabor.46

Gegen diese ausführlich begründete Lesart hatte Charles Batteux, der selbst eine seit 1750 mehrfach aufgelegte Horaz-Übertragung und wenig später eine Abhandlung über La morale d’Epicure vorlegte,47 einen Beitrag gerichtet, der 1781, just vor Wielands kommentierter Übertragung der Horaz-Briefe, unter dem Titel Entwickelung der Moral Aristipps. Mit Rcksicht auf die Erluterung einer Stelle im Horaz ins Deutsche übertragen worden war.48 Batteux’ ästhetischen wie philosophischen Argumenten, die sowohl die willkürliche Zerstörung des symmetrisch-kontrastiv angelegten Vierzeilers wie auch die Verfehlung des von Horaz gemeinten Sinns beklagen, kann sich Wieland weitgehend anschließen. Denn Batteux konstatiert die „Ähnlichkeit der stoischen Äußerungen […] mit den Ausdrücken der Vertheidiger der Wollust“ und die Übereinstimmung beider „Schulen“ in den „Grundsätzen“, um ihre wesentliche Differenz im gegensätzlichen Verständnis des Wortes „Natur“ zu sehen: Die Stoiker würden ,Natur‘ auf „das ganze Geschlecht“ beziehen und daher „die über die Selbstliebe herrschende Tugend“ propagieren; bei den Aristipp folgenden Cyrenaikern stünde hingegen das „einzelne Individuum“ im Zentrum und für sie dominiere deshalb „die Selbstliebe über die Tugend“.49 In diesen vorgezeichneten Bahnen rettet auch Wieland 46 Horaz: Les Posies, disposées suivant l’ordre chronologique et traduites en françois avec des remarques et des dissertations critiques par Noël Etienne Sanadon, 2 Bde., Paris 1728; hier nach: Horaz: Oeuvres en latin, traduites en françois par M. Dacier, et le P. Sanadon, avec les remarques […] de l’un & de l’autre, Bd. 6, Amsterdam 1735, S. 356 – 359 (mit Kommentar). 47 Horaz: Les poesies, hg. von Charles Batteux, 2 Bde., Paris 1750 u. ö.; Charles Batteux: La morale d’Epicure. Tiree de ses propres crits, Paris 1758; Die Moral des Epikur. Aus seinen eigenen Schriften ausgezogen, Mitau 1774. 48 Wie Anm. 45; die Übertragung folgt Charles Batteux: Dveloppement de la Morale d’Aristippe, pour servir d’explication  un passage d’Horace, in: Mémoires de littérature, tires des registres de l’Académie Royale des Inscriptions et Belleslettres, depuis l’année M.DCCLII, jusques & compris l’année M.DCCLIV [Ausgabe Paris] Bd. 26 (1759), S. 1 – 9. 49 Batteux (wie Anm. 45), S. 233 – 235.

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die ursprüngliche Lesart gegen die des Sanadon: „Die Stoiker, meint er, wären ja eben diejenigen, welche lehrten, daß ein Weiser die Dinge sich, und nicht sich den Dingen, unterwerfen müsse: dies letztere hingegen sei gerade das, worin Aristipps ganze Philosophie bestanden habe. Aber Sanadon irrte sich in beidem.“ (S. 58) Denn, und nun folgt Wielands entscheidende Interpretation des antithetischen Verses: Der Hauptgrundsatz der Stoiker war: der Weise unterwirft sich immer und in allem den ewigen und notwendigen Gesetzen der Natur der Dinge; er bildet seine Art zu denken und zu handeln einzig nach dieser Richtschnur; und seine höchste Freiheit besteht darin, daß er will was er muß, tut was er soll. Die unveränderliche Natur der Dinge, dieses einzige, aber unerläßliche Gesetz des Weisen, schreibt ihm in jedem Augenblick und Verhältnis des Lebens vor, was recht ist, und was er also zu wollen und zu tun hat; und bloß um zu wissen, was recht ist, damit er immer recht handle, bemüht er sich die Dinge so zu erkennen, nicht wie sie dem verfälschten Auge des Vorurteils und der Leidenschaften scheinen, sondern wie sie in den Augen der reinen Vernunft, d. i. wie sie wirklich sind. Der Weise sieht sich daher immer als einen Teil des Ganzen an, der bloß um desselben willen da ist, und dessen Wohlstand und Vollkommenheit mit dem seinigen so notwendig verbunden ist, daß er nur in so fern seiner Natur gemäß lebt und vollkommen ist, in so fern er zur Vollkommenheit des Ganzen mitwirkt. So lehrten die Stoiker, und so ist klar, warum Horaz das se rebus submittere, sich selbst den Dingen unterwerfen, zum unterscheidenden Zeichen eines Stoikers macht. (S. 58 f.)

Inwiefern Wieland zurecht Horaz’ „se rebus submittere“ dem stoischen „secundam naturam vivere“ gleichsetzt,50 muß hier nicht entschieden werden. Leicht einzusehen ist aber, weshalb er diesen Vers, den er bereits in den frühen 1760er Jahren isoliert zitiert hatte,51 zum Motto seines Altersromans Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1800/01) machte. Denn in Wielands Lesart empfiehlt Horaz, der „dem Aristipp ähnlich zu werden suchte“ und dessen „Philosophie […] in die zwei Worte mihi res zusammenfaßte“ (S. 61 f.), diesen als Weisen, der die „Philosophie“ als „Kunst zu leben“ (S. 52) pflegte: „Kurz, er kann alles genießen, alles entbehren, sich in alles schicken; und die Dinge außer

50 Zu den – nach Cicero – „drei Bedeutungen“ dieser Formel vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilophie im altstoischen System, Stuttgart 1981, S. 220 – 222. 51 WAA I 2, S. 297 (nachträglicher Vorbericht von 1763 zu den Betrachtungen ber den Menschen von 1755); vgl. Mangers Hinweis in Wieland: Aristipp (wie Anm. 28), S. 1026.

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ihm werden nie Herr über ihn, sondern er ist bleibt Herr über sie.“ (S. 61) Im Aristipp muß Wieland, wie schon die der philosophischen Schulbildung vorausgehende Handlungszeit nahelegt, keine kontroverspolemische Auseinandersetzung mit der Stoa mehr führen. Dafür gewinnt er aus dem in der ersten Person gehaltenen Horaz-Vers ein (wohl nach dem Vorbild Montaignes) „in der Form eines gnomischen Infinitivs“ gefaßtes Motto des Romans, eine allgemeingültige Maxime, die stoische Grundpositionen nicht negiert, sondern im zentralen Ziel der Autarkie mühelos integriert: „Sibi res non se rebus submittere“.52

52 Wieland: Aristipp (wie Anm. 28), S. 9 und S. 1026, sowie Manger (wie Anm. 2), S. 14. – Nachgewiesen ist, daß sich Wieland in seinen Notizen zum Aristipp von 1798 bis 1800 bereits der sententiösen Form des Mottos annähert (Wieland: Aristipp [wie Anm. 28], S. 1084). Wohl unvermerkt blieb hingegen, daß bereits Montaigne in seinem auch thematisch einschlägigen Essai De la Solitude der verallgemeinerten sprachlichen Gestalt entscheidend vorarbeitet: „L’occupation qu’il faut choisir à une telle vie, ce doit estre une occupation non penible ny ennuyeuse; autrement pour neant ferions nous estat d’y estre venuz chercher le sejour. Cela depend du goust particulier d’un chacun: le mien ne s’accommode aucunement au ménage. Ceux qui l’aiment, ils s’y doivent addonner avec moderation, Conentur sibi res, non se submittere rebus. C’est autrement un office servile que la mesnagerie, comme le nomme Saluste“; Montaigne (wie Anm. 38), S. 232 – 242 (I 39), hier S. 238 f. Daß Wieland mit den Essais vertraut war, steht außer Frage: Bereits im Vorbericht zum Anti-Cato bezieht er sich auf Montaignes Essai Du jeune Caton (I 37; vgl. oben Anm. 38); im Merkur druckt Wieland Proben einer neuen bersetzung der Essais de Montaigne (Der Neue Teutsche Merkur 1793, Bd. 1, S. 307 – 332); und im HorazKommentar rückt Montaigne sogar neben Aristipp: „Aristipp veredelt sein Amt, dem König die Langweile zu vertreiben, zu einem Hofdienst. Es gibt deren so viele, welche reichlich mit der gegenteiligen Tugend begabt sind, daß es kein Wunder ist, wenn die Könige auf die Dienste im Aristippischen Geschmack einen Wert legen, wovon ihre Schatzmeister nicht immer so überzeugt sind, als sie selbst. Indessen ging’s dem Dionysius mit seinem Spaßmacher, wie Montaignen mit seiner Katze.“ (Wieland: Horaz [wie Anm. 14], S. 270 [zu ep. I 17, V. 21] und S. 1123 [Auflösung der Anspielung auf Essais II 12].)

Navigation mit Virtus und Fortuna. Goethes Gedicht Seefahrt und seine stoische Grundkonzeption von Barbara Neymeyr Goethes Gedicht Seefahrt 1 ist nicht nur in biographischer Hinsicht aufschlußreich, sondern eröffnet zugleich auch einen kulturhistorischen Horizont: erstens durch die sprachliche Gestaltung, mit der Goethe auf programmatische Neuerungen Klopstocks zurückgreift, zweitens durch die bereits seit der Antike zum Topos gewordene Seefahrtsmetaphorik und drittens durch die strukturbildende Funktion stoischer Leitvorstellungen. Seefahrt Taglang nachtlang stand mein Schiff befrachtet, Günst’ger Winde harrend saß mit treuen Freunden – Mir Geduld und guten Mut erzechend – Ich im Hafen. 5

Und sie wurden mit mir ungedultig: Gerne gönnen wir die schnellste Reise, Gern die hohe Fahrt dir; Güterfülle Wartet drüben in den Welten deiner, Wird Rückkehrendem in unsern Armen 10 Lieb’ und Preis dir. Und am frühen Morgen ward’s Getümmel, Und dem Schlaf entjauchzt’ uns der Matrose, Alles wimmelt, alles lebet, webet, Mit dem ersten Segenshauch zu schiffen.

1

Erste umfassende Analyse des Gedichts: Barbara Neymeyr: Navigation mit ,virtus‘ und ,fortuna‘. Goethes Gedicht „Seefahrt“ und seine stoische Grundkonzeption, in: Goethe-Jahrbuch 115, 1998, S. 29 – 44. [Eine italienische Übersetzung dieser Abhandlung ist erschienen in: Goethe e l’antico. A cura di Mauro Ponzi e Bernd Witte. Roma 2005, S. 113 – 133.] – Die hier vorliegende Version dieses Aufsatzes ist überarbeitet und gekürzt.

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Barbara Neymeyr

15 Und die Segel blühen in dem Hauche, Und die Sonne lockt mit Feuerliebe; Ziehn die Segel, ziehn die hohen Wolken, Jauchzen an dem Ufer alle Freunde Hoffnungslieder nach im Freudetaumel 20 Reisefreuden wähnend wie des Einschiffmorgens Wie der ersten hohen Sternennächte. Aber gottgesandte Wechselwinde treiben Seitwärts ihn der vorgesteckten Fahrt ab, Und er scheint sich ihnen hinzugeben, 25 Strebet leise sie zu überlisten, Treu dem Zweck auch auf dem schiefen Wege. Aber aus der dumpfen grauen Ferne Kündet leise wandelnd sich der Sturm an, Drückt die Vögel nieder auf’s Gewässer, 30 Drückt der Menschen schwellend Herze nieder; Und er kommt. Vor seinem starren Wüten Streckt der Schiffer weis’ die Segel nieder; Mit dem angsterfüllten Balle spielen Wind und Wellen. 35 Und an jenem Ufer drüben stehen Freund’ und Lieben, beben auf dem Festen: Ach, warum ist er nicht hiergeblieben! Ach, der Sturm! Verschlagen weg vom Glücke Soll der Gute so zu Grunde gehen? 40 Ach, er sollte, ach, er könnte! Götter! Doch er stehet männlich an dem Steuer. Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen, Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen. Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe 45 Und vertrauet, scheiternd oder landend, Seinen Göttern.

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I. Goethe schrieb das Gedicht Seefahrt am 11. September 1776 im Alter von 27 Jahren, zehn Monate nach seinem Wechsel von Frankfurt nach Weimar.2 Der Erstdruck im Deutschen Museum im September 1777 trug noch den Titel G. den 11. September 1776. Undatiert fand das Gedicht 1789 unter dem Titel Seefahrt Eingang in Goethes Schriften; Lavater erhielt eine Kopie.3 Schon die ursprüngliche Überschrift läßt vermuten, daß der biographische Hintergrund eine besondere Rolle spielt. Seine Situation in Weimar schilderte Goethe am 6. März 1776, also etwa ein halbes Jahr vor der Entstehung des Gedichts, in einem Brief an Johann Kaspar Lavater folgendermaßen: „Ich bin nun ganz eingeschifft auf der Woge der Welt – voll entschlossen: zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern, oder mich mit aller Ladung in die Lufft zu sprengen.“4 Nicht nur die Schiffahrtsmetaphorik läßt eine Analogie zum Gedicht Seefahrt erkennen; hier wie dort wird auch die Möglichkeit eines Scheiterns ausdrücklich mit einkalkuliert. Das Verb ,scheitern‘ bedeutet ursprünglich: ,in Stücke gehen‘; es verweist ebenfalls auf den Bereich der Seefahrt, da es traditionell oft im Zusammenhang mit einem Schiffbruch verwendet wurde. In der autobiographischen Äußerung Goethes und in seinem Gedicht steht die Seefahrtsmetapher für die Lebensreise. Auf diese Weise rücken unterschiedliche Stadien und Erfahrungsmöglichkeiten bildhaft-konkret ins Blickfeld: Die Phasen der Wartezeit und des 2

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Vgl. A. Gode-von Aesch: Goethes „Seefahrt“, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 41, 1949, S. 65 – 70, hier S. 69. Biographische Bezüge erwähnt auch Schumann, der sich in seinem Aufsatz aber fast ausschließlich auf die Präsentation unterschiedlicher Goethe-Zitate zum Seefahrtsmotiv beschränkt und auf das Gedicht Seefahrt nur punktuell eingeht (Detlev W. Schumann: Motive der Seefahrt beim jungen Goethe, in: The German Quarterly 32, 1959, S. 105 – 120, hier S. 112 – 115). – Im folgenden zitiere ich Goethes Seefahrt nach Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden [= HA], hg. von Erich Trunz. Bd. 1: Gedichte und Epen 1, 15. Aufl. München 1993, S. 49 – 50. Vgl. den Kommentar von Karl Eibl in der Frankfurter Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Smtliche Werke. Briefe, Tagebcher und Gesprche. Vierzig Bände, hg. von Hendrik Birus u. a. Bd. 1: Gedichte 1756 – 1799, hg. von Karl Eibl, S. 931. Vgl. außerdem Rudolf Drux: Seefahrt, in: Goethe-Handbuch in vier Bänden, hg. von Bernd Witte u. a. Bd. 1: Gedichte. Stuttgart/Weimar 1996, S. 158 – 159, hier S. 158. Johann Wolfgang von Goethe: Briefe. Kommentare und Register. Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden [ = HA-Br 1], hg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 1, S. 209.

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Aufbruchs finden ebenso Eingang in die literarische Gestaltung wie der Kampf gegen den Sturm, die Möglichkeit des Schiffbruchs und das Selbstvertrauen des souverän agierenden, den Naturgewalten trotzenden Steuermanns. Das Gedicht Seefahrt bezieht sich aber nicht nur generell auf den Lebensweg des Menschen5, sondern auch auf konkrete Erfahrungen in Goethes eigener Lebenssituation: durch die Ambivalenz von gespannter Erwartung und irritierender Ungewißheit während seiner letzten Wochen in Frankfurt vor dem Umzug nach Weimar und während der ersten Monate in der neuen Umgebung.6 Die Berufung des Frankfurter Patriziersohnes an den Weimarer Hof bedeutete eine biographische Zäsur. So ist das Gedicht auch als eine Selbstermutigung für die neue Lebensphase zu lesen. Goethes Vater, der gegenüber fürstlichen Gönnern ein grundsätzliches Mißtrauen hegte und deshalb den Weimar-Plänen seines Sohnes skeptisch gegenüberstand7, vermerkte auf einer von ihm selbst angefertigten Abschrift des Gedichts Seefahrt: „Als seinen Freunden bange ward, er mögte sich nicht in das Hofleben finden, hat er folgendes Trostgedicht ihnen zugeh lassen“.8 Schon der Titel Seefahrt, den Goethe seiner Hymne erst nachträglich gab, exponiert die prozessuale Dynamik, die das Gedicht selbst durchgehend bestimmt. Das Fahrt- und Reisemotiv sowie das Motiv der Wanderung ist für den jungen Goethe charakteristisch: Evident wird es in Wandrers Sturmlied, dessen dynamischen Duktus ebenfalls bereits der Titel ankündigt, in der Hymne An Schwager Kronos, die eine rasende Kutschenfahrt als Leitmetapher für die Lebensreise wählt, im Mahomets-Gesang und schließlich auch in der Harzreise im Winter. Im Unterschied zu diesen freirhythmischen Hymnen aber ist das Gedicht Seefahrt metrisch reguliert: Es besteht aus trochäischen Versen mit überwiegend fünf Hebungen; der Marschrhythmus des Metrums entspricht der Dynamik des dargestellten Geschehens. Das Gedicht ist klar strukturiert: Von den insgesamt acht Strophen schließen sich jeweils zwei zu einer Sinneinheit zusammen. Die erste und zweite Strophe beschreiben den Wartezustand als Situation des lyrischen Ich und seiner Freunde im Hafen. Die beiden folgenden Strophen gelten 5 6 7 8

Vgl. Drux (ebd.), S. 158. Vgl. Eibl (ebd.), S. 931. Vgl. Gode-von Aesch (ebd.), S. 70. Weiteren Aufschluß bietet das 20. Buch von Goethes Dichtung und Wahrheit: HA 10, S. 181 – 182. Vgl. Eibl (ebd.), S. 931.

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dem ,Einschiffmorgen‘, dessen enthusiastische Stimmung sich auch in der anaphorischen Rhetorik und in der Häufung der sogenannten ,Machtwörter‘ ausprägt. Das dritte Strophenpaar inszeniert die schon an den ,Wechselwinden‘ erkennbare und sich kurz darauf bis zum ,Sturm‘ steigernde äußere Gefahr auf dem offenen Meer. Und die beiden letzten Strophen schließlich stellen unterschiedliche Verhaltensweisen angesichts einer solchen Bedrohung dar: Während „Freund’ und Lieben“ am Ufer „beben“, bewährt sich Goethes Seefahrer in stoischer virtus und Ataraxie. Diese einfache Struktur des Gedichts wird aber von einem kunstvoll inszenierten Perspektivenwechsel überlagert, der mit dem inneren Geschehen korrespondiert. Offensichtlich ist die Situation in der ersten Strophe auf das Ich hin perspektiviert, dessen Nennung allerdings bis zum vierten Vers hinausgezögert wird. Indem es hier durch seine Anfangsstellung markant hervortritt, verstärkt sich noch die durch die Retardation hervorgerufene Emphase. Zugleich zeigt das erste Strophenpaar ein Sich-Aufstauen der auf Entladung drängenden Energien in der Erwartung der Reise. Die Partizipialphrase „guten Mut erzechend“ (V. 3) läßt eine Selbstermunterung für den Aufbruch ,zu neuen Ufern‘ erkennen und korrespondiert insofern auch mit der biographischen Situation des jungen Goethe beim Wechsel von Frankfurt nach Weimar. Die zweite Strophe ist wie die siebte in ungewöhnlicher Weise durch die direkte Rede der Freunde bestimmt, die zur Dramatisierung und Dynamisierung des Gedichts wesentlich beiträgt. Trotz der formalen Übereinstimmung ist der Inhalt der zweiten und der siebten Strophe invers gestaltet: Die optimistische Sicht der Freunde in der zweiten Strophe schlägt später in Verängstigung und Besorgnis um. In gleitendem Übergang von der ersten zur zweiten Strophe reicht die Perspektive des lyrischen Ich bis zum fünften Vers; erst Vers 6 wechselt abrupt zur direkten Rede der anderen, die das lyrische Ich aus der Außenperspektive zum Du werden läßt (V. 7, 8, 10). Vers 9 antizipiert die Rückkehr des lyrischen Ich und seine Wiederaufnahme in den Kreis der Freunde. Die alliterative Verstärkung auf ,g‘und ,w‘ in der zweiten Strophe dient ebenso wie das anaphorische ,gern‘ (V. 6, 7) dazu, das ungeduldige Drängen zum Aufbruch rhetorisch zu forcieren: Gerne gönnen wir die schnellste Reise, Gern die hohe Fahrt dir; Güterfülle Wartet drüben in den Welten deiner, Wird Rückkehrendem in unsern Armen Lieb’ und Preis dir. (V. 6 – 10)

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In den beiden letzten Versen dieser Strophe fällt die syntaktische Anomalie auf (V.9 – 10). Eine reorganisierte Version des Satzes, die den logischen Zusammenhang erkennen läßt, könnte folgendermaßen lauten: ,Wenn du in unsere Arme zurückkehrst, erhältst du Lob und Preis.‘ Goethes brachylogische Formulierung verkürzt die Aussage extrem; sie entstellt geradezu den Satz und bringt dadurch die enorme Ungeduld der Freunde zum Ausdruck. Indem sie die Rückkehr antizipieren, überspringen sie mental so viele Ereignisse, daß daraus beinahe eine Koinzidenz des Ungleichzeitigen resultiert. Die sprachliche Verdichtung durch die Brachylogie ist für den programmatischen Sturm-undDrang-Gestus des jungen Goethe charakteristisch. Der auf Dynamisierung zielende rhetorische Duktus setzt sich in der dritten und vierten Strophe fort. Den Impetus des Aufbruchs, den Tatendrang der Reisenden und die Euphorie während der ersten Etappe der Seefahrt bringen Anaphern zum Ausdruck: „Und“, „Und“ (V. 11, 12); „Alles“, „alles“ (V. 13); „Und“, „Und“ (V. 15, 16); „Ziehn“, „ziehn“ (V. 17). Während das anaphorische „Und“ jeweils am Anfang von aufeinander folgenden Versen steht, werden die Wörter „Alles“ und „Ziehn“ innerhalb desselben Verses wiederholt. Außerdem fällt der das Gedicht dynamisierende Wechsel von polysyndetischem und asyndetischem Duktus auf: Und am frühen Morgen ward’s Getümmel, Und dem Schlaf entjauchzt’ uns der Matrose, Alles wimmelt, alles lebet, webet, Mit dem ersten Segenshauch zu schiffen. Und die Segel blühen in dem Hauche, Und die Sonne lockt mit Feuerliebe; Ziehn die Segel, ziehn die hohen Wolken, Jauchzen an dem Ufer alle Freunde (V. 11 – 18)

Den syntaktischen Parallelismus in der vierten Strophe verstärken die Isokola, welche die Konzentration aller Energien vor und nach dem Aufbruch veranschaulichen. Auch die Inversionen der vierten Strophe (V. 17 – 18) tragen zur Dynamisierung bei. Durch anaphorische Gestaltung hat Goethe auch die Zusammengehörigkeit der fünften und der sechsten Strophe markiert: Beide beginnen mit einem „Aber“ (V. 22, 27), das zugleich einen semantischen Kontrast zum synthetisierenden „Und“ der dritten und vierten Strophe bildet. Das adversative „Aber“ weist bereits auf den sich allmählich formierenden und dann bis zu einem bedrohlichen Ausmaß steigernden

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Widerstand der Naturkräfte hin: Anstelle des sanften Lufthauchs, der zu Beginn der Fahrt „die Segel blühen“ ließ (V. 15), wehen in der fünften Strophe nun „gottgesandte Wechselwinde“ (V. 22). Der anschließend aufkommende Sturm symbolisiert im Rahmen der Analogie von vita und navigatio die Widrigkeiten des Lebens. Das letzte Strophenpaar in seiner Seefahrt hat Goethe dialektisch gestaltet: Die Verzagtheit der sorgenvoll am Ufer stehenden Freunde kontrastiert er mit der Souveränität des durch virtus ausgezeichneten Individuums. Die Konjunktion „Doch“ (V. 41), die den Gegensatz zwischen der siebten und der achten Strophe markiert, schließt die Reihe der strukturbildenden Konjunktionen an den Versanfängen ab. Der auffallende Wechsel von der Innenperspektive des lyrischen Ich zur Außenperspektive der Freunde, die das ,Ich‘ zum ,Du‘ und schließlich aus der Distanz zum ,Er‘ werden läßt, folgt nicht nur einer Strategie der Dramatisierung, sondern scheint auch psychologisch motiviert zu sein: als Übergang von unmittelbarem Erleben zu einer durch den Widerstand der Außenwelt allererst evozierten Selbstreflexion. Sie wird zum Medium eines in der Auseinandersetzung mit der Elementarnatur sich konstituierenden Selbstbewußtseins. Während der anfängliche Optimismus der in der Beobachterposition am Ufer verharrenden Freunde angesichts des Sturmes in Verzagtheit und Besorgnis umschlägt, zeichnet sich Goethes Seefahrer zum Schluß durch einen autonom-souveränen Habitus aus. Die Stilisierung des Ich in der Schlußstrophe der Seefahrt entspricht den anderen Sturm-und-DrangHymnen Goethes: Programmatisch gestaltet er die Autonomie und Souveränität des Subjekts vor allem in der Prometheus-Hymne, aber auch in Wandrers Sturmlied, im Mahomets-Gesang und in der Hymne An Schwager Kronos. Wie bedeutsam das Konzept einer autonomen Souveränität für den jungen Goethe ist, erhellt aus dem sogenannten ,Pindar-Brief‘, den Goethe um den 10. Juli 1772 an Herder schrieb: „Über den Worten Pindars 1pijqate?m d¼mashai ist mirs aufgegangen. Wenn du kühn im Wagen stehst, und vier neue Pferde wild unordentlich sich an deinen Zügeln bäumen, du ihre Krafft lenckst, […]. Das ist Meisterschafft, 1pijqate?m, Virtuosität.“9 Das Bild des Wagenlenkers entspricht der Vorstellung des souverän agierenden Steuermanns in Goethes Seefahrt. Und die Dynamik einer Lebensreise, die Goethe in seiner Hymne An Schwager 9

HA-Br 1, S. 132. Vgl. Kommentar (S. 587): „epijqateim dumashai : bändigen, beherrschen […]“.

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Kronos durch die Allegorie einer rasenden Kutschenfahrt noch forciert hat10, prägt auch das signifikante Egmont-Zitat, mit dem Goethe im 20. Buch von Dichtung und Wahrheit auf die biographische Zäsur durch seinen Umzug von Frankfurt nach Weimar rekurriert: „Leidenschaftlich und begeistert“, so berichtet Goethe in seiner Autobiographie, habe er die Worte Egmonts ausgerufen: „[…] Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als, mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.“11 Den Sturm-und-Drang-Habitus der Seefahrt inszeniert Goethe mit einem Sprachgestus, der sich an Herders Konzeption einer ,Logik des Affekts‘ und an sprachlichen Innovationen Klopstocks orientiert.12 Für die von Klopstock propagierte neue Schreibweise sind Präfixbildungen zu Verben ebenso charakteristisch wie kompakte Partizipialfügungen und eine Fülle neuer Komposita. Syntaktisch erzielte er suggestive Abweichungen von der normalen Wortstellung durch die (auch von Herder empfohlene) Satzinversion und die Kontraktion von Nebensätzen. Klopstock begründete dieses Verfahren damit, daß er der Poesie die Funktion zuwies, Leidenschaften nicht nur anschaulich darzustellen, sondern sie auch im Leser zu evozieren. Sprachliche Kühnheiten sollten den konventionellen Sprachduktus durchbrechen und gefühlshafte Intensitäten erzeugen. Die Verschränkung sukzessiver Vorgänge zu einer Schein-Simultaneität sollte der poetischen Verdichtung ebenso dienen wie ein sparsamer Gebrauch von Konjunktionen, die Elimination der Artikel und die Unterdrückung von Präpositionen. Durch Neologismen, In-

10 Vgl. auch Belegstellen in Goethes Briefen (HA-Br 1): 22. 11. 1775: „Wie eine Schlittenfahrt geht mein Leben […]“ (S. 199). Am 16. 11. 1777 vergleicht Goethe seine Situation im „Gartenhüttgen“ in Weimar mit „einem Schiff auf dem Meere“ (S. 240). Und vom Kampf „mit den Wellen“ ist am 2.11. 1778 die Rede (S. 254). 11 HA 10, S. 187. Goethe nimmt mit diesem – geringfügig modifizierten – Zitat auf seinen Egmont Bezug (HA 4, S. 400 – 401). Zu den Komplikationen von Goethes Wechsel nach Weimar, die diesen Ausruf in einer konkreten Situation provozierten, vgl. Dichtung und Wahrheit: HA 10, S. 180 – 187. 12 Johann Gottfried Herder: Smmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan. Bd. 32, Berlin 1899, S. 73. Zu Klopstocks sprachlichen Neuerungen vgl. Karl Ludwig Schneider: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. 2. Aufl. Heidelberg 1965, bes. S. 52 – 53, 61, 72 – 73, 78 – 81.

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versionen, Elisionen und Ellipsen erweiterte Klopstock das Spektrum sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten beträchtlich. In Goethes Seefahrt ist die von Klopstock propagierte poetische Sprache paradigmatisch verwirklicht. Im Mittelteil des Gedichts fallen wie in seinen Sturm-und-Drang-Hymnen suggestive ,Machtwörter‘ auf, die als neue Komposita einem genialischen Originalitätsanspruch folgen und durch semantische Ballung besondere Ausdruckskraft erhalten: ,Segenshauch‘, ,Feuerliebe‘, ,Hoffnungslieder‘, ,Freudetaumel‘, ,Reisefreuden‘, ,Einschiffmorgen‘, ,Sternennächte‘. Ebenfalls nach Klopstocks Vorbild versieht Goethe die intransitiven Verben ,zechen‘ und ,jauchzen‘ jeweils mit einem Präfix, um sie dann transitiv zu verwenden: „Mir Geduld und guten Mut erzechend“ (V. 3); „Und dem Schlaf entjauchzt’ uns der Matrose“ (V. 12).13 Eine andere Form sprachlicher Verknappung ist die Elision: „Und am frühen Morgen ward’s Getümmel“ (V. 11). Zu den charakteristischen Ausdrucksformen der Brachylogie gehören auch Synkopen („Günst’ger Winde“: V. 2) und asyndetische Satzkonstruktionen (V. 13, 17), die durch die Elimination von Konjunktionen entstehen und im Wechsel mit dem polysyndetischen Duktus dynamisierend wirken. Auch Präpositionen werden bewußt vermieden (V. 12, 20, 23). Außerdem folgt Goethe Klopstocks Beispiel, indem er Nebensätze zu kompakten, die reguläre Syntax sprengenden Partizipialfügungen kontrahiert. So erzeugt der Ausruf „Wird Rückkehrendem in unsern Armen / Lieb’ und Preis dir“ (V. 9 – 10) die Illusion einer Zeitraffung, welche die Chronologie der Ereignisse suspendiert und Simultaneität suggeriert.

II. Die Leitmetapher der Seefahrt, die das ganze Gedicht bestimmt, verweist auf eine bis in die Antike zurückreichende Tradition. Die Analogisierung des menschlichen Lebens mit einer Schiffahrt wurde im Laufe der Jahrhunderte zu einem Topos, auf den auch Goethe zurückgreift. Die Seefahrtsmetapher bringt die Dynamik der Lebensreise ebenso zum Ausdruck wie ihre Risiken. Außer der Symbolik einer „navigatio vitae“ verbindet sich mit dem Schiff die spezifischere Vorstellung einer politischen oder religiösen Gemeinschaft. Das Staatsschiff, auf dem der Staatsmann als Steuermann agiert, zählte schon in der 13 Wie sehr diese Diktion die Aussage intensiviert, zeigt der Kontrast zur Paraphrase: ,Der Matrose entreißt uns durch sein Jauchzen dem Schlaf.‘

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Antike zu den geläufigen Topoi.14 Mitunter verglichen die römischen Dichter auch die Konzeption eines Werkes mit einer Schiffahrt.15 Gemeinsam ist den Vorstellungen vom Lebens- oder Staatsschiff sowie der poetologischen Schiffsmetapher, daß sie ein nautisches Metaphernfeld generieren, das Ausfahrt, Heimkehr und Hafen ebenso umfaßt wie Windstille, Sturm und Schiffbruch.16 Daß dieses metaphorische Geflecht auch Goethes Seefahrt durchzieht, ist evident. Bereits der Titel des Gedichts eröffnet diesen bildhaften Horizont.17 Auch damit greift Goethe auf eine etablierte Tradition zurück. Vom Beginn der Neuzeit bis zur Lyrik der Moderne fanden Metaphern wie ,Schiff‘ oder ,Seefahrt‘ als Titelmetaphern Verwendung.18 14 Schon bei Platon und Cicero war die Vorstellung vom Staatsschiff ein Topos. Bei Tertullian findet sich erstmals die christliche Gleichsetzung von Schiff und Kirche. Vgl. dazu auch Rainer Gruenter: Das Schiff. Ein Beitrag zur historischen Metaphorik, in: Tradition und Ursprnglichkeit. Akten des III. Internationalen Germanistenkongresses 1965 in Amsterdam, hg. von Werner Kohlschmidt und Herman Meyer. Bern/München 1966, S. 86 – 101. Gruenter weist auf das „System nautischer Symbolik“ hin, das schon die Kirchenväter entwickelten (S. 92). 15 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europische Literatur und lateinisches Mittelalter. 4. Aufl. Bern/München 1963, S. 138 – 140. Curtius belegt die poetologische Seefahrtsmetaphorik mit Vergil, Ovid, Properz, Horaz, Manilius, Statius sowie Plinius, Cicero und Quintilian. Bei Vergil bedeutet Dichten „vela dare“: ,die Segel setzen, absegeln‘. Mit dem ,Reffen‘ der Segel („vela trahere“) oder dem Einlaufen in den Hafen wird das Werk abgeschlossen. In diesem semantischen Horizont wird der Dichter zum Schiffer, sein Werk oder sein Geist zum Kahn. Während sich der Lyriker mit einem kleinen Kahn auf dem Fluß befindet, fährt der Epiker mit einem großen Schiff über das Meer (ebd., S. 138). Cicero spricht vom ,Ruder der Dialektik‘ ebenso wie vom ,Segel der Rede‘ und vom ,Kahn des Geistes‘. 16 Eine umfassende Materialsammlung findet sich bei Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1988. 17 Auch in anderen Gedichten exponiert Goethe bereits im Titel die Wasser- oder Schiffahrtsmetaphorik – etwa in den Gedichten Auf dem See, Meeresstille und Glckliche Fahrt. 18 Exemplarisch seien folgende Werke genannt: Sebastian Brants 1494 erschienenes Werk Das Narrenschiff, Clemens Brentanos Romanfragment Der schiffbrchige Galeerensklave vom Todten Meer und Rimbauds berühmtes Gedicht Le bteau ivre. Brants Narrenschiff, das eine so nachhaltige Wirkung hatte wie vor Goethes Werther kein anderes Werk der deutschsprachigen Literatur, bietet im Rahmenbild einer Narrenschiffahrt ein Sinnbild menschlichen Lebens, eine Schiffsreise über das Meer der menschlichen Torheiten in das utopische Narrenland Narragonien. (Vgl. Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Mit Anmerkungen und Nachwort hg. von Hans-Joachim Mähl. Nachwort (mit detaillierten Angaben zur Wirkungsgeschichte): S. 461 – 521, hier: S. 461, 474 – 476.) Brentanos Romanfragment exponiert im Titel leitmotivisch den Schiffbruch im Lebensmeer. Auch in Goethes

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In Goethes nautischer Metaphorik dominiert offenkundig die Analogie zwischen Schiffsreise und Lebensfahrt. Demgegenüber treten die anderen Aspekte der Seefahrtsmetaphorik in den Hintergrund. Während sich für die poetologische Metaphorik keine konkreten Anhaltspunkte finden, liegt eine Assoziation an den Staatsschiff-Topos insofern nahe, als Goethes Wechsel an den Weimarer Hof mit der Übernahme einer einflußreichen Position im Staatsdienst verbunden war. Als weitere Facette aus dem Spektrum der Seefahrtsmetaphorik bringt das Gedicht den seit der Antike verbreiteten Vergleich des Hofes mit dem Meer zur Geltung; das Tertium comparationis besteht im besonderen Risiko von Hofleben und Seefahrt.19 Traditionell galt der Hof als gefährlich, als von Fortuna, von Intrigen und Imponderabilien bestimmt. Die Risiken der „vita aulica“ analogisierte man daher mit einem stürmischen Meer voller Tücken, auf dem man leicht Schiffbruch erleiden kann. Diesen auf die Antike zurückgehenden Aspekt der nautischen Metaphorik gestalteten die Humanisten weiter aus. An Lukian und Aeneas Sylvius Piccolomini anschließend, nimmt Ulrich von Hutten 1518 in seinem Dialog Aula den Hof-Meer-Vergleich auf. Von Servilität, Verstellung, Verschlagenheit und schmeichlerischer Unaufrichtigkeit, von Angst, Neid und Unnatürlichkeit ist im Hinblick auf das Hofleben ebenso die Rede wie von den ,Hofwinden‘ Gunst, Habgier, Neid, Ehrsucht und Werken fungiert die Metapher des Schiffbruchs immer wieder als zentrale Chiffre für die Gefährdung des Menschen – sowohl im Tasso und im Faust I als auch in Wilhelm Meisters Wanderjahren und in den Wahlverwandtschaften. – Im letzten Auftritt vergleicht sich Tasso mit der „sturmbewegte[n] Welle“ (V. 3435); die Metaphorik mündet in die Imagination eines Schiffbruchs, mit dem das Drama endet (V. 3448 – 3453): „Zerbrochen ist das Steuer und es kracht / Das Schiff an allen Seiten. […] / So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte“ (HA 5, S. 166 – 167). Ähnlich gestaltet Goethe eine Konstellation in Wilhelm Meisters Wanderjahren: Lucidor hängt an Lucinde „wie am Uferfelsen ein Schiffbrüchiger“ (HA 8, S. 107). Faust fühlt angesichts des Erdgeistzeichens Mut, sich „in die Welt zu wagen, / Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen, / […] / Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen“ (V. 464 – 467: HA 3, S. 23). In den Wahlverwandtschaften sinniert Charlotte über den „Schiffbruch“, der auch „auf dem festen Lande“ vorkommt (HA 6, S. 428). Goethe selbst bekundet in einem Brief an Zelter vom 3. Dezember 1812, es habe ihn zur Zeit der Entstehung des Werther Anstrengungen gekostet, „den Wellen des Todes zu entkommen“, so wie er sich „aus manchem spätern Schiffbruch auch mühsam rettete“ (HA-Br 3, S. 212 – 213). 19 Schon Lukian verglich die Situation griechischer Gelehrter im Dienste reicher Römer mit dem Schicksal Schiffbrüchiger. Vgl. Helmuth Kiesel: ,Bei Hof, bei Hçll‘. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979, S. 69.

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vom Zorn des Fürsten als der gefährlichsten aller Hofklippen.20 Die vielfältigen Analogien zwischen Hof und Meer resümiert einer der Dialogpartner mit der Feststellung, das Hofleben gleiche in jeder Hinsicht der Seefahrt: „omni a parte navigatio est vita aulica“.21 Von besonderer Bedeutung ist die nautische Metaphorik im Kontext stoischer Vorstellungen. Seneca verwendet oftmals Bilder aus der Sphäre der Seefahrt, um dem „Sturm“ der Affekte oder den rasch wechselnden und dadurch der Instabilität der Fortuna gleichenden Winden das von ratio und virtus bestimmte Verhalten des Steuermanns entgegenzustellen. Hier schließt Goethe mit der stoischen Konzeption seines Gedichts Seefahrt an. Während das lyrische Ich zunächst „Günst’ger Winde harrend“ (V. 2) im Hafen sitzt, wird es später auf dem Meer durch „gottgesandte Wechselwinde“ (V. 22) vom vorgesehenen Fahrtziel abgetrieben. In Verbindung mit dem Glücksbegriff der siebten Strophe (V. 38) zielen diese Vorstellungen auf das in der stoischen Philosophie zentrale FortunaMotiv.22 Die Seefahrtsmetaphorik bildet mit dem Fortuna-Motiv im Gedicht ein Motivgeflecht; zusammen mit dem stoischen virtus-Ideal und der ebenfalls stoischen Leitvorstellung der Ataraxie bestimmt sie maßgeblich die Konzeption von Goethes Seefahrt. Die Bedeutung der Stoiker für Goethe ist gut bezeugt. In Dichtung und Wahrheit nimmt er mehrfach auf sie Bezug. Die Tugenden, welche er „an den Stoikern hatte rühmen hören“, erschienen ihm „höchst nachahmenswert“ (HA 9: 37). Außerdem ist von den „Übungen des Stoizismus“ die Rede, den er „so ernstlich als es einem Knaben möglich ist“, bei sich „ausbildete“ (HA 9: 66). Und schließlich berichtet er von seiner „schon früher“ aufgetretenen „Neigung“ zu „den Stoikern“ sowie von intensiver Epiktet-Lektüre (HA 9: 222). Bereits in den Ephemerides von 1770 notierte Goethe seine Beschäftigung mit dem Philosophen Seneca23, der neben Cicero als maßgeblicher Vertreter des Stoizismus vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zu den meistgelesenen Autoren zählte. Goethe erwähnt 20 Kiesel (ebd.), S. 70 – 71. Zahlreiche hofkritische Traktate beschäftigten sich mit der Frage, ob die Bewahrung der eigenen Identität am Hof möglich sei (S. 69). Bei Gracián avancierte der Hof-Meer-Vergleich „zum Deutungsinstrument der höfisch geprägten Welt seiner Epoche schlechthin“ (S. 268). 21 Ulrich von Hutten, zitiert nach Kiesel (ebd.), S. 70. 22 In Goethes Gedicht Harzreise im Winter ist von einem Wagen die Rede, „Den Fortuna führt“ (HA 1, S. 50 – 52, hier S. 51, V. 25). Ein Abschnitt der Urworte. Orphisch gilt der Tyche/Fortuna. 23 Ernst Grumach: Goethe und die Antike. Eine Sammlung. Berlin 1949. 2 Bde. Bd. 2: S. 802. Goethe empfahl ausdrücklich die Seneca-Lektüre (S. 808).

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auch Zenon, den Begründer der Stoa.24 Für das Gedicht Seefahrt, in dem sich die nautische Metaphorik mit dem Fortuna-Motiv und dem VirtusIdeal verbindet, stellt der Stoizismus die strukturbildenden Grundmuster bereit. Im 88. Brief seiner Epistulae morales spricht Seneca von Stürmen der Seele („tempestates […] animi“) 25 und spannt damit den Horizont der „navigatio vitae“ auf. Wenn laut Seneca die Lebensstürme dem Weisen nicht schaden (Epist. 85,37) und die Philosophie ein fest gegründetes Glück ermöglicht, das kein Sturm erschüttern kann (Epist. 115,18), dann deutet sich hier indirekt bereits das stoische Konzept der Ataraxie, der Unerschütterlichkeit der Seele an. Daß Seneca das Leben mit einer Seefahrt analogisiert, zeigt nicht nur die tempestas-Metapher. Der 85. Brief der Epistulae morales enthält auch einen ausführlichen Vergleich zwischen dem Steuermann und dem Weisen, zwischen „gubernator“ und „sapiens“. Goethe gibt dem Protagonisten seiner Seefahrt explizit das Epitheton ,weise‘ bei (V. 32).26 Als einzigen Hafen in dem von Fluten und Stürmen bewegten Leben betrachtet Seneca jenes stoische Ethos, kraft dessen man alles Kommende geringachtet und den Geschossen des Schicksals („tela fortunae“) nicht ausweicht (Epist. 104,22). Und im 108. Brief vergleicht er eine Seefahrt bei Sturm mit dem menschlichen Leben und rät: „Tenendum rapiente fluctu gubernaculum, luctandum cum ipso mari, eripienda sunt vento vela“ (Epist. 108,37: „Halten muß man in der reißenden Flut das Steuer, ringen muß man mit der Flut, entreißen muß man dem Wind die Segel“). Aufschlußreich ist diese Stelle vor allem deshalb, weil Goethes Seefahrer genau dieser Empfehlung folgt. Daß die stoische virtus ein

24 Vgl. Grumach (ebd.), S. 802. 25 Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lat. u. dt. 5 Bde, hg., übersetzt und eingeleitet von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1980 – 1989. Bd. 1 – 2: Dialoge. Bd. 3 – 4: Ad Lucilium epistulae morales (künftig abgekürzt als: Epist.). Bd. 5: De clementia, De beneficiis. – Epist. 88, 7. 26 In der ältesten erhaltenen Gedichtsammlung von Goethes Hand steht in V. 32 „weis’“. Vgl.: Aus Goethes Archiv. Die erste Weimarer Gedichtsammlung in FacsimileWiedergabe, hg. von Bernhard Suphan und Julius Wahle. Schriften der GoetheGesellschaft, Bd. 23. Weimar 1908. In den von Goethe 1788 publizierten Vermischten Gedichten findet sich in der Zweyten Sammlung eine Fassung der Seefahrt, die mehrere Varianten aufweist. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Vermischte Gedichte. Faksimiles und Erstdrucke, hg. von Karl-Heinz Hahn. Frankfurt a.M. 1984. Zu textkritischen Detailfragen (u. a. auch zur Variante „klug“ in V. 32) vgl. die Erstveröffentlichung dieses Aufsatzes [Anm. 1], S. 39, Anm. 38.

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Verhalten voraussetzt, das der Devise ,fortunae resistere‘27 entspricht, zeigt auch die Kernaussage in der achten Strophe (V. 41 – 46), die den rhetorischen Höhepunkt des Gedichts darstellt: Doch er stehet männlich an dem Steuer. Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen, Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen. Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe Und vertrauet, scheiternd oder landend, Seinen Göttern.

Der souverän agierende Seefahrer, der das Steuer hält und die widrigen Umstände energisch zu bewältigen versucht, ist analog zum stoischen virtus-Konzept gestaltet. Schon das Adverb „männlich“ (V. 41) weist darauf hin. ,Vir-tus‘ im etymologischen Sinn ,männlicher‘ Tatkraft, die der Fortuna standzuhalten vermag, läßt auch an Goethes PrometheusHymne denken: „Hat nicht mich zum Manne geschmiedet / Die allmächtige Zeit / Und das ewige Schicksal“ (V. 43 – 45)? 28 Bereits in der Anfangspartie seiner Schrift De constantia sapientis exponiert Seneca den männlichen Weg, den die Stoiker einschlagen: „Stoici, virilem ingressi viam“ – dieser Weg soll den Menschen befreien und zu jenem Gipfel führen, der sich über das Reich der Fortuna erhebt („ut supra fortunam emineat“).29 Auch Horaz, dessen Werk Goethe sehr gut kannte, pflichtet der stoischen Auffassung bei, durch virtus sowie durch consilium und ratio könnten die Menschen dem durch Fortuna verursachten Mißgeschick trotzen.30 Der Einfluß der Maxime ,fortunae resistere‘ auf Goethes Seefahrt läßt sich demnach doppelt absichern: sowohl durch Seneca als auch durch Horaz. Und Goethes „gubernator“ verhält sich im Sturm offenkundig Senecas Auffassung gemäß: „Valentior enim

27 Vgl. hierzu Gerda Busch: Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca, in: Seneca als Philosoph, hg. von Gregor Maurach. 2. Aufl. Darmstadt 1987 (Wege der Forschung, Bd. 414), S. 53 – 94. 28 Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Die Proklamation schçpferischer Autonomie. Poetologische Aspekte in Goethes „Prometheus“-Hymne vor dem Horizont der mythologischen Tradition, in: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grnbein. Gedichte und Interpretationen, hg. von Olaf Hildebrand. Köln/Weimar/Wien 2003 (UTB 2383), S. 28 – 49. 29 Seneca: De constantia sapientis 1,1. 30 Vgl. Reallexikon fr Antike und Christentum. Sachwçrterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt [= RAC]. Bd. 8, Artikel Fortuna: Sp. 182 – 197, hier: Sp. 190.

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omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas ducit“.31 Kraft seiner virtus muß der Steuermann sein Schiff durch den Sturm lenken und gegen das Schicksal („contra fortunam“) den Kurs halten.32 Dabei setzt der virtus-Nachweis die Bewährung (probatio) angesichts der instabilen fortuna voraus: „gubernatorem in tempestate, in acie militem intellegas“.33 Auch die Qualitäten von Goethes Seefahrer werden erst in seiner konkreten Auseinandersetzung mit Wechselwinden und Sturm evident: in der List eines nur scheinbaren Sich-Fügens (V. 24 – 26) 34 ebenso wie im Einholen der Segel (V. 32) 35 und in dem ausgeprägten Selbstvertrauen, mit dem er in der achten Strophe „männlich an dem Steuer“ steht (V. 41). Die durch eine expressive Verbindung von Anadiplosis und Chiasmus in der achten Strophe hervorgehobene Aussage, daß „Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen“ spielen (V. 43), korrespondiert mit dem stoischen Ideal der Ataraxie, der Unerschütterlichkeit – also jener Seelenruhe, die Seneca sogar im Titel seiner Schrift De tranquillitate animi exponiert. Zu 31 Vgl. Seneca: Epist. 98,2: „Stärker nämlich als alles Glück ist der Geist des Menschen, und in beide Richtungen führt er selbst seine Dinge“. Auch Senecas Dialoge bieten eine Fülle von Belegen für die Überlegenheit der virtus oder des animus über die fortuna: vgl. z. B. De providentia 4,2 und De constantia sapientis 5,4; 8,3. 32 Vgl. Seneca: De providentia 5,9 – 10. Zur Steuermann-Metapher vgl. auch Seneca: Ad Marciam de consolatione 6,3: „Turpis est navigii rector cui gubernacula fluctus eripuit […], permisit tempestati ratem; at ille vel in naufragio laudandus, quem obruit mare clavum tenentem et obnixum“ („Schändlich ist der Steuermann, dem das Steuerruder die Woge entrissen hat […], der das Schiff dem Sturm preisgegeben hat; dagegen ist derjenige sogar bei Schiffbruch zu loben, den das Meer verschlungen hat, während er das Steuerruder festhielt“). 33 Seneca: De providentia 4,5: „Den Steuermann erkennst du im Sturm, in der Schlacht den Soldaten.“ Analog: Ad Marciam de consolatione 5,5. Vgl. auch Epist. 85,34. Für unglücklich hält Seneca diejenigen, denen – bei windstillem Meer – die Möglichkeit fehlt, ihre virtus zu bewähren. Hingegen gilt: „calamitas virtutis occasio est“ ( „Unglück ist Gelegenheit zu männlichem Verhalten“: vgl. De providentia 4,6). 34 Sogar zur Finte von Goethes Seefahrer, der sich den Wechselwinden „hinzugeben“ scheint, dabei aber versucht, „sie zu überlisten“ (V. 24 – 25), findet sich bei Seneca ein Analogon: In Epist. 14,7 – 8 sagt er über den Weisen, er meide eine Macht, die schaden kann, z. B. einen Sturm; dabei sorge er zuerst dafür, daß er nicht den Eindruck erweckt, sie zu meiden: „nocituram potentiam vitat, hoc primum cavens, ne vitare videatur“. 35 Auch Goethes Aussage: vor dem Wüten des Sturmes „Streckt der Schiffer weis’ die Segel nieder“ (V. 32) korrespondiert mit Formulierungen Senecas. Vgl. De ira II, 31,5 und Epist. 77,2.

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den „gottgesandte[n] Wechselwinde[n]“ (V. 22), mit denen sich Goethes Seefahrer herumzuschlagen hat, findet sich ein Analogon im 107. Brief der Epistulae morales, in dem Seneca die Unbeständigkeit der Fortuna, auf die sich der Mensch einzustellen habe, durch den Wechsel der Winde exemplifiziert: „flant in vicem venti […]“ (Epist. 107, 8). Und die von Seneca mitgeteilte Erfahrung, daß ein zunächst ruhiges Wetter plötzlich in Sturm umschlagen kann36, muß auch Goethes Seefahrer machen. Bei Seneca wie bei Goethe ist der Witterungsumschwung Metapher für die Wechselhaftigkeit der Fortuna und die Instabilität der menschlichen Lebenssituationen (Epist. 99,9; 91,4 – 7). Durch die Unbeständigkeit des Schicksals, seine Ungerechtigkeit und Willkür (Epist. 9,12; 18,6; 78,29) soll man sich nicht irritieren lassen, sondern Glück und Unglück verachten („contemnere utramque fortunam“).37 Senecas Formulierung zeigt zugleich die Ambivalenz des lateinischen Begriffs ,fortuna‘, der für Glück oder Unglück stehen kann. Im 66. Brief definiert Seneca virtus als das „primum bonum“, kraft dessen der Mensch sich dem Schicksal nicht unterwirft („neutri se fortunae summittens“), sondern leidenschaftslos und unerschrocken („inperturbatus intrepidus“) zu sein vermag (Epist. 66,6). Virtus zeichnet sowohl den Tapferen (vir fortis) als auch den Weisen (vir sapiens) aus, sie hat also eine aktive und eine philosophische Komponente; beide verbinden sich im Konzept des vir bonus38, der Unausweichliches mit Gleichmut (aequo animo) hinnimmt und seine virtus im Widerstand gegen die unbeständige Fortuna bewährt.39 Auch Goethes Seefahrer vereint Tapferkeit und Weisheit (V. 32) in sich. Wahre Seelenstärke (firmitas animi) beweist derjenige, der sich über das Schicksal erhebt (Epist. 63,1; 44,5). Solche constantia und tranquillitas kommt nach Seneca vor allem dann zur Geltung, wenn nur ein einzelner souverän über sie verfügt, während alle

36 Vgl. Seneca: Epist. 91,5. Vgl. auch Epist. 4,7, wo Seneca die Unbeständigkeit des Schicksals (fortuna) mit der Wechselhaftigkeit des Wetters auf dem Meer vergleicht. Vgl. außerdem Epist. 53,1 – 2. Zu Goethes Versen „Aber aus der dumpfen grauen Ferne / Kündet leise wandelnd sich der Sturm an“ (V. 27 – 28) vgl. Seneca: Epist. 103,2. 37 Seneca: Epist. 71,37. Vgl. auch Epist. 93,4 sowie 76,21, wo Seneca gerade in der Geringschätzung (contemptu) der fortuna die virtus erblickt. 38 Vgl. dazu Busch (Anm. 27), S. 85 – 86. 39 Vgl. Seneca: Epist. 99,22; 85,37 – 40; 71,8; 78,16; 99,32 („contra fortunam tolleres animos et omnia eius tela“); 104,29.

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anderen auf widrige Umstände verängstigt reagieren40 – wie in Goethes Seefahrt die Freunde am Ufer (V. 35 – 40). Die Analogien zwischen dem von Seneca postulierten stoischen Ethos und der Haltung des Seefahrers in Goethes Gedicht reichen noch weiter. Einen zentralen Stellenwert erhält hier die Duplizität des Begriffs der ,Götter‘: Während sich die verzagten Freunde am Ufer hilfesuchend an transzendente Götter wenden (V. 40) und sich dadurch als heteronom erweisen, vertraut der souverän agierende Steuermann ,seinen Göttern‘ (V. 46), also gerade nicht einer jenseitigen Instanz, sondern seiner eigenen Stärke, seinem Wesenskern und Lebenszentrum oder – seinem Genius.41 Markant bringt Goethe in seinem Gedicht den Gegensatz42 von Heteronomie und Autonomie, den Kontrast von Transzendenz und Immanenz zum Ausdruck. Auch diese Konstellation entspricht dem stoischen Subtext. Die Vernunft, die Voraussetzung der virtus, hält Seneca für göttlich („ratio divina est“: Epist. 66,12). Die virtus ist frei, unverletzlich, unveränderlich und unerschütterlich („libera est, inviolabilis, immota, inconcussa“); sie ist von Zufällen unabhängig und kann vom Schicksal weder verliehen noch entrissen werden.43 Die dadurch ermöglichte Au40 Vgl. Seneca: Epist. 71,25: „illud mirare, ibi extolli aliquem, ubi omnes deprimuntur, ibi stare, ubi omnes iacent“ („jenes bewundere, daß dort sich jemand erhebt, wo alle niedergedrückt werden, dort standfest ist, wo alle darniederliegen“). Vgl. auch Senecas Aussage in Epist. 41,4, ein mitten in Stürmen gelassener Mensch („in mediis tempestatibus placidum“) erwecke Ehrfurcht. 41 Goethe adaptierte das griechische Daimon-Konzept im Sinne einer „angeborne[n] Kraft und Eigenheit“ (HA 1: 403 – 404), die als persönliche Individualität das menschliche Schicksal bestimmt und gegenüber der Tyche als dem Akzidentellen vorrangig ist. Hierzu und zu Goethes stilisiertem Schicksalsglauben vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945. Darmstadt 1985. 2 Bde. Bd. 1: S. 287 – 290. 42 Wolfgang Pehnt verkennt den für das Gedicht konstitutiven Antagonismus zwischen Autonomie und Heteronomie: Er identifiziert die von den Freunden am Ufer hilfesuchend angerufenen Götter mit den Göttern des Schlußverses, in dem davon die Rede ist, daß der Seefahrer ,seinen Göttern‘ vertraut. Vgl. Wolfgang Pehnt: Zeiterlebnis und Zeitdeutung in Goethes Lyrik. Tübingen 1957, S. 103. Drux (Anm. 3) betont demgegenüber zu Recht den Kontrast (S. 159). Häfner hingegen interpretiert die Götter des Schlußverses in einer vor allem auf historische Kontextualisierung zielenden Studie „als Zeus und Tyche“ (Ralph Häfner: Konkrete Figuration. Goethes „Seefahrt“ und die anthropologische Grundierung der Meeresdichtung im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 111), S. 123, analog: S. 145). Nur auf wenigen Seiten nimmt Häfner punktuell auf Goethes Gedicht Seefahrt Bezug (vgl. ebd. S. 59, 85, 96, 119 f., 123, 135 f., 145, 154). 43 Seneca: De constantia sapientis 5,4. Analog: Epist. 59,18.

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tonomie, Souveränität und Ataraxie veranlaßt Seneca zu der Aussage, was den Weisen schütze, sei vor jedem Ansturm sicher, uneinnehmbar, den Göttern gleich („inexpugnabilia, diis aequa“).44 Dieses Konzept menschlicher Autonomie verdichtet sich im Vertrauen des Stoikers auf den ,deus internus‘ oder ,deus in nobis‘. Seneca betont, es sei töricht, sich virtus zu wünschen, weil man sie durch sich selbst erlangen könne. Man brauche die Hände nicht zum Himmel zu erheben, denn: „Nah ist dir der Gott, mit dir ist er, in dir ist er“ („prope est a te deus, tecum est, intus est“).45 An die Stelle einer heteronomen Fixierung auf jenseitige Götter tritt hier also eine Berufung auf die Immanenz des eigenen Wesenskerns. Die Selbstermächtigung von Goethes Seefahrer, der souverän „seinen Göttern“ vertraut, entspricht dem stoischen Konzept. Wie geläufig Goethe diese stoische Vorstellung war, erhellt auch aus der zweiten Studierzimmerszene des Faust I; dort ist die Rede vom „Gott, der mir im Busen wohnt“ (V. 1566). Das Konzept der Autonomie sowie das damit verbundene Ideal der Autarkie und Ataraxie hat nicht nur in der griechischen Stoa, sondern auch in der römischen Ethik und im Neustoizismus46 vielfältigen Ausdruck gefunden.47 44 Seneca: De constantia sapientis 6,8. 45 Seneca: Epist. 41,1. Vgl. dazu auch Marcus Tullius Cicero: Gesprche in Tusculum. Lat.–dt. hg. von Olof Gigon. 3. Aufl. München 1976, I, 74: „[…] dominans ille in nobis deus“. 46 Die schon in Senecas Schrift De constantia sapientis zentrale stoische Thematik der Beständigkeit (constantia) exponierte auch der Niederländer Justus Lipsius in seiner Schrift De constantia libri duo […], die 1584 erstmals erschien, seit 1599 unter dem Titel Von der Bestendigkeit auch in deutscher Übersetzung vorlag und zum Hauptwerk des sich auf Seneca berufenden Neustoizismus wurde. 47 Die Selbstgenügsamkeit (aqt²qjeia) des tugendhaften Weisen, die Eigenständigkeit des Individuums und die Persönlichkeit als maßgebliches Prinzip spielen in der stoischen Ethik eine zentrale Rolle. Die Vernunft (moOr) soll affektbedingte Leidenszustände (p²hg) abwehren; das Ziel besteht in der Affektlosigkeit ( !p²heia) sowie in einem natur- und vernunftgemäßen Leben. Dem Stoizismus liegt ein pantheistischer Ansatz zugrunde, in dem das Weltganze als einheitlicher Lebenszusammenhang, als Gestaltung einer göttlichen Urkraft aufgefaßt wird. Innerhalb der teleologisch-rationalen Weltordnung, die ein durchgängig kausal bestimmtes Gefüge darstellt, ist das mit dem göttlichen Logos koinzidierende Geschick (eRlaql´mg, fatum) als Notwendigkeit ( !m²cjg) wirksam. Der Hyle als passivem Prinzip tritt der Logos spermatikos (kºcor speqlatijºr) als gestaltender Feuergeist gegenüber; er wird mit dem warmen Lebenshauch, dem Pneuma (pmeOla), identifiziert und durchwaltet das Universum als tätiges Prinzip. Aufgrund der Analogie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos gilt auch die am göttlichen Pneuma partizipierende Einzelseele als Feuerhauch, als Pneuma. Die Annahme der Stoiker, das Pneuma des Universums sei in der Weltmitte oder in der Sonne

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Den Gegenpol zum ,deus internus‘, der innere Sicherheit verleiht, bildet die unbeständige Fortuna, auf die Goethes Gedicht mit der Hervorhebung der „Wechselwinde“ (V. 22) und mit den Klagen der Freunde anspielt (V. 38 – 39): „Ach, der Sturm! Verschlagen weg vom Glücke / Soll der Gute so zu Grunde gehen?“ Der römischen Göttin Fortuna wird traditionell ein weiter Wirkungsbereich zugeordnet. Sie fungiert als Schicksalsmacht und Göttin des Glücks, als Göttin für alle Gelegenheiten, als Schutzgöttin sowie als persönlicher oder allgemeiner Genius.48 In bildlichen Darstellungen erscheint sie oft als Frau mit einem den materiellen Wohlstand repräsentierenden Füllhorn (cornupia) in der linken und einem Steuerruder in der rechten Hand – als Attribut der Herrscherin über die Meere und über die Welt schlechthin. Häufig ist das Ruder an eine Kugel gelehnt, die entweder Fortunas Macht über den Erdball oder ihre Wankelmütigkeit und Unbeständigkeit symbolisiert, letzteres insbesondere dann, wenn Fortuna auf einer Kugel steht.49 Als Attribut der Fortuna weist das Ruder auf die in Goethes Gedicht zentrale Verbindung des Fortuna-Motivs mit der Seefahrt. Bezeichnenderweise wird das lateinische Wort ,fortuna‘ bildhaft-konkret auch für den plötzlich aufkommenden, gefährlichen Sturmwind verwendet. Zu allen Zeiten galt die Göttin Fortuna als die Herrin des Meeres und der Stürme sowie als Glücksgöttin der seefahrenden Kaufleute.50 situiert, ist auch im Hinblick auf Goethes Gedicht interessant, denn Goethe spricht vom „Segenshauch“ (V.14) und vom „Hauche“ (V. 15) und legt bereits dadurch Assoziationen an die stoische Pneuma-Lehre nahe, darüber hinaus läßt er „die Sonne“ sogar „mit Feuerliebe“ locken (V. 16). Hier scheint sich – über Goethes Rezeption der stoischen Ethik hinaus – auch eine Affinität zur stoischen Physik anzudeuten. Zum skizzierten stoischen Horizont vgl. Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, hg. von Heinz Heimsoeth. 17. Aufl. Tübingen 1980, S. 140 – 168. Außerdem Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. 2. erweiterte Aufl. Darmstadt 1995. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 2 Bde. Göttingen 1943/7, 4. Aufl. 1970. 48 RAC (Anm. 30), Sp. 182 – 183. Mehr als 80 verschiedene Titel wurden der Göttin Fortuna zugeschrieben. 49 Vgl. RAC (Anm. 30), Sp. 183, 187, sowie Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Gçttin des Glcks im Wandel der Zeiten. München/Berlin 1997, S. 179. Außer Füllhorn, Kugel, Schiffsbug und Ruder zählen später auch Segel und Mast zu den Attributen der Fortuna. Nach Meyer-Landrut gehörten das Segeltuch und die Kugel seit dem Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert zu den typischen Attributen der Fortuna Maris oder Fortuna Marina (S. 146, 151). Auf der Punta della Dogana in Venedig steht Fortuna auf einer großen goldenen Kugel und hält mit beiden Händen ein Segel in die Luft. 50 Vgl. Meyer-Landrut (Anm. 49), S. 24, 39, 144, 223.

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Auch in Goethes Seefahrt ist gleich zu Beginn vom offenbar mit Waren befrachteten Schiff des lyrischen Ich die Rede (V. 1); seine Freunde wünschen ihm „Güterfülle“ (V. 7). Sofern Fortuna als eine unbeständige, unberechenbare51 und unbeeinflußbare, ja mitunter sogar als böswillige Macht aufgefaßt wird, als Ursache für das zufallsbedingte Auf und Ab im Leben des Menschen, verschmilzt die ursprünglich positiv konnotierte römische Wunsch- und Glücksgöttin mit der griechischen Schicksalsgöttin Tyche.52 Fortuna-Tyche galt als Personifikation des unkalkulierbaren blinden Zufalls.53 Die damit verbundene Vorstellung, die Menschen seien lediglich ein Spielzeug der Fortuna (Epist. 74,7), ist ebenfalls im Gedicht Seefahrt präsent. Goethe verwendet das Verb ,spielen‘ sogar zweimal, zuerst in der sechsten Strophe: „Mit dem angsterfüllten Balle spielen / Wind und Wellen“ (V. 33 – 34), dann – durch Anadiplosis und Chiasmus hervorgehoben – auch in der achten Strophe (V. 42 – 43): „Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen, / Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen.“ Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Stoa mit ihrem Ethos der Autonomie, Ataraxie und Autarkie dem jungen Goethe Denkkategorien anbot, die seinen eigenen Intentionen entsprachen. Während die Autonomie-Konzeption der früheren Sturm-und-Drang-Hymnen noch 51 Als unkalkulierbares, instabiles Geschick wurde fortuna vom unabänderlichen, durch den Götterwillen und die Konstellation der Sterne vorherbestimmten fatum unterschieden. Dennoch waren die Begriffe ,fatum‘ und ,fortuna‘ in der römischen Kaiserzeit eng miteinander verflochten. Vgl. Meyer-Landrut (Anm. 49), S. 18 – 19. 52 Vgl. RAC (Anm. 30), Sp. 184 – 186, und Meyer-Landrut (Anm. 49), S. 12 – 26. Die Beziehung der Tyche zum Meer ist bereits durch die Genealogie vorgegeben: Als Tochter der Meeresgöttin Themis und Schwester der Ozeaniden gebietet Tyche über günstige und widrige Winde und lenkt Schiffe über die stürmische See (Meyer-Landrut S. 15). 53 Vgl. RAC (Anm. 30), Sp. 186 – 187. Häufig wurden der Fortuna Epitheta wie dubia, incerta, varia, volubilis und instabilis zugeordnet (Sp. 188). Zur Fortuna-Tyche vgl. auch Meyer-Landrut (Anm. 49), S. 12 – 26. Die Konstante der facettenreichen Fortuna-Gestalt ist geradezu in der Variabilität ihres Erscheinungsbildes und ihres Verhaltens zu sehen. Die allegorische Fortuna als ambivalente Schicksalsmacht, die durch einen Synkretismus aus antiken und christlichen Vorstellungen geprägt war, fand im Laufe der Jahrhunderte in Bild- und Textüberlieferung vielfältigen Ausdruck. Später allerdings reduzierte sich die Macht der Göttin Fortuna in dem Maße, in dem der Mensch größeres Selbstvertrauen gewann und sein Schicksal autonom, mit Klugheit und aus eigener Kraft glaubte gestalten zu können. Nur ihr Name überlebte – als Leerformel für diffuse Glücksvorstellungen (vgl. MeyerLandrut S. 179, 182).

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wesentlich durch einen emphatisch aufgeladenen genialischen Schöpfergestus bestimmt ist, rückt die Seefahrt sie – der neuen biographischen Situation gemäß – in den stoischen Horizont souveräner Lebensbewältigung. Den affektbesetzten Sturm-und-Drang-Habitus vermittelt das Gedicht mit einem vernunftorientierten Ethos – durch die spannungsreiche Synthese von stoischer virtus und stilistischer Virtuosität.

„Seelenstärke“ und „Gemütsfreiheit“. Stoisches Ethos in Schillers ästhetischen Schriften und in seinem Drama Maria Stuart von Barbara Neymeyr I. Der Dramatiker Schiller steht in einem weiten kulturhistorischen Horizont. Zwar bevorzugte er in seinen fiktionalen Werken Sujets aus der neueren Geschichte, aber für die Formierung seines intellektuellen Profils waren auch vielfältige Einflüsse aus der antiken Tradition von zentraler Bedeutung. So greift er in seinen ästhetischen Schriften auf Konzepte der antiken Rhetorik und Poetik zurück und reflektiert auch Positionen der philosophischen Anthropologie und Ethik, die ihm durch die Schriften antiker Autoren oder durch moderne Vermittlungsinstanzen bekannt geworden waren. In seinem Essay ber die tragische Kunst schließt Schiller konkret an Aristoteles an, indem er die Tragödie als „dichterische Nachahmung einer zusammenhängenden Reihe von Begebenheiten“ definiert, „welche uns Menschen in einem Zustand des Leidens zeigt, und zur Absicht hat, unser Mitleid zu erregen“.1 Hier verbindet der Dramatiker seinen wirkungsästhetischen Ansatz mit einer ethischen Intention. Daß Schillers gedanklicher Horizont darüber hinaus auch durch die stoische Philosophie geprägt ist, wurde zwar schon gelegentlich fest-

1

Schillers Werke werden nach der Frankfurter Ausgabe (FA) jeweils mit Bandziffer und Seitenzahl zitiert: Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwçlf Bnden, hg. von Otto Dann u. a. Frankfurt a.M. 1988 – 2004. Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz. S. 269. – Für den vorliegenden Aufsatz sind insbesondere die folgenden Schriften Schillers relevant: ber die tragische Kunst (8, 251 – 275), ber das Pathetische (8, 423 – 451) und ber das Erhabene (8, 822 – 840). Ergänzende Perspektiven bietet Schillers Schrift Vom Erhabenen (8, 395 – 422). Schillers Affinität zu Aristoteles wird evident, wenn man seine Thesen mit den Abschnitten 6 und 9 der Aristotelischen Poetik vergleicht.

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gestellt, aber bislang noch nicht genauer untersucht.2 Bereits Nietzsche ordnet Schiller der philosophischen Tradition des Stoizismus zu: In seiner Schrift Menschliches, Allzumenschliches sieht er den „Moralismus Kant’s“ und „Schiller’s“ durch die „Wiederauferstehung des stoischgrossen Römerthums“ bedingt.3 Daß Schiller der stoischen Ethik be2

3

Keinerlei Information über den Einfluß des Stoizismus auf Schiller bieten die Kommentare der Frankfurter Ausgabe zu Schillers Drama Maria Stuart (FA 5: S. 536 – 597) und zu seiner Ästhetik des Pathetischen und Erhabenen (FA 8). Lediglich eine kurze Erläuterung zur Person Epiktet (FA 8: 1373) und ein inkorrekter Seneca-Beleg mit falscher Titelangabe (FA 8: S. 1366 – vgl. dazu Anm. 23 im vorliegenden Aufsatz) sind hier zu finden. – Schon vor Jahrzehnten hat Max Kommerell lapidar festgestellt, Schiller sei „der Geist Senecas […] urverwandt“ (Max Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe – Schiller – Kleist – Hçlderlin, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1941, S. 188). Peter-André Alt konstatiert in seiner Schiller-Biographie: „Stoisch geprägt ist Schillers prinzipielle Bestimmung, daß Tugend einzig an Widerständen Kontur gewinnen könne“ (Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit, München 2000. Bd. 1: S. 106). In einer neueren Dissertation hingegen wird Schillers Theorie des Erhabenen erstaunlicherweise mit dem stoischen Ethos kontrastiert. Vgl. Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, Berlin 2004 (Philologische Studien und Quellen Heft 186), S. 304: „Mag auch der stoische Held unerschütterlich sein, wer ganz Mensch ist, wessen Sinnlichkeit nicht abgestorben ist, der ist stets der Gefahr ausgesetzt, in Situationen äußerster psychischer Gewalt seine Fassung zu verlieren.“ Vgl. ebd. auch S. 302, 303. Paul Barone entgeht die stoische Grundierung von Schillers Trauerspiel Maria Stuart, weil er das stoische Konzept der Ataraxia und Apatheia im Sinne eines spannungsfreien Quietismus mißversteht. Seneca selbst grenzt sich aber ausdrücklich von einer derartigen Auffassung ab. Vgl. Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch, 5 Bde, hg., übersetzt und eingeleitet von Manfred Rosenbach, Darmstadt 1980 – 1989. Bd. 1 – 2: Dialoge. Bd. 3 – 4: Ad Lucilium epistulae morales [künftig abgekürzt als Epist.]. Bd. 5: De clementia, De beneficiis. Die Schriften Senecas werden im vorliegenden Aufsatz – wie üblich – mit den jeweiligen Absatzziffern zitiert. – In Epist. 67,14 betont Seneca, unerschütterte Muße sei keineswegs mit stoischer Apatheia gleichzusetzen, sondern mit einer Flaute: „in otio inconcusso iacere non est tranquillitas: malacia est.“ Im Kontext dieses Zitats weist er darauf hin, daß die tranquillitas animi immer wieder in der Auseinandersetzung mit widrigen Konstellationen errungen werden muß. Friedrich Nietzsche: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden [=KSA], hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/ New York 1980. Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 651. – Nietzsche betont, auch Kant selbst habe auf die Wurzeln seiner Ethik in Konzepten Rousseaus und im „wiedererweckten stoischen Rom“ wiederholt hingewiesen (S. 651). Dieser Einfluß läßt sich auch in den ästhetischen Schriften des Kantianers Schiller nachweisen.

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sondere Aufmerksamkeit zuwandte, hängt mit seiner im Denken der Aufklärung verwurzelten Grundintention zusammen: Zentrale Bedeutung hat für ihn das Ethos der Autonomie, das der Mensch durch Vernunft und Willenskraft verwirklichen soll. Schon auf der Hohen Karlsschule war Schiller mit den im neuzeitlichen Unterrichtswesen längst kanonischen Autoren Cicero und Seneca bekannt geworden: Cicero hatte die stoische Moralphilosophie vor allem in seinen Tusculanae disputationes und in De officiis propagiert, Seneca in den Epistulae morales und in philosophischen Dialogen. Seit dem Humanismus waren diese beiden Autoren fester Bestandteil des literarischen Kanons. Darüber hinaus hatten sie auch einen besonderen Stellenwert in dem moralphilosophischen Diskurs gewonnen, der im Neustoizismus des 16. und 17. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt erreichte. Trotz einiger, vor allem vom Epikureismus ausgehender Gegenströmungen, etwa bei Wieland, setzte er sich noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fort: in der „Botschaft der Tugend“4, in der von Lipsius inspirierten preußisch-stoischen Pflichtenlehre, die in Kants Preis der Pflicht in der Kritik der praktischen Vernunft Ausdruck fand5, und in dem Kult, der sich während der Französischen Revolution auf römisch-stoische Vorbilder konzentrierte. Die anhaltende Wirksamkeit des Stoizismus ist auch dadurch bedingt, daß er in den Bereichen der Philosophie, Literatur und Politik ein so weites kulturelles Spektrum erfaßte. Friedrich der Große, der sich auf Ciceros Schrift De officiis und auf Konzepte des Stoikers Marc Aurel berief, bezeichnete sich selbst als „philosophe stoïcien“ und schrieb eine Ode Le stocien.6 Robespierre erhob die stoische „virtus“ („vertu“) im Rahmen seiner revolutionären Propaganda zu einem Zentralbegriff und plante sogar einen Revolutions-Feiertag ,Au Stoïcisme‘. Die stoisch formierte Catound Brutus-Apotheose reichte von Gottscheds Cato-Drama bis in die Zeit der Revolution.7 4 5

6 7

So der Titel eines Buches von Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklrung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants Werke. AkademieTextausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Berlin 1968, Bd. V, S. 86. Zu Friedrich dem Großen vgl. Eduard Zeller: Friedrich der Große als Philosoph. Berlin 1886. Vgl. Michel Spanneut: La permanence du stocisme. Gembloux 1973, bes. S. 341.

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Im moralphilosophischen Diskurs war die stoische Lehre nicht nur durch Ciceros und Senecas Schriften, sondern auch durch Epiktets Diatriben, durch das Kompendium des Diogenes Laertius und durch Marc Aurels Selbstbetrachtungen präsent, die im 18. Jahrhundert europaweit Konjunktur hatten. Gefördert wurde die Verbreitung des Stoizismus außerdem durch große philosophiegeschichtliche Darstellungen, etwa durch Johann Jakob Bruckers Standardwerk Historia critica philosophiae, das eine beinahe hundertseitige Abhandlung zur Stoa bot, und durch Dieterich Tiedemanns System der stoischen Philosophie in drei Bnden.8 Auch in der Kantischen Philosophie, die für Schiller zentrale Bedeutung hatte, finden sich Stellungnahmen zu den Stoikern. Zu nennen sind vor allem die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft, die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und Die Metaphysik der Sitten.9 In den Jahren zwischen 1790 und 1800 kam es zu einer Konjunktur von Abhandlungen über die stoische Philosophie, die Kants teils affirmative, teils kritische Reflexionen über die Programmatik der Stoiker vergleichend miteinbezogen.10 Über die vielfältigen Vermitt8 Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae. 5 Bde, Leipzig 1742 – 1744 u. ö., Bd. 1: a mundi incunabulis ad nostram usque aetatem deducata. Leipzig 1742, S. 893 – 981: ,De secta stoica‘. Dieterich Tiedemann: System der stoischen Philosophie in drei Bnden. Leipzig 1776. 9 Positiv bewertet Kant das stoische Ideal des Weisen; vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787) B 597, in: Akademie-Textausgabe (Anm. 5), Bd. III: S. 384. Auch andere Aspekte der stoischen Lehre finden Kants Zustimmung: das stoische Tugendkonzept (Kritik der praktischen Vernunft, Bd. V: S. 111), die Einstellung der Stoiker zum Schmerz (ebd., S. 60) sowie ihr Postulat einer Apathie, die auch den Affekt des Mitleids einschließt (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Bd. VII: S. 253 sowie Die Metaphysik der Sitten, Bd. VI: S. 457). Kritisch hingegen bewertet Kant die tolerante Haltung der Stoiker gegenüber dem Suizid, den sie als Reaktion auf eine aporetische Lage mitunter sogar empfehlen; vgl. Die Metaphysik der Sitten, Bd. VI: S. 422. Unter den Prämissen seiner Pflichtethik formuliert Kant weitere Vorbehalte in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Bd. VI: S. 57 – 60, bes. S. 59. 10 Diese Schriften nennt M. I. Seidler: The Role of Stoicism in Kant’s Moral Philosophy. Dissertation St. Louis University 1981, S. 2 – 5. Zu Kants Verhältnis zu den Stoikern vgl. Willi Schink: Kant und die stoische Ethik, in: Kant-Studien 18, 1913, S. 419 – 475. Maximilian Forschner: Moralitt und Glckseligkeit in Kants Reflexionen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42, 1988, S. 351 – 370, hier S. 369, 370; Terence H. Irwin: Kant’s Criticism of Eudaimonism, in: Aristotle, Kant, and the Stoics. Rethinking Happiness and Duty, hg. von Stephen

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lungen der antiken Stoiker in den intellektuellen Debatten der damaligen Zeit hinaus befand sich Schiller demnach auch durch seine Kantstudien in einem aktuellen moralphilosophischen Diskurs, in dem stoische Konzepte eine wichtige Rolle spielten. Bereits während seiner Schulzeit war Schiller mit dem Stoizismus vertraut geworden. Im Unterricht an der Hohen Karlsschule kamen die antiken Autoren11, darunter auch Cicero und der ,Stoicissimus‘ Seneca, so sehr zur Geltung, daß Schiller später ein zentrales stoisches Thema, die Besiegung der Todesfurcht12, sogar mit ausdrücklicher Nennung Senecas in sein Sturm-und-Drang-Schauspiel Die Ruber integrierte. Kosinsky, der in der Szene III/2 um Aufnahme in die Räuberbande bittet, wehrt die Einwände des Hauptmanns Karl Moor mit der rhetorischen Frage ab: „Was soll der fürchten, der den Tod nicht fürchtet?“ Moor antwortet darauf: „Brav! Unvergleichlich! Du hast dich wacker in den Schulen gehalten, du hast deinen Seneka [sic] meisterlich auswendig gelernt. – Aber lieber Freund, mit dergleichen Sentenzen wirst du die leidende Natur nicht beschwätzen […]“ (2, 102). Damit gibt Schiller auch zu verstehen, daß er sogar den für Seneca charakteristischen sentenzenhaften Stil gut kennt. Bezeichnenderweise waren im Schulbetrieb vieler Länder bis ins 18. Jahrhundert hinein Sammlungen von Sentenzen Senecas als Florilegien beliebt.13 Engstrom/Jennifer Whiting, Cambridge 1996, S. 63 – 101. Jerome B. Schneewind: Kant and Stoic Ethics, in: ebd., S. 285 – 301. 11 Schiller verfügte über fundierte altphilologische Kenntnisse: Während seiner Zeit an der Karlsschule, der Herzoglichen Militärakademie bei Stuttgart, bekam er gute Noten im Fach Latein und erhielt für seine Leistungen in Griechisch sogar einen Preis. Werke Ciceros, Senecas und Marc Aurels zählten an der Karlsschule zum üblichen Lektüreprogramm (vgl. Alt, Bd. 1: S. 113). Mitte Dezember 1780 wurde Schiller aus der Militärakademie entlassen, nachdem er zwei Abhandlungen verfaßt und vorgelegt hatte: den lateinischen Text De discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum und die deutsche Schrift Ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (Alt, Bd. 1: S. 712). – In einem Brief an Christian Gottfried Körner zitiert Schiller am 7. Mai 1785 implizit aus Ciceros Schrift De natura deorum: „Nemo unquam [sic] vir magnus fuit sine aliquo afflatu divino“ (11, 149; vgl. dazu den Kommentar der FA mit Belegstelle: 11, 931). 12 Ein markanter Imperativ Senecas lautet: „contemne mortem“ (Epist. 78, 5). 13 Beispielsweise war die 1637 anonym erschienene, von Johann Baptist Schellenberg (1586 – 1645) in der Hochkonjunktur des Neustoizismus aus Senecas Hauptwerk Epistulae morales ad Lucilium zusammengestellte Sammlung Seneca christianus id est Flores christiani ex L. Ann. Senecae Epistolis collecti bis ins 18. Jahrhundert ein Bestseller, auch in deutscher Übersetzung.

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Auf der Hohen Karlsschule, die Schiller von 1773 bis 1780 besuchte, hatte er in Jacob Friedrich Abel (1751 – 1829) einen Lehrer, der in seinem Philosophieunterricht auch antike Autoren behandelte und sich selbst Maximen der stoischen Ethik, vermittelt mit Aspekten der empirischen Psychologie und Anthropologie, dezidiert zu eigen machte. Das erhellt exemplarisch aus seiner 1777 gehaltenen und noch im gleichen Jahr bei Cotta erschienenen Rede zum siebten Jahrestag der „Herzoglichen / Militair Akademie / zu Stuttgard“. Schon mit der Entscheidung für das Thema „Seelenstärke ist Herrschaft über sich selbst“ rekurriert Abel auf Cicero, über dessen philosophische Schriften er auch an der Hohen Karlsschule las.14 Abel nimmt auf das Tugendkonzept in Ciceros Tusculanae disputationes und auf die Begriffe der Tapferkeit und Seelengröße Bezug (fortitudo, magnanimitas), die Cicero in der Schrift De officiis im Kontext stoischer Schmerzbesiegung und Todesverachtung entwickelt.15 Abels Ideal einer Herrschaft über sich selbst läßt nicht nur an Ciceros Ethik des „sibi imperare“16 denken, sondern auch an Senecas Maxime: „in se ipsum habere maximam potestatem“.17 Bezeichnenderweise verwendet Abel in seiner Rede die bekannten stoischen Topoi Seelenstärke, Standhaftigkeit, Tapferkeit, Weisheit, Gleichmut und Ruhe18 ; sie entsprechen den antiken Begrif14 Vgl. Ernst Müller: Forschung, Erziehung und Lehre – untersucht nach den Druckschriften der Karlsschule, in: Die Hohe Karlsschule. [Katalog], hg. vom Württembergischen Landesmuseum Stuttgart. Stuttgart [1959], S. 34 – 55, hier S. 55. Vgl. auch Wolfgang Riedel: Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel, in: Anthropologie und Literatur um 1800, hg. von Jürgen Barkhoff und Eda Sagarra. München 1992, S. 24 – 52, hier S. 50. – Zwar existieren für die Jahre 1776 und 1777, in denen Schiller zu den Schülern Abels zählte, keine Lehrpläne, aber die für die Jahresprüfungen verfaßten Abhandlungen lassen Rückschlüsse auf den Lehrstoff zu. Vgl. dazu Riedels Kommentar in: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773 – 1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie hg. von Wolfgang Riedel. Würzburg 1995, S. 394, 445. Schiller blieb seinem Lehrer Abel über die Karlsschulzeit hinaus freundschaftlich verbunden und hielt Kontakt bis 1782; die letzte Begegnung fand im Jahre 1794 statt (ebd., S. 387). 15 Vgl. Riedels Kommentar (ebd., S. 571). Zur zentralen Bedeutung Ciceros für die Popularphilosophie der Aufklärung vgl. ebd., S. 406. 16 Vgl. dazu Riedels Aufsatz (Anm. 14), S. 50. 17 Seneca: Epist. 75,18. Analog: Epist. 93,2. 18 Vgl. dazu den faksimilierten Abdruck von Abels Rede über die Seelenstärke (1777) in Riedels Edition (ebd.), die mit einem instruktiven Kommentar aus-

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fen firmitas animi, constantia, fortitudo, sapientia, aequitas animi, tranquillitas. Das Ethos der Selbstdisziplin definiert Abel im Sinne stoischer Affektkontrolle und spezifiziert es in den Titeln einzelner Abschnitte als Herrschaft über Ideen, Empfindungen, Leidenschaften und Handlungen. Durch Senecas Selbstbeherrschung sieht er es in vorbildlicher Weise repräsentiert: „ein Seneca philosophirt unter rasenden Schmerzen“.19 Schiller wird das stoische Ethos später in seinen ästhetischen Schriften exponieren und es in seinem Trauerspiel Maria Stuart auch dramatisch gestalten. Gerade zu der Zeit, in der Maria Stuart erschien, baute Abel seinen Jahrzehnte früher verfaßten stoischen Traktat zu einer zweiteiligen Dissertatio de fortitudine animi (1800 – 1801) aus, und einige Jahre später publizierte er seinen Versuch ber die Seelenstrke (1804). Zu den Quellen, auf die Abel in seinen Abhandlungen konkret zurückgreift, gehören außer Ciceros stoisch grundierten Schriften De officiis und Tusculanae disputationes auch Platon und Aristoteles sowie Thomas Abbts zeitgenössische Schrift Vom Verdienste.20 Möglicherweise wurde Abel zu seinem Entschluß, das bereits Jahrzehnte früher in der Rede über die Seelenstärke traktierte stoisch-moralphilosophische Thema wieder aufzunehmen und in weiteren Abhandlungen fortzuführen, durch Kants Schrift Die Metaphysik der Sitten motiviert, die im Jahr 1797 erschienen war. Jedenfalls hat Abel deren Zweiten Theil „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre“ als Quelle mit herangezogen.21 gestattet ist. Der Originalpaginierung der gedruckten Rede (S. 57 – 72) entsprechen in diesem Band S. 221 – 236. Symptomatisch für den antiken Horizont von Abels Rede über die Seelenstärke ist auch die Tatsache, daß er hier immer wieder exemplarische Persönlichkeiten aus der antiken Kultur und Politik nennt, darunter Sokrates, Cäsar, Scipio, Cato und Seneca. 19 Vgl. ebd. S. 63 (S. 227). 20 Riedel stellt in seinem Abel-Band die Quellenmaterialien zusammen (ebd.), S. 570 – 571. Abbts Schrift, die einen Artikel mit dem Titel „Von der Stärke der Seele“ enthält und durch Konzepte Ciceros nachhaltig geprägt ist, kann als die wichtigste zeitgenössische Quelle für Abels Theorie der Seelenstärke gelten; daneben ist Zückerts Abhandlung Von den Leidenschaften zu nennen (ebd., S. 571, 574). 21 Vgl. ebd., S. 571. Kant reflektiert in seiner Schrift Die Metaphysik der Sitten die Begriffe „Tapferkeit (fortitudo)“ und „Tugend (virtus, fortitudo moralis)“ (Akademie-Textausgabe Bd. VI: S. 380); seine lateinischen Explikationen verweisen auf den Kontext der antiken Quellen. – Der Eklektiker Abel blieb allerdings (wie andere Philosophen der deutschen Spätaufklärung) in skeptischer Distanz zu den Systembildungen des deutschen Idealismus und tendierte

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In Schillers stoisch geprägter Anthropologie, die sich in seiner Dramentheorie ebenso manifestiert wie in seinem Trauerspiel Maria Stuart, konvergieren also mehrere Einflüsse: zum einen die stoische und humanistisch-neustoische Tradition, mit der er seit seiner Schulzeit vertraut war, zum anderen der moralphilosophische Diskurs, den Kant auf diesem Fundament entwickelte, aktualisierte und zu neuer Geltung brachte.

II. Im folgenden soll gezeigt werden, wie weitgehend der durch die Kantische Philosophie inspirierte Theoretiker Schiller auch stoische Vorstellungen adaptierte. Das Tertium comparationis der ethischen Prämissen liegt dabei im Anspruch auf eine vernunftgeleitete Selbstbestimmung des Individuums. Angesichts des Leidensdrucks, der aus der psychophysischen Natur des Menschen oder aus schicksalhaften sozialen Konstellationen resultieren kann, stellt Schiller fest: Je „gewaltsamer nun der Affekt“ in der Sphäre der Sinnlichkeit „sich äußert“, desto entschiedener muß der Mensch seine „moralische Selbstständigkeit“ behaupten (8, 433). Daraus leitet er „die beiden Fundamentalgesetze aller tragischen Kunst“ ab (8, 422): erstens die „Darstellung der leidenden Natur“ und zweitens die Inszenierung „des moralischen Widerstandes gegen das Leiden“ (8, 426). Dieses dramentheoretische Postulat eröffnet ein Spannungsfeld, das ästhetische Kriterien mit ethischen Aspekten vermittelt. Das aufklärerische Vernunftpostulat und der idealistische Freiheitsbegriff Kants sind als anthropologisches Fundament von Schillers theoretischen Schriften ebenso von Bedeutung wie das stoische Prinzip einer Affektabwehr, die den Zustand der Apatheia oder Ataraxia herstellen und durch Autarkie Glück ermöglichen soll.22 In seiner Schrift insgesamt eher zu „den Vertretern des vorkritischen Empirismus“ (Riedel, ebd., S. 386, vgl. auch S. 381). 22 Zahlreiche Belege finden sich bei Seneca. Vgl. z. B. Epist. 9,2, wo er den griechischen Begriff Apatheia thematisiert. In Epist. 9,12 betont er die glückliche Selbstgenügsamkeit des Weisen, der das Schicksal herausfordert bzw. verachtet. Vgl. auch Epist. 9,19; 15,9; 32,4; 36,6; 45,9. In seiner Schrift De tranquillitate animi (IX,2) rät Seneca zur Mäßigung unterschiedlicher Emotionen: „Discamus continentiam augere, luxuriam coercere, gloriam temperare, iracundiam lenire, […] frugalitatem colere“ („Lernen wir, die Beherrschung zu steigern, die Genußsucht zu zügeln, den Ehrgeiz zu mäßigen, den Jähzorn zu

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ber das Pathetische von 1793 beruft sich Schiller sogar ausdrücklich auf eine zentrale These Senecas. Er zitiert ihn dort, wo er die Erhabenheit des „vom Schicksal unabhängige[n] Charakter[s]“ betont: „Ein tapfrer Geist, im Kampf mit der Widerwärtigkeit, sagt Seneka [sic], ist ein anziehendes Schauspiel selbst für die Götter“ (8, 440).23 Schiller konstatiert, daß „im Kampfe“ der „selbsttätige[n] Kraft […] mit dem Leiden der Sinnlichkeit“ ein spezifischer Genuß liegt (8, 268). Sein Konzept des Erhabenen und Pathetischen verbindet er mit dem stoischen Postulat ,fortunae resistere‘: Erst im inneren Widerstand gegen die unkalkulierbare Macht des Schicksals bewähren sich virtus und constantia. Indem Schiller im Kontext seines Seneca-Zitats das Ideal der „Seelenstärke“ exponiert (8, 440), spielt er auf den stoischen Begriff der firmitas animi an24 und nimmt zugleich implizit auf die Rede seines Lehrers Abel über die Seelenstärke Bezug. Auch den Stoiker Epiktet erwähnt Schiller: In der Schrift Gedanken ber den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst nennt er ihn als Beispiel für „eine erhabene Seele“ (8, 458). Wiederholt weist der Ästhetiker Schiller auf die zentrale dramentheoretische Funktion des Leidens hin: „Pathos ist also die erste und beschwichtigen und die Genügsamkeit zu pflegen“). – Laut Forschner markiert die „stoische Theorie der Affekte […] besonders eindrucksvoll den Beginn eines Weges, der die abendländische Philosophie zur Bildung eines Begriffs des freien menschlichen Vernunftsubjekts führt, der dieses aller Abhängigkeit von […] Bedingungen seines Fühlens, Strebens und Denkens entledigen und auf eine unbedingte Freiheit stellen zu können glaubt“ (Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, 2. Aufl. Darmstadt 1995, S. 141). 23 Seneca: De providentia II,8. Der Kommentar in FA 8 (S. 1366) zitiert den Titel der Schrift inkorrekt und gibt auch eine falsche Belegstelle („De divina providentia II,9“). – Ulrich Port konstatiert zu Recht eine Korrespondenz zwischen Schillers Konzept des Pathetischerhabenen und dem Stoizismus, geht auf diese Affinität selbst allerdings nicht näher ein. Vgl. Ulrich Port: „Knste des Affekts“. Die Aporien des Pathetischerhabenen und die Bildrhetorik in Schillers „Maria Stuart“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 46, 2002, S. 134 – 159, hier S. 145. 24 Seneca betont die Herausforderung des Menschen durch Angriffe des Schicksals, die ihm Gelegenheit geben, die Festigkeit seiner Seele zu erproben (Epist. 67,14: „firmitatem animi tui temptes“). Im Vergleich dazu erscheint ihm ein sorgenfreies Leben ohne Angriffe des Schicksals wie ein totes Meer („Demetrius […] vitam securam et sine ullis fortunae incursionibus mare mortuum vocat“). Laut Epist. 63,1 gelingt Seelenstärke dem, der sich schon weit über das Schicksal erhoben hat („sed cui ista firmitas animi continget nisi iam multum supra fortunam elato?“).

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unnachlaßliche Foderung [sic] an den tragischen Künstler“; daher soll der Dramenautor „seinem Helden oder seinem Leser die ganze volle Ladung des Leidens geben“ (8, 423 – 424). Allerdings betont Schiller auch: „Darstellung des Leidens – als bloßen Leidens – ist niemals Zweck der Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck“ ist sie obligatorisch (8, 423). Die eigentliche Zielsetzung der „tragische[n] Kunst“ besteht darin, das „Pathos“, also das Leiden im Aristotelischen Sinne25, zu transzendieren und „die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts“ zu versinnlichen (8, 423). Hier werden die ethischen Implikationen von Schillers Tragödientheorie evident. Unter ,Pathos‘ versteht Schiller die affektreiche, wirkungsmächtige Gestaltung des Leidens, dem der Mensch durch Natur, Schicksal und Geschichte zwar ausgeliefert ist, gegen das er aber aufgrund seiner Autonomie Widerstand zu leisten vermag. Das spezifische Pathos der Tragödie zeigt die Protagonisten also in einer Situation, die einerseits durch gravierende Leidenserfahrungen, andererseits durch die Freiheit des animal rationale bestimmt ist. So fungiert das Pathetische für Schiller als Medium, um die Selbstdisziplin und Souveränität des Menschen exemplarisch vorzuführen und seine Würde auch angesichts des Schmerzes zu inszenieren. In seiner Schrift ber die tragische Kunst argumentiert Schiller dafür mit der These, „eine blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal“ sei „immer demütigend und kränkend für freie sich selbst bestimmende Wesen“ (8, 261). Das für die tragische Kunst charakteristische Spannungsverhältnis besteht demnach in der Polarität von leidender Natur und moralischem Widerstand. Damit schließt Schiller an den Kantischen Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft, von Natur und Freiheit an. Zugleich sind deutliche Analogien zum stoischen Ethos zu erkennen. Im Vierten Buch seiner Tusculanae disputationes referiert Cicero die stoische Vorstellung des Pathos unter Berufung auf Zenon: Dieser definiere die Leidenschaft, die er als Pathos bezeichne, als eine von der rechten Einsicht abgewandte naturwidrige Bewegung der Seele („Est igitur Zenonis haec definitio, ut perturbatio sit, quod p²hor ille dicit, aversa a 25 In Abschnitt 11 seiner Poetik definiert Aristoteles ,Pathos‘ als eine qualvolle Handlung, die zum Untergang führen kann, z. B. Verwundungen, Schmerzen, Tod auf der Bühne. – Zur Bedeutung des Pathos als Strukturelement des Tragischen vgl. Ulrich Port (Anm. 23); Port weist auch auf die Inhomogenität von Schillers Terminologie hin (ebd., S. 142 f.).

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recta ratione contra naturam animi commotio“).26 Vom Begehren grenzen die Stoiker laut Cicero den Willen als vernunftgemäßes Streben ab, das den Weisen kennzeichnet.27 Eine ähnliche Auffassung formuliert Schiller in seiner Abhandlung ber das Erhabene, in der er die anthropologischen Prämissen für seine Konzeption des Tragischen darstellt. Wie Seneca, der die Bedeutung kontinuierlichen Wollens und planvoller Selbstbestimmung betont28, sieht auch Schiller das „Prärogativ“ des Menschen darin, „daß er mit Bewußtsein und Willen vernünftig handelt. Alle andere[n] Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will.“ Daher ist es seiner „unwürdig, […] Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf“ (8, 822). Nach Schillers Überzeugung vermag der Mensch seinen „Anspruch auf absolute Befreiung“ von jeder fremden Macht (8, 822), zu der auch eine Determination durch die sinnlich-naturale Sphäre der eigenen Affekte gehören kann, auf zweierlei Weise zu realisieren: indem er die Natur beherrscht und sich dadurch gegen sie behauptet oder, falls dies nicht gelingt, indem er die Gewalt, die er „erleiden muß, dem Begriff nach zu vernichten“ versucht, sie akzeptiert und beschließt, sich ihr „freiwillig [zu] unterwerfen“ (8, 823). Dieses Konzept entspricht dem Ethos der berühmten Verse aus dem griechischen Zeushymnus des Stoikers Kleanthes, die Seneca in der lateinischen Übersetzung Ciceros zitiert: „Ducunt volentem fata, nolentem trahunt“.29 Bekanntlich differenzieren die Stoiker zwischen der Fortuna als der durch Zufälle 26 Marcus Tullius Cicero: Gesprche in Tusculum. Lateinisch-deutsch mit ausführlichen Anmerkungen neu hg. von Olof Gigon, 2. Aufl. München 1970. [Im folgenden zitiert mit der Sigle Tusc. sowie mit nachgestellter römischer Buchziffer und arabischer Absatzzahl.] – Tusc. IV,11. Andere Stoiker – so Cicero (ebd.) – betrachten die Leidenschaft als ein allzu heftiges Streben, weil es sich „allzu weit von der Beständigkeit der Natur entferne“ („qui longius discesserit a naturae constantia“). 27 Cicero: Tusc. IV,12: „eius modi adpetitionem Stoici bo¼kgsim appellant, nos appellamus voluntatem. eam illi putant in solo esse sapiente, quam sic definiunt: voluntas est, quae quid cum ratione desiderat“ („Die Stoiker nennen diese Art von Streben bo¼kgsir, wir nennen es den Willen. Sie meinen, daß es diesen nur beim Weisen gebe, und definieren ihn so: der Wille ist es, der etwas mit Vernunft begehrt“). 28 Seneca: Epist. 23,8: „Pauci sunt, qui consilio se suaque disponant […]. Ideo constituendum est, quid velimus, et in eo perseverandum“ („Wenige sind es, die planvoll über sich und das Ihre entscheiden. […] Deshalb ist festzustellen, was wir wollen, und dabei zu verharren“). 29 Seneca: Epist. 107,11: „Den Wollenden führt das Schicksal, den Nichtwollenden zieht es“.

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bestimmten Oberflächenstruktur der Wirklichkeit und dem Fatum als der Tiefenstruktur naturgesetzlicher Notwendigkeit, die in kausaler Funktionalität die Welt durchwaltet und alles bestimmt.30 Der stoischen Philosophie zufolge kommt es darauf an, zwar der Fortuna Widerstand zu leisten31, aber das Fatum als vorherbestimmte Notwendigkeit zu akzeptieren. So vermag der Mensch auch eine Konstellation mental zu bewältigen, in der er sich bloß als „Sklave der physischen Notwendigkeit“ (8, 831) oder als Opfer historisch-gesellschaftlicher Bedingtheiten fühlt. Die „unwiderstehliche Naturmacht“ erscheint dem Menschen nur solange „als furchtbar“, bis er „die absolute Unabhängigkeit“ seines Willens „von jedem Natureinfluß“ erkennt (8, 436), nämlich seine „Autonomie“ (8, 437), das „Prinzip der Freiheit“ (8, 428). Dadurch erreicht er die Sphäre des Erhabenen.32 30 Zur stoischen Philosophie insgesamt vgl. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 2 Bde, Göttingen 1943/47, 4. Aufl. 1970. Auf die Moralphilosophie konzentriert sich Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, 2., erw. Aufl. Darmstadt 1995. 31 Für die stoische Devise ,fortunae resistere‘ finden sich in der antiken Tradition zahlreiche Beispiele. Vgl. Seneca: De providentia IV,12: „Praebendi fortunae sumus, ut contra illam ab ipsa duremur“ („Wir müssen uns dem Schicksal stellen, um uns gegen es mit dessen Hilfe abzuhärten“). In Epist. 66,6 rühmt Seneca „die Seele, die […] sich keinem Schicksal unterwirft, über alles, was vorfällt und eintrifft, erhaben ist“ („animus […] neutri se fortunae summittens, supra omnia quae contingunt acciduntque eminens“). Laut Epist. 76,21 liegt die virtus gerade in der Geringschätzung („contemptu“) der fortuna. – Vgl. zu diesem Themenkomplex auch den Aufsatz von Gerda Busch: Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca, in: Seneca als Philosoph, hg. von Gregor Maurach, 2. Aufl. Darmstadt 1987 (Wege der Forschung Bd. 414), S. 53 – 94. Zur Symbolfigur der Fortuna vgl. Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Gçttin des Glcks im Wandel der Zeiten, München/Berlin 1997. 32 Das Gefühl des Erhabenen ist angesichts übermächtiger Naturphänomene ebenso möglich wie im Verhältnis zu künstlerisch vermittelten Machtkonstellationen. Einerseits zittert der Mensch laut Schiller in Anbetracht seiner physischen Unterlegenheit; andererseits fühlt er sich „bei diesem Zittern erhaben“. Dies geschieht, „weil wir uns bewußt werden, daß wir, auch selbst als ein Opfer dieser Macht, für unser freies Selbst, für die Autonomie unserer Willensbestimmungen nichts zu fürchten haben würden“ (8, 437). – Zur Thematik des Erhabenen bei Schiller vgl. Renate Homann: Erhabenes und Satirisches. Zur Grundlegung einer Theorie sthetischer Literatur bei Kant und Schiller, München 1977. Carsten Zelle: Die doppelte sthetik der Moderne. Revisionen des Schçnen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995, S. 150 – 162, 179 – 184. Paul

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Das Spannungsverhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit ist laut Schiller für das Erhabene in Natur und Kunst konstitutiv. Wie er in seiner Schrift ber das Pathetische ausführt, ermöglicht gerade dieser Antagonismus die Erfahrung von „Seelenstärke“ und „Gemütsfreiheit“ (8, 423). Wenn der „physische […] Mensch […] nur seine Schranken empfindet“, macht „der moralische Mensch […] die Erfahrung seiner Kraft und wird durch eben das unendlich erhoben, was den andern zu Boden drückt“ (8, 828). Schiller erblickt den Zweck der tragischen Kunst darin, „daß sie uns die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht“ (8, 423). Freiheit im Medium theatralischer Inszenierung anschaulich darzustellen, ist allerdings nur via negationis möglich, weil sie im Prozeß aktiver Auseinandersetzung mit sinnlichen Anfechtungen erst errungen werden muß. Da „das freie Prinzip in uns“ allein am „Widerstand […] gegen die Gewalt der Gefühle“ zu erkennen ist, muß das „Sinnenwesen“ zunächst „tief und heftig leiden; Pathos muß da sein, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kund tun und sich handelnd darstellen“ kann (8, 423). Dabei mobilisiert der Mensch „gegen das Leiden […] Ideen der Vernunft“ (8, 430), und zwar analog zu autotherapeutischen Verfahren der stoischen Philosophie. So betont Seneca in den Epistulae morales die Bedeutung der Vernunft als Voraussetzung für ein Ethos der Weisheit, das Freiheit von Leidenschaften ermöglicht.33

Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, Berlin 2004 (Philologische Studien und Quellen Heft 186). – Zelle konstatiert, „daß der Rezeption von Schillers Theorie des Erhabenen und Pathetischen bei seinen Zeitgenossen, in der Ästhetik und Poetik des 19. und 20. Jahrhunderts sowie in der Geschichte germanistischer Fachbegriffe offenbar bisher nicht systematisch nachgegangen worden ist“ (Carsten Zelle: Vom Erhabenen (1793) / ber das Pathetische (1801), in: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Matthias Luserke-Jaqui, Stuttgart/Weimar 2005, S. 398 – 406, hier S. 405). 33 Seneca: Epist. 37,4: Mit der Torheit leidenschaftlicher Empfindungen kontrastiert Seneca hier die „Weisheit, die allein Freiheit ist“ („sapientia, quae sola libertas est“). Sein Plädoyer lautet: „si vis omnia tibi subicere, te subice rationi“ („Wenn du dir alles unterwerfen willst, unterwirf dich der Vernunft“).

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III. Anders als in anderen Dramen hat Schiller seine ästhetischen Prinzipien in seinem Trauerspiel Maria Stuart 34 geradezu idealtypisch verwirklicht: Von widerstreitenden Emotionen umgetrieben, zwischen Todesfurcht und Hoffnung auf Rettung schwankend, repräsentiert die schottische Königin zunächst das Pathos, das Schiller in seinen theoretischen Schriften als einen wesentlichen Aspekt des Tragischen beschreibt und das der Stoiker Zenon als unvernünftige Seelenbewegung kritisiert.35 Maria Stuart selbst betont die Intensität ihres Leidens: „Nichts lebt in mir in diesem Augenblick, j Als meiner Leiden brennendes Gefühl“ (III/3: V. 2182 – 2183). Zugleich stellt die für die gefangene Königin traumatische Situation aber auch den Ausgangspunkt einer Entwicklung dar, die im letzten Akt eindrucksvoll kulminiert: mit Standhaftigkeit (constantia) und Seelenstärke (firmitas animi) akzeptiert Maria Stuart schließlich die eigene Hinrichtung. Ein erster Ansatz zu stoischer constantia ist schon am Anfang des Dramas zu erkennen, wo Schiller seine Protagonistin sogar im Gefängnis mit einer gewissen Gelassenheit auftreten und an die aufgeregte Amme Hanna appellieren läßt: „Faß dich!“ und „Beruhige dich“ (I/2: V. 148, 154). Den Anfang und Schluß seines Trauerspiels hat Schiller insofern analog gestaltet, als er in beiden Partien die souveräne Gelassenheit der Hauptfigur mit den Affekten ihres sozialen Umfeldes kontrastiert. Daß Maria Stuarts stoische Haltung im ersten Akt allerdings noch keineswegs gefestigt ist, signalisiert nicht nur ihre Todesfurcht (I/ 2: V. 193 – 194, I/6: V. 625 – 630), sondern auch ihre Aussage „Mein Schicksal liegt in meiner Feinde Hand“ (I/2: V. 215). Indem sie sich hier selbst als heteronom definiert, zeigt sie sich noch weit entfernt von der Bereitschaft, das Fatum so zu akzeptieren, wie es dem stoischen Postulat der Selbstbestimmung entspricht: „Fac tui iuris, quod alieni est“.36 Das erhellt sowohl aus ihrer Angst vor Meuchelmord oder Hinrichtung als auch aus ihrer Hoffnung, gerettet zu werden (I/3:

34 Schillers Maria Stuart wird im folgenden nach der Frankfurter Ausgabe (Anm. 1) mit Akt-, Szenen- und Verszahlen zitiert: ebd. Bd. 5: Dramen IV, hg. von Matthias Luserke, S. 9 – 148. 35 Vgl. Cicero: Tusc. IV,11. 36 Seneca: Epist. 77,15: „Tu in Selbstbestimmung, was fremdem Willen unterliegt“.

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V. 231). Durch ihre passive Erwartungshaltung macht sich Maria Stuart von anderen abhängig. Den hohen Stellenwert von Affekten im früheren Leben der schottischen Königin betont ihre Amme in einer skizzenhaften Retrospektive: Vom „Feuer des Verlangens“ und von „Leichtsinn“ ist hier ebenso die Rede wie vom „Wahnsinn blinder Liebesglut“ (I/4: V: 341, 362, 325). Indem Schiller seine Protagonistin durch eine Tendenz zu leidenschaftlichen Gefühlsaufwallungen und emotionalen Verstrickungen charakterisiert, führt er sie als eine keineswegs ausgeglichene Persönlichkeit vor. Im Spektrum der Emotionen, das von Euphorie bis zur Verzweiflung reicht, stellt Maria Stuarts Begegnung mit der englischen Königin Elisabeth im dritten Akt einen Höhepunkt dar.37 Zugleich markiert sie die Peripetie des Dramas. Als Basis des Konflikts inszeniert Schiller eine tiefreichende Rivalität zwischen Maria und Elisabeth. In welchem Maße persönliche Motive in den dynastisch begründeten Machtkampf der Königinnen hineinreichen, zeigt der enorme Einfluß negativer Emotionen wie Neid, Empörung und Rachsucht auf Elisabeths Entscheidung über Leben oder Tod Marias.38 Die dramatische Konfrontation der beiden Frauen wird durch das Zusammenwirken von politischer Konkurrenz und weiblicher Rivalität noch potenziert. Obwohl Graf Shrewsbury den seelischen Aufruhr der schottischen Königin erkannt und ihr nachdrücklich zur „Gelassenheit“ geraten hat 37 Mit kunstvoller Affektregie verwirklicht Schiller in seinem Trauerspiel Maria Stuart eine differenzierte Gefühls- und Machtpsychologie, die letztlich wirkungsästhetisch begründet ist: Eine Balance zwischen individuellen und gesellschaftlichen Einflußfaktoren sowie zwischen emotionalen und politischen Komponenten des Bühnengeschehens entsteht dadurch, daß Szenen kalkulierter Intrige geradezu rhythmisch mit Momenten entfesselter Affekte wechseln, die in den Zuschauern ein Gefühlskonglomerat aus Angst, Rührung, Empörung, Erschütterung sowie Mitleid, Hoffnung und Furcht evozieren. Auf diese Weise setzt Schiller auch seine eigenen dramentheoretischen Konzepte um. 38 In seinem Drama Maria Stuart prangert Schiller eine Herrschaftsform an, die politische Willkürentscheidungen aus subjektiv-individuellen Beweggründen begünstigt. Über die für die höfische Sphäre typischen intriganten Machenschaften hinaus rückt hier die Problematik eines Unrechtsregimes mit seinen prekären Machtmechanismen ins Blickfeld. Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Macht, Recht und Schuld. Konfliktdramaturgie und Absolutismuskritik in Schillers Trauerspiel „Maria Stuart“, in: Schiller: Werk-Interpretationen, hg. von Günter Saße, Heidelberg 2005 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte Bd. 216), S. 105 – 136, besonders S. 112 – 124, 128.

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(III/3: V. 2195), steigert sich ihr Disput mit der Rivalin bis zu einem extremen Gefühlsausbruch. Schon die Regieanweisungen geben zu erkennen, in welchem Maße Maria Stuart in der Szene III/4 von Affekten beherrscht wird: Von „halb ohnmchtig“ über „schaudernd still“ bis zu „mit steigendem Affekt“, „auffahrend“ und „von Zorn glhend, doch mit einer edeln Wrde“ reicht die Bandbreite psychischer Zustände; auch „ihre Gebrden drcken den heftigsten Kampf aus“. Aber Maria Stuarts anfängliches Bemühen um demütige Selbstverleugnung „mit schmeichelndem Ton“ schlägt schließlich in die Raserei „der schwer Gereizten“ (III/4: 2444) um; auch zu Beginn der Szene III/5 ist die Königin „noch ganz außer sich“. Da Maria Stuart den Appell zu taktisch klugem Handeln im Verlauf der Konfrontation mehr und mehr mißachtet, siegen ihre Emotionen über die Vernunft. In dieser Situation orientiert sie sich also nicht am stoischen Postulat rationaler Affektbewältigung und am Ideal der tranquillitas animi. Von Elisabeths Attitüde kalter Verächtlichkeit provoziert, ruft Maria nach ihrem Disput mit der englischen Königin emphatisch aus: „Nach Jahren der Erniedrigung, der Leiden, j Ein Augenblick der Rache, des Triumphs!“ (III/5: V. 2456 – 2457). Durch den leidenschaftlichen Ausbruch beraubt sich Maria Stuart allerdings auch jeder Chance auf einen Gnadenakt. Trotz dieser Zuspitzung der äußeren Konstellation vermag sie später zu jener Verinnerlichung zu finden, die ihr schließlich die Haltung stoischer constantia und tranquillitas animi39 ermöglicht. Zunächst jedoch hadert Maria Stuart mit ihrem Schicksal: „Furchtbares Schicksal! Grimmig schleuderst du j Von einem Schrecknis mich dem andern zu“ (III/6: V. 2550 – 2551). Mit diesem Ausruf reagiert sie auf die vehementen Annäherungsversuche Mortimers (III/6: V. 2543 – 2548, 2591), der sie zwar retten will, sie zugleich aber auch erotisch bedrängt. In ihrer prekären Lage muß Maria nun sogar „Hülfe rufen gegen den Mann, j Der mein Erretter –“ (III/6: V. 2581 – 2582). Die Enttäuschung ihrer Hoffnungen und der extreme Druck von außen führen zu einer Entwicklung, in der sie von einer 39 Die Bedeutung dieses stoischen Postulats ist schon daran zu erkennen, daß Seneca eine seiner Schriften mit dem Titel De tranquillitate animi versehen hat. Seneca versteht tranquillitas im Sinne des griechischen Begriffs Euthymia (Frohsinn); vgl. ebd. II,3. Für diesen Zustand setzt er innere Harmonie voraus, Einigkeit mit sich selbst, die durch Abkehr von allen Äußerlichkeiten entsteht (vgl. ebd. II,4; XIV,2). Der Weise antizipiert mögliche Schicksalsschläge mit Seelenstärke („animi robore“); vgl. ebd. XI,6; XIII,3.

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Haltung passiven Wartens auf Rettung zum Ethos aktiver Selbstbestimmung findet. Im Verlauf der Dramenhandlung wird ihr bewußt, daß der Weg zur inneren Freiheit die Bejahung ihres eigenen Schicksals voraussetzt. Die Affinität zu Konzepten der Stoiker ist hier evident. Daß Schiller auch die Vorstellungen von Glück und Schicksal stoisch grundiert hat, deutet sich bereits in dem Appell an, den Maria Stuart an die englische Königin Elisabeth richtet: „Denkt an den Wechsel alles Menschlichen!“ (III/6: V. 2261). Sie warnt ihre Rivalin vor der Gefahr der Hybris, indem sie auf die Unbeständigkeit der Fortuna anspielt.40 Entsprechendes gilt für Melvils Frage: „Wie ertrug j Maria diesen fürchterlichen Wechsel?“ (V/1: V: 3400 – 3401). An das stoische Fortuna-Konzept läßt auch Elisabeths Ausruf denken: „Was ist der Mensch! Was ist das Glück der Erde!“ (II/4: V. 1528).41 Wenn Schiller 40 Maria Stuarts Aussage „Betrüglich sind die Güter dieser Erden“ (V/7: V. 3578) betont ebenfalls die Instabilität der Fortuna. Außerdem klingt der stoische Begriff der Adiaphora an, der hier mit der Vorstellung des Wahns, der bloßen Meinung (dºna / opinio) verbunden wird. Vgl. dazu die Szene III/1, in der sich Maria dem „süßen Wahn“ der Freiheit hingibt (V. 2090), und die Szene I/6, in der Mortimer von den „Wahnbegriffe[n] meiner kind’schen Seele“ spricht (V. 483). Analog heißt es in IV/9: „ein blinder Wahn bewegt das Volk“ (V. 3088). Auch Leicesters Formulierung „Schiffbruch meines Glücks“ (II/8: V. 1806) setzt die Unbeständigkeit der Fortuna voraus. Bezeichnenderweise verwendet schon Seneca die Schiffbruchsmetapher mit dieser Implikation. Vgl. z. B. Ad Marciam de consolatione 6,3: Hier lobt Seneca nachdrücklich den Steuermann, der sogar bei Schiffbruch das Steuerruder festhält, obwohl ihn bereits die Flut unter sich begraben hat („in naufragio laudandus, quem obruit mare clavum tenentem et obnixum“). In Schillers Rubern ist in metaphorischer Verallgemeinerung vom „Schiffbruch […] auf der ungestümmen [sic] See dieser Welt“ die Rede (Szene III/2, FA 2: 101). 41 Psychologisch aufschlußreich ist der Kontext dieses Zitats, das zunächst sogar von spontanem Mitgefühl der englischen Königin für die Rivalin zu zeugen scheint. Als Elisabeth den Brief gelesen hat, in dem Maria Stuart um die Gunst einer persönlichen Unterredung bittet, ruft sie – „ihre Tränen trocknend“ – aus: „Was ist der Mensch! Was ist das Glück der Erde! j Wie weit ist diese Königin gebracht, j Die mit so stolzen Hoffnungen begann, j […] es schneidet mir ins Herz“ (II/4: V. 1528 – 1530, 1538). Aber schon die anschließenden Verse zeigen unmißverständlich, daß die melancholische Anwandlung, in der Elisabeth der Wechselhaftigkeit der Fortuna nachsinnt, das Schicksal der schottischen Königin lediglich zum Anlaß nimmt. Tatsächlich dominiert Selbstbezogenheit in ihrer Reflexion. Denn Elisabeth fährt fort: „Wehmut ergreift mich und die Seele blutet, j Daß Irdisches nicht fester steht, das Schicksal j Der Menschheit, das entsetzliche, so nahe j An meinem eignen Haupt vorüberzieht“ (II/4: V. 1539 – 1542). Realistischer als Talbots Reaktion „O Königin! Dein Herz hat Gott gerührt“ (II/4: V. 1543) ist mithin eine

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den Begriff „Schicksal“ jedoch im Sinne von „Fügung“ verwendet (I/6: V. 540 – 541), dann entspricht er der Vorstellung des Fatums, der unabänderlichen „Notwendigkeit“ (I/8: V. 1038), die „Uns auferlegt“ wird (II/4: V. 1569 – 1570).42 Daß Schiller im Sinne der Stoiker zwischen Fatum und Fortuna differenziert, ist auch in seinem Schauspiel Die Ruber zu erkennen, wenn Karl Moor in der Szene I/2 erklärt: „Fürchtet euch nicht vor Tod und Gefahr, denn über uns waltet ein unbeugsames Fatum!“ (2, 46). Wie fundamental der Wandlungsprozeß ist, den die schottische Königin bis zum Ende des Trauerspiels durchläuft, zeigt die Reaktion ihrer Amme auf Melvils Ansinnen, Maria „Mit männlich edler Fassung“ auf ihrem letzten Weg zu begleiten (V/1: V. 3373). Seneca weist in seiner Schrift De constantia sapientis auf den ,männlichen‘ Weg hin, den die Stoiker einschlagen.43 Der virtus und der constantia, die Melvil durch sein Vorbild bei Maria zu mobilisieren gedenkt, bedarf sie allerdings nicht mehr. Denn am Ende vermag sie selbst ganz allein „das Beispiel edler Fassung“ zu geben, indem sie dazu in der Lage ist, „standhaft in den Tod zu gehn“ – als „Königin und Heldin“ (V/1: Deutung, die auf Lessings Thesen im 75. Stück der Hamburgischen Dramaturgie rekurriert: Ausgehend von den Begriffen ,Mitleid‘ und ,Furcht‘ in der Aristotelischen Poetik, schreibt Lessing: Die von Aristoteles gemeinte „Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können […]. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.“ (Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, 8 Bände, München 1970 – 1979. Bd. 4: Dramaturgische Schriften, hg. von Karl Eibl, München 1973, S. 229 – 720, hier S. 578 – 579.) Im Sinne dieser These Lessings ist die melancholische Reflexion von Schillers Elisabeth nicht von genuiner Empathie mit Maria Stuart bestimmt, sondern letztlich bloß von Selbstmitleid. 42 Elisabeth betont „Die allgewaltige j Notwendigkeit, die auch das freie Wollen j Der Könige zwingt“ (IV/10: V. 3209 – 3211). Maria bedient sich im Disput mit ihr aus pragmatischen Gründen einer euphemistischen Perspektive auf die eigene Situation, wenn sie von einer „Schickung“ spricht, für die niemand verantwortlich sei (III/4: V. 2307). 43 Seneca: De constantia sapientis 1,1: „Stoici, virilem ingressi viam“. Dieser ,männliche‘ Weg soll den Menschen befreien und ihn auf den Gipfel führen, der über das Schicksal hinausragt („ut supra fortunam emineat“). In einer späteren Partie dieser Schrift (V,4) betont Seneca die Unabhängigkeit der virtus von der fortuna: „libera est, inviolabilis, immota, inconcussa“ („Sie ist frei, unverletzlich, unveränderlich, unerschütterlich“).

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V. 3375 – 3380). Indem sich Maria tatsächlich so verhält, wie es ihre Amme prognostiziert hat, verwirklicht sie das stoische Ideal der constantia und firmitas animi. Ihre virtus und fortitudo beweist sie dadurch, daß sie ihre tranquillitas animi auch angesichts des Todes aufrechterhält. Zur besonderen Herausforderung für Marias stoische Gelassenheit wird dann allerdings die letzte Begegnung mit dem abtrünnigen Intriganten Leicester, auf den sie vergeblich ihre Hoffnung gesetzt hat. Obwohl Marias Verletzlichkeit in dieser emotional aufgeladenen Situation deutlich zu erkennen ist, meistert sie diese probatio44 in der Szene V/9 geistreich und souverän. Das stoische Postulat, durch tranquillitas animi auch die Todesfurcht zu bewältigen, gestaltet Schiller in seinem Trauerspiel durch zwei Verhaltensvarianten, in denen sich virtus und libertas verbinden. Sie werden durch Maria und Mortimer repräsentiert. Die schottische Königin bewertet den Tod am Ende sogar positiv: „– Wohltätig, heilend, nahet mir der Tod, j Der ernste Freund! […]“ (V/6: V. 3489 – 3490). Zum Erstaunen ihrer Gefolgsleute sieht sie einen Anlaß zur Freude darin, „daß meiner Leiden Ziel j Nun endlich naht, daß meine Bande fallen, j Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich j Auf Engelsflügeln schwingt zur ew’gen Freiheit“ (V/6: V. 3481 – 3484). Bereits Seneca betrachtet Knechtschaft als conditio humana („omnis vita ser-

44 Das stoische Konzept der Bewährung (probatio) erhellt auch aus einem Diktum der schottischen Königin, das wie eine Sentenz Senecas anmutet: „[…] eines Mannes Tugend j Erprobt allein die Stunde der Gefahr“ (I/7: V. 894 – 895). Vgl. dazu Seneca: De providentia IV,6: „calamitas virtutis occasio est“ („Unglück ist Gelegenheit zur Tugend“). In De providentia IV,5 exemplifiziert er die probatio so: „gubernatorem in tempestate, in acie militem intellegas“ („Den Steuermann erkennst du im Sturm, in der Schlacht den Soldaten“). In seiner Schrift De constantia sapientis (IX,3) vertritt Seneca die These, sogar Unrecht sei dem Weisen von Nutzen, denn er könne daran sich selbst erfahren und seine virtus erproben („ipsa illi iniuria usui sit, per quam experimentum sui capit et virtutem tentat“). In Schillers Trauerspiel Maria Stuart sieht sich Mortimer im Gespräch mit Maria als „Zeuge eurer Leiden, j Der Sanftmut Zeuge und der edlen Fassung, j Womit ihr das Unwürdige erduldet. j Denn geht ihr nicht aus allen Leidensproben j Als eine Königin hervor? […]“ (I/6: V. 562 – 566). In Mortimers rhetorischer Frage ist der Zusammenhang von probatio und stoischer constantia zu erkennen. Entsprechendes gilt für die Einschätzung, daß dem „Heldenmut“ Marias „noch ein schwerer Kampf“ bevorsteht (V/3: V. 3448 – 3450). Analog: V/7: V. 3758.

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vitium est“) 45 und assoziiert den Tod mit Freiheit: „,Meditare mortem‘: qui hoc dicit, meditari libertatem iubet.“46 Der Kontrast zwischen Gefangenschaft und Freiheit weist über die individuelle Situation der inhaftierten Königin hinaus. Denn er resultiert aus zentralen Kategorien, die Schiller in seinen ästhetischen Schriften entfaltet: Die stoische Affektbewältigung, die der Dramenfigur Maria Stuart gelingt, entspricht seiner These: „das Gemüt erweitert sich nur desto mehr nach innen, indem es nach außen Grenzen findet“ (8, 438). Mit Schillers metaphorischer Aussage, der Mensch könne sich der „drückenden Gefangenschaft des physischen Lebens“ durch die Überlegenheit seiner Ideen entziehen (8, 832), korrespondiert die Situation Marias. Indem sie das Leiden an ihrer Kerkerexistenz schließlich durch ein Ethos souveräner Gelassenheit transzendiert, erscheint sie als Repräsentantin der conditio humana, die autonom zu bewältigen ist. Die andere Verhaltensvariante verwirklicht Mortimer, Marias tollkühner Verehrer. In einer durch Leicesters Intriganz für ihn ausweglos gewordenen Situation erklärt er: „Was willst du, feiler Sklav der Tyrannei? j Ich spotte deiner, ich bin frei!“ (IV/4: V. 2806 – 2807). Mit seinem Suizid will er „ein männlich Beispiel geben“ (V. 2818). Indem er im Wortsinn vir-tus beweist, repräsentiert er das stoische Ethos. Seneca betrachtet den Freitod in seinen Epistulae morales als legitimen Ausweg aus einer ansonsten aporetischen Situation.47 45 Seneca: De tranquillitate animi X,3. – Diese Universalität menschlicher Gefangenschaft erstreckt sich laut Seneca sogar auf diejenigen, die andere gebunden haben (ebd.). Hier liegt der Gedanke an Schillers Drama Maria Stuart nahe, in dem nicht nur die Protagonistin selbst unter ihrer Gefangenschaft leidet. Schiller läßt sogar die dafür verantwortliche Königin Elisabeth in einem langen Monolog bekennen: „O Sklaverei des Volksdiensts! Schmähliche j Knechtschaft – Wie bin ichs müde, diesem Götzen j Zu schmeicheln, den mein Innerstes verachtet! j Wann soll ich frei auf diesem Throne stehn!“ (IV/10: V. 3190 – 3193). – Seneca konkretisiert seine Vorstellung von Gefangenschaft, indem er ehrenvolle Ämter und Reichtum ebenso als Fesseln ansieht wie hohe oder niedrige Herkunft, fremde oder eigene Befehlsgewalt (ebd.). Analogien dazu sind in Schillers Drama Maria Stuart evident. 46 Seneca: Epist. 26,10: „,Denke an den Tod‘: wer dies sagt, fordert dazu auf, an die Freiheit zu denken.“ 47 In Epist. 77,14 exemplifiziert Seneca diese Einschätzung an einem jungen Gefangenen, der in seiner Notlage Suizid begeht, um einer unwürdigen Sklavenarbeit zu entkommen. Laut Epist. 26,10 offenbart sich im freiwillig gewählten Tod die persönliche Freiheit des Menschen: „Liberum ostium habet“ („Er hat einen freien Ausweg“).

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Wie Mortimer seinen Suizid selbst mit der Vorstellung von Freiheit und Heldenhaftigkeit assoziiert, so zeugt auch die Haltung der constantia, mit der Maria Stuart am Ende ihre Hinrichtung akzeptiert, von virtus (V/1: V. 3375 – 3380). Beide Verhaltensweisen angesichts des Todes entsprechen stoischen Maximen.48 Schiller läßt seine Protagonistin gemäß den Regieanweisungen zur Szene V/6 „mit ruhiger Hoheit“ und „festlich gekleidet“ auftreten und kurz vor ihrem Tod nicht mehr von Angst und Panik, sondern von ihrem „Triumph“ und „würd’gen Stolz“ sprechen (V/6: V. 3494, 3497).49 In diesem überraschenden Umschlag ihrer psychischen Verfassung zieht er nochmals die Register dramaturgischer Affektregie.50 So setzt er ethische Kategorien ästhetisch wirkungsvoll in Szene.

IV. In die Tradition der auf die Reinigung von Furcht und Mitleid ausgerichteten Aristotelischen Tragödientheorie, an die Lessing im 74. bis 78. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie anschließt, stellt sich Schiller, indem er die Leser und Zuschauer durch Furcht, Mitleid, Rührung und Hoffnung zu affizieren versucht – bis zur finalen Katharsis. Allerdings fallen Unterschiede zwischen der stoischen Ethik, der Kantischen Moralphilosophie und Schillers Dramentheorie auf: Während Schiller der Tragödie die Intention zuschreibt, „unser Mitleid zu erregen“ (8, 269) 51, referiert Kant affirmativ die Mitleidskritik der Stoiker, und zwar mit der Begründung, ohnmächtiges Mitleid angesichts fremden 48 Auch die stoischen Vorstellungen der firmitas animi und der magnanimitas sind in Schillers Drama Maria Stuart zu entdecken: „starke Seelen“ (V. 1374), „mit entschloßner Seele“ (V. 3407), „Der großen Seele“ (V. 1565), „Großmut“ (V. 1722, 2050, 2196, 2238, 2284, 2730, 3554). 49 Vgl. dazu den Begriff der „Würde“ in Schillers Schriften ber das Erhabene (8, 830) und ber Anmut und Wrde. 50 Zugleich folgt Schiller hier einer wirkungsästhetischen Strategie, die er als „das große Geheimnis der tragischen Kunst“ betrachtet: Um das Gemüt des Zuschauers oder Lesers dauerhaft zu fesseln, müssen seine Emotionen „periodenweise geschickt unterbrochen, ja von entgegengesetzten Empfindungen abgelöst werden“ (8, 268). Dieses Wechselbad der Gefühle, das mit den Affekten der Protagonisten korrespondiert, ermöglicht eine intensive Anteilnahme an deren Schicksal und ist ein probates Mittel gegen drohende Ermattung und Abstumpfung. 51 Wichtige Differenzierungen zur Thematik des Mitleids bietet Schillers Schrift Vom Erhabenen (8, 419 – 420).

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Schmerzes trage dazu bei, „die Übel in der Welt zu vermehren“.52 Cicero und Seneca propagieren das Ideal der Leidenschaftslosigkeit und formulieren unter dieser Prämisse auch Vorbehalte gegenüber einer Affektion durch Mitleid.53 In der Haltung seiner Protagonistin Maria Stuart gestaltet Schiller nicht nur eigene dramentheoretische Postulate poetisch aus. Außerdem greift er auf die stoische Lehre zurück, nach der die Ataraxie, die Unerschütterlichkeit der Seele, den Menschen dazu befähigt, Schicksalsschlägen mit constantia zu begegnen und sogar die Todesfurcht zu besiegen.54 In seinen Epistulae morales erklärt Seneca: „Egregia res est mortem condiscere“.55 Und er konkretisiert sein Autonomie-Konzept, demzufolge der Tod sogar als Befreiung zu verstehen ist, durch die 52 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: Akademie-Textausgabe (Anm. 5), Bd. VI: S. 457: „Es war eine erhabene Vorstellungsart des Weisen, wie ihn sich der Stoiker dachte, wenn er ihn sagen ließ: ich wünsche mir einen Freund, nicht der mir in Armuth, Krankheit, in der Gefangenschaft u. s. w. Hülfe leiste, sondern damit ich ihm beistehen und einen Menschen retten könne; und gleichwohl spricht eben derselbe Weise, wenn sein Freund nicht zu retten ist, zu sich selbst: was gehts mich an? d. i. er verwarf die Mitleidenschaft. In der That, wenn ein Anderer leidet und ich mich durch seinen Schmerz, dem ich doch nicht abhelfen kann, auch (vermittelst der Einbildungskraft) anstecken lasse, so leiden ihrer zwei; obzwar das Übel eigentlich (in der Natur) nur Einen trifft. Es kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren, mithin auch nicht aus Mitleid wohl zu thun; wie dann dieses auch eine beleidigende Art des Wohlthuns sein würde […]“. – Mit einer auffallend ähnlichen Formulierung erklärt Nietzsche: „Das Mitleiden […] vermehrt das Leiden in der Welt“ (Nietzsche: Morgenrçthe, in: Kritische Studienausgabe [Anm. 3], Bd. 3: S. 127 – 128). 53 Cicero konstatiert, dem Weisen sei sowohl Neid als auch Mitleid fremd. Vgl. Tusc. III,21: „non cadit autem invidere in sapientem; ergo ne misereri quidem. […] abest ergo a sapiente aegritudo.“ In Tusc. IV,59 empfiehlt Cicero Heilmethoden gegen verschiedene Arten von Leidenschaften oder Kummer, auch gegen das Mitleid („alia est enim lugenti, alia miseranti aut invidenti adhibenda medicina“). Auch Seneca formuliert Vorbehalte gegenüber dem Mitleid; vgl. De tranquillitate animi XV,5: „alienis malis torqueri aeterna miseria est“ („sich von fremdem Unglück quälen zu lassen, ist endloses Elend“). Vgl. auch XVI,4. 54 Dafür finden sich in der stoischen Tradition zahlreiche Belege. Cicero setzt sich vor allem im ersten Buch seiner Tusculanen intensiv mit der Problematik der Todesfurcht auseinander. Seneca empfiehlt geradezu die Verachtung des Todes (Epist. 36,8 und 78,5: „contemne mortem“). In Epist. 45,9 würdigt er das naturgemäße Leben eines Menschen, der unerschütterlich, unerschrocken ist („inconcussus, intrepidus“), so daß die Geschosse des Schicksals an ihm abprallen. 55 Seneca: Epist. 26,9: „Eine großartige Sache ist es, den Tod zu lernen.“

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Vorstellung, so könne der Mensch der Gefangenschaft entkommen.56 Ähnlich argumentiert Schiller in seiner Abhandlung ber das Erhabene: Der Mensch sei imstande, sich „der drückenden Gefangenschaft des physischen Lebens“ durch die Überlegenheit seiner Ideen zu entziehen (8, 832). In seiner Schrift ber das Pathetische rekurriert er bezeichnenderweise auf Senecas Maxime ,fortunae resistere‘, auf die Vorstellung einer „Seelenstärke“, die den Widerstand gegen das Schicksal erleichtert: „Ein tapfrer Geist, im Kampf mit der Widerwärtigkeit, sagt Seneka [sic], ist ein anziehendes Schauspiel selbst für die Götter“ (8, 440). Die Zielsetzung, negative Erfahrungen wie Schmerz und Todesfurcht souverän zu bewältigen, entspricht Senecas Ideal. Schiller verbindet es mit dem Kantischen Autonomiepostulat, das Grundprinzipien der Aufklärung folgt. Rückblickend läßt sich festhalten, daß Schiller mit der wirkungsästhetisch reflektierten Affektregie des Trauerspiels Maria Stuart eine ethische Intention verfolgt. Sie zeigt auch, in welchem Maße die dramentheoretische Programmatik hier in die poetische Praxis hineinwirkt. Die ästhetischen Konzepte seiner Abhandlung ber das Pathetische setzt Schiller in Szene, indem er die für den Tragödiendichter obligatorische „Darstellung des Leidens“ (8, 423) konsequent an seiner Protagonistin Maria Stuart vorführt: durch die Gefangenschaft der schottischen Königin ebenso wie durch ihre Todesfurcht. Auch die dramatische Inszenierung „des moralischen Widerstandes gegen das Leiden“ (8, 426) ist in diesem Trauerspiel paradigmatisch verwirklicht. In der Schlußpartie gelingt es Maria Stuart, „Preis zu geben mit Würde“, was sie „nicht retten kann“ (8, 836). So entspricht ihr Verhalten der stoischen Auffassung, es sei am besten, sich mit schicksalhaften Umständen zu arrangieren („Optimum est pati quod emendare non possis“).57 Laut Schiller kann der Mensch eine der Würde des animal rationale entsprechende „Autonomie“ seiner „Willensbestimmungen“ (8, 437) auch angesichts drohender Gewalt aufrechterhalten: entweder dadurch, daß er sich die Herrschaft über die psychophysische Natur erkämpft, oder dadurch, daß er die Gewalt, die er 56 Seneca: Epist. 26,10: „Qui mori didicit, servire dedidicit: supra omnem potentiam est, certe extra omnem. Quid ad illum carcer et custodia et claustra? Liberum ostium habet“ („Wer es gelernt hat, zu sterben, hat es verlernt, Sklave zu sein: er steht über aller Macht, gewiß außerhalb aller Macht. Was [vermögen] Kerker, Gefangenschaft und Riegel gegen ihn? Er hat einen freien Ausweg“). 57 Seneca: Epist. 107,9. Analog: De tranquillitate animi XIV,1.

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„erleiden muß“, akzeptiert und sich ihr „freiwillig [zu] unterwerfen“ beschließt (8, 823). Letzteres trifft auf Maria Stuart zu, die im fünften Akt des Dramas die Sphäre des Erhabenen erreicht.58 Schiller beschreibt das „Gefühl des Erhabenen“ als ein durch divergierende Einstellungen zu ein und derselben Situation bedingtes „gemischtes Gefühl“ (8, 826). Durch diese Empfindung werde dem Menschen bewußt, daß er „ein selbstständiges Prinzipium“ in sich hat, „welches von allen sinnlichen Rührungen unabhängig ist“ (8, 827).59 Die schon von Kant in der Kritik der Urteilskraft beschriebene fundamentale Ambivalenz im Bewußtsein des Subjekts übernimmt Schiller wenige Jahre später für seine dramentheoretischen Schriften.60 Das 58 Mit dieser Konstellation läßt sich gegen eine These Alts argumentieren, der in Maria Stuart „kein Exempel für den erhabenen Widerstand gegen eine äußere Zwangslage“ zu sehen vermag und die Auffassung vertritt, daß sie sich in Schillers Drama „nicht als erhabener Charakter im Kampf mit den Widrigkeiten des Lebens, sondern als schöne Seele profiliert“, die am Ende einer „symbolischen Verherrlichung“ entgegengeht. Vgl. Peter-André Alt (Anm. 2), Bd. 2: S. 506 – 508. 59 Zu diesem „idealistischen Schwung des Gemüts“ vermag sich der Mensch – gemäß Schillers Schrift ber das Erhabene – zu entwickeln, wenn „in seiner sinnlich vernünftigen, d. h. menschlichen Natur eine sthetische Tendenz dazu vorhanden ist“ (8, 824). Der Übermacht der Natur oder den nicht zu bewältigenden Zwängen sozialer Gewaltverhältnisse kann der Mensch entgehen, wenn er zu einer „Läuterung seiner Gefühle“ fähig ist; dazu benötigt er „eine größere Klarheit des Denkens und eine höhere Energie des Willens“, als ihm normalerweise zu Gebote steht (8, 824). Vgl. dazu ergänzend die Schrift Vom Erhabenen (8, 403), in deren Schlußteil Schiller auch auf das Pathetischerhabene eingeht (8, 418 – 422). 60 Schillers Schrift Vom Erhabenen (8, 395 – 422) trägt sogar den Untertitel Zur weitern Ausfhrung einiger Kantischer Ideen; die Terminologie Kants, der zwischen dem Mathematisch-Erhabenen und dem Dynamisch-Erhabenen differenziert, ersetzt Schiller durch die Unterscheidung zwischen dem Theoretisch-Erhabenen und dem Praktisch-Erhabenen (8, 396). Kant stellt in seiner Kritik der Urteilskraft von 1790 das Naturerhabene in den Vordergrund und thematisiert die Dichtkunst nur en passant. Eine Theorie der Tragödie als des Kunsterhabenen par excellence, die bei Kant noch fehlt, arbeiten Schiller und Schopenhauer mit jeweils spezifischer Schwerpunktsetzung aus. Sie übernehmen aus Kants Theorie über das Gefühl des Erhabenen die Ambivalenz des erhabenen Bewußtseins und transponieren sie in ihre Konzepte des Tragischen. Dabei zeichnen sich in mehrfacher Hinsicht Analogien zwischen Schiller und Schopenhauer ab: Beide exponieren den Willen als zentrale Instanz (wenngleich mit unterschiedlichen Implikationen), beide erblicken in der naturalen Wirklichkeit und im historischen Prozeß ein konfliktträchtiges Chaos, und beide stellen die Relation von Leiden und Mitleid ins Zentrum ihrer Überlegungen. Im Un-

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Ethos des Erhabenen korreliert er mit der moralischen „Resignation in die Notwendigkeit“ und mit einer religiösen „Ergebung in den göttlichen Ratschluß“ (8, 824). Beides ist auch für Maria Stuart relevant. Auf paradigmatische Weise repräsentiert sie Schillers Auffassung, das Erhabene reiße den „gefesselten Geist“ „plötzlich und durch eine Erschütterung“ aus sinnlichen Verstrickungen und ermögliche ihm dadurch „ein Gefühl seiner Würde“ (8, 830). Denn Maria Stuarts mentale Veränderung wird im letzten Akt des Dramas als innerer Aufschwung charakterisiert, der sich „Mit Einem Mal, schnell augenblicklich“ vollzieht (V/1, V. 3403). Auch die Vorstellung, daß der Mensch durch Leiden „eine übertretene Pflicht moralisch bßt“ (8, 441) und dadurch zum „Erhabenen der Handlung“ gelangt, hat Schiller in seinem Trauerspiel realisiert: Im Beichtgespräch, das Melvil mit Maria Stuart führt, stellt sich heraus, daß man die Todesstrafe wegen Hochverrats zu Unrecht über sie verhängt hat. Auf Melvils Frage: „So steigst du, überzeugt j Von deiner Unschuld, auf das Blutgerüste?“ antwortet sie, auf ihre Verwicklung in den Gattenmord anspielend: „Gott würdigt mich, durch diesen unverdienten Tod j Die frühe schwere Blutschuld abzubüßen“ (V/7, V. 3733 – 3736). Vom „ganz verwerflichen und dem vollkommenen“ Verhalten gleichermaßen weit entfernt, entspricht die Figur Maria Stuart der mit Aristoteles’ und Lessings Dramentheorie übereinstimmenden Auffassung Schillers, der „tragische Dichter“ solle „den gemischten Charakteren den Vorzug“ geben (8, 273).61 Am Ende vermag terschied zu Schillers dualistischem Konzept von Sinnlichkeit und Vernunft, von Natur und Freiheit, das den Prämissen von Kants Transzendentalphilosophie folgt, propagiert Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung allerdings einen monistischen Voluntarismus. Und aus der Universalität des Leidens leitet er im Rahmen seiner pessimistischen Willensmetaphysik Konsequenzen ab, die sich von Schillers Konzept fundamental unterscheiden. – Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Ethische Aspekte einer sthetik des Tragisch-Erhabenen. Zur Dramentheorie Schillers und Schopenhauers, in: Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling), hg. von Lore Hühn, Würzburg 2006 (Studien zur Phänomenologie und praktischen Philosophie Bd. 1), S. 265 – 280. 61 Dieses Konzept Schillers entspricht Lessings Postulat des mittleren Charakters im 74. Stück der Hamburgischen Dramaturgie, das den Prämissen der Aristotelischen Poetik folgt: Laut Aristoteles (Poetik, 13) soll in der Tragödie jemand ins Unglück geraten, der dem Zuschauer ähnlich ist, und zwar durch einen Fehler (hamartia). Im Anschluß an die Aristotelische Poetik postuliert Lessing einen Charakter, der „unsers gleichen“ (ebd. [vgl. Anm. 41], S. 576), ja der „mit uns von gleichem Schrot und Korne“ ist (ebd., S. 580 – 581). Nachweislich setzte

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sich die schottische Königin aus ihrer Schuldverfallenheit und aus ihrer Leidenssituation zu lösen. So kann sie sich über alle irdischen Verstrickungen erheben und eine innere Autonomie gewinnen, die sie in die Sphäre des Erhabenen entrückt. Die durch Befreiung von Emotionen und Zwängen aller Art gewonnene Souveränität entspricht allerdings nicht nur der stoischen Philosophie der Affektüberwindung. Im letzten Akt des Trauerspiels verbindet Schiller das Ethos der Ataraxie und Autarkie auch mit einer religiösen Aura, die er opernhaft inszeniert. Darauf reagierten schon manche Zeitgenossen mit Befremden.62 Durch die Synthese von stoisich Schiller während der Konzeption seines Trauerspiels Maria Stuart intensiv mit Lessings Hamburgischer Dramaturgie und mit der antiken Tragödie auseinander. Das dokumentiert z. B. ein auf den 4. Juni 1799 datierter Brief Schillers an Goethe, in dem er die Klarheit und Urteilsschärfe Lessings außerordentlich positiv bewertet. Vgl. dazu Christian Grawe: Friedrich Schiller. Maria Stuart. Erluterungen und Dokumente, Stuttgart 1999, S. 100 – 101. – Im Hinblick auf die Stoizismus-Rezeption sind allerdings gravierende Differenzen zwischen Schiller und Lessing festzustellen: Während Schiller in seinen ästhetischen Schriften stoische Ideale adaptiert und sie auch konkret in seinem Drama Maria Stuart verwirklicht, erklärt Lessing in seiner Schrift Laokoon: oder ber die Grenzen der Malerei und Poesie, stoische Affektbeherrschung sei auf der Bühne wirkungsästhetisch kontraproduktiv: „Alles Stoische ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist allezeit dem Leiden gleichmäßig, welches der interessierende Gegenstand äußert“ (Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder ber die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, 8 Bände, München 1970 – 79. Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, hg. von Albert von Schirnding, München 1974, S. 7 – 187, hier S. 16). Für „untheatralisch“ hält Lessing das stoische Ethos, weil es bei einer Drameninszenierung empathische Reaktionen des Zuschauers eher blockiert als fördert. Das Mitleid der Rezipienten entspricht jeweils der Intensität des Leidens, das die Schauspieler auf der Bühne darstellen. – Vgl. auch Barners instruktive Darlegungen zu Lessings Laokoon in: Wilfried Barner, Gunter Grimm, Helmuth Kiesel, Martin Kramer: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. 4. Aufl. München 1981. S. 229 – 238. Zu Lessings Vorbehalt gegenüber einer stoischen Grundierung des Dramas vgl. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973. S. 86 – 87. Vgl. im Anhang Lessings Frühschrift Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind aus dem Jahre 1754; hier postuliert Lessing „starke Schilderungen von Leidenschaften […] in den Trauerspielen“, die entsprechende Emotionen auch im Zuschauer erregen sollen (S. 121). 62 Vgl. dazu den Kommentar in FA 5, S. 560 – 563, der eine Rezension der Erstausgabe von 1801 zitiert. Auch Goethe kritisiert den „kühne[n] Gedanke[n] eine Kommunion aufs Theater zu bringen“; vgl. dazu den Kommentar in FA 5, S. 572. Körner hingegen sieht keinen Grund, „religiose Gegenstände vom Gebiete der dramatischen Kunst auszuschließen“ (FA 5, S. 573). – Port deutet

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scher Haltung, Kantischem Freiheitsideal und katholischer Religiosität erreicht Schiller am Ende des Dramas eine ästhetische Intensivierung, die sein Konzept des Erhabenen noch potenziert. Vor allem findet die Souveränität, die Maria vor ihrer Hinrichtung gewinnt, in der majestätischen Würde ihres Auftretens Ausdruck. Ein dramaturgisch wohlkalkuliertes Schlußtableau kontrastiert Marias Katharsis mit Elisabeths Schuldverfallenheit. Den Antagonismus zwischen den Königinnen gestaltet Schiller im Verlauf des Trauerspiels sukzessive um, bis es am Ende sogar zu einer Inversion der Asymmetrie zwischen der gefangenen Maria und der mächtigen Königin Elisabeth kommt. Obwohl das Todesurteil, das Maria Stuart von Anfang an drohte, im fünften Akt tatsächlich vollstreckt wird, schreibt Schiller am Schluß gerade ihr die souveräne Position zu. Im Unterschied zu Elisabeth, die nur mit Mühe die Contenance zu wahren vermag, als sie nach der Hinrichtung der Rivalin isoliert zurückbleibt (V/11, V/15), agiert die seelisch gereifte Maria, die nun zu stoischer Affektkontrolle fähig ist, in einem von Sympathie und Mitgefühl bestimmten sozialen Umfeld. Schiller arbeitet diesen Kontrast psychologisch differenziert heraus. Seiner Vorliebe für Antithesen in den ästhetischen Schriften entspricht die Tendenz, in den Dramen polare Konstellationen zu schaffen: So grenzt er die stoische Ruhe der schottischen Königin vor ihrer Hinrichtung deutlich von der emotionalen Erschütterung ihrer Gefolgsleute ab. Nachdem Maria Stuart einen tiefreichenden Entwicklungsprozeß durchlaufen hat63, erhebt Schiller den Begriff ,Freiheit‘ sogar zum Zentralbegriff des Monologs, den sie in der Szene V/6 vor ihrem Gang zur Hinrichtung spricht. So entsteht ein symptomatischer Kontrast zu Schillers Rückgriff auf „die geballte Suggestivität katholischer Bildrhetorik“ als Versuch, diese Tradition mit seinem „idealistischen Pathoskonzept“ zu verbinden und „als Theatralitäts-Verstärker einzusetzen.“ Vgl. Ulrich Port (Anm. 23), S. 151, 156. 63 Guthke geht der Frage nach, ob man Marias ,Wandlung‘ als „Prozeß“ oder als „einen plötzlichen, erleuchtungsartigen Durchbruch“ zu verstehen hat – analog zur „plötzliche[n]“ „Aufhebung alles sinnlichen Interesse[s]“, wie sie Schiller in seiner Schrift ber das Erhabene thematisiert. Durch eine Analyse des fünften Aktes gelangt Guthke zu der Auffassung, Maria erscheine an mehreren Stellen als Gewandelte. Allerdings seien ihre „Aufschwünge“ von „fragiler Natur“; so werde die stete Gefahr des „Rückfalls“ bewußt gehalten, die selbst dem „edelsten“ Menschen drohe (Karl S. Guthke: Maria Stuart. Drama der inneren Handlung und Doppeltragçdie, in: Schiller-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1998, S. 415 – 441, hier S. 428, 439 f.).

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der Unfreiheit, die Elisabeth zuvor in ihrem Entscheidungsmonolog beklagt hat (IV/10).64 Während sie sich inmitten ihrer Untergebenen von der Meinung anderer abhängig, also heteronom fühlt, gewinnt die schottische Königin am Ende Autonomie und souveräne Gelassenheit. Ihre Freiheit hat absoluten Charakter. Denn Maria Stuart löst sich nun innerlich aus allen Zwängen, denen sie vor allem durch ihre Gefangenschaft, aber auch durch ihre sinnliche Konstitution unterworfen war. Im Sinne stoischer Affektkontrolle vermag sie ihre emotionalen Turbulenzen angesichts des ihr drohenden Schicksals zu überwinden. Obwohl sie sich einer feindlichen Macht ausgeliefert weiß, verwirklicht sie „die Autonomie“ ihrer „Willensbestimmungen“ (8, 437), die Schiller analog zur stoischen Philosophie in seiner Schrift ber das Pathetische postuliert. Der letzte Akt des Trauerspiels weist eine besondere Affinität zu der stoisch grundierten Dramentheorie Schillers auf. In seiner Schrift ber das Pathetische konstatiert er, die Poesie könne den Menschen „zum Helden […] erziehn“ und ihn „zu allem, was er sein soll, […] mit Stärke ausrüsten“ (8, 449). Als bloß imaginiertes „künstliches Unglück“ eigne sich das „Pathetische“ dazu, eine Haltung einzuüben, die es ermöglicht, auch reales Leiden in erhabener Souveränität zu bewältigen (8, 837).65 Dazu sei es notwendig, „der Macht der Natur zu widerstehen“, indem 64 Vor dem Hintergrund von Schillers These „der Mensch ist das Wesen, welches will“ (8, 822) gewinnt Shrewsburys Appell an Elisabeth „Sobald du willst, in jedem Augenblick j Kannst du erproben, daß dein Wille frei ist“ (II/3: V. 1332 – 1333), besonderes Gewicht. Indem Elisabeth vorgibt, durch die politischen Umstände determiniert zu sein, negiert sie für ihre Person gerade das, was Schiller als das „Prärogativ“ des Menschen postuliert: die Freiheit des Willens. Vgl. auch 8, 823: „Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behülflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen […], seinen Willen zu behaupten“. 65 Schiller argumentiert hier mit einer Surrogatfunktion des Ästhetischen: „Das Pathetische ist ein künstliches Unglück“, das „uns in voller Rüstung“ findet, während „das wahre Unglück […] uns oft wehrlos“ macht (8, 837). Von entscheidender Bedeutung ist also ein Trainingseffekt, der sich im Umgang mit imaginiertem Unglück einstellt. Durch Antizipation realen Leidens können auf diese Weise autotherapeutische Verhaltensweisen für den Ernstfall erarbeitet werden. Nach Schillers idealistischer Vorstellung lernt der Mensch durch die mentale Auseinandersetzung mit künstlichen Katastrophen sogar das reale Unglück „als ein künstliches zu behandeln, und, der höchste Schwung der Menschennatur! das wirkliche Leiden in eine erhabene Rührung aufzulösen“ (8, 837).

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man ihr „durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesse[s]“ zuvorkomme (8, 836). Auf paradigmatische Weise entspricht Schillers Trauerspiel Maria Stuart seiner Ästhetik. In der Konfrontation der Königinnen demonstriert er seine Überzeugung, „die tragische Kunst“ mache uns mit gefährlichen Konstellationen vertraut: durch „die pathetischen Gemälde der mit dem Schicksal Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des Glücks, […] der triumphierenden Ungerechtigkeit und der unterliegenden Unschuld“ (8, 838). Indem „die tragische Kunst“ auf historische Beispiele zurückgreift und sie ästhetisch gestaltet (8, 838), verfolgt sie den ethischen Zweck, die Leser oder Zuschauer auf die Bewältigung ähnlicher Situationen in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit vorzubereiten. Dieses Konzept stimmt mit den Dramentheorien überein, die Katharsis als stoisches Abhärtungsprogramm verstehen. Bereits Marc Aurel betont, die Einführung der Tragödien habe ursprünglich dem Zweck gedient, an die im Leben möglichen Unglücksfälle zu erinnern und den Menschen bewußt zu machen, daß ihnen die Ereignisse, die sie im Theater miterleben, auf dem großen Welttheater nicht unerträglich erscheinen sollen.66 Auch Seneca empfiehlt in den Epistulae morales eine solche mentale Vorbereitung auf den schicksalhaften Ernstfall.67 Indem der Dramatiker die Leidenserfahrungen seiner Figuren vor dem geschichtlichen Horizont gestaltet, schafft er einen spezifischen Zusammenhang zwischen Lebensrealität und tragischer Fiktion, allerdings ohne dabei den „poetischen Zweck“ der „historische[n] Wahrheit“ unterzuordnen (8, 272), wie Schiller mit einer Anspielung auf die Aristotelische Poetik feststellt.68 Seine von ethischem Anspruch und 66 Vgl. Marc Aurel: Selbstbetrachtungen XI, 6. – Neben Cicero und Seneca gehörte auch Marc Aurel zu den antiken Autoren, deren Lektüre während Schillers Ausbildung an der Karlsschule üblich war (vgl. im Anschluß an Riedel auch Peter-André Alt [Anm. 2], Bd. 1: S. 113). 67 Seneca: Epist. 18,8: „Exerceamur ad palum et, ne inparatos fortuna deprehendat, fiat nobis paupertas familiaris“ („Üben wir uns am Pappkameraden, und damit uns das Schicksal nicht unvorbereitet überrasche, werde uns die Armut vertraut“). Armut kann man hier als pars pro toto für Entbehrungen und Leiden aller Art verstehen. 68 Aristoteles grenzt in Abschnitt 9 seiner Poetik die Aufgabe des Dichters von der des Historikers ab; er hält die Dichtung für ,philosophischer‘ als die Geschichtsschreibung. Denn sie rede vom Allgemeinen, nicht vom Besonderen, und zwar von dem, was möglich wäre, nicht bloß von dem, was faktisch einmal geschehen ist.

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wirkungsästhetischen Kriterien bestimmte Dramaturgie zielt auf die Einsicht, daß Autonomie nur in der Auseinandersetzung mit naturalen Impulsen und geschichtlichen Verstrickungen zu erringen sei. Dieses Konzept ist durch stoische und aufklärerische Freiheitsvorstellungen grundiert. Schiller hat das Trauerspiel Maria Stuart analog zu seinen moralphilosophischen und anthropologischen Theorien gestaltet, ihm zugleich aber eine ästhetische Intention eingeschrieben, die einen Kontrast zum Duktus der zuvor entstandenen Wallenstein-Trilogie schafft. Nachdem die Buchausgabe des Wallenstein erschienen war, sprach Hegel prägnant von einem „schweigenden und tauben, toten Schicksal“, das dem Leser nur noch ein „trauriges Verstummen“ lasse.69 Am stärksten tritt die Gegensätzlichkeit der beiden Dramen in den Schlußpartien hervor: Wallenstein wird im Schlaf ermordet, Maria Stuart akzeptiert ihre Hinrichtung bewußt, und zwar mit einer stoischen Haltung, die zugleich Schillers Ästhetik des Erhabenen entspricht. Im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit der Dramen ist ein Brief aufschlußreich, in dem Schiller seine literarischen Absichten reflektiert. Zu Beginn der Arbeit am Wallenstein schrieb er am 21. März 1796 an Wilhelm von Humboldt: „Vordem habe ich wie im Posa und Carlos die fehlende Wahrheit durch schöne Idealität zu ersetzen gesucht, hier im Wallenstein will ich es probieren, und durch die bloße Wahrheit für die fehlende Idealitaet (die sentimentalische nehmlich) entschädigen“.70 Im Prozeß dramatischen Experimentierens markiert Maria Stuart das Stadium, in dem Schiller diese prinzipielle Opposition auflöst. Nun versucht er zwischen den Dimensionen des Realen und des Idealen zu vermitteln, indem er die leidensvolle Wirklichkeit seiner Protagonistin inszeniert, um sie am Ende in ein stoisch-erhabenes Ethos zu überführen: als Ausdruck einer spezifischen Idealität.

69 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bnden. Bd. 1: Frhe Schriften. Frankfurt a.M. 1971, S. 618. 70 Dieses Dokument findet sich im zweiten Briefband der FA: 12, 161.

Stoischer Pantheismus als Medium des Säkularisierungsprozesses und als Psychotherapeutikum um 1800: Hölderlins Hyperion von Jochen Schmidt Schon aufgrund ihres heraklitischen Erbes war die Stoa pantheistisch. Heraklits Feststellung, daß „Alles Eins sei“1, seine naturphilosophische Grundposition, der Kosmos sei ungeschaffen und folge ewig nur seiner immanenten Gesetzlichkeit2, lebte fort in der stoischen Vorstellung von der Allnatur, der v¼sir t_m fkym, und vom Logos, der sie als Naturgesetzlichkeit, als Nomos durchwaltet. Spezifisch pantheistische Züge erhielt dieses Konzept in der Antike immer dann, wenn die kosmische Allnatur als Gottheit und das Naturgesetz als göttlich aufgefaßt wurden. Das gilt schon für Zenon, den Begründer der Stoa3, und für seinen Schüler Kleanthes. In seinem berühmten, bei Stobaeus überlieferten 1 2 3

Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Elfte Auflage, hg. von Walther Kranz. Bd. 1, Zürich/Berlin 1964, S. 161, Frg. 50 (künftig: Diels/Kranz). Vgl. Frg. 10. Frg. 30. Stoicorum Veterum Fragmenta (künftig: SVF), collegit Ioannes ab Arnim, Vol. IIV, Stuttgart 1978 – 1979 (Neudruck der Erstausgabe von 1903 – 1905). SVF I, Nr. 85: „[…] den Logos: den Gott“ – kºcom t¹m heºm ; Cicero, De natura deorum I 36 (SVF I, Nr. 162): „Zeno stellt fest, das Naturgesetz sei göttlich“ – „Zeno naturalem legem divinam esse censet“. Lactantius, De vera sapientia, c. 9 (SVF I, Nr. 160): „Zeno bezeichnet den Ordner der Naturverhältnisse und den Gestalter des Alls als Logos, den er auch Schicksal und (Natur-)Notwendigkeit und Gott und Geist des Zeus nennt“ – „Zeno rerum naturae dispositorem atque artificem universitatis k|com praedicat, quem et fatum et necessitatem rerum et deum et animum Iovis nuncupat“. Vgl. Diogenes Laërtius VII 88 (SVF I, Nr. 162): „Der gemeinsame Nomos, welcher der richtige Logos ist, der alles durchwaltet, identisch mit Zeus, dem Herrscher über die Ordnung des Seienden“ – b mºlor b joimºr, fspeq 1st·m b aqh¹r kºcor, di± p²mtym 1qwºlemor b aqt¹r £m t` Di¸, jahgcelºmi to¼t\ t/r t_m emtym dioij¶seyr emti ; Diogenes Laërtius VII 148 (SVF I, Nr. 163): „Zenon nennt den ganzen Kosmos und den Himmel: Wesen der Gottheit“ – oqs¸am d³ heoO F¶mym l´m vgsi t¹m fkom jºslom ja· t¹m oqqamºm.

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Zeushymnos setzt Kleanthes Zeus mit der Allnatur und dem sie bestimmenden Logos und Nomos gleich.4 Ciceros Schrift De natura deorum, die wie alle seine Werke im europäischen Traditionsprozeß von größter Bedeutung war (Hölderlin hörte sogar eine Vorlesung über sie), faßt an einer Schlüsselstelle die pantheistische Lehre des Kleanthes folgendermaßen zusammen: „Kleanthes aber, der bei Zenon hörte, […] sagt bald, die Welt selbst sei Gott, bald erkennt er diesen Namen dem Geist und der Seele der Allnatur zu, bald urteilt er, daß das äußerste und höchste, überall sich ausbreitende, alles ganz und gar umgebende und in sich aufnehmende Feuerelement, das Äther genannt wird, der eigentlichste Gott sei“.5 Trotz einer ganzen Reihe analoger Aussagen in der stoischen Überlieferung6 gibt es keine zweite derart prägnante Definition des stoischen Pantheismus, keine zweite auch konzentriert so sehr die wesentlichen Elemente, die Hölderlin aus der antiken Tradition in die Vorstellungswelt seiner Dichtung übertrug: den Grundgedanken von der Göttlichkeit der Welt und damit die monistische Abwehr der schon von Heraklit als Volksaberglauben verachteten Vorstellung von einem jenseitigen Gott, der die Welt geschaffen hat und als Weltherrscher das Geschehen in ihr bestimmt; den Begriff einer göttlichen Allnatur; den Preis des Äthers (in der griechischen Wortbedeutung „der Feurige“, 4

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Hierzu: Ernst Neustadt: Der Zeushymnos des Kleanthes, in: Hermes 66, 1931, S. 387 – 401; Max Pohlenz: Kleanthes’ Zeushymnus, in: Hermes 75, 1940, S. 117 – 123; Kurt Sier: Zum Zeushymnos des Kleanthes, in: Beitrge zur hellenistischen Literatur und ihrer Rezeption in Rom, hg. von Peter Steinmetz (Palingenesia 28), Stuttgart 1990, S. 93 – 108. Weitere Literatur in: Grundriß der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg. Die Philosophie der Antike, Bd. 4,2, hg. von Hellmut Flashar: Die hellenistische Philosophie, von Michael Erler, Hellmut Flashar, Günther Gawlick, Waldemar Görler, Peter Steinmetz, Basel 1994, S. 582 f. „Cleanthes autem, qui Zenonem audivit […] tum ipsum mundum deum esse dicit, tum totius naturae menti atque animo tribuit hoc nomen, tum ultimum et altissimum atque undique circumfusum et extremum omnia cingentem atque complexum ardorem, qui aether nominatur [ich folge hier der Konjektur – statt „nominetur“], certissimum deum iudicat“ (Cicero: De natura deorum I 37; SVF I, Nr. 530). Vgl. Seneca, De beneficiis 4, 7, 1: „Was ist die Natur anderes als Gott und die göttliche Ratio, die der Welt im Ganzen und in ihren Teilen eingegeben ist“ – „quid enim aliud est natura quam deus et divina ratio toti mundo partibusque eius inserta“. Zahlreiche weitere Stellen im Kommentar zu: M. Tulli Ciceronis De natura deorum, edited by Arthur Stanley Pease, Cambridge/Mass. 1955, S. 257 (zu I 37).

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„Brennende“ Heraklits Feuerlehre aufnehmend) als der reinen und sublimen Elementarform dieser Allnatur, weshalb der Äther markant superlativisch auch als höchste Manifestation des Göttlichen gilt. Noch der Kirchenschriftsteller Laktanz resümiert: „Cleanthes et Anaximenes aethera dicunt esse summum deum“.7 Ohne diese spezifisch pantheistische Vorgeschichte wäre Hölderlins pantheistische Dichtung nicht denkbar – von der im Hyperion wörtlich beschworenen „Göttlichkeit der Welt“ über die Bezeichnung der Natur als der alles, auch alle Gegensätze umfassenden „Gottheit“ bis hin zum Preis des Äthers. Dieser Ätherpreis erhebt sich immer wieder bis zum Hymnischen und entspricht damit der pantheistischen Überlieferung der Antike, in welcher der Äther das „Summum“ repräsentiert. Dies gilt für die Hexameterhymne An den ther und den Ätherhymnus im Hyperion, der als lyrischer Roman zwischen elegischer und hymnischer Tonlage wechselt, ebenso wie für die hymnisch gesteigerten Anrufungen des Äthers in der im Jahre 1800, also ein Jahr nach Abschluß des Hyperion entstandenen Elegie Brot und Wein und im ungefähr gleichzeitigen großen Hexameterhymnus Der Archipelagus. Doch erhält diese intensive Rezeption antik-stoischer Elemente in Hölderlins Dichtung fern allem nur bildungshaften oder lediglich historisierenden Verfahren ihren aktuellen Sinn erst im Zusammenhang der zeitgenössischen pantheistischen Strömung im Zeichen Spinozas und vor dem Hintergrund des Aufklärungsprozesses im 18. Jahrhundert. Eine Grundtendenz der Aufklärung war die Ablösung der Transzendenz durch Immanenz: eines vermeintlich von einer jenseitigen göttlichen Instanz und Autorität geschaffenen Kosmos durch eine diesseitige, naturhaft begründete, empirisch zu erfassende und vernünftig organisierte Weltordnung. In diesem Aufklärungszusammenhang gewann Spinozas pantheistische Grundkonzeption „deus sive natura“ ihre überragende Bedeutung für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus, so daß Heine später den spinozistischen Pantheismus zu Recht als die Religion der Gebildeten bezeichnen konnte. Der bekannte Spinozismusstreit8, der die Geister so heftig bewegte wie sonst kaum eine zeitgenössische Kontroverse, markiert die Bruchlinie zwischen der 7 8

Inst. I 5; vgl. SVF I, Nr. 534. Vgl. Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, hg. und mit einer kritischen Einleitung versehen von Heinrich Scholz (= Neudrucke seltener philosophischer Werke, hg. von der Kantgesellschaft, Bd. VI). Berlin 1916.

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religiösen Tradition und einer im Medium des Pantheismus an den Grundfesten des alten Glaubens rüttelnden Aufklärung. Schon der junge Goethe bekannte sich zu Spinoza, und er hielt bis ins Alter an dieser Überzeugung fest. Anläßlich der Provokation, welche die – unautorisierte – Veröffentlichung von Goethes Prometheus-Ode durch Jacobi darstellte, von der Goethe später in Dichtung und Wahrheit schrieb, sie habe zum „Zündkraut einer Explosion“ gedient9 – anläßlich dieser Provokation erklärte sich alsbald Lessing als Anhänger des Pantheismus. Und als Hölderlin während seiner Studienzeit im Tübinger Stift nicht nur Kants Aufklärungsdenken so sehr als geistige Befreiungstat empfand, daß er ihn den „Moses unserer Nation“ nannte10, sondern sich auch mit Spinoza und dem Spinozismusstreit intensiv beschäftigte11, bot sich ihm der Pantheismus als Königsweg aus einer nicht mehr plausiblen Orthodoxie an. Da er als Theologe zugleich die existentielle Konsequenz im Hinblick auf den für ihn vorgesehenen Beruf zog, erhielt der Pantheismus und die sich in diesem Medium vollziehende Abwendung von der weltanschaulichen Herkunftswelt für ihn eine singuläre, ja leidenschaftliche Intensität. Aus dieser lebendigen Motivation griff er die Vorstellungsmuster und Chiffren des antiken Pantheismus auf, wie er sie bei Heraklit und in der stoischen Überlieferung fand. Insofern handelt es sich nicht um ein eklektizistisches, vielmehr um ein einheitlich konzipiertes, auch den Diskurs-Zusammenhang des zeitübergreifenden pantheistischen Denkens bis hin zu Spinoza reflektierendes Verfahren. Es entfaltet sich in der Dichtung zwischen 1795 bis 1800 und findet im Hyperion seinen am weitesten ausgreifenden und differenziertesten Ausdruck.

9 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M. 1986, S. 696 ( Johann Wolfgang Goethe: Smtliche Werke. Briefe, Tagebcher und Gesprche. Vierzig Bände, I. Abteilung: Smtliche Werke, Bd. 14). 10 Brief an den Bruder vom 1. Januar 1799, in: Friedrich Hölderlin: Die Briefe. Briefe an Hçlderlin. Dokumente, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992, S. 331 (Friedrich Hölderlin: Smtliche Werke und Briefe in drei Bnden, hg. von Jochen Schmidt, Bd. 3). 11 Friedrich Hölderlin: Zu Jakobis Briefen ber die Lehre des Spinoza, in: Friedrich Hölderlin: Hyperion, Empedokles, Aufstze, bersetzungen, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt 1994, S. 492 – 495 (Friedrich Hölderlin: Smtliche Werke und Briefe in drei Bnden, hg. von Jochen Schmidt, Bd. 2).

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Die Vorrede zur vorletzten Fassung des Hyperion12 entwirft programmatisch und sogar im Rückgriff auf die griechische Formel die pantheistische Leitvorstellung des FEm ja· P÷m, um sie in ein übergeordnetes Konzept der Selbstbefriedung einzubeziehen. Es soll den „ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt“ aufheben, auch wenn das „nur in unendlicher Annäherung“ möglich ist. „Uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen“ ist das Ziel, und daß dieses als der „Frieden alles Friedens“ erscheint, der „durch uns Selbst“, also aufgrund einer Bewußtseinsleistung zu erreichen oder jedenfalls zu erstreben ist, ergibt die Grundlage für das ganze Geschehen des Romans, das diesem Gedankenentwurf nur als prozessualer Bewußtseins-Weg Hyperions entsprechen kann. Der „Frieden alles Friedens“ ist die Vorstellung einer letztlich ontologisch begründeten Harmonie – Hölderlin spricht in der Vorrede von „jenem Sein, im einzigen Sinne des Worts“. Der weltanschauliche Ausdruck dieser Vorstellung ist ein Pantheismus, dessen seelisch-geistige Grundmotivation in der Selbstbefriedung liegt, welche das stoisch ausgeformte Denken von der antiken „tranquillitas animi“ bis hin zu Spinozas „mentis acquiescentia“ verheißen hatte.13 Der Hyperion ist das einzige Werk der europäischen Literatur, das die pantheistisch-stoischen Denkmuster systematisch in einen großen narrativen Zusammenhang einwebt. Hölderlins sentimentalische Durchseelung der pantheistisch-stoischen Vorstellungen rührt von der Kultur der Empfindsamkeit her, an die der Hyperion schon als Briefroman anschließt; die Vergeistigung und reflexive Vertiefung geht von Spinozas entschiedener Intellektualisierung des stoischen Konzepts aus. Im Schlußpassus seiner Ethik verbindet dieser die „mentis acquiescentia“ mit der Erkenntnis und dem Bewußtsein. Immer wahrnehmbar bleibt in Hölderlins pantheistischer Dichtung und so auch in den spezifisch stoischen Vorstellungen die Doppelbewegung in dieser Phase des Säkularisierungsprozesses: einerseits die immer wieder pointierte Rückholung des einst „über den Sternen“ Angesiedelten in die „Welt“, in die „Natur“, andererseits die Kompensation des Transzendenzverlusts durch eine Überhöhung der pantheistisch begriffenen Allnatur zur – so die entschieden exponierten Formeln – „heiligen Natur“, zur „göttlichen“ Natur, ja zur „Gottheit“. 12 Hölderlin: Smtliche Werke und Briefe, Bd. 2 (wie Anm. 11), S. 255 – 257; die folgenden Zitate von S. 256 f. 13 Zur Vorrede vgl. Margarethe Wegenast: Hçlderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung fr die Konzeption des ,Hyperion‘, Tübingen 1990, S. 88 – 106.

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Zwar hatte schon der stoische Pantheismus, wie das angeführte Kleanthes-Referat Ciceros zeigt, die „Welt“ und die „Allnatur“ mit „Gott“ identifiziert und auch Spinozas „deus sive natura“ entsprach dem, aber Hölderlins hoch-emphatischer Verkündigungston zeugt von einem Überschuß, der nicht nur philosophisch-begrifflich oder als dichterischer Enthusiasmus zu verstehen ist, sondern auch Leidens- und Verlusterfahrungen ausgleicht. Eine speziellere Bedeutung gewinnt der stoische Pantheismus für Hölderlin durch seine psychotherapeutischen Valenzen. Im großen Stil und geradezu strukturbildend bringt er sie im Hyperion zur Geltung. Von Anfang an war es ein Hauptziel der Stoiker, Affekte zu überwinden und so Ataraxie zu erreichen. Die ältere Stoa setzte dafür vor allem auf die Ratio. Dies vertrug sich durchaus mit der pantheistischen Grundkonzeption, denn der Pantheismus war in der Antike noch nicht schwärmerisch-gefühlshaft aufgeladen wie in der Zeit der Empfindsamkeit, als die spinozistische Vorstellung der gottgleichen Allnatur mit Rousseaus gefühlshaftem Naturkult verschmolz. Da die Stoiker die Allnatur, die v¼sir t_m fkym, als von einem Logos durchwaltet dachten, den sie mit dem naturgesetzlichen Nomos verbanden und zugleich als eine Art Weltvernunft begriffen, erhielt ihre ethische General-Anweisung „naturgemäß leben“ (blokocoul´myr t0 v¼sei f/m, secundum naturam vivere) ganz wesentlich auch den Sinn: dem Logos gemäß, vernunftgemäß leben.14 Die Affekte und die Triebe, die wir heute gerade der Sphäre des Natürlichen zurechnen, galten als dem Logos der Allnatur nicht gemäß. Daraus ergaben sich systematische Schwierigkeiten, vor allem resultierte daraus das Problem, wie es trotz der Bestimmung der Allnatur durch den Logos regulierungsbedürftige Affekte geben könne. Für einen Autor in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war es ohnehin undenkbar, die Natur ganz unter das Gesetz des Logos, der Ratio zu stellen und den „naturgemäß“ lebenden Menschen entsprechend rigoros zu definieren. Bezeichnenderweise fand diese Tendenz der Stoa zwar noch bei Spinoza Berücksichtigung, der den ganzen vierten Teil seiner Ethik unter den Titel stellt: Von der menschlichen Knechtschaft oder der Macht der Affekte (De servitute humana seu de affectuum viribus), um dann „intellectus“ und „ratio“ als Garanten der Freiheit, der „libertas“ gegenüber der Knechtung durch die Affekte und 14 Hierzu Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 4. Aufl. 1970, Bd. 1, S. 116 – 119, sowie die differenzierende Erörterung der Quellenlage in Bd. 2, S. 67 f.

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Triebe darzustellen; aber ebenso bezeichnend ist es, daß Hölderlin sich zwar die in der stoischen Schule weiterwirkende und von Cicero in seiner Schrift De natura deorum wiedergegebene Lehre des Kleanthes, die Welt sei identisch mit Gott und die Allnatur göttlich, zu eigen machte und sie dichterisch gestaltete, nicht aber die Vergöttlichung der Ratio. Im Anschluß an die schon zitierte Partie seines Kleanthes-Referats hatte Cicero noch hinzugefügt: „Nichts hält er für göttlicher als die Ratio“ – „nihil ratione censet divinius“.15 Auch in der römisch-stoischen Tradition behauptete die Ratio diesen höchsten Rang. Und immer ist es primär die Ratio, die den Affekten gegensteuern und so dem Menschen zur Ataraxie verhelfen soll. Spinoza führt diese Linie fort, indem er erklärt: „Es ist daher für das Leben hauptsächlich von Nutzen, den Verstand oder die Vernunft („intellectum, seu rationem“) so viel wir können zu vervollkommnen („perficere“), und hierin allein besteht das höchste Glück“, denn nur so komme die Beruhigung des Gemüts, die „animi acquiescentia“ zustande.16 Da Hölderlin, wie noch zu sehen sein wird, das Ideal der Ataraxie, der in der römischen Stoa beschworenen „tranquillitas animi“, der „aequa mens“ und der von Spinoza gepriesenen „acquiescentia animi“ in seinem Hyperion zwar konsequent weiterverfolgte, aber das Hauptrezept – die Herrschaft der Ratio – nicht mehr akzeptieren konnte, wählte er zwei andere Lösungen. Erstens läßt er an die Stelle der Ratio die Reflexion treten. Durch die im Erzählprozeß fortschreitende Reflexion des früher unmittelbar Erlebten, das ihn in den Erlebnissituationen oft erschütterte, gewinnt Hyperion ein übergreifendes Bewußtsein, das ihn bis hin zur tranquillitas animi stabilisiert. Dieses Bewußtsein besteht in der reflexiv vermittelten Einsicht in das Ganze, das der pantheistisch aufgefaßten Allnatur entspricht. Durch die geistige Wahrnehmung des Ganzen verliert die individuelle Irritierbarkeit in den einzelnen Wechselfällen des Lebens ihre zerstörerische Intensität. Das Bewußtsein vom Ganzen erhält eine konsolatorische Funktion. Zweitens bevorzugt Hölderlin einen anderen stoischen Weg als den der Bändigung der Affekte durch die Ratio. Diesen alternativen Weg war die mittlere Stoa gegangen, indem sie die Konsequenz aus den konzeptionellen Schwierigkeiten der älteren Stoa zog. Zwar sind die Schriften der Hauptvertreter der mittleren Stoa, Panaitios und Posei15 SVF I, Nr. 530 (De natura deorum I 37). 16 Ethik IV, Appendix, Caput IV.

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donios, nicht erhalten, aber doch indirekt greifbar17, vor allem durch Cicero und Marc Aurel. Poseidonios lehrte, die Welt sei ein Organismus, ein harmonischer Kosmos, in dem alles mit allem zusammenhängt, alles miteinander verwandt ist und in „Sympathie“ lebt. Im Rahmen dieser Kosmoslehre gab er dem in der älteren Stoa geformten zentralen Ideal der Gemütsruhe – der Ataraxia – eine neue Begründung. An die Stelle des Vernunft- und Tugendrigorismus, der den Weisen seine Autarkie ausschließlich durch die Vernunft und die von ihr zu leistende Bändigung der Affekte gewinnen läßt, setzt er gerade umgekehrt das Vertrauen auf den Lebenszusammenhang. Dessen Harmonie erspart dem Menschen jede zerstörerische Unruhe. So ergibt sich die stoische Gelassenheit und Gemütsruhe nicht aus der vom Leben abschließenden „Apathie“, sondern im Gegenteil aus der „Sympathie“ mit dem großen Ganzen des Allzusammenhangs, in dem sich der Mensch aufgehoben weiß. Daß Hölderlin ein von der Lehre der mittleren Stoa geprägtes Werk intensiv studierte, die Schrift des Kaisers Marc Aurel An sich selbst, eQr 2autºm, geht schon daraus hervor, daß er den Titel von Marc Aurels Meditationen, die zum Bildungskanon des 18. Jahrhunderts gehörten und in zahlreichen Ausgaben verbreitet waren, in seinem Epigramm pqor eautom variiert.18 Er selbst besaß Marc Aurels Schrift.19 Seine um 1800 entstandene Ode Dichtermut konzipierte er ganz nach dem stoischen Denkmuster Marc Aurels, bis hin zu einer Reihe zitatartiger Wendungen.20 Der kurz zuvor erschienene Hyperion verbindet das allgemeine, aus der Säkularisierungsbewegung des 18. Jahrhunderts entstandene, nun aber zu singulärer Intensität gesteigerte Bekenntnis zum Pantheismus mit dem Anliegen individueller, geistig-seelischer Befriedung durch die „tranquillitas animi“, die Hyperion als Erzähler gegen Ende seines Erzählens als innerweltliche Heilsmöglichkeit erfährt. Da die stoische Philosophie beides, einen monistischen Pantheismus und eine säkulare Seelentherapie bot, fand Hölderlin in ihr ein ideales 17 Zu Panaitios vgl. die Fragmenten-Sammlung: Modestus van Straaten: Panaetii Rhodii fragmenta. 3. Aufl. Leiden 1962. 18 Friedrich Hölderlin: Gedichte, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992, S. 221 (Friedrich Hölderlin. Smtliche Werke und Briefe in drei Bnden, hg. von Jochen Schmidt. Bd. 1). 19 Vgl. das Verzeichnis seiner hinterlassenen Bücher in: Hölderlin: Briefe usw. (wie Anm. 10), S. 693, sowie die Ausführungen hierzu im folgenden Beitrag zu Hölderlins Ode Dichtermut, S. 951 – 962. 20 Nachweise im folgenden Beitrag.

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Medium für die Ablösung vom Dualismus der überlieferten Religion und zugleich für die Ablösung jenseitiger Heilsversprechungen. Dieser Ablösungsvorgang – ein in der Forschung noch kaum erfaßtes strukturbildendes Geschehen – wird im Roman selbst als solcher reflektiert und als seelisch-geistige Entwicklungsgeschichte des Briefschreibers Hyperion vorgeführt. Dabei findet eine meist nur implizite Auseinandersetzung mit der überlieferten Religion statt. Den K.K. Zensoren in Wien blieb diese weltanschauliche Stoßrichtung dennoch nicht verborgen. Sie verboten das Werk, das in ihrem Herrschaftsbereich nur auf amtliche Einzelgenehmigung, „erga schedam“, verkauft werden durfte.21 Poetisch gestaltete Hölderlin den Ablösungsprozeß nicht allein im geistigen Weg der Hauptfigur. Er entwarf auch Konstellationen, in denen das Einst mit dem Jetzt kontrastiert, und er schuf Kontrafakturen biblischer Vorstellungen und Wendungen nach der schon vom jungen Goethe angewandten Methode: Die einst auf den transzendenten Gott bezogenen Aussagen beziehen sich nun auf die „Natur“, die „Welt“ und den Menschen. In diesem Zusammenhang wird die stoische Tradition bis in einzelne Kennworte und Schlüsselvorstellungen hinein geradezu zitiert, so daß sich eine in dieser Zeit einzigartig intensive Rezeption abzeichnet: Der Stoizismus wird zum konzeptionell integrierten Element und zugleich zum Medium des Säkularisierungsprozesses. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf diese Dimension des Werkes. Andere Strukturen, etwa die aus dem spezifisch idealistischen Kontext entstandenen, finden nur so weit Berücksichtigung als sie sich damit verbinden. Der Ausgangspunkt des Erzählers, der vom dritten Brief ab seine einstigen, nun schon der Vergangenheit angehörenden Erlebnisse wachzurufen beginnt („Ich danke dir, daß du mich bittest, dir von mir zu erzählen, daß du die vorigen Zeiten mir in’s Gedächtnis bringst“22), ist eine tief eingreifende Regressionsversuchung. Daß dies in der Hyperion-Forschung nicht beachtet wurde, hat zu bisher nicht aufgelösten Schwierigkeiten für das Verständnis des Werks geführt. Nach allen Verlusten, allem Scheitern, allen Enttäuschungen, die er erlei21 Schon im November 1799 verfügte die K.K. Bücher-Zensur, dass der zweite Band des Hyperion nur „erga schedam“ zu verkaufen sei. Vgl. Wilhelm Böhm: Hçlderlin, 2. Band, Halle 1930, S. 765 f. Es ist bezeichnend, daß die Repressalie gerade den zweiten Band betraf, denn erst in diesem kommt der weltanschauliche Anspruch des Pantheismus gegen die traditionelle Religion ganz zum Tragen. 22 Friedrich Hölderlin: Hyperion (wie Anm. 11), S. 17.

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den mußte, ruft Hyperion aus: „Ja, vergiß nur, daß es Menschen gibt, darbendes, angefochtenes, tausendfach geärgertes Herz! und kehre wieder dahin, wo du ausgingst, in die Arme der Natur, der wandellosen, stillen und schönen“.23 Dieses regressive, mit zahlreichen, zitatartigen Rousseau-Anklängen unterlegte „retour à la nature“ setzt sich sogleich leitmotivisch im zweiten und dritten Brief fort. „Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren in’s All der Natur […]“24, ist der Wunschtraum Hyperions, und alsbald begründet er auch seine Rückkehr nach Griechenland und damit die eigene biographische Ausgangsposition, die er als Erzähler der „vorigen Zeiten“ einnimmt, mit den Worten: „Das trieb mich auch nach Griechenland zurck, daß ich den Spielen meiner Jugend näher leben wollte“.25 Vollends regressiv besetzt ist der sich unmittelbar anschließende hymnische Preis der Kindheit als eines Zustands, dessen Vollkommenheit gerade darin besteht, daß das Kind noch kein Bewußtsein hat.26 In diesem Preis der Kindheit, in dem zugleich der zeitgenössische Kult des „Naiven“ seinen sentimentalisch gesteigerten und aufgrund der Gesamtkonstellation zugleich gebrochenen Ausdruck findet, kommt erstmals ein Leitmotiv des ganzen Werks markant zum Vorschein: das Motiv der inneren „Ruhe“. Die „Ruhe“ des Kindes ist die des unbewußten Zustands, in dem der Mensch noch nicht, wie später im Zustand des Wissens und des Bewußtseins, mit sich selbst zerfallen und daher beunruhigt ist. Am Ende des Erzählprozesses wird der Erzähler, der sich hier, am Anfang, noch nach dieser unbewußten „Ruhe“ der Kindheit mit dem emphatischen Ausruf „Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe!“27 zurücksehnt, zu einer ganz anderen Ruhe finden: zur stoischen tranquillitas animi. Nachdem Hyperion die Schmerzen und die Zerrissenheit des Daseins bis zum Extrem, bis zum Scheitern des mit jugendlichem Enthusiasmus unternommenen Befreiungskampfes, bis zum Verlust des Freundes Alabanda und bis zum Tod der Geliebten durchleiden mußte, und nachdem er dies alles erzählt hat, charakterisiert er seinen jetzigen, im Erzhlen des einst Erlebten erreichten Gemütszustand: „So schrieb Notara [die Nachricht von Diotimas Tod]; und du fragst, mein Bellarmin! wie jetzt mir ist, indem ich dies erzähle? / Bester! ich bin ruhig 23 24 25 26 27

S. 15. S. 16. S. 17 S. 17. S. 17.

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[…]“.28 Das Erzählen selbst, in dessen Verlauf er das einst unmittelbar und bedrängend Erlebte innerlich verarbeitet und reflektiert, führt ihn zu dieser „Ruhe“ des Gemütes – nicht etwa, weil er bloß zeitliche Distanz gewinnt, sondern weil er zu einem souveränen Bewußtsein findet. Es ist das Bewußtsein von der Ganzheit der pantheistischen Allnatur, die alle Gegensätze umspannt, das Individuum aus der Vereinzelung befreit und Trennung und Tod als bloße Dissonanzen in einer übergreifenden Harmonie aufzunehmen vermag. Aus der gewonnenen Einsicht in solche Ganzheit vermag dieses höchste Bewußtsein die Zeitverfallenheit des Menschen zwar nicht real, aber mental aufzuheben. Stufenweise führt der Erzählprozeß29 zu diesem Ziel. Bedeutungsvolle Erzählerkommentare, in denen der Briefschreiber Hyperion aus der berichtenden Wiedergabe der einstigen Erlebnisse heraustritt, um das Erlebte in seinem über die einzelnen Erlebnisse hinausreichenden Zusammenhang zu reflektieren und sich dabei seines sich allmählich wandelnden Seelenzustands bewußt zu werden, markieren diese Stufen. Am Anfang des ersten Buches, als er sich noch regressiv der Naturekstase hingegeben hatte („Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur […]“), mußte der Erzähler konstatieren, daß ihn „ein Moment des Besinnens“ herabwerfe und ein orientierungsloses Denken („Ich denke nach und finde mich, wie ich zuvor war, allein, mit allen Schmerzen der Sterblichkeit“) ihn negativen Empfindungen preisgebe.30 In dem Erzählerkommentar am Beginn des zweiten Buches ist er schon ein Stück weiter. Jetzt gibt er sich weder bloß einer momenthaften Naturekstase hin, noch wirft ihn ein entsprechend isolierter „Moment“ des Besinnens herab von der Höhe unmittelbaren Erlebens, vielmehr „überdenkt“ er mit einem bezeichnenden Blick ins Weite bereits den übergreifenden Zusammenhang des Lebens, der ihm im Erzählen seiner vergangenen Erlebnisse als Einheit der Gegensätze bewußt wird: „[…] Oder schau’ ich auf’s Meer hinaus und überdenke mein Leben, sein Steigen und Sinken, seine Seligkeit und seine Trauer und meine Vergangenheit lautet mir oft, wie ein Saitenspiel, wo der Meister alle Töne durchläuft, und Streit 28 S. 164. 29 Hierzu das grundlegende Werk von Lawrence Ryan: Hçlderlins ,Hyperion‘. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965. 30 S. 16.

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und Einklang mit verborgener Ordnung untereinanderwirft“.31 Wie an anderen Schlüsselstellen signalisiert der Roman hier die übergreifende Harmonie des scheinbar Disharmonischen, die Auflösung der Dissonanzen in einem „Akkord“. Das musikalische Gleichnis verbindet sich mit einer Anspielung auf ein Fragment Heraklits, das die „verborgene Ordnung“ als die „stärkere“ und damit letztlich maßgebende bezeichnet.32 Mit Heraklit ist das pantheistische Denkmuster des „Ein und Alles“ aufgerufen, aber nicht mehr in Form eines ekstatischen Einheitserlebnisses, wie es der Hymnus am Anfang repräsentierte („Eines zu sein mit allem […]“), sondern als eine erst dem „Überdenken“ sich erschließende Einheit und Ganzheit des Unterschiedenen. Im gleichen Buch kulminiert diese geistige Wahrnehmung in dem großen, den ersten Band des Hyperion abschließenden Athenerbrief, in den das „Eine in sich selbst Unterschiedene“ nun sogar mit direkter Berufung auf Heraklit und als (akzentloses) griechisches Zitat – em diaveqom eauty– eingefügt ist.33 Und konsequent endet der Athenerbrief und damit auch der erste Band des Romans mit dem emphatischen, dezidiert pantheistischen Bekenntnis: „Menschheit und Natur wird sich vereinen in Eine allumfassende Gottheit“.34 Auf dieser Grundlage entfaltet der zweite Band die psychotherapeutische Wirkungsabsicht speziell des stoischen Pantheismus mit der Leitvorstellung der „tranquillitas animi“. „Ruhe“ und „Stille“ stehen schon im Zentrum des nächsten Erzählerkommentars. Er setzt im ersten Buch des zweiten Bandes mit einer charakteristischen Selbstreflexion des Erzählers ein, der zugleich sein eigenes Erzählen reflektiert: „Warum erzähl’ ich dir und wiederhole mein Leiden und rege die ruhelose Jugend wieder auf in mir?“35 Das einstige Erleben war ein „ruheloses“ in der unreifen, allen Irritationen noch unmittelbar preisgegebenen Jugend. Aber nun hat der Erzähler die Einsicht gewonnen, 31 32 33 34

S. 56. Frg. 54. S. 94. S. 101. Vgl. Spinoza, Ethik I, Propositio XV: „Quicquid est, in Deo est“ – „Alles, was ist, ist in Gott“ und Ethik I, Propositio XVIII: „Deus est omnium rerum causa immanens, – non vero transiens“ – „Gott ist aller Dinge immanente Ursache, nicht eine transzendente“ (S. 120). Hierzu gehört das „deus sive natura“-Axiom, so in Ethik IV, Praefatio: „[…] aeternum namque illud, et infinitum Ens, quod Deum, seu Naturam appellamus […]“ – „[…] denn jenes ewige und unendliche Sein, das wir Gott oder die Natur nennen […]“. 35 S. 115.

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die ihn der Ataraxie und der tranquillitas animi näherbringt. „Seitdem“, so sagt er, indem er sich auf eine Zeit des Rückzugs aus allem zerrüttenden unmittelbaren Geschehen und Erleben beruft, „seitdem ist manches anders in meinem Auge geworden, und ich habe nun so viel Frieden in mir, um ruhig zu bleiben, bei jedem Blick ins menschliche Leben. O Freund! am Ende söhnet der Geist mit allem uns aus.“36 Der „Geist“ also ist es, der distanzierend und zugleich vermittelnd zu „versöhnen“ vermag, doch nicht etwa weil er – der Begriff der Versöhnung hat für Hölderlin eine ähnlich fundamentale Bedeutung wie für Hegel – das jeweils Einzelne resignativ zu akzeptieren lehrt, vielmehr weil er alles Einzelne im Zusammenhang des Ganzen zu verstehen erlaubt. Geradezu wie eine Lese-Anweisung nehmen sich die folgenden Sätze Hyperions an seinen Freund Bellarmin aus: „Du wirsts nicht glauben, wenigstens von mir nicht. Aber ich meine, du solltest sogar meinen Briefen es ansehn, wie meine Seele täglich stiller wird und stiller“. Indem sich die Seele dem Zustand der vollkommenen tranquillitas animi immer mehr annähert, zeugen auch Hyperions Briefe, die als Ausdruck der „Seele“ konzipiert sind, von diesem Prozeß. Deutlich zeichnet sich die psychotherapeutische Wirkung des Erzählens ab, wenn es heißt, daß die „Seele“ „stiller wird und stiller“. Auf die zu Beginn dieses Erzählerkommentars aufgeworfene rhetorische Frage des Erzählers, warum er überhaupt erzähle und erzählend die Leiden der „ruhelosen Jugend“ wieder in sich aufrege, antwortet er, indem er mit seiner Motivation zugleich seine im Erzählen gewonnene tiefere Einsicht zu erkennen gibt: „Darum, mein Bellarmin! weil jeder Atemzug des Lebens unserm Herzen wert bleibt, weil alle Verwandlungen der reinen Natur auch mit zu ihrer Schöne gehören“. Der Begriff der „Verwandlung“, der hier alles Erlebte, auch die „Leiden“, als notwendige, nur jeweils anders erscheinende Manifestationen der einen, alles übergreifenden Natur umfaßt, weist auf eine Vorstellung zurück, die Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen leitmotivisch und mit psychotherapeutischer Absicht zur Geltung bringt: Wer alles Geschehen, auch Leiden und Tod, als bloße „Verwandlung“ (letabok¶) im Allzusammenhang der Natur zu verstehen lernt, überwindet sogar die Todesfurcht – ein zentrales Anliegen der Stoa – und gewinnt damit die stoische Ataraxie. Es gibt laut Marc Aurel keinen völligen Untergang, sondern nur den Übergang aus dem individuellen Dasein in dasjenige der Allnatur, in dem es verwandelt weiterlebt. Diesen Begriff des 36 S. 115.

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„Wandels“ sowie den mit ihm eng verwandten des „Wechsels“ nimmt Hölderlin im zweiten Buch des zweiten Bandes auf. Bezeichnenderweise unmittelbar bevor Hyperion im letzten Erzählerkommentar dem Freund versichert: „Bester! ich bin ruhig“, spricht Diotima in ihrem Abschiedsbrief angesichts des Todes – damit erhält die Aussage höchste, vermächtnishafte Verbindlichkeit – die Gewißheit aus, daß der Tod nur „Wechsel“ und „Wandel“ sei. Marc Aurel sieht in seiner pantheistischstoischen Trostphilosophie „alles im Wandel“ (p²mta 1m letabok0, IX 19) und stellt fest: „Verlust ( !pobok¶) ist nichts anderes als Verwandlung“ (letabok¶), IX 35). „Gewöhne dich, einzusehen“, so sagt er in seinem Selbstgespräch, „daß die Natur des Alls nichts so liebt, wie die Dinge zu verwandeln“ (letab²kkeim, IV 36). Diotimas Abschiedsbrief, der den schon in der antiken Stoa entschieden ausgeprägten konsolatorischen Zug37 aufnimmt, hebt „Wechsel“ und „Wandel“ als Leitbegriffe je zweimal heraus. Sie verbinden sich wieder mit musikalischen Metaphern und Gleichnissen, welche die pantheistische Allnatur zur Allharmonie formieren: „Beständigkeit haben die Sterne gewählt, in stiller Lebensfülle wallen sie stets und kennen das Alter nicht. Wir stellen im Wechsel das Vollendete dar; in wandelnde Melodien teilen wir die großen Akkorde der Freude. Wie Harfenspieler um die Thronen der Ältesten, leben wir, selbst göttlich, um die stillen Götter der Welt, mit dem flüchtigen Lebensliede mildern wir den seligen Ernst des Sonnengotts und der andern. j Sieh auf in die Welt! Ist sie nicht, wie ein wandelnder Triumphzug, wo die Natur den ewigen Sieg über alle Verderbnis feiert? und führt nicht zur Verherrlichung das Leben den Tod mit sich, in goldenen Ketten, wie der Feldherr einst die gefangenen Könige mit sich geführt? und wir, wir sind wie die Jungfrauen und die Jünglinge, die mit Tanz und Gesang, in wechselnden Gestalten und Tönen den majestätischen Zug geleiten“.38

Hölderlin formuliert in diesem Vermächtnis Diotimas sein eigenes pantheistisches Glaubensbekenntnis, und er verleiht ihm umso entschiedener den Charakter eines Bekenntnisses, als er die christliche Transzendenz mit deutlichen Kontrafakturen der biblischen Botschaft durch die pantheistische Immanenz ablöst. Wenn es in der zitierten Partie heißt: „Wie Harfenspieler um die Thronen der Ältesten, leben 37 Vgl. auch Senecas Trostschriften an Marcia, an Polybios und an Helvia; Rudolf Kassel: Untersuchungen zur griechischen und rçmischen Konsolationsliteratur (Zetemata 18). München 1958; Bernhard Zimmermann in Bd. 1 des vorliegenden Werks, S. 193 – 213. 38 S. 163 (Hervorhebungen vom Verf.).

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wir, selbst göttlich, um die stillen Götter der Welt“, so hebt die Vorstellung, daß die Menschen „selbst göttlich“ sind, und die Rede von den „Göttern der Welt“ die dualistische Trennung in einem Akt dezidierter Säkularisierung auf. Die Anspielung auf die Bibel (Apokalypse 14,2 – 3: „und die Stimme, die ich hörte, war wie von Harfenspielern […] und sie sangen wie ein neues Lied vor dem Thron und vor den […] Ältesten“) pointiert die Transformation der biblisch-transzendenten Gottesvorstellung in die der immanenten All-Natur, die im Horizont des Pantheismus selbst als „göttlich“ erfahren wird. Den abschließenden Höhepunkt erreicht Diotimas Vermächtnis, als sie Hyperion seine Berufung zum Dichter verkündet. Dieses Dichtertum steht im Dienst der „göttlichen Natur“. Daß es sich um einen geradezu priesterlichen Dienst handelt, verstärkt den säkularisierenden Übertragungsvorgang: „Priester sollst du sein der göttlichen Natur, und die dichterischen Tage keimen dir schon“.39 Hyperion soll „Priester“ nicht der traditionell dem Priesteramt zugeordneten transzendenten Gottheit, sondern der ihrerseits nun „göttlichen“ Natur sein. Emphatisch kommt so nicht nur die dichterische „Berufung“, sondern auch ein säkularisierender Aufhebungs- und Ablösungsvorgang zum Ausdruck. Und daß gerade Diotima, deren Name an Platons Symposion erinnert, dies verkündet, zeugt von Hölderlins kühner Operation, auch den von einer Zwei-WeltenLehre ausgehenden platonischen Idealismus in der immanenten Sphäre der „Natur“ aufzuheben. An Diotimas Vermächtnis schließt sich die durch Hyperions Freund Notara übermittelte Nachricht von ihrem Tod an, und da der Erzähler Hyperion all dies, sowohl Diotimas Abschiedsworte wie die Nachricht von ihrem Tod, weit in die Vergangenheit zurückblickend erzählt, erhält seine rhetorische Frage nach seiner jetzigen, erst im Erzähl- und Reflexionsprozeß erreichten Gemütsverfassung außerordentliches Gewicht. „[…] und du fragst, mein Bellarmin! wie jetzt mir ist, indem ich dies erzähle?“40 Diese selbst gestellte Frage und die schon erwähnte Antwort „Bester! ich bin ruhig“, welche die stoische tranquillitas animi signalisiert, stehen in einem aufschlußreichen Begründungszusammenhang. Er ist pantheistisch, so daß sich die Ataraxie wie im stoischen Konzept der Einsicht in die Gesetzlichkeit der Allnatur verdankt. Diese Einsicht ist zunächst allgemein – ganz nach Heraklits pantheistischer Konzeption – diejenige in die Einheit der Gegensätze. Darüber hinaus 39 S. 163. 40 S. 164.

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aber entspricht sie der stoischen, psychotherapeutischen Absicht, die Ataraxie ganz besonders durch die Erkenntnis zu gewinnen, daß auch Leiden und Tod im naturhaften Allzusammenhang aufgehoben sind. Mit diesem stoisch-pantheistischen Konzept wehrt Hölderlin die katastrophalen Folgen jener „Krankheit zum Tode“ ab, die Goethe in seinem Werther vorgeführt hatte. Ein Leitbegriff des Gesamtgeschehens in Goethes Briefroman ist das Leiden, wie schon der Titel Die Leiden des jungen Werthers zu verstehen gibt. Weil Werther seine „Leiden“ nicht retrospektiv erzählend zu einem höheren Bewußtsein zu vermitteln vermag wie Hyperion, sondern immer nur unmittelbar im Augenblick des erlebten Leidens schreibt, manövriert er sich in eine schließlich tödliche Pathologie hinein. Hyperion hatte in der regressiven Anfangsphase seines Erzählens nicht nur permanent Rousseau zitiert, sich zu einem bewußtseinsflüchtigen „Retour à la nature“ bekannt und daher den Kindheitszustand verherrlicht. Er hatte auch Werthers Brief vom 10. Mai zitiert, in freier Ausgestaltung, doch deutlich wahrnehmbar.41 Jetzt aber, gegen Ende des Erzählprozesses, distanziert er sich von seiner eigenen regressiven Anwandlung, in der er wieder am liebsten „ein Kind“ geworden wäre, und damit auch von Werthers Faszination durch die Kindheit. In einem kalkulierten intertextuellen Verfahren distanziert sich Hölderlin durch seinen Protagonisten auch von Werthers „Leiden“, die diesen einem tödlichen Verhängnis auslieferten: Hyperion versteht am Ende Leiden, Schmerz und Tod im Zusammenhang der pantheistischen Allnatur. „Leiden“ ist geradezu der Leitbegriff in den begründenden Ausführungen, die Hyperion an die Versicherung der nun erreichten tranquillitas animi anschließt: „Bester! ich bin ruhig, denn ich will nichts bessers haben, als die Götter. Muß nicht alles leiden? Und je trefflicher es ist, je tiefer! Leidet nicht die heilige Natur? O meine Gottheit! daß du trauern könntest, wie du selig bist, das konnt’ ich lange nicht fassen. Aber die Wonne, die nicht leidet, ist Schlaf, und ohne Tod ist kein Leben. Solltest du ewig sein, wie ein Kind und schlummern, dem Nichts gleich? den Sieg entbehren? nicht die Vollendungen alle durchlaufen? Ja! ja! wert ist der Schmerz, am Herzen der Menschen zu liegen, und dein Vertrauter zu sein, o Natur!“42

Indem der Erzähler Hyperion hier noch einmal die Wendung vom einst im Jenseits geglaubten Heiligen zur „heiligen Natur“ vollzieht, um diese 41 S. 18. Analogien wie Differenzen wurden schon öfter bemerkt. Vgl. vor allem das in Anm. 29 genannte Werk von Lawrence Ryan, S. 70 – 73. 42 S. 164.

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gleich darauf mit dem Ausruf „O meine Gottheit!“ zu apostrophieren, verstärkt er das pantheistische Bekenntnis. Es erinnert nachdrücklich an Spinozas „deus sive natura“, wie schon die anfängliche Versicherung „ich bin ruhig“ der „mentis acquiescentia“ entspricht, in der Spinoza leitmotivisch die stoische „tranquillitas animi“ aufnimmt.43 Aber Hölderlin zielt nicht mehr auf eine vorwiegend rational gesteuerte und intellektuell formierte Bewältigung der Affekte, auch nicht auf ein in 43 Spinozas Ethik gipfelt und endet in der doppelten Hervorhebung der „animi acquiescentia“. Sie ist dem Unwissenden verwehrt, doch wird sie dem Weisen zuteil, der das stoische Ideal des Sieges über die Affekte und der Freiheit des Geistes verkörpert. „Anmerkung. Hiemit habe ich Alles erledigt, was ich von der Macht des Geistes über die Affecte und von der Freiheit des Geistes hatte zeigen wollen, woraus erhellt, wie viel der Weise vermag und dem Unwissenden überlegen ist, der blos von den Lüsten getrieben wird. Denn der Unwissende, abgesehen davon, dass er von äusseren Ursachen auf vielfache Weise beunruhigt wird und nie im Besitze der wahren Seelenruhe ist, lebt überdiess gleichsam ohne Bewusstseyn seiner selbst, Gottes und der Dinge, und sobald er zu leiden aufhört, hört er zugleich auch auf zu seyn; der Weise hingegen, sofern er als solcher betrachtet wird, wird kaum in der Seele bewegt, sondern seiner selbst, Gottes und der Dinge mit einer gewissen ewigen Nothwendigkeit sich bewusst, hört er nie auf zu seyn, sondern ist immer im Besitze der wahren Seelenruhe. Wenn nun auch der Weg, den ich als dahin führend gezeigt habe, sehr schwierig zu seyn scheint, so lässt er sich doch finden, und allerdings muss etwas schwierig seyn, was so selten angetroffen wird. Denn wie wäre es möglich, wenn das Heil so leicht zur Hand wäre und ohne grosse Anstrengung gefunden werden könnte, dass es fast von Allen vernachlässigt würde? Aber alles Hohe ist eben so schwer als selten“. „Scholium. His omnia, quæ de mentis in affectûs potentiâ, quæque de Mentis Libertate ostendere volueram, absolvi. Ex quibus apparet, quantum Sapiens polleat, potiorque sit ignaro, qui solâ libidine agitur. Ignarus enim, præterquam quòd à causis externis, multis modis agitatur, nec unquam verâ animi acquiescentiâ potitur, vivit præterea sui, et Dei, et rerum quasi inscius, et simulac pati desinit, simul etiam esse desinit. Cùm contrà sapiens, quatenus ut talis consideratur, vix animo movetur; sed sui, et Dei, et rerum æternâ quâdam necessitate conscius, nunquam esse desinit, sed semper verâ animi acquiescentiâ potitur. Si jam via, quam ad hæc ducere ostendi, perardua videatur, inveniri tamen potest. Et sanè arduum debet esse, quod adeò rarò reperitur. Quî enim posset fieri, si salus in promptu esset, et sine magno labore reperiri posset, ut ab omnibus ferè negligeretur? Sed omnia præclara tam difficilia, quàm rara sunt“. (Spinoza: Opera. Werke. Lateinisch und deutsch. Zweiter Band: Tractatus de intellectus Emendatione. Ethica. Abhandlung ber die Berichtigung des Verstandes. Ethik, hg. von Konrad Blumenstock, 2. Aufl. Darmstadt 1978, S. 556/557). Eine andere Kernstelle ist der thematisch durchgeführte Preis der „Acquiescentia“ im 4. Buch der Ethik: Propositio LII mit Demonstratio und Scholium, S. 456.

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idealistischer Autonomie sich selbst genügendes höchstes Bewußtsein, obwohl die Bildung des Bewußtseins von wesentlicher Bedeutung ist. Mit der starken, durch die Erinnerung an Diotimas Tod lebendig motivierten Betonung von Leiden, Schmerz und Tod kommt vor allem die psychotherapeutische44 Grundintention der antiken Stoa in dem pantheistischen Begründungszusammenhang zur Geltung, den Hölderlin bei Marc Aurel fand. Es ist nur konsequent, daß vor und nach dieser letzten großen Erzählerreflexion Diotimas Ende mit einer stoischen Formel als „schöner Tod“ bezeichnet wird. Bereits zuvor nennt Notara in seiner brieflichen Nachricht Diotimas Tod einen „schönen Tod“45, und in seinem Antwortbrief an Notara, der auf die Erzählerreflexion folgt, bestätigt Hyperion: „Einen schönen Tod ist meine Diotima gestorben; da hast du Recht“.46 „Schön sterben“, jak_r hame?m, lautet die stoische Devise, mit der Hölderlin hier ringkompositorisch Hyperions letzte große Erzählerreflexion umgibt. Die antike Stoa definiert solch „schönes Sterben“ als ein bereitwilliges. „Bene autem mori est libenter mori“, formulierte Seneca47, und dem entsprechen auch Marc Aurels Ausführungen. Wenn also Hölderlin Diotimas „schönen Tod“ in stoischer Tradition als einen bereitwilligen Tod kennzeichnen wollte, mußte er vorher eine Darstellung ihrer Haltung in Erwartung des Todes einfügen. In der Tat folgt er dem stoischen Konzept auch in dieser Hinsicht: In ihrem Ab44 Schon ein Hauptvertreter der alten Stoa, Chrysipp, der eine Schrift mit dem Titel Heqapeutijºr verfaßt hat, analogisierte die „Krankheiten der Seele“ und eine entsprechend notwendige „Therapie“ mit den Krankheiten des Körpers und der auf sie anzuwendenden Heilkunst. Ausdrücklich statuierte er auch die „Analogie“ zwischen beiden. Hauptanwendungsgebiet der stoischen Psychotherapie war der Bereich der Affekte, insbesondere der Schmerz. Bemerkenswerterweise überliefert der in der hippokratischen Tradition stehende und als medizinische Autorität noch lange nachwirkende Galen – Marc Aurels Leibarzt! – ausführlich die einschlägigen Aussagen Chrysipps. Das zentrale Testimonium: SVF III, Nr. 471. Entsprechend verbreitet sind die psychotherapeutischen Termini auch bei den für die neuzeitliche Rezeption der stoischen Vorstellungen maßgebenden römischen Autoren Cicero (vor allem in den Tusculanen) und Seneca. Letzterer verwendet sehr oft medizinisch-therapeutische Begriffe wie „medicus“, „medicina“, „medicamentum“, „remedium“ im Hinblick auf die Krankheiten der Seele. 45 S. 164. 46 S. 165. 47 Seneca: Epistulae morales ad Lucilium 61, 2.

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schiedsbrief erklärt Diotima sogar ihre freudige Bereitschaft zu sterben – freudig aus der Gewißheit, daß Sterben nur ein Aufgehen in der Allnatur und damit in einem größeren, ganzheitlichen Leben ist, wie insbesondere Marc Aurel betont.48 Einleitend exponiert die entsprechende Partie ihres Abschiedsbriefs die beiden stoischen Grundhaltungen gegenüber dem Tod, die Abwehr der Todesfurcht und die Auffassung, der Tod führe in die Freiheit: „Ich habe genug daran, um freudig, als ein griechisch Mädchen zu sterben. Die Armen, die nichts kennen, als ihr dürftig Machwerk, die der Not nur dienen und den Genius verschmähn, und dich nicht ehren, kindlich Leben der Natur! die mögen vor dem Tode sich fürchten. Ihr Joch ist ihre Welt geworden; Besseres, als ihren Knechtsdienst, kennen sie nicht; scheun die Götterfreiheit, die der Tod uns gibt?“49

Diese stoische Haltung gegenüber dem Tode – Seneca hatte sie imperativisch formuliert: „contemne mortem“50 – erscheint hier allerdings nicht als ein heroischer Sieg nach Art der älteren Stoa. In Diotimas Worten kommt die harmonistische Vorstellung der mittleren Stoa zum Ausdruck, die Hölderlin aus Marc Aurels Selbstgesprchen kannte. Alle einzelnen Wesen verbindet nach der Lehre der mittleren Stoa die Allnatur in einem unauflöslichen Bund, weil alle an dieser Allnatur substantiell teilhaben. Nicht einmal im Tod des Einzelwesens löst sich diese Verbindung, denn auch er vermag aus dem ewigen Sein der Allnatur nicht herauszureißen – höchstens bewirkt er die Verwandlung in eine andere Form lebendigen Daseins. In Diotimas Worten wird daraus sogar die unaufhebbare „Treue“, die jede Trennung überwindet, auch die durch den Tod. Damit macht Hölderlin den Abschiedsbrief, den Diotima in Erwartung ihres Todes an Hyperion schreibt, nicht nur zu einem Trostbrief, sondern auch zu einer emphatischen Verkündigung der pantheistischen Weltanschauung. Sie bildet hier zugleich das Fundament der stoischen Haltung. Der weltanschauliche Charakter dieses stoisch formierten Pantheismus, seine Erhebung zu einer innerweltlichen, monistischen Heilslehre, prägt sich in der säkularisierenden Übertragung biblisch-heilsgeschichtlicher Vorstellungen auf die Sphäre des nun nicht mehr von Gott, sondern immanent-naturhaft gegebenen Daseins markant aus. Zugleich erhöht diese Übertragung emphatisch die immanente Heils48 II 12; IV 5; X 36. 49 S. 162. 50 Seneca: Epist. 78,5.

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verheißung, denn auf diese geht nun das Verkündigungspathos der einst dem Glauben an das jenseitige Heil vorbehaltenen Vorstellungen über. Zug um Zug gestaltet Hölderlin Diotimas stoisch-pantheistische Begründung ihres „schönen Todes“ nach diesem Muster. „[…] ich habe mich des Stückwerks überhoben, das die Menschenhände gemacht“, schreibt Diotima, „ich hab’ es gefühlt, das Leben der Natur, das höher ist, denn alle Gedanken“51 – eine säkularisierende Kontrafaktur der Worte im 1. Brief an die Korinther, mit denen Paulus alles Menschliche als „Stückwerk“ gegenüber dem – transzendenten – Göttlichen bezeichnet: „Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber wird kommen das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören“ (1 Kor 9 f.). Auch die Wendung „höher […] denn alle Gedanken“ spielt beziehungsreich auf einen Paulusbrief an – im Brief an die Philipper heißt es (4,7): „Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne“. Konsequent rufen Diotimas weitere Abschiedsworte biblische Vorstellungen auf, um sie in den stoisch-pantheistischen Verstehenshorizont zu transponieren. Verkündet Gott in der Bibel den „Bund“, den er mit seinem Volke schließt52, so spricht Diotima vom „Bund der Natur“, der immanent „die Wesen alle verknüpft“. Die „ewige Liebe“, welche die christliche Heilsbotschaft dem jenseitigen Gott zuschreibt, ist nun „allen gemein“, weil „alle“ naturhaft miteinander verbunden sind – analog der stoischen Sympatheia-Lehre. Wirkt der biblische „heilige Geist“ aus dem Jenseits auf die Menschen ein, so ist der von Diotima beschworene „Gottesgeist“ der Geist der pantheistisch vergöttlichten Natur. In Marc Aurels Selbstgesprchen heißt es mit deutlichem Anklang an Heraklit: „Denn es gibt eine Welt aus allem, und einen Gott durch alles und ein Gesetz, den Logos (mºlor eXr, kºcor joimºr), der allen geistigen Wesen gemeinsam ist“ (VII 8). Da der Logos als die allen gemeinsame geistige Natur jeden einzelnen wie auch alle zusammen bestimmt, kann es in Diotimas Abschiedsbrief heißen, daß der Gottesgeist „jedem eigen ist und allen gemein“. Demnach kommt Diotimas Bereitschaft zu sterben, die ihren Tod zu dem von der Stoa geforderten „schönen Tod“ macht, aus der – wiederum ganz der stoischen Lehre entsprechenden – Gewißheit, im Zusammenhang der Allnatur und des sie durchwaltenden Geistes weiterzuleben. In dieser Gewißheit sagt sie: „Wir sterben, um 51 S. 162. 52 Vgl. 1. Mose 9, 12 – 17; 2. Mose 2, 24; 2. Mose, 34, 27 f.; Jesaja 55, 3 u. ö.

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zu leben“. Im Ganzen lautet die hier auf ihre Leitvorstellungen hin analysierte Textpartie: „[…] ich habe mich des Stückwerks überhoben, das die Menschenhände gemacht, ich hab’ es gefühlt, das Leben der Natur, das höher ist, denn alle Gedanken – wenn ich auch zur Pflanze würde, wäre denn der Schade so groß? – Ich werde sein. Wie sollt’ ich mich verlieren aus der Sphäre des Lebens, worin die ewige Liebe, die allen gemein ist, die Naturen alle zusammenhält? wie sollt ich scheiden aus dem Bunde, der die Wesen alle verknüpft? Der bricht so leicht nicht, wie die losen Bande dieser Zeit. Der ist nicht, wie ein Markttag, wo das Volk zusammenläuft und lärmt und auseinandergeht. Nein! bei dem Geiste, der uns einiget, bei dem Gottesgeiste, der jedem eigen ist und allen gemein! nein! nein! im Bunde der Natur ist Treue kein Traum. Wir trennen uns nur, um inniger einig zu sein, göttlicher friedlich mit allem, mit uns. Wir sterben, um zu leben.“53

Was Diotima aufgrund ihres harmonischen, weil immer schon mit der Natur übereinstimmenden (blokocoul´myr) Wesens als gültigen Daseinsvollzug bis zu Abschied und Tod einst vorlebte, erreicht der erzählende Hyperion erst später nach einem langen Bewußtseinsprozeß. Er befähigt den rückblickend Erzählenden, der in den Erzählerkommentaren das einst Erlebte reflektiert, am Ende zur tranquillitas animi. Hyperion reflektiert nicht nur das Erlebte, sondern auch sich selbst, nicht zuletzt die lange Zeit, die er brauchte, um jene Einsicht ins Ganze zu gewinnen, die den Gemüts- und Geisteszustand der Ataraxie erst begründet: „O meine Gottheit!“ ruft er in seiner letzten großen Erzählerreflexion die pantheistische Allnatur an, „daß du trauern könntest, wie du selig bist, / das konnt’ ich lange nicht fassen“.54 So sehr die idealistische Geist- und Bewußtseinsphilosophie die Konzeption des Romans mitbestimmt und so eng sich mit ihr gerade die Prozessualität des inneren Geschehens verbindet, so konsequent entspricht diese letztlich unabschließbare Prozessualität – „Nächstens mehr“ lauten die letzten Worte des Romans – auch der stoischen, psychotherapeutischen Konzeption. Denn das Ideal des stoischen „Weisen“55, der aus seiner souveränen Einsicht ins Ganze der Allnatur, in ihren Logos, das diesem Logos entsprechende Vollendungsziel individuell verwirklicht, war immer schon als Utopie gedacht – als eine Herausforderung, der faktisch nie vollständig zu genügen ist, die jedoch richtungweisend und formierend wirkt. Auch Spinoza hatte im 53 S. 162. 54 S. 164. 55 Hierzu Bd. 1 des vorliegenden Werks, S. 76 – 98.

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Schlußabschnitt seiner Ethik vom Weg (via) gesprochen, und von der Schwierigkeit dieses Weges, der zum Vollkommenheitsziel des stoischen Weisen führen soll: zur „mentis acquiescentia“.56 Auch Hyperion, der schon als Erzähler ein Stück weit jenes Dichtertum erreicht, zu dem ihn Diotima bestimmt, kann nur annäherungsweise den höchsten Anspruch erfüllen. Doch vermag er sich eines entscheidenden Fortschritts zu vergewissern, indem er die gewonnene Fassung („Bester! ich bin ruhig“) seiner früheren Desorientierung und Irritierbarkeit gegenüberstellt: „das konnt’ ich lange nicht fassen“. Wie sehr es Hölderlin darauf ankam, den Fortschritt des Bewußtseins durch Kontrastierung des jetzigen mit dem früheren Geisteszustand Hyperions zu markieren, zeigt insbesondere das Schicksalslied. Es steht kurz vor dem letzten Erzählerkommentar und repräsentiert den früheren Bewußtseinszustand des erlebenden Hyperion. Das Schicksalslied ist nicht die lyrische Summe von Hyperions Schicksal, vielmehr der intensivste Ausdruck seiner früheren, nunmehr durch die geistige Entwicklung des Erzählers überholten Verfassung. Hölderlin fügte es genau zwischen dem endgültigen Abschied von dem Freund Alabanda und dem Tod Diotimas ein: am absoluten Tiefpunkt von Hyperions Leben, wo er Verlust, Vergänglichkeit und Trennung im Übermaß erleiden mußte. Dieses Leiden führte einst zu einer dualistischen Weltsicht, die ihrerseits Trennung zum Prinzip macht: Jenseits leben die Götter, schicksallos und selig in einem zeitlosen und bewußtseinsfernen Dasein, das dem der Kinder gleicht („Schicksallos, wie der schlafende Säugling, atmen die Himmlischen […]“), diesseits die allem Leiden der Vergänglichkeit schicksalhaft ausgesetzten Menschen. So vollzieht das Schicksalslied eine vollständige Spaltung in eine utopische Vorstellung zeitenthobener Idealität und andererseits in die Empfindung jammervoller Realität. Zugleich deutet Hölderlin damit auf eine über Hyperions individuelle Geistesverfassung hinausreichende Weltanschauung hin: auf die Spaltung in Jenseits und Diesseits. Daß sogar der erlebende, frühere Hyperion dieses Schicksalslied nicht etwa selbst erfindet, sondern als ein Erbe „unverständiger Jugend“ „nachgesprochen“ hat, weist auf die einem vergangenen Geisteszustand zuzuordnende unreflektierte weltanschauliche Tradition – wie das ausdrücklich „alt“ genannte Lied der Parzen in Goethes Iphigenie, das auch ein Schicksalslied ist und an dem Hölderlin für seine Verse und deren konstellative Einfügung in den 56 Vgl. das Zitat in Anm. 43.

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Geschehenszusammenhang Maß nahm.57 Für Hyperions späteres Bewußtsein, das er erst als Erzähler gewonnen hat, drückt sich im Schicksalslied ein vom Übermaß leidvoller Betroffenheit verursachter Rückfall des erlebenden Hyperion in ein schon damals überholtes Traditionsmuster aus. So gibt der erzählerische Kontext, in dem der spätere, zu einem höheren Bewußtsein gelangte Erzähler Hyperion auf sein früheres Erleben und das einst aus diesem Erleben heraus gesungene Schicksalslied reflektierend zurückblickt, das Schicksalslied als Ausdruck eines rückständig-unglücklichen Bewußtseins zu erkennen. Der erzählerische Kontext signalisiert die säkularisierende Ablösung der im Schicksalslied aus diesem unglücklichen Bewußtsein resultierenden Jenseitsvorstellung durch eine pantheistische Diesseitsorientierung, deren Leitbegriff „Natur“ lautet. Das Schicksalslied drückt am stärksten jenes Noch-nicht-fassen-können aus, das der letzte Erzählerkommentar mit den Worten meint: „das konnt’ ich lange nicht fassen“. In systematischer Konsequenz suspendiert deshalb dieser Erzählerkommentar die Antithesen des Schicksalslieds bis in die einzelnen Vorstellungen hinein. Das Schicksalslied setzt die Götter „droben“ (V. 1) den Menschen entgegen, die ins Ungewisse „hinab“ fallen (Schlußvers), es kontrastiert das zeitlos „ewige“ (V. 16, 20) Dasein dieser kompensatorisch phantasierten „Götter“ mit dem „von einer Stunde zur andern“ und „Jahr lang“ hinabfallenden, also vollständig der Zeit ausgelieferten Dasein der Menschen; der Erzählerkommentar aber hebt diesen Gegensatz in der einen allumfassenden und deshalb auch die Gegensätze übergreifenden Natur auf. Und daß das Schicksalslied die „Himmlischen“ kindlich-unbewußt „wie den schlafenden Säugling“ vorstellt, läßt auf eine kaum noch idealisierend zu nennende Projektion regressiver Mentalität zurückschließen – aus der nachträglichen Erkenntnis dieser Mentalität lehnt der Erzählerkommentar den „Schlaf“ entschieden ab. Er wendet sich gegen die Regression ins KindlichUnmündige mit der rhetorisch abwehrenden Frage: „Solltest du ewig sein, wie ein Kind und schlummern, dem Nichts gleich?“ Es gibt auch nicht mehr die Extrapolation auf der Ebene des Geistes. Hatte das Schicksalslied den „blindlings“ hinabfallenden Menschen die aus „seligen Augen“ in „ewiger Klarheit“ blickenden Himmlischen entgegengesetzt, denen „der Geist“ blüht, so zeugt der Erzählerkommentar vom 57 Hierzu: Jochen Schmidt: Hçlderlins bersetzung von Iphigeniens Parzenlied in Hyperions Schicksalslied, in: Zwiesprache. Beitrge zur Theorie und Geschichte des bersetzens, hg. von Ulrich Stadler, Stuttgart/Weimar 1996, S. 347 – 353.

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Bewußtsein eines Erzählers, der sich selbst zu einer souverän geistigen Wahrnehmung bestimmt sieht und sie zu einem wesentlichen Teil auch schon gewonnen hat. Während das Schicksalslied nur „die leidenden Menschen“ kennt, die im Jenseits vorgestellten Götter aber vom Leiden ausnimmt, gehört das Leiden nun – in umgekehrter Blickrichtung – zur pantheistisch als „Gottheit“ begriffenen, alles integrierenden Allnatur: „Muß nicht alles leiden? Und je trefflicher es ist, je tiefer! Leidet nicht die heilige Natur? O meine Gottheit! daß du trauern könntest, wie du selig bist, das konnt’ ich lange nicht fassen“. Und während die von den Menschen handelnde Schlußstrophe des Schicksalslieds mit den Versen beginnt: „Doch uns ist gegeben, / Auf keiner Stätte zu ruhn“, eröffnet der später erzählende Hyperion seinen Bericht an Bellarmin mit den Worten: „Bester! ich bin ruhig“. Insgesamt wird so die fortschreitende Gewinnung der stoischen tranquillitas animi in die ebenfalls prozeßhafte Herausbildung eines monistisch-pantheistischen Weltbildes hereingenommen, das schon zum naturphilosophischen Begründungszusammenhang der stoischen Ethik und Psychotherapie gehörte. Die geschichtliche Prozessualität, die Verlagerung der kosmologisch verankerten antiken Logos-Gewißheit in das Ergebnis einer im Subjekt sich abspielenden Bewußtseinsprogression und schließlich die Verbindung mit einem emphatisch vollzogenen und schon geschichtlich reflektierten Säkularisierungsvorgang zeigen aber zugleich den Funktionswandel der stoischen Philosophie und eine neue, „moderne“ Stufe ihres Fortlebens.

Die poetologische Transformation der stoischen Euthymie: Marc Aurel und Hölderlins Ode Dichtermut von Jochen Schmidt Marc Aurels Selbstgesprche 1 gehörten zum Bildungskanon des 18. Jahrhunderts.2 Den Titel eQr 2autºm übernahm Hölderlin leicht variierend in ein Epigramm, das er mit der (akzentlosen) griechischen Überschrift pqor eautom versah.3 Das Verzeichnis der von ihm hinterlassenen Bücher enthält den Titel: Marci Antonini Philosophi Commentarii. 4 Marcus Antoninus ist identisch mit Marc Aurel, denn dieser gelangte durch Adoption zum Kaisertum und ersetzte deshalb seinen zweiten Namen durch denjenigen seines Adoptiv-Vaters, des Kaisers Antoninus Pius. Erhielt Marc Aurels Adoptiv-Vater wegen seiner Frömmigkeit den Beinamen Pius, so verdankte er selbst seiner philosophischen Haltung und Schriftstellerei den im Titel von Hölderlins Ausgabe erscheinenden Beinamen Philosophus. 1

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Zitate

nach der zweisprachigen Ausgabe: LAQJO£ AMTOMIMO£ A£TOJQATOQOS TA EIS EA£TOM – Kaiser Marc Aurel: Wege zu sich selbst, herausgegeben und übertragen von Willy Theiler. Zürich 1951. – Ich übernehme Partien aus dem Buch: Jochen Schmidt: Hçlderlins spter Widerruf in den Oden ,Chiron‘, ,Blçdigkeit‘ und ,Ganymed‘, Tübingen 1978 (S. 103 – 112). In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in einem Zeitraum von knapp dreißig Jahren erschienen nicht weniger als fünf, ständig verbesserte und vermehrte Auflagen von folgender deutscher Übersetzung: Des Rçmischen Kaysers Marcus Aurelius Antoninus erbauliche Betrachtungen ber sich selbst. Aus dem Griechischen bersetzt, Und nebst kurtzen Anmerckungen, auch mit seinem Leben vermehret durch Johann Adolf Hoffmann (5. Ausg. Hamburg 1755). – Die Ausgabe Hölderlins erschien im Jahre 1775, im Jahre 1797 dann wieder eine neue Übersetzung, die zugleich dem allgemeineren Studium der stoischen Philosophie dienen sollte: Marc Aurel. Antonius Unterhaltungen mit sich selbst. Aus dem Griechischen mit Anmerkungen und Versuchen zur Darstellung stoischer Philosopheme von Johann Wilhelm Reche. Frankfurt a.M. 1797. Friedrich Hölderlin: Smtliche Werke und Briefe. Drei Bände, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt 1992 – 1994, Bd. 1: Gedichte, S. 221. Hölderlin (wie Anm. 3). Bd. 3: Die Briefe. Briefe an Hçlderlin. Dokumente, S. 693.

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Mit einer spezifischen Anwendung auf den Dichter signalisiert schon der Titel Dichtermut ein Hauptthema der von Marc Aurel rezipierten mittleren Stoa: das Thema der „Euthymie“, des frohen Lebensmutes, ja der Lebensfreude, die sich aus dem Vertrauen auf die Beheimatung in einem harmonischen Kosmos ergibt. Panaitios, der Lehrer des Poseidonios, verfaßte in diesem Sinn eine besondere Schrift mit dem Titel Euthymia. In der Zeit der frühen Tübinger Hymnen hatte Hölderlin das von Seneca vermittelte kämpferische Pathos alt-stoischer virtus-Bewährung übernommen. Später, als er umfassend und konsequent eine pantheistische Weltanschauung ausbildete, wandte er sich der mittleren Stoa zu. Sie vermied die Widersprüchlichkeit der altstoischen Position, die sich aus dem Vernunft- und Tugendrigorismus insofern ergab, als dieser mit dem stoischen Grundkonzept einer sämtliche Lebenserscheinungen naturgesetzlich tragenden und bestimmenden Allnatur nicht in Einklang zu bringen war. Der naturphilosophischen Annahme einer „Allnatur“, der v¼sir t_m fkym, entsprach im Horizont eines strikt monistischen Denkens das Natur- und Kosmosvertrauen der mittleren Stoa viel mehr, weil es den harten Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit aufhob. Zugleich waren die psychotherapeutischen Möglichkeiten größer: Während die alte Stoa den Idealzustand der Gemütsruhe, der Ataraxie, durch eine weitgehende und gewaltsame Abschließung vom Lebenszusammenhang erreichen wollte, ging die Lehre der mittleren Stoa, wie sie Panaitios und Poseidonios an Marc Aurel weitervermittelt hatten, von einem durch die Wahrnehmung der Allnatur begründeten Kosmosvertrauen aus. Die kosmische Natur bewirkt eine prästabilierte Harmonie und erspart dem Menschen jede zerstörerische Unruhe im Hinblick auf die Fundamente des Daseins. So ergibt sich die stoische Gelassenheit aus der Gewißheit prinzipieller Unanfechtbarkeit. Damit ist das Konzept einer vom Leben isolierenden Apathie und Ataraxie ebenso überholt wie die harte Sollensethik der älteren Stoa. Im Gegenteil, aus der „Sympathie“ mit dem großen Ganzen kann sich der Mensch im Lebenszusammenhang aufgehoben wissen. Er bedarf nur noch des Zuspruchs, um dessen inne zu werden. Über die bloße Gelassenheit hinaus führt das Gefühl der sympathetischen Allverbindung zu einem freudig gesteigerten Zustand: zum frohen Lebensmut, zur „Euthymie“. Hölderlin überträgt diesen frohen Lebensmut erstmals ins Poetologische: in den „Dichtermut“. Das ist weit mehr als eine bloße Applikation stoischer Denkfiguren. Denn diese fügen sich in Hölderlins poetologische Grundanschauung vollkommen

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ein. Für ihn stehen gerade die Dichter in einer ursprungshaft-intuitiven Beziehung zur Allnatur. Aus ihr gewinnen sie ihre Legitimation und ihre Inspiration. In der Hymne Wie wenn am Feiertage … heißt es von den Dichtern: „So stehn sie unter günstiger Witterung / Sie die kein Meister allein, die wunderbar / Allgegenwärtig erzieht in leichtem Umfangen / Die mächtige, die göttlichschöne Natur“.5 Die Ode Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter reflektiert in virtuoser Verdichtung das poetologische Urthema des Verhältnisses von Natur und Kunst (physis und techne, ingenium und ars), um die Bedingtheit der „Kunst“ durch ihren schöpferischen und zugleich legitimierenden Ursprungsbereich in der „Natur“ zum Ausdruck zu bringen. Diese poetologische Valenz der Allnatur ließ sich in vollkommener Weise mit ihrer Bedeutung in der stoischen Philosophie verbinden. So kann die stoische Euthymie zum spezifischen „Dichtermut“ werden, ja der Dichter, der aufgrund seiner besonderen Sensibilität in einem privilegierten Verhältnis zur Allnatur steht, ist deshalb auch zum paradigmatischen Repräsentanten der stoischen Lebenshaltung berufen. Zugleich aber zeigt die Ode jenen psychotherapeutischen und konsolatorischen Duktus, der verrät, daß der Lebens- wie der Dichtermut nicht einfach vorhanden ist, sondern in einem Akt der Selbstermutigung zugesprochen werden muß. Dies geschieht in Selbstgesprächen, wie sie Marc Aurel, in einer schon ausgebildeten stoischen Tradition6, mit seinen Meditationen bot. Auch das dichterische Ich in Hölderlins Ode spricht sich selbst an, in lyrischstoischer Selbstzuwendung7:

Dichtermut Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen, Nährt die Parze denn nicht selber im Dienste dich? Drum, so wandle nur wehrlos Fort durchs Leben, und fürchte nichts! Was geschiehet, es sei alles gesegnet dir, Sei zur Freude gewandt! oder was könnte denn Dich beleidigen, Herz! was Da begegnen, wohin du sollst? 5 6 7

Friedrich Hölderlin: Smtliche Werke und Briefe. Drei Bände, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt 1992 – 1994, Bd. 1: Gedichte, S. 239, V. 10 – 13. Hierzu Heinrich Otter: De soliloquiis quae in litteris Graecorum et Romanorum occurrunt observationes. Diss. Marburg 1914. Hölderlin: Gedichte (wie Anm. 3), S. 303 f.

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Denn, seitdem der Gesang sterblichen Lippen sich Friedenatmend entwand, frommend in Leid und Glück Unsre Weise der Menschen Herz erfreute, so waren auch Wir, die Sänger des Volks, gerne bei Lebenden Wo sich vieles gesellt, freudig und jedem hold, Jedem offen; so ist ja Unser Ahne, der Sonnengott, Der den fröhlichen Tag Armen und Reichen gönnt, Der in flüchtiger Zeit uns, die Vergänglichen, Aufgerichtet an goldnen Gängelbanden, wie Kinder, hält. Ihn erwartet, auch ihn nimmt, wo die Stunde kömmt, Seine purpurne Flut; sieh! und das edle Licht Gehet, kundig des Wandels, Gleichgesinnet hinab den Pfad. So vergehe denn auch, wenn es die Zeit einst ist Und dem Geiste sein Recht nirgend gebricht, so sterb’ Einst im Ernste des Lebens Unsre Freude, doch schönen Tod!

Das Gedicht beginnt mit dem von Marc Aurel immer wieder hervorgehobenen Grundgedanken der allgemeinstoischen Kosmoslehre, daß eine Natur alles Leben durchwirkt – die v¼sir t_m fkym – und daher der Mensch, wie vor allem Poseidonios betont, zu allem Lebendigen sich in einem Verhältnis der Verwandtschaft befindet. „Alles ist wesensverwandt“ (p²mta c±q blocem/), konstatiert Marc Aurel (VI,37), und aus der Einsicht, daß der Mensch „in einem Verhältnis innerer Zugehörigkeit zu den verwandten Teilen“ des Naturganzen steht ([…] fti 5wy pyr oQje¸yr pq¹r t± blocem/ l´qg, X,6), folgert er, daß er sich mit allem Begegnenden als einem letztlich Passenden befreunden könne (fti l´qor eQl· fkou toO toio¼tou, eqaqest¶sy pamt· t` !poba¸momti […]) und sich vor nichts zu fürchten brauche. So gibt sich auch Hölderlin auf die rhetorisch-affirmative Frage „Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen?“ die Antwort: „Drum […] fürchte nichts!“ Sich nicht zu fürchten und zu beunruhigen – „zum ersten beunruhige dich nicht“, sagt Marc Aurel (t¹ pq_tom lµ taq²ssou, VIII,5) – das ist ja der eigentliche Inhalt der stoischen Ataraxia. In diesem tragenden Rahmen der ersten Strophe erscheinen nun zwei speziellere Vorstellungen, deren Zitatcharakter Hölderlin absichtsvoll hervortreten läßt. Die zweite Frage: „Nährt die Parze denn nicht selber im Dienste dich?“ entspricht zunächst ganz allgemein der stoischen Schicksalsfrömmigkeit, denn aus

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dem Kosmosvertrauen entspringt die Hingabe an die Heimarmene; doch hat Hölderlin diesen Gedanken nicht eigenwillig mythologisiert durch den Hinweis auf die „Parze“. Er übernahm das Mythologumenon direkt aus der Schrift Marc Aurels. Da die Parze Klotho den Lebensfaden spinnt und insofern das Menschenleben erhält („nährt“, sagt Hölderlin), fordert Marc Aurel: „Gern vertraue dich der Klotho an […]“ (gEj½m seaut¹m t0 Jkyho? sumepid¸dou […] IV,34), und wiederholt betont er, daß aus dem Naturganzen das einzelne Schicksal „gesponnen“ wird – dieses Wort entspricht dem Verbalstamm des Parzennamens „Klotho“ und wird von Marc Aurel mit deutlichem Verweisungscharakter gebraucht.8 Die zweite Strophe steht in der gedanklichen Konsequenz der ersten. Ihre spezifische Prägung und Aussagequalität aber läßt sich erst auf dem Hintergrund der stoischen Tradition erkennen. Die Selbstermunterung „Was geschiehet, es sei alles gesegnet dir, / Sei zur Freude gewandt“, der verstärkend die fragende Verneinung des negativen Aspekts folgt, daß nämlich nichts „beleidigen“ und auf schädliche Weise „begegnen“ könne, entspricht einem häufigen stoischen Topos in Marc Aurels Schrift. „Alles stimmt mit mir zusammen“ (p÷m loi sumaqlºfei, IV,23) sagt der kaiserliche Philosoph, oder : „Jedes Begegnis ist so vertraut und bekannt wie die Rose im Frühling und die Frucht im Sommer“ (IV,43). Mit dem immer wiederkehrenden Stichwort der sulbaimºmtym, das Hölderlin alsbald mit dem Begriff des „Begegnens“ aufnimmt, greift Marc Aurel auf einen Terminus zurück, dem schon in der alten Stoa, bei Zenon, Chrysipp und Kleanthes besondere Bedeutung zukam und der dann bei Poseidonios wiedererscheint. Die stoische Maxime: „naturgemäß leben!“ (blokocoul´myr t0 v¼sei f/m – secundum naturam vivere oder congruenter naturae vivere) beziehen sie auf alles, was in der (All-)Natur sich ereignet und dem Menschen „begegnet“.9 Daher kann Marc Aurel folgern: „[…] heiße alles Geschehen

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Vgl. IV,26: „Vom All (1j t_m fkym) wurde dir seit allem Anfang zugeteilt (sucjahe¸laqto) und zugesponnen (sumejk_heto) jedes Begegnis“; VII,57: „nur lieben, was einem begegnet und zugesponnen wird (t¹ […] sucjkyhºlemom); denn was ist angemessener?“ Diogenes Laërtius VII 87 (Stoicorum Veterum Fragmenta [künftig: SVF], collegit Joannes ab Arnim. Vol. I-IV. Stuttgart 1978 – 1979. Neudruck der Erstausgabe von 1903 – 1905, III, Nr. 4) berichtet, der Areté entsprechend leben heiße: „gemäß der Erfahrung des von Natur aus Begegnenden leben“, wie Chrysipp sage, denn wir seien selbst „Teil des Naturganzen“, p²kim d’ Usom 1st· t¹ jat’

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willkommen“ (V,8). Hölderlins Echo lautet: „Was geschiehet, es sei alles gesegnet dir […]“). Diese innere Haltung begründet Marc Aurel stets mit dem Wirken der Allnatur und des Göttlichen: „daß mir nichts begegnen wird (sulb¶setai), was nicht nach der Natur des Alls ist“ ( jat± tµm t_m fkym v¼sim, V,10); „Gegen die Bestimmung der allgemeinen Natur wird dir nichts begegnen“ (VI,58); „Begegnet mir etwas? Ich nehme es an, indem ich es auf die Götter beziehe und den Allquell […]“ (VIII,23); „Indem ich mich also erinnere, daß ich ein Teil des so gearteten Ganzen bin, werde ich mich mit allem Begegnenden (pamt· t\T !poba¸momti) befreunden“ (X,6). Hölderlins Frage: „[…] was könnte denn / Dich beleidigen, Herz! was / Da begegnen, wohin du sollst?“ weist noch besonders auf die Identität von Natur und Schicksal. Das „Herz“ folgt seiner inneren, naturgegebenen Bestimmung, denn sein „Sollen“ ist das ihm selbst eigene, nicht ein von fremdem Zwang auferlegtes, und als naturgegebenes Sollen bewegt es sich auch im Raum der prästabilierten allgemeinen Naturharmonie. Die beiden nächsten Strophen wenden die Vorstellung vom natürlichen Allzusammenhang des Lebendigen auf den Bereich des menschlichen Zusammenlebens an: Höchste Erscheinung jener universalen Verwandtschaft des Lebendigen ist die menschliche Gemeinschaft, das „Volk“ (V. 13). In pointierender Analogie zu der Verwandtschaft der „Lebendigen“ am Anfang der ersten Strophe wendet !qetµm f/m t` jat’ 1lpeiq¸am t_m v¼sei sulbaimºmtym f/m, ¦r vgsi Wq¼sippor 1m t` pq¾t\ peq· Tek_m. l´qg c²q eQsim aR Bl´teqai v¼seir t/r toO fkou.

Analog SVF III, Nr. 12, nun mit Betonung der „ganzen’“ Natur: „gemäß der Erfahrung dessen, was in der ganzen Natur begegnet“ (mit Bezug auf Chrysipp und Poseidonios). Jat’ 1lpeiq¸am t_m jat± tµm fkgm v¼sim sulbaimºmtym f/m, fpeq Qsodumale? t` blokocoul´myr eQpe?m f/m. Das Florilegium des Stobaeus, einer der wichtigsten Überlieferungsträger stoischer Philosopheme, führt diesen Grundsatz bis zu Zenon und Kleanthes zurück (Stob Eclog. II 76,3W = SVF III, Nr. 12): Kleanthes habe im Gefolge Zenons konstatiert, das Vollkommenheitsziel (t´kor) sei: „in Übereinstimmung mit der Natur leben“ (blokocoul´myr t0 v¼sei f/m). Dies habe Chrysipp verdeutlichen wollen und daher die Wendung folgendermaßen ausgeführt: „Leben gemäß der Erfahrung des von Natur aus Begegnenden“ (f/m jat’ 1lpeiq¸am t_m v¼sei sulbaimºmtym). Die lateinische Version lautet: „vivere adhibentem scientiam earum rerum, quae natura evenirent“ – „Leben mit Anwendung des Wissens von den Dingen, die sich von Natur aus ereignen“ (Cicero: De finibus bonorum et malorum IV 14). Der lateinische Terminus „evenire“ akzentuiert das Ereignishafte (vgl. auch Cicero de fin II 34: „vivere cum intelligentia rerum earum, quae natura evenirent“ – „Leben mit der Einsicht in die Dinge, die sich von Natur aus ereignen“).

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sich der Beginn der dritten Strophe dem Volk der „Lebenden“ zu. Auch diese Anschauung von der menschlichen Gemeinschaft als der höchsten Form natürlichen Daseins sowie ihre Begründung aus dem größeren Kosmos der Natur ist – in deutlichem Unterschied zur epikureischen Lebenshaltung10 – stoisch. Sie bestimmte nicht nur das griechische Polisdenken11, sondern durch die Vermittlung der mittleren Stoa auch das römische Staatsdenken12 und insbesondere die Reflexion Marc Aurels auf seine staatsmännische Verantwortung, ja darüber hinaus einen ausgeprägten Kosmopolitismus.13 „Der Geist des Alls ist gemeinschaftsfördernd“ (gO toO fkou moOr joimomijºr, V, 30), stellt er fest. Übertragen schon die beiden ersten Odenstrophen die Einsicht des stoischen Weisen in die Harmonie der Allnatur auf den Dichter, der so seinen „Dichtermut“ gewinnt, so werden in den beiden folgenden Strophen die Dichter zu bevorzugten Vertretern jener stoischen, aus dem Kosmosdenken entspringenden Gemeinschaftshaltung. Aus dieser Gemeinschaftshaltung, aus der „friedenatmend“ der Gesang entsteht und die sich unmittelbar darin äußert, daß die Dichter „gerne bei Lebenden“ sind, wächst noch ganz besonders der Dichtermut, der im allgemeinen schon aus dem umfassenden Naturzusammenhang resultiert. Deshalb beginnt die dritte Strophe mit einem begründenden „Denn“. Der im Übergang von der vierten zur fünften Strophe entwickelten Analogie zwischen dem dichterischen, „jedem offenen“ Gemeinschaftssinn und dem Sonnengott, der allen, gleich, ob arm oder reich, 10 Um Beunruhigungen zu vermeiden, lebt der epikureische Weise zurückgezogen nach der Devise: k²he bi¾sar – „lebe im Verborgenen“. 11 Immer wieder stellen sich die Stoiker sogar den Kosmos selbst als pºkir vor (SVF II, Nr. 528; Nr. 645; Nr. 1130). Cicero referiert die Vorstellung mehrmals in seiner Schrift De natura deorum (II 78: „[…] eine Welt wie ein gemeinsames Staatswesen und eine [gemeinsame] Stadt“ – „[…] unum mundum ut communem rempublicam atque urbem“; II 133: „Denn die Welt ist gleichsam ein gemeinsames Haus der Götter und Menschen oder ein Stadtwesen beider. Denn allein durch den Gebrauch ihrer Vernunft leben sie nach Recht und Gesetz“ – „Est enim mundus quasi communis deorum atque hominum domus aut urbs utrorumque. Soli enim ratione utentes iure ac lege virunt.“) Besonders markant Philo de Joseph (= SVF III, Nr. 323): „Eine Großstadt ist dieser Kosmos und er ist durchwirkt von einer einzigen Regierung und einem einzigen Gesetz“ (B l³m c±q lecakºpokir fde b jºslor 1st· ja· liø wq/tai pokite¸ô ja· mºl\ 2m¸.) 12 Vgl. den einleitenden Überblick, S. 32. 13 Hierzu: G. R. Stanton: The cosmopolitan ideas of Epictetus and Marcus Aurelius, in: Phronesis 13, 1968, S. 183 – 195.

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den fröhlichen Tag gönnt, kommt wiederum spezifisch stoische Bedeutung zu. Kleanthes machte die Sonne als Leitinstanz (hegemonikón) alles physischen und geistigen Lebens sowie als alles bestimmende Ordnungsmacht zum Zentrum seines Kosmosdenkens.14 Die Sonne ist ihm die Ur-Potenz in ihrer allesdurchwirkenden Kraft. Marc Aurels Version lautet: „Ein Licht der Sonne ( FEm v_r Bk¸ou) […] Eine allgemeine Substanz […] Eine Denkseele (moeq± xuw¶) […] Die Denkkraft aber erstreckt sich in besonderer Weise auf das Verwandte und schließt sich ihm an, und das Gemeinschaftsempfinden (t¹ joimomij¹m p²hor) wird nicht unterbrochen“ (XII,30). In der Ode Blçdigkeit, einer späten Fassung der Ode Dichtermut, verwandelt sich der „frçhliche Tag“ der früheren Ode zum „denkenden Tag“. Damit vollzieht Hölderlin die Wendung vom bloßen Lebensprinzip zum geistigen Prinzip des „Lichts“, zur „Denkseele“, die nach stoischer Lehre die besondere Gemeinsamkeit der Menschen begründet. Aus ihr, aus der geistigen Natur, dem „Logos“, ergibt sich deshalb, ungeachtet aller anderen Unterschiede, wie etwa arm und reich, die wesensmäßige Zusammengehörigkeit der Menschen. „Denn es gibt eine Welt aus allem“, sagt Marc Aurel (VII,8), „und eine Substanz und ein Gesetz, die Vernunft (mºlor eXr, kºcor joimºr), die allen geistigen Wesen gemeinsam ist“. Für den Menschen als Vernunftwesen ist naturgemäß und vernunftgemäß ein und dasselbe (VII,11). Der „Tag“ zuerst des alles durchwirkenden Lebensprinzips und dann des Denkens hält die Menschen in Hölderlins Ode „aufgerichtet“ (V. 19). Sie sind nicht autonom, sondern „aufrecht“, weil „aufgerichtet“: Immer bleiben sie in den allgemeineren Zusammenhang integriert. In diesem Sinne formuliert Marc Aurel nicht eine Alternative, sondern eine Gleichung mit den Worten: „Aufrecht oder aufgerichtet“ (’Oqh¹r C aqho¼lemor, VII,12). Hölderlin betont durch das Bild der „Gängelbande“ (V. 20), das pietistischen Ursprungs ist15 und insofern einen Synkretismus erzeugt, gleichermaßen das Hegemonikon und die kosmisch-naturhafte Aufgehobenheit, ja ,Aufgerichtetheit‘ des Menschen. Die Schlußpartie des Gedichts entfaltet voll das schon in der fünften Strophe exponierte Motiv der „flüchtigen Zeit“ und des „Vergänglichen“: Die sechste Strophe gilt dem Untergang der Sonne im Wandel der Tages-Zeit, die letzte dem „Vergehen“ und dem „schönen Tod“ des dichterisch Weisen. Zug um Zug entwickelt Hölderlin das in der 14 SVF I, Nr. 499. 15 Nachweise in dem in Anm. 1 genannten Werk, S. 108, Anm. 4.

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Stoa zentrale Thema des aus der philosophischen Haltung sich ergebenden schönen Sterbens, des jak_r hame?m, aus der stoischen Argumentation selbst. Nur tritt an die Stelle des stoischen Weisen wieder der Dichter mit seiner ebenbürtigen Einsicht in das Gesetz der Zeitlichkeit, das er in demjenigen der Allnatur aufgehoben weiß. Wer es erkennt, den ficht weder Vergänglichkeit noch Tod an, er vermag sich seine stoische Ataraxie auch angesichts des eigenen Untergangs zu bewahren, der so zu einem furchtlosen, zu einem „schönen Tod“ wird. „Das Sterben“, sagt Marc Aurel, „ist nichts anderes als ein Werk der Natur“ (II,12); oder: „Der Tod ist, so wie die Geburt, ein Mysterium der Natur“ (IV,5); oder: man solle heiter sterben, „denn auch das ist ein naturgemäßer Vorgang“ (X,36); oder: man solle den Tod mit heiterem Sinn erwarten, denn die Auflösung sei doch „naturgemäß“ ( jat± v¼sim c²q, II,17). Hölderlin pointiert diese Idee des Naturgemäßen durch die analoge Vorstellung vom Untergang der Sonne in der vorletzten Strophe – der Sonnenuntergang vollzieht sich ja im harmonischen Naturrhythmus. Aus der Reflexion auf die Naturgemäßheit von Vergehen und Tod ergibt sich die Folgerung, daß der Tod nie unzeitig kommen kann. Denn der Kairós, die Rechtzeitigkeit, ist ein notwendiges Element der Naturgesetzlichkeit. „Die rechte Zeit“ ( jaiqºm), heißt es in Marc Aurels Schrift, „und die Grenze bestimmt die Natur, die eigene, wie im Alter, jedenfalls aber die Natur des Alls […]“ (XII,23). Konsequent hebt auch Hölderlin den Kairós zweimal hervor. Zuerst in Anbetracht der kosmischen Allnatur: Helios geht unter, „wo die Stunde kömmt“; und dann im Hinblick auf das menschliche Leben: es endet, „wenn es die Zeit einst ist“. Einen ebenso wesentlichen Aspekt des naturgesetzlichen Zeitrhythmus enthält der Begriff des „Wandels“ (letabok¶). Vom bloßen Vergehen unterscheidet sich der „Wandel“ insofern, als er die Fortdauer im Wechsel akzentuiert und damit die Orientierung auf die ewige Allnatur hin gibt. „Alles im Wandel“ (p²mta 1m letabok0, IX,19), sagt Marc Aurel, und: „Verlust ( !pobok¶) ist nichts anderes als Verwandlung (letabok¶). Daran hat die Allnatur Freude“ (IX,35), schließlich: „gewöhne dich, einzusehen, daß die Natur des Alls nichts so liebt wie die Dinge zu verwandeln“ (letab²kkeim, IV,36). In diesem Sinn soll in Hölderlins Ode der Dichter „kundig des Wandels sein“ – wie das Licht der Sonne. „Kundig“ sein heißt im Wechsel die Dauer erkennen. Aus solchem Verstehen des Wandels ergibt sich der stoische Gleichmut. „Gleichgesinnet“ geht das Licht hinab den Pfad. Die unge-

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wöhnliche Prägung „gleichgesinnet“ bedarf, weil es sich um das stoische Hauptziel der Ataraxie handelt, einer genaueren Erörterung. Am nächsten liegt die Erinnerung an Horazens „aequa mens“ in carm. 2,3: Aequam memento rebus in arduis servare mentem.16 In der Tat kennt der ältere deutsche Sprachgebrauch das Wort „gleichsinnig“ in der Bedeutung von „gleichmütig“, „gelassen“.17 Auch daß Hölderlin nicht das Wort „gleichsinnig“, sondern die Form: „gleichgesinnet“ wählt, ist im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich, wenn auch selten. Gottsched verwendet sie im Sinne von „gleichmütig“ in seinem Drama Sterbender Cato, bezeichnenderweise ebenfalls in stoischem Kontext. Von Cato, dem stoischen Tugendhelden par excellence18, heißt es: „Bewundre doch den Held! Er hat nicht seinesgleichen, / Die Götter haben ihn mit vielen Unglücksstreichen / Bisher umsonst versucht. Er steht noch immer fest: / Weil ihn sein starker Mut nicht einmal wanken läßt. / Er bleibet gleichgesinnt bei allen ihren Schlägen […]“.19 Doch dürfte Hölderlin die Form „gleichgesinnet“ noch mit einer besonderen Absicht gewählt haben. In Marc Aurels Katalog stoischer Eigenschaften heißt es unter anderem, der Stoiker müsse auch s¼lvqym sein („gleichgesinnt“, nach Ausweis aller Lexica). Die Haltung des s¼lvqym, so lautet die Definition, sei „die bereitwillige Annahme des von der allgemeinen Natur Zugeteilten“ (t¹ d³ s¼lvqym tµm 2jo¼siom !pºdenim t_m rp¹ t/r joim/r v¼seyr !pomelol´mym X,8). Nicht nur auf das Moment des Gleichmuts gegenüber dem äußeren Geschehen, sondern auf das viel weitergehende der inneren Zustimmung, der „bereitwilligen Annahme“ kommt es also an. So verstanden müßte der Begriff des Gleichen in der Prägung „gleichgesinnt“ der inneren Adäquatheit gelten. Viel spricht dafür, daß Hölderlins Intention in diese Richtung ging. Denn die anderen Wendungen der Ode deuten 16 So auch Friedrich Beißner in: Hçlderlin, Smtliche Werke und Briefe. Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. 2,2, S. 538, Z. 29 f. 17 Das Deutsche Wçrterbuch der Brüder Grimm gibt mehrere Belege aus der Zeit um 1800 (IV, I,4, Sp. 8231), so aus Klingers Werken: „sie nahm es gleichsinnig und gelassen an“ (1809; I,405); „schon wieder feuer: warum nun nicht kalt und gleichsinnig: mein herz ist noch immer zu ehrlich, zu voll“ (I,375); am aufschlußreichsten aber ist ein älteres Zeugnis, weil es direkt den lateinischen Ausgangsbegriff „aequus animus“ nennt und den Charakter der Lehnübersetzung sprachgeschichtlich faßbar macht: „ein gleichsinniger Mut (aequus animus) ist in elend und trawrigkeit die beste lust“ (Bas. Faber, thesaur. (1587), 21a). 18 Vgl. hierzu die Abhandlung von Barbara Beßlich in Bd. 1 dieses Werks. 19 V. 65 – 69.

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mehr noch als auf Gleichmut auf die „bereitwillige Annahme“ mittels harmonischer Adaequation: „[…] es sei alles gesegnet dir, / Sei zur Freude gewandt […]“; „[…] die Sänger des Volks […] freudig und jedem hold, / Jedem offen […]“. Bezeichnenderweise ersetzt die spätere Ode Blçdigkeit das Wort „hold“ in der zuletzt zitierten Stelle durch ein „gleich“. Die Dichter, so heißt es nun, sind „jedem gleich“. Diese „Gleichheit“ meint die sympathetisch empfundene Entsprechung zum anderen und die daraus entspringende „bereitwillige Annahme“. Endlich ist der „fröhliche Tag“ allen, „Armen und Reichen“, gleichermaßen gegönnt. Schlüssig geht so die Idee der Gleichheit aus der Grundanschauung von der gemeinschaftlichen Natur und der „Verwandtschaft“ aller hervor. Die begeisternde Empfindung einer harmonischen Allnatur und der „Sympathie“ alles Lebendigen erzeugt die „Freude“. Freude als Gefühl universaler Harmonie, ein in Hölderlins Dichtung insgesamt zentraler und allgemein für das 18. Jahrhundert bis hin zu Schiller und Beethoven in dieser spezifisch geistigen Bedeutung wesentlicher Wert, ist das Leitmotiv der Ode Dichtermut und die höchste Form der „Euthymie“, des – hier dem Dichter zugeschriebenen – guten „Mutes“.20 In diesem Sinn soll in der zweiten Strophe alles „zur Freude gewandt“ sein; kann es in der dritten Strophe heißen, daß der Gesang als Ausdruck umfassender Harmonie das Herz der Menschen „erfreut“; werden die mit allem Lebenden, besonders mit der Gemeinschaft des Volks verbundenen Dichter „freudig“ genannt; gönnt der gleich den Dichtern dem Ganzen zugetane Sonnengott den „fröhlichen“ Tag; und so schließt auch die Ode mit dem Motiv der Freude: „[…] so sterb’ / Einst im Ernste des 20 Vgl. Spinoza: Ethik V, Lehrsatz 28; V, Lehrsatz 32; V, Lehrsatz 36. „Freude“ entspringt dem „amor dei intellectualis“, den Spinoza als oberste Erkenntnisart definiert, als Einsicht in das Wesen Gottes, die nach der früher entwickelten Gleichung „deus sive natura“ einer Einsicht in das Weltganze gleichkommt. Daß auch Spinoza unter diesem pantheistischen Aspekt vom stoischen Kosmosvertrauen als der Grundlage stoischer Gemütsruhe ausgeht, beweist die mehrfache Ineinssetzung der „höchsten Freude“ mit der „höchsten Zufriedenheit der Seele“ (z. B. Ethik V, Lehrsatz 32) und die ausdrückliche, klassischstoische Begründung, daß die Erkenntnis der Gott-Natur zu dieser „freudigen“ Vollkommenheit der inneren Stimmung führe, weil sie als Erkenntnis des aufgrund seiner Ganzheit und in dieser Ganzheit „Unveränderlichen“ und „Ewigen“ das geeignete Gegenmittel gegen alle irritierenden „Affekte“ sei – zu denen, auch bei Spinoza, die übliche „Freude“ gehört (vgl. Ethik V, Scholium zu Lehrsatz 20).

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Lebens / Unsre Freude, doch schönen Tod“. Der „schöne Tod“, der Tod in innerer Heiterkeit, ist das Vollendungsziel stoischen Lebens.

Die Aktualisierung des preußisch-stoischen Erbes: Kleists Prinz Friedrich von Homburg als patriotischer Appell am Vorabend der Befreiungskriege1 von Jochen Schmidt Am Vorabend der Befreiungskriege gegen Napoleon konzipierte Kleist sein Drama Prinz Friedrich von Homburg in mehrfacher Hinsicht als vaterländische Dichtung: Er wählte einen Stoff aus der preußischen Geschichte, um ihn auf die bedrängende Gegenwart zu beziehen; und er brachte zugleich ein Ethos zur Geltung, das die geschichtliche Kontinuität Brandenburg-Preußens bestimmte – ein stoisches Ethos, zu dem der Protagonist des Dramas individuell und subjektiv gelangt, das in der historischen Realität Preußens aber objektiv vorhanden war und dem sogar der Rang einer Staatsideologie zukam. Kleist suchte deshalb die von den preußischen Reformern intendierte patriotische Identifizierung des Einzelnen mit dem preußischen Staat nicht bloß politisch, sondern auch ethisch zu begründen. Ich erinnere zunächst an einige ethische Hauptaspekte der Stoa, um zu zeigen, inwiefern sie für Kleists Drama wesentlich geworden sind. Ein Grundanliegen der stoischen Ethik ist die Affektbeherrschung. Zum Inbegriff der festen, unerschütterlichen Haltung, die von der Beherrschung der Affekte zeugt, erhebt die Stoa die „constantia“. In Kleists Drama verkörpert der Kurfürst die stoische Tugend der constantia in geradezu programmatischer Deutlichkeit. In allen Situationen bewahrt er stoische Ruhe und gewinnt so seine Überlegenheit und Autorität. Am deutlichsten wird das im zweiten Auftritt des fünften Aktes, als die Truppen, die auf Nataliens eigenmächtige Initiative vor dem Schloß in der Nacht aufmarschiert sind, den dort residierenden Kurfürsten eigentlich aufs Äußerste beunruhigen müßten. In seiner Reaktion („Seltsam! – Wenn ich der Dei von Tunis wäre, / Schlüg’ ich, bei so zweideut’gem Vorfall, Lärm […]“) gibt er jedoch ein Musterbeispiel 1

Stark veränderte Fassung meines Aufsatzes: Stoisches Ethos in Brandenburg-Preußen und Kleists ,Prinz Friedrich von Homburg‘, in: Kleist-Jahrbuch 1993, S. 89 – 102.

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stoischer Fassung und Gemütsruhe. „So will ich mich auf märksche Weise fassen […]“ (V. 1419), läßt ihn Kleist sagen, und als der Feldmarschall mit dem Alarmruf „Rebellion!“ unangemeldet in sein Zimmer stürmt, ruft er ihm entgegen „Ruhig, ruhig!“ (V. 1428) – eine Demonstration der stoischen „tranquillitas animi“. Der Prinz selbst durchläuft ungewollt die Schule der Affektbeherrschung und gelangt schließlich zur stoischen Haltung gegenüber dem Tod, die ihm zuerst noch fehlt. Die antike Stoa unterschied zwischen dem Idealbild des „Weisen“, der das Stadium der Vollendung repräsentiert, und denjenigen, die noch auf dem Wege sind, den „procedentes“. „Mortem condiscere“, „sterben lernen“, lautet eine Hauptdevise Senecas2, des Stoikers, der für den ganzen neuzeitlichen Stoizismus und so auch für denjenigen Brandenburg-Preußens maßgebend war. Seit Beginn des Stoizismus, der zu den Grundströmungen der frühen Moderne gehörte, wurde diese Devise aufgenommen. „Que philosopher c’est apprendre à mourir“ – „daß Philosophieren sterben lernen heißt“ betitelt Montaigne ein Kapitel seiner Essais.3 Der Prinz von Homburg muß sterben lernen, und zwar genau nach stoischem Muster: Zum festen Repertoire der Stoa gehört eine Entscheidungssituation, in der sich der stoische Held angesichts von Gefahr und Tod zu bewhren hat. Der stoische Terminus für die Bewährungssituation lautet ,probatio‘. Das gilt für die alte Stoa wie für den Neustoizismus. Noch Gryphius hat in den Untertitel seines Trauerspiels Catharina von Georgien sowohl die ,constantia‘ als auch die ,probatio‘ aufgenommen: „bewährete Beständigkeit“. Die stoische probatio leistet der Prinz von Homburg, als der Kurfürst an ihn appelliert. „Mich selber ruft er zur Entscheidung auf!“ (V. 1342), sagt der Prinz zu Natalie, nachdem er im Gefängnis das Schreiben des Kurfürsten gelesen hat. „Mein Prinz von Homburg“, so lautet das Schreiben, „als ich Euch gefangen setzte, / Um eures Angriffs, allzufrüh vollbracht, / Da glaubt’ ich nichts, als meine Pflicht zu tun; / Auf euren eignen Beifall rechnet’ ich. / So bitt’ ich, sagt’s mir mit zwei Worten – / Und gleich den Degen schick’ ich euch zurück“ (V. 1307 – 1313). Dramatisch steigert sich die probatio, als der Prinz in einem ersten Impuls seinem Lebenstrieb folgt. Doch sofort verwirft er die entsprechende Antwort: „Pah! – Eines Schuftes Fassung, keines Prinzen“ (V. 1334). Der zweideutige Gebrauch des Wortes „Fassung“, das auch die stoische constantia meint, setzt sich fort: „Ich will nur sehn, 2 3

Seneca: Epistulae morales ad Lucilium, 26,9. Montaigne: Essais, 1. Buch, 20. Kapitel.

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wie ich mich fassen soll“, sagt der Prinz (V. 1338) und dann, nach seiner probatio: „Recht wacker in der Tat, recht würdig! / Recht, wie ein großes Herz sich fassen muß“ (V. 1343 f.). Man erkennt das Programmatische der Wortwahl, wenn man sich an Nataliens Eindruck von der Todesfurchtszene erinnert, in der sie den Prinzen „so fassungslos, so ganz / Unheldenmütig“ erlebte (V. 1171 f.), und erst recht, wenn man auf das Verhalten des Kurfürsten vorausblickt, der ein Beispiel seiner stoischen Gemütsruhe gibt, als er auf die Kunde von den nachts vor seinem Schloß aufmarschierten Truppen sagt (V. 1419): „So will ich mich auf märksche Weise fassen […]“. Kleist versieht den entscheidenden Moment mit einem weiteren stoischen Akzent, indem er einen Grundbegriff der stoischen Ethik, den der ,magnanimitas‘ miteinbringt.4 „Recht, wie ein großes Herz sich fassen muß!“ (V. 1344), konstatiert der Prinz in der Zufriedenheit über seine eigene Entscheidung. Der weite innere Weg, den er von der Todesfurchtszene bis zu dieser Entscheidung und bis zum Gewinn innerer Fassung zurücklegen muß, macht deutlich, daß heldenhafte Haltung nicht einfach vorgegeben ist, wie es das Klischee will. Kleist klagt einen größeren Spielraum des Menschlichen ein, indem er das stoisch-preußische Ethos zwar durchaus anerkennt, aber nicht schlechthin voraussetzt. Er begreift es als ein vom Einzelnen immer erst lebendig zu verwirklichendes Ethos. So verhält sich der Prinz angesichts seines offenen Grabes zuerst einmal als Mensch mit seinem kreatürlichen Überlebensdrang, und nur deshalb erhält seine weitere Entwicklung ihre seelische Tiefendimension, nur deshalb ist seine Haltung schließlich von innerem Wert. Die probatio des Prinzen kommt nicht unvermittelt. Ihr geht ein Monolog voran, der Einblick in die neue Stimmung des nun nicht mehr der Todesfurcht Verfallenen gewährt. Schon die Regie-Anweisung ist aufschlußreich: „Der Prinz von Homburg hängt seinen Hut an die Wand, und läßt sich nachlssig auf ein, auf der Erde ausgebreitetes Kissen nieder“. Dieses „nachlässige“ Verhalten verrät eine neue innere Gelassenheit. Sie zeigt sich auch darin, daß er seine Lage nun nicht mehr aus

4

,Magnanimitas‘ und ,magnitudo animi‘ sind Leitbegriffe in der ganz vom stoischen Denken geprägten und für die Begründung der preußischen Pflichtethik wichtigen Schrift Ciceros De officiis. Vgl. De officiis 6, 4; 22, 17; 22, 19; 23, 1; 24, 7; 25, 24; 30, 10. Auch in einer Reihe von Senecas philosophischen Schriften ist die „magnitudo animi“ ein Kennzeichen der stoischen Haltung, sie ist Schicksalsverachtung, „contemptio rerum externarum“.

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persönlicher Betroffenheit heraus betrachtet, sondern sie fatalistisch in den Horizont der conditio humana stellt (V. 1286 ff.): Das Leben nennt der Derwisch’ eine Reise, Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter. Ich will auf halbem Weg mich niederlassen! Wer heut sein Haupt noch auf der Schulter trägt, Hängt es schon morgen zitternd auf den Leib, Und übermorgen liegt’s bei seiner Ferse. Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch, Und über buntre Felder noch, als hier: Ich glaub’s; nur schade, daß das Auge modert, Das diese Herrlichkeit erblicken soll.

Daß der Prinz sich „auf halbem Wege“ sieht, trifft auch in übertragenem Sinn zu. Denn seine Worte sind noch nicht von der Kraft der Entscheidung bestimmt, zu der er in der Situation der probatio findet, und erst recht nicht deuten sie auf die zustimmende Annahme seines Schicksals, zu der er sich allmählich durchringt. Zwar zeugen sie von dem stoischen Gleichmut, für den Horaz die klassische Formel der „aequa mens“ und Seneca die der „tranquillitas animi“ geprägt hat. Bereits die in der Regieanweisung markierte nachlässige Geste signalisiert diesen stoischen Gleichmut. Doch ist er noch bloße Schicksalsergebenheit, durch die der Prinz den Tod als menschlich unausweichliche Notwendigkeit hinnimmt. Am Ende wird daraus anderes und mehr, und wieder in genauer Adaption des stoischen Ethos. Auf dem Weg zum Kurfürsten, von dessen Begnadigungsbereitschaft der Prinz nichts weiß, läßt er den Kirchhof öffnen, um das ihm bestimmte Grabgewölbe zu sehen. Für dieses Ereignis schuf Kleist eine eigene kleine Szene (V, 6) als Gegenstück zu jener ersten Szene, in der den vom Anblick des offenen Grabes Schockierten panische Todesfurcht befällt. Daß er nun, nach der probatio, die ihm bestimmte Grabstätte selbst mit voller Absicht aufsucht, ist vor allem ein Zeichen dafür, daß er in seiner neugewonnenen stoischen Haltung die Todesfurcht völlig überwunden hat. Er hat nun gelernt zu sterben. Darüberhinaus weist die – typisch stoische – meditatio mortis schon voraus auf die bereitwillige Annahme des Todes, die der Prinz in der nun beginnenden Schlußpartie des Dramas zum Ausdruck bringt. Damit erst läßt ihn Kleist das stoische Programm ganz erfüllen, denn stoisches Ethos angesichts des Todes beschränkt sich nicht auf Todesverachtung, auf Senecas Imperativ „contemne mortem“. Seit ihren Anfängen lehrte die Stoa auch die bereitwillige Annahme des

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Todes, eine innere Zustimmung, die aus einer höheren Einsicht ins Ganze resultiert. Nur daraus ergibt sich das „gute Sterben“, das die Stoiker in griechischen und lateinischen Formeln wie jak_r hame?m und „bene mori“ als höchsten, ganz souveränen Akt werten. „Gut sterben heißt bereitwillig sterben“, schreibt Seneca in seinen Briefen an Lucilius (61, 2): „Bene […] autem mori est libenter mori“. Wie sehr dieses altstoische Ethos auch den Neustoizismus bestimmt, bis hin zur positiven Annahme des eigenen Grabes, das zeigt die Grabschrift, die der bedeutendste deutsche Barocklyriker, der vom Neustoizismus stark geprägte Paul Fleming, für sich selbst verfaßte, um seine Todesbereitschaft zum Ausdruck zu bringen.5 Daß Kleist sein letztes Werk nach dem stoischen Denkmuster gestaltete, geht nicht allein aus der Entwicklung des Prinzen in dem Teil des Geschehens hervor, der von der Gewinnung der Gemütsruhe über die probatio bis zur souveränen Todesbereitschaft führt. Vollständig greifbar wird die strukturbildende stoische Semantik des Stücks erst aus der Einbeziehung auch der Anfangspartie, in der das Fortunamotiv so auffällig dominiert. Fortuna ist für die Stoiker von der Antike bis zum neuzeitlichen Stoizismus Inbegriff des Zufälligen, sowohl äußerer Glücksgüter wie unberechenbarer Schicksalsschläge: Inbegriff dessen, was sich der Autonomie und der Souveränität des Ichs entzieht oder sie sogar anficht. Deshalb fordert die Stoa, man müsse sich von Fortuna unabhängig machen, ja ihr widerstehen. „Fortunae resistere“ war schon eine Leitvorstellung der antiken Stoiker. Ihrer Anthropologie zufolge, die von der sittlichen Autonomie des Subjekts ausgeht, kann der Mensch selbst aus seinem Ethos heraus diesen Widerstand leisten. Der christlich modifizierte Stoizismus der frühen Neuzeit, insbesondere des Barock, leitet allerdings das Standvermögen gegenüber Fortuna aus der christlichen Heilsgewißheit her. Generell ist Fortuna, die emblematisch als Frau auf dem Glücksrad oder Frau auf der Kugel veranschaulichte Unbeständigkeit, das Gegenbild der stoischen „Beständigkeit“, der constantia. Die Verfallenheit an Fortuna kennzeichnet die ethisch nicht autonome Existenz. Als der Prinz von Homburg in der Anfangsphase des Geschehens noch nicht zur stoischen Haltung gefunden hat, huldigt er bezeichnenderweise gerade der Fortuna, und dies mit größtem Pathos und an exponierter Stelle. Der erste Akt schließt mit einem Monolog des Prinzen: einem leidenschaftlichen Anruf der Fortuna. Kleist geht so weit, die emblematische Fortuna auf der Kugel zu evozieren, die 5

Hierzu mein Beitrag im vorliegenden Werk.

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manchmal – bekanntestes Beispiel ist die Fortuna auf der Punta della Dogana in Venedig – sogar noch ein Segel als Zeichen wetterwendischer Unbeständigkeit in Händen hält (V. 355 ff.): Nun denn, auf Deiner Kugel, Ungeheures, Du, der der Windeshauch den Schleier heut, Gleich einem Segel, lüftet, roll’ heran! Du hast mir, Glück, die Locken schon gestreift: […]

Fortuna, das „Glück“, ist als „Ungeheures“ im eigentlichen Sinne das Nicht-Geheure, der menschlichen Verfügung Entzogene. Noch einmal, wiederum an exponierter Stelle, wendet sich der Prinz an Fortuna. Nach dem Sieg glaubt er sich berechtigte Hoffnungen auf die Hand Nataliens machen zu können und ruft aus (V. 713 f.): „O Cäsar Divus! / Die Leiter setz’ ich an, an deinen Stern!“ Cäsars „Stern“ ist sein Glücksstern, die sprichwörtliche „Fortuna Caesaris“. Deren Anrufung führt zur entscheidenden Peripetie: Der alsbald folgende Szenenwechsel, ein ebenso radikaler Glückswechsel wie derjenige Cäsars, der auf dem Gipfel seiner Laufbahn ermordet wurde, enthüllt das schlechthin Unbeständige der Fortuna. Das Szenen-Ende mit dem Anruf der Fortuna Caesaris prallt auf den Beginn der folgenden Szene, wo der Kurfürst erklärt, wer immer auch die Reiterei geführt habe, sei des Todes schuldig. In dieser jähen Peripetie gestaltet Kleist das Maximum möglicher Fallhöhe. Erst die dramaturgisch durch die Peripetie markierte Ablösung der Fortuna-Hoffnungen durch das folgende Geschehen, in dem der Prinz über eine Reihe von Stationen hinweg eine stoische Haltung gewinnt, läßt das stoische Konzept als strukturbildendes Grundmuster des Dramas hervortreten. Denn das Reich der Fortuna erscheint nun als zu überwindende Gegenwelt zum stoischen Ethos. Jenseits einer bloß individuellen Anverwandlung der stoischen Ethik verleiht der Bezug auf Brandenburg-Preußen der Konzeption Kleists ihre historische Tiefenschärfe. Vor allem griff er auf eine preußische Tradition zurück, auf ein geradezu zur Staatsideologie gewordenes Ethos, um die Entwicklung des Prinzen mit dem Staatsethos zur Deckung zu bringen. Die Forschungen des Historikers Gerhard Oestreich haben gezeigt, wie stark Brandenburg-Preußen durch den Stoizismus geprägt worden

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ist6 – seit dem großen Aufschwung des neuzeitlichen Stoizismus in den Niederlanden, denn die sogenannte niederländische Bewegung, die von der enormen Wirkungskraft des Justus Lipsius (1547 – 1606) und seinen stoischen Werken ausging, griff alsbald auf Brandenburg über. Lipsius und die von ihm angestoßene neustoizistische Bewegung zielte zunächst auf die Gewinnung eines Ethos, das in den Wirren der Zeit die menschliche Selbstbehauptung ermöglichen sollte, dann aber auf eine von der Herrschaftsausübung über das Verwaltungswesen bis zur Militärorganisation ausgreifende Sozialdisziplinierung. In ihr sieht man heute einen der wesentlichen Prozesse, durch die sich das neuzeitliche Europa formierte. Speziell im Hinblick auf Brandenburg-Preußen hat die historische Forschung sogar zwei stoisch geprägte Vermittlungsinstanzen dieser Sozialdisziplinierung hervorgehoben: Neben der von Lipsius inspirierten niederländischen Bewegung trug dazu der Calvinismus bei, der durch die Hugenotten nach Brandenburg kam. Der Genfer Reformator Calvin selbst hatte 1532 seine Laufbahn mit einem Kommentar zu Senecas Schrift De clementia begonnen. Auch wenn er von seinem christlichen Standpunkt aus Vorbehalte gegenüber der heidnisch-stoischen Lehre formuliert, übernimmt er deren zentrale Werte. So betont er die Selbstverantwortlichkeit des Menschen ganz im Sinne der Stoa. Das Gewissen, in dem sich das Naturrecht Geltung verschafft, macht nach Calvin den Menschen voll verantwortlich für sich selbst: „La fin donc de la loy naturelle est de rendre l’homme inexcusable […]“.7 Die Lehre praktischer Lebensführung, die für den Calvinismus im Vordergrund steht, ist bestimmt von der stoischen Ethik und ihren Leitbegriffen Standhaftigkeit, Festigkeit, Ausharren – constantia, firmitas, perseverantia. Damit verbindet sich die von der römischen Stoa propagierte Einfachheit der Sitten sowie das ebenfalls 6

7

Vgl. dazu folgende Aufsätze: Gerhard Oestreich: Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates. In: Historische Zeitschrift 181, 1956, S. 31 – 78; ders.: Der rçmische Stoizismus und die Oranische Heeresreform, in: Historische Zeitschrift 176, 1953, S. 17 – 43; ders.: Calvinismus, Neustoizismus und Preußentum, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 5, 1956, S. 157 – 181. Die erweiterte Fassung des zuletzt genannten Aufsatzes ist im vorliegenden Werk neu abgedruckt (S. 575 – 628). Zuvor erschien sie in: Gerhard Oestreich: Geist und Gestalt des frhmodernen Staates, Berlin 1969, S. 101 – 156. Vgl. Calvin: Kommentar zu den zehn Geboten, in: Opera, 24(1882): „Naturaliter […] insculpta est boni et mali notitia hominibus, quo reddantur inexcusabiles“. Grundlegend: Josef Bohatec: Calvin und das Recht. Feudingen 1934 (Neudruck Aalen 1971).

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stoische Ethos der Pflichterfüllung in Gemeinschaft und Staat. Zum calvinisch-stoischen Ethos gehört auch Selbsterziehung und strenge Selbstbeherrschung. Von der calvinischen Pflichtenethik und Staatsanschauung führt der Weg zu Kants preußischer Pflichtethik, die zugleich durch Ciceros stoische Grundschrift De officiis inspiriert war. Kants berühmtes Bekenntnis zur Pflicht lautet: „Pflicht, du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichlung bei sich führt, in dir fassest […] doch auch nichts drohest […] sondern blos ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemte Eingang findet“.8 Dem entspricht Kleists Prinz von Homburg mit seinem emphatischen Bekenntnis zum Gesetz, nachdem der Kurfürst ihn zur eigenverantwortlichen Entscheidung aufgerufen hat. Im Brandenburg des Großen Kurfürsten und seiner Nachfolger wirkte der Neustoizismus auf Hof, Adel, Beamtentum, Militär und wissenschaftliches Leben bis weit ins 18. Jahrhundert. Die gerade für Kleist, besonders für den Michael Kohlhaas wichtige Naturrechtslehre9 wurde von dem in Sachsen geborenen Samuel Pufendorf, einem führenden Kopf der niederländischen Bewegung, in seinem 1672 erschienenen Hauptwerk De iure naturae et gentium weiterentwickelt. Dieser bedeutende moderne Naturrechtslehrer lebte sechs Jahre in Berlin als Hofhistoriograph und Geheimer Rat bis zu seinem Tod 1694. Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts, bis zur grundlegenden Kodifikation des ,Allgemeinen Landrechts‘ von 1794, entstand geradezu ein ,preußisches Naturrecht‘, wie zuerst Dilthey ausführlich dargelegt hat. 8 9

Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. V, S.86. Kleist hörte eine Vorlesung über Naturrecht bei Ludwig Gottfried Madihn an der Universität Frankfurt/Oder. Vgl. den Brief an Wilhelmine von Zenge vom Mai/Juni 1800, sowie besonders den Brief an seine Schwester Ulrike vom 26. August 1800. Madihns Hauptwerk war 1795 unter dem Titel Grundstze des Naturrechts zum Gebrauch seiner Vorlesungen erschienen. Vgl. Gerd Heinrich: Die Geisteswissenschaften an der brandenburgischen Landesuniversitt Frankfurt/Oder von 1800. Bemerkungen zu Studienangebot und Gelehrtenbestand der Hochschule Heinrich von Kleists vor ihrer Auflçsung, in: Kleist-Jahrbuch 1983, S. 71 – 97, hier besonders S. 80 f.; Dietmar Willoweit: Heinrich von Kleist und die Universitt Frankfurt an der Oder. Rckblick eines Rechtshistorikers, in: Kleist-Jahrbuch 1997, S. 57 – 71 (zu weiteren Vorlesungen, die u. a. das Naturrecht behandelten: S. 63 f.). Die wichtigste Quelle ist die Darstellung des Professors der Geschichte und Universitätsbibliothekars Carl Renatus Hausen, der im Jahr 1800 ein Werk mit dem Titel publizierte: Geschichte der Universitt und Stadt Frankfurt an der Oder, seit ihrer Stiftung und Erbauung, bis zum Schluß des 18. Jahrhunderts, grçßtenteils nach Urkunden und Archiv-Nachrichten bearbeitet.

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Zahlreiche hohe preußische Beamte studierten in den vorbildhaften Niederlanden, und es ist symptomatisch, daß in Brandenburg-Preußen Lipsius’ Werke ständig neu aufgelegt und allgemein verbreitet wurden. Es kam sogar zum Druck von Lipsius-Florilegien. Überall kursierte das Schlagwort „constantia“. In seinen Politicorum sive civilis doctrinae libri sex hatte Lipsius selbst die neustoische Wertlehre bereits ins Politische transformiert. Dieses europäisch erfolgreiche Handbuch der zivilen und militärischen Regierungs- und Verwaltungskunst10, das aus dem Geist einer durch die römisch-stoische Morallehre disziplinierten Staatsräson konzipiert war, propagierte die Tugenden der Beständigkeit und der Mäßigung, der constantia und der temperantia, die Leitvorstellungen der auctoritas und disciplina, die in die preußische Pflichtenlehre und Arbeitsethik eingingen. Die aus diesem Werk abgeleiteten Monita et exempla politica (1605) erschienen 1674 im preußischen Wesel bereits in der 40. Auflage. Der spätere Große Kurfürst ging im Jahr 1634, begleitet von seinem Erzieher Johann Friedrich Kalkhuhn, den Kleist in V. 235 seines Homburg-Dramas nennt, in die Niederlande und verbrachte als Kronprinz die Zeit von 1634 bis 1638 an der Leidener Universität und im Hause des Statthalters Friedrich Heinrich von Oranien, dessen Tochter er zur Frau nahm. Auch in Kleists Drama spielt ja die niederländische Konnexion des Kurfürsten herein, denn Natalie ist eine Prinzessin von Oranien. Man hat gesagt, daß der Große Kurfürst seine Hauptstadt Berlin geradezu „verholländerte“, politisch und städtebaulich (bis hin zu einem „Holländischen Viertel“ und Straßen-Namen mit der näheren Bezeichnung „Damm“). Männer der niederländischen Bewegung ernannte er zu offiziellen Historiographen und Hochschullehrern. Insgesamt wurde der Neustoizismus und seine politische Ethik zu einem konstitutiven Element der brandenburgischen Identität. An der Landesuniversität Frankfurt an der Oder, in Kleists Heimatstadt, war schon vor der Zeit des Großen Kurfürsten mit der Erziehung einer neuen Generation von Staatsmännern und Beamten im Geist der neustoischen Ethik und Staatsauffassung begonnen worden. Noch im 18. Jahrhundert setzte sich diese Formierung des preußischen Staates im Sinne der neustoischen Ethik fort. Da die Familie von Kleist bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zahlreiche Generäle und Marschälle hervorgebracht hatte, konnte es für Kleist schon von der 10 Bis 1752 erschienen 54 lateinische Ausgaben, außerdem zahlreiche Übersetzungen. Vgl. die Angaben bei Ferdinand van der Haeghen: Bibliographie Lipsienne. Oeuvres de Juste Lipse. 3 Bde, Gent 1886 – 1888.

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Familientradition her nicht unerheblich sein, daß für die geistig-moralische Bildung speziell des preußischen Offiziers die Literatur der römischen Stoa selbst zum Vorbild diente, wie die militär- und staatswissenschaftlichen Lexika zahlreich belegen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Johann Christian Lüning, der Herausgeber des preußischen Corpus juris militaris des Heil. Rçm. Reichs (Leipzig 1723), entwickelte den Plan einer Universalbibliothek vor einen gelehrten Offizier. Darin führt er in französischer Übersetzung die Werke der römischen Stoiker und die Werke über sie auf: „Les œuvres de Sénèque“, „Les offices de Cicéron“, „L’esprit de Sénèque“, „La morale d’Epictète“. Friedrich der Große bezeichnete sich selbst in Briefen, Gedichten und Abhandlungen immer wieder als „philosophe stoïcien“. Mit Vorliebe las er Ciceros stoische Schriften, Seneca und vor allem Marc Aurel, den Stoiker auf dem Kaiserthron, den Voltaire in einem Brief an seinen königlichen Freund vom Oktober 1759, mitten im Siebenjährigen Krieg, bezeichnenderweise dessen Schutzpatron nannte.11 Die Ethik des Stoizismus hat man geradezu als die Religion Friedrichs des Großen bezeichnet. In Kleists Bildungshorizont gehört auch die intensive Aufnahme der Stoa durch seinen Lieblingsautor Rousseau12 sowie die große Seneca-Huldigung Diderots in seiner 1779 erschienenen Schrift Essai sur les rgnes de Claude et de Nron et sur la vie et les crits de Snque, die drei Jahre später

11 Voltaire – Friedrich der Große. Briefwechsel. Ausgewhlt, vorgestellt und bersetzt von Hans Pleschinski. München 1994, S. 415. Die französisch-sprachige OriginalAusgabe der vollständigen Korrespondenz: Friedrich der Große: Briefwechsel mit Voltaire 1736 – 1778, hg. von Reinhold Koser und Hans Droysen, drei Bände, Leipzig 1908 – 1911 (Publikationen aus den Preußischen Staatsarchiven, Bd. 81, 82 und 86. Neudruck Osnabrück 1965 und 1968). Zur Stoa-Rezeption: Eduard Zeller: Friedrich der Große als Philosoph. Berlin 1886. Intensiv beschäftigte sich der König mit der Stoa und insbesondere mit Marc Aurel in den Wechselfällen des Siebenjährigen Krieges. Am 15. November 1761 schrieb er die an Gedanken Marc Aurels orientierte Ode Le stocien. In: Oeuvres de Frdric le Grand, hg. von J.D.E. Preuß, Berlin 1846 – 1856, Bd. 12, S. 181 ff. Eine bündige Gesamtwertung des Verhältnisses zu Marc Aurel gibt Theodor Schieder: Friedrich der Große. Ein Kçnigtum der Widersprche, Frankfurt/Berlin/Wien 1983, S. 221: „[…] sein Vorbild wurde Marc Aurel, der Kaiser, der Schlachten schlug und zugleich über die Nichtigkeit der Welt und des Menschen meditierte“. 12 Von den zahlreichen Untersuchungen zu Rousseaus Stoa-Rezeption seien nur genannt: Georges Pire: De l’influence de Snque sur les thories pdagogiques de J.–J. Rousseau. In: Annales de la Société J.–J. Rousseau 33 (1953 – 1955), S. 57 – 92, und Gisèle Bretonneau: Stocisme et valeurs chez J.–J. Rousseau. Paris 1977.

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ins Deutsche übersetzt wurde.13 Diese Lektüre war auch wichtig für Herders Abhandlung Seneka. Philosoph und Minister.14 Darin berichtet Herder, daß Lessing ein Seneca-Trauerspiel plante. Sogar bis in Kleists Familie führte die auf die Gestalt Senecas konzentrierte intensive Beschäftigung mit dem stoischen Ethos. Nach langer Planung und auf Lessings Rat verfaßte Ewald von Kleist ein Trauerspiel über Senecas Leben und Sterben (Seneca. Ein Trauerspiel), das er im Jahre 1758 abschloß und in die zweite Sammlung seiner Werke aufnahm.15 Heinrich von Kleist dürfte es gut gekannt haben. Durchgehend ist es auf die Paradigmatisierung der Gestalt Senecas im Sinne der Stoa angelegt. Noch zu Kleists Zeit, im Jahre 1802, erschien eine neue Übersetzung der Constantia des Lipsius (in Leipzig), und selbst noch in der Denkschrift des Preußischen Heeres-Reformers Scharnhorst vom April 1806 sind die neustoischen Ideale von besonderer Bedeutung. Aufklärerisch gemildert, werden sie als moralische Kräfte zur Erneuerung des schon längst zur seelenlos-mechanischen Zuchtanstalt degenerierten preußischen Heeres aufgerufen. Wie diese historische Skizze zeigt, stellt sich Kleist mit dem stoischen Duktus seines Meisterwerks Prinz Friedrich von Homburg bewußt in eine große, das brandenburgisch-preußische Selbstverständnis prägende Tradition. Daraus ergibt sich eine neue Tiefenschärfe für das Verständnis des von ihm selbst so genannten „vaterländischen“ Dramas.16 Indem er das Individuum nicht bloß mit dem Macht- und Gesetzesanspruch des Staatswesens konfrontiert, sondern dessen ethische Dimension durch eigene Erfahrung und Selbstverantwortung für sich 13 Diderots Seneca-Essay, ein Alterswerk, das in seinen verschiedenen Fassungen auch unterschiedliche Titelformulierungen aufweist, sollte zunächst die Einleitung zu einer Ausgabe der Werke Senecas in der neuen Übersetzung von Lagrange bilden. Eine spätere Fassung dehnte sich schließlich bis zu einem Buch von 400 Seiten aus. In diesem letzten wichtigen Werk Diderots, das als siebter und abschließender Band der Seneca-Ausgabe erschien, analogisiert er den Verfall Roms unter der Herrschaft der Kaiser Claudius und Nero – die Zeit, in der Seneca lebte – mit dem Verfall des Ancien Régime. 14 Johann Gottfried Herder: Smmtliche Werke, Bd. XVIII, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1883: Seneka, Philosoph und Minister. Zwei Briefe, S. 391 – 401. 15 Spätere Neu-Ausgabe: Ewald von Kleist’s Werke, hg. von August Sauer, 1. Theil, Berlin 1882, S. 273 – 292. 16 Im Brief an seinen Verleger Reimer vom 21. Juni 1811, in: Heinrich von Kleist: Smtliche Werke und Briefe in vier Bnden, hg. von Ilse Marie Barth u. a., Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793 – 1811, hg. von Klaus MüllerSalget und Stefan Ormanns, Frankfurt 1997, Nr. 237.

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entdecken läßt, kann es überhaupt erst zu einer Identifikation mit diesem Staat kommen. Idealtypisch verkörpert ihn die Gestalt des Kurfürsten, der nicht nur stoische constantia, sondern auch stoische temperantia und clementia zeigt und so bei aller Respektierung des Gesetzes auch Humanität bewahrt. Allerdings verbindet sich mit Kleists Aktualisierung des stoischen Ethos ein doppelter Funktionswandel, durch den sich für ihn die geschichtliche Aktualität erst herstellt. Im Hinblick auf das Preußen am Anfang des 19. Jahrhunderts ist der Rückgriff auf stoisches Ethos nicht affirmativ. Verherrlicht wird nicht Preußen, wie es faktisch ist oder war. Vielmehr handelt es sich um einen Appell im Namen eines zwar zu Preußen gehörenden, aber doch im Obrigkeitsstaat weitgehend deformierten Ethos. Wie sehr Kleist die Militärmaschine verabscheute, geht aus seinen Briefen hervor. Insofern appelliert er an Preußens ideale Identität, die für die geschichtliche Gegenwart erneuernde Energien entbinden soll. Zugleich entdeckt er für seine, die romantische Generation, eine ganz neue Faszination durch diese ideale Identität Preußens. Von Anfang an reflektierte die Romantik die Gefährdungen einer zwar glanzvoll poetischen, aber selbstverfallenen, traumverlorenen Subjektivität. Sie ist vom Welt- und Wirklichkeitsverlust ebenso bedroht wie von der Destabilisierung des orientierungs- und haltlos gewordenen Ich. Angesichts dieser romantischen Gefährdung, die der träumende Prinz so deutlich verkörpert, gewinnt ein Ethos, das den Einzelnen wieder mit dem Ganzen zu vermitteln vermag, eine neuartige, dialektische Attraktion. Doch gibt es einen romantischen Überschuß, der den Traum des Einzelnen, während sich dieser mit der Notwendigkeit des Wirklichen versöhnt, auch über alle Wirklichkeit hinaushebt.

VI. Der Stoizismus in der philosophischen Diskussion vom 17. bis zum 19. Jahrhundert

Die Autonomie des Denkens im 17. Jahrhundert von Wilhelm Dilthey Vorbemerkung: Diltheys über hundert Jahre zurückliegende Forschungen waren bahnbrechend für die Erkenntnis stoisch formierter Konzepte im Denken der frühen Neuzeit, insbesondere für ihre mentalitätbildende Kraft. Die hier in Ausschnitten wiedergegebene Abhandlung, eine von mehreren seiner Stoizismus-Studien, ist Wilhelm Diltheys Gesammelten Schriften entnommen (Bd. 2, 6. unveränderte Auflage, Stuttgart 1960, S. 260 – 292). Geistesgeschichtlich perspektiviert, verfolgt sie die im Rückgriff auf die antike Stoa sich entwickelnde ,Autonomie des Denkens‘ bei Bacon, Charron, Telesio und Spinoza. Der Stoizismus erscheint darin als ein Medium des frühneuzeitlichen Säkularisierungsprozesses. Diltheys häufige lapidare Hinweise auf „Zeller“ gelten dem bis heute immer wieder neu aufgelegten Standardwerk von Eduard Zeller: Geschichte der griechischen Philosophie.

[…] Die Autonomie der menschlichen Vernunft in bezug auf die sittliche Lebensfhrung der Einzelperson ist zuerst von einem englischen Weltmann und einem französischen Priester nachdrücklich geltend gemacht worden. Beide stellten diese Autonomie zunächst auf dem Wege der Loslösung einer autonomen, auf das Gesetz der Natur gegründeten Moral von dem religiösen Glauben fest; beide stützten sich in der Darstellung der selbständigen Kraft der Menschennatur auf die alten Schriftsteller, insbesondere auf Cicero und Seneca. Ich habe früher auf die ersten Regungen einer unabhängigen Moral in der stoisch-humanistischen älteren moralischen Schule von Florenz hingewiesen. Die Richtung auf eine autonome Moral wird in Italien fortgesetzt von Telesio und Giordano Bruno, in Frankreich, wie ich nachgewiesen habe, von Montaigne und Bodin. Dieser Bewegung gaben nun einen populären Ausdruck von großer Kraft Bacon in England und Charron in Frankreich. In Bacon manifestiert sich der unbändige Lebens- und Gestaltungsdrang der Menschen der Renaissance in einer wissenschaftlichen Phantasie, welche die Herrschaft des Menschen über die gesamte Natur durch die Erkenntnis der Gesetze derselben herbeizuführen unternimmt. Diese Phantasie ist aber ganz positiv: die Imagination eines von Realitäten erfüllten Kopfes. Er konstruiert von diesem Wirklichen aus

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seine Methode wie eine ungeheure Maschine, welche die Last der ganzen Erfahrung heben soll. So tritt in ihm der Typus des Menschen der Renaissance in einer neuen Modifikation auf: es ist der Mensch, welcher seinem Willen, zu leben, zu herrschen und zu gestalten, ein Feld unbegrenzter Erweiterung durch Erkenntnis der Kräfte der Natur und durch Herrschaft über sie erobert. Die mittelalterliche Nachdenklichkeit über das Elend der Menschennatur bedarf nach ihm der Ergänzung durch das Studium der Prärogativen desselben. So betont er im Denken das schaffende Vermögen, im Willen die Verwirklichung der allgemeinen Wohlfahrt. Langsam steigen diese neuen mächtigen Beweggründe neben den kriegerischen und religiösen Affekten der feudalen Zeit auf und bemächtigen sich der Menschen. Von diesem neuen Standpunkte aus hat nun Bacon auch die Autonomie der moralischen Kraft und der sittlichen Erkenntnis zur Geltung gebracht. Auch im Verhältnis zur moralischen Welt ist Bacons Grundstellung eine praktische, herrscherliche, im höchsten Sinne utilitarische; daher er sich schon hierin mit der römischen Stoa begegnet. Und zwar entnimmt er dieser antiken Tradition die Lehre von einer obersten Regel, welche in der moralischen Welt zu herrschen hat. Er macht sich den Boden frei für sein Moralgebäude in diesem neuen Stil, indem er das moralische Leben und die moralische Wissenschaft loslöst von der Theologie.1 Die sittlichen Ordnungen stehen unter einem Naturgesetz. Er sagt2 : „habere homines etiam ex lumine et lege naturae notiones nonnullas virtutis, vitii, iustitiae, iniuriae, boni, mali id verissimum est. Notandum tamen lumen naturae duplici significatione accipi“. Im ersten Sinne deckt sich das lumen naturale mit dem, was Herbert in den sensus externi, interni 1

2

Den klarsten Einblick in Bacons Stellung zur theologia naturalis bietet de augm. IX p. 596 – 599 und III p. 185. Die Prinzipien der Religion unterstehen nicht der Vernunft, sie sind als solche in sich gefestigt; erst aus ihnen hat die Vernunft Sätze herzuleiten. B. weist der theologia naturalis und dem lumen naturale die Aufgabe und das Vermögen zu, den Atheismus zu widerlegen. Herbert erweist die Gewißheit des Daseins Gottes aus demselben Vermögen, hütet sich aber, jene auf die christliche Religion auszudehnen, für deren Gewißheit er ja die relevatio einstehen läßt. Übrigens dehnt Bacon p. 597 die Fähigkeit des lumen naturale nur auf die Ethik aus, wenigstens spricht er nur von dieser; doch mssen wir sie auch für den Erweis des Daseins Gottes in Anspruch nehmen, wenn doch, wie er will, die theol. nat. den Atheismus widerlegen soll. Der ganze Unterschied besteht hier also darin, daß Bacon den Wert dieses lumen naturale möglichst herunterdrückt zugunsten der revelatio, während Herbert die Bedeutung dieses instinctus nicht hoch genug anzuschlagen weiß. Die augment. IX p. 597.

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und dem discursus betrachtet; im zweiten Sinne ist es das, was er intellectus oder instinctus nennt; denn auch Bacon spricht von dem instinctus internus in der Menschenseele. Dies innere Licht ist natürlich angeboren, es sind reliquiae pristinae et primitivae puritatis. Herbert und Bacon unterscheiden sich insofern, als Herbert gerade die Wahrheit der Religion auf dies innere Licht stützt, Bacon aber das entschieden abweist. Das lumen naturale ist, als göttliche Naturanlage, einerseits das innere Licht, der intellectus oder instinctus, welches die höchste natürlich erreichbare Wahrheit in sich schließt und sie verbürgt, anderseits auch zugleich das Licht, welches Wahrnehmung, Induktion, Schluß usw. bedingt. Von jenem Naturgesetz ist jedem Menschen ein Bewußtsein mitgegeben, welches freilich verdunkelt sein kann. Das äußere Merkmal dieses Gesetzes ist der consensus. Alle diese Bestimmungen sind aus der stoischen Tradition. Die Herrschaft des Naturgesetzes begreifen und fördern, heißt es psychologisch auffassen, sonach muß es auf die in ihm wirkenden Krfte zurückgeführt werden. So erwächst ihm zunächst die schöne Aufgabe, nicht bloß die Regeln des sittlichen Lebens aufzustellen, sondern über die Mittel der Unterordnung unserer Affekte unter das natürliche Gesetz praktische Sätze abzuleiten. Auch hierin folgt er dem Weg der Stoa und bezeichnet Aufgaben für Hobbes und Spinoza. Demgemäß fordert er zunächst eingehendes Studium der Affekte; aus diesem gewinnt er den Satz, daß ein Affekt nur durch einen anderen gebändigt werden kann: ein Gesetz, das Spinoza und Hume übernehmen und für ihr ethisches System weiter nutzbar machen. Ebenso erwägt Bacon Gewohnheit, Umgang, Erziehung, Lektüre usw. als psychologische Mächte für das Wachstum des Sittlichen. Er ist in all diesem moralischer Realist. Durch dasselbe Prinzip ist dann sein Hauptfortschritt ermöglicht, die Regel selbst als einen psychologischen Krftezusammenhang zu fassen. So ist die sittliche Kultur nach ihm bedingt durch Kräfte der sittlichen Welt. Die lex naturalis erscheint bei Bacon als sozialer, auf das Wohl der Gesamtheit gerichteter Trieb des Einzelmenschen, welcher sich mit dem Trieb der Selbsterhaltung auszugleichen hat.3 Aber auch von dieser neuen Grundlegung kann erwiesen werden, daß sie ihre Wurzeln in der römischen Stoa hat.4 Die 3 4

De augment. VII P. 434, Iff.; 435, 15. Stoische Lehren und überhaupt alte Schriftsteller werden von Bacon zitiert: VII p. 428: recta ratio = k|cor aqh|r ; p. 430: Sen. ep. 52, 14; p. 432, 13 ff.: Sen. ep. 66, 5; 95, 10 Cic. off. I 3, 7 – 9f.; 5, 17; III 2, 7; I 43, 152; II 25, 88 ff.; p. 437, 18 ff.: Cic. off. I 2, 6; de fin. V. 8, 23; de leg. I 13, 37 ff.; acad. pr. II 45,

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wichtigste Belegstelle hierfür ist Cic. de off. I 4, 11: „principio generi animantium omni est a natura tributum, ut se vitam corpusque tueatur“ … und 12: „eademque natura vi rationis hominem conciliat et ad orationis et ad vitae societatem impellitque, ut hominum coetus et celebrationes et esse et a se obiri velit“. Auch die Weisheit, welcher die berühmte Schrift Charrons gewidmet ist, ist schließlich in ihrem positiven Kern die der Stoa. Wie berühmte Hermen des Altertums ein doppeltes Gesicht zeigen, so sieht man in Montaignes Essays den Skeptiker, dreht man aber den Kopf um, den römischen Stoiker. Auch hierin ist Charron dem älteren Freunde ähnlich. Ja, er hebt noch entschiedener als dieser den positiven Gehalt seiner Weisheit hervor. Wer nun aber auszusprechen vermöchte, was über alle antiken Schriftsteller hinaus Charron rückwärts mit Montaigne verbindet, vorwärts mit Descartes und besonders mit Pascal: romanische Vitalität, kühles Geltenlassen der Passion und kühles Abschätzen der Kehrseite des Lebensglanzes, unermeßlicher Verstand ohne Tiefe, persönliche freie Lebenshaltung innerhalb einer regimentalen kirchlichpolitischen Ordnung: der würde den ganzen Gegensatz der edelsten 139; de off. III 33, 116; acad. pr. II 42, 129; p. 440, 17: Cic. off. I 4, 11; p. 440, 8 – 9: Varro b. August. civ. D. VII 28; p. 444, 10: Cic. fin. V 13, 37 ff.; III 91, 31; off. III 3, 13. Seneca de vit. beat. 8, 2 ff.; p. 445, 7: Sen. ep. 85, 18; p. 439: Aristoteles; p. 439: Diogenes; p. 445, 3: Plat. Phaedon c. 9 p. 64 A.ff.; Seneca ep. 4, 12, 23, 24, 30, 32, 70, 77, 78, 80, 82, 98, 99, 101, 102 usw.; p. 446, 7: Cic. off. I 7, 20; p. 447, 14: Hecaton b. Cic. off. III 23, 89 usw. p. 452, 4: Hecaton b. Seneca de benef. II 18, 1 ff.; 21, 4; III 18, 1 ff.; Cic. de off. III 15, 63; Seneca ep. 94; p. 453, 12: Cic. off. III 4, 18; p. 456, 17: die bekannte stoische Auffassung (als Krankheit); p. 456, 5: vgl. Posid. b. Galen 280 M. (Bacon hat Galen auch gelesen vgl. p. 220); p. 457, 6 ff.: vgl. Cic. off. I 30, 107 ff.; 31, 110 ff.; 32, 115 ff.; p. 459, 5 ff.: Cic. off. I 34, 122 u. 124. 32, 115; p. 459: Aristot. rhet.; 461, 13: Seneca de ira.; p. 463, Iff: vgl. Cic. off. I 31, 110; p. 464, 12: Aristot.; p. 465, 17: Arist. Nic. eth.; p. 468, 10 ff.: vgl. Cic. off. I 31, 110 u. 114; p. 469, 11 ff.: Aristot.; p. 469, 17: Plinius paneg.; p. 470, 15: Xenophon; p. 472, 10: Urteil über Stoa. – Buch VIII. p. 474, 4: Cic. ad. Att.; p. 474, 15: Pindar; p. 476, 7: Cic. ad Quint. fratr.; p. 476, 1: Cic. ad. Att.; p. 477, 12 ff.: Livius.; p. 480, 11 u. ff.: Cic. de orat. III 33, 133 ff.; p. 481, 7 f.: Cic. de petit. cons.; p. 510, 12: Cic. ad Att.; p. 516, 20: Q. Cicero.; p. 521, 10: Epictet.; p. 531, 6: Cic. ad Att.; p. 538, 9: Aristoteles. – Buch III. P. 180, 4: z. B. Cic. off. I. 43, 153; Sen. ep. 89, 5.; p. 180, 5: Aristot. Nic. eth.: p. 187, 2 ff.: Homer.: p. 189, 1 ff.: Cic. Acad. II 10, 32.; Diog. IX 72; p. 189, 13: erinnert an d. Unterabteilung der Physik bei Seneca 89, 16; p. 198, 10: Cic. divin. II 46, 97. I 19, 36; p. 213, 8: Ps. Plutarch. doxogr. p. 214: Lactantius, Philo, Philostratus, Theophrastus, Paracelsus, Telesius, Patricius, Venetus; p. 220: Galen.; p. 224: Heron; p. 224: Agricola.

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Geister dieser romanisch-kirchlichen Welt zu der germanisch-protestantischen damit ausdrücken. Charron wird uns geschildert als von außerordentlicher animalischer Lebendigkeit. Man bemerkte, daß der Ausdruck seines Gesichtes eine beständige überallhin ausstrahlende Fröhlichkeit zeigte. Seine Stimme und seine Geberden waren von südlicher Beweglichkeit. Und nun lesen wir, wie dieser Mensch, nachdem er Doktor der Rechte zu werden und die Advokatencarriere versucht hatte, enttäuscht über sie Theologie studierte, ein berühmter Prediger zu Paris wurde, gern vom Hofe gehört ward, dann aber nach siebzehn- oder achtzehnjähriger Tätigkeit doch von Begierde nach der Einsamkeit ergriffen in den Cisterzienserorden einzutreten beschloß. Daran wurde er dann freilich durch seine vorgeschrittenen Jahre gehindert. Er verließ Paris, zu dieser Zeit ist er Montaigne begegnet und schloß mit ihm die innigste Freundschaft. Nun erst schrieb er sein Werk. Aus diesem spricht die Lebenskenntnis des Romanen und des Priesters. Wo er von der Macht der Gewohnheit und der Zeit spricht, sagt er einmal: „Die Galeerensklaven weinen, wenn sie die Galeere zuerst betreten, nach 3 Monaten singen sie“. Die trefflichste und nützlichste Absicht, so beginnt sein Werk, doch die am schlechtesten ausgeführte, ist, sich selbst zu studieren und sich kennen zu lernen. Dies ist ihm das Fundament der Weisheit. So will er denn nicht aus Büchern lernen, sondern von sich selbst, doch besteht diese Selbsterkenntnis zunächst in einer Zergliederung des Seelenlebens, welche das damals Übliche nirgend überschreitet. Die ausführliche Schilderung der Passionen entspricht der stoischen und der kirchlichen Tradition. Nun aber wird er ganz er selbst, wenn er über die Eigenschaften des Lebens zu sprechen beginnt. „Dummheit und Blindheit herrschen über den Anfang unseres Lebens. Die Mitte ist mühsame Arbeit, das Ende Schmerzen, das Ganze ein Irrtum“. Das ist für ihn nun die Bedingung der wahren Weisheit, daß der Mensch seine moralische Gebrechlichkeit und seine miserable Lage erkenne. Hierdurch wird er fähig, die notwendigen Heilmittel zu suchen, welche der große Arzt, die Weisheit, vorschreibt (II. préface). „Ich gebe hier ein Gemälde und Lehren der Weisheit, die vielleicht manchem neu und fremdartig erscheinen werden und die noch niemand in dieser Manier gab und behandelte“ ( ebd.). Aber wie priesterlich auch diese ganze Disziplin ist, sein großer Arzt, die Weisheit, ist nicht die Kirche, sondern, nachdem der Patient durch die Erkenntnis der Passionen und die Loslösung von ihnen in einen Zustand der vollen und universellen Freiheit gelangt ist, empfängt er

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nun Generalregeln der Weisheit von der Natur selber (II c. 3 Anfang). Befreiung von den Irrtümern und den Fehlern der Welt und den Leidenschaften: so lautet das vorbereitende Kapitel. In einer Stelle, welche in den späteren Auflagen verschwand, spricht er das Prinzip der Unabhngigkeit der Moral von Religion und Kirche in den Worten aus, die Marc Aurel hätte schreiben können. „Man sei sittlich, weil Natur und Vernunft es gebieten, die allgemeine Ordnung der Welt, deren Teil die Einzelperson ist, es verlangt. Man sei sittlich, werde daraus, was wolle“. Moralität ist das Erste, Religion nur ihre Ergänzung und Vollendung. Sie bringt die Moralität nicht hervor, „welche mit und in dem Menschen geboren ist und von der Natur in ihn gelegt wurde“. Von den Leidenschaften befreit zunächst eine gewisse Stumpfheit der Seele, dann kann bei der verschiedenen Stärke der Leidenschaften jedesmal die schwächere von der stärkeren überwunden werden, oder man wendet den Kunstgriff an, den Zufällen des Lebens auszuweichen und sich vor ihnen zu verbergen. Das beste Mittel aber liegt in der Festigkeit der Seele, welche mit den Zufällen kämpft. Die Freiheit der Seele wird alsdann befördert durch den Geist allgemeiner Prüfung und Beurteilung aller Dinge (Buch 2 Kap. 2 Nr. 2 S. 324). So manifestiert sich die räsonierende Natur des Menschen – an diesem Punkte vernimmt man schon Descartes. Sie wird alsdann befördert durch die kühle und leidenschaftlose Suspension des Urteils, endlich durch eine Universalität des Geistes, in welcher der Weise auf das ganze Weltall blickt, sich wie Sokrates als Weltbürger fühlt und das Menschengeschlecht mit Neigung umfaßt. Auch muß der Weise seine Affektion möglichst wenigen Dingen und Objekten zuwenden, sonst wird sein Handeln einseitig und affektiv und sein Denken vorurteilsvoll. Und nun noch ein rechtes Wort des Romanen und des Priesters (ebd. Nr. 13 S. 349). „Schließlich muß jeder sich selbst zu unterscheiden wissen in seiner öffentlichen Rolle. Denn jeder von uns spielt zwei Rollen und besteht aus zwei Personen; die eine äußerlich, die andere wesenhaft. Er muß die Haut vom Hemde zu unterscheiden wissen. Der geschickte Mensch wird seine Rolle gut spielen und nicht urteilen lassen über die Dummheit, die Tollheit, die in ihm ist. Man muß sich der Welt bedienen, wie man sie vorfindet, inzwischen aber sie als etwas sich Fremdes ansehen“. So wird nach Charron der Schüler der Weisheit vorbereitet, um deren Regeln zu empfangen. Jetzt tritt der Grundbegriff seiner Schrift auf. Es ist der stoische Weise in Färbung und Gewand eines Franzosen des 17. Jahrhunderts. Die wahre Weisheit des Menschen bezeichnet er mit einem alten französi-

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schen Ausdruck für den biederen, tapferen Mann, durch welchen schon Froissart sein Lebensideal bezeichnete, nämlich als preud’homie oder prud’homie (Buch 2 Kap. 2 Nr. 4 S. 353). Die wahre prud’homie ist männlich und edel, lachend und freudig, immer sich selbst gleich und beständig; sie geht mit festem, stolzem Tritt, sie hält immer ihren Kurs inne, sie blickt nicht seitwärts, nicht rückwärts, sie ändert ihren Schritt und ihre Weise nicht nach Wind, Zeit und Gelegenheiten. So sagt auch Seneca ep. 7 (59) Ep. mor. 1. VI (Haase III p. 129): „Sapiens plenus est gaudio, hilaris et placidus, inconcussus. Si nunquam maestus es, nulla spes animum tuum futuri exspectatione sollicitat, si per dies noctesque par et aequalis animi tenor erecti et placentis tibi est, pervenisti ad humani boni summam“. „Gaudium hoc non nascitur nisi ex virtutum conscientia. Non potest gaudere, nisi fortis, nisi iustus, nisi temperans“. Vgl. de vita beata c. 4. Die Sprungfeder dieser prud’homie ist die Natur, welche jeden Menschen verpflichtet, sich nach ihr zu bilden und zu regeln. Sie ist unsere Herrin, welche uns diese Weisheit vorschreibt. Es gibt eine natürliche innere und universelle Verpflichtung für jeden Menschen, brav, gerade und ganz zu sein gemäß der Intention seines Schöpfers. Der Mensch darf keine Ursache, Verpflichtung oder Kraft für seine prud’homie suchen und kann niemals eine gerechtere, mächtigere und ältere haben, denn diese ist so alt als er selbst, nämlich mit ihm geboren. Jeder Mensch muß brav sein wollen, weil er Mensch ist. Wer sich nicht darum kümmert es zu sein, ist ein Monstrum, verzichtet auf sich selbst. Die prud’homie muß in ihm aus ihm selbst entspringen d. h. aus der inneren Sprungfeder, welche Gott in ihn gelegt hat, nicht aus einer äußeren und ihm fremden Kraft (S. 354). Der Mensch will all seine Habseligkeiten in gutem und gesundem Zustande haben, Körper, Kopf, Augen, Urteil, Gedächtnis, Stiefel: wie sollte er nicht auch Wille und Gewissen in gutem Zustande haben wollen? (S. 355) Dies stimmt überein mit Cic. de finibus 1. V c. 12. Und hier hebt er besonders hervor, daß die Beobachtung der äußeren Regeln nur eine äußerliche und nichtsnutzige prud’homie zur Folge hat. „Ich will aber für einen Weisen eine wesenhafte und unbesiegliche prud’homie, die in sich selbst und aus ihrer eigenen Wurzel Festigkeit hat und die man so wenig ausreißen und abtrennen kann als das Menschsein vom Menschen“ (S. 355). Dieser Zusammenhang beruht aber darauf, daß in uns „die allgemeine Vernunft“, raison universelle, durch die Natur gelegt ist („équité et raison universelle“). Sie ist wesenhaftes Gesetz und Licht in uns. So kann es auch als Gesetz der Natur

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bezeichnet werden, daß wir als homme de bien zu leben uns getrieben finden.5 „Daher sagt die Doktrin aller Weisen aus: wohl leben heißt secundum naturam leben: das höchst Gute ist mit sich übereinstimmen“ (1. II c. 3 Nr. 7 p. 359). Für diese Formel zitiert er dann Seneca. „Die Natur ist für jeden von uns die genugsame und milde Herrin und regelt alles, wenn wir nur auf sie hören“. Es verkünden Priester und stoische Philosophen zugleich das Evangelium von der Natur also: „Um zufrieden und glücklich zu leben, braucht man weder Weiser, noch Hofmann, noch sonst ausgezeichnet zu sein. Alles ist eitel, was über das Gemeinsame und Natürliche hinausreicht“.6

* […] Alle diese Bewegungen in der Theologie, den Naturwissenschaften, der Moral, Jurisprudenz und Politik hatten die Tendenz auf die Herbeiführung eines in naturgegebenen evidenten Begriffen und Sätzen gegründeten natrlichen Systems. Die Vernunft wurde nunmehr als ausreichend angesehen, die Natur zu begreifen, das Leben und die Gesellschaft zu ordnen. Es gab seit dem Ende des 16. Jahrhunderts schon einen großen Kreis gelehrter und gebildeter Personen, welche ihr Denken und ihr Leben auf die Autonomie der Vernunft gründeten. Und während des 17. Jahrhunderts nahm die Zahl dieser Personen beständig zu. Diese fortschreitende Bewegung hebt sich von dem Hintergrunde der andauernden Herrschaft des dogmatischen Glaubens der verschiednen Konfessionen und der Theologie derselben ab. Noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden metaphysische Fragen in der Regel durch theologische Dogmen beantwortet. Aber da die Zahl der Sekten und der theologischen Parteien beständig im Wachsen war, erwies sich doch schließlich auch zwischen ihnen die Vernunft als die einzig mögliche Richterin. So bestand die herrschende Metaphysik bis tief in das 17. Jahrhundert aus einem Kompromiß zwischen Dogmenglaube und Vernunftwissenschaft. Hervorragende Forscher wie 5 6

Charron, Sagesse II c. 7. Dieser teleologische Zusammenhang der Teile zu einem seinen Zweck verwirklichenden Ganzen, welcher dann natura, ratio naturae, lex naturae ist, bildet den tiefsten und originalsten Punkt der Stoa. Vgl. Zeller S. 209 ff.

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Paracelsus, Campanella, Kepler, Newton, Grotius, Althus haben an den Hauptdogmen des Christentums festgehalten. Negative, zersetzende Geister wie Charron, Sanchez und Pierre Bayle haben das Prinzip der Offenbarung nicht aufgegeben. Undurchdringlich in bezug auf ihre Überzeugungen in dieser Rücksicht stehen die größten positiven Forscher außer Newton: Galilei, Descartes und Leibniz vor uns: sie verraten dies letzte Geheimnis jeder Intelligenz dieser Epoche nicht. Dementsprechend ist die herrschende metaphysische Richtung der Zeit, der christliche Theismus, die Halbheit des rationalen Supranaturalismus. Der Fortschritt aber vollzieht sich in der Durchführung eines autonomen rationalen Systems: der Konstruktion des Universums durch die Vernunft. Dieser Rationalismus bestand in zwei Formen. Die deistische Lehre von einem Universum, das unabhängig von seinem Baumeister besteht und konstruiert werden kann, wurde durch den Begriff des Descartes von der Maschine der Welt begründet. Sie war die metaphysische Projektion der großartigen Willensstellung dieses Zeitalters der Mechanik. Der ganze materielle Mechanismus ist nach ihr nur Instrument für die konstruktive Vernunft in der Gottheit und der Einzelperson. Die pantheistische und panentheistische Lehre war angelegt in dem Panpsychismus, welcher nach Aufgabe der substanzialen Formen vom antik mittelalterlichen Vernunftsystem als Erklärung des Lebens in der Natur aus einwohnenden psychischen Kräften übrigblieb. Er wurde schon von den Okkamisten Pierre d’Ailly (1350 – 1425), Joh. Charlier Gerson (1363 – 1429), Raymund von Sabunde (geboren gegen Ende des 14. Jahrhunderts, † 1437) und Nikolaus Cusanus (1401 – 1464) vertreten. Er wurde in Verbindung mit der Ideenlehre von Ficino, Pico usw., mit phantastischer Naturerklärung von Reuchlin, Agrippa, Paracelsus, mit alexandristischem Naturalismus von Pomponazzi ausgebildet. Und wie die Vertiefung in die Natur und in die allgegenwärtige Göttlichkeit innerhalb des Menschendaseins zunahm, machte sich immer mächtiger als fortschreitender Zug der Zeit diese Lehre von der Immanenz geltend. Die Bejahung der höheren Natur des Menschen in Gott, die universale Immanenz Gottes in allen frommen Seelen war das Grundgefühl der Spekulation von Sebastian Frank, Jakob Böhme, Weigel. Die Weltseele, der durch das Universum verbreitete beseelte Äther oder der beseelte Wärmestoff war der Mittelpunkt der Spekulation der Renaissance in Cardano und Telesio. So gelangte das metaphysische Denken der Renaissance zu einem Höhepunkt in dem pantheistischen Monis-

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mus von Giordano Bruno, Spinoza und Shaftesbury.7 Die Bejahung des Lebens, der Natur und der Welt, welche die Renaissance ausspricht, wird in dem pantheistischen oder panentheistischen Monismus dieser drei Denker zur metaphysischen Weltformel. Und auch darin ist nun dieser pantheistische Monismus Renaissance, italienische, niederländische, englische Renaissance, daß sie von der antiken philosophischen Tradition, insbesondere Lucrez, der Stoa und dem stoisch gefärbten Neuplatonismus völlig erfüllt und durchdrungen ist. In der Kombination der Arbeiten von Telesio, Giordano Bruno, Hobbes, Geulinx, Spinoza und Shaftesbury ist ein Vorgang von wahrhaft dramatischem Zusammenhang enthalten, welchen auf dem Grunde der antiken Tradition in Zusammenhang mit der modernen Kultur und dem Naturwissen zu erfassen eine hinreißende Aufgabe ist. Gehen wir hierfür von Spinoza als der zentralen Person dieser Bewegung aus, in welcher die Richtung der Weltbeseelung zusammentrifft mit der Richtung des universalen Rationalismus.8 7

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Ich bezeichne den Standpunkt Shaftesburys als panentheistischen Monismus. Er deckt sich in dieser Beziehung bis auf die Worte mit Formeln des Giordano Bruno. Wie nun aber seine Lehre von den beiden Grundtrieben durch Vermittlung des Bacon auf die Alten zurückgeht (vgl. bei Bacon die Cicerostelle), wie der feinste Duft platonischen Gefühls für die Schönheitsherrlichkeit des sittlichen Virtuosen und des Universums durch sein Werk weht, wie er in den moralischen Begriffen von Symmetrie, Proportion usw. platonisiert: so ist, wie ich an anderer Stelle genauer zeigen werde, die berühmte Darstellung seines Panentheismus in der Rhapsodie durchweg von der Tradition stoischer Gedanken bedingt. Vgl. Rhaps. (Übersetzung von 1777) II 349 bis 365, besonders 351, 353, 354, 355, 360, 363, 364. (Besonders der beseelte Weltäther, die Entstehung der Welt aus ihm und der Rückgang der Welt in ihn, die Unterordnung der Gesinnung unter den erkannten Naturzusammenhang, das Naturideal.) Andererseits haben die Stellen, die beginnen mit: „O herrliche Natur! über alles schön und gut! alliebend usw.“, zweifellos dem Verfasser des Aufsatzes über die Natur im Tiefurter Journal vorgeschwebt, welcher ja, auch nach den belehrenden Mitteilungen von Steiner im letzten Goethejahrbuch S. 393 – 398, in irgendeiner Art Goethe war. Auch in den bei der Lektüre Spinozas niedergeschriebenen Sätzen Goethes, deren Veröffentlichung wir neuerlichst Suphan verdanken, tritt uns nicht einfache Anhängerschaft, sondern zugleich Gegensatz gegen Spinoza, und zwar auf Grund der Übereinstimmung mit Shaftesbury, entgegen. Indem ich an dem wichtigen Punkte meiner Darstellung anlange, an welchem es gilt, meine Behauptung Archiv V 4 S. 484 (oben S. 93) in diesem und in den folgenden Heften zu erweisen, daß „die Abhängigkeit von der römischen Stoa tief in die Psychologie und Politik von Hobbes und Spinoza, in den Pantheismus von Spinoza und Shaftesbury hineinreiche“, sowie mein Versprechen zu

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Ich weise zunächst nach, daß die ganze eigentliche Ethik Spinozas, das Ziel seines Werkes, auf die Stoa gegründet ist, und zwar in solchem Umfang und mit solchen Übereinstimmungen im einzelnen, daß die Benutzung irgendwelcher der zumeist gelesenen, die antike Tradition verarbeitenden niederländischen humanistischen Schriften z. B. Lipsius de constantia anzunehmen unvermeidlich scheint.9 Die ausdrückliche Bemerkung über seine Vorgänger in der Vorrede zum dritten Buch der Ethik10 bezeugt die Benutzung älterer Moralisten, und die Vergleichung dieser Bemerkung mit der Vorrede zu Buch V, in welcher die Stoiker wegen ihrer Annahme eines imperium absolutum des Willens über die Affekte getadelt, dagegen wegen ihrer Darlegung, wieviel Gewöhnung und Studium zur Bändigung der Leidenschaften nötig sei, gelobt werden, läßt die Beziehung von praef. III auf die Stoiker als die natürlichste erscheinen. Über Spinozas klassische Kenntnisse geben Auskunft die Stellen: tract. pol. X 1 und ethic. III aff. def. 44 (Cicero), ethic. III 31 cor. und IV 17 sch. (Ovid), tract. polit. CVII § 5 (Sallust). Die humanistischen Schriften über stoische Ethik wie die des Lipsius und Daniel Heinsius hatte er wohl schon in der Zeit des Verkehrs mit van den Ende kennen zu lernen Gelegenheit. Den erfüllen, den Einfluß der römischen Stoa in der Entstehung des ganzen natürlichen Systems, also des erkenntnistheoretischen, theologischen, moralischen und politischen, aus den Quellen darzutun: muß ich, obwohl ich ja seit vielen Jahren besonders für Spinoza und die Affektenlehre gesammelt habe, doch ausdrücklich bitten, die Unvollkommenheiten eines solchen ersten Versuches entschuldigen zu wollen. – Eben, indem ich das Manuskript abschließe und in den Druck gebe, erhalte ich das letzte Heft des Archivs und freue mich, daß meine Darlegung im ganzen in bezug auf Telesio mit der des Herrn Prof. Stein in der Anzeige des Buches von Heiland übereinstimmt. 9 Zwinger, morum philos. 2 tom. 1575: Just. Lipsius, de constantia 1584, politica 1583, manuductio ad Stoicam philos. 1604, physiologia Stoicorum 1604: Scioppius, element. Stoicae philos. mor. 1606; Daniel Heinsius, orationes (bes. XV) 1627, ûAmdqom¸jou gQod¸ou Ethicorum Nicomach. paraphrasis, cui subiungitur libellus peq· pah_m ; Jul. Caes. Scaliger, exotericarum exercitationum I. 15 de subtilitate ad Cardanum 1620; Hugo Grotius, de iure belli et pacis 1625; Gerh. Joh. Vossius, de theologia gentili (enthält eine Affektenlehre), institutiones oratoriae et poeticae; Gataker, de disciplina Stoica cum sectis aliis collata vor der Edition des Antonin Cantabr. 1653; Salmasius, commentarius Simplicii in enchiridion Epicteti mit disputatio de philos. Stoica 1640. 10 „Non defuerunt tamen viri praestantissimi (quorum labori et industriae nos multum debere fatemur), qui de recta vivendi ratione praeclara multa scripserint et plena prudentiae consilia mortalibus dederint; verum affectuum naturam et vires, et quid contra mens in iisdem moderandis possit, nemo quod sciam, determinavit“.

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Grundsatz, daß das Wesen eines jeden Dinges Selbsterhaltung ist (ethic. III prop. 4 – 8) hat er aus der stoischen Tradition geschöpft. Macht er doch in der Sonderung von appetitus und von cupiditas als appetitus cum eiusdem conscientia denselben Unterschied wie Chrysipp bei Diogenes 7, 85: pq_tom oQje?om eWmai k´cym pamt· f\\ tµm aqtoO s¼stasim ja· tµm ta¼tgm sume¸dgsim. Nächstliegend ist hierbei die Benutzung von Grotius. Vgl. ferner ethic. IV pr. 18 schol. mit Sen. ep. 121, 14 und ethic. IV 19 mit Stob. II 126. Ganz stoisch ist ferner die Ableitung der gesellschaftlichen und staatlichen Verbindungen daraus, daß die vernunftmäßig lebenden Menschen das einander verwandteste sind, daher sich gegenseitig das nützlichste. Vgl. ethic. IV 18 schol., 19, 20, 29 – 34, 35 u. coroll. 73, app. 7, 9, 12, tract. th.–p. c. V p. 436 (Vloten-Land) 35 mit Zeller III 13, 287, Marc Aurel 9, 8 12, 20. Ferner erkennt Spinoza ebensowenig wie die Stoa ein Rechtsverhältnis zwischen Mensch und Tier an, vgl. Zeller 286 und Sen. de ben. 4, 5 mit Spin. IV 37 sch. 1 app. 26. Wie die Stoa, so steht auch Spinoza auf kosmopolitischem Standpunkte, vgl. Zeller 298 f. und ethic. IV 18 sch. 36. Eine Stelle Spinozas über die Ehe zeigt mit einer des Seneca bei Hieronymus solche wörtlichen Ähnlichkeiten, daß Spinoza sie wohl bei einem der humanistischen Darsteller der Stoa gelesen haben muß; Sen. de matr. fr. 81 (Haase): „amor formae rationis oblivio est et insaniae proximus“ und ethic. IV app. XIX, XX: „amor meretricius – species delirii; matrimonium cum ratione convenire, si cupiditas – non ex sola forma – ingeneretur“ usw. Die Auffassung der Affekte bei den Stoikern als einer Art von Wahnsinn und Außersichsein kehrt in der Bezeichnung derselben bei Spinoza als Arten des Wahnsinns wieder: IV 44 schol. und Chrysipp bei Galen IV 6, 409. Plut. virt. mor. 10. Der stoischen Unterscheidung von p²hg und eqp²heia entspricht die spinozistische in passiones und actiones: ethic. IV app. 2, der bekannte Gedanke von der Knechtung des Menschen durch die Affekte11 wiederholt sich in eth. IV praef. Chrysipp erklärte als Merkmal des Affekts die Störung der natürlichen Symmetrie der Triebe; dieses die Teleologie berührende Verhältnis hat Spinoza IV 39 beibehalten, aber als bloße Tatsächlichkeit, indem er unter dem Schädlichen das versteht, was das natürliche Verhältnis von Ruhe und Bewegung der Körperteile aufhebt, unter dem Nützlichen, was dies Verhältnis bewahrt, und nach dem Grundsatz werden nun in IV 40 ff. die einzelnen Affekte beurteilt. Überhaupt stimmen ja Stoa und Spinoza im tiefsten darin überein, das 11 Zeller S. 250 Anm. 4; Marc Aurel 9, 21; 11, 23.

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Weltall und so auch den Menschen als ein Kraftsystem aufzufassen; hierin lag in erster Linie, was das stoische Denken mit dem dieser Epoche verband: nur daß der teleologische Zusammenhang der Stoa nun seit Galilei sich in einen mechanischen umwandelte. So interpretiert ja auch Spinoza die antike Lehre vom Mikrokosmus und Makrokosmus rein mechanisch: postul. von II propos. 13, besonders propos. 16. Auch die Anordnung der Affekte in de deo et homine ist stoisch12, doch zugleich von Descartes beeinflußt. In seiner Erörterung über den Selbstmord polemisiert er gegen die Stoa. Diese hatte den freiwilligen Austritt aus dem Leben damit begründet, daß „in necessitate vivere nulla necessitas est“.13 Dagegen wendet Spinoza IV 18 schol. ein, daß der Selbstmord dem Prinzip der Selbsterhaltung widerspricht: „sequitur eos, qui se interficiunt, animo esse impotentes eosque a causis externis, suae naturae repugnantibus, prorsus vinci“. Tugend ist bei Spinoza IV prop. 24 nichts anderes als Erkenntnis durch Vernunft. Diese Identität entnahm er der Stoa.14 Beide lehren auch, daß wir ohne Tugend, aber zur Tugend geboren werden.15 Wie Panaetius bei Cic. de off. I 4, 11 es als Eigentümlichkeit des vernunftbegabten Menschen bezeichnet, die Zukunft zu erwägen und sich nicht wie das Tier ganz vom Eindruck des Gegenwärtigen leiten zu lassen, so verlangt auch Spinoza die vernunftgemäße Abwägung gegenwärtiger und zukünftiger Güter und Übel gegeneinander: ethic. IV 63, 66 ff. Wie die Stoa16 verwirft auch Spinoza17 die gewöhnlichen Lebensgüter als Selbstzwecke. Der dies darstellende Anfang von de int. emend. stimmt genau überein mit Marc Aurel 8, 1. Das höchste Gut ist nach Spinoza die „cognitio unionis, quam mens cum tota natura habet“.18 Dies entspricht der stoischen Lehre, nach der das höchste Gut dasjenige ist, was mit dem Gang und Gesetz des eine geschlossene Einheit bildenden Universums übereinstimmt und aus der Erkenntnis dieses allgemeinen Gesetzes hervorgeht.19 Die Gegenüberstellung des Erkennens als eines agere gegenüber dem Wahrnehmen als einem pati fand Spinoza bei der Stoa; 12 Vgl. Zeller S. 230 ff. 13 Seneca ep. 12, 10. 14 Cic. Acad. I 10, 38; Tusc. IV 15, 34: „ipsa virtus brevissime recta ratio dici potest“; Sen. ep. 113, 2. 15 Spin. IV 68; IV 66 schol.; vgl. Zeller S. 269. 16 Diogen. VII 104; Sen. ep. 72, 91. 17 Tract. de intell. emend. 18 Ebd. 19 Cic. de fin. III 6, 21; Diogen. VII 88; Marc. Aur. 12, 12; Sen. ep. 31, 74.

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vgl. Zeller S. 77 mit den bekannten Stellen Spinozas, besonders „quatenus Deum contemplamur, eatenus agimus“.20 Ebenso ist stoisch, daß nun die Erkenntnis die Herrschaft über die Affekte dadurch herbeiführt, daß sie den ununterbrochenen, Zufall und Freiheit ausschließenden Kausalzusammenhang, in welchem die Gottheit gegenwärtig ist, erfassen und folgerecht verehren, ihm sich unterordnen lehrt: vgl. Zeller 303 f.; eth. II 49 schol. bes. Ende; IV 28; 50 sch.; 73 sch.; app. 32; V 10 sch.; 27; 31 sch.; 42 sch. Wie hierdurch Haß, Zorn usw. aufgehoben werden, lehrt genau wie Spinoza Marc Aurel 8, 1 und 3; 10, 20. 23. 27; 11, 18; Sen. ep. 91. Daß wir als pars totius universi in der Unterordnung unter dieses unser höchstes Gut haben, Marc Aurel 8, 5. Daß wir die Dinge sub specie aeterni auffassen müssen, Marc Aurel 7, 33. sucjat²hesir als der Beifall, mit dem wir den Weltlauf begleiten, sonach eine Erkenntnis- und Willensseite enthaltend: vgl. Stein, Erkenntnisth. d. Stoa S. 195. So stimmen die Stoiker und Spinoza in der tiefen Art überein, wie sie aus der Notwendigkeitslehre eine Ethik ableiten; ebenso an der anderen tiefsten Stelle der stoischen Ethik: Tugend ist Tun, Kraft, fortitudo, gaudium. In dieser Verbindung von fortitudo mit der Freiheit dem Äußeren gegenüber und dem Bewußtsein hiervon in dem freudigen Lebensgefühl, in der Identifizierung dieser seelischen Form mit virtus liegt die dauernde stoische Tiefe, welche von Spinoza zur Anerkennung gebracht worden ist; hieraus fließt seine Polemik gegen die religiösen Tugenden der Demut, der Reue und des Mitleids, in welcher er ebenfalls mit den Stoikern übereinstimmt. Ganz stoisch ist in bezug auf den Gegensatz der ignari und sapientes und die animi acquiescentia der letzteren – die Selbstzufriedenheit, wie sie Kant in dem schönen neu gefundenen moralischen Fragment ganz stoisch schildert – der Schluß der Ethik. Das Bild des Weisen wird von Spinoza mit durchaus stoischen Zügen gezeichnet, die er in den Zusammenhang seines Systems eingeordnet hat. Vgl. Sen. de const. 13, 5; 75, 18; ep. 29, 12 und Stob. flor. 7, 21 mit eth. IV 63 und schol; V 10 schol; 38 und schol. (der Weise fürchtet niemand, auch den Tod nicht); Sen. ep. 9, 13; 29, 12 mit Spin. IV 52 (Selbstgenügsamkeit des Weisen); Sen. ep. 36; 41; 59, 14 ff.; 72 und Marc Aurel 8, 1 und 3 mit ethica IV 41, 42, 44, 45 cor. 2, 50 sch., 73 20 Die Übereinstimmungen in der Erkenntnistheorie zwischen der Stoa, Descartes, Spinoza und Hobbes werden hier noch übergangen, weil sie erst darzustellen sind, wo Descartes als Vermittler älterer Philosopheme behandelt wird.

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sch., V 10 sch. (gleichmäßige Heiterkeit, Tapferkeit und Ruhe des Weisen); Zeller 23521 mit eth. IV 51 sch. (er straft ohne Nachsicht, aber ohne Erregung); Cic. Tusc. III 9, 20 f., Sen. de clem. II 5 f., Diog. 7, 123 mit eth. IV 50 cor. u. sch. (er bemitleidet niemand, aber ist wohlwollend); Cic. off. I 7, 20 u. eth. IV 37 (Aufhebung der Affekte im Weisen); Marc Aurel 8, 28; 11, 16 u. Zeller S. 234 mit eth. IV 45 cor. 1 (er ist frei von Haß, Neid, Verachtung, Zorn); Zeller S. 250 f. mit eth. IV 37 sch. 1 (er läßt sich von Gerechtigkeit, Ehrenhaftigkeit und Billigkeit durch niemanden abbringen); Zeller S. 250 und Sen. ep. 61 u. 88 mit eth. IV 66 sch. 98 (er ist allein frei); Zeller S. 202 mit Ethik IV 38 ff. (er erlangt die Unsterblichkeit). Auch daß zwischen den ignarus und sapiens als Zwischenstufe das Leben nach der ratio gestellt ist, ist in Übereinstimmung mit der bekannten stoischen Lehre von den pqoj|ptomter. Die Übereinstimmung, wie diese Stellen sie erweisen, zwingt zur Annahme der Vermittlung der echten Stoa durch die niederländischen Philologen, und dies ist ja auch mit vielen echt niederländischen Zügen in Spinozas Leben und mit seinen persönlichen Relationen in Einklang. Ein Buch wie Coornherts Sittenlehre zeigt die damalige Verbreitung stoischer Moralgedanken in den Niederlanden. Der früheste der Schriftsteller, welche selbstndig die stoische Tradition umgeformt hatten und den Spinoza beeinflußten, ist Telesio gewesen. Daß derselbe vermittelst des von ihm bedingten Hobbes auf Spinoza wirkte, unterliegt keinem Zweifel. Die nachfolgenden Vergleichungen scheinen mir aber auch einen direkten Einfluß der Lektüre des Telesio selbst auf Spinoza höchst wahrscheinlich zu machen. Und dies ist nun für die allgemeine geschichtliche Position des Spinoza von größter Tragweite; zumal wenn, wie ich glaube, der schöne Fund Sigwarts von der Übereinstimmung des Spinoza mit Giordano Bruno die Annahme einer Lektüre dieses abschließenden Renaissance-Philosophen, welcher die metaphysische Weltformel der italienischen Renaissance aussprach, durch Spinoza wahrscheinlich macht. Denn aus dieser Benutzung des Telesio wird deutlich, wie in Spinoza der Geist der Renaissance fortlebt, welcher in der Verbindung von Selbsterhaltung, Stärke, Ehre, Lebensfreudigkeit, Tugend sich äußert (Ausdruck dieses Renaissancegeistes Telesio IX p. 363), daher Spinoza auch in dieser Rücksicht der reife Abschluß dieser Epoche ist. 21 Diltheys Schriften II.

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Wie die Stoa von der Formen- und Begriffslehre in einer freien Kombination der vorhandenen Natureinsichten zu einem Ganzen überging, so verfuhr auch Telesio. Er legte dabei den zweiten Teil des Parmenideischen Gedichtes zugrunde, zugleich aber in demselben Umfang die biologische Lehre vom Zusammenhang von Wärmestoff, Beseelung, beseelter Luft, Atmungsprozeß und Lebensvorgang. Er erneuerte den Grundgedanken des antiken pantheistischen Monismus, nach welchem Kraft und Stoff, Körper und Geist identisch ist.22 Das göttliche Pneuma naturalisiert sich in der Weltentwicklung, und aus der Beziehung von Luft und Körper destilliert sich in Lunge, Herz, Arterien und Gehirn wieder Seelenstoff. Diesem so schaffenden Ganzen ist die Zweckmäßigkeit immanent, mit welcher jedes sich zu erhalten strebt, wobei Vernunft der bewußte Ausdruck und das Instrument dieser Erhaltung ist. Diese stoische Lehre, auf welcher die ganze Biologie des 17. Jahrhunderts beruht, erhielt ihre beste Ausführung durch Telesio. Seine Hauptquelle für die dabei zugrunde liegende psychophysische Theorie war Galen.23 Mit ihm stimmt er überein in der Grundauffassung, daß in den physisch bedingten Lebensgeistern der Erklärungsgrund der geistigen Vorgänge bis zum Schließen hin liegen könne. Wahrt hierbei Galen den Standpunkt des Empirikers, indem er die Möglichkeit der Mitwirkung eines besonderen „Nus“ offen läßt, so entscheidet sich Telesius für eine Trennungslinie zwischen dem von der physischen Teleologie der Selbsterhaltung getragenen Denken und einer platonisierend entworfenen intellektuellen Anschauungskraft.24 Der erstere, aus dem 22 Der Himmel ist das Werk der nach dem Willen Gottes wirkenden Wärme. Über die Zweckmäßigkeit seiner Bewegung freut sich der Himmel (Allbeseelung). 23 Vgl. z. B. Gal. III 541 K. „Die von außen eingeatmete Luft empfängt in dem Fleische der Lunge die erste Bearbeitung, hierauf im Herzen und in den Arterien, namentlich denen des netzartigen Geflechts die zweite, dann die vollkommenste in den Ventrikeln des Gehirns, wo sie nun völlig psychisch wird“. Tel. VIII p. 351 ff. – Telesius’ Bekanntschaft mit den alten Medizinern beweisen die häufigen Zitate: III c. 29 (Hippocr. de nat. hom.), c. 34 (Gal. de convuls. et rig.), VII c. 21 (Gal. De causis sympt. und de usu part.), c. 28 (Gal. de plac. Hipp. et Plat.). 24 Vgl. Galen de plac. Hipp. et Pl. 643: „Soll man sich aber auch über die Seelensubstanz aussprechen, so muß man entweder diesen gleichsam schimmerund ätherartigen Körper (das vom Gehirn zum Sehnerv gelangende Pneuma – es ist gerade von der Physiologie des Sehens die Rede) für die Seele erklären, worauf wenn auch gegen ihren Willen, die Stoiker und Aristoteles konsequenterweise kommen müssen; oder man muß sie selbst als eine unkörperliche

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Samen gezogene Geist ist körperlich und der Tätigkeit der körperlichen Dinge unterworfen. Wie die Stoa vor ihm25 und Spinoza nach ihm, so lehrt auch Telesius26, daß der Geist nur die Dinge empfindet, von welchen er leidet und geändert wird, indem sie ihn bald in einen engeren, bald in einen weiteren Raum bringen, so daß seine Substanz bald zusammengezogen, bald ausgedehnt wird. Merkwürdig ist, wie er hierbei die moderne Entwicklungstheorie antizipiert durch den Gedanken, daß Geschmack-, Geruch- und Gesichtssinn nur Tastsinn von ausgezeichneter Art seien.27 Die stoische Lehre vom Gedächtnis, welche den Zusammenhang der weißen Tafel, der darauf geschriebenen Wahrnehmungen und der Entstehung der Erfahrung durch Wiederholung gleichartiger Phantasiebilder darlegt, erhält durch Telesio die mechanisch gedachte Fortbildung, daß die Bewegungen eine Disposition zu ihrer Wiederholung zurücklassen: „es bleiben beinahe die Bewegungen selbst zurück“. Es liegt nahe anzunehmen, dass Telesio, welcher die aristotelisch-stoische Lehre von der t¼pysir28 vermutlich aus Galen schöpfte29, sie dem Descartes vermittelte. In demselben Zusammenhang steht Spinoza, der in de intellectus emendatione 83 das Gedächtnis rein stoisch definiert (vgl. ebd. 85; 82 und eth. II postulat. 5). Den Kern des weiteren Erkenntnisverlaufes bildet bei Telesio die epikureische Bestimmung des methodischen Erkennens, von dem Bekannten auf das Unbekannte zu schließen (Diog. 10, 33; Tel. VIII 314 ff.); das Verstehen geht aus der Vergleichung vergangener und gegenwärtiger Bewegungen hervor (VIII 354 – 356), aus der Erfassung des Ähnlichen in den Empfindungen entstehen Wahrnehmungen30 und Schlüsse. Telesio sagt: „scientiarum omnium principia a sensu haberi vel

25 26 27 28 29

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Substanz, als ihr erstes Fahrzeug (ewgla) aber diesen Körper betrachten, durch dessen Vermittelung sie in Verbindung mit den übrigen Körpern tritt“. Tel. VIII p. 232 ff. c. 6. Daß er die Galenstelle kannte, wird besonders wahrscheinlich durch das wörtliche Zitat einer benachbarten Stelle derselben Schrift (Tel. VII 28 = Gal. de pl. 618). Stein, Erkenntnisth. d. Stoa S. 156. VII 277 ff.; VIII 341 f. VII 280 f. Aristot. An. post. 2, 14, 99b, 36; de anima 3, 4; dox. 400. „Der anschaulich vorstellende Teil der Seele ist offenbar auch der Sitz des Gedächtnisses. Wenn er nun bei den anschaulichen Vorstellungen deutliche Eindrücke (t¼pour) empfängt, so bewahrt er sie für immer, und dies ist das Gedächtnis; wenn aber unklare und ganz oberflächliche, so bewahrt er sie nicht, und dies ist das Vergessen“. Gal. IV 445 K. VIII 319, 320. Zeller S. 73. Vgl. Herberts similitudo.

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proxima eorum, quae sensu percepta sunt, similitudine, et conclusiones omnes ex eis pendere“ (VIII 4; ähnlich Hobbes). Für die weitere Entwicklung der Erkenntnistheorie ist von Bedeutung seine Ableitung der Verbindung von Eigenschaften eines Dinges aus der regelmäßigen Aufeinanderfolge.31 Die Ableitung der Unterschiede geistiger Eigentümlichkeiten (Tel. VIII 28 und 29) aus körperlichen Verschiedenheiten kann ebenfalls durch Galen32 vermittelt sein und kehrt genau bei Spinoza (eth. II 39) wieder. Stoisch (ebenso Lucrez) ist auch die Bestimmung des Telesio (IX 365 – 367), daß die Erkenntnis der Natur und der Kräfte des Inbegriffs der Dinge die Weisheit und diese die Tugend sei (Spinozas cognitio adaequata). Die Tugendlehre des Telesio verbindet die aristotelische Lehre von der Mitte mit der Ableitung aus der Selbsterhaltung (IX 376 ff.). Tugend ist die fortitudo, welche das der Selbsterhaltung Dienende realisiert (VIII 356 – 358). Dieser Gleichung zwischen Kraft und Tugend entspricht die zwischen Traurigkeit und Laster (IX 376 – 382). In allen diesen Lehren weht derselbe lebensfreudige Geist der Renaissance, welchem wir in Spinozas Polemik gegen das christliche Ideal der meditatio mortis (eth. IV 67 u. 41) wieder begegnen. Das Tugendideal der sublimitas (IX 383 f.) wirkt auf Descartes und seine Zeit. Die Entstehung der beiden Grundaffekte aus dem Selbsterhaltungstrieb ist von der Lehre der Stoa bedingt, wird aber so fortgebildet, daß die Stellen darüber (VIII 314 – 316; VI 276 – 279) zum Teil wörtlich an Spinoza anklingen. Affekte und Tugenden sind wie in der Stoa (Zeller 226) bedingt durch die Intelligenz (IX 365 – 367). Lust und Schmerz als Bewußtsein von Förderung und Störung der Selbsterhaltung (IX 362 f.) hat Telesio mit Spinoza gemein; aus ihnen werden bei beiden weitere Affekte abgeleitet (IX 363 f.). Auch hier bereitet Telesio über die Stoa hinausgehend die mechanische Vorstellung von seinem naturalistischen Denken aus vor. Die Ableitung von Haß und Neid als gesetzmäßig und unvermeidlich, die Selbsterhaltung als Prinzip für die Abwägung der gegenwärtigen und zukünftigen Übel (Tel. IX 1; Sp. eth. IV 66) und die Erklärung der Affekte des Mitleids usw. sowie der gesellschaftlichen Tugenden aus dem Prinzip der Ähnlichkeit kehren bei Spinoza wieder (Tel. IX 365, 367; Spin. III 35, 37; IV 18 schol.; 35 31 VIII 314 – 316. 32 Vgl. z. B. Gal. I 322: „Scharfsinn ist das Zeichen einer feinteiligen Gehirnsubstanz, Langsamkeit des Verstandes einer grobteiligen, Schnelligkeit im Lernen einer bildsamen, Gedächtnisstärke einer beharrlichen“.

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sch. und app. 28). Die Unsicherheit und das Elend des vorgeschichtlichen Lebens nötigen zu den auf gegenseitiger Unterstützung der einander Ähnlichen beruhenden gesellschaftlichen Verbindungen des status civilis. […]

Spinozas Stoizismus von Hanna Klessinger Spinozas Philosophie ist fest verankert im philosophischen Diskurs des 17. Jahrhunderts. Sucht man nach Einflüssen auf sein Denken, so ist man zunächst auf Descartes verwiesen.1 Ein strenger Rationalismus, die Argumentation nach der „geometrischen Ordnung“ in Definitionen, Axiomen und abgeleiteten Lehrsätzen bestimmt auch Spinozas Hauptwerk, die Ethik (vollendet 1675).2 Hier entwickelt er seine Metaphysik von der Substantialität Gottes, die den spinozistischen Pantheismus begründet, sowie ein erkenntnistheoretisches Programm, das die Möglichkeit adäquater diskursiver Verstandeserkenntnis analysiert und in einer intuitiven Gotteserkenntnis gipfelt. Diese Thesen haben die Wirkungsgeschichte seiner Philosophie wesentlich bestimmt. Das häufig vernachlässigte „Kernstück“ (Wolfgang Cramer) von Spinozas philosophischem System bildet jedoch die Affektenlehre, der Spinoza drei der fünf Teile seiner Ethik gewidmet hat. Der programmatische Titel „Ethik“ deutet bereits auf eine grundsätzlich praktische Ausrichtung des Systems. Mit seinem Grundmotiv, der Suche nach dem guten Leben und irdischer Glückseligkeit, steht Spinoza zudem deutlich in einer antiken Philosophietradition.3 Die Gleichsetzung von Vernunft, Tugend und Glückseligkeit (vgl. E II, 49 s) scheint unmittelbar auf antike Vorbilder zurückzugehen.4 Spezifisch stoisch ist dabei die Rolle der Affektbeherrschung. Die Leidenschaften gelten Spinoza wie den Stoikern als Haupthindernisse der Tugend. Sie sind Ausdruck einer emotionalen Abhängigkeit des Menschen von äußeren Umständen, die nicht in seiner Macht stehen. 1 2 3 4

Vgl. Benedictus de Spinoza: Descartes’ Prinzipien auf geometrische Weise begrndet mit dem Anhang enthaltend metaphysische Gedanken (1663). Der Text wird zitiert nach: Benedictus de Spinoza: Die Ethik, revidierte Übersetzung v. Jakob Stern, Stuttgart 1977 (künftig: E). Zum antiken Begriff der Lebenskunst vgl. Christoph Horn: Antike Lebenskunst. Glck und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998. Zur auf Sokrates zurückgehenden und von den Stoikern aufgegriffenen Verbindung von Tugend, Vernunft und Glückseligkeit vgl. Christoph Horn (wie Anm. 3), S. 85 ff.

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Dagegen setzt Spinoza – wie die Stoiker – die „Macht des Verstandes“ (E V). Die Fähigkeit des Menschen, adäquat zu erkennen, stellt das wesentliche Heilmittel gegen die Affekte dar. Die Erkenntnisleistung ist so zunächst ein Mittel zur Glückseligkeit. Als unmittelbarer Ausdruck menschlicher Freiheit ist sie jedoch zugleich die Tugend selbst. Im adäquaten Erkennen erreicht der Mensch für die Stoiker wie für Spinoza die höchste „Übereinstimmung“ mit der Natur, verstanden als individuelle und kosmische (Vernunft-)Natur. Spinozas Stoizismus betrifft die Grundlagen seiner Philosophie, erstreckt sich m. E. jedoch nicht auf Detailfragen der Metaphysik, Erkenntnistheorie und Affektenlehre. Hier kommt Spinoza zu signifikant von der stoischen Lehre abweichenden Lösungen. Dennoch erscheint mir Spinozas ,stoische Grundeinstellung‘, die seine Philosophie im ganzen bestimmt, auch in systematischer Hinsicht relevant zu sein. Spinoza behält seine stoische Orientierung – das Programm einer irdischen Glückseligkeit durch Vernunfterkenntnis und Beherrschung der Affekte – konsequent bei und setzt in seinem Hauptwerk an entscheidenden Stellen ,stoische Markzeichen‘, wie ich im folgenden zeigen werde (Abschnitt 3). Zuvor gebe ich eine knappe Darstellung von Spinozas Rezeptionsbedingungen (Abschnitt 1) und einen Forschungsüberblick (Abschnitt 2). Spinozas Rezeptionsbedingungen Es gibt nur wenige empirische Belege für Spinozas Kenntnis der Stoiker. Neben spärlichen expliziten Hinweisen auf die Stoiker in Spinozas Werk liefert der Bestand von Spinozas Bibliothek wichtige Hinweise auf eine Kenntnis der stoischen Philosophie. Die Bücherliste im Nachlassverzeichnis (vom 21. März 1677) 5 enthält neben zwei Ausgaben von Senecas Briefen (einer niederländischen und einer lateinischen) das Handbuch Epiktets (sowie einen Band mit Ciceros Briefen). Die Bücherliste lässt demnach vor allem auf eine Kenntnis der römischen Stoa schließen. Zu den stoischen Lektüren in Spinozas Bibliothek lassen sich ferner einige Werke zählen, die stoisches Gedankengut verarbeiten 5

Zweites Inventar von Spinozas Nachlass, 1677, 21. Mrz, in Benedictus de Spinoza: Smtliche Werke, Bd. 7: Spinoza – Lebensbeschreibungen und Dokumente, hg. v. Manfred Walther, Hamburg 1998, S. 262 – 269.

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wie Petrarcas Vita Solitaria, die Werke Quevedos und Thomas Morus’ Utopia. Es finden sich allerdings keine Exemplare von Justus Lipsius’ neostoischen Schriften wie De Constantia und Manuductio ad Stoicam Philosophiam. Eine Kenntnis dieser Werke kann angesichts ihrer Popularität im 17. Jahrhundert jedoch als sicher gelten.6 In seinem Werk erwähnt Spinoza „die Stoiker“ nur an einer einzigen, jedoch bedeutenden Stelle zu Beginn seiner Erläuterungen über die „Macht des Verstandes“ im fünften Teil der Ethik. In der Einleitung dieses Teils findet sich eine Kritik an der stoischen Auffassung, die Affekte seien durch den Verstand absolut zu überwinden. Spinoza setzt dagegen lediglich auf eine Mßigung der Affekte. Ebenfalls kritisch referiert er an zwei weiteren Stellen auf Seneca, zunächst auf dessen Seelenlehre,7 dann auf den Selbstmord des Philosophen, den Spinoza nicht als Akt der Freiheit, sondern als Zeichen äußeren Zwangs (und damit als der menschlichen Natur entgegengesetzt) deutet. Neben diesen spärlichen direkten Hinweisen finden sich jedoch viele weitere (implizit) stoische Elemente in Spinozas Werk, auf die v. a. Wilhelm Dilthey aufmerksam gemacht hat. Sie werden im dritten Abschnitt im einzelnen erörtert.

Forschung Seit Wilhelm Diltheys und Stanislaus von Dunin-Borkowskis EinflussStudien gilt Spinozas Kenntnis der stoischen Philosophie – v. a. ihrer römischen Vertreter – als gesichert.8 Dilthey hat anhand eines detaillierten Stellenvergleichs zu zeigen versucht, „dass die ganze eigentliche Ethik Spinozas, das Ziel seines Werkes, auf die Stoa gegründet ist, und zwar in solchem Umfang und mit solchen Übereinstimmungen im einzelnen, dass die Benützung ir6 7 8

Vgl. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation: Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion, Leipzig u. a. 1914, S. 285. Vgl. Abhandlung ber die Verbesserung des Verstandes, § 74. Dilthey (wie Anm. 6); sowie: Stanislaus von Dunin-Borkowski: Der junge De Spinoza. Leben und Werdegang im Lichte der Weltphilosophie, Münster 1910; sowie: Stanislaus von Dunin-Borkowski: Spinoza, Bd. 3: Aus den Tagen Spinozas. Geschehnisse, Gestalten, Gedankenwelt, Teil 2: Das neue Leben, Münster 1935.

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gendwelcher der zumeist gelesenen, die antike Tradition verarbeitenden niederländischen humanistischen Schriften z. B. Lipsius de constantia anzunehmen unvermeidlich scheint.“9 Dunin-Borkowski zeigt anhand von 25 Briefstellen Senecas sowie einigen Gedanken aus dem Handbuch Epiktets einen möglichen stoischen Einfluss auf Spinoza.10 Er wertet die Philosophie Spinozas als „bewusste Weiterführung der stoischen Probleme“.11 Einen weiteren überzeugenden Nachweis stoischer Motive liefert Paul Oskar Kristeller, der die Verbindung von stoischen und neuplatonischen Einflüssen bei Spinoza analysiert und v. a. Spinozas Affektenlehre als stoisch wertet.12 In einer vergleichenden Untersuchung zur spinozistischen und stoischen Affektenlehre hat jedoch bereits Werner Stempel den Einfluss stoischer Philosophie relativiert.13 Dieser verbinde sich mit deutlichen Abweichungen und eigenständigen Lösungen Spinozas v. a. hinsichtlich der Affekt-Therapie. In der neueren Spinoza-Forschung herrscht eine anhaltende Diskussion über den Stellenwert von Spinozas Stoa-Rezeption. Während Jonathan Bennett und Edwin Curley den heuristischen Wert von Quellen- und Einflussuntersuchungen für eine systematisch orientierte Spinoza-Forschung bestreiten,14 argumentiert etwa Susan James für eine auch systematisch fruchtbare Beeinflussung Spinozas durch die Stoa. Sie wertet die Philosophie des „Stoikers Spinoza“ (Spinoza the Stoic) als Aktualisierung und eigenständige Weiterentwicklung stoischer Gedanken.15

9 10 11 12

Wilhelm Dilthey (wie Anm. 6), S. 285. Vgl. Stanislaus v. Dunin-Borkowski 1935 (wie Anm. 8), S. 46 – 51. Stanislaus v. Dunin-Borkowski 1910 (wie Anm. 8), S. 501. Paul Oskar Kristeller: Stoic and Neoplatonic Sources of Spinoza’s Ethics, in: History of European Ideas 5 (1984), S. 1 – 15. Brauchbare Hinweise auf stoische Motive in Spinozas Philosophie liefert auch die Dissertation von Panaitios Daphnos: Stoische Elemente bei Descartes und Spinoza, Athen 1976. 13 Werner Stempel: Die Therapie der Affekte bei den Stoikern und Spinoza, Univ. Diss. [Masch.], Kiel 1969. 14 Vgl. Jonathan Bennett: A study of Spinoza’s Ethics, Indianapolis 1984, hier S. 16; sowie Edwin Curley: Behind the Geometrical Method, Princeton, N. J. 1988, hier S. 137. 15 Susan James: Spinoza the Stoic, in: The Rise of Modern Philosophy, hg. v. Tom Sorell, Oxford 1993, S. 289 – 316.

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Eine kritische Reflexion der Stoiker sehen hingegen Alexandre Matheron und Pascal Severac.16 Severac geht in seiner vergleichenden Analyse von der stoischen Telos-Formel aus und versucht zu zeigen, dass sich diese bei den Stoikern letztlich auf eine Übereinstimmung mit der Natur qua Übereinstimmung mit der eigenen (Vernunft-)Natur, bei Spinoza hingegen auf eine Übereinstimmung mit der (Vernunft-)Natur der anderen Menschen bezieht. Spinoza lässt sich nach dieser Interpretation in eine moderne Ethik-Tradition einordnen, für die sich die Sittlichkeit nicht im einzelnen Subjekt, sondern erst in der Existenz des anderen begründen lässt. Matheron sieht in der Erkenntnistheorie Spinozas und ihrer ethischen Bedeutung eine Akzentverschiebung gegenüber der Stoa. Spinoza betont, so lässt sich Matherons Argumentation zusammenfassen, nicht mehr wie die Stoiker das Objekt der Erkenntnis (die determinierte Natur), sondern den Akt des Erkennens selber. Für Firmin DeBrabander, der an den Ansatz Matherons anknüpft, negiert Spinoza jedoch die in der Stoa begründete Möglichkeit moralischer Perfektion (und damit letztlich die Erlangung von Glückseligkeit) in einem pessimistischen Widerruf.17 Spinoza betone mit dem Beharren auf der Stellung des Menschen als Teil der Natur letztlich die Beschränktheit menschlicher Möglichkeiten und weise damit die ,Gottgleichheit‘ des stoischen Weisen, wie sie von Seneca betont wird, zurück. Einige neueste Forschungsansätze klammern Fragen nach einer (bewussten) Beeinflussung Spinozas durch die Stoa und deren Stellenwert aus, versuchen jedoch zu zeigen, dass ein systematischer Vergleich der beiden Philosophien heuristisch fruchtbar sein kann. Anthony A. Long stellt einige Grundmotive Spinozas und der Stoa gegenüber und konstatiert eine systematische Affinität Spinozas zur stoischen Philsosophie (als erster antiker ,Systemphilosophie‘), mit der er aufgrund

16 Alexandre Matheron: Le moment stocien de L’Ethique de Spinoza, in: Le Stoicisme aux XVIe et XVIIe sicles, hg. v. Pierre-François Moreau, Caen 1994, S. 147 – 161, sowie Pascal Severac: Convenir avec soi, convenir avec autrui: thique stocienne et thique spinoziste, in: Studia Spinozana 12 (1996), S. 105 – 119. 17 Firmin DeBrabander: Psychotherapy and Moral Perfection. Spinoza and the Stoics on the Prospect of Happiness, in: Stoicism. Traditions and Transformations, hg. v. Steven K. Strange, Cambridge 2004, S. 198 – 213.

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derselben Prämissen dieselben systematischen Probleme teile.18 Andreas Graeser zeigt Übereinstimmungen zwischen dem stoischen Prinzipiendualismus und Spinozas Attributen der Substanz.19 Wie Curley und Bennett bin ich grundsätzlich der Meinung, dass die Quellenforschung nichts zur Klärung systematischer Detailfragen von Spinozas Philsosophie beitragen kann. Ich teile jedoch Longs Argumentation, dass ein Vergleich unter übergreifenden systematischen Gesichtspunkten aufschlussreich sein kann. Im folgenden sollen die stoischen Thesen der Ethik (und ihre systematischen Implikationen) anhand der von Spinoza an entscheidenden Stellen des Hauptwerks gesetzten ,stoischen Markierungen‘ nachgezeichnet werden. Da in Spinozas komplexem System alles mit allem zusammenhängt, ist es in diesem Zusammenhang unerlässlich, auch diejenigen Aspekte zu behandeln, die nicht unmittelbar mit dieser stoischen Orientierung verbunden, für ein Verständnis der Zusammenhänge jedoch von Bedeutung sind. Stoische Motive in Spinozas Ethik Metaphysik (Ethik I) Am Beginn der Ethik steht programmatisch die Theorie von der Substantialität Gottes. „Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Seiende, d. h. die Substanz […]“ (E I, def. 6). Nach einer rein formalen Definition ist die Substanz bestimmt als dasjenige „was in sich ist und durch sich begriffen wird“ (E I, def. 3). Eine inhaltliche Konkretisierung erfährt die eine Substanz in einer unendlichen Zahl substantieller „Attribute“, in welchen sie sich (vollständig, also ungeteilt) „ausdrückt“ 18 Anthony A. Long: Stoicism in the Philosophical Tradition: Spinoza, Lipsius, Butler, in: The Cambridge Companion to the Stoics, hg. v. Brad Inwood, Cambridge, UK 2003, S. 365 – 392. 19 Andreas Graeser: Stoische Philosophie bei Spinoza, in: Revue internationale de Philosophie 45 (1991), H 3, S. 336 – 346. Einen systematischen Vergleich unternimmt auch: Jean-Marc Narbonne: La notion de puissance dans son rapport  la causa sui chez les Stociens et dans la philosophie de Spinoza, in: Archives de Philosophie 58 (1995), S. 35 – 53. Narbonne kommt zu dem Schluss, dass sich für beide Systeme ein Widerspruch zwischen der göttlichen causa sui (als erstem Prinzip) und der individuellen Selbstbestimmung, also der menschlichen Freiheit ergebe.

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(vgl. E I, def. 6).20 Von diesen Attributen sind dem Menschen zwei bekannt: Ausdehnung und Denken. Die eine Substanz, also Gott, soll nun (als All-Einheitsprinzip) die gesamte Wirklichkeit umfassen: „Alles, was ist, ist in Gott und nichts kann ohne Gott sein noch begriffen werden“ (E I, 15). Das Wesen Gottes besteht in seiner verursachenden, produktiven Macht, aus der alles Wirkliche folgen muss: „Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muss Unendliches auf unendliche Weisen (d. h., alles, was vom unendlichen Verstand erfasst werden kann), folgen.“ (E I, 16).21 Die Aktivität Gottes besteht im Hervorbringen einer Wirkung, ohne diese Wirkung außer sich zu setzen (wie etwa ein Handwerker sein Produkt). Dennoch erzeugt Gott durch sein Wirken anderes als sich selbst (die Einzeldinge, die Spinoza „Modi“ nennt). Er tut dies jedoch in sich, so dass die Modi als Wirkungen der Substanz in der Substanz verbleiben, also immanente Wirkungen der Substanz sind, Produkte ihrer immanenten Kausalität („Gott ist die immanente, nicht aber die übergehende Ursache aller Dinge.“ (E I, 18)). Die Modi verbleiben „in der Substanz als in dem anderen ihrer selbst“,22 von dem sie wesentlich verschieden, durch das sie jedoch als Wirkungen bestimmt sind. Angemessen begriffen werden kann eine Wirkung nach Spinoza nur dann, wenn man ihre Ursache kennt (nach E I, ax. 4). So entspricht ein Modus als Wirkung der immanenten göttlichen Kausalität seiner Definition, etwas zu sein, „was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird“ (E I, def. 5), wohingegen die Substanz dasjenige ist, „was in sich ist und durch sich begriffen wird“ (E I, def. 3). Spinozas Pantheismus bezeichnet nun die produktive göttliche Substanz als „natura naturans“, als schaffende Natur. Die Produkte der immanenten Kausalität Gottes werden hingegen als „natura naturata“, als geschaffene Natur gefasst (vgl. E I, 29 s). Für die folgenden Überlegungen Spinozas wird der ontologische Status der Einzeldinge als Modi entscheidend. Aus seiner Konzeption folgt, dass Einzeldinge nicht als eigenständige Substanzen verstanden 20 Auf den ontologischen Status der Substanz und ihrer Attribute kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu Konrad Cramer: Gedanken ber Spinozas Lehre von der All-Einheit, in: All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West, hg. v. Dieter Henrich, Stuttgart 1985, S. 151 – 179. 21 Für Spinoza muss aus Gott deshalb Unendliches folgen, weil für ihn die Begriffe „Realität“ und „Vollkommenheit“ gleichbedeutend sind (vgl. E II, def. 6) und die göttliche Vollkommenheit Unendlichkeit impliziert. 22 Konrad Cramer (wie Anm. 20), S. 177.

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werden können. Sie gelten als „Affektionen der Substanz“ bzw. ihrer Attribute (vgl. E I, def. 5). Als solche unterstehen sie einer doppelten Determination:23 Einerseits sind sie als Wirkungen der Substanz ihrerseits zum Wirken, also als Ursachen bestimmt (die Macht Gottes konkretisiert sich in Einzelvermögen). Andererseits sind sie als einzelne Bewirkende innerhalb der Welt den Wirkungen anderer Modi ausgesetzt. Sie stehen als einzelnes Glied in einer unendlichen Kausalkette (vgl. E I, 29d), die ihrerseits auf die eine göttliche Verursachung zurückgeht. Aus Spinozas Metaphysik folgt ein lückenloser Determinismus, der sowohl als immanente wie als innerweltliche Kausalität auf die Kausalität der Substanz zurückgeht: „In der Natur der Dinge gibt es nichts Zufälliges, sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken.“ (E I, 29). Spinozas Pantheismus und Determinismus lassen sich mit der stoischen Metaphysik vergleichen. In der stoischen Lehre ist es der göttliche Logos, der den amorphen Materiebestand durchdringt und ausformt. Der Logos ist in der stoischen Philosophie, worauf Long hinweist, jedoch nicht als Substanz, sondern eher als „Bestimmung“ („qualification“) der Substanz zu verstehen.24 Doch obwohl der stoische Prinzipiendualismus (Logos–Materie) an Spinozas Attribute (Denken und Ausdehnung) erinnern kann, so ist hier eine Auseinandersetzung Spinozas mit Descartes’ res cogitans und res extensa wahrscheinlicher. Die Konzeption der Substantialität dieser Prinzipien könnte hingegen auf Giordano Bruno zurückgehen.25 Der lückenlose Determinismus der Wirklichkeit, das Netz von Kausalbeziehungen, ließe sich hingegen wiederum mit der stoischen Philosophie, der stoischen Schicksalskonzeption (heimarmene), vergleichen. Wichtiger als eine mögliche inhaltliche/konzeptionelle Übereinstimmung in der Begründung von Pantheismus und Determinismus ist jedoch die Funktion dieser Konzepte im jeweiligen System. Hier lassen sich Übereinstimmungen Spinozas mit der stoischen Lehre feststellen, die im Anhang von Ethik I greifbar werden. Spinoza verweist hier bereits auf die praktische Ausrichtung seiner Philosophie und geht als Überleitung zur Erkenntnistheorie des zweiten Teils auf die Bedeutung 23 Vgl. Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. München 1996, S. 80 ff. 24 Vgl. Anthony A. Long (wie Anm. 18), S. 371. 25 Vgl. Paul Oskar Kristeller (wie Anm. 12), S. 4.

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des Wissens ein.26 Aus der Metaphysik ergibt sich, dass der Mensch in einer determinierten Welt steht. Dennoch sieht er sich einem Schicksal gegenüber gestellt, das er begreifen kann, dem er also nicht blind gehorchen muss, sondern dem er sich wissentlich und damit beruhigt fügen kann. Die Ereignisse der determinierten Welt liegen zwar nicht in unserer Hand, geschehen aber auch nicht willkürlich, sondern nach erkennbaren Gesetzmäßigkeiten. Wer hingegen von einer unberechenbaren Schicksalsmacht ausgeht – nach Spinoza ein „Vorurteil“, mit dem sich der Glaube an einen anthropomorphen Schöpfergott verbindet –, der entzieht sich seiner Verantwortung als Mensch (die im adäquaten Erkennen der Gott-Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten besteht) und flüchtet sich in das „Asyl der Unwissenheit“ (E I, App.). Diese Betonung des Wissens und das aus ihm folgende ,mündige‘ Verhältnis dem Notwendigen gegenüber kann hier als stoisch gewertet werden. Die Intelligibilität der Natur spielt auch im stoischen System eine entscheidende Rolle: Die Stoiker konzipieren die Natur als vernünftig organisiert und deshalb der Vernunfterkenntnis zugänglich und leiten aus dieser Konzeption ihre Ethik (der – vernünftigen – Übereinstimmung mit der Natur) ab.27 Es ist von zentraler Bedeutung, dass sich Spinozas Ablehnung jeglicher Naturteleologie (vgl. E I, App.) nicht, wie häufig behauptet wird, gegen die Stoiker richtet, deren kausaldeterministische Auffassung von Teleologie sich mit Spinozas antiteleologischer Konzeption wohl in Einklang bringen ließe. Spinoza wendet sich vielmehr gegen die Idee eines anthropomorphen Gottes und eines göttlichen Heilsplans, also gegen die Auffassung einer ,Designer-Teleologie‘.

26 Ethik II, in der Spinoza seine Erkenntnistheorie entwickelt, beginnt ebenfalls mit einem Hinweis auf die Lebenskunst. Von demjenigen, „was aus dem Wesen Gottes […] folgen musste“, will er in der Folge nur dasjenige behandeln, „was uns zur Erkenntnis des menschlichen Geistes und seiner höchsten Glückseligkeit gleichsam an der Hand leiten kann.“ (E II). 27 Vgl. The Hellenistic Philosophers, Bd. 1: Translation of the Principal Sources with Philosophical Commentary, hg. v. Anthony A. Long und David N. Sedley, Cambridge 1987 (künftig: LS), 63.

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Erkenntnistheorie (Ethik II) Im zweiten Teil der Ethik „Über die Natur und den Ursprung des Geistes“ entwickelt Spinoza seine Erkenntnistheorie und wendet sich zu diesem Zweck dem Menschen zu. Als psycho-physischem Doppelwesen sind diesem nach Spinoza zwei der unendlich vielen substantiellen Attribute zugänglich, nämlich Denken und Ausdehnung. Nach dem Parallelismus der Attribute – „Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge.“ (E II, 7) – entspricht jedem Modus des Attributs Ausdehnung, also jedem einzelnen Körper, ein Modus des Attributs Denken, eine einzelne Idee. Der einzelne menschliche Geist wird ebenfalls als Idee bestimmt, als Idee des menschlichen Körpers: „Das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, ist der Körper oder ein bestimmter Modus der Ausdehnung und nichts anderes“ (E II, 13). Der menschliche Geist hat also keine Ideen, er ist seine/die ( jeweilige) Idee. Der (dynamische) Gehalt dieser Idee, die der Geist ist, entspricht den jeweiligen Zuständen (Affektionen) des Körpers, denn „alles, was im Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, geschieht, muss vom menschlichen Geist erfasst werden […]“ (E II, 12). Auch die Selbsterkenntnis des Geistes erfolgt in Beziehung auf Körperaffektionen: „Der Geist erkennt sich selbst nur, insofern er die Ideen der Affektionen des Körpers erfasst“ (E II, 23). Diese Konzeption – der Bezug der Fremd- und Selbsterkenntnis auf Körperaffektionen – wird für Spinozas Erkenntnistheorie wie für die anschließende Affektenlehre entscheidend sein. Auf der Grundlage seiner Bestimmung des menschlichen Geistes entwickelt Spinoza die Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Formen der Erkenntnis, die er in der zweiten Anmerkung zu Lehrsatz 40 zusammenfasst. Zugrunde liegt die Unterscheidung zwischen adäquater und inadäquater Erkenntnis. Inadäquat bzw. „verworren“ ist die sinnliche Wahrnehmung (imaginatio). Die inadäquaten Ideen der sinnlichen Wahrnehmung erhalten ihre inhaltliche Bestimmung ausgehend von Körperaffektionen, die den Menschen als Glied der innerweltlichen Kausalkette ausweisen (vgl. E II, 30 s). Die sinnliche Wahrnehmung ist immer inadäquat: Adäquat könnte eine solche Erkenntnis nur sein hinsichtlich der Gesamtheit der Ideen in Gott, im unendlichen Verstand Gottes (als dem unendlichen Modus des Attributs Denken), von dem der menschliche Geist nur ein Teil ist (vgl. E II, 11c). Eine Gesamtschau der Ideen und ihrer Verkettungen, in deren

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Kontext die einzelne Idee adäquat ist, kann jedoch nur dem unendlichen, nicht aber dem individuellen endlichen Verstand zukommen. Die adäquate Erkenntnis versucht deshalb, von der Individualität der Dinge zu abstrahieren und die Einzeldinge auf ihre Gemeinsamkeiten hin zu betrachten. Diese Erkenntnisform nennt Spinoza „rationale Erkenntnis“. Sie ordnet die Einzeldinge unter gemeinsame Begriffe (notiones communes) und geht vom Besonderen zum Allgemeinen. Entscheidend ist nun, dass diese adäquate Erkenntnis nicht, wie die inadäquate imaginatio durch äußere Dinge verursacht wird, sondern direkt von uns ausgeht, also „innerlich“ bewirkt ist (vgl. E II, 29 s). Die Umwandlung von äußerer in innere Bestimmung (und damit von Passivität in Aktivität) wird später als entscheidendes Mittel der Affektbeherrschung wiederkehren. Eine weitere Form adäquaten Erkennens führt Spinoza mit der intuitiven Erkenntnis ein, d. h. einer nicht mehr diskursiven, sondern selbst anschauenden Verstandeserkenntnis. Mit ihr soll eine adäquate Einzel-Erkenntnis begründet werden, die vom Allgemeinen zum Besonderen zurückgeht und dabei zugleich als Erkenntnis des Absoluten (also Gottes) gefasst ist. Spinoza wird diese Theorie, die in Ethik II nur anklingt, im fünften Teil ausführen. Beide Formen adäquaten Erkennens erfassen die Dinge unter einem „Gesichtspunkt der Ewigkeit“ („sub specie aeternitatis“) und sind damit auf die Notwendigkeit des Ganzen bezogen. Das inadäquate Erkennen bleibt hingegen in der Perspektive der Endlichkeit von Einzeldingen und ihrer Affektionen als Ausdruck innerweltlicher Determination verhaftet. Am Ende von Ethik II schlägt Spinoza die Brücke zwischen der Erkenntnistheorie und der praktischen Philosophie (der folgenden Teile III und IV). Spinoza spricht hier der sinnlichen Wahrnehmung (imaginatio) einen Praxisbezug zu, indem er sie mit einem Wollen (bzw. einer Begierde28) gleichsetzt, das der Mensch auf seine Außenwelt richtet (vgl. E II, 49). Obwohl er den Wahrnehmungsirrtum auf den grundsätzlichen „Mangel“ (an Deutlichkeit) der sinnlichen Wahrnehmung zurückführt, vertritt Spinoza keine rein rezeptive Wahrnehmungstheorie. Er weist die Auffassung, die Ideen seien „stumme Gemälde an einer Tafel“ sogar ausdrücklich zurück und mokiert sich über 28 Im Zusammenhang mit der Lehre vom conatus in Ethik III definiert Spinoza die menschliche Begierde als den vom Bewusstsein begleiteten Trieb und setzt dieses Bestreben, soweit es sich auf den Geist bezieht, mit dem Willen gleich (vgl. E III, 9 s).

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den Glauben mancher Menschen, „sie könnten etwas wollen, was mit dem, was sie wahrnehmen, im Widerspruch steht“ (E II, 49 s). Dass er den Mangel an die Erfüllung der Begierde knüpft, zeigt bereits die aktive bzw. praktische Ausrichtung seiner Konzeption. Es wird nun ersichtlich, was Spinoza damit meint, dass wir im inadäquaten Erkennen „äußerlich“ bestimmt seien (vgl. E II, 30 s). Mit der Bestimmung durch Äußeres ist gemeint, dass die Erfüllung unserer Wahrnehmung bzw. Begierde von etwas Äußerem abhängt, das sich einem sicheren sinnlichen Zugriff entzieht und also nicht in unserer Hand liegt. Diese Vorstellung verbindet Spinoza wiederum mit stoischen Motiven, was aus den Hinweisen auf die Nützlichkeit dieser Lehre „für das praktische Leben“ am Ende der Anmerkungen zu Lehrsatz 49 ersichtlich wird. Seine Wahrnehmungstheorie erlaubt es ihm zu erklären, warum die Güter der Außenwelt, die wir erstreben, aufgrund ihrer Unsicherheit (die er über die Irrtumsanfälligkeit der Wahrnehmung erklären kann) für das höchste Glück letztlich irrelevant sein müssen. Deswegen lehre uns die Wahrnehmungstheorie, wie wir uns gegen die Fügungen des Schicksals oder das, was nicht in unserer Macht steht, d. h. gegen die Dinge, die nicht aus unserer Natur folgen [wie die Erfüllung einer Begierde/Wahrnehmung], verhalten müssen, nämlich das eine wie das andere Antlitz des Schicksals mit Gleichmut erwarten und ertragen; weil ja alles aus dem ewigen Ratschluss Gottes mit derselben Notwendigkeit folgt, wie aus dem Wesen des Dreiecks folgt, dass die Summe seiner Winkel zwei rechten Winkeln gleich ist. (E II, 49 s)

Die Einsicht in diese Notwendigkeit erlangen wir aber nicht schon durch sinnliche Wahrnehmung, sondern allein durch adäquates Erkennen (unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit). Spinoza bereitet hier seine stoische Lösung vor, nach der Glückseligkeit und Tugend nur im adäquaten Erkennen der Notwendigkeit, also im Erkennen der göttlichen Natur, zu erreichen sind (bzw. in ihm bestehen). So betont er am Ende von Ethik II programmatisch, seine Lehre lasse erkennen, „worin das höchste Gut oder unsere Glückseligkeit besteht, nämlich allein in der Erkenntnis Gottes“.

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Praktische Philosophie (E III – V) Die Scharnierstelle zwischen der theoretischen Philosophie der Teile I und II und der praktischen Philosophie bildet Spinozas Konzeption des Selbsterhaltungsstrebens (conatus), durch das sich immanente und innerweltliche Determination verbinden lassen. Die immanente Kausalität Gottes, durch die jeder Modus als Ursache von Wirkungen bestimmt ist, äußert sich im innerweltlichen Zusammenspiel mit anderen individuellen Ursachen als ein Streben, das seine Wirkungen gegen Äußeres zu behaupten sucht: „Jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren“ (E III, 6). Dieses Streben wird als „das wirkliche Wesen des Dinges“ bestimmt (vgl. E III, 7). Beim menschlichen conatus handelt es sich um ein bewusstes Streben, das Spinoza als „Begierde“ bezeichnet (E III, 9 s). Das natürliche Streben nach Selbsterhaltung dient zugleich – wie die stoische oikeiosis-Lehre, mit der der conatus wiederholt verglichen wurde29 – als naturalistische Basis der Ethik. Aus dem conatus leitet Spinoza im vierten Teil den Begriff der Tugend, der „eigentlichen Natur des Menschen“ ab (vgl. E IV, def. 8): „Keine Tugend kann vor dieser (nämlich vor dem Bestreben, sich zu erhalten) begriffen werden“ (E IV, 22). Spinoza bestimmt das menschliche Vermögen, „absolut aus Tugend zu handeln“ als „nach den Gesetzen seiner eigenen Natur handeln“ (E IV, 24d) – in möglicher Anlehnung an die stoische telos-Formel „in Übereinstimmung mit der Natur handeln“.30 Ganz stoisch bindet er die Tugend zudem an das adäquate Erkennen, denn „absolut aus Tugend handeln, ist in uns nichts anderes als nach der Leitung der Vernunft [d.i. des Verstandes] handeln […]“ (E IV, 24). In Ethik IV konfrontiert Spinoza diese Einsicht mit der Tatsache, dass der Realisation des Tugendideals im realen Leben oft Widerstände entgegenstehen, denn „die Kraft, mit welcher der Mensch in der Existenz beharrt, ist begrenzt und wird von dem Vermögen der äußeren Ursachen unendlich übertroffen“ (E IV, 4). Wir müssen deshalb unseren Status als „Teil der Natur […], deren Ordnung wir folgen“ (E IV, app.) immer im Auge behalten, worauf Spinoza am Ende des vierten Teils in einem Abschnitt hinweist, den Matheron (1994) als das „stoische Moment“ („le moment stoïcien“) von Spinozas Ethik ausgewiesen hat: 29 Vgl. etwa Wilhelm Dilthey (wie Anm. 6), S. 286, sowie Anthony A. Long (wie Anm. 18), S. 374 ff. 30 Vgl. LS 63.

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Wenn wir das klar und deutlich einsehen, so wird der Teil von uns, der als Erkenntnisvermögen definiert wird, d. h. der bessere Teil in uns, dabei vollkommen beruhigt sein und in dieser Beruhigung zu verharren streben. Denn insofern wir erkennen, können wir nichts anderes begehren als das, was notwendig ist, und überhaupt nur im Wahren beruhigt sein. Insofern wir daher dieses richtig erkennen, stimmt das Bestreben unseres besseren Teils mit der Ordnung der ganzen Natur überein. (E IV, App., 32)

Die Zitate zeigen deutlich die stoische Rahmung von Spinozas Tugendlehre. Aus ihr ergibt sich die funktionale Bestimmung der Affektenlehre. Die „Leiden des Gemüts“ sind für Spinoza wie für die Stoiker Ausdruck einer emotionalen Abhängigkeit von äußeren Umständen, die nicht in unserer Macht stehen. Um tugendhaft (also aus unserer Natur heraus) zu handeln, muss die „Macht der Affekte“ (E IV) eingedämmt bzw. überwunden werden. In der Ausgestaltung der Affektenlehre zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen Spinoza und der Stoa.31 Sie ergeben sich v. a. aus Spinozas Auffassung des conatus. Die Begierde gilt Spinoza nach der „Definition der Affekte“ (E III) als erster Grundaffekt, aus dem sich alle weiteren Affekte ableiten lassen. Daraus folgt, dass Spinoza auch das Wesen des Menschen affektiv deutet, eine Auffassung, die der stoischen Lehre entgegenzustehen scheint, in der stets die Widernatürlichkeit der Affekte betont wird.32 Spinoza verweist im Titel von Ethik III hingegen programmatisch auf die „Natur der Affekte“, die sich aus ihrer Beziehung zur Natur des Menschen, also zum conatus, ergibt. Direkt aus der Begierde leitet Spinoza zwei weitere Grundaffekte ab: Lust und Unlust. Gelingt es uns, die Existenzkraft unseres Körpers zu steigern, so empfinden wir Lust; misslingt es hingegen, so sind wir von Unlust erfüllt. Zwei weitere Affekte, Liebe und Hass, beziehen sich auf das äußere Objekt unserer Begierde. Trägt es zur Förderung des conatus bei, lieben wir es; hemmt es unser Selbsterhaltungsstreben, begegnen wir ihm mit Hass.33 Die hemmenden Affekte aber, gegen die sich eine Therapie zu wenden hat, entspringen aus unserem prinzipiell unsicheren Verhältnis zur Außenwelt, insofern wir durch die sinnliche Wahrnehmung auf sie bezogen sind. In der „Allgemeinen Definition der Affekte“ am Ende 31 Eine detaillierte Gegenüberstellung der beiden Affektenlehren gibt Werner Stempel (wie Anm. 13). 32 Vgl. LS 65 A. 33 Vgl. E III, 10 ff. sowie die Definition der Affekte im Anschluss an E III, 59, wo Spinoza die Bestimmung von 48 Affekten gibt.

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von Ethik III schlägt Spinoza die Brücke zurück zu seiner Wahrnehmungstheorie, indem er alle Affekte, die in äußerlich bedingten Körperaffektionen bestehen, als „verworrene Ideen“ bestimmt und zwar unabhängig davon, ob diese eine Hemmung oder eine Förderung der Existenzkraft unseres Körpers zur Folge haben. Indem sie an inadäquates Erkennen gebunden sind, müssen sie als „Leiden“ oder „passive Affekte“ gefasst werden (vgl. E III, def. 2). Wir erscheinen hier nicht als „adäquate Ursache“ einer Wirkung, sondern lediglich als deren „Teilursache“ (vgl. E III, def. 1). Durch sie kommt nicht unsere Natur, sondern diejenige der äußeren Ursache zur Geltung: „Die Kraft und das Wachstum eines jeglichen Leidens und sein Verharren in der Existenz erklären sich nicht aus dem Vermögen, wodurch wir in der Existenz zu verharren streben, sondern aus dem Vermögen der äußeren Ursache, verglichen mit dem unseren.“ (E III, 5). In dieser Hinsicht könnten passive Affekte als widernatürlich gelten (was wieder an die Stoa erinnerte). Ziel der Tugendlehre ist es jedoch, sich als „adäquate Ursache“ (vgl. E III, def. 1) von Wirkungen zu erweisen, eine Aufgabe, die für Spinoza nur im adäquaten Erkennen geleistet werden kann, denn „wir handeln […] nur insofern, als wir erkennen“ (E IV, 24d) und „die Handlungen des Geistes rühren allein von adäquaten Ideen her“ (E III, 3), in denen wir eine Steigerung unseres geistigen Strebens erfahren können, die von uns ausgeht. In der Möglichkeit, adäquate Ursache einer Handlung zu sein, sieht Spinoza die menschliche Freiheit begründet.34 Die Definition menschlicher Freiheit als Bestimmung „durch sich selbst“, also als adäquate Ursache und nicht bloß als Teilursache einer Wirkung, erinnert an die stoische Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenursachen – nach Chrysipps ,Zylinder-Beispiel‘35 –, aus der sich die stoische Bestimmung menschlicher Freiheit ableiten lässt. Beide Theorien vertreten eine kompatibilistische Position, nach der die Determination des Gan-

34 Die menschliche Freiheit ist im Unterschied zur absoluten Freiheit Gottes zu sehen, die (nach E I, def. 7) darin besteht, dass etwas „nur aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur heraus existiert und nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird.“ Für die Freiheit eines endlichen Modus gilt nur der zweite Teil dieser Definition. Zu Spinozas Bestimmung der menschlichen Freiheit vgl. Wolfgang Bartuschat (wie Anm. 23), S. 145 ff. 35 Vgl. LS 62 C.

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zen mit der Möglichkeit individueller Freiheit – verstanden als Determination „durch sich selbst“ – vereinbar ist.36 Die praktische Frage lautet jedoch, wie sich das adäquate Erkennen gegen die Notwendigkeit äußerer Einflüsse und damit gegen die „Knechtschaft“ der passiven Affekte behaupten kann. Diese Frage hängt unmittelbar mit der Definition der Affekte zusammen. Auch an diesem systematisch wichtigen Punkt sind Übereinstimmungen mit der stoischen Lehre greifbar. Die Affekte müssen in beiden Systemen so bestimmt werden, dass sie durch das adäquate Erkennen eingeschränkt bzw. überwunden werden können. Die Stoiker gewährleisten dies, indem sie die Affekte selbst kognitiv bestimmen und sie als „falsche Urteile“ deuten, die der Vernunft entgegenstehen, von dieser aber korrigiert werden können.37 In Spinozas Bestimmung der passiven Affekte als „verworrene Ideen“ wurde eine Übereinstimmung mit dem stoischen Intellektualismus gesehen.38 Eine mögliche kognitive Bestimmung der Affekte (Spinoza fasst sie m. E. lediglich als Ausdruck von Begierden, nicht aber als Urteile auf) ist jedoch weniger entscheidend als ihre Bindung an den conatus. Hier ergibt sich der Zusammenhang zur adäquaten Erkenntnis, die Spinoza – wie die inadäquate sinnliche Wahrnehmung und die äußerlichen Affektionen des Körpers – relativ zum conatus bestimmt. „Es ist nämlich vor allem zu bemerken, dass es ein und derselbe Trieb ist, um dessentwillen der Mensch sowohl handelnd als auch leidend heißt“ (E IV, 4 s). Entscheidend ist Spinozas Auffassung, dass sich mit der adäquaten Erkenntnis immer eine Förderung unseres Strebens verbindet, die gegen die Hemmung passiver Affekte eingesetzt werden kann. Als Förderung unserer geistig-körperlichen Existenzkraft ist die adäquate Erkenntnis zudem positiv affektiv besetzt, denn „[w]enn der Geist sich selbst und sein Tätigkeitsvermögen betrachtet, so empfindet er Lust“ (E III, 371). Da „ein Affekt nur durch einen entgegengesetzten Affekt gehemmt werden“ kann (nach E IV, 7), ist das adäquate Erkennen also für die Affekttherapie nur insofern wirksam, als es selbst „als Affekt betrachtet wird“ (E IV, 14).

36 Zum stoischen Determinismus und der kompatibilistischen Position der Stoiker vgl. Dorothea Frede: Determinismus in der Stoa, in diesem Werk. 37 Zur stoischen Bestimmung der Affekte vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, 2. Auflage, Darmstadt 1995, S. 114 ff. 38 Vgl. Firmin DeBrabander (wie Anm. 17), S. 202 f.

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Aus der Bindung aller Affekte an den Grundaffekt der Begierde sowie aus der notwendigen Beschränkung der menschlichen Macht bzw. Freiheit ergibt sich nun Spinozas (kritische) Relativierung der stoischen Lehre, die an zwei Stellen explizit wird. So hat es nach Spinoza zwar an sehr hervorragenden Männern nicht gefehlt […], die über die rechte Lebensweise viel Vortreffliches geschrieben und den Menschen Ratschläge voll Klugheit gegeben haben [hiermit könnten die Stoiker gemeint sein39]. Die Natur und die Kräfte der Affekte aber, und was dagegen der Geist vermag, nämlich sie zu mäßigen, das hat, soviel ich weiß, noch niemand eindeutig bestimmt (E III, Praef.).

Die Pointe von Spinozas Theorie liegt darin, dass wir aufgrund der Natur der Affekte – und der natürlichen Affektivität des Menschen – die Affekte (gemeint sind hier die Leiden) lediglich mßigen, nicht aber überwinden können. Den Stoikern schreibt Spinoza hingegen eine Theorie der Affekt-berwindung zu. Er nimmt seine Kritik zu Beginn des fünften und letzten Teils, der die (relative) „Macht des Verstandes“ behandelt, wieder auf und richtet sie diesmal direkt gegen die Stoiker: „Die Stoiker […] waren der Meinung, dass die Affekte absolut von unserem Willen abhängig seien und dass wir sie absolut beherrschen könnten“ (Ethik V, Praef).40 Für Spinoza ist das aufgrund der wesenhaften Affektivität des Menschen ausgeschlossen, zumal der Mensch niemals „nur durch sich selbst“ bestimmt sein kann, da „wir es niemals dahin bringen können, für die Erhaltung unseres Seins nichts außerhalb unserer selbst zu bedürfen“ (E IV, 18 s). So kann die rationale Affekttherapie nach Spinoza niemals den Grundaffekt, den eigenen conatus, außer Kraft setzen, der allem Handeln und Leiden notwendigerweise zugrunde liegt. Deshalb verurteilt Spinoza die stoische Konzeption des Selbstmords aus Freiheit, nach der der conatus sich selber aufheben müsste, was nach Spinoza unmöglich ist: „Niemand, sage ich, verschmäht die Nahrung oder nimmt sich das Leben infolge der Notwendigkeit seiner Natur, sondern durch die Zwänge äußerer Ursachen.“ So sah sich für Spinoza auch Seneca „auf Befehl eines Tyrannen gezwungen, sich die Adern zu öffnen“ (IV, 20 s). 39 vgl. Wilhelm Dilthey (wie Anm. 6), S. 286. 40 Kursiv von mir. Spinoza scheint diese Auffassung auf einen Fehler des stoischen Systems zurückzuführen, was der Verweis auf die stoischen „Prinzipien“ (E V, Praef.) nahe legt. Auf welche Quellen sich diese Kritik stützt, bleibt jedoch unklar.

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Stoisch erscheint hingegen wiederum das wichtigste Mittel, das Spinoza zur Mäßigung der Affekte vorschlägt und das er im Wissen um die Notwendigkeit sieht, die wir durch adäquates Erkennen erwerben: „Insofern der Geist alle Dinge als notwendig erkennt, hat er eine größere Macht über die Affekte und leidet weniger von ihnen.“ (E V, 6). Doch adäquates Erkennen ist nicht nur ein Mittel zur Mäßigung der Affekte und damit zu einem tugendhaften Leben. Als aus unsrer Natur folgende Handlung betrachtet, ist das adäquate Erkennen die Tugend selbst, die bestmögliche Realisierung unseres conatus. Als solche kann sie eine Steigerung erfahren, in der das höchste Gut, die Erkenntnis Gottes zu erreichen ist. Sie liegt in der Möglichkeit intuitiven Erkennens begründet. Mit ihr konzipiert Spinoza eine adäquate Erkenntnis von Einzelnem. Diese geht vom Allgemeinen zurück zum Besonderen und soll zugleich Erkenntnis des Absoluten, also des Unendlichen im Endlichen sein (im Unterschied zur inadäquaten Erkenntnis, die nur das Endliche am Einzelnen erfasst). Mit dieser spekulativen Konzeption einer nicht mehr diskursiven, sondern selbst unmittelbar anschauenden Verstandeserkenntnis, auf deren Problematik im Rahmen dieser Untersuchung nicht eingegangen werden kann, könnte Spinoza eine aemulatio der stoischen Lehre intendieren. Denn nach der stoischen Auffassung müsste der Weise im Zustand der Glückseligkeit eine adäquate rationale Erkenntnis des Absoluten haben. Sein Geist müsste also ein Spiegel der kosmischen Ordnung sein.41 Eine solche Erkenntnis kann nach Spinoza jedoch nur einem unendlichen Verstand zukommen. Für Spinoza wird der endliche Verstand deshalb zur intuitiven Erkenntnis Gottes fähig, nämlich durch adäquate intuitive Selbst-Erkenntnis, in der zugleich Gott als immanente Ursache anschaulich werden soll. Der Weise Spinozas erreicht den Zustand der Glückseligkeit, der in Anlehnung an die stoische Lehre als Gemütsruhe konzipiert ist, in der intuitiven Verstandeserkenntnis und der mit ihr verbundenen „intellektuelle[n] Liebe zu Gott“ (vgl. E V, 32c). Die Glückseligkeit des intuitiven Erkennens, mit der die Ethik endet, ist nach Spinoza also „nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst“ (E V, 42). Spinoza schließt nach seiner (spekulativen) ,Überbietung‘ der stoischen Lehre, durch welche er die Erkenntnis des Absoluten absichert, also wieder direkt an die Stoiker und ihre auf 41 Vgl. Anthony A. Long (wie Anm. 18), S. 375. („The ideally wise person has a mind-set which, in the coherence of its ideas and their practical implications, mirrors the necessary and rational sequence of natural events.“)

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Sokrates zurückgehende ,Identitätsthese‘ von Tugend und Glückseligkeit an.42 Die letzten Sätze der Ethik sind dem Weisen – nach stoischem Vorbild – gewidmet: „Der Weise […], insofern man ihn als solchen betrachtet, wird in seinem Gemüte kaum beunruhigt, sondern seiner selbst, Gottes und der Dinge mit einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewusst, hört er niemals auf zu sein und ist immer im Besitze der wahren Befriedigung des Gemüts“ (E V, 42 s). Das Erreichen dieser Vollkommenheit sei jedoch – Spinoza verweist hier auf Senecas Bestimmung des Weisen – „ebenso schwierig wie selten“ (E V, 42 s).43 Literatur Benedictus de Spinoza: Die Ethik, revidierte Übersetzung v. Jakob Stern, Stuttgart 1977. The Hellenistic Philosophers, Bd. 1: Translation of the Principal Sources with Philosophical Commentary, hg. von Anthony A. Long und David N. Sedley, Cambridge 1987. Bartuschat, Wolfgang: Baruch de Spinoza, München 1996. Bennett, Jonathan: A study of Spinoza’s Ethics, Indianapolis 1984. Cramer, Konrad: Gedanken ber Spinozas Lehre von der All-Einheit, in: AllEinheit. Wege eines Gedankens in Ost und West, hg. von Dieter Henrich, Stuttgart 1985, S. 151 – 179. Curley, Edwin: Behind the Geometrical Method, Princeton, N. J. 1988. Daphnos, Panaitios: Stoische Elemente bei Descartes und Spinoza, Athen 1976. DeBrabander, Firmin: Psychotherapy and Moral Perfection. Spinoza and the Stoics on the Prospect of Happiness, in: Stoicism. Traditions and Transformations, hg. von Steven K. Strange, Cambridge 2004, S. 198 – 213. Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation: Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion, Leipzig u. a. 1914. Dunin-Borkowski, Stanislaus von: Der junge De Spinoza. Leben und Werdegang im Lichte der Weltphilosophie, Münster 1910. Dunin-Borkowski, Stanislaus von: Spinoza, Bd 3: Aus den Tagen Spinozas. Geschehnisse, Gestalten, Gedankenwelt, Teil II: Das neue Leben, Münster 1935. Forschner, Maximilian: Die stoische Ethik, 2. Aufl., Darmstadt 1995. Frede, Dorothea: Determinismus in der Stoa, im vorliegenden Werk, Bd. 1. Graeser, Andreas: Stoische Philosophie bei Spinoza, in: Revue internationale de Philosophie 45, 1991, H 3, S. 336 – 346. 42 Zur stoischen These von der Identität von Tugend und Glückseligkeit und ihrem sokratischen Ursprung vgl. Christoph Horn (wie Anm. 3), S. 85 f. 43 Vgl. Seneca: Epist. 42.

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Horn, Christoph: Antike Lebenskunst. Glck und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998. James, Susan: Spinoza the Stoic, in: The Rise of Modern Philosophy, hg. von Tom Sorell, Oxford 1993, S. 289 – 316. Kristeller, Paul Oskar: Stoic and Neoplatonic Sources of Spinoza’s Ethics, in: History of European Ideas 5, 1984, S. 1 – 15. Long, A.A.: Stoicism in the Philosophical Tradition: Spinoza, Lipsius, Butler. In: The Cambridge Companion to the Stoics, hg. von Brad Inwood. Cambridge, UK 2003, S. 365 – 392. Matheron, Alexandre: Le moment stocien de L’Ethique de Spinoza, in: Le Stoicisme aux XVIe et XVIIe sicles, hg. von Pierre-François Moreau, Caen 1994, S. 147 – 161. Narbonne, Jean-Marc: La notion de puissance dans son rapport  la causa sui chez les Stociens et dans la philosophie de Spinoza, in: Archives de Philosophie 58, 1995, S. 35 – 53. Severac, Pascal: Convenir avec soi, convenir avec autrui: thique stocienne et thique spinoziste, in: Studia Spinozana 12, 1996, S. 105 – 119. Stempel, Werner: Die Therapie der Affekte bei den Stoikern und Spinoza, Univ. Diss. [Masch], Kiel 1969.

Pascals Auseinandersetzung mit der Stoa Zwischen Paradox und Dialektik von Lothar Willms Piae memoriae Mercedis Gonzlez-Haba de Kroener, magistrae optimae

Einleitung Blaise Pascals Stoa-Rezeption stand bislang am Rande der Forschungslandschaft1 und wurde fast nur quellenkundlich – vorwiegend im Rahmen von Pascal-Ausgaben – eingehender untersucht. Ihre Grundzüge, die auch in manchen Überblicksmonographien kurz referiert werden,2 seien hier zum besseren Verständnis vorausgeschickt. Stoa-Rezeption wird gemeinhin neben den Penses in Pascals Gesprch mit Le Maistre de Sacy ber Montaigne und Epiktet ausgemacht, das, wie bereits am Titel ersichtlich, unmittelbar thematisch relevant und eine 1

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Hiroshi Ohtomo: Le problme du stocisme dans Pascal. Thèse Bordeaux sous la direction de Simon Jeune 1970. [unveröffentlicht]. Kyriaki Christodoulous kurzer Beitrag (Le stocisme dans la dialectique apologtique des Pensées, in: Mthodes chez Pascal. Actes du Colloque tenu  ClermontFerrand 10 – 13 juin 1976. Colloque organisé par Jean Mesnard, Thérèse Goyet, Philippe Sellier, Dominique Descotes. Paris 1979, S. 419 – 425), der auf ihre griechische Dissertation zurückgeht (La contribution de la pense classique, et en particulier du stocisme,  la formation de la dialectique apologtique de Pascal. Athen 1974), sammelt zwar viele stoische Bezüge bei Pascal und beschreibt treffend seine christlich begründete Ablehnung der Stoa, bleibt jedoch methodisch und analytisch unbefriedigend, da nicht zwischen Penses und Entretien getrennt wird und der zugrunde gelegte apologetische Dialektikbegriff unscharf bleibt. Michel Spanneut: Permanence du Stocisme. De Znon  Malraux. Gembloux 1973, S. 313 – 315. Günter Abel: Stoizismus und frhe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Diss. Berlin 1976. Berlin 1978, S. 305 – 307. Anthony Arthur Long: Epictetus: a Stoic and Socratic guide to life. Oxford 2002, S. 263 f.

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wertvolle Quelle ist. Dagegen bleiben von den größeren Schriften die Provinciales und crits sur la gr ce in diesem Zusammenhang außen vor.3 Sie sind für Pascals Stoa-Rezeption nur insofern von Belang, als sie mit der grundsätzlichen Gnadenbedürftigkeit des Menschen nach dem Sündenfall ein Gegenkonzept zur stoischen Autarkie formulieren, das auch in den Penses und dem besagten Gesprch faßbar ist.4 Die stoischen Philosophen und die Ausgaben, die Pascals StoaRezeption zugrunde liegen, konnten exakt ermittelt werden.5 Im Mittelpunkt steht Epiktet, aus dessen Handbchlein und Lehrgesprchen Pascal häufig zitiert, und zwar in der 1609 erschienenen französischen Übersetzung von Jean de Saint-François (Goulu).6 Mark Aurels Selbstbetrachtungen rezipierte er nicht explizit, auch wenn ihre fragmentarische und aphoristische, vereinzelt paradoxe literarische Form7 Pascals Penses nahekommt. Diese Schrift bietet einige Seneca-Zitate, die größtenteils aus Montaigne geschöpft sind. Der Autor der Essais erscheint in Pascals Schriften als Hauptvertreter des Skeptizismus, den Pascal entsprechend dem Sprachgebrauch seiner Zeit auch „Pyrrhonismus“ nennt,8 Epiktet als wichtigster Repräsentant des Stoizismus. Mit diesen beiden hellenistischen Philosophenschulen9 setzt sich Pascal in den Penses und im Gesprch mit Le Maistre de Sacy ber Epiktet und Montaigne vornehmlich von der Warte des christlichen Glaubens auseinander. Während die Quellen von Pascals Stoa-Rezeption und seine eigenen Positionen exakt erforscht sind, liegt die Verfahrensweise dieses 3 4 5 6 7

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Auch Montaigne, der bei Pascal als philosophischer Antipode der Stoiker fungiert, fehlt in den Provinciales gänzlich (Bernard Croquette: Pascal et Montaigne. tude des rminiscences des Essais dans l’œuvre de Pascal. Genf 1974, S. 145). Vgl. Michael Moriarty: Grace and religious belief in Pascal, in: Nicholas Hammond (Hg.): The Cambridge companion to Pascal. Cambridge 2003, S. 144 – 161. Vgl. Pierre Courcelle: L’Entretien de Pascal et Sacy. Ses sources et ses nigmes. Paris 1960, v. a. S. 87 – 91. Les Propos d’Epictete, recueillis par Arrien, translatez du grec en francois par Fr. I.D.S.F. (Pierre Courcelle (wie Anm. 5), S. 75 Anm. 28, S. 87 Anm. 1). Vgl. An sich selbst 11.14: „Sie verachten einander und versuchen doch, einander zu gefallen ( !qesje¼omtai). Sie wollen einander über sein und machen doch voreinander Bücklinge (rpojatajk¸momtai).“ (Übers. nach Willy Theiler: Wege zu sich selbst. Zürich 31984 und Wilhelm Capelle: Selbstbetrachtungen. Stuttgart 11 1967). Vgl. Kyriaki Christodoulou (wie Anm. 1), S. 419. Dieses Wort hebt auf die Denktradition, nicht auf die institutionelle Organisation ab, vgl. Ivor Ludlam: Two Long-running Stoic Myths: A Centralized Orthodox Stoic School and Stoic Scholarchs, in: Elenchos 24 (2003), S. 33 – 55.

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intertextuellen Bezugs noch weitgehend im dunkeln. Sie gestaltet sich nach Affinität und Intensität in fünffacher Weise: als argumentative Auseinandersetzung, explizite Übernahme oder Abgrenzung oder aber unkommentiertes Zitat. Der Unterschied zwischen den zwei letzten Typen: der ungekennzeichneten Anleihe einerseits und der inhaltlichen Übereinstimmung oder Abweichung andererseits und damit zwischen Rezeptionsforschung und Komparatistik ist nicht zuletzt wegen der Kontingenzen der Überlieferung im Einzelfall schwer zu bestimmen. Deshalb sollen diese beiden Typen hier außen vor bleiben10 und der Schwerpunkt auf die erstgenannte Frage gelegt werden, nämlich nach Pascals argumentativem Umgang mit der Stoa und, weitergehend, nach der Rolle, welche diese hellenistische Philosophenschule in der Funktionsweise seines Denkens spielte, insbesondere ob von ihr Innovationsimpulse ausgegangen sind.

Paradox und Dialektik bei Pascal Pascals Sprach- und Denkstil ist bis heute wirkmächtig und wegweisend11 von Hugo Friedrich mit der Figur des Paradoxes beschrieben worden, das er als „die Formel, mit welcher die Vereinigung zweier Unvereinbarkeiten an einem einzigen Subjekt oder Objekt als in der Gleichzeitigkeit verwirklicht gedacht oder ausgedrückt wird,“ definiert,12 also als einen objektiven Verstoß gegen den Satz vom Wider-

10 Vgl. Joseph Moreau: Sur pictte et Pascal, in: Ders. (Hg.), Stocisme – picurisme – Tradition hellnique. Paris 1979, S. 89 – 102 (= Giornale di Metafisica 17 (1962), S. 653 – 666), dort S. 92 f., der in der Pense Br. 81 / LG 559 („L’esprit croit naturellement, et la volonté aime naturellement; de sorte que, faute de vrais objets, il faut qu’ils s’attachent aux faux.“) eine Nachwirkung stoischen Denkens („origine“) sieht, das eine Zweiteilung des natürlichen Grundtriebs (pq¾tg bql¶) in eine kognitive und volitive Funktion annehme, was er mit Epiktets Lehrgespräch 1.18.1 – 2 illustriert. Der zweite Teil der Pense gibt diesem Gedanken, der aus Montaigne geschöpft sein könnte (I 4, S. 25 – 27) – Moreau (S. 89) bezweifelt diese von Brunschvicg gezogene Parallele –, jedoch eine aporetisch-paradoxe Richtung zur miseria des Menschen. 11 Friedrichs Ergebnisse scheinen nachgerade zur communis opinio geworden zu sein, so daß sein Einfluß in vielen Arbeiten noch anonym spürbar ist. 12 Pascals Paradox. Das Sprachbild einer Denkform, in: Zeitschrift für romanische Philologie 56 (1936), S. 322 – 370, dort S. 334 (vgl. S. 342).

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spruch.13 Friedrich erblickt dieses Paradox bei Pascal auf zwei Ebenen: Die Widersprüche der condicio humana werden im „Daseinsparadox“ manifest, das die Unzulänglichkeit der Vernunft offenlegt (S. 346 f.) und zum „Glaubensparadox“ hinführt (S. 354). Dieses stelle eine „Wiederholung des Paradoxes auf der Glaubensstufe“ dar. Es manifestiere sich in der Erkenntnistheorie am gleichzeitig sichtbaren und unsichtbaren deus absconditus und in der Erlebnistheorie in der Fortdauer der Gegensätze der moralischen Einstellung wie Stolz und Zerknirschung auch für den religiösen Menschen (S. 360 f.). Neben der Paradoxie sieht Friedrich eher beiläufig und theoretisch nicht integriert eine „Dialektik des Glaubens“ bei Pascal am Werke. Diese Wendung scheint sich auf den persuasiven Aspekt religiöser Rede zu beziehen.14 Daneben schwingt jedoch noch – entsprechend Hegels Dialektikkonzeption (s. Anm. 22) – die Vorstellung der Vermittlung zwischen Gegensätzen mit. So meint Friedrich, der „dialektisch-aphoristisch[en]“ Form der von ihm als „Apologie“ angesehenen Penses gelinge die Vermittlung zwischen intellektueller Klarheit und Glaubenstiefe und damit die Lösung des grundsätzlichen Dilemmas von unmittelbarem, flüchtig-momentanem Erlebnis und diskursiver Formulierung und Fixierung, welches, so Friedrich, der Mmorial noch zuungunsten der sprachlichen Kohärenz gelöst habe.15 Gewiß ist gleichfalls die fragmentarische literarische Form der Penses der adäquate Ausdruck einer paradoxen Anthropologie16 und legt Zeugnis davon ab, daß, so Karlheinz Stierle, die Logik des Herzens 13 Vgl. Irène Elisabeth Kummers Definition (Blaise Pascal. Das Heil im Widerspruch. Studien zu den Penses im Aspekt philosophisch-theologischer Anschauungen, sprachlicher Gestaltung und Reflexion. Berlin 1978, S. 42). So definiert auch Vlad Alexandrescu (Le paradoxe chez Blaise Pascal. Préface de Oswald Ducrot. Bern 1997, S. 16 – 19) das von ihm „skeptisch“ genannte Paradox. 14 S. 323 (wie Anm. 12), vgl. S. 330: „Dialektik des Wahrheitsbeweises“. Ähnlich nennt Hugo Friedrich den Autor der Penses einen „gefährlichen Dialektiker“ und spricht bei ihm von „sehr schwieriger Dialektik“ (S. 358 f.). 15 S. 326 (wie Anm. 12). Was wie ein spontanes Erlebnisprotokoll anmutet, dessen Entrückung selbst die Syntax auflöst, folgt freilich einer religiösen Topik (Wilhelm Schmidt-Biggemann: Blaise Pascal. München 1999, S. 83 f.). Hélène Michon: L’criture mystique du Mémorial, in: Pascal, auteur spirituel. Paris 2006, hg. von Dominique Descotes, S. 163 – 185 (Colloques, congrès et conférences sur le classicisme 9) arbeitet trotz apologetischer Elemente gegen Henri Gouhier (s. Anm. 27) den mystischen Charakter des Mmorial heraus. 16 Lucien Goldmann: Le Dieu cach. tude sur la vision tragique dans les Pensées de Pascal et dans le th tre de Racine. Paris 1962 (spätere Nachdrucke), S. 220.

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und des Glaubens sich nicht in einem Gespräch nach dem esprit géométrique darstellen läßt.17 Dabei rücken Friedrich und Stierle mit „Fragment“ und „Paradox“ zwei desintegrierende Momente bei Pascal in den Vordergrund, auch wenn sie selbst diese Merkmale des Pascal’schen Denkens nicht zwingend als desintegrativ ansehen.18 Doch wirkt diesen zentrifugalen Momenten die Integrationskraft einer Dialektik19 entgegen, welche die scheinbar disparaten Fragmente zusammenhält und zu einer höheren religiösen Ebene wie zu einem Fluchtpunkt zusammenlaufen läßt. Diese überwölbt ihrerseits dialektisch die Widersprüche, die in den Paradoxa aufrüttelnd formuliert werden.20 Es ist Lucien Goldmanns Verdienst, neben dem Paradox die Dialektik in die Pascal-Interpretation eingebracht zu haben.21 Er behält nämlich Friedrichs Analysekategorie ‘Paradox’ bei und formuliert deren systematisch-strukturierendes Moment mit dialektischen Konzepten. Dabei grenzt er die Dynamik von Pascals paradoxem Denken von der klassischen Dialektik Hegel’scher Prägung ab: Die Gegensätze einer Welt ohne Gott, die unvermittelt als Paradox zutage treten, mündeten bei Pascal in eine „synthèse“,22 die anders als bei Hegel nicht erneut zur 17 Gesprch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal, in: Das Gesprch, hg. von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1984, S. 297 – 334, dort S. 328 – 333 (Poetik und Hermeneutik 11). 18 So arbeitet Karlheinz Stierle in betonter Wendung gegen Friedrichs These von der auch durch die Figur des Paradoxes gewährleisteten „Systematik des Pascalschen Gedankenbaus“ (wie Anm. 12, S. 364) die „Diskontinuität“ der Penses heraus (Pascals Reflexionen ber den ,ordre‘ der Pensées, in: Poetica 4 (1971), S. 167 – 196, dort S. 173). 19 Vgl. Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 25. 20 Daß die dialektische Dynamik bei Pascal dem eher statischen Paradox zugeordnet ist, erkennt auch Irène Kummer (wie Anm. 13, S. 43): „Die Denkbewegung, die der Denkform der Paradoxalität entspricht, ist die dialektische.“ 21 S. 216 – 220 (wie Anm. 16). 22 Karlheinz Stierle (wie Anm.17, S. 329) weist zu Recht darauf hin, daß Pascal keine „vermittelnde oder synthetisierende Position“ zwischen den Gegensätzen suche, die er als Ausdruck der condition humaine deute. – Der vordergründig widersprüchliche Sprachgebrauch der Interpreten zur Pascal’schen „Synthese“ läßt sich am besten durch die Unterscheidung in formal und inhaltlich in Einklang bringen: Der Widerspruch zwischen These und Antithese wird bei Pascal nicht durch eine Entscheidung zwischen den beiden sich ausschließenden Optionen oder durch die Eliminierung einer der beiden aufgelöst, sondern durch ein Drittes. Insofern kann man im formalen Sinne wie Goldmann von einer Synthese sprechen. Inhaltlich ist dieses Dritte von These und Antithese grundverschieden. Dies unterscheidet Pascal von Hegel, der diesen dritten Schritt der Dialektik nicht „Synthese“, sondern „Vermittlung“ und „Aufhe-

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These einer infinit-progressiven Dialektik23 werde, sondern statisch, paradox und tragisch bleibe (S. 218 f.). Nimmt man Friedrich und Goldmann zusammen, lassen sich Wesen, Verhältnis und Funktion von Dialektik und Paradox bei Pascal folgendermaßen umreißen: Beide sind Ausdruck von Pascals ausgeprägtem Denken in Widersprüchen, in dessen paradoxer Dialektik Wahrheit („vérité opposée“) nur in der gleichzeitigen Präsenz von Gegensätzen besteht (Br. 567 / LG 493).24 Die im Daseinsparadox umschlossenen Widersprüche der condicio humana kann die lebensweltliche Vernunft nicht auflösen, sie werden nur im Glauben, hier verstanden als Denkbewegung und Denkmuster, dialektisch aufgehoben25 und so zum heuristischen und argumentativen Vehikel dieser doppelten – religiösen und intellektuell-dialektischen – Transzendenz. Die Statik der Pascal’schen Synthese (s. zu Anm. 22), die wie bei Hegel das Ergebnis von These und Antithese ist, anders als bei diesem jedoch keine inhaltliche Verschmelzung darstellt, ist ihrem religiösen Inhalt geschuldet, der sie zum unverrückbaren Fluchtpunkt des Denkens macht. Auf die höhere religiöse Ebene katapultieren den Adressaten die Gegensätze, die ohne Vermittlung aufeinanderprallen. Pascals Dialektik ist also subversiv-polemisch, antithetisch-kontradiktorisch und anagogisch.26 Auch wenn der Glaube bei Pascal kein kathedertheologisches Räsonnement ist, sondern an zwei Bekehrungserlebnisse geknüpft ist, die sog. ‘petite conversion’ (1646) und die ‘grande conversion’ in der Nacht

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bung“ nannte (Hansgeorg Hoppe: s.v. „Synthesis; synthetisch“, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. 12 Bde. Basel 1971 – 2004, Bd. 10 (1998), Sp. 818 – 823, dort Sp. 821). Vgl. S. 238 und S. 240 (wie Anm. 16). Hugo Friedrich (wie Anm. 12), S. 354 und Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 21 und S. 23. Vgl. Hugo Friedrich (wie Anm. 12), S. 357 und Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 48. Manfred Heess: Blaise Pascal. Wissenschaftliches Denken und christlicher Glaube. Diss. Freiburg i. Br. 1977. München 1977, S. 122 – 137 (Freiburger Schriften zur romanischen Philologie 33) untersucht anhand von Br. 430 / LG 139 die Aufhebung der Paradoxie des von ihm „natürlich“ genannten Menschenbildes in der christlichen Anthropologie. Zur Rolle der vertikalen Organisation bei Pascal vgl. Bernard Grasset: Les Pensées de Pascal. Une interprtation de l’criture. Paris 2003, S. 305 und JeanLouis Bischoff: Dialectique de la misre et de la grandeur chez Blaise Pascal. Paris 2001, S. 241.

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zum 23. 11. 1654, die Pascal im Mmorial 27 festgehalten hat, so werden doch die Mystik,28 aber auch die Apologetik des Glaubens entsprechend dem methodischen Denken, das Pascal in den Naturwissenschaften kennengelernt hatte,29 rational organisiert.30 Das vorherrschende Verfahren dazu ist die Dialektik, haben doch Mystik und Dialektik die Aufhebung von Widersprüchen gemein. Das Mysterium des Glaubens hebt bei Pascal die rational nicht faßbaren Paradoxien auf.31 Bei dieser transzendenten Transformation des Denkens entfaltet sich eine Dialektik zwischen zwei Denkarten:32 „raison“ und „cœur“ stehen nicht bloß in einem Widerstreit. Vielmehr entwickelt das Herz (cœur) seine eigene raison in den Bereichen, die der raison entzogen sind, wie Glauben, Moral und Ästhetik.33 Ähnlich, aber mit antithetisch-substitutiver statt transformativer Logik, erfordern die Grenzen des rationalen axiomatisch-deduktiven esprit géométrique, die sich deutlich im religiösen Bereich zeigen, den intuitiv-pluralen esprit de finesse.34 Der Glaube als Fluchtpunkt der dialektisch verfahrenden apologetischen Argumentation35 ist seinerseits nicht in einem scholastischen Rationalismus, sondern dialektisch organisiert und bietet, so muß man 27 Eine ausführliche Besprechung mit Faksimile des Autographen bietet Henri Gouhier: Blaise Pascal. Commentaires. Paris 31984, S. 11 – 65 und S. 367 – 387. 28 Dazu vgl. Bernard Grasset (wie Anm. 26), S. 307 f. 29 Diese methodische Kontinuität erarbeitet Manfred Heess (wie Anm. 25), S. 154 f. anhand von Br. 564 / LG 682. 30 Das Mystische übersteigt für Pascal das menschliche Fassungsvermögen und dient dennoch paradoxerweise als Erklärung und Ordnungsprinzip: Die Erbsünde ist ein „mystère“, das die condition humaine prägt und deren Unverständlichkeit trotz seiner eigenen Unfaßbarkeit erklärt (Br. 434 / LG 122 S. 582). Vernunft und Mysterium schließen einander aus, müssen jedoch beide die Religion charakterisieren (Br. 273 / LG 162). Dieser Gegensatz wird in Br. 691 / LG 259 dialogisch personalisiert und hermeneutisiert. Die Aufhebung aller Widersprüche erfolgt im „Mystère de Jésus“ (Br. 553&791 / LG 717). Die Mysterien bilden eine Ordnung, die universelle Geltung erheischt (Br. 661 / LG 732). 31 Vgl. Hugo Friedrich (wie Anm. 12), S. 357 und Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 48. 32 So auch Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 34 – 38 bei der Besprechung des esprit de géométrie und esprit de finesse. 33 Eduard Zwierlein: Existenz und Vernunft. Studien zu Pascal, Descartes und Nietzsche. Habil. Koblenz-Landau 2000. Würzburg 2001, S. 16 – 132, v. a. S. 49 – 53. Zum Verhältnis von raison und cœur vgl. Jean-Louis Bischoff (wie Anm. 26), S. 97 – 132. 34 Ihn untersucht textfundiert Eduard Zwierlein (wie Anm. 33), S. 54 – 66. 35 Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 24.

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Goldmann nuancieren, zumindest eine beschränkt progressive Dialektik, die nach Irène Kummer hypothetisch sogar unendlich ist:36 Pascals von ihm selbst „ordre du cœur“ genannte Hermeneutik, welche, so Pascal weiter, der Ordnungsstruktur der Bibel entspreche (Br. 283 / LG 280), zielt auf das Aufheben von Widersprüchen, auch der condicio humana, während die Widersprüche der Bibel wiederum durch „Christus“37 harmonisiert würden (Br. 684 / LG 241).38 Insgesamt führt die mehrstufige, anagogische Dialektik zum und im Glauben (Unglaube – Glaube, Bibel – Jesus, Jesus – Gott Vater) bei Pascal zum theologischen Glaubensparadox des „Dieu caché“ (von Pascal auch mit seinem traditionellen lateinischen Namen „deus absconditus“ genannt) hin, dessen Erkenntnis ebenfalls rationale Operationen erfordert, da seine verborgene Präsenz hermeneutisch erschlossen werden muß.39 Doch Paradox und Dialektik fungieren bei Pascal nicht nur als objektive Denkfiguren, sondern auch als intersubjektive Vehikel einer apologetischen Rhetorik. So ist die Dialektik bei ihm nicht nur eine Denkweise, die durch Widersprüche voranschreitet, sondern auch, wie bereits in Friedrichs Andeutung ihres diskursiven Charakters (s. Anm. 14), eine subversiv-persuasive Form der Argumentation,40 eine Dialogik,41 die den Partner durch die Vergegenwärtigung von Widersprüchen verunsichert,42 also darin der sokratischen Elenktik43 nicht unähnlich ist, aber auch Züge einer mäeutischen Dialogik44 aufweist. So 36 S. 23 (wie Anm. 13). 37 Zu Pascals Christozentrismus vgl. Bernard Grasset (wie Anm. 26), S. 309 f. Zu Pascals christologischer Dialektik s. bereits Hugo Friedrich (wie Anm. 12), S. 361. 38 Eduard Zwierlein (wie Anm. 33), S. 98 – 101. 39 Br. 585 / LG 227 und Br. 556 / LG 419 S. 699. Vgl. Bernard Grasset (wie Anm. 26), S. 307 f. und Hugo Friedrich (wie Anm. 12), S. 360 f. Für den geistesgeschichtlichen Hintergrund dieser Figur vgl. Lucien Goldmann (wie Anm. 16), S. 41 – 49. 40 So Jean-Louis Bischoffs Arbeitsdefinition (wie Anm. 26, S. 7 Anm. 2), der die platonisch-synoptische Dialektik ausklammert, die sich vom Sinnlichen zum Intelligiblen erhebt (vgl. Platon: Phaidros 265d 3 f., 266b 7-c1, Politeia 537c 6 f.). 41 Zur dialogischen Form der Penses vgl. John F. Boitano: The Polemics of Libertine Conversion in Pascal’s Pensées. A Dialectic of Rational and Occult Libertine Beliefs. Tübingen 2002, S. 203 – 205. 42 Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 46. 43 Vgl. Platon: Laches 187e 6 – 188a 2. 44 Vgl. Platon: Menon 75d 1 – 7, Politikos 286e 4 – 287a 5. Daß anders als bei Platon zwischen den Dialogsprechern keine Asymmetrie bestehe ( John F. Boitano

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führt die rhetorische Figur „Paradox“ dem Interlokutor die Widersprüchlichkeit der condicio humana ohne Gott und seiner aktuellen Überzeugung vor Augen und macht ihn dialektisch für die Annahme des Glaubens bereit,45 der diese Widersprüche bei Pascal aufhebt. Dieser antirationalistische persuasive Einsatz der Paradoxie der condicio humana zeigt sich exemplarisch an dem einzigen Gebrauch des Terminus ‘paradoxe’ bei Pascal46 (Br. 434 / LG 122 S. 581): „Connaissez donc, superbe, quel paradoxe vous êtes à vous-même. Humiliez-vous, raison impuissante!“ Dieses „Erkenne dich selbst“ an die Adresse eines Menschen, der wie der Stoiker Epiktet in der christlichen Todsünde der superbia befangen ist (s. den folgenden Abschnitt, Anm. 87), läßt zwei subversive Funktionen des Paradoxes erkennen: einmal als Anstoß zu Selbsterkenntnis und Autoreflexion über die Widersprüche der eigenen condition humaine, dann, darauf aufbauend, bei der Überwindung der Alltagsvernunft, was auf die Annahme der raison du cœur vorbereitet. Daß Pascal den stoischen Paradoxonbegriff nicht rezipiert, obwohl er die bereits in der Antike als Paradoxa firmierenden stoischen ethischen Lehrsätze wegen ihres Rigorismus angreift, hängt, abgesehen von seinem philosophiehistorischen Desinteresse, damit zusammen, daß bei den Paradoxa ein anderer Begriff zugrunde liegt: Für die Penses beschreibt das Paradoxon, wie gesehen, die Widersprüchlichkeit der condition humaine und desavouiert die raison, für die Stoa ist es eine oberflächliche Fehlwahrnehmung der eigenen vernünftigen Lehre durch die Toren, die deren unreflektierter Meinung (d|na) widerspricht (Cicero: paradoxa Stoicorum (künftig: Parad.) 4).47 Sie stellen die Stoiker in platonischer Tradition dem Wissen des Weisen gegenüber.48 Die

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(wie Anm. 41), S. 204), scheint angesichts der apologetischen Tendenz der hier untersuchten Auseinandersetzung mit der Stoa eher unwahrscheinlich. So Dominique Descotes: Paradoxes spirituels chez Pascal, in: Pascal, auteur spirituel. Paris 2006, hg. Von Dominique Descotes, S. 433 – 451, dort S. 451 (Colloques, congrès et conférences sur le classicisme 9). Hugo Friedrich (wie Anm. 12), S. 351. Der Terminus „Dialektik“ fehlt dagegen bei Pascal; bei den Stoikern befaßte sich die Disziplin der Dialektik mit Themen aus dem Bereich der heutigen Logik, Erkenntnistheorie und Sprachwissenschaft (Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. Darmstadt 21995, S. 67). Dominique Descotes (wie Anm. 45), S. 433 legt zwar diesen Begriff für Pascal zugrunde, weist jedoch auf die damit verknüpfte initiatorische Funktion hin: Die Paradoxa enthüllen beim Nachdenken eine große Weisheit. S. Johannes Brachtendorf s.v. doxa, in: Wçrterbuch der antiken Philosophie, hg. v. Christoph Horn, Christof Rapp. München 2002, S. 115.

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Geltung der Vernunft wird bei diesem Paradoxonbegriff also nicht grundsätzlich in Frage gestellt.49 Nicht nur deshalb ist zumindest für Pascals Auseinandersetzung mit der Stoa, wie dieser Beitrag nachweisen will, die Dialektik eine notwendige Ergänzung und Weiterentwicklung von Friedrichs Beschreibungsmodell ‘Paradox’,50 ist sie doch eher geeignet, die Auseinandersetzung mit einem diskursiven Gegenüber und doktrinalen Gegner zu beschreiben und die Gedankenbewegung zum religiösen Flucht- und Ausgangspunkt der Argumentation in den Blick zu nehmen. Eine solche dialektische Funktionsweise hat bereits Günter Abel bei Pascals Stoa-Rezeption festgestellt, der besonders im Hinblick auf das Menschenbild die wechselseitige Aufhebung von Stoa und Skeptizismus zugunsten des christlichen Glaubens beschrieben hat.51

Das Gespräch mit Le Maistre de Sacy über Epiktet und Montaigne Kurz nach seiner zweiten Bekehrung zog sich Pascal 7.–21. 1. 1655 in das Kloster Port Royal zurück, wo ihm der Beichtvater dieser jansenistischen Hochburg, Isaac-Louis Le Maistre de Sacy,52 zugeteilt wurde. Aus der Feder von dessen späterem Sekretär,53 Nicolas Fontaine, einem solitaire im Kloster, stammt ein erst 1728 veröffentlichtes Dokument mit dem Titel Entretien de M. Pascal et de M. de Saci. Sur la lecture 49 Widersinniges (paq\dona), so lassen Epiktets Diatriben (Epicteti dissertationes ab Arriano gestae, rec. Heinrich Schenkl. Leipzig 1916 (künftig: Diss.) 4. 1. 173) das Schulhaupt Kleanthes (Stoicorum veterum fragmenta. Gesammelt von Hans von Arnim. 3 Bde. Leipzig 1903 – 5. Register (Bd. 4) erstellt von Maximilian Adler. Leipzig 1924. Nachdruck der 4 Bde. Stuttgart 1968 (künftig: SVF) 1.619) sagen, nicht Vernunftwidriges (paq\koca) lehrten die Philosophen. 50 Zum historischen und analytischen Vorrang der Dialektik vor dem Paradox vgl. Theodor W. Adorno: „Nicht zufällig war das Paradoxon seit Kierkegaard die Verfallsform von Dialektik.“ (Negative Dialektik. Bd. 6 (1973), in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. 20 Bde. Frankfurt a.M. 1970 – 86, S. 145). 51 S. 305 – 307 (wie Anm. 2). 52 De Sacy (daneben noch Saci) ist ein Anagramm des Vornamens Isaac. Der ursprüngliche Name lautete Isaac-Louis Le Maistre. Näheres zu dieser Person bei Herbert Ernst Brekle, Hans Jürgen Höller, Brigitte Ansbach-Schnitker: Der Jansenismus und das Kloster Port-Royal, in: Neuer berweg. 17. Jahrhundert 2/2, hg. von Jean Pierre Schobinger. Basel 1993, S. 497 – 499. 53 Pierre Courcelle (wie Anm. 5), S. 77.

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d’ pictte et de Montaigne, das als die Wiedergabe eines Gesprächs zwischen Pascal und seinem Beichtvater gestaltet ist. Der Echtheitsgrad dieses Schriftstücks bleibt unbeschadet der rezenten Identifikation des Fontaine’schen Autographen54 aus vielerlei Gründen strittig.55 So kann nicht sicher ausgeschlossen werden, daß der Sekretär hier – wie in mindestens vier anderen Fällen seiner Mmoires 56 – ein Gespräch aus Unterlagen montiert hat. Im vorliegenden Falle wären diese Quellen Pascals Penses, die Korrespondenz der beiden Gesprächspartner57 und nichterhaltene Dokumente Pascals, wie eine Exzerptsammlung im Umfeld von Port-Royal oder eine tude, die Pascal auf Bitten de Sacys zum fraglichen Thema verfaßt haben soll und die von M. Fontaine durch fingierte Einschübe de Sacys zum Dialog ausgebaut wurde.58 Deshalb empfiehlt es sich, Pascals Stoa-Rezeption gesondert nach Entretien und Penses herauszuarbeiten und dabei auf Abweichungen, Entwicklungen, Parallelen sowie Anleihen und Ausschmückungen in Pascals Bild dieser hellenistischen Philosophenschule zu achten. Die unsichere mündlich-schriftliche Quellensituation lenkt wie bei Epiktets von dem Historiker Arrian aufgezeichneten Lehrgesprächen59 – Pascal selbst leitet denn auch Epiktet-Zitate nur mit „Épictète dit“60 und nie mit „Épictète écrit“ ein – den Blick auf die persuasive Funktion der literarischen Form. Ungeachtet der unsicheren Autorschaft sind in beiden Texten die Dialogform sowie die postulierte Mündlichkeit und 54 Pascal: Entretien avec M. de Sacy sur pictte et Montaigne: original indit. Texte établi, présenté et annoté par Pascale Mengotti-Thouvenin et Jean Mesnard. Paris 1994, S. 8. 55 Pierre Courcelle (wie Anm. 5), S. 72 – 80. 56 Vgl. Pierre Courcelle (wie Anm. 5), S. 77, Pascale Mengotti-Thouvenin (wie Anm. 54), S. 54. 57 Vgl. Pascale Mengotti-Thouvenin (wie Anm. 54), S. 56. 58 Vgl. Pierre Courcelle (wie Anm. 5), S. 73 f. und S. 76 – 78. So auch Pascale Mengotti-Thouvenin (wie Anm. 54), S. 50 – 53, die den Pascal’schen Charakter von Inhalt und Stil der ihm zugeschriebenen Passagen im Entretien herausarbeitet und auf die für ein Gespräch ungewöhnliche Bezeichnung „étude“ verweist, mit der Pascal seine Ausführungen im Entretien avec M. de Saci. Sur pictte et Montaigne (künftig: EnSa) Z. 461 charakterisiere (S. 56). 59 Vgl. dazu Barbara Wehner: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben. Diss. Freiburg i.Br. 1998/99. Stuttgart 2000, S. 27 – 53 (Philosophie der Antike 13) und Hendrik Selle, Dichtung oder Wahrheit – Der Autor der epiktetischen Predigten, in: Philologus 145 (2001), S. 269 – 290. 60 EnSa Z. 80, 88, 91, 117, vgl. Br. 431 / LG 401. Diese Formulierung legte bereits der Titel der von Pascal konsultierten französischen Übersetzung nahe (s. Anm. 6).

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Authentizität probate Mittel, um die Distanz zum Leser zu überbrücken und eine psychagogische Unmittelbarkeit zu erzeugen.61 Pascals Gespräch mit de Sacy läßt denn auch trotz einer gewissen sprachlichen Unbeholfenheit und Schlichtheit eine äußere und innere Dialektik der Gedankenführung erkennen.62 Die äußere, möglicherweise Fontaines Montage geschuldete Dialektik bestimmt den Gesprächsverlauf: Die These bildet Pascals erste Äußerung. Er beurteilt Epiktet und dann wesentlich eingehender Montaigne von der Warte des christlichen Glaubens, wobei die grundsätzliche Kritik die Billigung von Einzelpositionen überwiegt.63 In der Antithese verwirft de Sacy anhand von Zitaten der jansenistischen Autorität Augustinus gänzlich den Skeptizismus und bekennt seine vollständige Unkenntnis Montaignes. Nur Pascals christlich motivierte Ablehnung dieser philosophischen Richtung billigt und bestärkt der Beichtvater.64 Diese pauschale und dogmatische Verdammung des Skeptizismus paßt atmosphärisch zu der ängstlich-verwirrten Haltung, die Fontaines Niederschrift schildert: de Sacy sei in die Gespräche mit dem berühmten weltlichen Philosophen Pascal mit einer gewissen Beklommenheit gegangen65 und nach Pascals erstem Vortrag ganz verwirrt gewesen.66 Im dritten Schritt des Gesprächs versucht Pascal nun, de Sacys Kritik Rechnung zu tragen und gleichzeitig seine Position zu explizieren und zu bekräftigen. These und Antithese werden also wie bei Hegels Dialektik vermittelt und aufgehoben. Dies geschieht durch die innere, Pascal’sche Dialektik, die sich in diesem Gesprächsabschnitt entfaltet. Pascal billigt nämlich Epiktets und Montaignes Positionen, die er vom christlichen Standpunkt aus als Irrtümer betrachtet, einen protreptischen Wert auf dem Weg zum Glauben zu: Beide Denker seien die größten Vertreter der beiden berühmtesten philosophischen Richtungen (frz. secte, vgl. lat. secta) der Welt, welche die einzigen seien, die dem Verstand entsprächen („conformes à la raison“),67 eine Einschätzung, die das komplexere Vernunftmodell der Penses und ihr Konzept der vérité 61 Zur persuasiven Funktion der einzelnen Gattungen wie Brief und Dialog bei Pascal s. Dominique Descotes: L’argumentation chez Pascal. Paris 1993, S. 408. 62 Eine detaillierte Inhaltsübersicht bietet Pascale Mengotti-Thouvenin (wie Anm. 54), S. 34 f. 63 EnSa Z. 70 – 298. 64 EnSa Z. 299 – 364. 65 EnSa Z. 32 – 36. 66 EnSa Z. 299 f. 67 EnSa Z. 444 f.

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opposée weiterentwickelt. Auch die normative Seite von Pascals paradoxer Anthropologie der Mitte bringt bereits der Entretien gegen die Philosophen in Stellung. Epiktet, so meint nämlich dort Pascal, störe die Faulheit und die Ruhe derjenigen, die sie nur in äußeren Dingen suchten, und weise sie darauf hin, daß sie die Ruhe nur in Gott finden könnten,68 führe aber diejenigen zum Hochmut (orgueil), welche die vollkommene Gerechtigkeit ohne den Glauben für möglich und nicht für Verderbtheit (corruption) hielten.69 Auch die Penses erheben vom Standpunkt der christlichen Rechtfertigungslehre Einwände gegen den stoischen Autarkiegedanken (z. B. Br. 463 / LG 132, Br. 467 / LG 92). Montaignes Skeptizismus sei, so der Entretien, wiederum ein gutes Gegengift gegen den Hochmut derjenigen, die fern dem christlichen Glauben an ihren Überzeugungen festhielten.70 Nur zusammen genommen seien Montaigne und Epiktet in der Lage, die Laster Faulheit und Hochmut zu stören, sie vermöchten jedoch nicht zur Tugend zu führen.71 Pascals Dialektik neutralisiert also ihre argumentativen Widersacher wechselseitig,72 aber übrigens auch einzeln durch den Nachweis paradoxer Argumentationen73 und versucht dadurch, den Bedenken des Beichtvaters gegen die Beschäftigung mit diesen vermeintlich unchristlichen Philosophen Rechnung zu tragen.74 Der Dialektik des Entretien gelingt gleichzeitig als Novum gegenüber der Ausgrenzung der religiösen Inhalte im Esprit gomtrique deren Einbeziehung in die Argumentation.75 Montaigne hatte trotz einer Affinität zum antiken Pyrrhonismus76 den Skeptizismus in der Apologie de Raymond Sebond gegen sich selbst 68 69 70 71 72 73

EnSa Z. 564 – 571. EnSa Z. 584 – 587. EnSa Z. 572 – 583. EnSa Z. 592 – 599. Vgl. Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 46 und S. 150. Näheres bei Vlad Alexandrescu (wie Anm. 13), S. 145 – 159, der ausführt, daß sich die Argumentationen, die der Pascal des Entretien entwickele, im Falle Epiktets als ein dogmatisches Paradox und im Falle Montaignes als ein skeptisches Paradox beschreiben ließen. 74 Ein kurzer Einschub de Sacys (EnSa Z. 541 – 563) zeigt gleichwohl, daß Pascal dessen Bedenken gegenüber philosophischer Lektüre nur für seine eigene Person zerstreuen kann. 75 Vgl. Dominique Descotes (wie Anm. 61), S. 43 f. 76 Vgl. Hugo Friedrich: Montaigne. Mit einem Nachwort von Frank-Rutger Hausmann. Tübingen 31993, S. 56 und mit Schwerpunkt auf moderner Literatur John O’Brien: Montaigne and antiquity: fancies and grotesques, in: The

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ausgespielt, was Pascal im Entretien lobend vermerkt (s. Anm. 92). Es ist deshalb ein geschickter Schachzug, daß Pascal ihn gleichwohl auch hier (s. Anm. 140) dieser hellenistischen Philosophenschule zuschlägt und gegen die dogmatische Stoa ausspielt,77 die ihrerseits versucht hatte, den Pyrrhonismus ad absurdum zu führen. Pascals dialektisches Vorgehen hat also trotz gewisser doxographischer Unschärfen eine Grundlage in der Argumentation der konkurrierenden antiken Philosophenschulen. Dies gilt auch für die protreptische Instrumentalisierung der Stoa. Bereits das Vorwort zu Simplikios’ Kommentar des Handbchleins weist Epiktet in Abgrenzung von den eigenen metaphysisch-theologischen Unterweisungszielen eine untere, rein protreptisch-moralische Stufe zu: Der Neuplatoniker billigt dem Encheiridion zwar zu, den Menschen zu den ethisch-politischen Tugenden, nicht jedoch zu den kathartischtheoretischen zu führen.78 In der Tat teilt Pascal mit dem Neuplatonismus nicht nur die Instrumentalisierung der Stoa als Vehikel der eigenen Initiation, sondern auch, grundlegender, die rationale Formulierung transdiskursiver Gegenstände.79 Neu gegenüber Simplikios ist jedoch die dialektische Gestaltung von Epiktets protreptischer Rolle. Diese Funktion innerhalb der Dialektik hängt eng mit der inhaltlichen Position zusammen, die der Pascal des Entretien zu Epiktet einnimmt. Gleich eingangs stellt er fest: „Épictète […] est un des philosophes du monde qui ait mieux connu les devoirs de l’homme.“80 Der einschränkende Zusatz „du monde“ erinnert an den im Mmorial entworfenen Gegensatz zwischen religiösem und philosophischem Gottesbild (LG 711): FEU Dieu d’Abraham, Dieu d’Isaac, Dieu de Jacob, non des Philosophes et des savants.

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Cambridge companion to Montaigne. Cambridge 2005, hg. von Ullrich Langer, S. 53 – 73, dort S. 59 – 65. Für Pascals Umgang mit Montaigne vgl. Henry Philipps: The inheritance of Montaigne and Descartes, in: The Cambridge companion to Pascal. Cambridge 2003, hg. von Nicholas Hammond, S. 20 – 39, dort S. 24. Die vier Formen von Pascals Montaigne-Einsatz (Quelle für die Kenntnis der antiken Philosophie, intellektuelle Auseinandersetzung, Vehikel zum Erreichen eines breiteren Publikums und Gegner von Pascals christlichen Positionen) lassen sich material oder mutatis mutandis analog auch bei seiner Stoa-Rezeption beobachten. In Epicteti Manuale Commentaria, Praefatio Z. 61 – 66, 75 – 81. Vgl. Joachim Lacrosse: La philosophie de Plotin. Intellect et discursivit. Paris 2003, S. 4 f. EnSa Z. 70 f.

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Certitude, Certitude. Sentiment, Joie, Paix. Dieu de Jésus-Christ.

Im folgenden lobt Pascal Epiktets Ergebenheit in den Willen Gottes.81 Diese positive Wertung wird Pascals christlich orientierter Stoa-Rezeption dadurch erleichtert, daß Epiktet die stoische Schicksalsergebenheit als Ergebenheit in den Willen (bql¶) Gottes formuliert (Diss. 4. 1. 100), weil er die göttliche Allvernunft der Stoa gerne als persönlichen Gott darstellt.82 So konnte der Philosoph aus Hierapolis außerdem den altstoischen Lehrsatz von der Autarkie des Weisen persuasiv geschickt in eine Beziehung des Philosophieadepten zu der personalisierten Gottheit umformulieren und im Sinne einer gottergebenen Theodizee argumentieren: Statt über Schicksalsschläge zu klagen und Gott deswegen gar Vorwürfe zu machen, solle der Mensch die Widrigkeiten mit den gottgegebenen Vernunftkräften bewältigen (Diss. 4. 1. 109). An der damit verbundenen Konstruktion menschlicher Autarkie übt Pascal jedoch fundamentale Kritik, und zwar an dem Satz, Gott habe dem Menschen die Mittel zu Glück, innerer Integrität und Freiheit gegeben (Diss. 1.6.40).83 Die Annahme einer solchen Immunität, Souveränität und Autarkie des Menschen84 ist für Pascal eine Überschätzung der göttlichen Gnade („présomption“);85 im weiteren Verlauf nennt er Epiktets ethisch-anthropologische Grundsätze gar „des principes d’une superbe diabolique“86, stellt sie also mit einer Todsünde auf eine Stufe. Bereits Montaigne (II 12, S. 468) schrieb, die Natur habe dem Menschen als Trost für seinen schwachen Stand die „présumption“ 81 EnSa Z. 71 – 109. Zur modernen Auseinandersetzung mit Pascals Urteil s. Pierre Courcelle (wie Anm. 5), S. 89 Anm. 2. 82 Vgl. Anthony Arthur Long (wie Anm. 2), S. 142 – 152 und weiterführend Koen Vanhaegendoren: Individuelles religiçses Erleben auf dem Hintergrund stoischer Vorgaben? in: Hermes 132,4, 2004, S. 495 – 510. 83 „Il [sc. Epiktet] dit que Dieu a donné à l’homme les moyens de s’acquitter de toutes ces obligations; que ces moyens sont en notre puissance; qu’il faut chercher la félicité par les choses qui sont en notre pouvoir, puisque Dieu nous les a données à cette fin; qu’il faut voir ce qu’il y a en nous de libre; que les biens, la vie, l’estime ne sont pas en notre puissance, et ne mènent donc pas à Dieu; mais que l’esprit ne peut être forcé de croire ce qu’il sait être faux, ni la volonté d’aimer ce qu’elle sent qui la rend malheureuse; […].“ EnSa Z. 117 – 119. 84 So auch die französische Ausgabe von Goulu, vgl. Pierre Courcelle (wie Anm. 5), S. 14 f. 85 EnSa Z. 117. 86 EnSa Z. 133 f.

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[Originalgraphie] gegeben, und vermutet, Epiktet habe dies mit seinem Ausspruch gemeint, der Mensch habe nichts Eigenes außer dem Gebrauch der Vorstellungen (wq/sir t_m vamtasi_m).87 Deshalb hat Courcelle anhand dieser Textstelle die These entwickelt, Pascals habe aus Montaigne die Einschätzung gewonnen, Epiktets Ansichten seien der présomption zuzuordnen. Der französische Gelehrte weist jedoch auch nach, daß Montaignes Epiktet-Rezeption eine Fehlinterpretation ist.88 Montaigne gibt die Wendung „Gebrauch der Vorstellungen“ (wq/sir t_m vamtasi_m) passend zu seiner Interpretation mit „usage des opinions“ wieder statt originalgetreuer mit „usage des imaginations“ (so die zwei zeitgenössischen französischen Übersetzungen von Goulu und Guillaume du Vair [1591]).89 Pascal erfaßt dagegen besser als sein Vorgänger den Sinn dieses Passus aus dem Handbchlein, der ganz klar das – nach Epiktets Auffassung – genuin Freie des Menschen im Blick hat (Näheres s. Abschn. 3, Anm. 124), welches (und hier liegt wohl der Grund für Montaignes zumindest verkürzte Rezeption) das Encheiridion dem falschen Stolz auf äußere Dinge gegenüberstellt. Daß Pascal trotz dieses abweichenden Verständnisses von Montaigne ausgeht, zeigt eine weitere Anlehnung an die Apologie de Raymond Sebond (Essai II 12). Montaigne zitiert gegen ein allzu großes Selbstwertgefühl (estimer, glorifier) das Buch Kohelet (Ecclesiastes 17,31), das derartige Menschen als „bourbe et cendre“ anspreche (II 12, S. 478). Pascal führt nun Epiktets „présomption“ darauf zurück, daß er „terre et cendre“ sei.90 Ob diese biblische Erklärung wie in den Penses (Br. 349 / LG 106) die materialistische Psychologie der Stoa ironisiert, muß offenbleiben. Sie unterscheidet sich jedoch eindeutig von der Rolle dieses Motivs in Epiktets Diatriben, die den unfreien menschlichen Körper (aber nur diesen) im Rahmen der Freiheitsdiskussion als „Lehm“ bzw. „Kot“ (pgkºr) bezeichnen (Diss. 1.1.10 f., 4.1.78, 4. 1. 100). Das Ziel von Pascals Stoa-Rezeption im Entretien ist – wie in den Penses – offensichtlich nicht eine umfassende, philosophiegeschichtlich adäquate Erfassung der stoischen und epiktetischen Lehre, sondern die argumentative Auseinandersetzung mit ihr von der Warte des christlichen Glaubens. Pascal führt denn auch, entsprechend seiner reziprok neu87 Gerard Boter (Hg.): The Encheiridion of Epictetus and its three Christian adaptions. Leiden 1999 (künftig: Ench.) 6. 88 S. 90 (wie Anm. 5). 89 Vgl. Pierre Courcelle (wie Anm. 5), S. 14. 90 EnSa Z. 115 – 117.

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tralisierenden Dialektik, Montaignes Ablehnung der „vertu stoïque“ an,91 die anders als der christliche Glaube und Gottes Hilfe nicht in der Lage sei, den Menschen zu erheben und zu verwandeln, so die Schlußworte der Apologie de Raymond Sebond (II 12, S. 589). Dieser Kontext fehlt zwar bei Pascal, steht jedoch ganz im Einklang mit seiner Kritik am stoischen Autarkiegedanken. Pascal lobt außerdem Montaignes dialektisches Verfahren, die glaubenslose Vernunft in Zweifel an ihrer eigenen Rationalität zu bringen92 und sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen,93 und läßt damit ein mögliches Vorbild für sein eigenes Argumentationsmuster erkennen. Textgetreuer als zeitgenössische neostoisch-christliche Apologeten, die wie Pascal Epiktets moralische Qualitäten würdigten, aber in ihm überdies einen Monotheisten erblickten94 (möglicherweise wegen der personalen Formulierung seines Gottesbildes), hebt Pascal auf Epiktets pantheistische Annahme ab, die Seele sei ein Teil der göttlichen Substanz, und nennt diese Auffassung einen Irrtum (erreur).95 Seiner Meinung nach verleite Epiktets hoffärtige Ethik zu dieser kosmologischen Ansicht, die doch der altstoischen Dogmatik entspricht.96 Das argumentative Verhältnis dieser beiden Positionen ist zudem bei Epiktet umgekehrt: Daß der Mensch infolge der Verstandesteilhabe ein Stück ( !pºspasla) Gottes in sich trage, verpflichte ihn zur Pflege dieses göttlichen Teils (Diss. 1.14.6, v. a. 2.8.9 – 14). Zu Epiktets Irrtümern rechnet Pascal auch, daß Schmerz und Tod keine Übel seien (Diss. 1.24.6).97 Der locus classicus für Epiktets Bekämpfung der Todesfurcht (Ench. 5), auf den Mengotti-Thouvenin verweist,98 ist nicht so einschlägig und erhellend, wie der Diatribenpassus, den Courcelle hier anführt (Diss. 3.8.6).99 Dieser Ausschnitt kann erklären, warum Pascal Epiktets primo obtutu nicht unchristliche Sätze verdammt: Die dort 91 92 93 94 95 96

EnSa Z. 424 f. EnSa Z. 286 – 293. Vgl. II 12 S. 478 – 485. EnSa Z. 375 – 380. Vgl. II 12 S. 426. Pierre Courcelle (wie Anm. 5), S. 92. EnSa Z. 132 – 134. Vgl. Peter Steinmetz: Die Stoa, in: Die hellenistische Philosophie, hg. v. Hellmut Flashar. Basel 1994. Bd. 4 von: Die Philosophie der Antike, hg. v. Klaus Döring. Bd. 1 von: Grundriß der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neubearbeitete Ausgabe. Bd. 2, S. 495 – 716, dort S. 541 mit Belegen. 97 EnSa Z. 134 f. 98 S. 98 (wie Anm. 54). 99 S. 18 (wie Anm. 5).

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vorgetragene Ablehnung des Schmerzes bezieht sich auf den Verlust von Angehörigen und könnte Pascal als ein Mangel an Nächstenliebe und Mitleid erschienen sein. Pascal meint, in Epiktets Augen sei Selbsttötung legitim, wenn starke Verfolgung den Eindruck erwecke, Gott rufe den Menschen.100 Doch „(Dieu) … appelle“ steht nur in der französischen Übersetzung als Wiedergabe von „loslösen“ ( !pok¼s,), und ob das koordinierte „ein Zeichen geben“ (sgl¶m,) die Entscheidung in das Belieben des Menschen stellt, geht aus dem Text nicht sicher hervor (Diss. 1.9.15 f.). Der Tenor dieser Stelle läuft eher darauf hinaus, daß Epiktet lebensmüde Schüler zum Ausharren auf dem Platz auffordert, auf den Gott sie gestellt habe. Nur Diss. 3. 24. 101 f., wo indes von der Verbannung und nicht von der Verfolgung die Rede ist, beschreibt Gottes Handeln als „zum Rückzug blasen“ (sgla¸momtor t¹ !majkgtijºm), bevor der Mensch aus einer naturwidrigen Lebensweise austritt. Diesen Schritt stellt ein (fiktiver) Dialog mit Gott als Erfüllung von dessen Willen dar. Pascal führt außerdem Epiktets und Montaignes Irrtümer (erreurs) darauf zurück, daß sie den gegenwärtigen Menschen wie den noch nicht verdorbenen Menschen nach der Erschaffung ansähen, als ob die Natur noch heil sei und keines Wiederherstellers (réparateur) bedürfe. Die Laster Faulheit (paresse) und Hochmut (orgueil) verharrten so im Zustand vor der Gnade. Der ausschließliche Blick auf die ursprüngliche Größe (grandeur) des Menschen führe Epiktet auf den Gipfel des Stolzes (superbe), Montaigne stürze die Vernachlässigung der ursprünglichen Würde (première dignité) zugunsten des Elends (misère) in die Verzweiflung.101 Diese paradoxe Anthropologie führen auch die Penses gegen die Philosophie ins Feld. Ihre theologischen Teile standen im Einklang mit dem Jansenismus und Pascals eigenem Insistieren auf der Notwendigkeit der Gnade zum Glauben.102 Bereits Cornelius Jansenius’ Augustinus hatte festgestellt, daß die Gottesgleichheit des stoischen Weisen und die Substanzgleichheit von Gottheit und menschlicher Seele die göttliche Gnade erübrigen würden.103 Außerdem zitiert der Bischof von Ypern Augustinus für die These, daß Jesus umsonst ge100 EnSa Z. 135 – 137. 101 EnSa Z. 470 – 485. 102 Michael Moriarty (wie Anm. 4), S. 144 – 161, dort S. 151 und S. 155 (Br. 248 / LG 5). 103 Augustinus, Ausg. Löwen 1640, t. I (De haeresi pelagiana), lib. 4, cap. 22 col. 232 – 234.

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storben wäre, wenn das natürliche Vermögen ausreichte, um durch freien Willen zur Erkenntnis des richtigen Lebens zu gelangen und gut zu leben.104 Das entscheidende Novum gegenüber den skizzierten theologischen Positionen stellt Pascals paradoxe Anthropologie dar, welche das theologisch-anthropologische Axiom der menschlichen Unvollkommenheit überwölbt, die zum archimedischen Punkt seiner Ablehnung der Stoa, auch in den Penses, wird.

Pensées In den Penses tritt neben Epiktet Seneca, der mit105 und ohne Autorennennung106 zitiert wird. Eine explizite argumentative Auseinandersetzung findet jedoch nur mit Epiktet und den Stoikern im allgemeinen107 statt.108 Das Gesprch mit Le Maistre de Sacy läßt bereits die argumentativen Grundlinien der Penses erkennen.109 Auch sie verfechten die christliche Apologetik mit rationaler Argumentation, attestieren jedoch nur dem Skeptizismus eine protreptische Wirkung (Br. 391 / LG 104 Augustinus, Ausg. Löwen 1640, t. I (De haeresi pelagiana), lib. 4, cap. 15 col. 215 (= Augustinus: De natura et gratia c. 40 § 47): „Si enim inquit possibilitas naturalis per liberum arbitrium et ad cognoscendum, quomodo vivere debeat, et ad bene vivendum sufficit sibi, ergo Christus gratis mortuus est.“ (= Paulus: Gal 2,21) 105 Seneca: Ad Lucilium epistulae morales, rec. Leighton Durham Reynolds. 2 Bde. Oxford 1965 (künftig: Epist.) 106,12 (Br. 363 / LG 460). In derselben Zitatensammlung (Br. 363 / LG 460) wird Seneca fälschlicherweise ein ebenfalls aus Montaigne (III 1, S. 773) stammendes Cicero-Zitat zur normativen Kraft des Eigenen zugeschrieben (De officiis 1,113). 106 Seneca: Epist. 20,8 (Br. 361 / LG 137). 107 Z.B. Br. 61 / LG 588, Br. 360 / LG 134. 108 Rätselhaft bleibt ein Bruchstück (Br. 466 / LG 130): „Les vices de Zénon même.“ Selliers Ausgabe (Pascal: Penses. Présentation et notes par Gérard Ferreyrolles. Texte établi par Philippe Sellier d’après la copie de référence de Gilberte Pascal. Paris 2000, S. 129) trennt es als Nr. 173 von der vorausgehenden, christlich begründeten Distanzierung von Epiktet ab und bezieht es auf die bei Montaigne (I 26, S. 172; III 10, S. 993, s. Diogenes Laertios: Vitae philosophorum 7.17) überlieferte Homophilie des Gründers der Stoa. Freilich zitiert Montaigne die letztgenannte Stelle nur, weil Zenon dort seine Leidenschaft beherrscht und dem Objekt der Begierde aus dem Weg geht, distanziert sich aber andernorts von den Neigungen des Philosophen aus Kition (II 12, S. 567). 109 Donald Adamson: Blaise Pascal. Mathematician, Physicist and Thinker about God. New York 1995, S. 63 und S. 66.

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557): „Le pyrrhonisme sert à la religion.“ Nur eine in ihrer Echtheit strittige Pense überträgt die aus dem Entretien bekannte Instrumentalisierung der Stoa auf die Stilistik (Br. 18 bis / LG 628). Sie bemerkt Epiktets und Montaignes eingängigen alltagssprachlichen Stil und nimmt ihn sich unter Pascals Pseudonym aus den Provinciales (Salomon de Tultie) zum Vorbild.110 Bernard Croquette hält es für verlockend, hierin einen „cri de triomphe final de l’écrivain“ zu sehen, mit dem seine Schwester Gilberte, auf welche dieses Fragment zurückgehe,111 ganz im Sinne anderer Äußerungen ihres Bruders auf dessen Originalität gegenüber Montaigne beharrt habe.112 Die explizite Haltung der Penses gegenüber der Stoa ist freilich durch eine konsequentere Ablehnung als im Entretien gekennzeichnet;113 ja, sie nennen als ein Beweisziel die „vanité des vies philosophiques, pyrrhoniennes, stoïques“ (Br. 61 / LG 588). Während im Entretien Epiktets Empfehlung, dem Willen Gottes zu folgen, noch klar als Positivum vermerkt wurde, formuliert eine Pense diese Forderung christologisch (Br. 466 / LG 130). Der Schwerpunkt liegt hier auf der Feststellung, Epiktet habe die Menschen darauf hingewiesen, daß sie einem falschen Weg folgten (Diss. 2.12.3 f.), selbst aber nicht den richtigen gewiesen. In einer Linie mit der Opposition des Mmorial von alttestamentarischem und philosophischem Gottesbild wird ferner behauptet, ein Wort von David oder Moses, etwa Gott möge ihr Herz beschneiden (Dt 30,6), beseitige die Unklarheit („équivoque“) ihrer übrigen Reden, ob sie Christen oder Philosophen seien, während die Disambiguierung bei Epiktet umgekehrt ausfalle (Br. 690 / LG 262).114 Auch wenn hier Pascals Klassifikationsraster und Erkenntnisinteresse fest am tradierten Christentum ausgerichtet ist, so ist sein induktives Vorgehen sehr behutsam und weist terminologisch bereits in die Richtung der modernen Sprachwissenschaft. Wie im Entretien ist der Kernpunkt von Pascals Kritik die Ablehnung der autarken Anthropologie der Stoa, die sich in deren zweitem 110 Karlheinz Stierle (wie Anm. 17), S. 329. Für Pascals geschickte Persuasion in den Provinciales vgl. Richard Parish: Pascal’s Lettres provinciales, in: The Cambridge companion to Pascal, hg. von Nicholas Hammond, Cambridge 2003, S. 182 – 200, dort S. 198 f. 111 Croquette hält Joseph Bédiers Ausführungen für überzeugend (Pascal et Salomon de Tultie, in: Mlanges offerts  Gustave Lanson. Paris 1922, S. 178 – 182). 112 S. 154 f. (wie Anm. 3). 113 Ähnlich Kyriaki Christodoulou (wie Anm. 1), S. 420. 114 „Jusque-là l’ambiguïté dure, et non pas après.“

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Paradoxon lexikalisch niederschlägt.115 Pascal begründet sie hier nicht mit der Gnadenbedürftigkeit des Menschen, sondern tadelt nur wie im Entretien die stoische Ignoranz gegenüber der menschlichen Verderbtheit (corruption) (Br. 463 / LG 132). Dieser Vorwurf wird in Br. 435 / LG 194 in das aus dem Entretien bekannte Begriffssystem eingebettet: Die verschiedenen Philosophenschulen (sectes) der Stoiker, Epikureer, Dogmatiker und Akademiker hätten ihren Ursprung darin, daß sie sämtlich nicht die in der condicio humana angelegte Ambivalenz von „excellence“ und „corruption“ erfaßten und deshalb nicht den aus dem Entretien als konträr bekannten Todsünden „orgueil“ und „paresse“116 entkämen. Von drei an Augustinus angelehnten117 „concupiscences“ (Br. 460 / LG 725), welche drei philosophische Richtungen verfolgten (Br. 461 / LG 135), läßt sich – wohl auch mit Hilfe des Entretien – den Stoikern der orgueil zuordnen,118 welcher Augustinus’ „libido dominandi“ (De civitate Dei 14,28) entspricht (Br. 458 / LG 474). Doch lassen die gegensätzlichen Begehrlichkeiten der hellenistischen Philosophenschulen bei Augustinus den Platonismus triumphieren, in Pascals Dialektik führen sie durch ihre wechselseitige Vernichtung sogleich zur Offenbarung.119 Auch andernorts werden die verschiedenen Philosophenschulen auf das Verkennen der Ambivalenz der condicio humana (hier des Konfliktes von raison und passions) zurückgeführt. Durch die Unterdrückung der passions, heißt es, wollten die einen (wohl die Stoiker) Götter werden, während die ebenfalls nicht namentlich genannte „secte“ der Epikureer durch die Aufgabe der raison zugunsten der passions zu Tieren werde (Br. 413 / LG 410).120 Hier zeigt sich klar, daß die an den 115 Die Tugend allein reicht (aqt²qjgr) zum Glück, vgl. Cicero: Parad. 16 – 19 und SVF 1.187 – 189, 3.49 – 67. 116 Zu beider Verbindung vgl. Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 149. 117 Vgl. Philippe Sellier: Pascal et Saint Augustin. Paris 1970, S. 168 – 196, v. a. S. 170 f. 118 Vgl. Pascal: Œuvres compltes. Édition présentée, établie et annotée par Michel Le Guern. 2 Bde. Paris 1998, 2000, Bd. 2, S. 1366 und Kyriaki Christodoulou (wie Anm. 1), S. 421. Zum orgueil s. Philippe Sellier (wie Anm. 117), S. 182 – 190. 119 Philippe Sellier (wie Anm. 117), S. 190. 120 Umgekehrt kann aber auch die stoische Vereinseitigung der condicio humana den Menschen dem Tier annähern, vgl. die unterschwellige Polemik, die Kyriaki Christodoulou (wie Anm. 1), S. 422 im Schlußkommentar von Br. 401 / LG 579 über die fehlende soziale Differenzierung der Pferde nach Leistung vermutet: „Leur vertu se satisfait d’elle-même.“ Für Montaigne (II 12, S. 465)

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Philosophenschulen kritisierten Einseitigkeiten gegen die normativen Implikationen von Pascals paradoxer Anthropologie der Mitte121 verstoßen, die sich in der Formel „ni ange ni bête, mais homme“ (Br. 378 / LG 468) auskristallisieren. Neben dem Autarkiegedanken greift Pascal zwei weitere Ausprägungen des anthropologischen Absolutheitsdenkens der Stoa und ihrer prämodernen Subjektkonstruktion an, die man als normative Konsequenzen des Autarkiedenkens ansehen kann. Es handelt sich dabei um den Rigorismus in der Moral und das nahezu unerreichbare Ideal des Weisen (Br. 360 / LG 134): „Ce que les stoïques proposent est si difficile et si vain.“ Der nächste Satz dieser Pense kritisiert das vierte stoische Paradoxon, demzufolge alle Toren wahnsinnig seien (SVF 3.658, vgl. Cicero: Parad. 27). Bereits Montaigne hatte das dritte stoische Paradoxon (SVF 3.527 – 534, vgl. Cicero: Parad. 21) von der Gleichheit der Laster (vices) kritisiert (II 2, S. 321 f.). Auch die Unentäußerbarkeit122 und universelle Erreichbarkeit der Tugend bestreitet Pascal als unzulässige Verallgemeinerung eines punktuellen Vermögens und fiebrige Seelenbewegungen, die man in gesundem Zustand nicht imitieren könne (Br. 350 / LG 136). Dieser neuzeitliche Pessimismus gegenüber einer antiken linear-rationalen Persönlichkeitskonzeption ist in Pascals komplexe Anthropologie eingebettet: Ein anderes Fragment (LG 22 / Br. 127) benennt die condition humaine als „Inconstance, ennui, inquiétude“. Die Polemik gegen die fiebrigen Stoiker hindert Pascal nicht daran, in einer anderen Pense (Br. 354 / LG 25) das wechselnde subjektive Temperaturempfinden des Fiebers als Vergleichspunkt für die Vielseitigkeit und legitime Wechselbedürftigkeit der menschlichen Natur heranzuziehen. Wie beim „terre et cendre“ des Entretien erklärt Pascal also die anthropologischen Irrtümer der Stoa mit seinem eigenen Menschenbild, ein überaus geschickter Kunstgriff beim Kampf um die kulturelle Hegemonie mit dem Neostoizismus (s. Anm. 145). Den Vorwurf unzulässiger Verallgemeinerung erhebt Pascal auch gegen Epiktets Umgang mit der christlichen Standhaftigkeit blieben die Tiere selbst mit stoischer Weisheit, Tugend und Autarkie Tiere, die nicht mit einem elenden Menschen zu vergleichen seien. 121 Vgl. dazu Hugo Friedrich (wie Anm. 12), S. 342 f. 122 Tatsächlich vertraten einige Stoiker die Ansicht, die Tugend könne verloren werden, namentlich Chrysipp, der Rausch und Melancholie als Ursachen anführt. Andere Quellen nennen noch Lethargie, Schwindel und Gifteinnahme (SVF 3.237 – 239). Vgl. dazu Maximilian Forschner (wie Anm. 46), S. 64 Anm. 74.

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(Br. 350 / LG 136). Dabei hatte der Philosoph aus Hierapolis wesentlich differenzierter gefragt, ob man nur wie manch einer aus Wahn (rp¹ lam¸ar) oder wie die Christen aus Gewohnheit (rp¹ 5hour) furchtlos gegenüber einem Tyrannen handeln könne, und angemahnt, man müsse aus rationaler Überzeugung zu einer moralisch fruchtbaren Gottes- und Welterkenntnis gelangen (Diss. 4.7.6).123 Pascal greift auch Epiktets aus dem stoischen Autarkie-Ideal abgeleitetes Grundphilosophem an, im Gegensatz zu den äußeren Dingen, zu denen auch der Körper zählt, stehe das Innenleben in der Macht des Menschen.124 Gegen diese These, die der Entretien von theologischer Seite verdammt hatte, wenden die Penses ein, man könne seiner Gesundheit sicher sein, während „régler le cœur“ nicht in der Macht des Menschen stehe (Br. 467 / LG 92). Aufbauend auf diese anthropologische Argumentation nennt Pascal hier – freundlicher als im Entretien („superbe diabolique“) – Epiktets Gerechtigkeit, d. h. eigentlich seine Abweichung von der christlichen Rechtfertigungslehre, eine Albernheit (niaserie). Doch könnte diese Einschätzung vor dem Hintergrund von Epiktets Leib-Seele-Dichotomie außerdem auf die Gesundheit dieses Stoikers anspielen. Die suggestive Gedankenführung einer anderen Pense kommt nämlich nach einem Lahmen auf Epiktet zu sprechen (Br. 80 / LG 91). Diese Beeinträchtigung schreibt der Philosoph aus Hierapolis sich in den Lehrgesprächen zu (Diss. 1.16.20), und die antiken Zeugnisse über sein Leben berichten dasselbe.125 In beiden Penses-Fragmenten werden Epiktets Äußerungen zum Kopfschmerz diskutiert (vgl. Diss. 1.18.16; 18, 2.10.28), während das Fieber, so hat Le Guern in seiner Ausgabe herausgearbeitet,126 eigentlich die körperliche Beeinträchtigung ist, die an der Epiktet-Stelle steht (Diss. 2.14.21 f.), auf die Pascal hier anspielt. Diese doxographische Kontamination läßt sich argumentationstechnisch damit erklären, daß der Kopfschmerz wegen seiner Lokalisierung im Denkorgan Pascal eine größere Gefährdung für die geistige Freiheit als das Fieber schien, während die alten Stoiker Vermutungen der antiken Medizin ignorierten, daß das Gehirn der Sitz der Persönlichkeit sei.127 123 Pierre Courcelle (wie Anm. 5), S. 87 f. Anm. 1 denkt hierbei zu Unrecht an Diss. 2.9.19 – 21. 124 Z.B. Diss. 1.1.7 – 9, 4.1.66 – 75, Ench. 1.1 f. 125 Vgl. die praefatio zu Schenkls kritischer Ausgabe bei der Besprechung der von ihm gesammelten antiken Zeugnisse zu Epiktet (wie Anm. 49, S. IV). 126 Bd. 2, 1345 (wie Anm. 118). 127 Peter Steinmetz (wie Anm. 96), S. 608.

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Neben die Ablehnung des stoischen Rigorismus und Autarkiedenkens von der Warte eines paradox-unbeständigen, christlich formulierten Menschenbildes tritt in den Penses eine eher formale Dialektik, die versucht, die Stoa mit einer teils polemischen Rhetorik ironisch und fragend in innere Widersprüche zu verwickeln. So kontrastiert eine aporetisch-rhetorische Frage die Epiktet zugeschriebene Devise „Halte aus und halte dich zurück“ („sustine et abstine“) 128 mit der stoischen Forderung, der Natur zu folgen („suivre nature“) (Br. 20 / LG 577). Subtiler als diese doxographische Paradoxie auf der Oberfläche des Wortlauts129 argumentiert die ironische Frage unter der Überschrift Immatrialit de l’ me, welche Materie die Beherrschung der Leidenschaften bei den Philosophen zuwege gebracht habe (Br. 349 / LG 106).130 Außerdem stellt die stoische Bereitschaft zum Selbstmord (vgl. das eqhamate?m des Tüchtigen in SVF 3.601), die der Pascal des Entretien von der christlichen Warte als Irrtum verurteilt hatte,131 ein in Jansenius’ Paraphrase132 auf Augustinus (Epistulae 155 I,3) zurückgehender ironischer Ausruf als Widerspruch zur Autarkie des Weisen hin (Br. 361 / LG 137). Diesen Lehrsatz referiert in der fraglichen Pense ein Zitat aus Senecas Lucilius-Briefen (20,8), das bereits Jansenius neben anderen Auszügen aus Senecas epistolographischem Alterswerk wörtlich zitiert und kritisiert hatte.133 Das dialektische Verfahren der Verwicklung in (Selbst-)Widersprüche neutralisiert auch, wie aus dem Entretien bekannt, wechselseitig die verschiedenen philosophischen Richtungen. Dies geschieht einmal theoretisch, Pascals antithetisch-dialektischem Konzept der vérité opposée entsprechend, in paradoxer Weise: Weil die entgegengesetzten Prinzipien der widerstreitenden Richtungen wahr sind, sind ihre Schlußfolgerungen falsch (Br. 394 / LG 526). Bei dieser epistemologischen Argumentation firmieren die Dogmatiker statt der Stoiker als Widerpart der Pyrrhoniker.134 128 „!m´wou et !p´wou“ (Diss. frg. 10 = Aulus Gellius: Noctes Atticae 17,19). 129 Zu den unterschiedlichen stoischen Telosformeln vgl. Maximilian Forschner (wie Anm. 46), S. 212 – 226. Für die spielerische variatio der Formulierung des summum bonum vgl. Seneca: De vita beata 3,2 f.; 4,1 – 5,4. 130 Vgl. Br. 73 / LG 56 gegen die Dogmatiker. 131 EnSa Z. 135 – 7. 132 Augustinus-Ausg. Löwen 1640, t. II (De statu purae naturae) lib. 2 cap. 8 col. 820 sq. 133 Augustinus-Ausg. Löwen 1640, t. I (De haeresi pelagiana) lib. 5 cap.1 col. 236. 134 Br. 184 / LG 2, v. a. Br. 434 / LG 122.

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In der Ethik parallelisiert Pascal die widersprüchlichen Ratschläge der Philosophen zur grundsätzlichen Haltung im Leben. Dies betrifft zum einen die Frage, ob der Mensch sich wegducken oder stolz und frei den Kopf emporrecken solle. Für das letztere Verhalten zitiert Pascal Epiktet wörtlich unter Nennung des Autors (vgl. Diss. 1.18.20, 2.16.41), nachdem er zuvor anonym das stoische Streben nach Gottesgleichheit in der Weisheit referiert hat (Br. 431 / LG 401). Dieser Kontrastierung liegt, wie bereits bei corruption und concupiscences gesehen, Pascals paradoxe Anthropologie zugrunde. Da die Philosophen hier das Sowohl-Als auch der condition humaine einseitig auflösen,135 wirft er den widerstreitenden Meinungen vor: „Nul n’a connu que l’homme est la plus excellente créature.“136 Zum anderen stellt Pascal die stoische Empfehlung eines Rückzugs nach innen137 der hedonistischen Wendung nach außen gegenüber (Br. 465 / LG 386).138 Markant ist hierbei die mystisch-apologetische Quintessenz, die Epiktet anders als im Entretien (s. Anm. 68) keine protreptische Rolle mehr zubilligt: Das Glück ist weder drinnen noch draußen, sondern in Gott, außerhalb und innerhalb der Menschen. Hier zeigt sich exemplarisch die dialektische Funktion der vordergründigen Paradoxien bei Pascal: Sie werden auf einer religiösen Ebene aufgehoben, sollen aber auch den Adressaten auf diese heben. Zwei andere Formen von Dialektik manifestieren sich in demselben Argumentationszusammenhang, wenn Pascal die Darstellung der Faktoren, die den von der Stoa empfohlenen Rückzug nach innen konterkarieren, mit einer Epiktet-Reminiszenz (Diss. 1.26.3) einleitet (Br. 464 / LG 133). Hier führt Pascal zum einen deutlicher als bei vielen besprochenen Fällen die Paradoxie (und nicht bloß die Ambivalenz) seiner Anthropologie ins Feld, zum anderen subvertiert er – vielleicht nur in einem unbewußten Anklang – die stoische Empfehlung mit der anthropologischen Beobachtung eines Stoikers. Die Stoa wird also 135 Vgl. Hugo Friedrich (wie Anm. 12), S. 348. 136 Vgl. Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 44. 137 Wohl die Reminiszenz eines namenlosen, aber wörtlichen Seneca-Zitats (Epist. 20,8), das die Zufriedenheit mit den inneren Gütern empfiehlt (Br. 361 / LG 137). 138 Vgl. das stark an Montaigne angelehnte (II 12, S. 561 f.) Referat über den Dissens der Philosophen über das höchste Gut, das die stoische Tugend mit der epikureischen Lust konfrontiert und als Beweis für die Schwäche der Vernunft dient (Br. 73 / LG 56 S. 559).

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entsprechend der Hegel’schen Doppeldeutung von „Aufheben“139 nicht nur argumentativ negiert, sondern auch zugleich intertextuell bewahrt.

Zusammenfassung und Ausblick: Statik und Dynamik in der Dialektik von Pascals expliziter Stoa-Rezeption Pascals explizite Stoa-Rezeption konzentriert sich auf das Gesprch mit Le Maistre de Sacy und die Penses und zieht namentlich, von einer unklaren Ausnahme abgesehen, nur die kaiserzeitlichen Stoiker Epiktet sowie in wesentlich geringerem Umfang Seneca heran. Das Ziel dieser Rezeption ist nicht deskriptiv-philosophiehistorisch, sondern argumentativ-philosophisch. Es geht – wie auch im Falle Montaignes140 – nicht um die doxographisch exakte Erfassung und das adäquate Verständnis der stoischen Texte und Lehrmeinungen, sondern um die Überwindung der fremden Weltdeutung zugunsten einer eigenen. Von der Warte der christlichen Religion aus lehnt Pascal die zentralen stoischen Positionen in Anthropologie und Ethik ab, die Physik wird bloß gestreift, und zwar nur in diesem Zusammenhang, die Logik bleibt ganz außen vor. Pascal kritisiert in concreto, der stoische Rigorismus in der Moral, der sich in der Autarkie der Tugend und in dem Ideal des Weisen niederschlägt und göttlichen Beistand durch Gnade und Erlösung erübrigt, verkenne die Schwäche des Menschen, die ein Teil von Pascals paradoxer Anthropologie ist. Die Unterschiede in der Stoa-Rezeption des Entretien und der Penses lassen sich als Entwicklung eines Denkers deuten und bieten keinen Anlaß für die Annahme zweier Autoren. Der Entretien hebt die Widersprüche der stoischen Einzelpositionen zum Christentum und ihren protreptischen Nutzen hervor; die Penses widerlegen sie stärker mit Hilfe von Pascals paradoxer Anthropologie, die durch die Abgrenzung von der Stoa verfeinert und systematisiert wird, und verwikkeln die stoischen Lehrsätze in Widersprüche mit sich selbst und anderen Philosophenschulen, die teilweise das Produkt einer eristischen 139 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyclopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (unter: System der Philosophie), Bd. 8 von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Smtliche Werke, hg. v. Hermann Glockner. Stuttgart 1955, Bd. 1, § 96 Zusatz (S. 228 f.). 140 Veränderungen des Wortlauts geben dem Original eine andere Wendung. Auch werden Montaignes Referate der pyrrhonischen Lehre als dessen eigene Meinung zitiert (Bernard Croquette (wie Anm. 3), S. 161 f.).

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Dialektik sind. In beiden Schriften fungiert die Religion als statischer Fluchtpunkt der argumentativen Dialektik der Stoa-Rezeption. Sie hebt bei Pascal die verschiedenen Formen von Widersprüchen auf, die im Zusammenhang mit der Stoa auftreten. Die Statik des Argumentationsziels, welche die Dialektik von Pascals Stoa-Rezeption kennzeichnet, steht im Einklang mit Hugo Friedrichs Urteil über Pascals Umgang mit seiner diskursiven Umwelt. Der Freiburger Romanist bemerkt nämlich, Pascal begegne den Menschen von der Außenperspektive eines Wissenden, während Montaigne ohne vorgegebene Richtung frage.141 Die hier aufgewiesene Statik des argumentativen Fluchtpunkts bestätigt auch Isaiah Berlins an Archilochos (Fragment Nr. 201, West) angelehnte Typologie, die Pascal wie Platon, Lukrez, Hegel, Dostojewski, Nietzsche, Ibsen und Proust zu dem monistisch-subsumtiven Denkertypus des „Igels“ zählt, der „eine große Sache weiß“, während plural-investigative Füchse wie Herodot, Aristoteles, Montaigne, Erasmus, Molière, Goethe, Puschkin, Balzac und Joyce „viele Dinge wissen“.142 In dieses zentripetale Denken fügen sich die Anleihen bei Augustinus, Jansenius und vor allem Montaigne ein, aus denen Pascal doxographische Informationen zur Stoa, zu deren Interpretation und Widerlegung schöpft. Die christlich-apologetische Perspektive führt zu kleineren Unschärfen im Detail, aber auch vereinzelt genaueren Interpretationen als bei manchen Vorgängern. Insgesamt reihen Pascal seine bis auf die Kirchenväter zurückreichende christliche Betonung der Schwäche, Verderbtheit und Gnadenbedürftigkeit des Menschen und seine Kritik an der stoischen (Selbst-)Überschätzung in die gegen den Neustoizismus gerichtete Reaktion des 17. Jh.s ein – neben den Kardinal Pierre de Bérulle und die Jansenisten.143 Bereits in der heidnischen 141 S. 357 (wie Anm. 12). Karlheinz Stierle (wie Anm. 17), S. 329 f. hebt dagegen auf die „dramatische Offenheit“ von Pascals Denken ab, die sich aus dem Scheitern von Montaignes und Descartes’ diskursivem Denken ergebe. Kritisch zu Pascals zeitgebundener doktrinaler Abschließung und Polemik gegen Andersdenkende ist dagegen Bernard Grasset (wie Anm. 26), S. 312. Für John F. Boitano (wie Anm. 41), S. 203 f. ist die Dialogform ein Indiz für die Offenheit der Debatte zwischen Glauben und Unglauben. 142 The Hedgehog and the Fox. Essay on Tolstoy’s View of History. New York 1953. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Russian Thinkers, edited by Henry Hardy and Aileen Kelly. With an Introduction by Aileen Kelly. London 21978, Nachdruck 1994, S. 22 – 81, dort S. 22 f. 143 Vgl. Michel Spanneut (wie Anm. 2), S. 311 – 5.

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Antike stieß ja der stoische Rigorismus auf Ablehnung.144 Auch schärft Pascal wie Augustinus und der Jansenismus seine Positionen – vor allem seine paradoxe Anthropologie – durch die Auseinandersetzung mit der antiken Stoa und dem neuzeitlichen Stoizismus145 und bezeugt mit dieser argumentativen Rezeption dessen Wirkmächtigkeit,146 was die Stoa im Hegel’schen Doppelsinne aufhebt. Daneben bietet Pascals Auseinandersetzung mit der Stoa eine wichtige methodische Neuerung. Dies ist – trotz unverkennbarer Anleihen bei Pascals apologetischen und philosophischen Vorgängern – ein dialektisch-paradoxes Beweisverfahren. Es verwickelt den stoischen Rigorismus und Autarkiegedanken systematisch in Widersprüche zu sich selbst, anderen Philosophenschulen und Pascals eigener paradoxer Anthropologie, weswegen der Pascal des Entretien der Stoa im Antagonismus mit dem Pyrrhonismus eine religiös-protreptische Funktion zubilligt. Die Modernität und Innovation, die Pascal im Umgang mit der Stoa zeigt, besteht also nicht in der Affirmation der christlichen Positionen, sondern in deren paradox-dialektischer Verteidigung. Das christlich-apologetische Beweisziel ist traditionell, der Weg dorthin modern.147 An der inhaltlichen Antithese von Pascal und Stoa schärft sich also in einer geistesgeschichtlichen Dialektik als Novum eine paradoxe Dialektik, die bereits Lucien Goldmann, Hugo Friedrich weiterführend, bei Pascal beschrieben hat. Diese Denk- und Argumentationsweise entfaltet im Gegensatz zu ihrem statischen Beweisziel eine Dynamik, deren Modernität und Innovationspotential sich an den tie144 Der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias kritisiert den Rigorismus der Stoiker und die Seltenheit ihres Weisen (de fato cp. 28 p. 199, 7 [Pierre Thillet. Paris 1984] = SVF 3.658). Horaz tadelt die stoische Auffassung, alle Verfehlungen seien gleich gravierend (saturae 1,3,96 – 98). 145 Dominique Descotes (wie Anm. 61), S. 412 rechnet zu den Adressaten der Penses auch die Neostoiker, deren persönliche Bekanntschaft Pascal gemacht hatte (Henri Gouhier (wie Anm. 27), S. 125). Sie wären nach Dominique Descotes’ Modell (wie Anm. 61, S. 409) die intendierten Adressaten, während die antiken Stoiker in Pascals Dialektik als argumentative Gesprächspartner fungieren. Nach John F. Boitano (wie Anm. 41), S. 28 f. zielte Pascal über die antike Stoa und Montaigne als Grundlagentexte der zeitgenössischen Freidenker auf diese selbst. 146 Günter Abel (wie Anm. 2), S. 307. 147 Ähnlich Irène Kummer (wie Anm. 13), S. 25. Vgl. Karlheinz Stierles Beobachtung, Pascal habe keine theologische Argumentation beabsichtigt, sondern die Anthropologie zur Grundlage der Theologie machen wollen (wie Anm. 18) S. 168).

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feren geistesgeschichtlichen Zusammenhängen mit der Stoa in den Fragen von Rationalitätskonzeption und Menschenwürde zeigen ließen. Ausgaben und Kommentare antiker Texte Boter, Gerard (Hg.): The Encheiridion of Epictetus and its three Christian adaptions. Leiden 1999. Epicteti dissertationes ab Arriano gestae, rec. Heinrich Schenkl. Leipzig 1916. (zugrunde gelegte Ausgabe) Souilhé, Joseph; Jagu, Amand (Hgg.): pictte: Entretiens. 4 Bde. Paris 1943 – 65. Seneca: Ad Lucilium epistulae morales, rec. Leighton Durham Reynolds. 2 Bde. Oxford 1965. Simplikios: Commentaire sur le „Manuel“ d’ pictte. Introduction et édition critique du texte grec par Ilsetraut Hadot. Leiden 1996. Stoicorum veterum fragmenta, gesammelt von Hans von Arnim. 3 Bde. Leipzig 1903 – 5. Register (Bd. 4) erstellt von Maximilian Adler. Leipzig 1924. Nachdruck der 4 Bde. Stuttgart 1968.

Pascal-Ausgaben und -Kommentare 148 Léon Brunschvicg, Pierre Boutroux, Félix Gazier (Hgg.), Œuvres de Blaise Pascal. [edit. maior] 14 Bde. Paris 1904 – 14, Nachdruck Vaduz 1965. Pascal: Œuvres compltes. Texte établi, présenté et annoté par Jacques Chevalier. Paris 1954. Courcelle, Pierre: L’Entretien de Pascal et Sacy. Ses sources et ses nigmes. Paris 1960. Gounelle, André: L’Entretien de Pascal avec M. de Sacy. tude et commentaire. Paris 1966. Pascal: Œuvres compltes. Édition présentée, établie et annotée par Michel Le Guern. 2 Bde. Paris 1998, 2000. Pascal: Œuvres compltes. Préface d’Henri Gouhier. Présentation et notes de Louis Lafuma. Paris 1966. Pascal: Entretien avec M. de Sacy sur pictte et Montaigne: original indit. Texte établi, présenté et annoté par Pascale Mengotti-Thouvenin et Jean Mesnard. Paris 1994. 148 Zur verwickelten Überlieferungs- und Editionsgeschichte der Penses vgl. die Einführung von Michel Le Guerns Pléiade-Ausgabe (Bd. 1 XXIX f.; s. Bd. 2, S. 1657 – 1688 für Konkordanzen der verschiedenen Ausgaben), nach der Pascal mit Ausnahme des Entretien hier zitiert wird. Bei den Penses wird an erster Stelle die Nummer der lange Zeit maßgeblichen Ausgabe von Brunschvicg („Br.“) angegeben, dann folgt Le Guerns Fragmentnummer („LG“). Für den Wortlaut der Zitate aus dem Entretien werden Mengotti-Thouvenins und Le Guerns Ausgaben herangezogen, für die dort fehlende Zeilenzählung muß auf Courcelles gut dokumentierte Edition zurückgegriffen werden.

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Pascal: Penses. Présentation et notes par Gérard Ferreyrolles. Texte établi par Philippe Sellier d’après la copie de référence de Gilberte Pascal. Paris 2000.

Ausgaben anderer neuzeitlicher Autoren Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Encyclopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (unter: System der Philosophie), Bd. 8 von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Smtliche Werke, hg. v. Hermann Glockner. Stuttgart 1955. Jansenius, Cornelius: Augustinus seu doctrina S. Augustini de humanae naturae sanitate, aegritudine, medicina adversus Pelagianos et Massilienses. Löwen 1640, Nachdruck Frankfurt a.M. 1964. Montaigne. Œuvres compltes. Textes établis par Albert Thibaudet et Maurice Rat. Introduction et notes par Maurice Rat. Paris 1962.

„Stoisch, wahrhaft sokratisch“. Epiktet und Marc Aurel in der Philosophie Shaftesburys von Friedrich A. Uehlein Die elf emblematischen Kupferstiche in Lord Shaftesburys Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times (1714/1715) haben bei aufmerksamen Lesern immer Beachtung gefunden. Sie stehen, Shaftesburys Bestimmung zufolge, zwischen Sprache und Bild, sind weder selbständige Darstellungen, noch sprechen sie in Sätzen und Urteilen. Sie „vermitteln Empfindungen und Vorstellungen und Bedeutungen“ und begleiten als Signa im bildlichen Medium den philosophischen, literarischen Text.1 Das Idealportrait des Autors dagegen, das dem Titelblatt des ersten Bandes gegenübersteht, ist eine selbständige Darstellung (Mimesis). Es spricht ohne emblematische Vermittlung. Shaftesbury steht in Allongeperücke und Toga vor einer Draperie und einem Pfeiler, die zu seiner Rechten den Blick durch einen gemauerten Bogen auf die Gartenterrasse und in die Landschaft freigeben. Seine Linke, über dem Spielbein, ruht auf einem Podest, das vier Folianten trägt. Zwei liegen, der eine mit dem Schnitt nach vorne, der andere mit dem Rückenschild Platon. Aufrecht im rechten Winkel dazu steht ein Band Xenophon. Der vierte Band, wieder mit dem Schnitt zum Betrachter, bildet die Hypotenuse zu den beiden Lieblingsautoren. In der Rechten, über dem Standbein, hält Shaftesbury ein kleines Buch, hochkant, eng vor die Brust gezogen.2 Welches Buch wird er so unmittelbar bei sich 1 2

Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Standard Edition, StuttgartBad Cannstatt, 1981 ff.; zitiert SE mit Band- und Seitenzahl. SE I 5 Plasticks, 215 f. Die gleiche Anordnung und die gleiche Geste finden sich in einem Ölgemälde von John Closterman (1701/1702 ?), das dem Frontispiz von Simon Gribelin zur Vorlage gedient hat. Vgl. Sheila O’Connell, Lord Shaftesbury in Naples 1711 – 1713, in: The Walpole Society 54, 1988/1991, p. 149, 156, und Anna Wessely, The Knowledge of an Early Eighteenth-Century Connoisseur: Shaftesbury and the Fine Arts, in: Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungaricae 41, 1999 – 2000, S. 283 – 285.

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haben? – Es ist verführerisch, in dem Büchlein „my little Colon-Edition“ zu erblicken. Paul Crell, Shaftesburys Sekretär, hat es im Katalog von 1709, unter den Oktavbänden, mit dem Titel „Epictetus et Cebes cum Simplicio et Arriano Wolfii. Coloniae 1595“ eingetragen. Das abgebildete Büchlein kann gewiß auf „my little Colon-Edition“ verweisen. Hieronymus Wolfs Ausgabe versammelt eine Reihe stoischer Schriften, die den Earl zeitlebens beschäftigt haben: Epiktets Encheiridion, die Diatriben (Arrian) und Sätze aus Stobaios’ Anthologie; Simplikios’ neuplatonischen Epiktetkommentar; die Bildtafel des Kebes und Prodikos’ Urteil des Herkules aus Xenophons Memorabilia. Shaftesbury hat in dieser Ausgabe die Schriften Epiktets mit Anmerkungen versehen. Selbst für seine winzige Schrift boten die Seitenränder zu wenig Platz, und so begann er um 1705, jedenfalls vor März 1708 ein eigenes „Book of Notes not set down in the Margin of my little Colon-Edition.“3 Die Anmerkungen sind vielgestaltig. Neben philologischen Fragen, insbesondere dunklen Textstellen und Emendationsvorschlägen, finden sich Verweise auf Simplikios’ Kommentar und die vorliegenden lateinischen Übersetzungen. Indem Shaftesbury diskutiert, klärt er seine eigene Auffassung. Immer wieder behandelt er die Komposition der Diatriben, wie sie Arrian vorgelegt hat. Er zeigt die Entsprechungen und Kontraste der verschiedenen Kapitel eines Buchs und der vier Bücher im ganzen. Er will dadurch die Intention Arrians aufklären und dessen getreue Redaktion der mündlichen Lehre Epiktets nachweisen. Daneben finden sich biographische Angaben zu Epiktet, Arrian und selbst zu Hieronymus Wolf, ferner Erläuterungen zeitgenössischer Begebenheiten und Personen, die in den Diatriben genannt oder angespielt werden. Den größten Teil nimmt die Rekonstruktion der Redesituationen in den Diatriben ein. Der Earl macht sich ständig ohne Scheu vor ermüdender Wiederholung klar, zu wem und vor welchen Zuhörern Epiktet jeweils spricht und wie folglich Gegenstände, Stil und Tonfall wechseln. Für Shaftesbury, dem der Dialog die freie Form des Philosophierens bedeutet, sind die Diatriben gefrorene

3

Der Pergamentband befindet sich heute in The National Archives (Kew), Sign.: TNA: PRO 30/24/27/16. Der Titel steht auf S. 1; S. 3 und 6 findet sich die Datierung S G 1707/8. Die Colon-Edition ist nicht erhalten. Ich entnehme meine Angaben dem Exemplar der Universitätsbibliothek Erlangen.

Epiktet und Marc Aurel in der Philosophie Shaftesburys

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Gespräche, die es zu verflüssigen gilt.4 Zu welcher sozialen Klasse gehört der Adressat der Rede? Welchen Charakter hat er? Warum läßt er sich auf die Philosophie ein? Ist er ein mittelloser griechischer Student voller Wißbegierde, oder will er mit den Gegenständen und dem Quentchen Dialektik, die er hier aufschnappt, seinen Broterwerb finden? Aus welchen Gründen kommen „Men of Quality“, Vermögende, Höflinge? Weil es Mode ist, einen Philosophen zu hören? Bringen sie vornehme Skepsis oder epikureische Irrtümer mit? Sind es sophistische Streithähne, übereilige Freunde oder erfahrene Beamte, die sich nach einer Karriere in Hofdiensten der Einübung ins philosophische Leben widmen? Shaftesbury entwickelt ein ganzes Arsenal von entsprechenden Redeformen. Epiktet lehrt mild und verbindlich (civil and tender), dialektisch gegen Einwände (apologetick), affirmativ und entschieden (with manly Freedom and Boldness); er ermahnt (hortatory), weist zurück, streng und scharf bis zur Kränkung (expostulatory, rebuking, reprimanding) oder erläutert geduldig (patient and explanatory) usw. Welche Vorbilder bringt er ins Spiel außer den stoischen Schulhäuptern, Herakles und immer wieder Sokrates? Welche Beispiele zieht er heran, neben den Olympioniken, Diogenes, Seneca? Diese differenzierenden Untersuchungen werden durch mehrfache synoptische Arbeit aufgefangen: a) durch den schon im Innendeckel angekündigten Index5, b) durch die Überblicke zu Anfang eines jeden Kapitels (leading note), c) die eingestreuten Resümees und d) insbesondere durch die Beobachtungen zu Arrians Komposition der vier Bücher. Eine fünfte Form der Zusammenschau findet sich in einem eigenen Heft (TNA: PRO 30-24-24-21). Sie ist ganz auf die Aneignung durchs Gedächtnis gemünzt. Shaftesbury verzeichnet – teils in Schönschrift, teils in eigenhändigen Ergänzungen – die „Titles of ye Chaptrs“ mit sprechenden Titeln und knappsten Inhaltsangaben. Zur Illustration sei das erste Buch wiedergegeben.

4 5

Vgl. Friedrich A. Uehlein, Chartae Socraticae. Lord Shaftesburys Pldoyer fr eine dialogische Literatur, in: Mimesis – Reprsentation – Imagination, hg. von Jörg Schönert und Ulrike Zeuch, Berlin – New York 2004, S. 215 – 229. Ein eigenhändiger Index zum T e x t der Diatriben (Index Aqq.) im Nachlaß unter TNA: PRO 30/24/25/21 (1).

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I

The Leader

II

The great Estimate

III IV V VI

The The The The

VII VIII IX

The Logician (1st) The Schollar The Patriot

X XI

The Anti Courtier The Weaner

XII

The Composer

XIII XIV

The Fable

XV XVI XVII

The Supervisor The Councillor The Creator

XVIII XIX XX XXI XXII XXIII XXIV XXV

The Logician (2nd) The Placable The Anti Tyrant (1) The Touch-Stone The Curb or Antidote The Pregnant The little Anti Epicurean (1st) The Combatant

little Estimate Proficient Anti Sceptick (I) Theory

XXVI The Dictator XXVII The Disciple or Apologist. 1. XXVIII The Auxiliary or Anti-Sceptick (2) XXIX

The Humane

XXX

Anti-Tyrant (2) The Dismissor

of Science, Distribution, and Partition. of Self Valluation, Character, Worth. of ye Same. Fals one, & True. of Providence (1rst) and of the necessary Consequences from a real Sence of itt. of ye use of Logicks. of ye Same. of Providence (2nd) and of a higher Country. ye less. of … Fondness and impotent affection. of Providence (3rd) & of Equenimity and Divine Conformity. of Decent Eating. of Providence (4th) and of ye inward Dailom of Philosophy. of Providence (5th) and of Praise. of ye Necessity, Logick & a Measure. against Anger.

of Principles (1.) of Victory & Peace. of Superiority & Command, Seriousness & Play. of Method & Caution. against ye Specters and Pyrrhonism agt Delusion. of Generouse and mean Pitty & of ye turn of Human affairs. of Steddyness, Adherance, Secrecy.

Um diese zentralen Arbeiten am Epiktet ranken sich eine Reihe von Exzerpten. Es mögen einzelne Blätter sein – zumindest sind sie so auf

Epiktet und Marc Aurel in der Philosophie Shaftesburys

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uns gekommen – oder kürzere Texte in Übersetzung6 oder die umfängliche, Excerpta überschriebene Sammlung (TNA: PRO 30/24/27/ 12). Sie enthält neben Auszügen aus Maximos von Tyros, Isokrates und vor allem aus dem platonischen Großen Alkibiades (nebst Menon, Phaidros und Symposion), Zitate aus Mark Aurel, Musonius und acht Stellen aus Epiktet, ferner den Schluß von Simplikios’ Kommentar. Unter den Titeln Umgang mit den Menschen, die einem begegnen und Bei sich selber sein folgen am Ende noch acht praktische Lebensregeln aus Epiktet. Die Liste der Exzerpte ließe sich verlängern. Ein letztes Beispiel sei genannt, da es den Horizont angibt, in dem Shaftesbury Epiktet liest. In eine Ausgabe von Mark Aurels T± eQr 2autºm trägt er auf den ersten sieben leeren Seiten unter dem Titel Syjq²tija sechs Auszüge aus den Memorabilien des Xenophon ein, gefolgt von neun Zitaten aus Platon (Apologie, Politeia, Nomoi, Epinomis, Phaidon). Auf den letzten sechs Seiten stehen elf Epiktetzitate, die teilweise im „Book of Notes“ wie in den Askemata, seiner ‘stoischen’ Hauptschrift, wieder begegnen. Die ausgezogenen Stellen sind relativ umfänglich. Der Horizont, der Xenophon, Mark Aurel, Epiktet und eine bestimmte Seite der platonischen Philosophie umfaßt, ist die „Socratick Philosophie“.7 Shaftesburys „Book of Notes“, samt all seinen Ablegern, ist ein Arbeitsbuch, Zeugnis einer fortdauernden Auseinandersetzung mit einem in manchen Zügen wahlverwandten Autor. In den zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften, den Characteristicks und (zwei Abhandlungen aus den) Second Characters, kommt diese Nähe nicht zur Erscheinung. Nur ein Splitter der Epiktetstudien trat ans Licht der Öffentlichkeit. John Upton, der Herausgeber Epiktets, erhielt von James Harris neben annotierten alten Drucken auch die Anmerkungen Shaftesburys. In seinem lateinischen Vorwort bedankt sich Upton für diese Gaben und 6 7

Beispielsweise Hampshire Record Office, Winchester, Sign.: 9M73 G268, aus dem Nachlaß von Shaftesburys Neffe James Harris. Die Provenienz des Buches (Bodleiana, Oxford, Sign.: DON. F. 532): James Harris, Shaftesburys Neffe, ein Kenner und Vertreter der antiken Philosophie, Philologe, Musiker und zusammen mit Shaftesburys Sohn, dem vierten Earl, ein enger Freund Händels, hat die Ausgabe 1737 von Shaftesburys Witwe erhalten. (E Libris Viri Honoratissimi Anton: Comitis Shaftesburiensis. Dono dedit Jacobo Harris nobilissima defuncti Vidua, A. D. 1737. Quae sequuntur omnia Ipso Comiti propriâ Scripsit manu. Rara Titulorum et Literarum Concordia.) Aus dem Nachlaß von Edgar Wind gelangte es in den Besitz der Bodleiana. (Presented to the Library Through the Friends of the Bodleian by Mrs. E. Wind in memory of the late Professor E. Wind.)

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die sachkundige Hilfe. Von seinem „durch Geburt und Bildung wahrhaft adeligen Onkel“ schreibt er: „Der Earl of Shaftesbury, mit griechischen und lateinischen Schriften aufs beste vertraut, war sich nicht zu gut, sein Bemühen auf diesen der Textkritik bedürftigen Autor zu wenden, und seine konzisen Marginalien erfüllen sogar an den dunkelsten Stellen den Inhalt mit Licht.“8 Upton verzeichnet an die hundert Scholien des „Com. Shaft.“. Im Kommentar verborgen (und aufbewahrt) hat sich dieser Splitter von Shaftesburys Arbeit am Epiktet bis in die Ausgabe von Heinrich Schenkl (1894, ed. min. 1898 et maior 1916) erhalten. Auch von der Tabula Cebetis des vermeintlichen Sokratesschülers Kebes, die in „my little Colon-Edition“ enthalten ist, besaß der Earl zahlreiche Ausgaben. (Im Katalog von 1709 zähle ich neun Ausgaben und die Übersetzungen, von John Davies London 1670, und Agostino Mascardi, Venedig 1638). Aber es läßt sich kein eindeutiger Lieblingstext ausmachen. Das Gemälde, P¸man – so der Text – hängt im heiligen Bezirk eines Kronostempels. Ein alter Mann erklärt einigen fremden Besuchern auf ihre Fragen hin im Gespräch die dargestellten Lebenswege der Menschen zum Glück oder Verderben. Shaftesbury hat das enigmatische Bild als „stoical truly Socratick Dºcla“ gelesen.9 Als er an den Chartae Socraticae arbeitet – einer Darstellung des Lebens und der Lehre des Sokrates aus den antiken Quellen – kommt er immer wieder auf die Bildtafel zu sprechen. Er fragt sich, ob er sie ganz oder in Auszügen aufnehmen solle,10 oder ob sie nicht nach der Schilderung des Todes im Phaidon einzufügen wäre, sei doch „Kebes der einzige Sokratiker, der nach unseren Beiden [Xenophon und Platon] bleibt“.11 Er hat den Satz wieder gestrichen. Die bedeutendste Rolle hätte die Tabula Cebetis in den Second Characters gespielt, wenn Shaftesbury diese Schrift 8 Epicteti quae supersunt Dissertationes ab Arriano qollectae nec non Enchiridion et fragmenta Graece et Latine in fine adjectis. Recensuit notisque illustravit Joannes Uptonus, London 1739, . Zu James Harris’ Mitarbeit an der Ausgabe vgl. Clive T. Probyn, The Sociable Humanist. The Life and Works of James Harris (1709 – 1780), Oxford 1991, p. 70 f. Teile ihres Briefwechsels in: Music and Theatre in Handel’s World. The Family Papers of James Harris (1732 – 1780), hg. von Donald Burrows and Rosemary Dunhill, Oxford 2002. 9 Plasticks SE I 5, 172. 10 SE II 5, 142. 11 SE II 5, 45; vgl. auch 46; 275 und 276.

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über die bildenden Künste hätte fertigstellen können. Zu den beiden vollendeten Abhandlungen, A Letter Concerning Design und The Judgment of Hercules, und vor Plasticks, die als eindrucksvolles Ideenparadies zu Fragen der bildenden Kunst erhalten sind, hätte als dritter Traktat ein Appendix concerning the Emblem of Cebes treten sollen. Sein Gegenstand sollte „die emblematische und enigmatische Kunst“ sein, die zwischen Sprache und selbständiger Mimesis stehend, „Empfindungen, Vorstellungen und Bedeutungen vermittelt“.12 Als (hilfloser) Stellvertreter des nur in einem Entwurf angespielten Appendix wurde in der Standard Edition der Second Characters eine handschriftlich überlieferte Übersetzung der Bildtafel engefügt.13 Cebetis Tabula hat Shaftesbury von früh auf bis in sein letztes Lebensjahr beschäftigt. Noch am 25. Juni 1712 bittet er Pierre Coste, er solle nach guten Ausgaben, Kommentaren und nach Kupferstichen „annex’d to […] that inestimable little Piece“ Umschau halten.14 Seine Faszination hat er in der Charakterisierung „stoical truly Socratick“ prägnant formuliert. Sie bezeichnet auch das Kriterium, mit dem er das weite Feld der stoischen Tradition unterscheidet und sich aneignet. Selbst Horaz, den Lieblingsdichter, will er mit dieser Unterscheidung fassen. In zwei langen Briefen (1. Oktober und 15. November 1706) legt er, ausgehend von André Daciers ‘epikureischem’ Horaz, Pierre Coste seine Auffassung dar.15 „Meiner Ansicht nach hat uns Horaz sein Leben in seinen Schriften, besonders aber in seinen Fabeln deutlich und mit Absicht überliefert. Und ich mache mich anheischig, durch diese Mythologie Ihnen seine Geschichte, Chronologie, Philosophie, Theologie, Lebensumstände und sein Geschick zu enthüllen.“ Er findet drei Hauptperioden. Die erste ist bestimmt von „seiner ursprünglichen, freien, republikanischen Verfassung“. Sein Freund ist Brutus, er befehligt eine 12 SE I 5, 169; 214 – 216. Zu dieser geplanten Abhandlung vgl. Isabella Woldt, Architektonik der Formen in Shaflesburys ,Second Characters‘, München / Berlin 2004, S. 85 – 93; 227 – 255.. 13 SE I 5, 461 – 477. Die Übersetzung liegt in zwei, bis auf die Anmerkungen gleichen Fassungen vor: TNA: Pro 30/24/27/27 und Hampshire Record Office M73 G268. 14 SE I 5, 385. 15 Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury (1671 – 1713) and ‘Le Refuge FranÅais’Correspondence, hg. von Rex A. Barrell, Lewiston/Lampeter/Queenston 1989. Die folgenden Zitate stehen auf S. 163 f. Daß diese ausgewachsenen Episteln mehr als nur Gelegenheitsbriefe sind, macht die Überlieferung klar. Beide liegen auch in sorgfältigen Schönschriften vor, die auf weitere Verwendung hinweisen.

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Heeresabteilung etc. Seine Philosophie ist die der „alten echten Akademie“ und der alten Republikaner, Cato, Laelius, Scipio, Rutilius. Der Unterscheidung halber nenne er diese Philosophie „the Socratic, Civil or Social“. Er grenzt sie von den anderen herrschenden Denkungsarten der damaligen Zeit ab, von der demokritisch-epikureischen und der Sophistik, der Skepsis und der Neuen Akademie. Nach dem Untergang der republikanischen Sache habe Horaz das Leben eines verderbten, knechtischen Höflings geführt („his Debauched, Slavish, Courtly State“). Aber auch wenn man sie mit der Gabel ausraufe, die Natur kehre dennoch zurück (Horaz, Epist. 1,10,24), und so sei er in seiner dritten Periode umgekehrt und habe zu sich und seiner ersten Philosophie und ihren Prinzipien zurückgefunden („his Returning Recovering State, & his Recourse to his First Philosophy & Principles“). Shaftesbury gibt Coste eine detaillierte Leseliste und viele differenzierende Hinweise, die es erlauben, jene sehr formale Einteilung, wie er einräumt, Zug um Zug und mit vermittelnden Zwischenschritten ins einzelne zu verfolgen. Die sokratische Interpretation des Horaz hat ferner zu einer lateinisch verfaßten Affektenlehre geführt: Pathologia sive Explicatio Affectuum humanorum, secundum Doctrinam Socraticorum […] ad intellectionem Epistolarum & Sermonum aliquot Horatii (TNA: PRO 30/24/26/7). Das Urteil des Herkules, wie es Prodikos schildert, ist ebenfalls in Wolfs Colon-Edition enthalten. Shaftesbury hat an diese vorbildliche stoische Szene theoretische Überlegungen zum Historienbild geknüpft und sie zu einem detaillierten Bildentwurf ausgeführt.16 Die Ausführung berührt stoisches Denken allerdings nur gering. Sie folgt hauptsächlich der aristotelischen Poetik in Anwendung auf die Malerei. Im Kontrast zu den bisherigen Beispielen kommt in der ästhetischen Umsetzung stoischer Inhalte eine andere Denkungsart zum Vorschein. „In der Malerei verdient ein bestimmtes Werk nur dann den Namen Tableau [Tablature], wenn es tatsächlich ,ein einzelnes Stück ist, das in einer Sicht erfaßt und aus einem einzigen Begriff [Intelligence], Sinn und Entwurf geformt ist, und das aus der notwendigen Relation seiner Teile miteinander ein wirkliches Ganzes bildet, wie die Glieder eines natürlichen Leibes.’“17 Shaftesburys ganze Abhandlung zielt darauf, das eine Ereignis (Event) in seiner Bestimmtheit und Wahrscheinlichkeit (Probability) zur 16 SE I 5, 63 – 151; 301 – 397. 17 SE I 5, 74.

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Erscheinung zu bringen: „der junge Herkules hat sich an einen einsamen Ort zurückgezogen und besinnt sich und erwägt, welchen Lebensweg er wählen soll. Und hier sprechen (wie Prodikos berichtet) die beiden Göttinnen Tugend und Lust zu ihm.“18 Erstaunlicherweise reserviert Shaftesbury diesen Begriff vom ganzen und einen Werk und der bestimmten Erscheinung seines Gegenstandes nicht für das Historienbild und somit für den Menschen, der nach stoischer Lehre als einziges Wesen seinen Zweck in sich selbst hat. Auch der Blumen- und Tiermaler müsse so verfahren und nur dann könne man sein Werk als „Composition, or real Piece“ bezeichnen. In jedem Werk der bildenden Kunst, das die Natur nachahmt – selbst wenn Kühe oder ein Hahn gemalt würden – entspricht etwas der Historia: „Die Kennzeichnung oder der Charakter der Natur. Die Form, der natürliche Habitus, die Verfassung, der Begriff des Dings, seine Wirklichkeit, seine spezifische Leistung, sein Ort, sein Zweck oder seine Wirkung in der Natur“. Und mit weiterer begrifflicher Zuspitzung: „Ja, die Charakterisierung, die Wahrheit, das Historische ist letztlich alles, & das t¹ vusijºm, das t¹ … [?pq´pom, pihamºm], das Ding als nachgeahmtes, das Ding als spezifiziertes (dadurch daß es auf seine wahre Form & spezifische Seinsweise zurückgeführt wird), das ist alles, das ganze Entzücken und Vergnügen des Werks, der geheime Zauber des Anblicks.“19 Das, was das Ereignis (das Urteil des Herkules), diesen bestimmten Menschen („Sic, Crito, est Hic!“) und – hier im Beispiel – die Kuh und den Hahn – zu dem macht, was ein jedes ist und von jedem anderen unterscheidet, gilt es zu malen. Es ist das immanente Eidos eines jeden. Im Herkulesbild und somit im stoischen Gedankenkreis hat sich Shaftesbury von der stoischen Denkungsart entfernt, die alles, was ist, zum einen auf den Weltlogos und zum anderen auf den Menschen bezieht. In beiden Bezügen geht die je eigene Bestimmtheit, die Wirklichkeit und eigene Leistung, die wahre Form und spezifische 18 SE I 5, 76. 19 Plasticks SE I 5, 182: „The Note or Character of Nature. The Form natural Habit, Constitution, Reason of the Thing, its Energy Operation, Place, Use or Effect in Nature“. 183: „The Characteristick still, The Truth the Historick is all in all, & the t¹ vusijºm, the t¹ … the Thing imitated, the Thing specify’d (reduc’d to its true Form & Species) is all in all, the whole Delight & Pleasure of the Work, the secret Charm of the Spectacle.“ Shaftesburys ständiger Gebrauch von Character, Characteristick(s) ist in diesem prägnanten Sinne zu verstehen.

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Seinsweise der Dinge unter. Hier, in der Malerei, gilt es sie zur Erscheinung zu bringen, soll es Kunst als Nachahmung geben. „Stoical truly Socratick“ lautet das Kriterium, nach dem Shaftesbury das weite Feld der stoischen Tradition unterscheidet und sich aneignet. Dies gilt nicht zuletzt für die ûAsj¶lata. Sie wurden hauptsächlich während des Rückzugs aus dem öffentlichen, politischen Leben nach Holland ( Juli 1698 – Mai 1699), im darauffolgenden Jahr in England und dann wieder während des zweiten Hollandaufenthalts (August 1703 – August 1704) niedergeschrieben. Der Earl hat sie offensichtlich mit sich geführt, wie Eintragungen aus den folgenden Jahren zeigen. Die letzte ist datiert „Naples. Ap. 1712“. Keine philologische Arbeit, keine Analysen und Synopsen oder Merkworte fürs Gedächtnis, vielmehr die Anwendung der stoischen, wahrhaft sokratischen Dºclata auf das eigene Leben. In der dritten Abhandlung der Characteristicks, mit dem Titel Soliloquy, zeigt Shaftesbury, wie notwendig es ist, daß eine Person in sich selbst zurückgehe und mit sich selber spreche. In diesem „intimate Receß“ entdecken wir eine Duplizität der Seele, wir unterscheiden uns in uns selbst in zwei Parteien, werden Schüler und Lehrer, Patient und Arzt.20 Die ûAsj¶lata sind das Dokument solcher Selbstunterscheidung. Im Gespräch mit sich selbst sprechen Mark Aurel und Epiktet mit, ja sie übernehmen zuweilen die Führung. Fragen und Frageketten prägen die Redeform. Das eigene Denken, Empfinden, die Vorstellungen, Meinungen und Haltungen, das Sprechen und Handeln werden erforscht und geprüft vor dem Forum gültiger, verlorener, wiedergefundener und nie genügend geübter Einsichten. Daher der sprechende Titel ûAsj¶lata, Übungen zur Einübung in ein von der Philosophie bestimmtes Leben.21 Träume. Träume … eine dunkle Nacht. tiefster Schlaf. Aufschrecken. beunruhigende Gesichte. matte Versuche aufzuwachen. … eine kranke Vernunft. Labyrinth. Wald. Meer. …Tosende Wellen. Wogen. Sturzsee. das forttreibende Wrack… Schwindelerregende Wirbelwinde. Strudel und der verschlingende Wasserschlund. Wie auftauchen? Wann anlegen im Hafen, am Stützpunkt, an der Landspitze? … B d³ 6stgje, ja· peq· aqtµm joil¸fetai t± vkecl¶mamta toO vdator. [sie aber steht, und um sie herum beruhigen sich die tobenden Wasser (Mark Aurel 4,49)]. 20 SE I 1, 60; 42; 46. 21 Zur Form und Tradition solcher Écriture de soi vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige bungen in der Antike, Berlin 1991. Originalausgabe: Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 1981 u. ö.

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Wach’ auf. Raff’ dich auf. Schüttle die Fesseln der Zauberin ab. Fang’ an. Wieder zurückgezogen bei dir selbst. Sieh doch, was die Vorsehung dir gewährt hat! Erneut steht es in deiner Macht, gerettet zu werden; dich selbst zu erretten; dich selber aus dieser Senkgrube, diesem Bodensatz, diesem Maskenspiel einer Welt zur Männlichkeit, zur Vernunft und einem natürlichen Leben zu erheben; wieder auf die Bühne zu treten als handelnde Person, nicht als Maschine: vielmehr teilzunehmen an der Aufführung, der Einrichtung und Leitung als einer, der den Autor des Stückes kennt und um dessen Plan weiß; Zuschauer, Gast, Freund zu sein; und in derselben Freundschaft abzutreten und dem zu danken, der geladen hat. … Ach, aber diese Träume! dieser Schlaf! … Nichts mehr davon. Stirb vollends du Elender: nicht so … Der andere Tod schadet nicht. Aber wie viele Tode in einem solchen Leben wie diesem? Was sonst denn wäre tödlich? was sonst sollte entsetzen oder beunruhigen? ûAm²mgve, ja· !majakoO seaut¹m ja· 1nupmishe·r p²kim ja· 1mmo¶sar, fti emeiqo¸ soi Am¾wkoum, p²kim 1cqgcoq½r bk´pe taOta, ¢r 1je?ma 5bkeper. [Werde wieder nüchtern und ruf’ dich zurück, und wenn du vom Schlaf wieder frei bist und erkannt hast, daß Träume dich bedrängten, so durchschau’ auch wiederum im Wachen diese bedrängenden Dinge, wie du jene Träume durchschautest. (Mark Aurel 6,31)]. Ein klein wenig noch und diese, nicht jene, wären die Trume gewesen: die bloßen Träume hätten die Oberhand gewonnen: und du wärest nicht mehr erwacht. denn sieh’ doch! wie schwer von diesem Schlaf loszukommen ! was für ein langer und tiefer Schlaf es gewesen ist! wie hat er dir die wahrsten und klarsten wachen Gedanken geraubt! wie haben seine trügerischen Gesichte, Schwärmereien und falschen Bilder jene wahren verdrängt und dich um jene glückliche Anschauung, jenen seligen Anblick und Enthusiasmus ohne Trug gebracht! Wende deine Augen nach innen, sieh, wie es dort steht, im Innern wie arm! wie verwüstet, verheert! … Wie kahl hat dieser Winter dich zurückgelassen! diese versehrenden Jahreszeiten, diese rauhen Landstriche, für die du jene anderen glücklichen dir ausreden ließest, jene heilende Sonne und jenen ewigen Frühling, jene Inseln [Mark Aurel 10,8,5] und jene Burg [Mark Aurel 8,48,3]. Was ist aus dir geworden, jetzt, wo du wieder auf See bist und deinen Hafen verlassen hast? wie erscheint dir das Land? wenn du noch Land ausmachen kannst. wie schwach und trüb ist alles! Was für Proviant und Nachschub an Ideen, für jeden Fall? Was für ein Lotse, Steuer, Kompaß? Welche Wq/sir vamtasi_m [Verwendung der Vorstellungen], Umwandlung, Kunst und Verfügungsgewalt? wie mittellos! wie hilflos! 22 22 Der Text liegt bisher in einer verdienstvollen aber unvollständigen, modernisierten Fassung vor: The Life, Unpublished Letters and Philosophical Regimen of Anthony, Earl of Shaftesbury, hg. von Benjamin Rand, London & New York 1900. Eine kritische Ausgabe, mit den Vorstufen, den Texten aus dem Umkreis und einer deutschen Übersetzung erscheint demnächst als Band II 6 und 7 in

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Die Einträge stehen unter vertrauten stoischen Sachtiteln, beispielsweise Natural Affection; Deity; The End [Ziel und Zweck]; Human affaires; Ideas Visa [Vorstellungen], g£pºkgxir[die Meinung]; Pqok¶xeir [die unumgänglichen Vorbegriffe]; Pqojop¶ [Gedeihen, Fortschritt]; Pqosow¶ [Aufmerksamkeit]; Syl²tiom [der arme elende Leib]; Self [unterteilt in natural und artificial Self, das in der Lebenskunst erworbene Ich, das economical Self]; Nature; Providence; Pleasure & Pain; Passions etc. Der zitierte Eintrag gehört zur Sachgruppe Self. Ein kurzer Gedankenzug aus diesem zentralen Thema soll die Beschreibung des seltsamen Buchs ergänzen. Ziel und Zweck des Menschen ist die menschliche Gemeinschaft, beginnend von den Nächsten, den Freunden, dem jeweiligen Gemeinwesen, bis zur Gesellschaft und Öffentlichkeit (the Publick), dem Staat und schließlich zur Menschheit: „The End & Design of Nature in Man is Society“ (32, Rand 49). Die tätige Durchführung dieser Wesensbestimmung gerät in bitteren Widerspruch mit der Bildung und Bewahrung der eigenen Integrität, des eigenen Selbst als eines moralischen Charakters. Seit seiner parlamentarischen Tätigkeit (21. Mai 1695 – Juli 1698 Member of Parliament; 1699 – 1700 House of Lords) erfährt Shaftesbury diesen Widerspruch aufs heftigste. Im holländischen Refugium versucht er die Erfahrung philosophisch zu bewältigen. Entschließe dich also, nie dich selbst zu vergessen. […] sammle dich selbst ganz in dir selbst. Sei ein unversehrter und ein und derselbe Mensch: und geh’ nicht ins Fremde hinaus, so daß du das Ziel aus dem Auge verlierst. […] Aber wenn ich es ganz und gar nicht leiden will, aus mir hinauszugehen, wie soll ich dann bereitwillig und da es mich angeht in der Öffentlichkeit oder für einen Freund handeln? – Wenn es eine Aufgabe ist, die mit der Erhaltung eines Charakters nicht zusammenstimmt, dann darf sie gar nicht unternommen werden [63, Rand 112]. Aber wenn ich nicht mit Zuneigung und mit Wärme auf das, was sie angeht, eingehe, wenn ich nicht fühle, daß ich zu einem gewissen Grad davon beseelt bin, mit welcher Wirkung kann ich dann sprechen und handeln, in welcher Weise ihnen beistehen, ratend, tadelnd, empfehlend und mahnend, denn ohne berührt und zu einem gewissen Grad bewegt zu sein, kann nichts davon in schöner angebrachter Weise getan werden, noch darf es unternommen werden. – Wahr. Jetzt ist es noch nicht an der Zeit, laß’ es für später, wenn die Sachen drinnen besser eingerichtet und die richtigen Haltungen erstarkt sind. Gegenwärtig steht nicht zur Frage, ob sie gut sein sollen, sondern ob du selbst einen Wert hast oder nicht [65, Rand 115]. der Standard Edition. Ich zitiere nach der Handschrift und verweise auf Rands Ausgabe; hier: 194 – 196, Rand 124 f.

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Eine Lösung des Konflikts zwischen Selbstbewahrung und Selbstverwirklichung in der Welt („The End & Design of Nature in Man is Society“) scheint sich abzuzeichnen. Wenn es gelänge, die richtigen Haltungen auszuprägen, in rechter Weise zu fühlen, zu begehren und sich zu engagieren, dann könnten sie zusammenstimmen. In den Characteristicks wird die Kultivierung der Gemütskräfte und ihrer Neigungen und leidenschaftlichen Bewegungen (Passions) zum zentralen Anliegen. Hier, an dieser Stelle in den Askemata, bleiben sie im Zwielicht des Konflikts. Bleibe also, bis du dies in anderer Weise fühlen kannst. Denn dies ist kein echtes soziales Fühlen. Dies ist nicht Freundschaft: dieselbe Gemütsbewegung, die jetzt so erwärmt, dieselbe kühlt bald wieder ab; und dieselbe, die aufsteigt, muß sinken. So wechseln jene Leidenschaften; und du weißt es genau [65, Rand 115].

Ohne die Gemütskräfte läßt sich nicht sozial handeln. Das sittliche Prinzip (Hegemonikon), das der Handelnde in sich weiß und nach dem er sich – als sein eigener Gesetzgeber [72, Rand 116] – bestimmt, bedarf der Sorge (Concern) und des belebenden, wärmenden sympathetischen Engagements. Und gerade diese Gemütsbewegungen drohen umzuschlagen und den Selbstbestimmten aus sich hinauszubringen. Was ist das, ein Freund sein? Wie ist es möglich, unter diesen Bedingungen, Freund und Liebhaber der Menschheit zu sein? Wie, ein Bruder, wie, ein Vater und jener „allgemeine Vater der Menschen“? Wie, ein Geleiter und kein Quälgeist und Tyrann der Kinder? Aber dies soll nicht mehr sein. Und damit du nie mehr zu diesen glühend heißen und ungestümen Leidenschaften zurückkehrst: wisse die Bestimmung und das Gesetz, wie schrecklich es auch scheinen mag: An nichts Freude empfinden Nichts mit Zuneigung tun Von nichts Gutes erwarten Für nichts sich engagieren erinnere dich, „daß du unbesiegbar sein kannst, wenn du dich nie in einen Kampf einläßt, in dem der Sieg nicht in deiner Verfügung steht“ (Encheiridion 19) [177, Rand 144 f.].

Der Konflikt ist nicht gelöst, sondern rigoros entschieden. Die anfängliche Frage „Aber wenn ich es ganz und gar nicht leiden will, aus mir hinauszugehen“ ist nur verdrängt. Vom Siegen ist die Rede, und es sollte doch vom Zusammenstimmen die Rede sein. Wer siegt? Die Selbstbehauptung und das harte Herz.

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In Shaftesburys moralphilosophischer Hauptschrift An Inquiry concerning Virtue, or Merit wird dagegen in vielen Variationen der Grundsatz wiederholt: „Mag einer im Einzelnen noch so gut handeln, wenn es im Grunde die Selbstliebe (self affection; Passion towards Self-Good) allein ist, die ihn bewegt, dann ist er in sich selbst lasterhaft.“23 Shaftesbury – ein Stoiker? Seit dem ersten Erscheinen der Askemata im Jahre 1900 ist die Frage virulent. Der Herausgeber Benjamin Rand hat sie unmißverständlich beantwortet: „He is the greatest Stoic of modern times“, und er fordert eine erneute und kritische Untersuchung der Characteristicks vom stoischen Standpunkt aus.24 Eine solche Untersuchung stößt allerdings auf harte Gegensätze. Sie kann hier nicht geführt werden. An ihrer Stelle mögen ein paar Hinweise auf Shaftesburys Wirkungsgeschichte genügen.25 Freunde und Gegner im 18. Jahrhundert haben Shaftesbury nicht für seinen Stoizismus gelobt oder gerügt und waren doch mit der neustoischen Tradition ihrer Zeit bestens vertraut. So bemängeln beispielsweise Bischof Warburton und Robert Skelton, daß Shaftesbury die menschliche Natur überschätze und vorgebe, sie bedürfe nicht der geoffenbarten Religion26 und nicht der Unterordnung unter den Willen Gottes.27 Dieses falsche Selbstgenügen („the self-sufficient scheme“) diagnostizieren sie aber nicht als stoische Selbstüberhebung, vielmehr als das von ihm propagierte Zusammenstimmen von natürlicher Vernunft, moral sense und den natürlichen Gemütsanlagen. Denis Diderot hat keinen stoischen Shaftesbury übersetzt und mit Reflexionen versehen.28 23 Inquiry, p. 25, SE II 2, 58 – 60. 24 Rand, Anm. 23, S. xii. Die Eckpunkte der Diskussion seien durch zwei Aufsätze markiert. Esther Tiffany, Shaftesbury as Stoic, in: Publications of the Modern Language Association 38, 1923, p. 642 – 684. Laurent Jaffro, Which Platonism for Which Modernity? A Note on Shaftesbury’s Socratic Sea-Cards, in: International Archives of the History of Ideas, vol. 196, 2007, p. 255 – 267. 25 Vgl. Friedrich A. Uehlein; Angelica Baum, Vilem Mudroch: Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, in: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, hg. von Helmut Holzhey und Vilem Mudroch, Basel 2004, S. 51 – 89, 163 – 168. Friedrich A. Uehlein, Kosmos und Subjektivitt, Lord Shaftesburys Philosophical Regimen, Freiburg-München 1976. 26 Robert Skelton, Ophiomaches, London 1749, II, p. 279 – 285; 304 ff., 318. 27 William Warburton, The Divine Legation of Moses Demonstrated, London 1738, I, p. xiv-xli. 28 Principes de la Philosophie Morale ou Essai de M. S***. Sur le Mrite et la Vertu. Avec Rflections, Amsterdam [richtig: Paris] 1745, Paris 21751.

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Was ihn einnimmt, ist vielmehr Shaftesburys „Order and Proportion, Ballance, Oeconomy“ der Empfindungsvermögen, Gemütsbewegungen und Leidenschaften, deren jede ihre spezifische Leistung ins Spiel bringt und mit dem sittlichen Urteilsvermögen und seinem inneren Bestimmungsgrund, der Liebe zum Guten, zusammenstimmt. Hätte Christoph Martin Wieland Stoisches in ihm finden können, wäre er kaum so oft auf ihn zurückgekommen.29 Wenn Leibniz, gegen seine Erwartung, in dem Dialog The Moralists „le Platonisme nouveau“ entdeckt, dann meint er Shaftesburys eigenes Philosophieren, einen unerwarteten neuen Platonismus im Umkreis John Lockes.30 Überhaupt ist die Wirkungsgeschichte Shaftesburys nicht an einer philosophiehistorischen Einordnung interessiert, sondern am Eigenartigen seines Denkens und Schreibens, an die man das eigene Denken anschließen kann. Das gilt von Francis Hutchesons Weiterführung Shaftesburyscher Gedanken, von ihren Spuren bei Joseph Butler, George Berkeley, David Hume und Richard Price bis zur pointiert geschichtlich argumentierenden Moralphilosophie, beispielsweise James Martineaus Types of Ethical Theory und Isabel Rivers großer Darstellung Reason, Grace, and Sentiment. A study of the language of religion and ethics in England (1660 – 1750). Den zweiten Band (Cambridge 2000) hat sie Shaftesbury to Hume überschrieben. Diese Epoche endet mit der skeptischen, zugleich aber positiven praktischen Philosophie aus den benevolenten Gemütsanlagen; sie beginnt keineswegs mit einer neuen Stoa. Martineau hat Shaftesbury als den Protagonisten einer ästhetischen Ethik dargestellt.31 Dieses Verständnis ergibt sich direkt und zwanglos aus den Characteristicks. Immanuel Hermann Fichte hat es 1850 folgendermaßen zusammengefaßt: „Tugend ist aber zugleich Lebensharmonie, moralische Schçnheit, und es gibt eine sittliche Lebenskunst und Virtuosität des schönen Handelns, welche in stetem Ebenmaasse sich erhaltend erst die ganze Reife des „moralischen Geschmacks“ (taste) bewährt. Dieser sittliche Takt verhält sich gerade also zu jenem ursprünglichen moralischen 29 Als Beispiel sei nur die Horazübersetzung genannt. Mit Shaftesburys stoischem Horaz hätte er gewiß nicht viel anzufangen gewußt. Goethes Nachruf zeigt in aller Kürze, wie Wieland und er selbst Shaftesbury verstanden haben: Zum brderlichen Andenken Wielands (1813), Ausgabe letzter Hand, Bd. 33, S. 231 – 266. 30 Gottfried Wilhelm Leibniz, Jugements sur les Œuvres de Mr. Le Comte de Shaftesbury (1712), in: Philosophische Schriften, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. III, Berlin 1887, S. 423 – 431. 31 Types of Ethical Theory, vol. II: Aesthetic Ethics, ch. I Shaftesbury. Oxford 1901.

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Sinne, wie der ausgebildete sthetische Geschmack des Kunstkenners zu dem natürlichen Gefühle für das Schöne und Häßliche.“ Und nachdem er zuvor Shaftesburys Verbindung zu Platon, zur moralischen Selbstgesetzgebung der Stoa und zur aristotelischen Auffassung der Tugend als eines Mittleren betont hat, fährt er fort: „Man sieht, daß dieser vortreffliche Schriftsteller Alles berührt hat, was Gutes und Tiefes in der Moral gedacht worden ist.“32 Die Kenntnis der Askemata gewährt darüber hinaus eine tiefere Sicht. Man erkennt, in welchen Konflikten An Inquiry und The Moralists entstanden sind. Der erste Teil der Askemata (1698/99) wurde zeitgleich mit der ersten Fassung der Inquiry (1699) notiert, der zweite zeitgleich mit der Urfassung der Moralists (1704).33 Die Wirkungsgeschichte Shaftesburys im Felde der Ethik, der Ästhetik, der Kunst-, Religions- und Gesellschaftskritik ist reich und, wie die gegenwärtige Forschungslage zeigt, nicht zuende. Trotz der anhaltenden Auseinandersetzung mit der Stoa und weitreichender Aneignung, wie sie dieser Beitrag dokumentiert, können die Characteristicks nicht stoisch gelesen werden. Der Zwiespalt bleibt. Benjamin Rand hat gefordert, die Characteristicks von den Askemata her zu lesen. Nicht weniger nötig ist die Lektüre der Askemata im Lichte der von Shaftesbury veröffentlichten Characteristicks und Second Characters.

32 Die philosophische Lehre von Recht, Staat und Sitte in Deutschland, Frankreich und England, Leipzig 1850, S. 820. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode , Tübingen 21965, S. 21 – 27, 33 – 37. 33 SE II 2 (An Inquiry) und II 1 (The Moralists) gibt die Fassungen im Paralleldruck wieder.

Der Einfluß der stoischen Philosophie auf die Grundlagen der modernen Wirtschaftstheorie bei Adam Smith von Sabine Föllinger Mit der Wirtschaftstheorie der Moderne ist der Name Adam Smith untrennbar verbunden. Er gilt als Begründer der Freien Marktwirtschaft. Während diese Tatsache jedem Schulkind vertraut sein dürfte, ist weniger bekannt, daß sein ökonomisches Denken von der stoischen Philosophie beeinflußt ist. Denn erst in den letzten Jahren hat man begonnen, die antiken Wurzeln von Smiths Wirtschaftstheorie systematischer zu untersuchen.1 Sie liegen in der stoischen Moralphilosophie, der Smith seine grundsätzliche Weltsicht verdankt.

Die Entstehung der Nationalökonomie im 18. Jahrhundert In der Antike existierte Ökonomie nicht als eigene Wissenschaft, auch wenn Aristoteles und andere Philosophen wirtschaftstheoretische Überlegungen anstellten. Vielmehr bildeten diese einen Teil der Philosophie. Aristoteles teilte das ökonomische Leben in drei Bereiche ein: in die téchne oikonomiké, die auf die Betriebseinheit Haus sich erstreckende Verwaltungskunst, in die téchne ktetiké, die Erwerbskunst, und in die téchne chrematistiké, die den Geldgewinn und die Geld1

Hier sind vor allem die Arbeiten von Torsten Kopp: Die Entdeckung der Nationalçkonomie in der schottischen Aufklrung – Natur- und sozialphilosophische Grundlagen der klassischen Wirtschaftslehre. Diss. St. Gallen 1995; Jirí Xerxes Kraus: Die Stoa und ihr Einfluß auf die Nationalçkonomie. Diss. St. Gallen 2000; Gloria Vivenza: Adam Smith and the Classics. Oxford 2001 (it. Original 1984) zu nennen. Während Vivenza bei Smith stoisches Gedankengut als ein ,klassisches Erbe‘ neben anderen Einflüssen ansieht (vgl. ebd., S. 185 – 190, und dies.: Ancora sullo stoicismo di Adam Smith, in: Studi Storici 49,1999, S. 97 – 126), mißt Kraus ihm einen hohen Stellenwert zu. Der Arbeit von Kraus folgt die vorliegende Abhandlung in vielen Punkten. Zu der Frage der Relation von stoischer Philosophie und Smiths Welt- und Menschenbild vgl. auch Arbogast Schmitt: Die Moderne und Platon. Stuttgart 2003, S. 426 – 441.

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vermehrung umfaßt. Da nach Aristoteles die Funktion von Eigentum im Gebrauchswert besteht und die Erwerbskunst für den Erwerb von für den Gebrauch bestimmten Gütern zuständig ist, bewertet er sie positiv. Denn damit, daß die Dinge gebraucht würden, existiere eine Satisfaktionsgrenze. Reichtum ist ein órganon, ein Werkzeug, für Individuum und Staat (Politik I 8. 1256b 26 ff.). Dagegen verurteilt Aristoteles einen Reichtum, der nicht an den Gebrauch gebunden ist, sondern der um seiner selbst willen aufgehäuft wird. Ja, für Aristoteles ist diese Chrematistik widernatürlich, weil sie dem Reichtum keinen anderen Zweck als seine eigene Vermehrung zuweist und dieser keine Grenze setzt (Politik I 9 – 11). Er unterscheidet vier Formen des Erwerbs. Während etwa der Bergbau auf der Grenze zwischen natürlichem und unnatürlichem Erwerb stehe, seien der Handel, die Lohnarbeit und der Wucher unnatürlich.2 Gleichwohl lehnt Aristoteles die Chrematistik nicht vollständig ab, da er die Notwendigkeit des Gelderwerbs für den Staat anerkennt (Politik I 11. 1259a 33 – 35). Für die praktischen Studien, die sich damit befassen, empfiehlt er sogar Bücher (Politik I 11. 1258b39 ff.). In Aristotelischer, vor allem durch Thomas von Aquin vermittelter Tradition übernahm die mittelalterliche Philosophie die Ablehnung des Gelderwerbs um des Gelderwerbs willen. Dabei lehrte man, in Anlehnung an die Aristotelische Wissenschaftseinteilung, Ökonomie als Teil der Praktischen Philosophie, zu der auch Ethik und Politik gehörten. Diese Einstellung änderte sich erst im 17. Jahrhundert: Die Ökonomie emanzipierte sich von der Ethik und begann, wirtschaftliche Prozesse wie Güterproduktion, Distribution und Märkte losgelöst von ethischen Problemen wie dem der Gerechtigkeit zu untersuchen.3 Das Ziel der Politischen Ökonomie bestand darin,4 Strategien zur Vermehrung des Staatsschatzes zu entwickeln. Mit der Verlagerung des ökonomischen Interesses auf die Frage, wie ein Staat reich werden kann, schlug die Geburtsstunde der Nationalökonomie. Adam Smith verfolgte 2 3 4

Vgl. Karl Schefold: Art. Wirtschaftlehre, in: Der Neue Pauly. Enzyklopdie der Antike. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15/3, Stuttgart/Leipzig 2003, Sp. 1149 – 1160, dort Sp. 1156. Vgl. Otto Brunner: Das „ganze Haus“ und die alteuropische „konomik“, in: Ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2., vermehrte Aufl., Göttingen 1956, S. 103 – 127. Zu den Ansätzen der Merkantilisten und Physiokraten vgl. Reiner Manstetten: Das Menschenbild der konomie: Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, Freiburg/München 2002, S. 39 f.

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auf den ersten Blick dasselbe Ziel wie seine merkantilistischen und physiokratischen Vorgänger, da er die Politische Ökonomie als „Zweig der Wissenschaft, die eine Lehre für den Staatsmann oder Gesetzgeber entwickeln will“, bezeichnet.5 Doch sein Ansatz zielt in eine andere Richtung. Denn war vorher die Ökonomie ein technisch-praktisches Wissen, das dem Landesherrn zur Vermehrung seiner Einkünfte dienen sollte, so sieht Smith das Ziel nicht mehr in der Mehrung des Staatsschatzes, sondern darin, der gesamten Bevölkerung ein reichliches Einkommen und einen verbesserten Lebensunterhalt zu sichern. Denn, so erläutert Manstetten unter Verweis auf Adam Smith selbst, die Ökonomie untersuche, „wodurch der einzelne in die Lage versetzt werden kann, beides (sc. reichliches Einkommen und Lebensunterhalt, d.V.) für sich selbst zu beschaffen.“6 Manstetten fährt fort: „Es ist nicht der wohlwollende Staatsmann, der der Bevölkerung durch seine planvollen Maßnahmen reichliches Einkommen verschafft, es sind vielmehr die Individuen selber, die für ihr Einkommen und ihren Lebensunterhalt sorgen und damit den Wohlstand des Staates fördern – wenn man sie läßt. Smith sieht also eine wesentliche Aufgabe der science of the statesman gerade darin, den Regenten zu zeigen, wie beschränkt ihre Kompetenz bezüglich der Wirtschaftssteuerung ist: Sie erreichen ihr Ziel am besten, wenn sie die Wirtschaft (innerhalb bestimmter, von Smith klar artikulierter) Grenzen sich selbst überlassen. Die Rolle des Staatsmannes für die Wirtschaft ist auch für Smith sehr bedeutsam. Sie besteht aber nicht so sehr darin etwas zu tun, sondern eher, etwas zu lassen. Der Staatsmann soll … die Individuen in den Stand versetzen, selber für sich zu sorgen. Mit diesem Gedanken will Smith die Freiheit der einzelnen, selber über wirtschaftliche Handlungen zu entscheiden, verstärken.“7 Smiths Ansicht, die grundlegend für die Wirtschaftsanschauungen der Moderne werden sollte, liegt ein Menschenbild zugrunde, das die stoische Moralphilosophie geprägt hat. Man kann also sagen, daß der 5

6 7

Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, hg. von R.H. Campbell; A.S. Skinner, Indianopolis 1981 (Künftig: WN), IV, Introduction; vgl. Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und ihrer Ursachen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung des Gesamtwerkes hg. von H.C. Recktenwald, München 102003 (11974) (Künftig: WdN), S. 347. Vgl. WN IV, Introduction = WdN, S. 347. Reiner Manstetten (wie Anm. 4), S. 39 f.

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Geburt der modernen Nationalökomonie ein Paradigmenwechsel von Aristoteles zur Stoa zugrundeliegt. Seine Kenntnisse der antiken Philosophie verdankte Adam Smith einer humanistischen Bildung.8 Denn er besuchte nach einer vierjährigen humanistischen Schulbildung im Alter von 14 Jahren das College von Glasgow, wo er bis 1740 blieb und die Fächer Latein, Griechisch, Mathematik und Moralphilosophie belegte. Dort atmete er die vom liberalen Denken geprägte Luft der Schottischen Aufklärung. Insbesondere übte Francis Hutcheson (1694 – 1746) einen entscheidenden Einfluß auf ihn aus. Alle diese Denker waren geprägt von der stoischen Moralphilosophie, was sich nicht zuletzt in der Grundanschauung zeigte, daß die Sittlichkeit mit der natürlichen Entfaltung des menschlichen Wesens zusammenfalle.9 Wegweisend war etwa Hugo Grotius (1583 – 1645) mit seiner von stoischer Vorstellung beeinflußten Ansicht, daß alle Menschen an einer gemeinsamen Vernunft partizipierten. Er übernahm die mit dieser Sicht verbundene Naturrechtsvorstellung und begründete mit ihr die Anschauung, daß es ein universelles und allen Rechten zugrunde liegendes Rechtssystem gebe: das Naturrecht. Auf diesem begründete er das Völkerrecht und darauf die Handelsfreiheit.10 Von 1740 – 46 studierte Smith in Oxford, mit besonderem Schwerpunkt auf den beiden klassischen Sprachen, was seine Belesenheit und umfassende klassische Bildung erklärt. 1748 wurde er Professor in Edingburgh, bevor er 1750 nach Glasgow berufen wurde. Dort bekam er zuerst einen Lehrstuhl für Logik und 1752 den Lehrstuhl für Moralphilosophie. Er hatte großen Zulauf und war bereits eine Berühmtheit, als er 1759 mit der Schrift The Theory of Moral Sentiments sein erstes größeres Werk veröffentlichte. 1790 kam die sechste, erstmals überarbeitete Auflage heraus, die die Grundlage der heutigen Editionen bildet.11

8 Zu Smiths Leben vgl. Ian S. Ross: The Life of Adam Smith, Oxford 1995. 9 Vgl. hierzu die Arbeit von Torsten Kopp (wie Anm. 1). 10 Eine ausführliche Darstellung hierzu findet sich bei Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 138 – 148. Vgl. auch Günter Abel: Stoizismus und frhe Neuzeit. Berlin 1978. 11 Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments, hg. von D.D. Raphael; A.L. Macfie, Oxford 1976. Repr. (künftig: TMS); Adam Smith: Theorie der ethischen Gefhle. Nach der Auflage letzter Hand übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen und Registern hrsg. von Walther Eckstein, Hamburg 2004 (Original 1926) (künftig: TdeG).

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Ab 1763 lebte Smith als Privatgelehrter in Schottland und London. Hier brachte er 1776 sein bekannteres und bedeutendstes Buch An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations heraus,12 an dem er wahrscheinlich 24 Jahre gearbeitet hat. In diesem Werk, das eine ,Bibel der Ökonomen‘ werden sollte, begründet Smith das Prinzip der Freien Marktwirtschaft auf dem egoistischen Streben des Individuums – einem Streben, das gleichzeitig dem Gemeinwohl dient. Die beiden Werke ergänzen sich gegenseitig, da Smith dem in An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations als Basis des individuellen Strebens und damit auch des staatlichen ökonomischen Wohlergehens vorgestellten egoistischen Streben des Menschen in dem früher erschienen Werk die soziale Seite des Menschen in Form seines Bildes eines ,unparteischen Zuschauers in der Brust des Menschen‘ gegenübergestellt hat.13 Es sind vor allem zwei der stoischen Moralphilosophie entstammende Anschauungen, die Smith’s Denken geprägt haben: daß die Welt von universal geltenden Naturgesetzen gelenkt wird, auf denen auch das Naturrecht gründet, und daß es eine naturgegebene menschliche Eigenliebe gibt.

Stoische Naturgesetzlichkeit und Smiths Auffassung vom ,Freien Markt‘ Im Mittelpunkt der stoischen Philosophie steht die Lehre vom Logos. Der Logos durchwaltet als geistiges Prinzip den Kosmos und bildet damit das Weltgesetz.14 Alle Menschen nehmen am Logos teil, da die einzelnen Naturen Teile der Gesamtnatur sind.15 Deswegen sind alle Menschen von Natur aus gleich und zum Leben in der Gemeinschaft

12 Die zweite Aufl. erschien 1778. Zu den Ausgaben vgl. Anm. 5. 13 Zu dem Verhältnis der beiden Werke vgl. Rainer Manstetten (wie Anm. 4). Mit Manstetten setzt sich Arbogast Schmitt (wie Anm. 1) auseinander. 14 Vgl. Cicero: De natura deorum (künftig: ND) I 39 f. 15 Stoicorum Veterum Fragmenta, ed Ioannes ab Arnim, 4 Bde., Stuttgart 1902 – 1904. Nachdruck Stuttgart 1964 (künftig: SVF) III 4: l´qg c²q eQsim aR Bl´teqai v¼seir t/r toO fkou. Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, Darmstadt 2 1995, S. 160 ff.

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bestimmt.16 Aufgrund der allgemeinen Teilhabe am Logos vermag der Mensch die Natur zu erkennen. Mit der Vorstellung, es gebe ein mit der Vernunft erfaßbares Weltgesetz, verbanden die Stoiker die Anschauung, es existiere ein natürliches Recht. Denn das Naturrecht basiert auf der allen gemeinsamen Vernunft. Diese Grundlegung läßt Cicero den Stoiker Laelius formulieren (De re publica – künftig: Rep. – III 27 (33)):17 Das wirkliche Gesetz ist die richtige Vernunft, steht im Einklang mit der (menschlichen) Natur, erfaßt alle Teile (der Welt), ist unwandelbar, immerwährend, und, indem es gebietet und verbietet, fordert es zur Pflichterfüllung auf und hält vom Verbrechen ab. Ebenso wie das Gesetz mit Geboten und Verboten bei rechtschaffenen Menschen ihre Wirkung erzielt, so verhallen dieselben Gesetze und Verbote bei schlechten Menschen. Dieses Gesetz zu übertreten, ist nicht statthaft, noch ist es erlaubt, dessen Gültigkeit irgendwie einzuschränken, noch darf es als ganzes missachtet werden. … Es wird weder ein Gesetz in Rom und ein anderes in Athen gelten, noch wird es ein Gesetz jetzt und ein anderes später geben, sondern ein (einziges) immerwährendes und unveränderliches Gesetz wird alle Völker zu jeder Zeit zusammenhalten … Wer ihm nicht gehorcht, flieht vor sich selbst und wird dadurch, daß er die menschliche Natur verleugnet, die härteste Strafe erleiden.18

Jeder Mensch vermag aufgrund seiner Disposition und in Übereinstimmung mit der für ihn geltenden Bestimmung, im Einklang mit der Natur und folglich mit dem Logos zu leben, das Naturrecht zu erkennen (Cicero: De legibus – künftig: Leg. – I 42):19 „Es gibt ein 16 Cicero: De finibus bonorum et malorum (künftig: Fin.) III 65: „nos ad coniunctionem congregationemque hominum et ad naturalem communitatem esse natos“. 17 „Est quidem vera lex recta ratio, naturae congruens, diffusa in omnis, constans, sempiterna, quae vocet ad officium iubendo, vetando a fraude deterreat, quae tamen neque probos frustra iubet aut vetat, nec improbos iubendo aut vetando movet. Huic legi nec obrogari fas est, neque derogari aliquid ex hac licet, neque tota abrogari potest. … nec erit alia lex Romae, alia Athenis, alia nunc, alia posthac, sed et omnes gentes et omni tempore una lex et sempiterna et immutabilis continebit, cui qui non parebit, ipse se fugiet, ac naturam hominis aspernatus hoc ipso luet maximas poenas, etiamsi cetera supplicia quae putantur effugerit.“ 18 Übersetzung von Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 38. Vgl. SVF III 308: v¼sei te t¹ d¸jaiom eWmai ja· lµ h´sei … ; Cicero: Fin. III 71; Cicero: De officiis (künftig: Off.) III 72: „ex quo intellegitur, quoniam iuris natura fons sit.“ 19 „Est enim unum ius, quo devincta est hominum societas, et quod lex constituit una, quae lex est recta ratio imperandi atque prohibendi. Quam qui ignorat, is est iniustus, sive est illa scripta uspiam sive nusquam.“

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(einziges) Recht, das die Gemeinschaft der Menschen verbindet und das durch ein (einziges) Gesetz bestimmt wird. Dieses Gesetz ist die richtige Vernunft beim Gebieten und Verbieten. Wer dieses Gesetz nicht kennt, mag es nun geschrieben sein oder nicht, der ist ungerecht.“20 Und Cicero fährt fort: „Folglich gibt es überhaupt keine Gerechtigkeit, wenn sie nicht von Natur aus vorhanden ist.“21 Auf die durch den Neustoizismus vermittelte Anschauung, es existiere eine allgemein Naturgesetzlichkeit und ein Naturrecht, baut der von Smith entwickelte Gedanke einer universalen ökonomischen Gesetzlichkeit auf. Er sieht eine den Naturgesetzen vergleichbare Gesetzlichkeit in der Ökonomik, die ,Markgesetze’, wirken. Sie garantieren eine Ordnung, die den Menschen nützt – doch nur dann, wenn man nicht in sie eingreift.22 Aus diesem Grunde ist Smith gegen jeglichen staatlichen Eingriff in die Wirtschaft und verurteilt insbesondere die Monopolbildung, die zu einer unnatürlichen Kapitalverteilung geführt habe, da das Kapital in Erwerbszweige geflossen sei, in die es sonst niemals geflossen wäre.23 Der natürlichen Ordnung entspricht ein ,natürlicher Preis’, auf den nach Smith in einem von Konkurrenz geprägten und nicht staatlich regulierten System der Marktpreis zustrebt:24 „Aus diesem Grunde ist der natürliche Preis gleichsam der zentrale, auf den die Preise aller Güter ständig hinstreben. Verschiedene Zufälle mögen sie bisweilen ein gutes Stück über dem natürlichen Preis halten und sie gelegentlich zwingen, sogar etwas unter ihm zu bleiben, doch welche Hindernisse sie auch davon abhalten können, daß sie sich einpendeln und in diesem Zentrum zur Ruhe kommen, sie werden dennoch dauernd in diese Richtung drängen.“ (WdN, S. 51) 25 20 Übersetzung von Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 41. 21 „Ita fit, ut nulla sit omnino iustitia, si neque natura est.“ 22 WN i.vii.15: „All systems either of preference or of restraint, therefore, being thus completely taken away, the obvous and simple system of natural liberty establishes itself of its own accord.“ 23 Vgl. Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 10 f. mit Stellenangaben. 24 Vgl. Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 170. 25 WN i.vii.15: „The natural price, therefore, is, as it were, the central price, to which the prices of all commodities are continually gravitating. Different accidents may sometimes keep them suspended a good deal above it, and sometimes force them down even somewhat below it. But whatever may be the obstacles which hinder them from settling in this center of repose and continuance, they are constantly tending towards it.“

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Aufgrund der Parallelisierung von Naturgesetzlichkeit und ökonomischer Gesetzlichkeit konnte Smith zu der bekannten Auffassung gelangen, daß der wettbewerbsfähige Markt die natürliche Ordnung sei, in die nicht eingegriffen werden dürfe. Nur so könnten die natürlichen individuellen Rechte geschützt werden. Deshalb vertrat er sowohl für den Binnenhandel als auch für den Welthandel das Prinzip der vollständigen Freiheit.26 Ein wichtiger Baustein für Smiths Vorstellung, daß die natürliche Marktordnung funktionieren könne, ist sein Menschenbild, in dem die Eigenliebe eine zentrale Rolle spielt. Dafür beruft er sich auf die stoische Philosophie.

Die stoische Oikeiosis und die menschliche Eigenliebe bei Adam Smith27 Eine Grundlage der stoischen Moralphilosophie bildet die OikeiosisLehre,28 die Anschauung, daß jedes Lebewesen Zuneigung zu sich selbst empfinde: Jedes Lebewesen ist nach den Stoikern von seiner Geburt an auf Selbsterhaltung angelegt.29 Aus diesem Grunde, so Cicero, sei für den Menschen die Sorge um fremde Angelegenheiten schwierig, weil der Mensch in höherem Maße das empfinde und fühle, was ihm selbst – sei es günstig oder ungünstig – zustoße.30 Entsprechend wendet er sich nach einer ersten Stufe, die allein der eigenen Person gilt, seinen Familienangehörigen zu, danach richtet er seine Aufmerksamkeit auf die übrigen Menschen, denen er durch die gemeinsame Teilhabe an der Vernunft verbunden ist.31 Daß das Zentrum des menschlichen Strebens 26 WN ii.ii.106. 27 Vgl. Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 183 ff. 28 Vgl. u. a. Maximilian Forschner (wie Anm. 15), S. 144 ff., und Robert Bees: Die Oikeiosislehre der Stoa. I. Rekonstruktion ihres Inhalts (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie. Bd. 258), Würzburg 2004, dort S. 200 ff.. 29 SVF II 724. III 14; Cic.: Fin. III 16. III 21. V 34. Vgl. Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 30. 30 Cicero, Off. I 30: „est enim difficilis cura rerum alienarum. …, sed tamen quia magis ea percipimus atque sentimus, quae nobis ipsis aut prospera aut adversa eveniunt, quam illa, quae ceteris, …, aliter de illis ac de nobis iudicamus. „ 31 Cic.: Fin. III 62. V 65; Off. I 12. Vgl. Sabine Föllinger: Differenz und Gleichheit, Das Geschlechterverhltnis in der Sicht griechischer Philosophen des 4.–1. Jahrhunderts v. Chr. (Hermes-Einzelschrift 74), Stuttgart 1996, S. 266.

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der eigene Vorteil bildet, hat auch der kaiserzeitliche Stoiker Epiktet betont.32 Aber Smith bezog sich, um die menschliche Eigenliebe als etwas Natürliches und damit Positives darstellen zu können, explizit auf den Stoiker Zenon (TdeG, S. 458 f.): „Nach Zeno, dem Begründer der stoischen Lehre, ist jedes Lebewesen von der Natur seiner eigenen Obsorge anvertraut und mit dem Prinzip der Selbstliebe ausgestattet worden, damit es sich bemühen möge, nicht nur seine Existenz, sondern alle die verschiedenen Teile seines Wesens in dem besten und vollkommensten Zustande zu erhalten, dessen sie fähig sind.“33 Indem er die Argumentation der Oikeiosis-Lehre aufnimmt, erklärt Smith, es sei natürlich, daß jeder für sich selbst sorge, da er dies am besten könne (TdeG, S. 371): „Jeder Mensch ist, wie die Stoiker zu sagen pflegten, in erster Linie und hauptsächlich seiner eigenen Obsorge empfohlen; und sicherlich ist jeder Mensch in jeder Beziehung geschickter und geeigneter, für sich selbst zu sorgen als für irgendeinen anderen.“34

Die Koinzidenz von Eigenliebe und Gemeinwohl und die Theorie der ,unsichtbaren Hand‘ Daß der Mensch primär aus Eigeninteresse handelt, dient, so Smiths Vorstellung, dem Gemeinwohl. Seine Auffassung ist komprimiert in der berühmten Aussage (WdN, S. 17): „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen 32 Diese Maxime formuliert Epiktet verschiedentlich: „Keiner ist mir lieber als ich selbst“ (Dissertationes (Künftig: Diss.) III 4,10: 1lo· paq’ 1l³ v¸kteqor oqde¸r oder „Denn von Natur aus bin ich auf meinen Vorteil aus“ (Diss. I 22,13: 1c½ c±q p´vuja pq¹r t¹ 1l¹m sulv´qom) oder „Alles in allem … ist jedes Lebewesen nämlich nichts so sehr zugeneigt wie dem eigenen Vorteil. … Denn nichts liebt es von Natur aus so sehr wie seinen eigenen Vorteil“ (Diss. II 22,15 f.: Jahºkou c±q p÷m f`om oqdem· ovtyr áje¸ytai ¢r t` Qd¸\ sulv´qomti … oqd³m c±q ovtyr vike?m p´vujem ¢r t¹ artoO sulv´qom). 33 TMS vii.ii.1.15: „According to Zeno, the founder of the Stoical doctrine, every animal was by nature recommended to its own care, and was endowed with the principle of self-love, that it might endeavour to preserve, not only its existence, but all the different parts of its nature, in the best and most perfect state of which they are capable.“ 34 TMS vi.ii.1.1: „Every man, as the Stoics used to say, is first and principally recommended to his own care; and every man is certainly, in every respect, fitter and abler to take care of himself than of any other person. Every man feels his own pleasures and his own pains more sensibly than those of other people.“

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brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“35 Diese zentrale Anschauung bildet die Basis von Smiths Theorie der ,unsichtbaren Hand‘ („invisible hand“). Sie besagt, daß der Mensch, indem er seine eigenen Interessen verfolgt, gleichzeitig (wenn auch unbeabsichtigt) das Gemeinwohl fördert. In ihr ist die geistige Grundlage seines Konzepts der „Freien Marktwirtschaft“ zu sehen. Smith erläutert sie am Beispiel des heimischen Gewerbes (WdN, S. 370 f.): Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch diese so lenkt, daß ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten läßt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, daß das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewußt das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, daß ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat. Auch für das Land selbst ist es keineswegs immer das schlechteste, daß der einzelne ein solches Ziel nicht bewußt anstrebt, ja, gerade dadurch, dass er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun. Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan.36

35 WN i.ii.2: „It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker, that we expect our dinner, but from their regard to their own interest. We address ourselves, not to their humanity but to their self-love, and never talk to them of our own necessities but of their advantages.“ 36 WN IV.ii.9: „As every individual, therefore, endeavours as much as he can both to employ his capital in the support of domestick industry, and so to direct that industry that its produce may be of the greatest value; every individual necessarily labours to render the annual revenue of the society as great as he can. He generally, indeed, neither intends to promote the publick interest, nor knows how much he is promoting it. By preferring the support of domestick to that of foreign industry, he intends only his own security; and by directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. Nor is it always the

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Das Prinzip, das für die effiziente und allen förderliche Interdependenz von Eigeninteresse und Gemeinwohl sorgt, nennt Smith die „unsichtbare Hand“ („invisible hand“). Sie ist gewissermaßen ein abstrakter Ordnungsfaktor, der für den harmonischen Ausgleich sorgt. Seinen zuversichtlichen Glauben an das Gelingen des ökonomischen Lebens, wenn man das Walten dieses Prinzips nicht störe, gründet Smith auf die von der Stoa übernommene Anschauung, es gebe eine harmonische Weltordnung, der eine göttliche, alles weise regelnde Vorsehung zugrunde liege.37 Er selbst weist auf sein philosophisches Fundament (TdeG, S. 47 f.): Die alten Stoiker waren der Meinung, daß wir – da die Welt durch die alles regelnde Vorsehung eines weisen, mächtigen und gütigen Gottes beherrscht werde – jedes einzelne Ereignis als einen notwendigen Teil des Weltplanes betrachten sollen, als etwas, das die Tendenz habe, die allgemeine Ordnung und Glückseligkeit des Ganzen zu fördern: daß darum die Laster und Torheiten der Menschen einen ebenso notwendigen Teil dieses Planes bilden, wie ihre Weisheit und Tugend; und daß sie durch jene ewige Kunst, die Gutes aus Bösem schafft, dazu bestimmt seien, in gleicher Weise für das Gedeihen und die Vollendung des großen Systems der Natur zu wirken.38

Die Verbindung zwischen persönlichem Vorteil des Menschen und Gemeinwohl hat, worauf Kraus verweist,39 recht deutlich Epiktet ausgesprochen (Diss. I 19,11 – 14): Dies ist nicht Selbstsucht. So ist nämlich die Natur eines ( jeden) Lebewesens; es tut alles seinetwegen. Denn sogar die Sonne tut alles um ihretwillen und überdies selbst Zeus. Aber wann immer er der ,Regenspender‘ oder ,Fruchtbringer‘ oder der Vater der Menschen und Götter worse for the society that it was no part of it. By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it. I have never known much good done by those who affected to trade for the publick good.“ Vgl. TMS IV i.10. 37 Vgl. Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 185 und Arbogast Schmitt (gegen Gloria Vivenza) (wie Anm. 1, S. 435 f.). 38 TMS i.ii.3.4: „The ancient stoics were of opinion, that as the world was governed by the all-ruling providence of a wise, powerful, and good God, every single event ought to be regarded, as making a necessary part of the plan of the universe, and as tending to promote the general order and happiness of the whole: that the vices and follies of mankind, therefore, made as necessary a part of this plan as their wisdom or their virtue; and by that eternal art which educes good from ill, were made to tend equally to the prosperity and perfection of the great system of nature.“ 39 Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 185 f.

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sein will, wirst du erkennen, dass er diese Taten nicht vollbringen und diese Namen nicht bekommen kann, ohne (gleichzeitig auch) dem Gemeinwohl zu dienen. Und überhaupt hat er gerade die Natur des vernünftigen Wesens so eingerichtet, dass es keinen persönlichen Vorteil erlangen kann, ohne (gleichzeitig) zum gemeinsamen Nutzen beizutragen. Daher ist es keineswegs wider das Gemeinwohl, alles um seiner selbst willen zu tun.40

Die Parallele zu Smith ist deutlich: Das Individuum handelt aus Eigennutz, dient aber gleichzeitig (ohne es zu wollen) der Gemeinschaft. Für Smith gestaltet sich das Verhältnis von Geld und Moral offensichtlich deshalb als unproblematisch, da egoistisches Handeln das Gemeinwohl bewirkt. Ja, das, was etwa Aristoteles als unmoralisch verurteilt und als Verfehlung des dem Menschen gesteckten Zieles betrachtet, macht Smith zum positiv bewerteten Movens und darüber hinaus zu dem Faktor, der den kulturellen Fortschritt der Menschheit bewirkt: die Täuschung vieler Menschen, man könne Glückseligkeit durch materiellen Reichtum erlangen (TdeG, S. 315): Denn diese Täuschung ist es, was den Fleiß der Menschen erweckt und in beständiger Bewegung erhält. Sie ist es, was sie zuerst antreibt, den Boden zu bearbeiten, Städte und staatliche Gemeinwesen zu gründen, alle die Wissenschaften und Künste zu erfinden und auszubilden, die das menschliche Leben veredeln und verschönern, die das Antlitz des Erdballs durchaus verändert haben, die die rauhen Urwälder in angenehme und fruchbare Ebenen verwandelt und das pfadlose, öde Weltmeer zu einer neuen Quelle von Einkommen und zu der großen Heerstraße des Verkehres gemacht haben, welche die verschiedenen Nationen der Erde untereinander verbindet.41 40 ToOto oqj 5stim v¸kautom· c´come c±q ovtyr t¹ f`om· artoO 6meja p²mta poie?. ja· c±q b Fkior artoO 6meja p²mta poie? ja· t¹ koip¹m aqt¹r b Fe¼r. !kk’ ftam h´k, eWmai g£´tior ja· ’Epij²qpior ja· patµq !mdq_m te he_m te, bqør fti to¼tym t_m 5qcym ja· t_m pqosgcoqi_m oq d¼matai tuwe?m, #m lµ eQr t¹ joim¹m ¡v´kilor ×. jahºkou te toia¼tgm tµm v¼sim toO kocijoO f]ou jatesje¼asem, Vma lgdem¹r t_m Qd¸ym !cah_m d¼mgtai tucw²meim, #m l¶ ti eQr t¹ joim¹m ¡v´kilom pqosv´qgtai. ovtyr oqj´ti !joim¾mgtom c¸metai t¹ p²mta artoO 6meja poie?m. Übersetzung von Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 186. 41 TMS iv.1.10: „It is this deception which rouses and keeps in continual motion the industry of mankind. It is this which first prompted them to cultivate the ground, to build houses, to found cities and commonwealths, and to invent and improve all the sciences and arts, which ennoble and embellish human life; which have entirely changed the whole face of the globe, have turned the rude forests of nature into agreeable and fertile plains, and made the trackless and barren ocean a new fund of subsistence, and the great high road of communication to the different nations of earth.“

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Smith teilt hier mit Aristoteles die Anschauung, daß das Gewinnstreben eine anthropologische Grundgegebenheit darstellt, aber, anders als Aristoteles und eher im Sinne der Stoa, hebt er den positiven Aspekt des Gewinnstrebens hervor, insofern es der Dynamik der Wirtschaft diene und damit gut für die Gesellschaft sei.42 In einem Punkte aber, wenn auch wohl unwissentlich, stimmt er mit Aristoteles überein, da er den richtigen Gebrauch, den man vom Geld macht, als ausschlaggebend für die Verteilungsgerechtigkeit betrachtet. Dabei hat seiner Ansicht nach sogar das individuelle Gewinnstreben der Reichen einen gesellschaftlichen Nutzen. Denn besonders die Reichen, so Smith, unterliegen der Täuschung, daß Reichtum Glück bedeute, wenn sie, nur an ihren Konsum denkend, maximale Erträge aus ihrem Besitz herauszuholen trachten. Diese Vorgehensweise wird aber nicht nur für einen optimalen Bodenertrag sorgen, sondern, da der Reiche den Reichtum unmöglich alleine konsumieren kann, wird er ihn für die Bezahlung von Dienstboten verwenden und ihn verkaufen, um etwa an Luxusgüter zu gelangen. Auf diese Weise aber bewirken die Reichen etwas, was keineswegs in ihrer Absicht lag. Smith sprich von einer „unsichtbaren Hand“, die sie dabei leitet und so eine Verteilung der Güter erreicht. Smiths Ausführungen dazu (TMS iv.1.10; TdeG, S. 316 f.), bleiben unscharf, insofern nicht deutlich wird, wie er sich diese Verteilungsgerechtigkeit genau vorstellt. Jedenfalls aber spricht er hier sogar nicht nur von der „unsichbaren Hand“, die ja ein abstraktes Prinzip ist, sondern von der Vorsehung, die für eine Verteilungsgerechtigkeit sorge (TdeG, S. 316 f.): „Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre … Als die Vorsehung die Erde unter eine geringe Zahl von Herren und Besitzern verteilte, da hat sie diejenigen, die sie scheinbar bei ihrer Teilung übergangen hat, doch nicht vergessen und nicht ganz verlassen.“43

42 Vgl. Reiner Manstetten (wie Anm. 2), S. 260. 43 „They are led by an invisible hand to make nearly the same distribution of the necessaries of life, which would have been made, had the earth been divided into equal portions among all its inhabitants … . When Providence divided the earth among a few lordly masters, it neither forgot nor abandoned those who seemed to have been left out in the partition.“

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Was Smiths Ausführungen, bei aller Ungenauigkeit, erkennen lassen, ist, daß es nicht auf die Akkumulation von Geld, sondern auf den richtigen Gebrauch des Geldes ankommt, durch den allein eine Verteilungsgerechtigkeit gewährleistet ist. Ohne expliziten Bezug und wohl auch unwissentlich benennt er damit das Kriterium, an dem Aristoteles den Wert von Eigentum bemaß: das des richtigen Gebrauches. Doch während für Aristoteles der richtige Gebrauch eine Frage der Moral darstellt, ist er nach Smith durch das Walten der ,unsichtbaren Hand’, die für die Koinzidenz von Eigenliebe und Gemeinwohl sorgt, gewährleistet.

Der ,unparteiische Zuschauer in der Brust des Menschen‘ als moralische Instanz Auch Smith kennt eine Korrekturinstanz, die beim Individuum dafür sorgt, daß die Eigenliebe nicht zu mächtig ist. Er nennt sie den „unparteiischen Zuschauer“ (TdeG, S. 487): Von Natur aus werden diejenigen Ereignisse …, die unmittelbar uns selbst, unsere Freunde, unser Vaterland angehen, am meisten unser Interesse erwecken und in erster Linie unsere Neigungen und Abneigungen, unsere Hoffnungen und Befürchtungen, unsere Freuden und Sorgen hervorrufen. Sollten jene Affekte zu häufig sein – und sie pflegen dies sehr leicht zu werden –, so hat die Natur für ein passendes Heilmittel und für Abhilfe gesorgt. Die wirkliche oder auch nur vorgestellte Anwesenheit des unparteiischen Zuschauers (impartial spectator), die Autorität jenes inneren Menschen in unserer Brust ist immer nahe und immer bereit, jene Affekte einzuschüchtern und sie auf einen angemessenen Ton und eine gemäßigte Stimmung zu dämpfen.44

Den Gedanken eines Korrektivs, das eine allzu große Eigenliebe des Menschen eindämmt, entwickelte Smith bezeichnenderweise in seiner

44 TMS vii.ii.1.44: „By Nature the events … which immediately affect ourselves, our friends, our country, are the events which interest us the most, and which chiefly excite our desires and aversions, our hopes and fears, our joys and sorrows. Should those passions be, what they are very apt to be, too vehement, Nature has provided a proper remedy and correction. The real or even the imaginary presence of the impartial spectator, the authority of the man within the breast, is always at hand to overawe them into the proper tone and temper of moderation.“

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Schrift The Theory of Moral Sentiments. 45 Er bildet auf den ersten Blick nicht nur ein Pendant, sondern einen Widerspruch zu der in An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations entwickelten Auffassung, daß sich der Ausgleich von Eigeninteresse und Gemeinwohl aufgrund einer weltimmanenten Gesetzlichkeit von allein regele. Doch auch diese sozial-moralische Komponente ist eingebettet in Smiths, von der stoischen Philosophie beeinflußtes, Menschen- und Weltbild. Denn Smith bezieht sich in seiner Argumentation auf die stoische Vorstellung einer Kosmopolis, deren einigendes Band der Logos darstellt (TdeG, S. 208): „Der Mensch soll sich nach der Lehre der Stoiker nicht als ein abgesondertes und vereinzeltes Wesen ansehen, sondern als einen Bürger der Welt, als ein Glied des gewaltigen Gemeinwesens der Natur. Er soll zu allen Zeiten gerne seine Einwilligung dazu geben, dass für die Vorteile dieser großen Gemeinschaft seine eigenen kleinen Interessen geopfert werden.“46 Zusätzlich betont Smith, wie dies schon stoische Stimmen getan hatten, die Notwendigkeit der Fairness beim Wettbewerb. Jeder darf seinem Nutzen zuarbeiten, aber niemanden anderen dabei schädigen. Die Worte, in die Smith diese Auffassung kleidet, lehnen sich stark, auch im Bildbereich, an ein von Cicero angeführtes Zitat des Stoikers Chrysipp an, wie ein Vergleich beider Autoren zeigt. Bei Cicero heißt es (Off. III 42): Aber wir müssen dennoch nicht auf unsere Vorteile verzichten und sie anderen gewähren, wenn sie sie selbst dringend benötigen, sondern es hat jeder dem eigenen Nutzen zu dienen, soweit dies ohne Verletzung des Nächsten geschieht. Gescheit wie vielmals sagt Chrysippos: „Wer im Stadion (um die Wette) läuft, muss kämpfen und sich anstrengen wie er nur kann, um zu siegen, dem Gegner ein Bein stellen oder ihn mit der Hand beiseite stossen darf er auf keinen Fall. So ist es nicht unlauter, wenn im Leben jeder für sich erstrebt, was (seinem) Nutzen dienlich ist, es dem Nächsten zu entreissen ist (aber) nicht gerecht“.47 45 Zu den unterschiedlichen, aber sich gegenseitig ergänzenden Ausrichtungen der beiden Hauptwerke vgl. die obigen Ausführungen. 46 TMS iii.3.11: „Man, according to the Stoics, ought to regard himself, not as something separated and detached, but as a citizen of the world, a member of the vast commonwealth of nature. To the interest of this great community, he ought at all times to be willing that his own little interest should be sacrificed.“ 47 „Nec tamen nostrae nobis utilitates omittendae sunt aliisque tradendae, cum his ipsi egeamus, sed suae cuique utilitati, quod sine alterius iniuria fiat, serviendum est. scite Chrysippus, ut multa, ‘qui stadium, inquit, currit, eniti et contendere debet quam maxime possit, ut vincat, supplantare eum, quicum certet, aut manu depellere nullo modo debet; sic in vita sibi quemque petere, quod

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Das Bild der mangelnden Fairness beim Wettlauf übernimmt Smith und erweitert es um die Metapher des über ein solch unsportliches Verhalten empörten Zuschauers (TdeG, S. 123 f.): Wollte er so handeln, daß der unparteiische Zuschauer den Maximen seines Verhaltens zustimmen könnte – und tatsächlich ist es sein heißester Wunsch, so zu handeln – dann müßte er bei dieser, wie bei allen anderen Gelegenheiten die Anmaßungen seiner Selbstliebe dämpfen und diese auf jenen Grad herabstimmen, den andere Menschen noch nachzuempfinden vermögen. Die anderen aber werden ihm seine Selbstliebe so weit nachsehen, daß sie ihm gestatten werden, um sein eigenes Glück in höherem Maße besorgt zu sein und dasselbe mit mehr Ernst und Beharrlichkeit anzustreben als dasjenige irgendeiner anderen Person. So weit werden sie seine Selbstliebe bereitwillig nachfühlen, sobald sie sich in seine Lage versetzen. In dem Wettlauf nach Reichtum, Ehre und Avancement, da mag er rennen, so schnell er kann und jeden Nerv und jeden Muskel anspannen, um all seine Mitbewerber zu überholen. Sollte er aber einen von ihnen niederrennen oder zu Boden werfen, dann wäre es mit der Nachsicht der Zuschauer ganz und gar zu Ende. Das wäre eine Verletzung der ehrlichen Spielregeln, die sie nicht zulassen könnten.48

Zusammenfassung: Die ideelle Basis der ökonomischen Theorie von Adam Smith ist ohne die stoische Philosophie, der sie ihre grundlegenden Prinzipien verdankt, nicht zu denken. Dies betrifft die Vorstellung, daß die Welt ein geordnetes, von einer Gesetzlichkeit gelenktes Ganzes darstellt, ebenso wie die Lehre, daß die Selbstbezogenheit des Menschen ein natürliches und positiv zu bewertendes Faktum ist und es eine Übereinstimmung von egoistischem Handeln und Gemeinnutz gibt. Aber auch die Ansätze einer normativen Moral, die der ,unparteische Zuschauer‘ verkörpert, pertineat ad usum, non iniquum est, alteri deripere ius non est.’“ Übersetzung von Jirí Xerxes Kraus (wie Anm. 1), S. 187. 48 TMS ii.ii.2.1: „If he (sc. every man) would act so as that the impartial spectator may enter into the principles of his conduct, which is what of all things he has the greatest desire to do, he must, upon this, as upon all other occasions, humble the arrogance of his self-love, and bring it down to something which other men can go along with. They will indulge it so far as to allow him to be more anxious about, and to pursue with more earnest assiduity, his own happiness than that of any other person. Thus far, whenever they place themselves in his situation, they will readily go along with him. In the race for wealth, and honours, and preferments, he may run as hard as he can, and strain every nerve and every muscle, in order to outstrip all his competitors. But if he should justle, or throw down any of them, the indulgence of the spectators is entirely at an end. It is a violation of fair play, which they cannot admit of.“

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kommen aus einer bereits von der Stoa vertretenen Forderung, soziale Spielregeln nicht zu verletzen.

Kant und die Stoiker von Christoph Horn Kant hat seine recht genauen Kenntnisse der stoischen Philosophie, die besonders durch die Schriften Ciceros und Senecas vermittelt waren, seit den beiden letzten Jahren seiner Gymnasialzeit erworben. Vom altsprachlichen Schulunterricht war er vorübergehend so sehr fasziniert, dass er über den Unterricht hinaus lateinische Texte gemeinsam mit Freunden las und sogar Klassische Philologie studieren wollte.1 Weitere mögliche Quellen für Kants ziemlich weitreichende Kenntnisse der Stoiker bilden, wie wir wissen, Jacob Bruckers Philosophiegeschichte, sodann Adam Smiths Theory of Moral Sentiments (Kap. 7), überdies Christian Garves umfangreiche Cicero-Paraphrase Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Bchern von den Pflichten sowie schließlich verschiedene Autoren der französischen Moralistik.2 Doch leider kommt seine intensive Vertrautheit mit der Stoa nirgendwo in Kants Werk in einer ausführlichen philosophiehistorischen Darstellung zum Ausdruck. Gleichwohl spielt die implizite Präsenz der Stoiker an vielen Stellen seiner Schriften eine erhebliche Rolle für ihr adäquates Verständnis. Immerhin gibt Kant in einer knappen Passage einen konzentrierten doxographischen Abriss, in dem er schreibt: Auf Plato und Aristoteles folgten die Epikuräer und die Stoiker, welche beide die abgesagtesten Feinde von einander waren. Jene setzten das höchste Gut in ein fröhliches Herz, das sie die Wollust nannten; diese 1

2

Dazu detailliert Manfred Kühn: Kant and Cicero, in: Kant und die Berliner Aufklrung, hg. von Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. III, Berlin/New York 2001, S. 270. Zu Kants philosophiehistorischer Lektüre vgl. Beatrix Himmelmann: Kants Begriff des Glcks, Berlin/New York 2003, S. 123 und Ulrike Santozki: Die Bedeutung antiker Theorien fr die Genese und Systematik von Kants Philosophie. Eine Analyse der drei Kritiken, Berlin/New York 2006. Auf seine Kenntnis der Moralistik macht Caroline Sommerfeld-Lethen: Wie moralisch werden? Kants moralistische Ethik, Freiburg/München 2005 aufmerksam. – Kants Rezeption der Stoiker und ihre enorme Bedeutung für seine Philosophie wird zudem betont bei Reinhard Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007, S. 139 – 177.

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fanden es einzig in der Hoheit und Stärke der Seele, bei welcher man alle Annehmlichkeiten des Lebens entbehren könne. – Die Stoiker waren übrigens in der speculativen Philosophie dialektisch, in der Moralphilosophie dogmatisch und zeigten in ihren praktischen Principien, wodurch sie den Samen zu den erhabensten Gesinnungen, die je existirten, ausgestreut haben, ungemein viel Würde. Der Stifter der stoischen Schule ist Zeno aus Citium. Die berühmtesten Männer aus dieser Schule unter den griechischen Weltweisen sind Kleanth und Chrysipp (Logik: Ak. IX 30).

Sollten wir Heutigen die stoische Philosophie charakterisieren, so würden wir wohl ihre Ontologie als materialistisch, ihre Erkenntnistheorie als sensualistisch und ihre Moralphilosophie als gütermonistisch kennzeichnen; aber man muss sich klar machen, dass Kant auf keine Fragmentsammlung der älteren Stoiker und eher auf Berichte denn auf argumentative Analysen der stoischen Positionen zurückgreifen konnte. Das Zitat belegt für die Epoche zweifellos gute Kenntnisse und überdies eine erhebliche Wertschätzung, die Kant für die Ethik der Stoa empfunden haben muss. Dass Kant über gute Kenntnisse der Stoiker verfügte, bedeutet andererseits nicht, dass er sonderlich adäquat über sie geurteilt hätte. Wir werden sehen, dass seine Urteile in der Mehrzahl bedenklich sind und die Intentionen der Stoiker verfehlen. Im Folgenden werde ich Kants Auseinandersetzung mit den Stoikern in vier thematischen Hinsichten untersuchen. Ich wende mich zuerst Kants Rezeption der stoischen Idee von Teleologie zu, gehe dann zu seiner Eudämonismus-Kritik über, behandle weiter Kants Urteil zur stoischen Moralitätskonzeption und schließe mit Bemerkungen zu Kants Pflichtbegriff und dem stoischen jah/jom.

Kant und die stoische Konzeption von Teleologie Leider zeigt sich Kant an der theoretischen Philosophie der Stoiker so gut wie gar nicht interessiert. Im oben zitierten Text wird klar, warum das so ist: Kant vermutet eine grundlegende dialektische, d. h. subtilspitzfindige und zugleich sachlich absurde Ausrichtung. Eine der wenigen Stellen, an denen wir wenigstens einen Hinweis darauf erhalten, dass er die spekulative Seite der Stoa nicht gänzlich ignoriert hat, findet sich in einer Vorlesungsmitschrift. Dort setzt sich Kant mit dem stoischen Determinismus auseinander; bezeichnenderweise verwirft er ihn als sophistisch und inakzeptabel:

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Es fragt sich aber: Ob es ein fatum stoicum geben könne, nach welchem unsere Handlungen, die wir frei nennen, durch das Verhältniß der obersten Ursache, so fern ein jedes Glied in der Ordnung schon bestimmt ist, nothwendig sey? Wenn dieses wäre; alsdann könnte keine Imputation gelten. z.E. Ein Stoiker sagte: Er müßte durchs Verhängniß seinen Herrn bestehlen; sein Herr ließ ihn aber durchs Verhängniß aufhenken. Dieses ist aber Sophisterei; und obgleich wir den Fatalismus nicht widerlegen können; so kann ihn der andere doch nicht beweisen. Es ist hier auf alle Fälle kein Ausweg zu finden; und wir thun gut, wenn wir stehen bleiben, wo wir nicht weiter fortkommen können. In Ansehung des Praktischen aber können wir den Fatalismus nicht admittiren, indem wir bei uns finden, dass wir durch keine Ursache zu unsern Handlungen determinirt werden (Vorlesungen ber Metaphysik [Pölitz]. Erster Abschnitt der rationalen Psychologie: PM 209).

Doch während Kant den Determinismus der Stoiker als nicht diskutierenswert einschätzt, scheint sein Urteil im Fall der stoischen Teleologiekonzeption anders zu sein. Es existiert eine prominente Textstelle, von der wir annehmen können, dass sie eine implizite Bezugnahme auf die Stoiker enthält: ich meine die Passage über die natürliche Zweckausrichtung des Menschen, welche im Ersten Abschnitt der Grundlegung unmittelbar auf die Darlegungen zum absoluten Gutsein des guten Willens folgt (Ak. IV 394 – 396). Diese Textstelle gliedert sich in zwei Teile: Ihr erster Teil (395,4 – 27) besteht in einer Zurückweisung der Ansicht, Glückseligkeit sei der eigentliche Zweck der menschlichen Natur. Kant widerlegt diese Meinung in Form eines modus tollens: Die Naturanlagen jedes Lebewesens sind so beschaffen, dass sie optimal an dessen Zweckausrichtung angepasst sind. Angenommen nun, die Glückseligkeit bildete den natürlichen Zweck des Menschen. Dann müssten sich Indizien hierfür in der menschlichen Naturanlage ausmachen lassen. Doch tatsächlich ist der Mensch in beträchtlichem Umfang von der praktischen Vernunft bestimmt. Bestünde der Zweck des Menschen in der Verfolgung von Glückseligkeit, dann erwiese sich ein solcher Vernunftbesitz als relativ dysfunktionales Element in seiner Naturanlage. Denn eine stärkere Instinktausstattung würde viel zuverlässiger und besser zum selben Ziel führen. Folglich ist die Annahme einer Glücksfinalisierung des Menschen aufzugeben. Der zweite Teil (396,14 – 37) enthält dagegen eine affirmativ vorgetragene Auffassung: Demnach liegt die „wahre Bestimmung“, welche sich in der Naturausstattung des Menschen mit praktischer Vernunft zeigt, darin, einen „an sich selbst guten Willen hervorzubringen“. Der entscheidende Punkt ist hier erneut, dass uns die Natur praktische Vernunft zugeteilt

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hat; Vernunft taugt nicht nur zu einem theoretischen Gebrauch, sondern kann zudem, wie Kant sagt, „Einfluss auf den Willen“ ausüben. Ein guter Wille, so ergänzt er, sei zwar „nicht das einzige und das ganze, aber […] das höchste Gut und zu allem anderen, selbst allem Verlangen nach Glückseligkeit, die Bedingung“. Im knappen Einleitungsteil des Textabschnitts (394,32 – 395,3) erfahren wir zudem, warum Kant diese beiden Überlegungen anstellt: Er will sich gegen den Verdacht wehren, die landläufige moralische Vorstellung von einem guten Willen sei „bloß hochfliegende Phantasterei“. Die Gegner, an die er sich dabei implizit richtet, bieten offenbar eine stark abweichende Deutung dafür an, zu welchem Zweck die Natur „unserem Willen Vernunft zur Regiererin beigelegt“ habe. Kant erläutert jene Glückseligkeit, um die es seinen Gegnern geht, anhand der Begriffe ,Erhaltung‘ und ,Wohlergehen‘ (395,8 f.). Ein solcher Glücksbegriff ist klarerweise nicht-hedonistisch. Das beweist, dass Kant hier nicht seinen eigenen Glücksbegriff unterstellt, sondern den seiner ungenannten argumentativen Gegner heranzieht.3 Und diese lassen sich eindeutig identifizieren: Es handelt sich um die Stoiker, die in ihrer oQje¸ysir-Konzeption die Auffassung vertraten, es gehe jedem Menschen zunächst um Selbsterhaltung und dann um weitere zur Selbstentfaltung erforderliche Güter. Dass die Stoiker hier gemeint sind, ergibt sich auch daraus, dass das affirmative Argument des zweiten Teils mit der Bemerkung verknüpft wird, die sogenannten Misologen – also die Vernunftkritiker – seien keineswegs „gegen die Güte der Weltregierung undankbar“ (396,8 f.). Das bedeutet: Kant nimmt die Misologen (gemeint sind damit, wie die Forschung zeigt, Rousseau und seine Anhänger) gegen die Stoiker in Schutz, die ja tatsächlich die Vorstellung einer ordnenden Weltregierung vertraten. Damit ergibt sich folgendes konsistente Bild für das zweiteilige Argument in unserem Text: Kant stellt sich in der Passage der Herausforderung der Stoiker, welche ihre teleologische Denkweise mit der Idee verbanden, die menschliche Vernunft sei auf das Ziel des Glücks hin ausgerichtet. Er akzeptiert dabei deren Überzeugung, dass die menschliche Vernunft (wie alle anderen naturalen Merkmale) teleologisch gedeutet werden muss, versucht aber 3

Kants eigener Begriff der Glückseligkeit ist dagegen subjektiv hedonistisch bestimmt. Knapp vor der diskutierten Textpassage findet er sich beispielsweise in der Formulierung „[…] das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande, unter dem Namen der Glckseligkeit […]“ (GMS Ak. IV 393,15 f.).

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zu zeigen, dass man sie nicht als glücksorientiert auffassen darf, sondern als Wegbereiterin des guten Willens. Der dabei verwendete Glücksbegriff ist nicht der eines materialistischen Hedonismus. Auch meint der von Kant gebrauchte Instinktbegriff nicht so etwas wie sinnliches Begehren, sondern bezeichnet lediglich eine Art von naturalem Automatismus. Entscheidend ist: Kant teilt zwar mit den Stoikern die teleologische Naturbetrachtung, nicht aber die Vorstellung vom Glück als Strebensziel und ebenso wenig den Glücksbegriff. Er verbündet sich sogar mit Rousseau, dessen Misologie er dabei ein wesentliches Wahrheitsmoment zuerkennt.4 Folgt man dieser Lesart der Passage, so ergibt sich ein interessantes Resultat: Kants Argumentation stützt sich affirmativ auf die stoische Naturteleologie und richtet zugleich eine scharfe Attacke gegen den Glücksbegriff der Stoiker.5

Kants Kritik am stoischen Eudämonismus Aber warum lehnt der Kant der Grundlegung das Glückskonzept der Stoiker ab? Ursprünglich verfügte Kant, wie es scheint, über ein Glücksverständnis, das demjenigen der Stoiker recht nahe war. In seiner durch Leibniz und Wolff geprägten Frühphase vertrat er ein perfektionistisches Modell, bei dem Glückseligkeit soviel wie Vollkommenheit bedeutete. Unter solchen Prämissen ist es leicht möglich, eine Einheit aus individuellem und kollektivem Glück zu bilden und die Glücks- und Moralperspektive miteinander auszusöhnen.6 Aber der Glücksbegriff scheint hiermit inadäquat beschrieben zu sein. Der kritische Kant interpretiert den Glücksbegriff deswegen angemessener im Sinn einer umfassenden Wunscherfüllung, nämlich als „Befriedigung aller Vergnügen überhaupt“ (Praktische Philosophie Powalsk: Ak. XXVII 101) oder als „Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch 4 5

6

Ich folge damit der Interpretation von Klaus Reich: Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen 1935 und besonders von Beatrix Himmelmann: Kants Begriff des Glcks, Berlin/New York 2003, S. 130 – 132. Zu den Hintergründen und der philosophischen Bedeutung des Textstücks vgl. ausführlicher Christoph Horn: Kant on Ends in Nature and in Human Agency: The Teleological Argument (GMS 394 – 6), in: Groundwork for the Metaphysics of Morals, hg. von Christoph Horn/Dieter Schönecker. Berlin/New York 2006, S. 45 – 71. Vgl. Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755): Ak. I 322.

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protensive, der Dauer nach)“ (KrV A 806/B 834; vgl. GMS Ak. IV 399; KpV Ak. V 124). Bei diesem Begriffsverständnis denkt Kant keineswegs nur an die Erfüllung sinnlich-naturaler Neigungen oder Bedürfnisse, sondern auch an rational geprägte Wünsche. Dennoch versieht er den Glücksbegriff insgesamt mit einem hedonistischen Akzent. Ebenso unterstellt er dem traditionellen philosophischen Eudämonismus, obwohl er ihm durchaus die Einbeziehung rationaler Neigungen konzediert, eine hedonistisch geprägte Strebenskonzeption (vgl. Ak. V 22). Von dort aus ist es nicht mehr weit bis zum Diktum aus der Anthropologie: „Alle Eudämonisten sind daher praktische Egoisten“ (Ak. VII 130). Der Sache nach ist dieses Urteil unberechtigt. Die antiken Glückskonzeptionen, zumal die stoische, denken mehrheitlich in Begriffen rational vorteilhafter oder handlungstheoretisch verbindlicher Ziele, nicht in Begriffen der subjektiven Neigungs- oder Wunscherfüllung; überdies ist der vormoderne Glücksbegriff nicht der des positiven mentalen, psychischen oder physischen Zustands, sondern der der Erfüllung aller wesensgemäßen Anlagen eines Menschen. Folglich unterhalten Moral und Glück in der Mehrzahl der älteren Modelle eine konstitutive, keine instrumentelle Beziehung zueinander.7 In der moralphilosophischen Maximenkonzeption des späteren Kant spielt der Glücksbegriff folgerichtig eine negative Rolle. Kant unterscheidet zwischen subjektiven praktischen Grundsätzen, die er als Maximen der Glückseligkeit oder der Selbstliebe kennzeichnet; diese seien nicht verallgemeinerungsfähig und führten aufgrund ihres empirischpathologischen Charakters zu einer Heteronomie des Willens. Dagegen gelange man im Fall einer Willensbestimmung, die sich auf die bloße Form eines praktischen Grundsatzes stütze, zu gesetzesförmig universalisierbaren Maximen und in bestimmten Fällen zu Gesetzen oder kategorischen Imperativen.8 Hier gewinnt man den Eindruck, als setze Kant die Prinzipien Glück und Moral zueinander in ein striktes Ausschlussverhältnis. Kants Kritik am traditionellen Eudämonismus erfolgt aus der Perspektive der Moralitätskonzeption; ihr zentraler Vorwurf lautet, jede Glücksphilosophie beruhe auf der Eigennutzperspektive und 7

8

Dazu ausführlicher Terence H. Irwin: Kant’s Criticism of Eudaemonism, in: Aristotle, Kant, and the Stoics. Rethinking Happiness and Duty, hg. von Stephen Engstrom/Jennifer Whiting. Cambridge 1996, S. 63 – 101 sowie Hermann Weidemann: Kants Kritik am Eudmonismus und die Platonische Ethik, in: KantStudien 92, 2001, S. 19 – 37. KpV Ak. V 20; 22 f.; 24 f.; 27; 28 f. u. ö.

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damit letztlich auf einem Hedonismus. Näherhin umfasst die Kritik drei voneinander zu differenzierende Punkte: [1] Nach Kant sind alle Einschätzungen das Glück betreffend erfahrungsabhängig; doch als empirisch-veränderliche Urteile ermöglichen sie nur „generelle“, nie „universelle“ Allgemeinheit und können mithin nicht die Grundlage einer universalistischen Moralphilosophie abgeben (KpV, V 36; GMS, IV 417 f.). Nennen wir dies den Einwand von der Subjektrelativitt des Glcks. 9 [2] Glücksvorstellungen sind nach Kant instabil und transitorisch; aufgrund ihrer Variabilität sind sie ungeeignet, als Motivationsbasis der Moral zu dienen (so etwa KpV, V 25). Bezeichnen wir dies als den Einwand von der motivationalen Instabilitt des Glcks. [3] Glücksgüter können nur solche sein, die konstant oder zuverlässig in unserer Verfügung liegen können; in Wahrheit erweisen sich jedoch alle solche Güter als verlierbar oder als ambivalent in ihrer Glückswirkung. Dies lässt sich als Einwand von der Ambiguitt aller Glcksgter bezeichnen. Dies alles muss man im Blick behalten, wenn man Kants Zurückweisung des antiken Eudämonismus verstehen will. Besonders in der Kritik der praktischen Vernunft kritisiert er die stoische (und zugleich auch die epikureische) Vorstellung vom Glück als dem höchsten Gut (summum bonum): Von den alten griechischen Schulen waren eigentlich nur zwei, die in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gute so fern zwar einerlei Methode befolgten, dass sie Tugend und Glückseligkeit nicht als zwei verschiedene Elemente des höchsten Guts gelten ließen, mithin die Einheit des Princips nach der Regel der Identität suchten; aber darin schieden sie sich wiederum, dass sie unter beiden den Grundbegriff verschiedentlich wählten. Der Epikureer sagte: sich seiner auf Glückseligkeit führenden Maxime bewußt sein, das ist Tugend; der Stoiker: sich seiner Tugend bewußt sein, ist Glückseligkeit. Dem ersteren war Klugheit so viel als Sittlichkeit; dem zweiten, der eine höhere Benennung für die Tugend wählte, war Sittlichkeit allein wahre Weisheit (Ak. V 111).

Nur das epikureische und das stoische summum bonum-Verständnis beinhalten, so Kant, ein durch menschliche Bemühung erreichbares praktisches Ideal.10 Allerdings vertraten Epikureer und Stoiker nach 9 Deutlich kommt dieser Punkt zur Sprache in GMS Ak. IV 418,1 – 4: „Allein es ist ein Unglück, dass der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, dass, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle.“ 10 Reflexion 6874, Ak. XIX 188; ähnlich KpV Ak. V 111.

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Kants Darstellung zwei gegenläufige, einander ausschließende und doch gleichermaßen verfehlte Konzeptionen: Während Epikur empirische Triebfedern zur Glückseligkeit als Prinzip der Beurteilung des Sittlichen aufgefasst habe, habe der Stoiker Zenon die Sittlichkeit zum Handlungsprinzip erklärt und die Glückseligkeit aus ihr abgeleitet.11 Kants Schlussfolgerung lautet: Beide antiken Versuche, Sittlichkeit und Glückseligkeit zusammenzudenken, gehen in die Irre. Denn Sittlichkeit und Glückseligkeit bildeten in beiden Modellen jeweils nur eine inhomogene Einheit. Auf diese Inhomogenität im summum bonumBegriff habe erstmals das Christentum aufmerksam gemacht, indem es eine unüberwindliche Differenz von Tugend und Glückseligkeit unter irdischen Bedingungen herausgestellt habe. Das Christentum verstehe den Menschen nämlich zu Recht als „gebrechlich“; der Mensch sei weder aus eigener Kraft noch überhaupt unter zeitlich-irdischen Voraussetzungen zu einer vollständigen Perfektionierung seiner moralischen Person fähig.12 Das höchste Gut zerfällt somit nach Kants Einschätzung in die Momente Sittlichkeit und Glückseligkeit. Dies führt Kant zu einem eigenen, nicht-eudämonistischen Modell vom höchsten Gut, bei dem Moralität Gebotscharakter besitzt: Er spricht davon, Tugend sei das „oberste Gut“ (supremum bonum im Unterschied zu consummatum bonum),13 worunter die „oberste Bedingung alles dessen, was uns nur wünschenswert scheinen mag“ zu verstehen sein soll. Moralität ist somit selbst ein notwendiges Strebensziel; Kant kennzeichnet das oberste Gut als „unbedingt“ und als ursprünglich (originarium). Doch erst in Verbindung mit Glückseligkeit wird Tugend zum inklusiven höchsten Gut.

Kants Beurteilung der stoischen Moralitätskonzeption So kritisch Kant einer – wie er meint – falschen Verknüpfung von Tugend und Glück gegenübersteht, wie sie die Stoiker vorgenommen haben sollen, so positiv beurteilt er andererseits ihr Moralitätsverständnis. In der Kritik der praktischen Vernunft schreibt er über den stoischen Gütermonismus: Man mochte also immer den Stoiker auslachen, der in den heftigsten Gichtschmerzen ausrief: Schmerz, du magst mich noch so sehr foltern, ich 11 Vgl. etwa Reflexion 6619, Ak. XIX 112; ebenso KpV Ak. V 112 f. 12 Reflexion 6872, Ak. XIX 187; vgl. KpV Ak. V 127 ff. 13 KpV Ak. V 110.

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werde doch nie gestehen, dass du etwas Böses (kakon, malum) seist! er hatte doch recht. Ein Übel war es, das fühlte er, und das verrieth sein Geschrei; aber dass ihm dadurch ein Böses anhinge, hatte er gar nicht Ursache einzuräumen; denn der Schmerz verringert den Werth seiner Person nicht im mindesten, sondern nur den Werth seines Zustandes. Eine einzige Lüge, deren er sich bewußt gewesen wäre, hätte seinen Muth niederschlagen müssen; aber der Schmerz diente nur zur Veranlassung, ihn zu erheben, wenn er sich bewußt war, dass er ihn durch keine unrechte Handlung verschuldet und sich dadurch strafwürdig gemacht habe (Ak. V 60).

Kant stimmt mit voller Emphase der stoischen Überzeugung zu, wonach Tugend, d. h. Moral, das einzige Gut darstellt. Bekanntlich vertraten die Stoiker eine auf den ersten Blick äußerst rigoristische Güterkonzeption.14 Danach gibt es nur ein einziges Gut, und zwar das habituelle moralische Gutsein, also die Tugend ( !qet¶), einschließlich dessen, „was an ihr teilhat“ (t¹ let´wom !qet/r);15 und analog dazu existiert nur ein einziges Übel, das habitualisierte moralisch Böse, d. h. die Schlechtigkeit ( jaj¸a). Nur ersteres ist an sich wählenswert (aRqetºm, expetendum);16 nur letzteres ist zu meiden. Davon strikt abzusetzen ist die Gruppe der vermeintlichen seelischen, körperlichen oder äußeren Güter. Denn was gewöhnlich als gut angesehen werde, sei in Wahrheit indifferent ( !di²voqa). Vermutlich sind die Stoiker allerdings weniger rigoristisch, als Kant sie auffasst, da zu ihrer Position ja auch die Lehre von den pqogcl´ma gehört, also von dem, was vorziehenswert ist, ohne zugleich gut zu sein. Wie dem auch sei, sieht man sich Kants Auseinandersetzung mit dem Tugendbegriff der Stoiker allerdings etwas genauer an, so fällt auf, dass Kant sich in einem fundamentalen Punkt täuscht. In der Kritik der praktischen Vernunft finden wir Kants eigene Tugendkonzeption (Ak. V 82 – 86; ebenso Tugendlehre Ak. VI 396 f.). Unter Tugend versteht Kant soviel wie eine habitualisierte moralische Gesinnung; sie wird markant von ,Heiligkeit‘ unterschieden. Während nämlich Tugend die „moralische Gesinnung im Kampfe“ darstellt und in einem unendlichen Fortschritt begriffen ist, bezeichnet Heiligkeit das Ideal einer „völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens“. Kant bescheinigt nun den Stoikern, diesen Punkt antizipiert zu haben. Die 14 Vgl. Woldemar Görler: Zum virtus-Fragment des Lucilius und zur Geschichte der stoischen Gterlehre, in: Hermes 112, 1984, S. 445 – 468. 15 SVF III 29 – 37. Mit dem „Teilhabenden“ ist einerseits das „gute Handeln“ (eqpqan¸a) gemeint, andererseits der „gute seelische Zustand“ (eqp²heia). 16 Vgl. Cicero, fin. III 21.

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Stoiker hätten Tugend im Sinn einer tapferen, kampferprobten Gesinnung gedeutet – nicht im Sinn des Besitzes einer vollkommenen und harmonischen moralischen Identität. Zugleich hätten sie jedoch die Art und das Ausmaß des Widerstands gegen die Erreichung des moralischen Vollkommenheitszustands unterschätzt – während erst das Christentum eine realistische Bestimmung unserer sinnlich bestimmten Natur geliefert habe. In der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft finden sich folgende zwei aussagekräftige Textstücke: Dass, um ein moralisch guter Mensch zu werden, es nicht genug sei, den Keim des Guten, der in unserer Gattung liegt, sich bloß ungehindert entwickeln zu lassen, sondern auch eine in uns befindliche entgegenwirkende Ursache des Bösen zu bekämpfen sei, das haben unter allen alten Moralisten vornehmlich die Stoiker durch ihr Losungswort Tugend, welches (sowohl im Griechischen als Lateinischen) Muth und Tapferkeit bezeichnet und also einen Feind voraussetzt, zu erkennen gegeben. In diesem Betracht ist der Name Tugend ein herrlicher Name, und es kann ihm nicht schaden, dass er oft prahlerisch gemißbraucht und (so wie neuerlich das Wort Aufklärung) bespöttelt worden. – Denn den Muth auffordern, ist schon zur Hälfte so viel, als ihn einflößen; dagegen die faule, sich selbst gänzlich mißtrauende und auf äußere Hülfe harrende kleinmüthige Denkungsart (in Moral und Religion) alle Kräfte des Menschen abspannt und ihn dieser Hülfe selbst unwürdig macht. […] Aber jene wackern Männer verkannten doch ihren Feind, der nicht in den natürlichen, bloß undisciplinirten, sich aber unverhohlen jedermanns Bewußtsein offen darstellenden Neigungen zu suchen, sondern ein gleichsam unsichtbarer, sich hinter Vernunft verbergender Feind und darum desto gefährlicher ist. Sie boten die Weisheit gegen die Thorheit auf, die sich von Neigungen bloß unvorsichtig täuschen läßt, anstatt sie wider die Bosheit (des menschlichen Herzens) aufzurufen, die mit seelenverderbenden Grundsätzen die Gesinnung insgeheim untergräbt (Ak. VI 57 – 60).

Kant missdeutet die stoische Tugendkonzeption in einer Weise, die sich nur schwer nachvollziehen lässt. Was er nicht sieht, ist, dass die stoische Tugendkonzeption nicht prozessual, sondern im Sinn einer definitiven Transformation zu verstehen ist. Sie impliziert zudem eine irreversible moralische Vollkommenheit gemäß einem Harmoniemodell, bei dem der Weise, der sovºr, abschließend und ohne weitere Herausforderungen im Besitz eines perfekten praktischen Urteils ist und über ausreichend viel Motivationspotential zu seiner Umsetzung verfügt. Kant verwechselt gleichsam die Figuren des sovºr (sapiens) und die des pqojºptym (progrediens). Vielleicht mit Blick auf die populäre Stoa und auf Formulierungen wie „si desint vires, tamen est laudanda vo-

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luntas“ (Ovid, Epistulae ex Ponto III 4, 79) 17 schreibt Kant den Stoikern die Meinung zu, Tugend bewähre sich im Kampf gegen zuwiderlaufende Kräfte unserer menschlichen Natur. Vor diesem Hintergrund wird nun auch verständlich, weshalb Kant die asketische Praxis der Stoiker für bewundernswert erklären kann. In der Tugendlehre heißt es: Die Cultur der Tugend, d.i. die moralische Ascetik, hat in Ansehung des Princips der rüstigen, muthigen und wackeren Tugendübung den Wahlspruch der Stoiker: gewöhne dich die zufälligen Lebensübel zu ertragen und die eben so überflüssigen Ergötzlichkeiten zu entbehren (assuesce incommodis et desuesce commoditatibus vitae). Es ist eine j Art von Diätetik für den Menschen, sich moralisch gesund zu erhalten. Gesundheit ist aber nur ein negatives Wohlbefinden, sie selber kann nicht gefühlt werden. Es muß etwas dazu kommen, was einen angenehmen Lebensgenuß gewährt und doch bloß moralisch ist. Das ist das jederzeit fröhliche Herz in der Idee des tugendhaften Epikurs. Denn wer sollte wohl mehr Ursache haben frohen Muths zu sein und nicht darin selbst eine Pflicht finden, sich in eine fröhliche Gemüthsstimmung zu versetzen und sie sich habituell zu machen, als der, welcher sich keiner vorsetzlichen Übertretung bewußt und wegen des Verfalls in eine solche gesichert ist (hic murus aheneus esto etc. Horat.) (Ak. VI 484 f.).

Was Kant erstaunlicherweise nicht gesehen hat, ist, dass seine eigene Rede von einer „Revolution in der Gesinnung“ (z. B. Rel. Ak. VI 47) genau den Punkt trifft, den auch die Stoiker vertraten. Wenn Kant von einer punktuellen Revolution der Denkungsart spricht, meint er nicht jede moralische Einstellungsänderung, sondern nur (ebenso wie die Stoiker) eine einzige, nämlich eine, die zur kompletten Moralität führen soll (d. h. zur Vorordnung der Maxime, stets das Moralische zu tun, gegenüber der Maxime, nicht immer moralisch zu handeln). Eine schrittweise Entwicklung sieht er zugleich durchaus vor, glaubt aber, dass der entscheidende letzte Schritt sich als abrupter und radikaler Gesinnungswechsel vollzieht. Im Grunde ist sich Kant sehr wohl der Tatsache bewusst, dass die Stoiker mit dem Ideal des Weisen (sovºr) eine extrem utopisch dimensionierte Normfigur skizziert haben. Kant hat ihr in der ,Transzendentalen Dialektik‘ der Kritik der reinen Vernunft einen Passus gewidmet, in der der stoische Weise neben Platons idealer Polis aus der Politeia zur Erläuterung des Begriffs eines ,Ideals‘ verwendet wird:

17 Vgl. dazu Kants Bemerkungen zu den Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen Ak. XX 148.

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Aber der Weise (des Stoikers) ist ein Ideal, d.i. ein Mensch, der bloß in Gedanken existirt, der aber mit der Idee der Weisheit völlig congruirt. So wie die Idee die Regel giebt, so dient das Ideal in solchem Falle zum Urbilde der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes; und wir haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen, als das Verhalten dieses göttlichen Menschen in uns, womit wir uns vergleichen, beurtheilen und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können. Diese Ideale, ob man ihnen gleich nicht objective Realität (Existenz) zugestehen möchte, sind doch um deswillen nicht für Hirngespinste anzusehen, sondern geben ein unentbehrliches Richtmaß der Vernunft ab, die des Begriffs von dem, was jin seiner Art ganz vollständig ist, bedarf, um darnach den Grad und die Mängel des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen. Das Ideal aber in einem Beispiele, d.i. in der Erscheinung, realisiren wollen, wie etwa den Weisen in einem Roman, ist unthunlich und hat überdem etwas Widersinnisches und wenig Erbauliches an sich, indem die natürlichen Schranken, welche der Vollständigkeit in der Idee continuirlich Abbruch thun, alle Illusion in solchem Versuche unmöglich und dadurch das Gute, das in der Idee liegt, selbst verdächtig und einer bloßen Erdichtung ähnlich machen (Drittes Hauptstück: Das Ideal der reinen Vernunft: A 569 f./B 597 f.).

Kant stellt sich im Grundsatz auf die Seite der Stoiker, was ihre (angebliche) Lehre von der Tugend als seelischer Stärke und ihr Ideal des Weisen anlangt. In einer bestimmten Hinsicht wendet er sich aber deutlich gegen die Stoa: nämlich beim Thema des erlaubten Suizids. In der Tugendlehre schreibt Kant im Kapitel „Von der Selbstentleibung“: Dass der Mensch sich selbst beleidigen könne, scheint ungereimt zu sein (volenti non fit iniuria). Daher sah es der Stoiker für einen Vorzug seiner (des Weisen) Persönlichkeit an, beliebig aus dem Leben (als aus einem Zimmer, das raucht), ungedrängt durch gegenwärtige oder besorgliche Übel, mit ruhiger Seele hinaus zu gehen: weil er in demselben zu nichts mehr nutzen könne. – Aber eben dieser Muth, diese Seelenstärke, den Tod nicht zu fürchten und etwas zu kennen, was der Mensch noch höher schätzen kann, als sein Leben, hätte ihm ein um noch so viel größerer Bewegungsgrund sein müssen, sich, ein Wesen von so großer, über die stärkste sinnliche Triebfedern gewalthabenden Obermacht, nicht zu zerstören, mithin sich des Lebens nicht zu berauben (Ak. VI 422).

Aber diese Zurückweisung der stoischen Moralphilosophie durch Kant ist auf die Frage nach dem Suizid beschränkt. In allen anderen Hinsichten bleibt es bei einer tiefreichenden Bewunderung für die stoische Idee von Moralität. Diese zeigt sich auch noch bei einem weiteren Teilthema, bei dem sich Kant erneut weitgehend auf die Seite der Stoiker stellt, obwohl er dies auch in diesem Fall nicht mit Recht tut:

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beim Thema der moralischen Gefühle. Im § 75 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht schreibt er: Das Princip der Apathie: dass nämlich der Weise niemals im Affect, selbst nicht in dem des Mitleids mit den Übeln seines besten Freundes sein müsse, ist ein ganz richtiger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule; denn der Affect macht (mehr oder weniger) blind. – Dass gleichwohl die Natur in uns die Anlage dazu eingepflanzt hat, war Weisheit der Natur, um provisorisch, ehe die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen, nämlich den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen (sinnlichen) Anreizes, als einstweiliges Surrogat der Vernunft, zur Belebung beizufügen. Denn übrigens ist Affect, für sich allein betrachtet, jederzeit unklug; er macht sich selbst unfähig, seinen eigenen Zweck zu verfolgen, und es ist also unweise ihn in sich vorsätzlich entstehen zu lassen. – Gleichwohl kann die Vernunft in Vorstellung des Moralisch-Guten durch Verknüpfung ihrer Ideen mit Anschauungen (Beispielen), die ihnen untergelegt werden, eine Belebung des Willens hervorbringen (in geistlichen oder auch politischen Reden ans Volk, oder auch einsam an sich selbst) und also nicht als Wirkung, sondern als Ursache eines Affects in Ansehung des Guten seelenbelebend sein, wobei diese Vernunft doch immer noch den Zügel führt, und ein Enthusiasm des guten Vorsatzes bewirkt wird, der aber eigentlich zum Begehrungsvermögen und nicht zum Affect, als einem stärkeren sinnlichen Gefühl, gerechnet werden muß (Ak. VII 253 f.).

Kant hält Gefühle für eine schlechte Basis für die Moral. Er erklärt sie für inhaltlich blind und für tendenziell überschwänglich, für motivational instabil und für unverfügbar, also nicht verlässlich abrufbar. Oder systematischer ausgedrückt: Sie kommen für eine angemessene Moralphilosophie nicht in Betracht, weil sie erstens parteilich sind und ihren positiven Adressaten zuviel Wohlwollen zuwenden, ihre Nichtadressaten hingegen ignorieren; zweitens weil sie sich unbeständig verhalten, während eine adäquate moralische Motivation konstant und dauerhaft sein muss; und drittens sie wegen ihrer mangelnden Steuerbarkeit nicht geboten werden können, während die angemessene Form der Moralimplementation das Gebot sein soll. Kant ist mithin – im Unterschied zu den Stoikern – Wunschtheoretiker der Emotionen, weil er wie Hume glaubt, Affekte entsprängen unserer sinnlichen Natur; die Stoiker sind dagegen kognitivistische Emotionstheoretiker, weil sie Emotionen für (verfehlte) Urteile halten. Das Problematische an Kants Urteil über die Affektkonzeption der Stoiker liegt darin, dass diese durchaus konzedieren, dass es auch angemessene affektive Einstellungen (eqp²heiai) geben könne: nämlich Freude (waq²), Vorsicht (eqk²beia) und Wille (bo¼kgsir). Kant referiert

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die Position der Stoiker also zu undifferenziert. Übrigens tut er natürlich auch seiner eigenen affektiven Theorie, nämlich der der Achtung – eines vernunftbasierten Gefühls – einige Gewalt an, wenn er in dieser schlichten Form die – angeblich – strikt emotionskritische Position der Stoiker gutheißt. In diesem singulären Punkt ist Kant ein rationalistischer Emotionstheoretiker – aber auch das ist mit der Position der Stoa unvereinbar, weil die Stoiker ja gerade keinen Affekt als moralisch adäquat gelten lassen. In ebenfalls zu simplifizierender Weise wird derselbe Punkt in der Tugendlehre verteidigt, wo Kant die stoische Konzeption der Affektfreiheit ( !p²heia) ebenfalls mit viel Pathos unterstützt: Dieses Wort ist, gleich als ob es Fühllosigkeit, mithin subjective Gleichgültigkeit in Ansehung der Gegenstände der Willkür bedeutete, in übelen Ruf gekommen; man nahm es für Schwäche. Dieser Mißdeutung kann dadurch vorgebeugt werden, dass man diejenige Affectlosigkeit, welche von der Indifferenz zu unterscheiden ist, die moralische Apathie nennt: da die Gefühle aus sinnlichen Eindrücken ihren Einfluß auf das moralische nur dadurch verlieren, dass die Achtung fürs Gesetz über sie insgesammt mächtiger wird. – Es ist nur die scheinbare Stärke eines Fieberkranken, die den lebhaften Antheil selbst am Guten bis zum Affect steigen, oder vielmehr darin ausarten läßt. Man nennt den Affect dieser Art Enthusiasm, und dahin ist auch die Mäßigung zu deuten, die man selbst für Tugendausübungen zu empfehlen pflegt (insani sapiens nomen habeat aequus iniqui – ultra quam satis est virtutem si petat ipsam Horat.). Denn sonst ist es ungereimt zu wähnen, man könne auch wohl allzuweise, allzutugendhaft sein. Der Affect gehört immer zur Sinnlichkeit; er mag durch einen Gegenstand erregt werden, welcher es wolle. Die wahre Stärke der Tugend ist das Gemüth in Ruhe mit einer überlegten und festen Entschließung ihr Gesetz in Ausübung zu bringen. Das ist der Zustand der Gesundheit im moralischen Leben; dagegen der Affect, selbst wenn er durch die Vorstellung des Guten aufgeregt wird, eine augenblicklich glänzende Erscheinung ist, welche Mattigkeit hinterläßt. – Phantastisch-tugendhaft aber kann doch der genannt werden, der keine in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge (adiaphora) einräumt und sich alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten als mit Fußangeln bestreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekommt, nähre; eine Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen würde (Ak. VI 408 f.).

Kant bezeichnet eine affektiv geprägte Motivationslage hier erneut als pathologisch und hält sie in der Moral für deplaziert. Die stoische apatheia nimmt er dagegen in Schutz, irrigerweise als eine Haltung der Indifferenz oder Gleichgültigkeit interpretiert zu werden. Ebenfalls in

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der Tugendlehre zieht Kant hieraus eine problematische Konsequenz, indem er Mitleid oder Mitgefühl geradezu als unangemessene Vermehrung des Leidens in der Welt verwirft: Es war eine erhabene Vorstellungsart des Weisen, wie ihn sich der Stoiker dachte, wenn er ihn sagen ließ: ich wünsche mir einen Freund, nicht der mir in Armuth, Krankheit, in der Gefangenschaft u. s. w. hülfe leiste, sondern damit ich ihm beistehen und einen Menschen retten könne; und gleichwohl spricht eben derselbe Weise, wenn sein Freund nicht zu retten ist, zu sich selbst: was gehts mich an? D. i. er verwarf die Mitleidenschaft. – In der That, wenn ein Anderer leidet und ich mich durch seinen Schmerz, dem ich doch nicht abhelfen kann, auch (vermittelst der Einbildungskraft) anstecken lasse, so leiden ihrer zwei; obzwar das Übel eigentlich (in der Natur) nur einen trifft. Es kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren, mithin auch nicht aus Mitleid wohl zu thun; wie dann dieses auch eine beleidigende Art des Wohlthuns sein würde, indem es ein Wohlwollen ausdrückt, was sich auf den Unwürdigen bezieht und Barmherzigkeit genannt wird, und unter Menschen, welche mit ihrer Würdigkeit glücklich zu sein eben nicht prahlen dürfen, respectiv gegen einander gar nicht vorkommen sollte (Ak. VI 457).

Im Kontext des letzten Zitats konzediert Kant für moralische Gefühle, besonders Liebe – verstanden als ,Wohlthun‘, nicht als pathologische Liebe – lediglich eine indirekte oder sekundäre Funktion. Er unterscheidet dort zwischen solchen Sympathiegefühlen, die er als „humanitas practica“ bezeichnet und solchen, denen er den kritisch gemeinten Titel „humanitas aesthetica“ gibt (Ak. VI 456 f.). Während die erstere für die Fähigkeit steht, seine Gefühle mitzuteilen, bedeutet letztere eine „Empfänglichkeit für das gemeinsame Gefühl des Vergnügens oder Schmerzens“. Nur die erstgenannte Gefühlslage beruht auf praktischer Vernunft, während die zweite unter Heranziehung des stoischen Ideals vom Weisen abgelehnt wird.18 Eine ästhetische Humanität würde das Quantum Negativität in der Welt nur erhöhen, wie Kant in einem überraschenden Anflug von Konsequentialismus sagt.

18 Zu diesem Thema vgl. den Beitrag von Marcia W. Baron: Sympathy and Coldness: Kant on the Stoic and the Sage, in: Proceedings of the VIIIth International Kant Congress, vol. 1, part 2, Milwaukee 1995, S. 691 – 702.

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Kants Pflichtkonzeption und der stoische Begriff des jah/jom (officium) Die antike Moralphilosophie, einschließlich der der Stoiker, gehört insgesamt zur Theoriefamilie der teleologischen, nicht der deontologischen Ethiken. Wie wir wissen, entwickelte sich Kants Ethik vor dem Hintergrund einer engen Auseinandersetzung mit dieser teleologischen Tradition; dabei spielen die Stoiker eine bedeutende Rolle.19 Gleichzeitig ordnet man sein eigenes Modell jedoch üblicherweise den deontologischen Ethiken zu. Seit der Grundlegung ist Kants Moralphilosophie auf den Pflichtbegriff fokussiert. Interessanterweise spielt dieser in der Kritik der reinen Vernunft, deren ,Methodenlehre‘ bekanntlich einen knappen Abriss der moralphilosophischen Position Kants zu diesem Zeitpunkt enthält (A 806/B 834 ff.), noch keine Rolle. Nun wäre es naheliegend anzunehmen, dass die Stoa-Rezeption Kants in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle gespielt haben könnte. Zu den teleologischen, der Antike entnommenen Voraussetzungen der Kantischen Entwicklung gehört zunächst der Begriff eines absolut guten Willens. Eine Verbindung dieses „ohne Einschränkung guten“ Willens mit Kants Behandlung der antiken Moralphilosophie hat Maximilian Forschner (1989) durch die Untersuchung der vorhandenen Vorlesungsmitschriften belegt. Gestützt auf die Praktische Philosophie Powalski und die Moralphilosophie Collins, in denen sich Kants Vorlesungen aus der Zeit der Grundlegung spiegeln, kann man feststellen: Kant begann auch diese Vorlesungen mit einer systematischen Einteilung der antiken Auffassungen vom höchsten Gut, indem er die kynische, die epikureische, die stoische, die platonische und die christliche Position voneinander unterschied. Liest man den Auftakt des Ersten Abschnitts der Grundlegung im Licht dieser Kollegmitschriften, so wird klar, dass sich die berühmte These vom guten Willen aus Kants üblicher, in der Grundlegung nicht explizit gemachter Auseinandersetzung mit der summum bonum-Diskussion der antiken Ethik erklären lässt. Kant weist hier einerseits die epikureische Verzwecklichung der Moralität und andererseits die stoische Gleichsetzung des höchsten Guts mit einem moralisch orientierten Willen, nämlich der !qet¶, zurück. 19 Vgl. auch das Material bei Michael J. Seidler: The Role of Stoicism in Kant’s Moral Philosophy, Ann Arbor 1981, sowie bei Ulrike Santozki: Die Bedeutung antiker Theorien fr die Genese und Systematik von Kants Philosophie. Eine Analyse der drei Kritiken, Berlin/New York 2006, S. 140 – 198.

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Forschners Nachweis wird unterstützt durch eine Beobachtung von Norbert Hinske (1989). Der Begriff eines nicht-ambivalenten Gutes, den Kant als ein Interpretament des guten Willens verwendet, geht auf eine präzise angebbare Quelle zurück: Die Memorabilien des Xenophon dienten Kant insofern als argumentative Vorlage, als bereits bei Xenophon konstatiert wird, ein einziges Gut sei allem Streit entzogen, nämlich das Glücklichsein (eqdailome?m); freilich setze es sich „aus ambivalenten Gütern zusammen“ (1n !lvikºcym !cah_m sumtihe¸g), weswegen sich keiner der einzelnen Glücksbestandteile (eqdailomij²) als nicht-ambivalentes Gut ansetzen lasse.20 Xenophon, der im Deutschland des 18. Jahrhunderts breite Beachtung fand,21 weist das Glück also als ein nicht-ambivalentes, schlechthin erstrebenswertes Gut aus und hält dennoch die empirischen Mittel zu seiner Erlangung nicht für eindeutig angebbar. Zwar gibt Kant diesem Gedanken eine anti-eudämonistische Wendung; dennoch dürfte klar sein: Sogar das Hauptargument der Kantischen Eudämonismus-Kritik, die Unbestimmbarkeit der Glücksgüter aufgrund der empirischen Unbeständigkeit von Glückswirkungen, verdankt sich einer Argumentationsfigur der antiken Strebenstheorie.22 Noch wichtiger scheint jedoch, dass die zentrale Innovation, die die Grundlegung gegenüber Kants früheren Darstellungen seiner Moralphilosophie – einschließlich der knappen Bemerkungen in der ersten Kritik – aufweist, ebenfalls antiker Herkunft ist. Zwar fasst die Grundlegung, die Kant als Sechzigjähriger geschrieben hat, erwartungsgemäß zum größeren Teil Material zusammen, das er zuvor in seinen Reflexionen skizzierte und das er in den regelmäßigen moralphilosophischen Vorlesungen (seit 1756/57) verwendete. Jedoch, der zentrale Gedanke der Grundlegung, nämlich dass das Antriebsmoment zur Moralität allein in der Pflicht, genauer in der „Achtung vor dem Gesetz“ liegen dürfe, beruht nachweislich auf einer eben erst vollzogenen Positionsverschie20 Memorabilien IV 2,31 ff. 21 Dazu Norbert Hinske: Die ,Ratschlge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung, in: Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, hg. von Otfried Höffe, Frankfurt a.M. 1989, S. 131 – 147, S. 140 f. 22 Weitere Indizien für Kants konzeptionelle Affinität zu den antiken teleologischen Ethiken führe ich an in Christoph Horn: Wille, Willensbestimmung, Begehrungsvermçgen, in: Kant. Kritik der praktischen Vernunft , hg. von Otfried Höffe (Klassiker Auslegen, Bd. 26), Berlin 2002, S. 43 – 61 und Christoph Horn: Die Menschheit als objektiver Zweck – Kants Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs, in: Kants Ethik, hg. von Karl Ameriks/Dieter Sturma, Paderborn 2004, S. 195 – 212.

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bung. Charakteristisch für Kants frühe Moralphilosophie, von der noch die erste Kritik bestimmt ist, ist die Ansetzung einer intelligiblen Welt (in der Sittlichkeit unmittelbar eine intellektuell aufgefasste Glückseligkeit zur Folge hat) als der Triebfeder zur Sittlichkeit; Kant kann daher Gott traditionell als das höchste Gute kennzeichnen, und zwar im Sinn eines Garanten einer überzeitlichen, gerechtigkeitsverbürgenden Welt. Nun weiß man, dass Kant dieses Modell aufgrund eines genau bestimmbaren Anlasses revidiert hat, aufgrund eines Ereignisses, das ihn zur Abfassung der Grundlegung führte. Kant wurde im August des Jahres 1783 mit einer Rezension zur Kritik der reinen Vernunft aus der Feder Christian Garves konfrontiert. Eckart Förster (1992) hat nachgewiesen, dass sich Kant durch diese Rezension zur Abfassung einer „Antikritik“ bzw. eines „Prodromum zur Moral“23 herausgefordert fühlte. Denn Garve hatte sich in seiner Rezension gegen Kants Ausführungen zum höchsten Gut in der ersten Kritik gewandt. Im zweiten Abschnitt seines Kanons der reinen Vernunft vertrat Kant dort im Sinn seines älteren Modells die Auffassung, dass nur Gott das Fundament der Sittlichkeit bilden könne, indem nämlich Glückseligkeit und Moralität durch Gott in einer „gehofften Welt“ miteinander verbunden würden. Die Gottesidee sollte mithin dem Problem abhelfen, dass andernfalls „die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausführung“ wären.24 Kant sagt ausdrücklich, nur so lasse sich der „ganze[n] 23 Vgl. Eckart Förster: „Was darf ich hoffen?“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 46, 1992, S. 168 – 185, S. 173. Dagegen beurteilt Manfred Kühn: Kant and Cicero, in: Kant und die Berliner Aufklrung, hg. von Volker Gerhardt/ Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. III, Berlin/New York 2001, S. 270 – 285 die Bedeutung von Garves Rezension für die Entstehung der Kantischen Position wesentlich zurückhaltender. 24 KrV, A 813/B 841. Hermann Schmitz: Was wollte Kant?, Bonn 1989, hat die Position der ersten Kritik überspitzt als einen „zynischen Eudämonismus“ bezeichnet. Richtig ist vielmehr, dass Kant bereits zu diesem Zeitpunkt die Einsicht formulierte, das moralische Handlungsmotiv dürfe nicht im Glück, sondern müsse im Sittengesetz liegen: „Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, dass jedermann tue, was er soll, d.i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich oder unter sich befasst, entsprängen“ (KrV, A 809 f./B 837 f.). Recht hat Schmitz nur insoweit, als erst in der zweiten Kritik das Sittengesetz als alleiniger Bestimmungsgrund des Willens aufgefasst und die Glückseligkeit mit ihm nur postulatorisch korreliert wird. Nun ist dies zwar sachlich eine erheb-

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Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen“.25 Garves Einwand bestand darin, dass Gottes Existenz, nachdem sie in der ersten Kritik als Gegenstand theoretischer Erkenntnis verabschiedet worden sei, auf dem Weg einer bloßen Hoffnung „in den Kopf und das Herz nur sehr weniger Menschen Eingang finden“ könne.26 Erstmals in Auseinandersetzung mit Garve, also nicht vor 1783/84, verzichtete Kant auf den Gedanken einer göttlichen Belohnung als Antriebsmoment für die Moralität. Erst jetzt fand er zu seiner Position der „Achtung vor dem Gesetz“ als dem Prinzip der Pflicht. In der Grundlegung stuft Kant folgerichtig den Ausdruck „Triebfeder“ zur Kennzeichnung des sinnlich-neigungsbestimmten Antriebsmoments herunter27 und vertritt die Position, dass reine Vernunft bereits für sich praktisch sein müsse. Doch worin genau besteht der Zusammenhang zwischen der Garveschen Rezension und dieser Entdeckung? Zunächst sah Kant im Erscheinen von Garves Schrift Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Bchern von den Pflichten (1783) einen willkommenen Anlass, dem kritischen Rezensenten mit einer Gegenkritik zu antworten. In der Folgezeit scheint er aus Garves Cicero-Buch jedoch Entscheidendes gelernt zu haben;28 auffälligerweise enthält die Grundlegung keinerlei Kritik an Garve.29 Was Kant der Schrift Garves entnahm, ist freilich nicht dessen eigene aretaisch-eudämonistische Moralphilosophie, sondern es ist die bei Garve nach Ciceros Schrift De officiis referierte Position der Stoiker. Eben dadurch erklärt sich der Umstand, dass Kant erstmals in der Grundlegung dem Pflichtbegriff eine wichtige Stellung einräumt. Es ist daher hochplausibel, dass sich darin das stoische jah/jom (officium) spiegelt, wie Kant es durch die Vermittlung Garves und Ciceros rezipiert hat.

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liche Innovation; sie lässt sich aber vor dem Hintergrund der Kantischen Gedankenentwicklung so verstehen, dass damit lediglich ein adäquaterer Ausdruck derselben Intention erreicht war, die für Kant bereits in der ersten Kritik leitend gewesen ist. ebd. Zitiert nach Eckart Förster: „Was darf ich hoffen?“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 46, 1992, S. 168 – 185, S. 173. GMS, IV 427; ebenso KpV, V 72. Dies bemerkt übrigens schon Klaus Reich: Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen 1935, S. 28 ff. Auch Kants spätere Einwände gegen Garve, etwa im Gemeinspruch (Ak. VIII 278 ff.), zeugen durchaus von Wertschätzung.

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Kommen wir damit zu Kants Beurteilung der antiken Ethiktradition sowie zu seiner philosophiehistorischen Selbsteinschätzung. Wie soeben erwähnt, unterschied Kant in seinen Reflexionen aus den sechziger und siebziger Jahren wie auch in seinen Vorlesungen und später in der zweiten Kritik vier divergierende antike summum bonum-Konzeptionen: den Epikureismus, die Stoa, den Kynismus sowie die Position Platons, und konfrontierte diese Lehren mit der christlichen Auffassung. Er betrachtete freilich nur die beiden ersten als moralphilosophisch relevant: Wie wir bereits sahen, beinhaltet nach Kant nur das epikureische und das stoische summum bonum-Verständnis ein durch menschliche Bemühung erreichbares praktisches Ideal.30 Während Epikur allerdings empirische Triebfedern zur Glückseligkeit als Prinzip der Beurteilung des Sittlichen aufgefasst habe, habe der Stoiker Zenon die Sittlichkeit zum Handlungsprinzip erklärt und die Glückseligkeit aus ihr abgeleitet.31 Kants Schlussfolgerung lautet im frühen wie im späten Kontext gleich: Beide antiken Versuche, Sittlichkeit und Glückseligkeit zusammenzudenken, seien irrig. Denn Sittlichkeit und Glückseligkeit bildeten in beiden Modellen jeweils nur eine inhomogene Einheit. Auf diese Inhomogenität im summum bonum-Begriff habe erstmals das Christentum aufmerksam gemacht, indem es eine unüberwindliche Differenz von Tugend und Glückseligkeit unter irdischen Bedingungen herausgestellt habe. Erst das Christentum habe den Begriff einer gegen unsere natürlichen Neigungen gerichteten Pflicht aufgebracht.32 Kants reife Auseinandersetzung mit der antiken Ethik beschränkt sich nun auf die Kritik der praktischen Vernunft, nimmt in dieser Schrift aber einen erheblichen Umfang ein: Sie erfolgt sowohl in der Analytik (KpV Ak. V 57 – 65) als auch in der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom hçchsten Gut (Ak. V 110 ff.) und schließlich im Kontext des Kantischen Postulats vom Dasein Gottes (Ak. V 126 ff.). Diesen Auseinandersetzungen ist gemeinsam, dass einerseits das Scheitern der antiken summum bonum-Konzeptionen festgestellt wird, ohne dass Kant andererseits das teleologische Ethikmodell überhaupt verwerfen würde. Es ist nicht schwer zu sehen, worin Kant die Differenz zwischen der antiken und seiner eigenen Variante einer teleologischen Moralphilosophie sieht. Er lastet der antiken Ethik den Fehler an, das den Willen 30 Reflexion 6874, Ak. XIX 188; ähnlich KpV Ak. V 111. 31 Vgl. etwa Reflexion 6619, Ak. XIX 112; ebenso KpV Ak. V 112 f. 32 Reflexion 6872, Ak. XIX 187; vgl. KpV Ak. V 127 ff.

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bestimmende materiale Korrelat, den Endzweck, vom sinnlich-empirischen Glücksstreben abgeleitet und damit Streben und Moralität nicht angemessen verkoppelt zu haben.33 Anders gewendet lautet der Vorwurf, die antike Ethik habe den Unterschied und die Zusammengehörigkeit von „oberstem Gut“ und „höchstem Gut“ nicht richtig beschrieben (KpV Ak. V 110). Schließlich erhebt Kant den Einwand, die antiken Moralphilosophen hätten nicht gesehen, dass es „moralisch notwendig“ sei, „das Dasein Gottes anzunehmen“, und zwar nicht als „eines Grundes aller Verbindlichkeit überhaupt“, sondern als ein Postulat.34 Kants Selbsteinschätzung besteht folglich darin, erst er selbst habe den angemessenen Sinn der summum bonum-Konzeption herausgestellt. Hieraus ergibt sich: Auch wenn sich prima facie der Eindruck aufdrängt, als wolle er die summum bonum-Thematik verabschieden35, ist genau das Gegenteil der Fall. Kant ist davon überzeugt, „die Alten“ hätten den wohlverstandenen Sinn der Lehre vom höchsten Gut nicht begriffen und „die Neuen“ hätten das Thema zu Unrecht fallengelassen.36 Den Umstand, dass bei den neuzeitlichen Philosophen „die Frage über das höchste Gut außer Gebrauch gekommen, zum wenigsten nur Nebensache geworden zu sein scheint“, kritisiert er ausdrücklich (KpV Ak. V 64). 33 Vgl. KpV Ak. V 64: „Die Alten verrieten indessen diesen Fehler dadurch unverhohlen, dass sie ihre moralische Untersuchung gänzlich auf die Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut, mithin eines Gegenstandes setzten, welchen sie nachher zum Bestimmungsgrunde des Willens im moralischen Gesetze zu machen gedachten […].“ 34 KpV Ak. V 125 f.; vgl. V 126: „Aus dieser Deduktion wird nunmehr begreiflich, warum die griechischen Schulen zur Auflösung ihres Problems von der praktischen Möglichkeit des höchsten Guts niemals gelangen konnten: weil sie nur immer die Regel des Gebrauchs, den der Wille des Menschen von seiner Freiheit macht, zum einzigen und für sich allein zureichenden Grunde derselben machten, ohne ihrem Bedünken nach das Dasein Gottes zu bedürfen.“ 35 Vgl. etwa die Aussage im Gemeinspruch, Ak. VIII 280: „Bei der Frage vom Prinzip der Moral kann also die Lehre vom hçchsten Gut, als letzten Zweck eines durch sie bestimmten und ihren Gesetzen angemessenen Willens, (als episodisch) ganz übergangen und beiseite gesetzt werden.“ 36 Vgl. bereits Reflexion 6624, Ak. XIX 116: „Die theorien der alten scheinen darauf abzuzielen, die beyde Elemente oder wesentliche Bedingungen des höchsten Gutes, Glükseeligkeit und Sittlichkeit auf eines zu bringen […] Die systeme der Neueren dienen, das principium der moralischen Beurtheilung zu finden.“

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Sein eigener Begriff eines summum bonum ergibt sich, wie oben bereits angedeutet, als eine neuartige Synthese aus Sittlichkeit und Glückseligkeit. Alle Vernunftwesen sind auf das Streben nach einem höchsten Gut festgelegt, das sie freilich, so Kant, nie unabhängig vom „obersten Gut“ erstreben dürften. Kant ist nun keineswegs der Meinung, die Philosophen des Altertums hätten das Thema Moralität verfehlt; angesichts der Herkunft seiner eigenen Pflichtkonzeption aus stoischen Textvorlagen wäre dies auch nur schwer zu begreifen. In einer eindrucksvollen Passage gesteht er den Stoikern zu, sie unterschieden korrekt zwischen dem utilitär Schlechten und dem moralisch Bösen und reservierten den Ausdruck jajºm oder malum mit Recht allein für letzteres (Ak. V 60). Dennoch habe erst die „Lehre des Evangelii“ die „Reinigkeit des moralischen Prinzips“ erreicht (Ak. V 86). Kant meint damit, dass erst das Christentum – verstanden als „Vernunftreligion“, nicht als offenbarungsbezogene „Religionsschwärmerei“ – den Menschen auf die Befolgung der moralischen Pflicht um der Pflicht willen festgelegt habe; denn bei den Stoikern komme es trotz ihrer klaren Moralitätskonzeption zu einem Pflicht und Neigung konfundierenden Strebensmodell (Ak. V 83 – 86). Kants Nähe zum Moralitätsgedanken der Stoiker wird somit in seinem Selbstverständnis noch überboten durch die Affinität zur Platonisch-christlichen Ethiktradition. Mit Recht hat daher etwa Maximilian Forschner Kant in die Nähe der platonisch-augustinischen Tradition gerückt. Der Pflichtbegriff, so wie Kant ihn versteht, wird mithin als ein christliches Theorieelement interpretiert. In der Kritik der praktischen Vernunft heißt es: Wenn dem also ist, so haben nicht allein Romanschreiber, oder empfindelnde Erzieher (ob sie gleich noch so sehr wider Empfindelei eifern), sondern bisweilen selbst Philosophen, ja die strengsten unter allen, die Stoiker, moralische Schwärmerei statt nüchterner, aber weiser Disciplin der Sitten eingeführt, wenn gleich die Schwärmerei der letzteren mehr heroisch, der ersteren von schaler und schmelzender Beschaffenheit war, und man kann es, ohne zu heucheln, der moralischen Lehre des Evangelii mit aller Wahrheit nachsagen: dass es zuerst durch die Reinigkeit des moralischen Princips, zugleich aber durch die Angemessenheit desselben mit den Schranken endlicher Wesen alles Wohlverhalten des Menschen der Zucht einer ihnen vor Augen gelegten Pflicht, die sie nicht unter moralischen geträumten Vollkommenheiten schwärmen läßt, unterworfen und dem Eigendünkel sowohl als der Eigenliebe, die beide gerne ihre Grenzen verkennen, Schranken der Demuth (d. i. der Selbsterkenntniß) gesetzt habe. Pflicht! Du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung

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verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüthe erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern blos ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüthe Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich insgeheim ihm entgegen wirken: welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werths ist, den sich Menschen allein selbst geben können? (Ak. V 86).

Offenkundig geht also die imperativische Form der Kantischen Moralphilosophie nicht auf die Stoa zurück. Deren Pflichtbegriff hat nichts absolut Gebietendes. Das von Zenon eingeführte stoische jah/jom (officium) bezeichnet vielmehr nur eine angemessene, rational begründete Verhaltensweise. Dabei fehlt gerade der Aspekt der praktischen Nötigung, der für Kant aufgrund seiner christlich geprägten Anthropologie der Erbsünde zentral war. Das jah/jom ist dasjenige, was der Weise von sich aus beachten wird, um in vollkommener Übereinstimmung mit der Natur zu leben. Kant hingegen meint, dass wir unserer hedonistischen Naturanlage gerade nicht trauen können; unser Wille muss – entgegen unseren sinnlichen Neigungen – durch das moralische Gesetz bestimmt werden, um ethisch richtig orientiert zu sein.

Die Synthese epikureischer und stoischer Elemente in John Stuart Mills Utilitarianism* von Maximilian Forschner „The study of the ancient writers has been of unspeakable benefit to the moderns“, John Stuart Mill, Sedgwick’s Discourse, Collected Works X, 43

I Der Utilitarismus gilt als Ethiktheorie der Moderne. Seine klassischen Autoren1 versuchen indessen alle, zumindest prominente Teile oder Wurzeln ihrer Theorie in philosophischen Vorstellungen der Antike zu verankern. Diese Tendenz ist bei John Stuart Mill besonders stark ausgeprägt. Sie gründet nicht zuletzt in seiner programmatischen Erziehung durch seinen Vater. Bekannt, wenn auch in der Mill-Literatur sträflich vernachlässigt, ist seine Bewunderung Platons, seine partielle Nähe zum Aristotelismus und seine explizite Anknüpfung an den Epikureismus. Weniger bekannt sind seine Anleihen bei der Stoa, die es im Folgenden besonders namhaft zu machen gilt. Allerdings tritt Stoisches bei ihm nur in Form eines Amalgams antiker „Motive“ auf und kann nur im Rahmen dieser Form hinreichend gewürdigt werden. Für den Vater James Mill war (ein recht, d. h. für ihn nicht „dogmatisch“ verstandener) Platon der größte aller Philosophen. Der Sohn arbeitete das Oeuvre Platons mehrmals zur Gänze durch. Mit George Grote, dem größten Gräzisten und Platon-Interpreten seiner Zeit in England, waren die Mills freundschaftlich und wissenschaftlich verbunden. John Stuart Mill schrieb umfangreiche Rezensionen zu Grotes

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Eine kürzere Fassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel Stoisches in John Stuart Mills „Utilitarismus“ in der Zeitschrift fr philosophische Forschung Band 62 Heft 1, 2008, S. 1 – 30. Jeremy Bentham 1748 – 1832, James Mill 1773 – 1836, John Stuart Mill 1806 – 1873, Henry Sidgwick 1838 – 1900.

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Werken.2 Methodisch faszinierte ihn an Platon die Elenchtik (the crossexamination) der Früh-Dialoge,3 die er dann im Organon des Aristoteles systematisch ausgearbeitet fand.4 Der aristotelische Begriff von Dialektik, dessen Verständnis und Unterscheidung von induktivem und deduktivem Verfahren und von topischer Argumentation gewinnen Vorbildcharakter für sein eigenes wissenschaftliches Methodenbewußtsein.5 Inhaltlich bietet ihm die Figur des Sokrates das Ideal der Lebensorientierung, und zwar ein Sokrates, wie ihn Xenophons Memorabilien und Platons frühe und mittlere Dialoge zeichnen, und wie er in den Socratici viri bei Cicero und in den Biographien Plutarchs fortwirkt.6 Systematisch stellt John Stuart Mill seine Ethik allerdings in eine Traditionslinie „von Epikur bis Bentham“7, in die des Epikureismus also, dem die Lust objektiv das einzige selbstwerthafte Ziel des Lebens ist. Doch Mill glaubt sich dabei einig mit dem jungen Sokrates (des Dialogs Protagoras), „der den alten Protagoras hörte und (wenn Platons Dialog auf einer wirklichen Unterredung beruht) die Theorie des Utilitarismus gegen das populäre Moralverständnis der sogenannten Sophisten verfocht.“8 In der Tat ist Mills Utilitarismus zwar auch und 2 3 4

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Sie sind abgedruckt in: The Collected Works of John Stuart Mill (= CW) in 33 volumes, ed. by John M. Robson, 1963 – 1991, vol. XI: Essays on Philosophy and the Classics. Vgl. Autobiography, CW vol. I S. 25. „From about the age of twelve, I entered into another and more advanced stage in my course of instruction … This commenced with Logic, in which I began at once with the Organon, and read it to the Analytics inclusive, but profited little by the Posterior Analytics, which belong to a branch of speculation I was not yet ripe for.“ Autobiography S. 21. Vgl. J. St. Mill: Grote’s Aristotle, CW vol. XI, S. 481 f. Vgl. Autobiography S. 49; 115. Die Verehrung der Tugenden der Socratici viri teilt der Sohn mit dem Vater: „justice, temperance …, veracity, perseverance, readiness to encounter pain und especially labour; regard for the public good; estimation of persons according to their merits, and of things according to their intrinsic usefulness; a life of exertion, in contradiction to one of self-indulgent sloth“, ebd. S. 49. Utilitarianism (=UR) S. 21. Ich zitiere diesen Text, der leichteren Zugänglichkeit halber, nach der deutsch-englischen Ausgabe bei Reclam, die den Text von CW enthält: John Stuart Mill: Utilitarianism – Der Utilitarismus, Stuttgart 2006; die deutsche Übersetzung von Dieter Birnbacher wird von mir modifiziert. In den CW findet sich der Text in vol. X, S. 203 – 259. Ebd. S. 21. Zu Mills Interpretation der Sokrates-Rolle und der von Sokrates hier vertretenen hedonistisch-utilitaristischen Position vgl. ausführlicher CW XI, S. 391.

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nicht zuletzt am Hedonismus Epikurs orientiert, aber im Ganzen nicht orthodox epikureisch zu nennen. Er hat synkretistischen Charakter. Mill selbst sieht in Sokrates, in Jesus von Nazareth und in Mark Aurel die tugendhaftesten und vorbildlichsten Menschen,9 findet in Sokrates die Quelle sowohl der „vornehmen Inspiration Platons“ als auch des „klugen Utilitarismus des Aristoteles“ und in beiden „die zwei Hauptquellen der ethischen ebenso wie aller anderen Philosophie“.10 Mill möchte also nicht nur den „jungen Sokrates“, sondern auch Aristoteles als veritablen Utilitaristen verstanden wissen. Und er hat sich nicht nur mit dessen Organon, sondern auch mit dessen Psychologie, Rhetorik, Ethik und Politik intensiver beschäftigt.11 Die „populäreren“ Dialoge Platons hat Mill zum Teil exzerpiert und übersetzt, und in den Rezensionen zu Grote kommen so gut wie alle Dialoge Platons zur Sprache.12 Direkte Verweise im Oeuvre Mills auf Aristoteles’ Traktate zur praktischen Philosophie sind dagegen spärlich.13 Gleichwohl zeugen die methodologischen und inhaltlich-systematischen Parallelen in der Utilitarismusschrift von einem substantiellen aristotelischen Einfluß.14 9 Vgl. J. St. Mill: On liberty CW vol. XVIII, S. 235 f. 10 Ebd. S. 235. 11 Vgl. Inaugural Address Delivered to the University of St. Andrews, CW vol. XXI S. 229. 12 Vgl. CW vol. XI. 13 Doch sie zeugen alle vom großen Respekt gegenüber der Leistung des Aristoteles, wie etwa folgende Bemerkung „The grand defect of Plato’s ethical conceptions … was in overlooking, what was completely seized by Aristotle – that the essential part of the virtue of justice is the recognition and observance of the rights of other people.“ Grote’s Plato, CW XI, 419. 14 Dies gegen Terence H. Irwin: Mill and the Classical World, in: The Cambridge Companion to Mill, ed. by John Skorupski, Cambridge 1998, S. 440: „There is no sign of his (sc. Mill’s, MF) ever having paid close attention to Aristotle’s Ethics, but his interest in Plato lasted throughout his life.“ Hätte Irwin recht, so ist schwer zu verstehen, warum Mill in On liberty Aristoteles als klugen Utilitaristen bezeichnet und den Studenten von St. Andrews die Lektüre von Aristoteles’ Rhetorik, Ethik und Politik empfiehlt. Es bedürfte allerdings einer genauen (und in der bisherigen Mill-Forschung fehlenden) Kommentierung der Utilitarismus-Schrift, um die von mir unterstellten Parallelen herauszuarbeiten. Mill hat „in praktischer Hinsicht“ vor allem Aristoteles’ Anthropologie geschätzt. Er befaßte sich, wie seine Schrift Grote’s Aristotle belegt, intensiv mit De anima. Zu Aristoteles’ Rhetorik, Ethik und Politik bemerkt er hier: „We may say … of the Rhetoric that besides its special worth in regard to its particular subject, which is even now considerable, it is one of the richest repositories of incidential remarks on human nature and human affairs that the ancients have bequeathed to us. In this consists also, in our judgement, the principal value of

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Doch Mill ist nicht nur von platonischen und aristotelischen, sondern auch von stoischen Gedanken geprägt. Im Unterschied zu Aristoteles wird die Bedeutung der Stoa für sein Verständnis dessen, „was Utilitarismus ist“, von ihm auch explizit benannt. An vier systematisch wichtigen Stellen des Kapitels 2 von Utilitarianism verweist Mill ausdrücklich auf die Stoa bzw. die Stoiker, dreimal in positiver, einmal in negativer Wertung. Die erste Stelle betont, daß beim „Ausziehen ihres Schemas der Konsequenzen des utilitaristischen Prinzips“ den Epikureern eventuell Fehler unterlaufen, daß hier jedenfalls viele stoische ebenso wie christliche Elemente einzubeziehen wären.15 Die zweite Stelle findet sich im Kontext der Erklärung der Wahl einer höheren gegenüber einer niederen Lebensweise (auch wenn die höhere mit Einbußen an „persönlichem Lebensgenuß“ verbunden ist), die Mill bei jenen Menschen unterstellt, die mit den Vergnügen beider Lebensweisen vertraut und zu unverzerrtem Urteil befähigt sind. Hier erwähnt Mill explizit die Stoiker (und namentlich nur sie) bei der Auflistung möglicher Motive, die uns die Option einer niederen (und „zufriedenen“) Daseinsweise zurückweisen lassen.16 Die dritte Stelle macht „manche Stoiker in den schlimmsten Zeiten des Römischen Reiches“ zu Kronzeugen einer bewundernswerten „Moralität der Selbsthingabe (morality of self-devotion)“, die in Zeiten recht unvollkommener pothe Ethics and the Politics, which, as treatises on those special subjects, have for their most marked characteristics that dread of extremes and love of the via media which were deeply rooted in Aristotle’s mind“ CW XI, 504 f.. Irwin selbst gesteht in seinem Beitrag schließlich zu: „some steps in the argument (sc. von Mill bezüglich des Verhältnisses von Glück und Moralität, MF) are strikingly similar to Platonic and Aristotelian claims“, a.a.O. S. 455. 15 „I do not, indeed, consider the Epicureans to have been by any means faultless in drawing out their scheme of consequences from the utilitarian principle.“ UR S. 26. 16 „We may give what explanation we please of this unwillingness; we may attribute it to pride, a name which is given indiscriminately to some of the most and to some of the least estimable feelings of which mankind are capable; we may refer it to the love of liberty and personal independence, an appeal to which was with the Stoics one of the most effective means for the inculcation of it; to the love of power, or to the love of excitement, both of which do really enter into and contribute to it: but its most appropriate appellation is a sense of dignity, which all human beings possess in one form or other, and in some, though by no means in exact, proportion to the higher faculties, and which is so essential a part of the happiness of those in whom it is strong, that nothing which conflicts with it could be, otherweise than momentarily, an object of desire to them.“ UR. S. 30.

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litisch-gesellschaftlicher Verhältnisse für sie selbst und für andere das größtmögliche Glück zu bereiten vermag.17 Die vierte Stelle richtet sich gegen „die Stoiker mit ihrem paradoxen Mißbrauch der Sprache“ und votiert, was den Utilitarismus betrifft, in der Sache für eine eher aristotelische Verhältnisbestimmung von Tugend und Glück. Sie richtet sich gegen die Kernthese der stoischen Güterlehre, nach der nur das sittlich Gute (t¹ jakºm, honestum) als (im eigentlichen Sinn) etwas Gutes ( !cahºm, bonum) zu gelten hat und der sittlich Gute und nur er vollendet glücklich ist.18 Mill spricht in Utilitarianism (wie auch sonst) summarisch von der Stoa bzw. den Stoikern, ohne bestimmte Namen zu nennen oder sich auf konkrete Werke zu beziehen. Nur Mark Aurel taucht, wenn auch nicht in doktrinalem Zusammenhang, in On liberty namentlich auf. Man kann aufgrund seiner persönlichen Bildungsgeschichte unterstellen, daß Mill mit den philosophischen Texten von Cicero, Seneca, Mark Aurel und Diogenes Laertius einigermaßen vertraut war. An allen relevanten Stellen wird klar, daß er im positiven Sinn auf Motive und Argumente der stoischen Ethik nur dann zurückgreift, wenn diese bei Platon und Aristoteles vorgeprägt sind oder deren für sein Konzept des Utilitarismus

17 „Though it is only in a very imperfect state of the world’s arrangements that any one can best serve the happiness of others by the absolute sacrifice of his own, yet so long as the world is in that imperfect state, I fully acknowledge that the readiness to make such a sacrifice is the highest virtue which can be found in man. I will add, that in this condition of the world, paradoxical as the assertion may be, the conscious ability to do without happiness gives the best prospect of realizing such happiness as is attainable. For nothing except that consciousness can raise a person above the chances of life, by making him feel that, let fate and fortune do their worst, they have not power to subdue him: which, once felt, frees him from excess of anxiety concerning the evils of life, and enables him, like many a Stoic in the worst times of the Roman Empire, to cultivate in tranquillity the sources of satisfaction accessible to him, without concerning himself about the uncertainty of their duration, any more than about their inevitable end.“ UR S. 50. 18 The Stoics, indeed, with the paradoxical misuse of language which was part of their system, and by which they strove to raise themselves above all concern about anything but virtue, were fond of saying that he who has that has everything; that he, and only he, is rich, is beautiful, is a king. But no claim of this description is made for the virtuous man by the utilitarian doctrine. Utilitarians are quite aware that there are other desirable possessions and qualities besides virtue, and are perfectly willing to allow to all of them their full worth.“ UR S. 60.

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brauchbare Theorieelemente ergänzen19und modifizieren und in seinen grundsätzlichen, sehr weit verstandenen Epikureismus integrierbar erscheinen. Explizit nennt er die Stoa immer dann beim Namen, wenn er sich von ihr distanziert. Gleichwohl ist die stoische Lehre in seiner Ethik auch positiv präsent, und zwar an systematisch entscheidenden Stellen, und dies auch dort, wo Mill nicht namentlich auf sie verweist. Dies soll im Folgenden anhand einer fortlaufenden Interpretation wesentlicher Passagen des 2. und 3. Kapitels von Utilitarianism aufgezeigt werden.

II (1) Das zweite Kapitel von Mills Essay Utilitarianism ist der Klärung dessen gewidmet, was unter Utilitarismus zu verstehen ist. Die Bezeichnung einer Theorie mit dem traditionellen Namen für funktional Gutes läßt offen, worin für sie zielhaft Gutes besteht und lädt damit von sich aus zu Mißverständnissen ein. Wenn ferner (im hedonistischen Utilitarismus) die Menge des zielhaft Guten explizit mit der Menge des unschädlich Vergnüglichen identifiziert wird, dann scheint dem als sittlich gut Bezeichneten nur noch ein funktionaler Wert beschieden zu sein. Die sachliche Berechtigung des Titels „Utilitarismus“ gründet denn auch nicht in einer spezifischen Zielbestimmung, sondern darin, daß die mit ihm bezeichnete Theorie den Wert der Moralität ausschließlich an ihrer Funktion für etwas anderes bemißt. Dies nun weckt einen durchaus berechtigten Wunsch nach Klärung bei jenen, nach deren Intuitionen der Moralität (zumindest auch) ein Eigenwert zukommt. Mill allerdings möchte die Berechtigung des Titels „Utilitarismus“ auf eine traditionsreiche und breite Verwendung des Begriffs des Nutzens „von Epikur bis Bentham“ gestützt sehen, in der Nutzen und Vergnügen einander nicht entgegengesetzt seien, ja, in der unter den Begriff des Nutzens auch das Freisein von Schmerz und alle Formen des unschädlich Vergnüglichen fielen. Dies nun ist ein recht großzügiger, 19 Wie etwa der Gedanke der Individualität in On liberty (cap. 3), der nicht in platonischen oder aristotelischen Texten, wohl aber in der stoischen Kategorie der individuellen Beschaffenheit (Qd¸a poiºtgr) und in der stoischen „Theorie der vier Personen“ (vgl. Cicero, De off. 107 – 121) sein Vorbild hat; vgl. dazu Verf.: Glck als personale Identitt. Die stoische Theorie des Endziels, in: Ders.: ber das Glck des Menschen, Darmstadt 1993, S. 45 – 79.

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wenn nicht irreführender begriffsgeschichtlicher Hinweis. Er kann für Mills Argumentationsstrategie nicht als atypisch gelten: Er schreibt in seiner Revision des Benthamschen Utilitarismus mitunter Gesichtspunkte, Argumente und Differenzierungen dem Epikureismus zu, die in Wahrheit bei Platon, Aristoteles, in der Stoa oder bei Cicero beheimatet sind. Richtig an seinem Hinweis ist, daß der Begriff des Zuträglichen (t¹ s¼lveqom, t¹ kusitek´r, t¹ ¡v´kilom) in der klassischen und in der hellenistischen griechischen Philosophie auf das Wohl des Leibes und das Wohl der Seele bezogen war und dort, wo es nicht auf Differenzierungen ankam, sowohl solches bezeichnen konnte, was für das Wohl von Leib und Seele nützlich ist, als auch solches, was als Bestandteil oder Ausdruck der Gesundheit von Leib und Seele zu gelten hat. Doch wurde das Wohl von Leib und Seele und das für dieses Wohl Zuträgliche allemal vom Lustvollen und Schmerzfreien unterschieden. Der Hinweis „von Epikur bis Bentham“ gibt dem Leser allerdings auch zu verstehen, daß Mill den modernen Utilitarismus im wesentlichen in der Tradition des Epikureismus verankert sieht, und daß er selbst sich mit dieser Tradition identifiziert sehen möchte. Damit ist nun in der Tat eine hedonistische Interpretation des Lebensziels und eine rein funktionale Bestimmung der Rolle der Moralität vorgezeichnet.20 Damit ist aber auch eine lange Geschichte feiner und grober Mißverständnisse verbunden. Mill gibt Hinweise, die diese Mißverständnisse markieren und korrigieren sollen. Zum einen soll sein Begriff des Vergnügens (pleasure) nicht platt und vulgär auf das grobe sinnliche Vergnügen beschränkt sein, sondern alle Formen des Lustvollen, Erfreulichen, Vergnüglichen und schön Anmutenden umfassen. Auf der anderen Seite soll er, unter dem Titel des Nützlichen, nicht so verstanden werden, als würde er sich in elitärer Manier über die oberflächlichen Freuden und die Vergnügen des Augenblicks überheben und diese als verächtlich oder „unnütz“ denunzieren. (2) Mill formuliert nun das Prinzip seiner Theorie der Moralität (theory of morality) und das Prinzip seiner Theorie des Lebens (theory of life). Die Theorie des Lebens beinhaltet ein Selbst- und Weltverständnis, das besagt, was dem menschlichen Leben Sinn verleiht, was es so qualifiziert, daß es wert ist, gelebt zu werden. Sie biete, so Mill, der Theorie der Moralität die Grundlage; und die Theorie der Moralität errichte den moralischen Maßstab (the moral standard). Mills Prinzip 20 Vgl. Verf.: Epikur, in: Philosophen des Altertums. Vom Hellenismus bis zur Sptantike, hg. von Michael Erler, Andreas Graeser, Darmstadt 2000, S. 16 – 38.

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der Moralität besagt, „daß Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie das Gegenteil von Glück hervorzubringen tendieren“ (UR S. 22/23). Dabei sei mit „Glück“ (happiness) „Vergnügen und die Abwesenheit von Schmerz“, mit „Unglück“ „Schmerz und der Verlust von Vergnügen“ gemeint. Das Prinzip der Theorie des Lebens besagt, „daß Vergnügen und Freisein von Schmerz die einzigen Dinge sind, die als Ziele erstrebenswert sind; und daß alle erstrebenswerten Dinge … entweder erstrebenswert sind des Vergnügens wegen, das ihnen inhäriert, oder als Mittel zur Beförderung von Vergnügen und der Verhinderung von Schmerz“UR S. 24/25). In Mills Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von Theorie des Lebens und Theorie der Moralität wirkt seine intensive Platonlektüre nach.21 In Platons Politeia soll die Theorie des Gerechten über die Theorie des Guten geklärt und begründet werden. Das zweite Buch setzt ein mit einer fundamentalen Gliederung von Arten des Guten: Was wir nur seiner selbst wegen lieben, was wir seiner selbst und seiner Folgen wegen lieben, was wir nur seiner Folgen wegen lieben. Der fragende Satz Glaukons, der die erste Art des Guten verdeutlichen soll, ist auch für Mill von eminentem Gewicht: „Denn sage mir, glaubst Du, es gebe ein solches Gut, daß wir es haben möchten nicht aus Verlangen nach dessen Folgen, sondern daß wir es selbst um seiner selbst willen lieben, wie Wohlbefinden (t¹ wa¸qeim) und alle Vergnügungen (aR Bdoma¸), die unschädlich sind und durch die für die folgende Zeit uns nichts weiter entsteht als daß wir vergnügt sind dabei?“ (Politeia, 357 b, Übers. Schleiermacher). Glaukon ist in seiner Rolle Advokat der Menge ebenso wie der vermeintlich Aufgeklärten. Er ordnet Gerechtigkeit der dritten Art des Guten zu, das man (wie Medizin und Heilkunst) nur seiner Folgen wegen schätzt, während Sokrates Gerechtigkeit zum „Schönsten von allen“ rechnet, weil sie sowohl ihrer selbst wegen als auch ihrer guten Folgen wegen liebens- und schätzenswert ist (358 a). Eine ähnliche Position wie Glaukon vertritt im Gorgias Polos. Dieser will zwischen „moralisch gut“ ( jakºm) und „aussermoralisch gut“ ( !cahºm) unterschieden wissen, sieht die moralische Schlechtigkeit als ein Übel und die Gerechtigkeit als ein Gut für die Anderen, während Gerechtigkeit für sich betrachtet für den Gerechten den (unaufhebbaren) Aspekt der Selbstbeschränkung und des Selbstopfers an sich hat und 21 Vgl. dazu J. St. Mill: Grote’s Plato, CW XI, 395 f.; Terence H. Irwin S. 443 – 456.

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ihre Attraktivität für ihn primär aus äusseren Sanktionen bezieht. Mill war ursprünglich gewillt, mit seinem Lehrer Bentham und seinem Vater ganz der Vorgabe Glaukons und Polos’ zu folgen;22 und bis zuletzt, so etwa in Grote’s Plato (1866) möchte er die Position des Polos keineswegs eindeutig negativ bewertet wissen: „This is a different doctrine from the common one of modern moralists, but not an immoral doctrine“.23 Ja, er sieht sie bei den Griechen noch der klassischen Zeit als naheliegend und die Selbstverständlichkeit, mit der moderne Moralisten dem Gedanken anhängen, Ungerechtigkeit sei das größte Übel, das den derart Handelnden befallen könne, als ein Ergebnis des überwältigenden Einflusses Platons, der Stoa und des Christentums an.24 Seine eigene abschließende Position, die in der Utilitarismusschrift (1861) greifbar ist, vermittelt gewissermaßen zwischen Polos und Sokrates, und zwar, wie sich zeigen läßt, über Gedanken, die Mill bei Aristoteles und vor allem in der Stoa findet. Man muß nicht puritanisch denken, um Mills Prinzip der Theorie des Lebens prima facie etwas befremdlich zu finden. Das Vergnügen und das Freisein von Schmerz soll das einzige sein, was im Leben vernünftigerweise Zielcharakter besitzt und wofür zu leben sich lohnt. Die antiken Gegner, insbesondere Peripatos und Stoa warfen dem Epikureismus vor, daß im Lebensziel der Lust der Mensch sich vom Tier nicht unterscheide und daß die Verabsolutierung dieses Ziels den menschlichen Sinn für Moralität vernichte und den Einsatz für die Ideale sittlicher und kultureller Größe schwäche. Mills zeitgenössische Gegner des Utilitarismus dachten ähnlich, allen voran der Schriftsteller und Dichter Thomas Carlyle (1795 – 1881), der einen erbitterten und wortgewaltigen Kampf gegen den Materialismus seiner Zeit focht und in seinen Werken den Idealismus heroischer historischer Persönlichkeiten beschwor. Mill war längere Zeit mit Carlyle befreundet. Seine Verteidigung des Utilitarismus mußte dessen scharfe und eingängige Angriffe parieren. Sie trug zweifellos den Gedanken des Gegners nachhaltig Rechnung. Freunde der Benthamschen Variante des Utili22 Vgl. Terence H. Irwin, S. 450 f. 23 CW XI, 396. 24 Sokrates claims complete originality in the contrary opinion, that injustice is an evil, and the greatest that can befall any one – a doctrine which, through the teachings of Plato himself, of the Stoics, and of some of the forms of Christianity, has grown so familiar to us, that it has become a truism and even a cant; and moderns are ready to conclude offhand that not to profess it implies a denial of moral obligation.“ Grote’s Plato CW XI, 395.

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tarismus sind noch heute der Meinung, daß Mill „den idealistischen Kritikern des Utilitarismus mehr Gehör [schenkt], als sie verdienen“.25 Doch nicht darin liegt der Fehler Mills, daß er die Polemik der „Idealisten“ zu ernst nimmt und zu viel von seinen Gegnern annimmt, daß er sich beeilt, „höhere“ als animalische Freuden anzuführen „statt das Ressentiment gegen den Hedonismus seinerseits zu analysieren und die Wurzeln der Lustfeindlichkeit zu durchleuchten“.26 Wenn Mills Verteidigung des Utilitarismus nicht voll überzeugt, dann deshalb, weil er die Position des Hedonismus, aus welchen Gründen auch immer, nicht scharf genug analysiert und diese Position letztendlich nicht aufzugeben bereit ist, obgleich er berechtigte und gewichtige Gesichtspunkte seiner Gegner übernimmt, die geeignet sind, den Hedonismus von innen her aufzubrechen. Von etwas Gutem oder Wertvollem zu sprechen macht letztlich nur Sinn in Bezug auf lebende Wesen, für die etwas eine Bewandtnis hat, die etwas wollen, wünschen, erstreben und dieses „etwas“ mögen, schätzen und als wertvoll erleben oder beurteilen. Güter und Werte sind in irgendeiner Form Ziele des Strebens und Gegenstände positiven Erlebens. Eine triviale Wahrheit scheint auch zu sein, daß alle Erfüllung eines Wunsches, die Befriedigung eines Strebens, das Erleben von etwas Gutem mit einer Form von Lust, Freude, Vergnügen auf seiten des strebenden und erlebenden Subjektes verbunden ist. Doch damit ist keineswegs gesagt, daß alles Streben lebender Wesen auf Lust zielt. Dies wäre ein Fehlschluß. Phänomenologen unter den großen „nichthedonistischen“ Ethikern wie Aristoteles oder Thomas von Aquin haben die gewichtige Rolle des Vergnügens im Begriff des Glücks betont. Aber sie betonen auch und vor allem die Möglichkeit und Wirklichkeit der „Aussen“gerichtetheit, der Objektzentrierung des Strebens, das sich auf Gegenstände, Sachverhalte, Aktivitäten richtet, sich in sie „verliert“ und sich in diesem konzentrierten Sichverlieren erfüllt, ohne die positive „Erlebnisqualität“, das Angenehme, Lust- oder Freudvolle des eigenen Erlebens von etwas im Auge, gar bevorzugt im Auge zu haben. Und in der Tat gilt: Menschliches Streben hat in der Regel eine das Subjekt des Strebens und seine Befindlichkeit übersteigende intentionale Struktur. Die Konzentration auf die eigene Erlebnislust ist künstlich, nachträglich, ja mitunter geradezu verkehrt, zumal diese Konzentration das Erstrebte 25 So Jean-Claude Wolf: John Stuart Mills „Utilitarismus“. Ein kritischer Kommentar, Freiburg/München 1992, S. 48. 26 Jean-Claude Wolf, ebd.

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nur in der Form flüchtigen episodischen Erlebens erreichen kann, dem der direkte Zugriff die erhoffte Qualität zu mindern pflegt. Lust, Vergnügen, Freude sind offensichtlich Zusatz- oder Begleitphänomene, die sich gerade dann am besten entfalten, wenn man sie nicht direkt intendiert, sondern wenn man sich mit Dingen beschäftigt, die man ihrer selbst wegen schätzt, die einen so faszinieren und „fesseln“, daß sie das Selbst vergessen lassen. Tatsächlich schiebt sich dieses Selbst und sein Befinden natürlicherweise nur im Schmerz und Bedürfnisdruck und unter Bedingungen der Bedrückung und Behinderung in den Vordergrund, während wir den unbehinderten Vollzug objektzentrierter selbstwerthafter Aktivität auch unter Bedingungen des Ernstes, der Anstrengung und Mühe als erfüllend und freudvoll erleben. Aristoteles scheint mit seiner Phänomenanalyse durchaus im Recht zu sein, wenn er Lust im Vollsinn des Wortes als einen vollendenden Zusatz unbehinderten artgemäßen Tuns bestimmt, ja geradezu mit unbehinderter selbstwerthafter Aktivität gleichzusetzen geneigt ist.27 Er scheint auch darin im Recht zu sein, das Glück des Menschen in den unbehinderten Vollzug zielgerichteter Tätigkeiten zu setzen, in denen die naturgegebene Eigenart des Menschen als Vernunftwesen eine leitende und prägende Rolle spielt. Mit der aristotelischen Analyse der Lust und der Bestimmung sinnvollen Vergnügens scheint auch die stoische Lehre von den eqp²¢eiai und der vernünftigen Freude (waq²) übereinzustimmen. Die Crux des Hedonismus, der Mill sich nicht völlig entwinden kann, ist darin zu sehen, daß, was er als Ziel des menschlichen Lebens ansetzt – Lust und Freisein von Schmerz –, in der Regel nach einem Modell verstanden wird, das den Phänomenen, die mit den Ausdrücken „Lust“ bzw. „Vergnügen“ bezeichnet werden können, in höchst unzureichendem Maße gerecht wird. Gemeint ist das Kausalmodell, das Lust als Qualität der Selbstempfindung eines Lebewesens im Sinne einer Wirkung versteht, der bestimmte Ursachen als diese Wirkung (nach einer Regel) hervorbringende Faktoren zugeordnet werden können. Diesem Modell ist eigen und wesentlich, daß Ursache und Wirkung per definitionem voneinander trennbare und isolierbare Phänomene sind. Wir haben das ganz und gar subjektive innerlich-private Wirkungsphänomen der Lust/Unlustqualität der Empfindung, des Gefühls, des Erlebens 27 Vgl. v. a. Nikom. Ethik 10, 1174a 11 – 1176a 29; zur Theorie der Lust bei Aristoteles vgl. Friedo Ricken: Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttingen 1976; J. C. B. Gosling u. C. C. W. Taylor: The Greeks on Pleasure, Oxford 1982, 193 – 344.

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von etwas einerseits; und wir haben die verschiedensten, nicht in ihrer Eigenart und objektiven Seinsweise, sondern nur in ihrer kausalen Rolle der Lusterzeugung und Unlustbehebung bedeutsamen Ursachefaktoren andererseits. Man sieht, daß dieses kausale Modell des Verstehens von Lust der Struktur und Art nur sehr weniger Vergnügen, und wohl auch den Hauptvergnügen nur weniger Menschen gerecht wird. Es ist offensichtlich an der möglichen leiblich-sinnlichen Lust eines aus dem intentionalen Lebens- und Erlebniszusammenhang herausisolierten Tast-, Geschmacks- oder Geruchssinns ausgerichtet. Im allgemeinen trifft und erklärt ein intentionales Modell, das zwischen Ursache und Gegenstand eines Vergnügens unterscheidet und das Objekt des Vergnügens als für dieses selbst konstitutiv erachtet, ungleich besser, was höhere Tiere, was jedenfalls wir Menschen als Lust erfahren und mit Vergnügen tun und erleben. Unser Tun ist im allgemeinen zielorientiert; unser Streben ist auf Objekte bzw. Sachverhalte gerichtet, die es im Herstellen und Handeln zu realisieren, die es im Forschen zu erkennen trachtet. Unser Empfinden und Fühlen, d. h. unser lust/unlustgefärbtes Erleben des Lebens erhält über die Gegenstände unseres Strebens und Tuns seine Bestimmtheit und meist auch Wesentliches seiner Erlebnisqualität. Und in diesem Ausgerichtetsein auf ein Objekt unterscheiden sich Mensch und Tier auf eine essentielle Weise durch den Umstand, daß nur der Mensch sprachfähig ist. Die Sprachfähigkeit eröffnet dem Menschen und nur ihm den Horizont der Geschichte, der Moralität, des Rechts, der Wissenschaft, der Religion, des ästhetisch Schönen und der schönen Künste. Tun und Erleiden, Vergnügen und Leiden haben in diesem Horizont eine andere Dimension und eine andere Qualität als auf der Ebene bloß sinnlichen Lebens und Erlebens des Lebens. Die stoische Anthropologie und Ethik, insbesondere ihre Affektenlehre haben diesem treffenden Gedanken in der Antike das stärkste Gewicht und den prägnantesten Ausdruck gegeben. Der Mensch ist „Gestalter des Triebs“ (tewm¸tgr t/r bql/r). Unsere propositionalen Einstellungen und die mit ihnen verbundenen Perspektiven und Modalitäten prägen unser menschliches Leben auf substantielle Weise. Dies zu ignorieren oder gar zu leugnen grenzt ans Alberne. Entsprechend fragwürdig mutet der Versuch an, Mills Unterscheidungen tierischer und menschlicher, sinnlicher und geistiger, höherer und niederer Vergnügen der „Viktorianischen Moral“, einem „idealistischen Zeitgeist“, einer „künstlichen Abstraktion“ zuzurechnen und dem

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„modernen“ Leser Mißtrauen gegenüber solchen Unterscheidungen zu empfehlen.28 (3) Mill möchte den Hedonismus differenzieren, indem er „Formen des Vergnügens“ (forms of pleasure) unterscheidet. Bislang ist bei ihm vom Vergnügen am Schönen (pleasure of beauty), am schmuckhaft Gefälligen (of ornament), am locker Unterhaltenden (of amusement) und oberflächlich Erheiternden (of frivolity) und vom Vernügen des Augenblicks (pleasure of the moment) bzw. vom Vergnügen in seiner rohesten Form (pleasure in its grossest form) die Rede (UR S. 22/23). Zudem stellt Mill die Möglichkeit in Aussicht, daß seine Theorie am Ende manches offen läßt, was als Lust oder Unlust gelten mag. Die Gegner des Hedonismus, unter ihnen in den Augen Mills auch und gerade solche, deren Gefühle und Absichten äusserst schätzenswert sind, machen, wie gesagt, geltend, daß sich im Ziel der Lust Mensch und Tier nicht unterscheiden. Nun hat in der Tat dieser Einwand nur Gewicht, wenn man Vergnügen nach dem oben skizzierten Kausalmodell versteht und die Wirkung Lust auf den Aspekt des leiblich-sinnlichen Empfindens reduziert, die Ursachen für diese Wirkung mögen sein, welche sie wollen. Es gibt Interpreten, die Mills Hedonismus, so scheint es, auch heute noch in diesem Sinn verstehen.29 Als hätte Mill in eben dem Kapitel 2 seines Essays nicht explizit die Vergnügen bloßen sinnlichen Empfindens (pleasure of mere sensation) von den Vergnügen des Intellekts (pleasure of the intellect) und dem Vergnügen der Gefühle und der Einbildungskraft (pleasure of the feelings und the imagination) unterschieden. Andere sind vorsichtiger, verstehen Mill nicht als einen veritablen ethischen Sensualisten, und lassen ihn (noch) einen Hedonisten sein insofern, „als er alle Wertungen letztlich auf erlebte oder erlebbare Formen des Bewußtseins (Bewußtseinsqualitäten) wenn nicht zurückführt, so doch zurückbezieht“.30 Gleichwohl zeigen sie wenig Verständnis für die Unterscheidung der intrinsischen Natur von Freuden bzw. Lustgefühlen, aber umso mehr für ein (nicht explizit namhaft gemachtes) Kausalmodell, das die Unterschiede des Wirkungsphäno-

28 Vgl. J.–C. Wolf, S. 52. 29 „Mill vertritt einen ethischen Hedonismus, die Lehre, nach welcher alle Werte letztlich auf ein langfristiges Maximum an möglichst angenehmen Sinneserfahrungen zurückzuführen sind.“ Peter Rinderle: John Stuart Mill, München 2000, S. 65; vgl. S. 66 – 70. 30 Wolf, a.a.O. 50.

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mens Lust als Bewußtseinsqualität nur durch Introspektion zugänglich findet.31 Nun spricht Mill selbst in schillernd-metaphorischer, gegenüber dem Unterschied einer kausalen oder intentionalen Interpretation neutraler Weise von verschiedenen „Quellen der Lust“ (sources of pleasure) (vgl. UR S. 26)/27). Aber daß er sich des Unterschieds sehr wohl bewußt ist, zeigt sich daran, daß er die Differenz der Vergnügen an den in ihrer Aktualisierung involvierten Vermögen festmacht und die Fixierung des Benthamschen Utilitarismus auf die Lust „bloßer sinnlicher Empfindung“ und den Rahmen einer unterscheidenden Bewertung nach rein „äusseren“, nach bloß quantitativen Gesichtspunkten durchbricht. Bentham wollte (in Mills Augen) die „Dimensionen“ des Wertes von Lust und Schmerz nur nach den „Umständen“ von Lust und Schmerz gemessen und beurteilt wissen: nach ihrer Dauer, ihrer Intensität, nach ihrer Gewißheit und Ungewißheit, Nähe und Ferne in Erwartung und Erinnerung, nach dem Umstand, ob sie folgenlos sind oder ihrerseits Vergnügen oder Schmerzen nach sich ziehen, nach dem Maß ihrer Verbreitung bzw. Wirkung auf verschiedene Personen oder empfindende Wesen.32 Mill dagegen will Arten von Lust (kinds of pleasure) gemäß ihrer inneren Beschaffenheit (intrinsic nature) unterschieden sehen. Und die innere Beschaffenheit eines Vergnügens bemißt sich für Mill klarerweise an der Fähigkeit, die das Vergnügen aktualisiert, und am intentionalen Objekt des Aktes dieser Fähigkeit. Dieser Gedanke muß Mill durch seine Beschäftigung mit Platons Philebos,33 mit der aristotelischen Ethik und Rhetorik und nicht zuletzt auch mit stoischen bzw. stoisch imprägnierten Texten vertraut sein.34 Obiectum specificat actum – Der Gegenstand, das, was man tut und erlebt, spezifiziert den Akt, macht den Akt zu dem, was er ist. Und über unterschiedliche Aktarten wissen wir von unterschiedlichen Vermögen, von unterschiedlichen Fähigkeiten, etwas zu tun oder zu erleiden. Mill gliedert, ohne in seiner Argumentation diese ontologisch und episte31 „Unterschiede der intrinsischen Natur von Lüsten – was auch immer das heißen mag – lassen sich vermutlich nur per Introspektion ausmachen.“ Wolf, a.a.O. S. 51 Fn. 32 Vgl. Jeremy Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789), ed. J. H. Burns u. H. L. A. Hart, London 1970, S. 38 – 41. 33 Vgl. CW XI, S. 414; 418 f. 34 Es ist ja die Stoa, die diesem Gedanken in ihrer Affektenlehre den prägnantesten Ausdruck verliehen hat. Zur stoischen Affektenlehre vgl. Verf.: Die stoische Ethik, Darmstadt 21995, S. 114 – 141.

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mologisch vermittelnden Grundsätze explizit zu nennen, die Arten des Vergnügens (und des Schmerzes) nach den unterschiedlichen Fähigkeiten, die in ihrer Aktualisierung im Spiel sind. Danach sind Freuden und Leiden des forschenden und erkennenden Verstandes, der künstlerischen Einbildungskraft und Gestaltung, des moralisch-rechtlichen Empfindens, des geschichtlichen Erzählens, Vergegenwärtigens und Erinnerns verschiedene Formen von Vergnügen und Schmerzen des Geistes. Und danach differieren so geartete Freuden und Schmerzen des Geistes von jenen der bloßen Sinnlichkeit. Mill spricht ganz in der Tradition antiker Stufung des Seelischen von höheren und niederen Fähigkeiten, entsprechend von Freuden des Geistes (mental pleasures) und Freuden des Leibes (bodily pleasures). Die Stufung der Fähigkeiten, die aus dem Erfahrungsbereich der Biologie ihre Selbstverständlichkeit bezieht, ist zunächst rein deskriptiv gemeint. Tatsächlich überbietet ja menschlicher Geist (als Fähigkeit zur Entwicklung unbestimmt vieler Fähigkeiten) in einem empirisch angebbaren Sinn alles an Fähigkeiten, was wir im Rahmen des Lebendigen kennen. Eine wertende Stufung kommt erst ins Spiel durch eine traditionsreiche Argumentationsfigur, die Mill nicht ausführt, sondern nur in ihrem Ergebnis verwertet: „Die Menschen haben höhere Fähigkeiten als die tierischen Bestrebungen, und wenn sie mit diesen einmal vertraut gemacht sind (when once made conscious of them), betrachten sie nichts als Glück, was nicht deren erfüllende Betätigung (gratification) einschließt“ (UR S. 26/27). Diesen Satz könnte bis in die Formulierung hinein ein Stoiker geschrieben und als markantes Motto über seine Oikeiosislehre gestellt haben. Kurioserweise gesteht Mill in unserem Zusammenhang zu, daß seine Interpretation des utilitaristischen Prinzips viele stoische (und christliche) Elemente einbezieht. Gleichwohl schreibt er epikureischer Theorie und Lebensauffassung zu, was nicht in ihr, sondern in der Stoa beheimatet ist: „Aber man kennt keine epikureische Theorie des Lebens, die nicht den Freuden des Verstandes, des Gefühlslebens und der Vorstellungskraft, und der moralischen Empfindungen einen weit höheren Wert als Vergnügen zuschreibt als denen der bloßen Sinnlichkeit“ (UR. S. 26/ 27). Was Mill hier nicht erwähnt: Epikur ebenso wie Bentham haben eine Graduierung der Vergnügen nach Gesichtspunkten ihrer intrinsischen Natur mit provokanten Sätzen von sich gewiesen. Was Mill in Wahrheit vorbringt oder benützt, sind nicht epikureische, sondern aristotelische und mehr noch stoische Argumente. Er gesteht ja auch zu, daß „die utilitaristischen Autoren“ die Überlegenheit der geistigen über die körperlichen Freuden bislang nicht aufgrund ihrer inneren Be-

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schaffenheit (in their intrinsic nature), sondern nur nach äusseren Gesichtspunkten (in their circumstantial advantages) anerkannt hätten. Mills zentrale Argumentation orientiert sich an der stoischen Oikeiosislehre.35 Nach ihr terminiert die natürliche Selbstliebe des reifen Menschen in der bedingungslosen Liebe zum eigenen (und ineins damit auch zum fremden) Vernünftigsein und seinen Akten, und in einer nur noch bedingten, vorbehalthaften Liebe zu all dem, was das vernünftige Selbst gut oder schlecht gebrauchen kann und was ihm nicht absolut eigen ist. Wenn Mill davon spricht, daß Menschen, die ihrer höheren Fähigkeiten innewerden, nur noch glücklich sein können in einem Leben, das die erfüllende Betätigung dieser Fähigkeiten einschließt, dann ist dies ein Gedanke, dem in der Antike gerade der stoische Gegner des Epikureismus adäquaten Ausdruck und eine solide Begründung gegeben hat. (4) Platonischer und aristotelischer Tradition ist auch das Argument verpflichtet, daß „von zwei Freuden diejenige die wertvollere/wünschenswertere ist, die von allen oder nahezu allen, die Erfahrung in beiden haben, … entschieden bevorzugt wird“ (UR S. 28/29). Doch es war vor allem die Stoa, die die von Mill benützte methodische Figur einer kontrafaktischen Wahlsituation unter ceteris-paribus-Bedingungen für die Begründung ihrer Güterlehre systematisch fruchtbar gemacht hat.36 Mill ist Empirist. Als solcher muß er die Entscheidung darüber, welches Vergnügen das höhere und wertvollere ist, an die tatsächlichen Wünsche und Präferenzen der Menschen binden. Doch diese Wünsche und Präferenzen divergieren. Und viele haben den Eindruck, daß die Wünsche mancher Menschen, und manchmal die Wünsche vieler Menschen nicht vernünftig sind. Die faktische unqualifizierte Mehrheit kann kein plausibler Maßstab der Treffsicherheit in dieser Sache sein. Mill muß also Bedingungen formulieren für eine kompetente Enscheidung darüber, welches Vergnügen wertvoller ist als andere. Platon konstatiert im 9. Buch der Politeia (581 e – 582a), daß die (Advokaten der) grundlegenden Lebensformen (des sinnlichen Vergnügens und Gelderwerbs, der Ehre und Macht, des Forschens und Erkennens) jenseits moralischer Differenzen hinsichtlich dessen im Streit liegen, welche der Lebensformen mehr Vergnügen und weniger 35 Vgl. dazu ausführlich Verf.: Die stoische Ethik, S. 142 – 159, und in diesem Werk, Bd. 1, S. 169 – 191. 36 Vgl. dazu Verf.: ber die stoische Begrndung des Guten und Wertvollen, in: MÉTHEXIS XVII, 2004, S. 55 – 69.

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Schmerz mit sich bringe; er stellt deshalb die Frage, „wie wir wissen können, wer von ihnen die volle Wahrheit sagt“. Platons Antwort geht dahin, daß nur der Philosoph die richtige Antwort auf die Frage nach dem wertvolleren und erstrebenswerteren Vergnügen kennt, und zwar nicht etwa deshalb, weil er die Arten der Lust über seine Kenntnis der Ideen richtig zu bestimmen und zu schätzen vermag, sondern deshalb, weil er und nur er in all diesen Arten von Vergnügen erfahren ist: „Der Erfahrung also wegen (1lpeiq¸ar 6meja), sage ich, urteilt dieser am besten unter allen Menschen“ (582 d). Für Aristoteles hat in Fragen von gut und schlecht jene Meinung höchste Plausibilität, die entweder allen, oder den meisten, oder den Sachkundigen einleuchtet, und wenn nur den Sachkundigen, dann jene, die der gängigen Meinung nicht widerspricht. Über dieses topische Kriterium ist seine Überzeugung gestützt, daß das Gute sei, was die Guten bzw. Vernünftigen bevorzugen (vgl. Rhetorik 1364 b 21). Mill formuliert den Gedanken dieser Tradition entsprechend die Bedingungen einer Wahlsituation, die eine verläßliche Gewähr des Treffens des Richtigen ergeben soll: „Wenn es von zwei Vergnügen eines gibt, dem alle oder fast alle, die Erfahrung in beiden haben, entschieden den Vorzug geben, unabhängig von irgendeinem Gefühl der moralischen Verpflichtung zu dieser Präferenz, dann ist dieses das wünschenswertere.“ (UR S. 28/29) Die eine Bedingung besteht also darin, daß die Wählenden Erfahrung in beiden zur Wahl stehenden Formen von Vergnügen haben. Später fügt Mill noch hinzu, daß sie ausserdem den Habitus guter Selbstreflexion und Selbstbeobachtung (the habits of self-consciousness and self-observation) besitzen müssen, um am besten zum Vergleich gerüstet zu sein (UR S. 38/39). Die zweite Bedingung besteht darin, daß die Wählenden in der Lage sind, aus einer nicht durch Moral präfixierten, also aus einer vormoralischen Einstellung heraus die zu wählenden Vergnügen als sie selbst zu betrachten und einzuschätzen. Der Wählende muß gegenüber den zu wählenden Arten von Vergnügen Unparteilichkeit beweisen; es muß ausgeschlossen sein, daß die moralische Einstellung des Wählenden eine Form von Vergnügen a priori denunziert oder privilegiert. Dies setzt voraus, daß der kompetente Beurteiler von Vergnügen in seiner Beurteilung eines Vergnügens Distanz zur eigenen moralischen Einstellung zu üben und selbst das mit dem Bewußtsein der Moralität verbundene Vergnügen aus dieser Distanz heraus als eines neben anderen zu schätzen vermag. Die dritte Bedingung besteht darin, daß die Präferenz entschieden sein muß (a decided preference). Was darunter zu verstehen ist, erläutert

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ein präziser Zusatz, der keiner weiteren Erklärung bedarf, sondern für sich selbst spricht: „Wenn eines von den beiden von jenen, die auf kompetente Weise mit beiden vertraut sind, so weit über das andere plaziert wird, daß sie es bevorzugen, selbst wenn sie wissen, daß es mit einem größeren Betrag an Unzufriedenheit (discontent) verbunden ist, und auf es nicht verzichten möchten zugunsten irgend eines Quantums des anderen Vergnügens, zu dem ihre Natur fähig ist, dann sind wir gerechtfertigt, dem vorgezogenen Vergnügen eine Überlegenheit in der Qualität zuzuschreiben, die so sehr die Quantität übertrifft, daß sie diese im Vergleich zu ihr unbedeutend macht“ (UR S. 28/29). Mill hält es nun für eine fraglose Tatsache, daß jene, die mit beiden Arten von Vergnügen in gleicher Weise vertraut sind, und die in gleicher Weise fähig sind, beide einzuschätzen und zu genießen, jener Art von Existenz entschieden den Vorzug geben, die eine Betätigung ihrer höheren Fähigkeiten einschließt. Freuden, in denen Geist und Vernunft im Spiel sind, sind gegenüber Vergnügen der bloßen Sinnlichkeit erstrebenswerter. Das Behaupten dieses Sachverhalts hat nichts Überraschendes an sich. Mill kann sich hier auf alle großen Ethiktraditionen berufen. Tatsächlich wurde diese Meinung auch nur von wenigen radikalen kultur- und zivilisationskritischen Philosophen ernsthaft in Frage gestellt. Das Lob des „Glücks“ gedanken- und reflexionsloser Animalität war immer Sache weniger philosophischer „Aussteiger“. Provozierende Zweifel an den Segnungen von Vernunft und Reflexion brachten erstmals die antiken Kyniker ins Spiel. In der neuzeitlichen Aufklärung wurde ihnen von einem (dezidiert antistoischen) Autor wie De la Mettrie wieder bürgerschreckartiger Ausdruck verliehen: Das Denken, das Nachdenken, die Reflexion, der Vergleich mit anderen zerstöre den Genuß des Daseins in animalischer Unmittelbarkeit. Für eine derartige kynisierende Skepsis, gar für einen morbiden Selbsthaß der Vernunft ist Mill nicht zu haben. Und er meint, hier im Namen aller kompetent Erfahrenen sprechen zu können. Mill denkt hier wie Aristoteles und die Stoa. Aristoteles war der Überzeugung: „niemand würde zu leben wünschen, wenn er mit seinem Verstand zeitlebens auf der Stufe eines Kindes verharren müßte, selbst wenn er dabei kindliche Freuden in höchstem Maße genießen könnte.“37 Und Cicero formuliert im Namen der Stoa: „Wer aber führt sein Leben nach so primitiven Maximen oder wer hat sein Streben nach Erkenntnis der Natur so abgestumpft, daß er von Dingen, die der Erkenntnis würdig sind, nichts wissen will und 37 Nikom. Eth. X, 2, 1174 a 1 ff., Übersetzung Dirlmeier.

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ohne Gründe der Lust und des Nutzens nach ihnen fragt …?“38 Doch die Einwände regressiver Träume Erwachsener von der verlorenen Kindheit gegen diese Argumente vom Vorzug des Geistes sind seit der Zeit der Romantik nur zu bekannt. Mill muß sie für seinen Adressatenkreis in Rechnung stellen. Um nur ja keine ernsthaften Zweifel am Ergebnis einer kompetenten Vorzugswahl aufkommen zu lassen, verschärft Mill deshalb die Alternativen in der traditionellen Figur des Experiments einer kontrafaktischen, bloß in Gedanken zu vollziehenden Wahl der Daseinsstufe (grade of existence): Nicht zwischen dem Leben eines Kindes und dem eines mündig Erwachsenen gilt es zu wählen, sondern zwischen dem eines Menschen und dem eines Tieres, zwischen dem eines Intelligenten und Gebildeten und dem eines Dummen und Ungebildeten, zwischen dem eines grobschlächtig Gewissenlosen und dem eines sensibel Gewissenhaften. Hier, so Mill, fällt das Ergebnis völlig eindeutig aus: „Nur wenige Menschen würden darein einwilligen, sich in eines der niederen Sinnenwesen verwandeln zu lassen, wenn man ihnen verspräche, daß sie die Befriedigungen des Tieres im vollen Umfang auskosten dürften. Kein intelligentes menschliches Wesen möchte ein Tor, kein Gebildeter ein Ungebildeter, keine Person mit Gefühl und Gewissen möchte selbstsüchtig und grobschlächtig sein – auch wenn sie überzeugt wären, daß der Dumme, der Ungebildete oder der Schurke mit seinem Los zufriedener ist als sie mit dem ihren …“. (UR 28/29 f.) Mill weiß darum, daß mit der Sprachfähigkeit des Menschen, mit dem durch diese Fähigkeit gegebenen Bewußtsein von Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem, dem Bewußtsein von Möglichem, Wirklichem und Notwendigem, mit dem Verwiesensein auf sprachlich vermittelte soziale Anerkennung, mit dem Vergleich mit Anderen und den Vermutungen und Meinungen über die Meinungen der Anderen, daß mit alledem das Verlangen im sinnlichen Bedürfnisrahmen durchbrochen und das Streben des Menschen ebenso wie die Möglichkeiten der Gefährdung und Verletzung des Menschen ins Unabsehbare gesteigert sind. Aufgrund des der Vernunft möglichen Ausgriffs aufs Ganze will der Mensch immer sein und alles erkennen; aufgrund seines moralischen Bewußtseins verlangt er nach einer in allem gerechten Weltordnung, aufgrund seines Mitgefühls und seiner Einbildungskraft wünscht er die Beseitigung allen Leids auf Erden. Die Abhängigkeit seines Daseinsgefühls von seiner Meinung und Erwartung über die Art seines Daseins in der Meinung der Anderen 38 De finibus III, 37.

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macht es unendlich bedroht und verletzbar, da der Andere nicht nur als möglicher Freund, sondern auch als möglicher Konkurrent und Gegner einzuschätzen ist. Der mit der Vernunft gegebene Ausgriff nach Totalität scheint menschliches Streben unerfüllbar, die Sorge und Angst unstillbar und die Unzufriedenheit als Signatur seines Daseins unausweichlich zu machen. Daß Wesen mit höheren Fähigkeiten mehr zu ihrem Glück fordern als solche mit niederen ist trivial; daß der Mensch verletzbarer und der Gefahr stärkerer Schmerzen ausgesetzt ist als niederere Lebewesen ist ähnlich augenfällig; daß der Mensch als sprachfähiges Sinnenwesen mit wachem Verstand in einer Welt, wie sie ist, überhaupt noch des Glückes fähig sein soll, ist weit weniger trivial. Solange und insofern sein Totalitätsverlangen nicht gestillt ist, wird es jedenfalls ein begrenztes und beeinträchtigtes Glück sein, das in aller Regel mit Angst, Sorge und Unzufriedenheit durchsetzt ist. Wenn ein mit den verschiedenen Lebensstufen Vertrauter, der die Bedingungen einer kompetenten Wahl erfüllt, gleichwohl niemals ernsthaft wünscht, mit einer niedereren zu tauschen, so ist dies ebenso selbstverständlich wie erstaunlich. (5) Im nächsten Schritt versucht Mill deshalb, eine Erklärung zu geben für diese bemerkenswerte Tatsache. Die Erklärung beinhaltet Gesichtspunkte, die vor allem von der Philosophie der Stoa formuliert und im Rahmen meditativer Selbstreflexion, pädagogischer Ermahnung und protreptischer Werbung und Erbauung dem Menschen nahegebracht wurden.39 Mill verweist hier denn auch explizit auf die Stoa. Als mögliche Motive, die den Menschen trotz seiner vernunftbedingten Gefährdungen unter nahezu allen Umständen seine höhere Daseinsstufe bevorzugen lassen, nennt er den Stolz (pride), die Liebe zur Freiheit und persönlichen Unabhängigkeit (love of liberty and personal independence), die Machtliebe (love of power) und die Liebe zur Erregung (love of excitement). Bis auf das letzte mögliche Motiv, das Mill wohl der (Sturm-und Drang-) Tradition seiner eigenen Zeit entnimmt, sind alle bislang genannten Motive Aspekte der Selbstliebe und Selbstachtung der Vernunft, wie sie die Stoa (systematisch im Rahmen ihrer Oikeiosislehre) namhaft gemacht hat. Sie konvergieren in dem gewichtigsten und für Mill tatsächlich entscheidenden Motiv, dem erhebenden und beglückenden Gefühl der Würde (sense of dignity), „das alle Menschen in der einen oder anderen Form besitzen, und in einer gewissen, wenngleich nicht in genauer Proportion zu ihren höheren 39 Vgl. hierzu Pierre Hadot: Die innere Burg, Frankfurt a. Main 1997.

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Fähigkeiten, und das für die, bei denen es besonders stark ausgeprägt ist, einen so entscheidenden Teil ihres Glücks ausmacht, daß sie nichts, was mit ihm unvereinbar ist, länger als nur einen Augenblick lang zu begehren imstande sind.“ (UR S. 30/31) Man darf unterstellen (wenngleich dies im einzelnen schwer nachweisbar ist), daß Mill aufgrund seiner zunächst vom Vater gelenkten eminenten Bildungslektüre nicht nur mit Ciceros Reden und Briefen,40 sondern auch mit dessen philosophischen Texten einigermaßen vertraut ist. Er weiß dann um die herausragende Bedeutung, die dem Begriff der Würde (dignitas) in Ciceros Texten eignet. Und er weiß dann auch sehr genau, daß Cicero (in De finibus und De officiis) die Auseinandersetzung mit Epikurs Ethik gerade im (stoischen) Namen der Würde des Menschen führt (vgl. De fin. III, 1; De off. I, 106). Cicero benützt stoische Texte und stoisches Gedankengut. Den philosophischen Kern des Gedankens menschlicher Würde hat in der Geschichte der Philosophie in der Tat erstmals die Stoa auf den Begriff gebracht. Sie findet ihn im Anschluß an die sokratische Tradition im Vernunftvermögen, das ein theoretisches und praktisches Selbst- und Weltverhältnis eröffnet und dem Menschen dadurch eine freie Stellung im Rahmen des Kosmos einräumt. Die Stoa hat (unter anderem) kynische Wurzeln und hat manches vom Kynismus bewahrt. Aber sie antwortet auch der provokanten kynischen Herausforderung: der Beschwörung des reflexionslosen Glücks animalischer Unmittelbarkeit. Die menschliche Vernunft, so die Stoa, besitze nicht nur ein den Menschen in seinem Glück gefährdendes und vernichtendes Potential; sie biete auch alle Möglichkeiten, den Menschen von seinen selbstverschuldeten seelischen „Krankheiten“ zu heilen und ihn in die stolze Höhe eines sterblichen Gottes zu heben. Die Vernunft eröffne dem Menschen die Möglichkeit eines freien Selbstverhältnisses; sie mache ihn weltoffen und verschaffe ihm die Möglichkeit einer Distanz und Unabhängigkeit gegenüber den eigenen Interessen und Bedürfnissen. Wie keine andere philosophische Schule hat die Stoa (in ihrer Synkatathesis-Lehre) die mit der Sprachfähigkeit und Vernunft gegebene Möglichkeit betont (und für die Aktualisierung dieser Möglichkeit geworben), zu Gedanken und Wünschen ein souveränes Verhältnis einzunehmen, sie von sich zu distanzieren und zu prüfen, ehe man sie sich aneignet oder verwirft oder bis auf weiteres in der Schwebe hält. Der Mensch sei durch die Gabe der Vernunft zu einer vollkommeneren 40 Vgl. Autobiography, CW I, S. 15.

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Lebensweise bestimmt als die Tiere; der rechte Vernunftgebrauch mache den Menschen im Unterschied zum Tier zum sachkundig wissenden Gestalter seines Lebenswillens (zum tewm¸tgr t/r bql/r); er setze ihn frei für das Ziel einer eigenverantworteten Vernunftform des Lebens (in bewußtem und willentlichem Gleichklang mit der göttlichen Weltvernunft).41 Cicero übernimmt den Würdegedanken der stoischen Philosophie und verbindet ihn mit der Tradition altrömischer dignitas.42 Ein entscheidendes Merkmal einer Person, der dignitas eignet, ist nach Cicero dies, daß sie sich in ihrem Denken und Handeln über den animalischen Lebenstrieb ebenso wie über die Banalität der Alltagsgeschäfte erhebt. Dabei sind zweitens der die persönlichen Interessen zurückstellende Einsatz für die res publica, das Gemeinwohl, und die persönliche Würde der Besten eng aufeinander verwiesen. Und Würde zeigt sich drittens für Cicero nicht nur in einer souveränen und stolzen inneren Einstellung, sondern auch in einer geprägten, gemessenen Form äusseren Verhaltens. Ihre Kraft und Glaubwürdigkeit bezieht gelebte Würde aus ihrer Anerkennung der Begrenztheit des Lebens und einem freien Verhältnis zum Tod (vgl. Pro Sest. 48). Würde manifestiert sich in einem Selbstverständnis und einer Lebenshaltung, die eine strenge Grenze zieht zu bloß tierischem Dasein und dessen Zielen der Selbstund Arterhaltung, der Leidvermeidung und des Lustgewinns. In seiner Fähigkeit zur Realisierung von zeitlos Gültigem im philosophischwissenschaftlichen Forschen und Erkennen, im ästhetischen und politischen Gestalten und im sittlichen Handeln liegt für Cicero eine Zielbestimmung des Menschen beschlossen, der gegenüber ein Leben, das sich auf die bloß animalischen Ziele der Selbst- bzw. Arterhaltung und der Lusterhöhung bzw. Unlustvermeidung zentriert, als des Menschen unwürdig erscheint. Den rechtlich-sozialen Aspekt des (allgemeinen) Würdebegriffs liefert die stoische Lehre von der göttlichen Abkunft und Verwandtschaft des ganzen Menschengeschlechts, die für Cicero dem Gedanken Raum gibt, daß man den anderen nicht als etwas Fremdes, sondern allein aufgrund des Umstands, daß er Mensch ist, als Seinesgleichen und 41 Vgl. Diogenes Laertius VII, 86 f.. 42 Vgl. dazu Victor Pöschl: Der Begriff der Wrde im antiken Rom und spter, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philos. – hist. Klasse, Jg. 1989 Bericht 3, Heidelberg 1989; Verf.: Marktpreis und Wrde oder vom Adel der menschlichen Natur, in: Die Wrde des Menschen, hg. von Henning Kößler, Erlanger Forschungen Reihe A Band 80, Erlangen 1998, S. 33 – 58.

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zu sich gehörig anzusehen habe.43 Bei Mill wird dieser Gedanke (in Grote’s Plato in explizitem Anschluß an die Stoa) im Kap. 3 von Utilitarianism unter dem säkularen Titel eines sense of unity auftauchen und das Engagement für den Anderen in privater und politisch-sozialer Hinsicht tragen. Bei Cicero trägt er den Gedanken, daß grundsätzlich jeder Mensch für jeden Menschen ein Rechtssubjekt und ein Rechtspartner ist unter dem natürlichen Gesetz einer alle verbindenden Vernunft. Und er führt bei ihm immerhin bereits zum Postulat, auch gegenüber den sozial Niedrigen und faktisch weitgehend Entrechteten nicht etwa paternalistisches Mitleid, sondern Gerechtigkeit zu üben: „Wir wollen aber in Erinnerung behalten, daß auch gegenüber den Geringsten Gerechtigkeit zu wahren ist. Am tiefsten aber stehen ihrer Lebensbedingung und äusseren Lage nach die Sklaven. Es ist keine schlechte Weisung, die da besagt, sie so wie Lohnarbeiter zu behandeln, Leistung zu verlangen und den gerechten Lohn zu gewähren“ (De off. I, 41). Mill wird sich seinerseits mit Vehemenz für die Befreiung der Sklaven in der Neuen Welt und für die Emanzipation der Frauen einsetzen. Cicero gebührt das unumstrittene Verdienst, mit Hilfe hellenistischer, im besonderen stoischer Philosophie den ursprünglich ständisch begrenzten und exklusiv an leitende politische Praxis gebundenen römischen Dignitas-Begriff in Richtung einer auch durch philosophische Theorie und wissenschaftliche Forschung sowie durch die Beschäftigung mit den freien Künsten geprägten Würde geöffnet zu haben. Sein bahnbrechender Beitrag für die Herausbildung des Begriffs einer allgemeinen Menschenwürde besteht indessen genau darin, daß er einerseits alle Menschen, weil sie Menschen sind, als Rechtssubjekte anerkannt wissen will, und daß er andererseits die stoische Bestimmung der Natur und des Ziels des Menschen mit dem innere und äussere Aspekte der Lebensführung gleichgewichtig umfassenden Elite-Begriff der römischen dignitas in unlösbaren Zusammenhang bringt. Was als Ziel und Anforderung für den römisch-republikanischen Aristokraten gilt, wird universalisiert und auf den Menschen als Menschen übertragen. Sieht man genau hin, dann zeigt sich, daß Mill sämtliche Gedanken Ciceros, mit denen dieser den altrömisch-republikanischen Elitebegriff in die Vorstellung einer allgemeinen und speziellen Würde des Men43 Vgl. De fin. III, 65: „Ex hoc nascitur ut etiam communis hominum inter homines naturalis sit commendatio, ut oporteat hominem ab homine ob id ipsum, quod homo sit, non alienum videri.“

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schen transfomiert, teilt, bei seiner Revision des Viktorianischen Gentleman-Ideals benützt und, von allen theistischen und pantheistischen Gehalten gereinigt, in seiner Utilitarismus-Schrift zur Rechtfertigung der Wahl einer höheren, die Ziele und Belange der bloßen Sinnlichkeit übersteigenden Lebensweise des Menschen verwendet: Das Gute, das sich dem Menschen durch die Möglichkeiten seiner Vernunft und seines Personseins eröffnet, ist von anderer Art als das Gute, das er ebenso wie die Tiere über die Befriedigung seines bloß sinnlichen Verlangens zu genießen vermag. Menschliches Glück besteht, wenn es denn überhaupt realisierbar ist, wesentlich in der Aktualiserung von Gutem, das ihm durch seine höheren Fähigkeiten eröffnet wird. Und dieses Gute überwiegt und kompensiert physischen Schmerz und jene Unzufriedenheit mit sich selbst und der Welt, die durch ein von Verstand und Vernunft geprägtes Begehren hervorgerufen wird. (6) Doch Mill hängt nicht kritiklos hellenistischen Gedanken nach. Er teilt mit dem breiten Strom der christlichen Tradition die Auffassung, daß zwischen den Totalitätsvorstellungen und Vollkommenheitsausgriffen menschlicher Vernunft und der Verfassung unserer (irdischen) Lebenswelt eine unüberbrückbare Kluft besteht. Die epikureische und stoische Botschaft, daß der Mensch trotz all seiner Gebrechlichkeit und Gefährdung über Bildungs- und Selbstbildungsprozesse sich zu einem sterblichen Gott erheben und vollendet glücklich machen könne, überzeugt ihn keineswegs. Er glaubt darum zu wissen, und alle Erfahrung und aller gesunde Menschenverstand geben ihm da Recht, daß nicht jeder menschliche Schmerz kompensierbar, nicht alles Elend behebbar und nicht jedes Leid für den Menschen erträglich ist. Die augustinisch geprägte christliche Philosophie des Mittelalters nimmt diesen Hiatus zwischen menschlichem Glücksverlangen und irdischer Wirklichkeit und Möglichkeit zum Anlaß, das Diesseits als Jammertal und das menschliche Leben als Elend zu beschreiben. Als im Hochmittelalter die aristotelische Ethik verstärkt ins christliche Blickfeld trat und die Diskussion mit der paganen griechischen und römischen Philosophie sich intensivierte, minderte sich die Vorstellung vom irdischen Lebens als bloßem Elend. Gleichwohl stand im Zentrum der Diskussion um Integration und Auseinandersetzung mit paganer Ethik nach wie vor die Analyse menschlichen Glücksverlangens und der Nachweis der enttäuschenden Erfahrungen, die wir mit ihm in diesem Leben, nicht nur mit den Freuden des Leibes, sondern auch mit den Freuden des Geistes

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und der Moral machen.44 Und am Ende der christlichen Diskussion stand allemal das Bild vom homo viator, der in „diesem“ Leben und mit eigenen Kräften nicht ans Ziel seines Strebens gelangt und gelangen kann. Mills Ethik hat keine Jenseitsperspektive mehr. Sie muß, wenn sie dem Menschen ein mögliches Glück in „diesem“ Leben zusprechen will, die Kritik der christlich-philosophischen Tradition am Glück der „höheren“ irdischen Freuden des Forschens, des Erkennens und Machens, des künstlerischen Dichtens und Gestaltens, der moralischen Bildung und Praxis wieder zurücknehmen. Sie muß andererseits der berechtigten Kritik des Christentums an der Selbstüberhebung der epikureischen und stoischen Philosophie Rechnung tragen: Das Ideal des epikureischen oder stoischen Weisen überanstrengt in Mills Augen den Menschen und unterschätzt die bedrückende und entmenschlichende Kraft des Elends und Leids. Mills „säkularer“ Kompromiß zwischen Hellenismus und Christentum kommt zum Ausdruck in der Unterscheidung von Glück (happiness) und Zufriedenheit (content) und der These, daß das eine nicht mit dem anderen verbunden sein muß. Solange jemand in Krankheit oder Elend lebt und solange es in der Welt Unzulänglichkeit, Unrecht und Unglück gibt, könne kein Denkender und Fühlender mit sich und der Welt zufrieden sein. Doch diese Unzufriedenheit trübe nicht grundsätzlich den Blick für den Wert des Guten, das ihrer Bekämpfung und Beseitigung dient. Und sie beeinträchtige zwar, aber entwerte in keiner Weise die Freuden, die mit der Aktualisierung unserer höheren Fähigkeiten verbunden sind. Menschenmögliches Glück, so Mill, ist unaufhebbar ein Glück im Bewußtsein seiner Endlichkeit und Unvollkommenheit; und es geht unweigerlich mit Formen und Graden der Unzufriedenheit (discontent) mit sich und der Welt einher. Gleichwohl ist es ein Glück, das ungleich wertvoller und erstrebenswerter ist als die „Zufriedenheit“ eines bloßen Sinnenwesens, dessen Bedürfnisse ihre angemessene Erfüllung finden. „Wer immer unterstellt, daß diese Bevorzugung des Höheren als ein Opfer an Glück stattfindet – daß das höhere Wesen unter den gleichen Umständen nicht glücklicher sein könne als das niedrigere –, vermengt die zwei durchaus verschiedenen Begriffe des Glücks und der Zufriedenheit. Es ist unbestreitbar, daß ein Wesen, dessen Fähigkeiten zum Vergnügen niedrig sind, die größte Chance hat, sie voll befriedigt zu bekommen; und ein hochbegabtes Wesen wird immer das Gefühl 44 Vgl. dazu Thomas v. Aquin: Summa contra Gentiles III, 27 – 48.

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haben, daß jedes Glück, das es erwarten kann, so wie die Welt verfaßt ist, unvollkommen ist. Aber es kann lernen, seine Unvollkommenheiten zu ertragen, wenn sie überhaupt erträglich sind; und sie werden es nicht das Wesen beneiden machen, das nun in der Tat um die Unvollkommenheiten nicht weiß, einfach deshalb, weil es in keiner Weise einen Sinn hat für das Gute, das diese Unvollkommenheiten beeinträchtigen. Es ist besser ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Dummkopf. Und wenn der Tor oder das Schwein anderer Meinung ist, dann deshalb, weil sie nur ihre Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei kennt beide Seiten.“ (UR S. 30/31 f.) In der Frage, welche von zwei Lebensweisen die erstrebenswertere ist, kann nur der rational entscheiden, der mit beiden vertraut ist und der einen Sinn und die Zugangsmöglichkeit hat für die Vergnügen, die mit diesen Lebensweisen verbunden sind. Das einmütige oder mehrheitliche Urteil der derart Erfahrenen hat letztinstanzliches Gewicht. Dies bezieht sich nicht nur auf die Qualität, es bezieht sich auch auf die Intensität der Vergnügen. Niemand, so Mill bereits im voraufgehenden Abschnitt, habe jemals mit Wissen und Bedacht (knowingly and calmly) die niederen den höheren vorgezogen, obgleich viele zu allen Zeiten vergeblich versucht hätten, beide zu verbinden. Worin diese Vergeblichkeit begründet ist, wird von ihm nicht weiter erklärt. Die Vergeblichkeit des Versuchs ist nach den von Mill herangezogenen philosophischen Traditionen nicht im Sinne eines weltflüchtigen (Neu-)Platonismus zu verstehen; sie ist nicht so zu verstehen, als wäre es dem Menschen nicht möglich, Sinnlichkeit und Geist zu verbinden und durch diese Verbindung der Sinnlichkeit eine beglückendere Dimension zu verleihen. Scheitern muß vielmehr der Versuch einer Kombination rein animalischer und genuin menschlicher Freuden. In animalischer Lust manifestiert sich die Unbedingtheit und Unmittelbarkeit eines naturalen Lebenstriebs, und die höheren Freuden eröffnen sich allererst im Rahmen einer (gewissen) Distanzierung dieses Lebenstriebs. Jener kann die Dinge des Lebens am besten genießen, der ihrer am wenigsten bedarf; so hatte sich bereits Epikur geäussert. Und die stoische Lehre von der Würde des Menschen liegt, wie wir eben sahen, auf ähnlicher Linie. (7) Das übereinstimmende Urteil der Kompetenten besagt, daß die mit der Aktualisierung der höheren Fähigkeiten verbundenen Freuden in ihrer Art den niederen, deren auch die Tiere fähig sind, vorzuziehen sind. Und der korrekte Begriff menschlichen Glücks besagt, daß es

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gerade die Betätigung der höheren Fähigkeiten ist, die den Menschen glücklich macht. Zu diesen gehört auch die Fähigkeit zur Moralität. Was immer Mill unter einem edlen Charakter (noble character) näherhin versteht, die Respektierung der Rechte der Anderen, die Disposition zur Unparteilichkeit, ja auch zum selbstlosen Einsatz für Andere gehören jedenfalls dazu. Mills Entwicklung des Begriffs des Glücks hat unter anderem die Funktion, dem Einzelnen zu zeigen, daß der eigene Edelmut für ihn unmittelbar einen beglückenden Aspekt hat, daß altruistische Handlungen nicht eo ipso eine Einbuße an Glück für den Handelnden bedeuten. Diese Argumentation, so der weitere Gedankengang, sei wohl zu unterscheiden von einer möglichen Argumentation für die Annahme des utilitaristischen Maßstabs der Moral. Dieser hat nicht das eigene Glück, sondern das größte Glück der größten Zahl zum Inhalt. Man könnte bzw. müßte beim Werben für seine Annahme dem Einzelnen aufzeigen, daß dieses größte Glück auch sein eigenes größtmögliches Glück einschließt. Nun ist das größte Glück der größten Zahl ganz ersichtlich nicht möglich ohne eine Ausbildung und Kultur möglichst vieler nobler Charaktere. Von ihrem (nötigenfalls auch) selbstlosen Einsatz für die Beseitigung von Leid und die Beförderung von Glück profitieren auf jeden Fall die Anderen. Je mehr Menschen in einer Gesellschaft zu selbstlosem Einsatz bereit und geneigt sind, umso mehr profitieren sie als Einzelne von der Selbstlosigkeit Anderer, auch wenn die eigenen selbstlosen Handlungen eine Einbuße an eigenem Glück bedeuten. Ihr eigenes Glück wäre demzufolge ein Ergebnis lediglich der Selbstlosigkeit der vielen Anderen. So hatten in der Tat Jeremy Bentham, James Mill und auch der junge John Stuart Mill argumentiert. Jetzt hält John Stuart Mill diesen Gedanken, der (ausschließlich) unter egozentrischer Prämisse für eine allgemeine Kultur der Rechtlichkeit, der Unparteilichkeit, der Großzügigkeit und Selbstlosigkeit argumentiert, für absurd (UR S. 36/37). Absurd ist das Argument für ihn jedoch nicht nur aufgrund seiner logischen Struktur (aus Selbstinteresse selbstlos sein), sondern auch im Blick auf die Prämisse, die den unmittelbar selbstbeglückenden Aspekt nobler Handlungen für den Handelnden leugnet. Gleichwohl bleiben Fragen offen. Mills Ethik ist teleologisch strukturiert. Sie geht aus vom Gedanken eines Endziels (ultimate end): Alles, was erstrebenswert ist, ist erstrebenswert aufgrund seiner Beziehung zum Endziel. Mills Ethik ist eudämonistisch und hedonistisch: Unter dem Endziel ist das Glück gemeint und dieses sei als möglichst weitgehende Abwesenheit von Schmerz und möglichst große Fülle von Vergnügen zu verstehen.

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Dieses Ziel allen menschlichen Handelns muß auch die argumentative Basis bieten für die Begründung moralischen Handelns. Wenn moralisches Handeln auf das möglichst große Glück der möglichst großen Zahl (von Menschen, und soweit es die Natur der Dinge erlaubt, von allen empfindenden Wesen) zielt, so muß es doch auch das möglichst große Glück des Handelnden selbst im Gefolge haben, wenn es überhaupt eine rationale Option des Handelnden sein soll. Mill deutet diesen Gedanken mit einem in Klammern gesetzten Satz an: Endziel sei das größtmögliche Glück, „ob wir nun das eigene Gut oder das anderer Menschen in Betracht ziehen“ (UR S. 36/37). Aber genau darin liegt das Problem. Moralität kann von uns die Hintanstellung eigener Interessen, ja mitunter den Einsatz oder gar das Opfer des eigenen Lebens fordern. Wie läßt sich moralisches Handeln im Blick auf derartige Situationen noch eudämonistisch und gar hedonistisch begründen?.45 (8) Dieses Problem gibt Anlaß zum gravierendsten Einwand gegen den Utilitarismus; er lautet dahingehend, daß irdisches Glück nicht der vernünftige Zweck menschlichen Lebens und Handelns (in „diesem“ Leben) sein kann. In diesem Einwand sind der zeitgenössische Kantianismus und das Christentum, gar eine heroisch-romantische Interpretation des Christentums, wie Carlyle sie vertrat, sich einig. Der totalisierende Ausgriff menschlicher Vernunft auf die Vollkommenheiten des Seins lasse das in dieser Welt dem Menschen zu seinem Glück Gegebene und Mögliche als unwägbar, defizient und enttäuschend erscheinen. Die Aufgabe menschlicher Vernunft müsse im Eindeutigen, Wißbaren und Lösbaren liegen. Und das könne nur heißen: in moralischer Selbst- und rechtlicher Weltgestaltung. Natürlich gehöre zu moralischer Selbst- und rechtlicher Weltgestaltung auch ein Einsatz für sich und andere, eine Beschaffungs- und Ordnungsleistung gegenüber den teils immer gleichen, teils schwankenden und mitunter recht kontroversen Ansprüchen eigenen Glücksverlangens und fremder Bedürfnisse. Aber diese Ordnungsleistung sichere kein Glück, sichere auch keine Kongruenz von Moralität und Glück und verlange vom Einzel45 Henry Sidgwick, der jüngere der Klassiker des Utilitarismus, hat am Ende seines Werks The Methods of Ethics genau auf dieses Kernproblem des Utilitarismus hingewiesen: Solange man nicht eine Verbindung von Tugend und Selbstinteresse beweisen oder postulieren könne, bestehe ein fundamentaler Widerspruch in unseren Intuitionen bezüglich dessen, was es heißt, vernünftig zu handeln. The Methods of Ethics, Sixth edition, London 1901, S. 506; vgl. D. G. Brown: What is Mill’s Principle of Utility, in: Mill’s Utilitarianism, Critical Essays, ed. David Lyons, Oxford 1997, S. 18.

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nen unparteiliches Verhalten notfalls unter Bedingungen des Abbruchs aller eigenen Ansprüche auf ein wenn auch defizientes Glück in dieser Welt. Der unbedingte Anspruch der Vernunft in diesem Leben beziehe sich nur auf Tugend, Recht und Moralität.46 Um ihm Geltung zu verschaffen, bedürfe es im Blick auf unser Glücksverlangen in diesem Leben einer Kultur des Verzichts und Entsagens. Kant und mit ihm die christlichen Vertreter eines heroischen Tugendverständnisses sind der durchaus plausiblen Meinung, daß ein derart verabsolutiertes moralisches Selbstverständnis sich nur durchhalten läßt im Rahmen eines (theoretischen) Vernunftglaubens, der eine Jenseitsperspektive eröffnet, die die Hoffnung auf Vollkommenheit und einen gerechten Ausgleich von Moralität, von Edelmut und Glückseligkeit trägt.47 Mill wagt auf diesen das moralische Selbstverständnis stabilisierenden Vernunftglauben der christlichen und säkularisiert christlichen Tradition nicht mehr zu setzen. Ja, er ist seinem Denken in moralischen Zusammenhängen aufgrund seiner Biographie und seines Bildungsweges gänzlich fremd. Er muß gleichwohl eine Verbindung von Moralität und Selbstinteresse suchen, um die Einheit der Vernunft im Handeln zu sichern. Der Rest des Kapitels 2 und das Kapitel 3 seiner Utilitarismusschrift sind der Suche nach dieser Verbindung gewidmet. Und Mill findet diese Verbindung wesentlich ber stoisches Gedankengut. Seine Antwort auf die Herausforderung des Kantianismus und des christlichen Tugendheroismus besteht einerseits im Programm einer Selbstkorrektur der Vernunftansprüche auf das Maß des Menschenmöglichen einerseits und in einer Betonung der sozialen Tendenzen der menschlichen Natur und der beglückenden Aspekte des diesbezüglichen Engagements und Edelmuts andererseits. (9) Auch wenn das menschliche Streben nach Glück theoretisch ins Utopische ausgriffe und praktisch ins Leere liefe, so bliebe doch in Mills Augen die hinsichtlich ihrer Objekte eindeutiger bestimmbare Aufgabe der Verhinderung und Verminderung von Unglück und Leid. Epikur hat das elementare Ziel dieser Aufgabe in einer bekannten Sentenz mit den Worten „nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren“ beschrieben. Mill sieht die größten Übel des Lebens, die Hauptursachen von kör46 Vgl. dazu Verf.: Guter Wille und Haß der Vernunft, in: Otfried Höffe (Hg.): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, 3. Aufl. Frankfurt/Main 2000, S. 66 – 82. 47 Vgl. Verf.: Immanuel Kant ber Vernunftglaube und Handlungsmotivation, in: Zeitschrift für philosophische Forschung Bd. 59 Heft 3, 2005, S. 327 – 344.

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perlichem und seelischem Leid in Not, Krankheit und der Herzlosigkeit, Unwürdigkeit und dem vorzeitigen Verlust derer, die wir lieben (vgl. UR S. 46/47). Solange der Mensch überhaupt das Leben bejaht, solange der einzelne sich zum Weiterleben entschließt und die Menschheit keinen kollektiven Suizid begeht, ist der Kampf gegen das Leid eine vordringliche, eine selbstverständliche, eine rationale Aufgabe. Daß menschliches Streben nach Glück vergeblich sei, ist andererseits, so Mill, eine grobe Übertreibung. Diese Übertreibung hat ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln nicht zuletzt in religiös und theologisch genährten Übertreibungen von Totalitätsvorstellungen und Vollkommenheitsaspirationen der menschlichen Vernunft. Mill geht hier auf die Geschichte der Übertreibung nicht ein. Der Trieb menschlichen Vernunftverlangens zur Ewigkeit und unüberbietbaren Fülle des Seins ist vor allem dem Neu-Platonismus entwachsen48 und von Augustinus in Verbindung mit dem skeptischen Gedanken genährt worden, daß wir aus eigener Kraft dieses Ziel nicht erreichen können.49 Jedenfalls gilt es für Mill, diese Aspirationen auf das Maß des Menschenmöglichen herabzuschneiden und (wieder) eine Grundhaltung menschlichen Verlangens einzuüben, „nicht mehr vom Leben zu erwarten, als es geben kann“ (UR S. 40/41). Geboten ist eine (von den hellenistischen Philosophien angewiesene) Reduktion des Strebens auf das realistische Maß der Bedingungen seiner möglichen Erfüllung. Nur so wird Glück zu einem vernünftigen, weil realisierbaren Ziel menschlichen Handelns. Dieses Glück kann, so Mill, unter menschlichen Bedingungen nicht in einer Permanenz höchster lustvoller Erregtheit zu suchen und zu finden sein, sondern muß ein ausgewogenes Verhältnis von Ruhe und Erregung aufweisen, bestehend aus gelegentlichen Erlebnissen überschwenglicher Verzückung inmitten eines ruhigen Flusses vieler und vielfältiger Freuden. Mills Unterscheidung von Ruhe (tranquillity) und Erregung (excitement) stellt nur noch ein fernes und undeutliches Echo von Epikurs Unterscheidung katastematischer und kinetischer Lust dar. Er verbindet hier offensichtlich, seiner Art gedanklichen Ausgleichs 48 Vgl. etwa Plotin Enneaden IV, 84: eqenir moeq². Mill betrachtet den Neuplatonismus als Dekadenzphilosophie, vgl. Grote’s Plato: „for Neoplatonism, an aftergrowth of late date and little intrinsic value, was a hybrid product of Greek and Oriental speculation, and its place in history is by the side of Gnosticism. What contact it has with the Greek mind is with that mind in its decadence; as the little in Plato which is allied to it belongs chiefly to the decadence of Plato’s own mind.“ CW XI, S. 378. 49 Vgl. dazu Tilman Borsche: Was etwas ist, München 21992, S. 112 ff.

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entsprechend, Motive der aristotelischen Vorstellung des Maßes der Affekte (letqiop²heia), der stoischen Vorstellung des ruhigen Flusses des Lebens (euqoia b¸ou) und der zeitgenössischen Vorstellung von ekstatisch erregendem Sturm und Drang. Um ein solches Glück zu erreichen, genügt der Rahmen eines „leidlich günstigen äusseren Schicksals“. Viele leben ein solches Glück denn auch tatsächlich für eine beträchtliche Zeit ihres Lebens. Mill macht zwei Faktoren, den elenden Zustand der gegenwärtigen Erziehung (the present wretched education) und den elenden Zustand der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse (the present wretched social arrangements) dafür verantwortlich, daß nicht nahezu alle dieses Glück leben können. Rechtliche Ordnung, materielle Voraussetzungen, ein gewisser Stand des gesellschaftlichen Könnens, Bildung des Charakters und des Geistes sind für Mill die wesentlichen Bedingungen menschlichen Glücks. Dieses ist das Ergebnis eines Zusammenspiels von Sachverhalten, die dem Einzelnen teils durch Natur, Erziehung und gesellschaftliche Verhältnisse vorgegeben sind und die er teils durch eigenes Tun zu setzen und durch Selbstbildung zu verantworten hat. Was die Bildung des Charakters und des Geistes betrifft, so sind für Mill zwei miteinander verwobene Dinge für das Glück des Menschen von entscheidender Bedeutung: die Überwindung der Egozentrik (selfishness) und die Entwicklung einer Kultur des Geistes (mental cultivation). Ein Mensch, „der nur Gefühle oder Sorgen hat, die sich um seine eigene erbärmliche Individualität drehen“, kann nicht glücklich werden. Das triste Leben vieler, die in passablen oder guten Umständen leben, hat „seine Ursache generell darin, daß sie sich um niemanden sonst als sich selbst kümmern. Jenen, die weder Zuneigungen zur politischen Gemeinschaft noch zu einzelnen Personen haben, sind die Reize des Lebens erheblich beschnitten, und schwinden auf jeden Fall in ihrem Wert, da die Zeit heranrückt, wenn alle selbstsüchtigen Interessen durch den Tod ihr Ende haben müssen“. (UR S. 42/43) Der zweite wesentliche Grund für das seelische Elend vieler Lebensläufe ist der Mangel an Kultur des Geistes (want of mental cultivation). Eine solche Kultur hat für Mill verschiedene Aspekte. Gemeint ist nicht die Höhe philosophischer Bildung oder spezialwissenschaftlicher Kompetenz. Gemeint ist ein humanes Erkenntnis- und Wissensinteresse an den Dimensionen und Vorgängen der Natur, an den Gebilden und Leistungen der verschiedenen menschlichen Künste, an den Ereignissen der Geschichte, an den Wegen der Entwicklung der Menschheit. Gedacht ist an eine kontemplative, eitler Neugier ebenso

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wie borniertem Zweckdenken ferne Offenheit für und Beschäftigung mit der Fülle, der Ordnung, den Gründen, den Abgründen, den entsetzlichen, den erfreulichen, den bedrückenden ebenso wie den ermutigenden und hoffnunggebenden Aspekten der Phänomene unseres Daseins in der Welt. Mill spricht von einem „moralischen“ bzw. „humanen“ Wissensinteresse an diesen Dingen, das heißt von einem Interesse, das für ein adäquates Selbst- und Weltverständnis des Menschen konstitutiv ist. Mill spricht von „contemplation“ (UR S. 44/45). Das Wort erinnert an die Tradition der theoretischen Lebensform. Zur Kultur des Geistes gehört für ihn offensichtlich die Fähigkeit und Neigung zur Distanzierung der eigenen Bedürfnisse und Nöte und zum kontemplativen, zweckfreien Sicheinlassen auf die Gesetze, die Dinge und Vorgänge der Natur, die Gebilde und Leistungen der Kultur und auf die Ereignisse und Entwicklungen der Natur- und Menschheitsgeschichte. Ein zivilisiertes Land (civilized country), so Mill, kann und muß jedem, der in ihm geboren wird und aufwächst, die Möglichkeiten gewähren, geistige Interessen zu entwickeln und zu aktualisieren. Diese Forderung erinnert an Aristoteles, für den die Polisgemeinschaft und nur sie den Rahmen bietet, der die Lebensform der Theoria freisetzt. Sie erinnert aber auch an die stoische Universalisierung des Weisheitskonzepts. Denn was Aristoteles naturgemäß einer philosophisch-wissenschaftlichen Elite vorbehalten glaubte, möchte Mill möglichst vielen gesichert wissen. Persönliche Gefühlsbindungen und ein Interesse am Gemeinwohl zu entwickeln ist eine Frage privater und öffentlicher Erziehung und eine Frage der Rechts-, der Herrschafts- und der Sozialordnung einer politischen Gemeinschaft. Jedem wohlerzogenen Menschen ist diese Möglichkeit in einem zivilisierten Land gegeben, es sei denn, er ist „von den größten Übeln des Lebens … wie Armut, Krankheit, und der Herzlosigkeit, Unwürdigkeit und dem vorzeitigen Verlust von Objekten der Liebe“ betroffen (UR S. 46/47). Mill ist mit der intellektuellen und politischen Avantgarde seiner Zeit, insbesondere mit (seinem zeitweiligen Freund) Auguste Comte der Überzeugung, daß die wirklich großen Übel der Welt, nämlich Armut, Krankheit, Herzlosigkeit und Bösartigkeit der Menschen prinzipiell ausrottbar sind: durch private und öffentliche körperliche und geistige Erziehung und Aufklärung, durch den Progress von Wissenschaft und Technik, durch eine Änderung und Vervollkommnung politischer und sozialer Verhältnisse. Mill weiß, daß er sich im Vertrauen auf den Kollektivfortschritt der Staaten und der Menschheit von der antiken Philosophie grundsätzlich

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unterscheidet.50 Und anders als Comte sieht Mill den Fortschrittsprozess nicht durch Schritte paternalistischer staatlicher Verordnung und Bevormundung, sondern ganz wesentlich durch die staatliche Garantie freier Forschung und Diskussion, ökonomischer Eigeninitiative und persönlicher Glückssuche gefördert. Mill betont neben dem Erfordernis der gesetzlichen Vorkehrungen der politisch organisierten Gesellschaft immer auch das Erfordernis des eigenen persönlichen Engagements, des Einsatzes der eigenen Phantasie, des Spielraums privater Willkürfreiheit. Der Kampf gegen die „Mächte des Unheils“ im Dienst des Fortschritts kostet Kraft und selbstlosen Einsatz. Der hedonistische Eudaimonismus seiner Ethik bedarf einer Begründung der „Moral der aufopfernden Hingabe“, die auch dem unübergehbaren Streben des Einzelnen nach seinem persönlichen Glück gerecht wird. Mill greift auf Gedanken vorchristlicher antiker Philosophien zurück, die ohne Jenseitsperspektive den Altruismus in eine persönliche Glückstheorie integrierten. Epikur hatte bereits davon gesprochen, daß es erfreulicher sei, einem Anderen in Not zu helfen als selbst in Not Wohltaten zu empfangen. Das Christentum kennt nicht nur die leidvollen, sondern auch die beglückenden Aspekte selbstloser Nächstenliebe. Doch es ist für Mill die genuine Leistung der Stoa, diesem Aspekt des selbstlosen Einsatzes für Andere die adäquate (auch empirisch tragfähige und ohne metaphysische oder religiöse Prämissen auskommende) Begründung zu liefern. Der Stoa ist das Glück einer altruistisch handelnden Tugend sich selbst genug. Dies kann es für sie nur sein aufgrund der Annahme eines Sozialtriebs und sozialer Gefühle, eines natural fundierten und durch Kultur gebildeten Sinnes für Zusammengehörigkeit und Einheit (sense of unity) aller Menschen. Mill betont im 3. Kapitel der Utilitarismusschrift das Gefühl der Einheit mit unseren Mitgeschöpfen (the feeling of unity with our fellow creatures) (UR S. 82/83); er betont seine Fragilität und Plastizität, er betont seine naturale Grundlage, ohne die es der zersetzenden Kraft der Analyse und Reflexion auf Dauer nicht standgehalten hätte und nicht standhalten würde: „Aber es gibt diese Basis eines mächtigen natürlichen Gefühls; und dieses wird die Stärke der utilitaristischen Moralität konstituieren, wenn einmal das allgemeine Glück als der ethische Maßstab anerkannt ist. Diese feste Grundlage ist die der sozialen Gefühle der Menschheit; das Verlangen, in Einheit mit 50 Vgl. Grote’s Aristotle CW XI, S. 505: „none of the ancient politicians or philosophers believed in progress; their highest hopes were limited to guarding society against its natural tendency to degeneration.“

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unseren Mitgeschöpfen zu sein.“ (UR S. 94/95) In der Utilitarismusschrift unterstreicht er hier gelegentlich seine Nähe zum Christentum.51 In Grote’s Plato spricht er nur als säkularer Historiker: Platons Fehler sei es gewesen, in seiner Begründung von Tugend und Glück nur das (wahre) Selbstinteresse berücksichtigt zu haben, „in disregard of the fact that the idea and sentiment of virtue have their foundation not exclusively in the self-regarding, but also, and even more directly, in the social feelings: a truth first fully accepted by the Stoics, who have the glory of being the earliest thinkers who grounded the obligation of morals on the brotherhood, the succ]meia of the whole human race. The grand defect of Plato’s ethical conceptions … was in overlooking, what was completely seized by Aristotle – that the essential part of the virtue of justice is the recognition and observance of the rights of other people.“52 Mill restituiert den in der Antike vertrauten Gedanken, daß der persönliche Einsatz für die Gemeinschaft (und, wie er es sieht, für den Fortschritt der Menschheit), der mit einem Verzicht auf privaten Lebensgenuß (the personal enjoyment of life) verbunden sein kann, mit einer vorzüglichen moralischen Befriedigung einhergeht. Er glaubt an den Sieg der Menschheit im Kampf um die Beseitigung von Armut, Krankheit und Unrecht in der Welt. Er rechnet mit einigem Pathos damit, „daß eine lange Reihe von Generationen im Kampfe fallen muß, bevor die Schlacht gewonnen ist und diese Welt zu dem wird, wozu sie mit rechtem Wissen und Wollen leicht gemacht werden kann“. Doch obgleich Dauer und Opfer dieses Kampfes bedrückend sein mögen, wird jeder, so Mill, „der hinreichend intelligent und großmütig ist, um einen wie auch immer geringen und unbedeutenden Teil der Aufgabe zu übernehmen, diesen Kampf als ein edles Vergnügen (a noble enjoyment) erleben, das er um keiner Verführung selbstsüchtigen Genusses willen aufzugeben bereit ist.“ (UR S. 48/49) Neben dem „edlen Vergnügen“ des Kampfes gegen Armut, Krankheit und Unrecht bemüht Mill einen zweiten im Hellenismus beheimateten Gedanken, der die Selbstlosigkeit im Einsatz für andere mit dem Glück des derart seinen persönlichen Lebensgenuß Opfernden verbindet. Es ist dies der Gedanke, daß menschliches Glück im Vollsinn sich nur demjenigen erschließt, der sich von sich (d. h. von seinem Lebenstrieb und den diesem Trieb entsprechenden Gütern) so weit zu distanzieren vermag, daß er in Freiheit und Gelassenheit auch auf das 51 Vgl. UR. S. 82: „what it cannot be doubted that Christ intended it to be …“ 52 CW XI, S. 419, Hervorhebung von mir.

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Glück des Lebens verzichten kann. Mill bewegt sich hier ganz in den Bahnen epikureischer und stoischer Weisheitstradition, möchte allerdings die elitäre Radikalität der ins Auge gefaßten Einstellung auf die Umstände der gegenwärtigen höchst unvollkommenen Verhältnisse eingeschränkt sehen, während es die künftigen, nunmehr geordneten Verhältnisse gerade nicht mehr erforderlich machen, daß „man dem Glück anderer dadurch dient, daß man das eigene bedingungslos aufgibt“ (UR S. 50/51). Die große Menge, so Epikur, scheut bald den Tod als das größte Übel, bald sucht sie ihn als Befreiung von der Not. Der Weise hingegen weist weder das Leben von sich, noch fürchtet er sich vor dem Nichtsein. Denn weder wird ihm das Leben zum Gegner, noch hält er es für ein Übel, nicht zu leben.53 Die hellenistische ars vivendi ist auch (und ineins) eine ars moriendi. Menschliches Glück ist danach nur möglich in Gelassenheit und Distanz zu ihm, d. h. dadurch, daß man es nicht zum Gegenstand eines unbedingten Verlangens macht, daß man das Leben und die aussermoralischen Lebensgüter jederzeit auch sein lassen kann. Der radikale Altruismus des bedingungslosen Kampfes um eine bessere Welt, eine ethische Forderung, die man als Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses christlicher Einstellungen verstehen mag, ist für Mill vernünftig begründbar und als vernünftig begründete praktisch realisierbar nur auf der Basis einer epikureisch-stoischen Lebenseinstellung: „Ich möchte hinzufügen, daß in dem gegenwärtigen Zustand der Welt, so paradox die Behauptung auch sein mag, die bewußte Fähigkeit, ohne Glück auszukommen, die beste Aussicht gewährt, so viel Glück (sc. den Handelnden selbst eingeschlossen, M. F.) zu verwirklichen, wie überhaupt nur erreichbar ist. Denn nichts als dieses Bewußtsein kann einen Menschen über die Wechselfälle des Lebens erheben und ihm das Gefühl geben, daß fatum und fortuna, mögen sie ihm auch das Schlimmste antun, am Ende doch keine Macht haben, ihn zu unterwerfen; ein Gefühl, das ihn vor übermäßiger Angst vor den Übeln des Lebens befreit und ihn – wie manchen Stoiker in den schlimmsten Zeiten des Römischen Reiches – dazu befähigt, die ihm zugänglichen Quellen der Freude in Ruhe zu pflegen, ohne sich um die Ungewißheit ihrer Dauer und die Unausweichlichkeit ihres Endes Sorgen zu machen.“54

53 Vgl. Diogenes Laertius X, 125 – 126. 54 UR S. 50/51.

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Der Gegenwartspessimist und Fortschrittsoptimist John Stuart Mill wirbt bei Seinesgleichen unter epikureischen Prämissen für einen Stoizismus auf Zeit.

Ataraxie und Rigorismus. Schopenhauers ambivalentes Verhältnis zur stoischen Philosophie von Barbara Neymeyr Sowohl in den beiden Bänden seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung von 1819 und 1844 als auch in den Parerga und Paralipomena von 1851 geht Schopenhauer auf den Stoizismus ein. Er erhebt sogar einen Prioritätsanspruch, wenn er prononciert behauptet, daß in seinem „Hauptwerk Bd. 1, § 16 und Bd. 2, Kap. 16 […] wohl zum ersten Male, der wahre Geist des Kynismus und der Stoa gründlich dargelegt ist“ (PP I: 73).1 Um so erstaunlicher erscheint es, daß Schopenhauers Verhältnis zum Stoizismus, soweit ich sehe, bislang noch nicht genauer untersucht wurde. Immer wieder rekurriert er in seinen Werken kenntnisreich auf die Antike.2 Auf präzisen Quellenstudien, die auch Schriften antiker Philosophen einbeziehen, basieren Schopenhauers Fragmente zur Geschichte der Philosophie. Diese Abhandlung publizierte er mit zahlreichen griechischen und lateinischen Zitaten im Rahmen seiner Parerga und 1

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Die Werke Schopenhauers zitiere ich nach der folgenden Edition: Arthur Schopenhauer: Smtliche Werke, hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Darmstadt 1976 – 1982. Als Siglen finden Verwendung: WWV I und WWV II für Die Welt als Wille und Vorstellung (I/II), Kl. Schr. für Kleinere Schriften, PP I und PP II für Parerga und Paralipomena (I/II). Die Belege folgen im laufenden Text mit vorangestellter Sigle jeweils unmittelbar im Anschluß an das Zitat. Von zentraler Bedeutung im Kontext von Schopenhauers Stoizismus-Rezeption sind die folgenden Textpartien: WWV I: 140 – 147, WWV II: 190 – 206, PP I: 69 – 74. Darüber hinaus thematisiert Schopenhauer den Stoizismus in WWV I: 319, 322, 405, 432 – 433, 701; WWV II: 44, 719, 772; Kl. Schr. 643, 781; PP I: 54, 564; PP II: 364, 378. In seinem Hauptwerk würdigt Schopenhauer ausdrücklich Platon und Kant als die „beiden größten Philosophen“ (WWV I: 247). Die Platonische Ideenlehre ist für Schopenhauers ästhetische Theorie von grundlegender Bedeutung. – Pleister weist in einer vergleichenden Studie zum Stellenwert des Epikureismus bei Schopenhauer zwar auch auf seine Bezugnahmen auf den Stoizismus hin, geht auf diesen philosophiehistorischen Horizont aber nicht genauer ein. Vgl. Wolfgang Pleister: War Schopenhauer ein epikureischer Weiser? In: SchopenhauerJahrbuch 69, 1988, S. 361 – 372.

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Paralipomena. In §2 bis §7 behandelt Schopenhauer das Spektrum von den Vorsokratikern bis zu den Neuplatonikern; der Komplex von §8 bis §14 beginnt mit den Werken der Gnostiker und reicht bis zu Schopenhauers eigener Philosophie. Der mit dem Titel „Stoiker“ versehene §6 der Fragmente zur Geschichte der Philosophie geht ausführlich auf die stoische Tradition ein. Auf der Basis gründlicher Textkenntnis differenziert Schopenhauer zwischen verschiedenen historischen Ausprägungen des Stoizismus: So grenzt er von Stobaios’ Eclogae physicae et ethicae, die er aufgrund ihrer pedantischen Simplifizierungen für inadäquate Dokumentationen der stoischen Lehre hält, den gedanklichen Duktus späterer Quellen ab, die bereits eine Kontamination des Stoizismus mit jüdisch-christlichen Lehren zu erkennen geben (PP I: 70 – 74). Im folgenden werde ich zunächst Schopenhauers positive Bezugnahme auf den Stoizismus darstellen, um anschließend zu zeigen, daß er trotz seiner grundsätzlichen Affinität zu dieser philosophischen Richtung auch nachdrückliche Vorbehalte formuliert. Zugleich soll deutlich werden, inwiefern Schopenhauers ambivalente Bewertung des Stoizismus mit einer Heterogenität seiner eigenen Theorien zusammenhängt. Dies gilt sowohl für seine affirmativen als auch für seine skeptischen Äußerungen über die Stoa. Eine prinzipiell positive Einstellung zum Stoizismus bringt Schopenhauer zum Ausdruck, wenn er dezidiert erklärt: „Die stoische Ethik, im ganzen genommen, ist in der Tat ein sehr schätzbarer und achtungswerter Versuch, das große Vorrecht des Menschen, die Vernunft, zu einem wichtigen und heilbringenden Zweck zu benutzen, nämlich um ihn über die Leiden und Schmerzen, welchen jedes Leben anheimgefallen ist, hinauszuheben“ (WWV I: 145) und ihn dadurch „der Würde“ des Vernunftwesens „teilhaft zu machen“ (WWV I: 146).3 3

Seneca formuliert in seinen Epistulae morales die These: „si vis omnia tibi subicere, te subice rationi“ („wenn du dir alles unterwerfen willst, unterwirf dich der Vernunft“). Vgl. Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. 5 Bde, hg., übersetzt und eingeleitet von Manfred Rosenbach, Darmstadt 1980 – 1989, Bd. 1 – 2: Dialoge. Bd. 3 – 4: Ad Lucilium epistulae morales [künftig abgekürzt als Epist.]. Bd. 5: De clementia, De beneficiis. Die Schriften Senecas werden – wie üblich – mit der jeweiligen Absatzziffer zitiert: Epist. 34,3. – Cicero betont in seinen Tusculanen ebenfalls den Stellenwert der Rationalität; vgl. Marcus Tullius Cicero: Gesprche in Tusculum. Lateinisch-deutsch mit ausführlichen Anmerkungen neu hg. von Olof Gigon, 2. Aufl. München 1970 [im folgenden zitiert mit der Sigle Tusc. sowie mit

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Schopenhauer bezeichnet das „Glück durch Geistesruhe“ als das Ziel der „stoische[n] Ethik“ und sieht das Ideal vollkommenster Vernunftentwicklung „im stoischen Weisen“ als dem Gipfel humaner Möglichkeiten repräsentiert (WWV I: 140).4 Offensichtlich bezieht er sich damit auf das stoische Konzept der Ataraxia, der Unerschütterlichkeit des Gemüts, die eine Haltung der Gelassenheit ermöglicht.5 Diesen Traditionshintergrund macht Schopenhauer wenig später auch selbst explizit, indem er die Intention der Stoiker folgendermaßen bestimmt: „Der Zweck der stoischen Ethik ist Glück: t´kor t¹ eqdailome?m […].

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nachgestellter römischer Buchziffer und arabischer Absatzzahl]. Cicero vertritt die Auffassung, daß ohne die Vernunft nichts richtig geschehen kann („nihil sine ratione recte fieri posset“); in der auf rationaler Argumentation beruhenden Philosophie sieht er die Stützen und Hilfsmittel, die für ein gutes und glückseliges Leben notwendig sind („omnia adiumenta et auxilia […] bene beateque vivendi“: Tusc. IV,84). In Tusc. III,15 – 16 charakterisiert Cicero die Seele des Weisen durch die Fähigkeit, die Vernunft bestmöglich anzuwenden („ut ratione optime utatur“); sie erspart ihm jede Verwirrung der Seele („perturbatio […] animi“). Unter Berufung auf Zenon kontrastiert Cicero in Tusc. IV,11 die stoische Vorstellung der Rationalität mit der des Pathos: Zenon definiere die Leidenschaft, die er als Pathos bezeichnet, als eine von der rechten Einsicht abgewandte naturwidrige Bewegung der Seele („Est igitur Zenonis haec definitio, ut perturbatio sit, quod p²hor ille dicit, aversa a recta ratione contra naturam animi commotio“). Andere Stoiker – so Cicero (ebd.) – betrachten die Leidenschaft als ein allzu heftiges Streben, weil es sich allzu weit von der Beständigkeit der Natur entferne („qui longius discesserit a naturae constantia“). Von allzu heftigem Begehren grenzen die Stoiker den Willen als vernunftgemäßes Streben ab, das den Weisen kennzeichnet. Vgl. Tusc. IV,12: „eius modi adpetitionem Stoici bo¼kgsim appellant, nos appellamus voluntatem. eam illi putant in solo esse sapiente, quam sic definiunt: voluntas est, quae quid cum ratione desiderat“ („Die Stoiker nennen diese Art von Streben bo¼kgsir, wir nennen es den Willen. Sie meinen, daß es diesen nur beim Weisen gebe, und definieren ihn so: der Wille ist es, der etwas mit Vernunft begehrt“). Vgl. auch WWV I: 144. Hier bezeichnet Schopenhauer unter Rekurs auf Zenons Lehre die „Glückseligkeit durch Geistesruhe“ als höchstes Gut. Der Begriff ,Ataraxie‘ wurde in der Philosophie vermutlich erstmals von Demokrit verwendet, avancierte später zu einem Grundbegriff Epikurs und seiner Schule, bis ihn schließlich auch die späte Stoa adaptierte. Laut Demokrit kennzeichnet ,Ataraxie‘ das Wesen der Eudämonie, die durch Seelenruhe entsteht. Nach epikureischer und stoischer Lehre ermöglicht die Ataraxie ein glückliches Leben und fungiert als Telos des Weisen. Seneca und Cicero übersetzen ,Ataraxie‘ mit ,tranquillitas animi‘. Vgl. z. B. den 92. Brief in Senecas Epistulae morales ad Lucilium, aus dem Schopenhauer in WWV II: 204 zitiert. Zur Begriffsgeschichte vgl. H. Reiner: Ataraxie, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter. Bd. 1: A-C. Basel 1971. Schopenhauer verwendet den Begriff ,Ataraxie‘ z. B. in WWV I: 141, 143; WWV II: 205.

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Jedoch weist die stoische Ethik nach, daß das Glück im innern Frieden und in der Ruhe des Geistes ( !taqan¸a) allein sicher zu finden sei und diese wieder allein durch Tugend zu erreichen“ (WWV I: 140 – 141).6 So positiv Schopenhauers Verhältnis zum Ethos stoischer Gelassenheit an dieser Stelle auch erscheinen mag, so kritisch bewertet er die Koinzidenz von Eudaimonie und Tugend, in der er ein Charakteristikum antiker Morallehren überhaupt erblickt. Das geht indirekt bereits daraus hervor, daß er Kant das Verdienst zuspricht, in seiner Ethik die Einheit von Glückseligkeit und Tugend aufgehoben und dadurch die Problematik voreiliger Synthesekonzepte vermieden zu haben (Kl. Schr. 642 – 643). Diese Leistung des Transzendentalphilosophen würdigt Schopenhauer auch in seiner Kritik der Kantischen Philosophie (WWV I: 701), die er als Anhang zum Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung I präsentiert.7 Hier betont er Kants „Verdienst um die Ethik“ 6

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Zahlreiche Belege finden sich bei Seneca. Vgl. z. B. Epist. 9,2, wo Seneca den griechischen Begriff Apatheia thematisiert. In Epist. 9,12 betont er die glückliche Selbstgenügsamkeit des Weisen, der das Schicksal verachtet. Weitere Belegstellen: Epist. 32,4; 36,6; 45,9. Der stoische Apatheia-Begriff ist nicht im Sinne eines spannungsfreien Quietismus zu verstehen. Seneca selbst grenzt sich ausdrücklich von einem derartigen Verständnis ab. In Epist. 67, 14 betont er, unerschütterte Muße sei keineswegs mit stoischer Apatheia gleichzusetzen, sondern mit einer Flaute: „in otio inconcusso iacere non est tranquillitas: malacia est.“ Im Kontext dieses Zitats weist Seneca darauf hin, daß die tranquillitas animi in der Auseinandersetzung mit widrigen Konstellationen erst errungen werden muß. Der Weise antizipiert mögliche Schicksalsschläge mit Seelenstärke („animi robore“); vgl. ebd. XI,6; XIII,3. Seneca versteht tranquillitas im Sinne des griechischen Begriffs Euthymia (Frohsinn); vgl. ebd. II,3. Für diesen Zustand setzt er innere Harmonie voraus, Einigkeit mit sich selbst, die durch Abkehr von allen Äußerlichkeiten entsteht (vgl. ebd. II,4; XIV,2). In seiner Schrift De tranquillitate animi (IX, 2) rät Seneca zur Mäßigung der Emotionen: „Discamus continentiam augere, luxuriam coercere, gloriam temperare, iracundiam lenire, […] frugalitatem colere“ („Lernen wir, die Beherrschung zu steigern, die Genußsucht zu zügeln, den Ehrgeiz zu mäßigen, den Jähzorn zu beschwichtigen und die Genügsamkeit zu pflegen“). – Zur stoischen Lösung für die Affektproblematik vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. 2. Aufl. Darmstadt 1995, S. 134 – 141. – Den Zusammenhang von Tugend und Glück diskutiert Cicero: Tusc. V,18 – 19, V,21. Die These, das glückselige Leben bestehe nur aus der Tugend („ex quo efficitur honestate una vitam contineri beatam“), findet sich in Tusc. V,44. In der Kritik der praktischen Vernunft thematisiert Kant die Einheit von „Tugend und Glückseligkeit“ in philosophischen Schulen der Antike. Er differenziert hier folgendermaßen: „Der Epikureer sagte: sich seiner auf Glückseligkeit

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(WWV I: 701) 8 gerade vor dem Hintergrund gegenläufiger Tendenzen in der philosophischen Tradition. So konstatiert Schopenhauer, daß schon die Philosophen der Antike mit Ausnahme Platons, „nämlich Peripatetiker, Stoiker, Epikureer durch sehr verschiedene Kunstgriffe Tugend und Glückseligkeit […] von einander abhängig machen“ oder miteinander „identifizieren wollten“ (WWV I: 701). Aus einer kritischen Position zu philosophischen Systemen, die „stets die Glückseligkeit mit der Tugend“ korrelieren (WWV I: 493), formuliert Schopenhauer auch seine Vorbehalte gegenüber dem grundsätzlichen „Eudaimonismus“ (WWV I: 147) der stoischen Ethik. Er betrachtet die „Tugend […] als ein Streben in ganz entgegengesetzter Richtung als das nach Glückseligkeit“ (WWV I: 493). Seine eigene Willensmetaphysik zielt letztlich auf das Ethos einer „gänzliche[n] Selbstaufhebung und Verneinung des Willens“ (WWV I: 494). Die Deduktion der Eudaimonie aus der Tugend kritisiert Schopenhauer bereits im ersten Band seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung von 1819, wo er mit pejorativem Unterton feststellt, die Stoa sei „eigentlich doch nur ein besonderer Eudaimonismus“ (WWV I: 147).9 Anschließend erklärt er sogar, „die stoische Ethik“ sei von dem „innere[n] Widerspruch“ bestimmt, „leben zu wollen, ohne zu leiden“;

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führenden Maxime bewußt sein, das ist Tugend; der Stoiker: sich seiner Tugend bewußt sein, ist Glückseligkeit. Dem ersteren war Klugheit so viel als Sittlichkeit; dem zweiten, der eine höhere Benennung für die Tugend wählte, war Sittlichkeit allein wahre Weisheit“ (Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Nachdruck der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Berlin 1968. Bd. V: Kritik der praktischen Vernunft. S. 1 – 163, hier S. 111). Kant selbst kritisiert die Intention, „zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend, Identität zu ergrübeln“ (S. 111). In Schopenhauers Preisschrift ber die Grundlage der Moral beginnt das KantKapitel mit dem markanten Diktum: „Kant hat in der Ethik das große Verdienst, sie von allem Eudaimonismos gereinigt zu haben“ (Kl. Schr. 642). Aber wenig später relativiert Schopenhauer diese Feststellung: Strenggenommen „hätte auch Kant den Eudaimonismos mehr scheinbar als wirklich aus der Ethik verbannt. Denn er läßt zwischen Tugend und Glückseligkeit doch noch eine geheime Verbindung übrig“, die Schopenhauer mit einer humoristischen Pointe veranschaulicht: In Kants „Lehre vom höchsten Gut“ sieht er „Tugend und Glückseligkeit […] in einem entlegenen und dunkeln Kapitel zusammenkommen, während öffentlich die Tugend gegen die Glückseligkeit ganz fremd tut“ (Kl. Schr. 643). In Schopenhauers Preisschrift ber die Grundlage der Moral findet sich eine Parallelstelle: Kl. Schr. 643.

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ein „seliges Leben“ sei aber letztlich nichts anderes als eine contradictio in adjecto (WWV I: 146 – 147). Durch genauere Untersuchungen läßt sich zeigen, daß Schopenhauers Verdikt aus den Prämissen seiner eigenen Willensmetaphysik resultiert. Er hält die „Weisheit, […] vollkommene Ruhe, Zufriedenheit, Glückseligkeit“ des „stoische[n] Weise[n]“ (WWV I: 147) für inkompatibel mit der conditio humana. Denn da „alles Leben Leiden“ (WWV I: 426) und demzufolge auch „jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte“ ist (WWV I: 444), meint er, die menschliche Existenz sei „schon der ganzen Anlage nach keiner wahren Glückseligkeit fähig, sondern wesentlich […] ein durchweg unseliger Zustand“ (WWV I: 443), dem „gänzliches Nichtsein […] entschieden vorzuziehn wäre“ (WWV I: 445). Trotz dieses Antagonismus zwischen der eudaimonistischen Ethik der Stoiker und Schopenhauers pessimistischer Willensmetaphysik sind bei genauerer Betrachtung letztlich doch deutliche Affinitäten zu erkennen. Im Vierten Buch der Welt als Wille und Vorstellung, das der Ethik gewidmet ist, bestimmt Schopenhauer das „summum bonum“ als „die wahre Willenslosigkeit“, die „allein den Willensdrang für immer stillt“ und dadurch „jene Zufriedenheit“ vermittelt, „die nicht wieder gestört werden kann“ (WWV I: 494). Diese Formulierung erscheint wie eine Paraphrase des stoischen Ideals der Ataraxia, der Unerschütterlichkeit der Seele. Das Vierte Buch der Welt als Wille und Vorstellung zeigt, daß Schopenhauer trotz des für seine Philosophie konstitutiven Pessimismus selbst einen Ausweg aus der Negativität der Existenz anvisiert. Obwohl der Mensch „zwischen Schmerz und Langerweile […] hin und her geworfen“ wird, hält Schopenhauer es für möglich, „Trost […], ja vielleicht gar eine stoische Gleichgültigkeit gegen das vorhandene eigene Übel [zu] erlangen“ (WWV I: 432). Denn die radikale Erkenntnis der Unausweichlichkeit des Leidens läßt, sofern sie „zur lebendigen Überzeugung“ wird, „einen bedeutenden Grad stoischen Gleichmuts“ entstehen und reduziert dadurch auch „die ängstliche Besorgnis um das eigene Wohl“ (WWV I: 433). Nicht allein auf das stoische Ideal der Apatheia und Ataraxia nimmt Schopenhauer Bezug. Außerdem scheint er an eine These in Epiktets Fragmenta anzuknüpfen, nach der die Ursache des Leidens nicht im Mangel an sich, sondern im Begehren liegt.10 Infolgedessen kommt es

10 Schopenhauer zitiert wörtlich aus Epiktets Fragmenta und gibt den Inhalt des

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darauf an, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität, zwischen Wollen und Haben nach Möglichkeit auf ein Minimum zu reduzieren (WWV I: 142), und zwar durch die bewußte Entscheidung für eine an der Einfachheit kynischer Lebenskonzepte orientierte Anspruchslosigkeit. Deshalb plädiert Schopenhauer dafür, auf dem „Weg der größtmöglichen Entbehrung“ zum „schmerzlosesten Leben zu gelangen“ (WWV II: 196); in diesem Sinne sieht er auch in Senecas Schrift De tranquillitate animi den „Geist des Kynismus“ wirksam: „Cogitandum est, quanto levior dolor sit non habere quam perdere: et intelligemus paupertati eo minorem tormentorum, quo minorem damnorum esse materiam“ (WWV II: 196).11 Die Fortsetzung dieses Seneca-Zitats stellt Schopenhauer in den Kontext des Kynismus: „Tolerabilius autem est, ut dixi, faciliusque non adquirere quam amittere […] Diogenes […] effecit ne quid sibi eripi posset“ (WWV II: 196).12 Schopenhauers Affinität zum stoischen Ethos ist auch in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit zu erkennen. Hier empfiehlt er, man solle der „stoische[n] Gesinnung“ gemäß niemals die Negativität der conditio humana vergessen, sondern sich stets bewußt halten, „welch ein trauriges und jämmerliches Los das menschliche Dasein überhaupt ist“ (PP I: 564). Angesichts der Widrigkeiten, denen der Mensch ausgeliefert ist, propagiert Schopenhauer einen Habitus stoischer Gelassenheit: „Überhaupt aber zeigt der, welcher bei allen Unfällen gelassen bleibt, daß er weiß, wie kolossal und tausendfältig die möglichen Übel des Lebens sind; weshalb er das jetzt eingetretene ansieht als einen sehr kleinen Teil dessen, was kommen könnte“ (PP I: 564). Indem Schopenhauer anschließend „über die beruhigende Wirkung der Erkenntnis des Unvermeidlichen und Notwendigen“ räsonniert (PP I: 565 – 566), nimmt er auf das Verhältnis zwischen Fatum und Fortuna Zitats in Parenthese auch lateinisch wieder: „Non paupertas dolorem efficit, sed cupiditas“ (WWV I: 142). 11 Vgl. Seneca: De tranquillitate animi VIII,2 („Man muß bedenken, wieviel geringer der Schmerz ist, nicht zu besitzen als zu verlieren, und wir werden einsehen, daß die Armut um so weniger zu leiden hat, je weniger sie zu verlieren hat“). Vgl. auch Epist. 2,6: „non qui parum habet, sed qui plus cupit, pauper est“ („Arm ist nicht derjenige, der zuwenig besitzt, sondern der, der mehr begehrt“). Daher liegt das Glück des Stoikers in der Selbstgenügsamkeit. Vgl. Epist. 9,19. Analog: Epist. 15,9; 32,4. 12 Schopenhauers (nicht ganz präzises) Seneca-Zitat habe ich oben ergänzt gemäß Seneca: De tranquillitate animi VIII,3 – 4. Hier betont Seneca, es sei erträglicher und leichter, nicht erst zu erwerben als zu verlieren. Diogenes habe dafür gesorgt, daß ihm nichts entrissen werden konnte.

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Bezug, das in der stoischen Tradition von eminenter Bedeutung ist. Einerseits geht er von „der Veränderlichkeit aller Dinge“ aus, die „großen Jubel oder große Wehklage“ gleichermaßen unangemessen erscheinen läßt (PP I: 563), andererseits konstatiert er: „Alles, was geschieht, vom Größten bis zum Kleinsten, geschieht notwendig“ (PP I: 565, Kl. Schr. 581). Diese Einsicht befähigt seines Erachtens am besten „zum gelassenen Ertragen der uns treffenden Unglücksfälle“ (PP I: 565). In auffälliger Weise korrespondieren diese Aussagen Schopenhauers mit der stoischen Bestimmung der Relation zwischen Fatum und Fortuna, die auch in der literarischen Stoizismus-Rezeption zum Topos geworden ist.13 Die fundamentale Ambivalenz des Fortuna-Begriffs, der sowohl Glück als auch Unglück umfaßt, prägt sich in der allegorischen Fortuna-Gestalt aus, einer unbeständigen und unberechenbaren, ja mitunter sogar böswilligen Schicksalsmacht, die das unkalkulierbare Auf und Ab im Leben des Menschen symbolisiert.14 Implizit scheint Schopenhauer auf diese Ambivalenz der Fortuna anzuspielen, wenn er auf die Instabilität der Lebenskonstellationen zu sprechen kommt. Da keine Wunscherfüllung „dauernd befriedigen kann“, weil „jedes Glück nur vom Zufall auf unbestimmte Zeit geliehn ist“, betrachtet er „jede lebhafte Freude“ gemäß dem stoischen Opinio-Begriff als einen „Irrtum“ oder „Wahn“ (WWV I: 143), der durch einen leidensvollen Prozeß der Desillusionierung beseitigt werden muß; „dem Weisen bleibt daher Jubel wie Schmerz immer fern, und keine Begebenheit stört seine !taqan¸a“ (WWV I: 143). Laut Cicero beruht jede Leidenschaft auf bloßer Meinung („intellegi debet perturbationem quoque omnem esse in opinione“).15 Ebenfalls der stoischen Tradition folgend, grenzt Schopenhauer von der Fortuna das Fatum ab: als vorherbestimmte Notwendigkeit, die es zu akzeptieren gilt. Diese Korrelation zwischen der Fortuna als der durch Zufälle bestimmten Oberflächenstruktur der Wirklichkeit und dem Fatum als der Tiefenstruktur naturgesetzlicher Notwendigkeit, die 13 Dieses stoische Begriffspaar konstituiert beispielsweise Flemings spannungsreiches Gedicht An sich. Vgl. Barbara Neymeyr: Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett „An sich“, in: Daphnis 31, 2002, S. 235 – 254. 14 Vgl. Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Gçttin des Glcks im Wandel der Zeiten. München/Berlin 1997. 15 Cicero: Tusc. IV,79. In dieser Erkenntnis sieht Cicero zugleich die Möglichkeit einer Therapie; vgl. Tusc. IV,83.

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in kausaler Funktionalität die Welt durchwaltet und alles bestimmt16, ist auch in Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit zu erkennen. Gemäß der stoischen Maxime, man solle der Fortuna widerstehen, aber das Fatum akzeptieren, empfiehlt er in seinem populären Spätwerk, den schädlichen Konsequenzen der Fortuna möglichst mithilfe kluger Voraussicht auszuweichen, das Fatum jedoch als unvermeidlich hinzunehmen (PP I: 564 – 565) – ganz im Sinne der berühmten Verse aus dem griechischen Zeushymnus des Stoikers Kleanthes, die Seneca in der lateinischen Übersetzung Ciceros zitiert: „Ducunt volentem fata, nolentem trahunt“.17 Der stoischen Devise ,fortunae resistere‘, für die sich in der antiken Tradition zahlreiche Beispiele finden18, entspricht Schopenhauers Feststellung in den Parerga und Paralipomena, „der Stoizismus der Gesinnung, welcher dem Schicksale Trotz bietet“, sei ein „guter Panzer gegen die Leiden des Lebens und dienlich, die Gegenwart besser zu ertragen“ (PP II: 378). Schopenhauer nimmt die von den Stoikern reflektierte Konstellation zwischen Fatum und Fortuna in seinen Gedankengang auf, relativiert allerdings die Differenz, wenn er empfiehlt, die Haltung gelassener Akzeptanz gegenüber dem Fatum möglichst auf 16 Zur stoischen Philosophie vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. 2., erw. Aufl. Darmstadt 1995. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 2 Bde. Göttingen 1943/47. 4. Aufl. 1970. 17 Seneca: Epist. 107,11 („Den Wollenden führt das Schicksal, den Nichtwollenden zieht es“). Aus dieser Konstellation leitet Seneca den Rat ab, die Seele so zu formen, das sie das Erforderliche will (Epist. 61,3: „Itaque sic animum componamus, ut quicquid res exiget, id velimus“). Seneca zählt Kleanthes zusammen mit Zenon, Sokrates, Platon u. a. zu den bedeutenden Lehrern des Menschengeschlechts (Epist. 64,9 – 10). 18 Vgl. z. B. Seneca: De providentia IV,12: „Praebendi fortunae sumus, ut contra illam ab ipsa duremur“ („Wir müssen uns dem Schicksal stellen, um uns gegen es mit dessen Hilfe abzuhärten“). In Epist. 66,6 rühmt Seneca „die Seele, die sich keinem Schicksal unterwirft, über alles, was vorfällt und eintrifft, erhaben ist“ („animus […] neutri se fortunae summittens, supra omnia quae contingunt acciduntque eminens“). Laut Epist. 76,21 liegt die virtus gerade in der Geringschätzung („contemptu“) der fortuna. In seiner Schrift De constantia sapientis (V,4) betont Seneca die Unabhängigkeit der virtus von der fortuna: „libera est, inviolabilis, immota, inconcussa“ („sie ist frei, unverletzlich, unveränderlich, unerschütterlich“). Vgl. zu diesem Themenkomplex auch den Aufsatz von Gerda Busch: Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca, in: Seneca als Philosoph, hg. von Gregor Maurach. 2. Aufl. Darmstadt 1987 (Wege der Forschung Bd. 414), S. 53 – 94.

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die Einstellung zur Fortuna zu übertragen: Da sich der Mensch rasch mit dem „unvermeidlich Notwendige[n]“ arrangiert, vermag er die ihn „treffenden Unglücksfälle“ leichter zu ertragen, wenn er „alles, selbst das durch die fremdartigsten Zufälle Herbeigeführte, als ebenso notwendig ansehn [kann] wie das nach den bekanntesten Regeln und unter vollkommener Voraussicht Erfolgende“ (PP I: 565). Die „große Wahrheit“, daß „alles, was geschieht, notwendig eintritt, also unabwendbar ist“, bezeichnet Schopenhauer selbst explizit als „den fatalistischen Standpunkt“ (PP I: 517).19 Schopenhauer betont den „innere[n] Widerspruch“ der stoischen Ethik, deren „Eudaimonismus“ er für inkompatibel mit der prinzipiellen Negativität der conditio humana hält (WWV I: 147). Die stoische Intention auf ein „seliges Leben“ (WWV I: 146) scheint demnach seiner pessimistischen Willensphilosophie diametral gegenüberzustehen. Und dies um so mehr, als er jedweden Optimismus als „wahrhaft ruchlose Denkungsart“ kritisiert, als „Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit“ (WWV I: 447). Aufheben läßt sich diese Opposition nur dann, wenn man Glück moderater im Sinne einer bloßen Minimierung des Leidens versteht (PP I: 484). Schopenhauer versucht den Antagonismus von beiden Seiten aus durch Relativierung zu überwinden. Einerseits nähert er die Prinzipien des Stoizismus der existentiellen Radikalität seines metaphysischen Pessimismus an, andererseits nimmt er in einem seiner Werke auch selbst versuchsweise einen eudaimonistischen Standpunkt ein: In seinen Aphorismen zur Lebensweisheit will er nach eigenem Bekunden eine Anleitung zu der Kunst geben, „das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen“; diesen Ansatz bezeichnet er selbst explizit als „Eudaimonologie“ (PP I: 375). Von vornherein stehen Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit unter der Prämisse, daß das Dasein „dem Nichtsein entschieden vorzuziehen wäre“ (PP I: 375). Daraus resultiert ein eklatanter Widerspruch zu seiner pessimistischen Überzeugung, das Leben habe als ein „durchweg unseliger Zustand“ zu gelten (WWV I: 443), dem „gänzliches Nichtsein […] entschieden vorzuziehn wäre“ (WWV I: 445). Obwohl sich Schopenhauer über diesen fundamentalen Antagonismus vollauf im klaren ist, beschließt er in den Aphorismen zur Lebensweisheit, vom „höheren metaphysisch-ethischen Standpunkte“ seiner Philoso19 In diesem Sinne empfiehlt Seneca Gleichmut gegen Unausweichliches (Epist. 49,10: „aequanimitatem adversus inevitabilia“).

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phie aus heuristischen Gründen einmal abzusehen, eine „Akkommodation“ an die „gewöhnlichen empirischen“ Perspektiven zu vollziehen und dabei von einer Position auszugehen, die er selbst in der Konsequenz seiner Willensmetaphysik eigentlich als „Irrtum“ verwerfen müßte (PP I: 375). Allerdings relativiert Schopenhauer den eudaimonologischen Standpunkt in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit, und zwar in dem Sinne, „daß unter ,glücklich leben‘ nur zu verstehn ist ,weniger unglücklich‘, also erträglich leben“ (PP I: 484). Mit dieser Einschränkung hebt er nicht nur die von ihm behauptete immanente Paradoxie der stoischen Ethik auf, sondern überbrückt zugleich auch die Kluft zwischen dem Stoizismus und seiner eigenen Philosophie. Den angeblichen „innere[n] Widerspruch“ (WWV I: 147) des Stoizismus revidiert er durch nachträgliche Modifikation ebenso wie den fundamentalen Kontrast zwischen dem metaphysischen Pessimismus seiner Willenstheorie und dem tendenziell optimistischen Eudaimonismus der stoischen Ethik, die auf einen „völlig immanenten“ Zweck ausgerichtet ist (WWV II: 205). Ein Spannungsverhältnis thematisiert Schopenhauer, indem er den Optimismus, der aus Illusionen über die tatsächliche Erlebnisqualität von Genuß entsteht, als „die Quelle vielen Unglücks“ bezeichnet: „Während wir nämlich von Leiden frei sind, spiegeln unruhige Wünsche uns die Chimären eines Glückes vor, das gar nicht existiert, und verleiten uns, sie zu verfolgen: dadurch bringen wir den Schmerz, der unleugbar real ist, auf uns herab. Dann jammern wir über den verlorenen schmerzlosen Zustand, der wie ein verscherztes Paradies hinter uns liegt“ (PP I: 485). Aus derartigen Erfahrungen zieht Schopenhauer das Fazit: „die Genüsse sind und bleiben negativ: daß sie beglücken, ist ein Wahn, den der Neid zu seiner eigenen Strafe hegt. Die Schmerzen hingegen werden positiv empfunden: daher ist ihre Abwesenheit der Maßstab des Lebensglückes“ (PP I: 484), und dies um so mehr, wenn zugleich „Abwesenheit der Langenweile“ den „schmerzlosen Zustand“ begleitet (PP I: 484 – 485).20

20 Trotz des fundamentalen Pessimismus, der Schopenhauers Willensmetaphysik bestimmt, lassen sich aus seinem Werk vier unterschiedliche Glückskonzeptionen herauspräparieren. Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Pessimistische Eudaimonologie? Zu Schopenhauers Konzeptionen des Glcks, in: Schopenhauer-Jahrbuch 77, 1996, S. 133 – 165.

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Die „größte Verkehrtheit“ liegt demzufolge in der Intention, „diesen Schauplatz des Jammers in einen Lustort verwandeln zu wollen und statt der möglichsten Schmerzlosigkeit Genüsse und Freuden sich zum Ziele zu stecken“ (PP I: 485). Von seinen pessimistischen Prämissen aus erscheint Schopenhauer gerade das konträre Szenario als die eigentlich realistische Vorstellung: „Viel weniger irrt, wer mit zu finsterm Blicke diese Welt als eine Art Hölle ansieht und demnach nur darauf bedacht ist, sich in derselben eine feuerfeste Stube zu verschaffen. Der Tor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich betrogen: der Weise vermeidet die Übel“ (PP I: 485) – so Schopenhauers sentenzartig pointierte Quintessenz. Daß auch die These von der Negativität des Glücks letztlich von der Rezeption der antiken Philosophen beeinflußt ist, verraten die Ausführungen zu den Kynikern in den Parerga und Paralipomena: „Sie waren tief ergriffen von der Erkenntnis der Negativität des Genusses und der Positivität des Schmerzes; daher sie konsequent alles taten für die Vermeidung der Übel, hiezu aber die völlige und absichtliche Verwerfung der Genüsse nötig erachteten; weil sie in diesen nur Fallstricke sahen, die uns dem Schmerze überliefern“ (PP I: 486 – 487). Den zunächst so markanten Antagonismus von eudaimonistischen und pessimistischen Konzepten sieht Schopenhauer schließlich in „dem schmerzlosen Zustande“ aufgehoben, den er als „das höchste wirkliche Glück“ bezeichnet (PP I: 485). Diese an Epikur erinnernde Auffassung, die auch mit den Prinzipien der stoischen Ethik kompatibel ist, basiert auf der Überzeugung, Glück bestehe in der größtmöglichen Reduktion des Leidens, nicht aber in einer Maximierung der Genüsse. Wer „die Chimäre des positiven Glücks“ (PP I: 486) durchschaut hat, läßt sich auf dieses „Gaukelspiel“ nicht mehr ein und wählt stattdessen die stoische Ataraxie als Lebensideal (WWV II: 203). Ausdrücklich nimmt Schopenhauer in diesem Kontext auf Senecas Schrift De tranquillitate animi Bezug. Unverkennbar ist die Affinität von Schopenhauers Thesen zu den Lehren der Kyniker. Die Brücke zur stoischen Ethik schlägt er selbst, indem er den historischen Wirkungszusammenhang von Kynismus und Stoizismus betont (WWV II: 193, 196, 200, 204). Bereits das stoische Ideal eines naturgemäßen Lebens21 mit dem Habitus „unerschütterli21 Nietzsche kritisiert das stoische Ideal naturgemäßen Lebens in einem dialektisch pointierten Aphorismus seiner Schrift Jenseits von Gut und Bçse. Vgl. Friedrich Nietzsche: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von

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chen Gleichmutes“ (WWV II: 202) führt Schopenhauer, der hier auch Diogenes Laertios zitiert, auf Konzepte der Kyniker zurück (WWV II: 198); sie wirken seines Erachtens auch in Senecas Schriften Epistulae morales und De tranquillitate animi hinein (WWV II: 202 – 203). Um die leidensträchtige Diskrepanz zwischen Wünschen und Haben zu überwinden, hält Schopenhauer das „Anpassen des Wollens“ an die konkreten Lebenskonstellationen und damit auch an die „Natur der Dinge“ für notwendig (WWV II: 203). Dieses Postulat bringt er mit Bezug auf die in „Arrians ,Epicteti dissertationes‘ (2, 17, 21, 22)“ vermittelten Positionen Epiktets mit dem „vieldeutigen jat± v¼sim f/m“ in Verbindung (WWV II: 203). Schon Jahrzehnte zuvor hatte Schopenhauer in § 16 der Welt als Wille und Vorstellung die stoische Devise „blokocoul´myr f/m“ entfaltet und dabei auf Zenon-Zitate aus Stobaios’ Eclogae physicae et ethicae zurückgegriffen, denen zufolge man „übereinstimmend mit sich selbst leben solle“, und zwar „vernnftig nach Begriffen“ statt „nach wechselnden Eindrücken und Launen“ (WWV I: 144 – 145). Dabei berief sich Schopenhauer auf Epiktets Einsicht, daß „nur die Maxime unsers Handelns, nicht der Erfolg noch die äußern Umstände in unserer Gewalt sind“ (WWV I: 145). An diese Auffassung schließt er einen philosophiehistorischen Rückblick an: Zenons rein formales „Moralprinzip – übereinstimmend zu leben“ wurde laut Stobaios durch Kleanthes ergänzt „durch den Zusatz: ,übereinstimmend mit der Natur zu leben‘“ (WWV I: 145), wodurch für die spätere Tradition des Stoizismus ein weites Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten eröffnet wurde: im Sinne von Natur generell (Kleanthes) oder menschlicher Natur speziell (Chrysippos) (WWV I: 145).22 Giorgio Colli und Mazzino Montinari [künftig abgekürzt als KSA], München/ Berlin/New York 1980. KSA 5: 21 – 22. – Vgl. dazu und zu anderen Aspekten von Nietzsches Stoizismus-Rezeption: Barbara Neymeyr: „Selbst-Tyrannei“ und „Bildsulenklte“. Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit der stoischen Moral (im vorliegenden Sammelwerk). 22 So formuliert Cicero in Tusc. IV,79 die rhetorische Frage: „an quicquam est secundum naturam quod fit repugnante ratione?“ („Ist irgendetwas naturgemäß, was gegen die Vernunft geschieht?“) Seneca definiert den Menschen als animal rationale, das „gemäß der eigenen Natur leben“ soll (Epist. 41,7 – 8: „secundum naturam suam vivere“). In Tusc. V,82 referiert Cicero die stoische Auffassung, ein Leben im Einklang mit der Natur („congruere naturae cumque ea convenienter vivere“) stehe in der Macht des Weisen und damit auch das glückselige Leben („vita beata“). Für das stoische Postulat eines naturgemäßen Lebens lassen sich noch zahlreiche weitere Textstellen finden. Vgl. z. B. Seneca: Epist. 5,4: „propositum nostrum est secundum naturam vivere“. Zum spezifischen Status des Menschen als animal rationale vgl. Epist. 41,8 – 9. Vgl. auch

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Über das stoische Ideal eines naturgemäßen Lebens hinaus konstatiert Schopenhauer auch in grundsätzlicher Hinsicht einen unmittelbaren philosophiehistorischen Wirkungszusammenhang: Er sieht aus den „Kyniker[n]“ als „praktische[n] Philosophen“ die „Stoiker“ dadurch hervorgehn, „daß sie das Praktische in ein Theoretisches verwandelten“ (WWV II: 200). Diese zunächst etwas kryptisch anmutende These zielt auf problematische Tendenzen bei der Adaptation kynischer Maximen durch die Stoiker. In seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung kritisiert Schopenhauer die Stoiker, sofern sie „das wirkliche Entbehren“ durch die bloße Imagination von Entbehrlichkeit substituieren und sich dadurch die Basis für eine weitaus kommodere Lebensweise schaffen, als es im Rahmen kynischer Anspruchslosigkeit vorstellbar wäre: „Man könne immerhin alles haben und genießen; nur müsse man die Überzeugung von der Wertlosigkeit und Entbehrlichkeit solcher Güter“ und von ihrer „Hinfälligkeit […] stets gegenwärtig erhalten“, sie „alle ganz geringschätzen und allezeit bereit sein, sie aufzugeben“ (WWV II: 200). Schopenhauer wirft den Stoikern vor, daß sie „die Theorie des Gleichmuts und der Unabhängigkeit auf Kosten der Praxis“ ihren eigenen Bedürfnissen anzupassen versuchen (WWV II: 201). Dabei diagnostiziert er eine sophistische Manier, die an der Lebensrealität vorbeigeht. An Stoikern wie Epiktet beanstandet er, daß sie irrtümlich „alles auf einen mentalen Prozeß zurückführten“ und dabei die Grundtatsache ignorierten, „daß alles Gewohnte zum Bedürfnis wird und daher nur mit Schmerz entbehrt werden kann“ (WWV II: 201). Die Souveränität des Weisen – so Schopenhauers Darstellung – soll den Stoikern zufolge darin bestehen, die Glücksgüter, die sie abschätzig als bloße „!di²voqa“ disqualifizieren, bei entsprechender Gelegenheit bereitwillig zu akzeptieren und zu genießen, um später „mit größter Epist. 66,6. In De vita beata III,3 sieht Seneca in der Zustimmung zur Natur Einigkeit unter allen Stoikern: Weisheit bestehe darin, nicht von ihr abzuweichen und sein Leben nach ihrem Gesetz und Vorbild zu ordnen („Interim, quod inter omnis Stoicos convenit, rerum naturae assentior; ab illa non deerrare et ad illius legem exemplumque formari sapientia est“). In Epist. 16,7 koinzidieren Vorstellungen des Stoizismus mit Idealen des Epikureismus; Seneca zitiert hier ausdrücklich Epikur: „si ad naturam vives, numquam eris pauper, si ad opiniones, numquam eris dives“ („Wenn du nach der Natur lebst, wirst du niemals arm sein, wenn du nach Wunschvorstellungen lebst, wirst du niemals reich sein“). Auch Cicero versucht sich von dogmatischer Festlegung freizuhalten und beim Argumentieren ohne Autoritätsgläubigkeit nach allen Seiten offen zu bleiben (Tusc. V,83).

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Gleichgültigkeit“ wieder auf sie zu verzichten, „wenn der Zufall […] sie zurückfordert“ (WWV II: 201). Eine derartige Vorstellung von stoischer Ataraxia und Apatheia des Weisen hält Schopenhauer in mehrfacher Hinsicht für problematisch. Denn diese Strategie, den unliebsamen Konsequenzen einer kynischanspruchslosen Lebensweise auszuweichen, habe letztlich dazu geführt, daß sich die Stoiker „alle Bequemlichkeiten des Lebens heransophistizierten“ (WWV II: 201). Den Herausforderungen echter probatio versuchten sie mithilfe der Illusion zu entgehen, man könne reales Entbehren durch bloße Imagination substituieren, ohne dadurch den stoischen Habitus der Ataraxia in Frage zu stellen. Schopenhauer verwirft dieses Lebensrezept und treibt seine kritische Darstellung schließlich bis zur Karikatur: Ironisch attackiert er die Mentalität derer, die – so sein fiktionales Szenario – „an einer luxuriösen römischen Tafel sitzend, kein Gericht ungekostet ließen, jedoch dabei versicherten […], sie machten sich den Teufel etwas aus der ganzen Fresserei“ (WWV II: 201 – 202). Die Transformation radikaler kynischer Praxis in eine allzu legere stoische Theorie, die durch Inkonsequenz zur Depravation der ursprünglichen Lebensmaximen führt, kritisiert Schopenhauer mit Verve: Derartige „Stoiker“ als „bloße Maulhelden“23 verhalten sich „zu den Kynikern […] ungefähr wie wohlgemästete Benediktiner und Augustiner zu Franziskanern und Kapuzinern“ (WWV II: 202). Diese Abwertung stoischer Extrempositionen ist durch die realistische Feststellung begründet, daß „ein Weiser, wenn er hungrig ist“, „nicht gleichgültig bleibt“ (WWV II: 201). Als absurd betrachtet Schopenhauer außerdem die stoische Ansicht, „der Tugendhafte und Weise“ könne „auch auf der Folter […] glücklich“ sein (WWV II: 193).24 Diese 23 Jahrzehnte später nimmt Nietzsche in seiner Schrift Die frçhliche Wissenschaft mit ironischem Unterton auf antike Tugendapostel Bezug, „die im Glauben an ihre Vollendung mit der Würde eines Stiergefechtshelden umherzogen“. Exemplarisch nennt er hier die Bücher „Seneca’s und Epiktet’s“ (KSA 3: 478). Im Hinblick auf den Aspekt unauthentischer Selbstinszenierung stimmen Nietzsches und Schopenhauers Kritik an bestimmten Verhaltensweisen der Stoiker überein. 24 Diese Problematik präsentiert Cicero in einer Diskussion: vgl. Tusc. V,12 – 13. In Tusc. V,80 – 81 greift er das Thema der Folterung wieder auf. Hier vertritt er die These, die Einheit von Tugend und Glückseligkeit werde auch im Falle von Schmerz und Folterung („dolorem cruciatumque“) nicht aufgehoben. Ciceros Fazit in Tusc. V,82 lautet: „ita fit semper vita beata sapientis“ („Also ist das

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Feststellung rekurriert auf kontroverse Debatten der Stoiker mit Repräsentanten anderer philosophischer Schulen, etwa mit den Peripatetikern und Epikureern; dabei bezieht sich Schopenhauer explizit auf Ciceros Paradoxa Stoicorum (WWV I: 144, WWV II: 193). Den Stoikern, die in ihren Maximen die strengen Maßstäbe des Kynismus relativieren, gerät laut Schopenhauer mitunter auch die Balance von Theorie und Praxis aus dem Lot: „Je mehr sie nun die Praxis vernachlässigten, desto feiner spitzten sie die Theorie zu“ (WWV II: 202) – Signum eines zur bloßen Fassade verkommenen stoischen Ethos, das zur probatio im Alltag indes schwerlich taugt. Dieser Habitus unterscheidet sich fundamental von den asketischen Tendenzen des Stoizismus, die sich später unter christlichem und orientalischem Einfluß noch verstärkten (WWV II: 205). Vollends suspekt sind Schopenhauer die Stoiker, die einen gelassenen Habitus nur inszenieren, statt auf authentische Weise eine souveräne Existenz zu repräsentieren. In seinen Parerga und Paralipomena beschreibt er auch Perversionsformen des stoischen Ethos. Zwar findet das Prinzip ,fortunae resistere‘ grundsätzlich seine Zustimmung, soweit es sich als „guter Panzer gegen die Leiden des Lebens“ eignet (PP II: 378). Aber an diese affirmative Aussage schließt Schopenhauer kritische Reflexionen über die Gefahr einer psychischen Verhärtung an. Denn „der Stoizismus der Gesinnung […] verstockt das Herz. Wie sollte doch dieses durch Leiden gebessert werden, wenn es, von einer steinernen Leben des Weisen immer glückselig“). – Im Hinblick auf den Aspekt des Schmerzes ist Schopenhauers realistisches Urteil über die antike LaokoonStatue aufschlußreich, die in der Rezeptionsgeschichte des Stoizismus zu kontroversen Deutungen herausgefordert hat. In seiner Welt als Wille und Vorstellung kritisiert er die projektive Überformung der Laokoon-Skulptur durch die stoische Deutung in Winckelmanns Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst von 1755. Schopenhauers Einschätzung zufolge machte Winckelmann „den Laokoon zu einem Stoiker, der es [für] seiner Würde nicht gemäß hält secundum naturam zu schreien, sondern zu seinem Schmerz sich noch den nutzlosen Zwang auflegt, [sich] die Äußerung desselben zu verbeißen“ (WWV I: 319). Als „vortreffliche Beschreibung“ kann Schopenhauer Winckelmanns Perspektive auf die Laokoon-Skulptur (gemeint ist wohl deren spätere, detailliertere Darstellung in der Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764) nur unter der Voraussetzung goutieren, daß man „vom Unterlegen stoischer Gesinnung abstrahiert“ (WWV I: 322). Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Laokoon als Prototyp stoischer Schmerzbewltigung? Winckelmanns Deutung im Kontext sthetischer Kontroversen (im vorliegenden Sammelwerk).

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Rinde umgeben, sie nicht empfindet?“ (PP II: 378).25 Mit dieser rhetorischen Frage kritisiert er den Stoizismus26 insbesondere unter den Prämissen einer Moralität, die von den Idealen seiner Mitleidsethik bestimmt ist. Auch in der Preisschrift ber die Grundlage der Moral grenzt sich Schopenhauer unter dem Aspekt des Mitleids von den Stoikern ab: Für sich selbst beansprucht er eine avantgardistische Position, denn als den einzigen Vorläufer seiner Mitleidsethik läßt er Rousseau gelten, den „größten Moralisten der ganzen neuern Zeit“ (Kl. Schr. 781).27 Explizit betont Schopenhauer den Gegensatz zwischen seinem Mitleidspostulat und den Vorstellungen der „Stoiker (Seneca, ,De clementia‘ 2,5)“ sowie Spinozas und Kants, die „das Mitleid geradezu verwerfen und tadeln“ (Kl. Schr. 781).28 Sofern der „Stoizismus der Gesinnung“ den Menschen 25 Den Begriff des Steins verwendet schon Cicero, wenn er in seinen Tusculanen betont, der Mensch sei nicht aus Stein geboren, vielmehr sei in seiner Seele von Natur etwas Zartes und Weiches (Tusc. III,12: „non enim e silice nati sumus, sed est naturale in animis tenerum quiddam atque molle“). 26 Ähnlich argumentiert später auch Nietzsche, wenn er in seiner Schrift Die frçhliche Wissenschaft als problematische Folge stoischer Apatheia einen Verlust an Sensibilität konstatiert: er sieht „die stoische harte Haut mit Igelstacheln“ überzogen (KSA 3: 544). 27 Nietzsche betont in seiner Aphorismen-Sammlung Menschliches, Allzumenschliches, der „Moralismus Kant’s“ und „Schiller’s“ sei „von Rousseau und dem wiedererweckten stoischen Rom“ geprägt (KSA 2: 651). Diese Aussage läßt sich auch auf Schopenhauer beziehen, der selbst wiederholt Kant und Platon als die „beiden größten Philosophen“ würdigt (WWV I: 247) und mit seiner Mitleidsethik ausdrücklich an Rousseau anknüpft. 28 Cicero und Seneca propagieren das Ideal der Leidenschaftslosigkeit und formulieren unter dieser Prämisse auch Vorbehalte gegenüber einer Affektion durch Mitleid. Cicero tradiert die stoische Lehrmeinung, dem Weisen sei sowohl Neid als auch Mitleid fremd. Vgl. Tusc. III,21: „non cadit autem invidere in sapientem; ergo ne misereri quidem. […] abest ergo a sapiente aegritudo.“ In Tusc. IV,59 empfiehlt Cicero Heilmethoden gegen verschiedene Arten von Leidenschaften oder Kummer, auch gegen das Mitleid („alia est enim lugenti, alia miseranti aut invidenti adhibenda medicina“). Seneca formuliert ebenfalls Vorbehalte gegenüber dem Mitleid. Vgl. Seneca: De tranquillitate animi XV,5: „alienis malis torqueri aeterna miseria est“ (sich von fremdem Unglück quälen zu lassen, ist endloses Elend). Vgl. auch XVI,4. Kant referiert affirmativ die Mitleidskritik der Stoiker, und zwar mit der Begründung, ohnmächtiges Mitleid angesichts fremden Schmerzes trage dazu bei, „die Übel in der Welt zu vermehren“. Vgl. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe [vgl. Anm. 7], Bd. VI: S. 457: „Es war eine erhabene Vorstellungsart des Weisen, wie ihn sich der Stoiker dachte, wenn er ihn sagen

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dazu veranlaßt, dem bemitleidenswerten Schicksal anderer teilnahmslos gegenüberzustehen, ist er nach Schopenhauers Überzeugung zur moralischen Besserung ungeeignet und steht „dem wahren Heile […] entgegen“ (PP II: 378).29 In diesem Sinne diskutiert schon Cicero in seinen Tusculanen die Auffassung, ob nicht die Schmerzlosigkeit mit einem allzu hohen Preis erkauft ist: mit der Unmenschlichkeit der Seele („nam istuc nihil dolere non sine magna mercede contingit inmanitatis in animo“).30 Im Kontext seiner Stoizismus-Kritik formuliert Schopenhauer noch zwei weitere Einwände gegen problematische Ausprägungen des stoischen Ethos. Ein Mangel an Authentizität, ja sogar eine Tendenz zu bloßem Simulieren einer realiter gar nicht vorhandenen Haltung bestimmt die Selbstinszenierung derer, die „affektiert“ eine „bonne mine au mauvais jeu“ zur Schau tragen (PP II: 378). Für problematisch hält ließ: ich wünsche mir einen Freund, nicht der mir in Armuth, Krankheit, in der Gefangenschaft u. s. w. Hülfe leiste, sondern damit ich ihm beistehen und einen Menschen retten könne; und gleichwohl spricht eben derselbe Weise, wenn sein Freund nicht zu retten ist, zu sich selbst: was gehts mich an? d. i. er verwarf die Mitleidenschaft. In der That, wenn ein Anderer leidet und ich mich durch seinen Schmerz, dem ich doch nicht abhelfen kann, auch (vermittelst der Einbildungskraft) anstecken lasse, so leiden ihrer zwei; obzwar das Übel eigentlich (in der Natur) nur Einen trifft. Es kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren, mithin auch nicht aus Mitleid wohl zu thun; wie dann dieses auch eine beleidigende Art des Wohlthuns sein würde […]“. 29 Unter diesem Aspekt grenzt sich Schopenhauer auch von der Möglichkeit des Suizids ab, den er keineswegs als probates Mittel zur Verneinung des Willens zum Leben betrachtet. Die Stoiker hingegen empfehlen den Suizid in bestimmten Problemkonstellationen und erklären ihn mitunter sogar zu einer heroischen Tat. Schopenhauer weist auf zahlreiche Belegstellen bei Seneca hin (PP II: 364). In seinen Epistulae morales betrachtet Seneca den Freitod als moralisch legitimen Ausweg aus einer ansonsten aporetischen Situation. In Epist. 77,14 exemplifiziert er diese Einschätzung an einem jungen Gefangenen, der in seiner Notlage Suizid begeht, um einer unwürdigen Sklavenarbeit zu entkommen. Als weiteres Beispiel nennt Seneca den tapferen Suizid Catos (Epist. 24,7 – 8). Nach Senecas Überzeugung offenbart sich im freiwillig gewählten Tod die persönliche Freiheit. Vgl. Epist. 26,10: „Liberum ostium habet“ („Er hat einen freien Ausweg“). Zum Suizid im Falle von Krankheit und Alter vgl. Epist. 58,34 – 36. Schon in seiner Welt als Wille und Vorstellung betont Schopenhauer den „Widerspruch“, der darin liegt, „daß der Stoiker genötigt ist, seiner Anweisung zum glückseligen Leben (denn das bleibt seine Ethik immer) eine Empfehlung des Selbstmordes einzuflechten […] für den Fall nämlich, wo die Leiden des Körpers, die sich durch keine Sätze und Schlüsse wegphilosophieren lassen, überwiegend und unheilbar sind“ (WWV I: 146). 30 Cicero: Tusc. III,12.

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Schopenhauer außerdem die leere Prätention eines stoischen Habitus, der nicht aufgrund von Vernunft und Selbstdisziplin des Individuums als moralische Leistung in Betracht kommt, sondern lediglich Resultat eines Defizits ist: als Verhalten „aus bloßer Gefühllosigkeit“ oder aus Mangel an „Energie, Lebhaftigkeit, Empfindung und Phantasie“ (PP II: 378).31 Diese Negativversion stoischer Apatheia, die aufgrund von Gefühlsarmut oder seelischer Verhärtung auf eine depravierte Persönlichkeit schließen läßt, bringt Schopenhauer auch am Ende des Ersten Buches seiner Welt als Wille und Vorstellung I zum Ausdruck: Hier erscheint es ihm symptomatisch, daß „der stoische Weise“ in den Darstellungen der Stoiker „selbst nie Leben oder innere poetische Wahrheit gewinnen konnte, sondern ein hölzerner, steifer Gliedermann bleibt, mit dem man nichts anfangen kann, der selbst nicht weiß wohin mit seiner Weisheit“ und dessen glückselige Ruhe „dem Wesen der Menschheit geradezu widerspricht“ (WWV I: 147).32 Später wird Nietzsche in seiner Schrift Jenseits von Gut und Bçse die „Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte“ gegen die Affekte kritisieren, „welche die Stoiker anriethen und ankurirten“.33 Trotz der Kritik, die Schopenhauer an bestimmten Aspekten der stoischen Lehre übt, bleibt seine prinzipiell positive Grundeinstellung bestehen. So betont er in Anspielung auf die stoische magnanimitas34 die „Geistesgröße und Würde“ dessen, der „das Unvermeidliche […] in 31 Im Hinblick auf den vermeintlichen Nationalcharakter der Deutschen ergänzt Schopenhauer seine kritischen Ausführungen noch durch eine polemische Pointe: „Dieser Art des Stoizismus ist das Phlegma und die Schwerfälligkeit der Deutschen besonders günstig“ (PP II: 378). 32 Kant betont in der Kritik der reinen Vernunft: „der Weise (des Stoikers) ist ein Ideal, d. i. ein Mensch, der bloß in Gedanken existirt, der aber mit der Idee der Weisheit völlig congruirt“. Obwohl man derartigen Idealen „gleich nicht objective Realität (Existenz) zugestehen möchte“, sind sie dennoch „nicht für Hirngespinnste [sic] anzusehen, sondern geben ein unentbehrliches Richtmaß der Vernunft ab“. (Kants Werke. Akademie-Textausgabe [vgl. Anm. 7], Bd. III: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787), S. 384 [=B 597]. 33 Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse. KSA 5: 118. 34 Vgl. WWV II: 204, wo Schopenhauer eine Partie mit stoischen Zentralbegriffen aus dem 92. Brief in Senecas Epistulae morales zitiert: „Quid est beata vita? Securitas et perpetua tranquillitas. Hanc dabit animi magnitudo, dabit constantia bene iudicati tenax“ („Worin besteht das glückselige Leben? In der Sicherheit und der unerschütterlichen Ruhe. Sie wird erlangt durch Seelengröße, durch eine Beständigkeit, die bei dem als richtig Erkannten beharrt“).

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melancholischer Ruhe“ erträgt, durch „geistige Diätetik“ den ausgeglichenen Seelenzustand einer Apatheia erringt und abrupte Wechsel „vom Jubel zur Verzweiflung“ durch eine Haltung souveräner Gelassenheit zu vermeiden weiß (WWV II: 205). So positiv Schopenhauer die stoischen Konzepte bewertet, welche die „Unerschütterlichkeit ( !taqan¸a) und ungetrübte Glückseligkeit des Weisen“ preisen, „den nichts anfechten kann“ (WWV II: 205): im Vergleich damit präferiert er letztlich doch die Ausstrahlung, welche die „Weltüberwinder und freiwilligen Büßer“ in der religiösen Kultur Indiens oder den „Heiland des Christentums“ auszeichnet, eine „Gestalt voll tiefen Lebens“, die „bei vollkommener Tugend […] im Zustande des höchsten Leidens vor uns steht“ (WWV I: 147). In der Lebensform des Philosophen, Heiligen oder Asketen, die sich im „Wesen der Heiligkeit, Selbstverleugnung, Ertötung des Eigenwillens, Askesis“ manifestiert (WWV I: 520), erblickt Schopenhauer den Zenit humaner Möglichkeiten; dabei amalgamiert er christliches Ethos mit indischer Philosophie. Deren positive Bewertung entspricht seinem eigenen Postulat einer „Verneinung des Willens zum Leben“ (WWV I: 520). Einerseits sind die Analogien zwischen wesentlichen Dimensionen der stoischen Ethik und der Grundtendenz von Schopenhauers eigener Philosophie evident. Ja, in fundamentalen Aspekten wie dem der Negativität des Glücks scheint seine Auffassung durch kynische und stoische Konzepte sogar nachhaltig beeinflußt zu sein. Andererseits zeichnen sich aber auch deutliche Differenzen ab. Denn während Schopenhauer seiner eigenen Willensphilosophie ebenso wie der indischen und der christlichen Ethik „eine metaphysische Tendenz, einen transzendenten Zweck“ zuschreibt, geht er von einem „völlig immanenten“ Zweck der „stoische[n] Moral“ aus (WWV II: 205). Die Affinität zum Stoizismus ist nicht allein im Vierten Buch der Welt als Wille und Vorstellung evident, das die „Erlösung“ vom leidensträchtigen Wollen durch die Verneinung des Willens zum Leben propagiert (WWV I: 519). Schon im Dritten Buch dieses Werkes, das sich auf den Bereich der Ästhetik35 konzentriert, beschreibt Schopenhauer die willenlose Kontemplation in ästhetischer Einstellung mit Formulierungen, die an die Ziele stoischer Ethik denken lassen. Den Zustand der „Geistesruhe“ (WWV I: 281) in ästhetischer Kontempla35 Vgl. dazu Barbara Neymeyr: sthetische Autonomie als Abnormitt. Kritische Analysen zu Schopenhauers sthetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. Berlin/ New York 1996 (Quellen und Studien zur Philosophie Bd. 42).

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tion charakterisiert er folgendermaßen: Hier ist „die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens“ entrissen, so daß eine „rein objektiv[e]“ Betrachtung der Dinge „ohne Interesse, ohne Subjektivität“ möglich wird (WWV I: 280). Durch den Begriff der „Geistesruhe“ rückt Schopenhauer seine Ästhetik in eine auffällige Nähe zur stoischen Ethik. Er selbst sieht das Ideal Zenons, des Stifters der stoischen Schule, darin, „daß man zur Erlangung des höchsten Gutes, d. h. der Glückseligkeit durch Geistesruhe, übereinstimmend mit sich selbst leben solle“ (WWV I: 144).36 Zugleich tritt eine Analogie zwischen stoischen und epikureischen Konzepten hervor, wenn die ästhetische Einstellung als „schmerzenslose[r] Zustand“ erscheint, „den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries“ (WWV I: 280). In der Idealvorstellung einer zur Schmerzlosigkeit führenden Ataraxia konvergieren die Lehren der Epikureer und der Stoiker.37 Wenn Schopenhauer „den ruhigen, stillen, willenfreien Gemütszustand des Künstlers“ durch „Geistesruhe“ ausgezeichnet sieht (WWV I: 281), nähert er diese der stoischen Vorstellung der Ataraxia an, und dies um so mehr, als er in ihr sogar den Vorboten jener „gänzliche[n] Meeresstille des Gemüts“ (WWV I: 558) erblickt, in der ein „uner36 Diese Position markiert Schopenhauer mit griechischen Zitaten aus Stobaios’ Eclogae physicae et ethicae (WWV I: 144). 37 Bekanntlich hatte Seneca eine besondere Bedeutung für die Vermittlung der epikureischen Tradition. Im Unterschied zum Rigorismus der frühen Stoiker verfuhr Seneca eher eklektizistisch, indem er auch Elemente epikureischer Schriften adaptierte. Vor allem in seinen Epistulae morales lassen sich epikureische Einflüsse nachweisen. Seine Entscheidung, mitunter wie ein Anhänger Epikurs zu sprechen (Epist. 48, 2: „ego tamquam Epicureus loquor“), legitimiert Seneca mit dem Diktum: „Was wahr ist, ist mein Eigentum“ (Epist. 12, 11: „Quod verum est, meum est“). Bereits im zweiten Brief seiner Epistulae morales erwähnt Seneca eine Aussage Epikurs und betont, er pflege auch in ein fremdes Lager hinüberzugehen: nicht als Überläufer, sondern als Kundschafter (Epist. 2,5: „soleo enim et in aliena castra transire, non tamquam transfuga, sed tamquam explorator“). An zahlreichen Stellen finden Sentenzen Epikurs in Senecas Epistulae morales Eingang; vgl. z. B. Epist. 7,11; 8,7; 9,1; 12,11; 16,7; 18,9; 48,2. In Epist. 8,7 würdigt Seneca ausdrücklich Epikurs Postulat, man müsse der Philosophie dienen, um die wahre Freiheit zu erlangen. („Philosophiae servias oportet, ut tibi contingat vera libertas“.) – Zu Senecas eklektizistischem Verfahren vgl. auch Ilsetraut Hadot: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung. Berlin 1969, S. 55 ff. Rudolf Schottlaender: Epikureisches bei Seneca. Ein Ringen um den Sinn von Freude und Freundschaft, in: Seneca als Philosoph, hg. von Gregor Maurach, 2. Aufl. Darmstadt 1987 (Wege der Forschung Bd. 414), S. 167 – 184.

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schütterlicher Friede“ (WWV I: 530) das strapaziöse Wechselspiel innerhalb der voluntativen Sphäre vollends aufhebt. Die „stoische Ethik“, so Schopenhauer, befreie den Menschen von dem Wahn, er könne im Leben ein dauerhaftes Glück finden; nach dieser Desillusionierung ermögliche sie ihm „unerschütterlichen Gleichmut“ (WWV I: 436). Das Wort ,unerschütterlich‘ entspricht exakt der stoischen Ataraxia38, und ,Gleichmut‘ ist das deutsche Pendant zum lateinischen Begriff ,aequa mens‘. Schopenhauer selbst betont die Affinität seiner Ethik und Ästhetik zum Stoizismus, indem er die im willensunabhängigen Erkennen liegenden Übereinstimmungen zwischen der „ästhetische[n] Aufforderung zur Beschaulichkeit“ und der „ethische[n] zur Entsagung“ hervorhebt (WWV I: 449). Gerade weil Schopenhauer die Grundprinzipien der stoischen Ethik befürwortet, sieht er in einigen antiken Darstellungen und Quellensammlungen Anlaß zu entschiedener Kritik. In den Fragmenten zur Geschichte der Philosophie, die er im Kontext seiner Parerga und Paralipomena veröffentlichte, polemisiert er gegen den argumentativen Duktus der Eclogae physicae et ethicae des Stobaios. Obwohl sie als eine „Hauptquelle unsrer Kenntnis der stoischen Ethik“ anzusehen sind und wörtliche Exzerpte zu Zenon und Chrysippos zu bieten scheinen (PP I: 70 – 71), vermitteln sie seines Erachtens kein authentisches Bild der Stoa: Aufgrund allzu schlichter Dichotomien wie der Opposition ,tugendhaft – lasterhaft‘ bleibe die Darstellung insgesamt recht undifferenziert. Außerdem falle eine Tendenz zu Pedanterie, Pauschalurteilen und „platten Schulexerzitien“ sowie ein Mangel an prägnant formulierten Gedanken auf (PP I: 71). Dezidiert betont Schopenhauer die Inferiorität der Eclogae physicae et ethicae des Stobaios im Vergleich mit dem lebendigen Esprit, den er beispielsweise an den Schriften Senecas schätzt (PP I: 71). Auch an den „ungefähr vierhundert Jahre nach dem Ursprung der Stoa abgefaßten ,Dissertationen‘ Arrians zur Epikteteischen Philosophie“ vermißt Schopenhauer eine gründliche Aufklärung über die „Prinzipien der stoischen Moral“ (PP I: 71). Er kritisiert den unsystematischen Gedankengang, der ihn durch einen eklatanten Mangel an argumentativer Stringenz irritiert, überdies bei der Darstellung der Ataraxia zahlreiche 38 Bei Seneca finden sich zahlreiche Belege: In Epist. 59,14 betont er, der Weise sei „erfüllt von Freude, heiter und friedlich, unerschütterlich; mit den Göttern lebt er auf gleicher Ebene“. („Sapiens ille plenus est gaudio, hilaris et placidus, inconcussus; cum dis ex pari vivit“.)

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Redundanzen aufweist und mit Elementen eines christlich-jüdischen Theismus amalgamiert ist. Die geistlosen Simplifikationen dieser antiken Schrift manifestieren sich laut Schopenhauer in den „unermüdlich wiederholten Lobpreisungen der heiligen Schutzpatrone Kleanthes, Chrysippos, Zenon, Krates, Diogenes, Sokrates“ und in der scharfen Polemik gegen „alle Andersdenkenden“ (PP I: 72). Darüber hinaus diagnostiziert er an Arrians Aufzeichnungen der Lehren Epiktets eine markante Inkonsequenz: Die Behauptung, der Stoiker tadele grundsätzlich niemanden, werde hier durch wahre Kapuzinerpredigten schlagend widerlegt (PP I: 71 – 74). Obwohl Schopenhauer in den Fragmenten zur Geschichte der Philosophie überwiegend kritisch auf historische Dokumente des Stoizismus Bezug nimmt, schließt er auch an die positiven Perspektiven auf den Stoizismus an, die er bereits in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung entfaltet hat. So würdigt er ausdrücklich das Konzept des kºcor speqlatijºr in der stoischen Naturphilosophie (PP I: 54): Als ein „tiefsinniger Begriff“ (PP I: 69) 39 bildet er ein Korrelat zu seinem eigenen Begriff der Gattung, unter den der des Individuums zu subsumieren ist. Ebenfalls zustimmend referiert Schopenhauer unter Rekurs auf Stobaios’ Eclogae physicae et ethicae die von Anhängern Zenons vertretene These, „das Ethos“ sei „die Quelle des Lebens, aus welcher die einzelnen Handlungen entspringen“ (WWV I: 404).40 Sie entspricht seiner Überzeugung von der „Konstanz des Charakters“ (WWV I: 404), die er mit philosophischen Positionen von Descartes und Spinoza kontrastiert (WWV I: 402 – 403). Schopenhauer selbst geht vom grundsätzlichen Primat des Willens vor dem Intellekt aus, so daß „der Mensch […] sein eigenes Werk vor aller Erkenntnis“ ist (WWV I: 403). 39 Dem Stoizismus liegt ein pantheistisches Konzept zugrunde, in dem das Weltganze als einheitlicher Lebenszusammenhang, als Gestaltung einer göttlichen Urkraft aufgefaßt wird. Der Hyle als passivem Prinzip tritt der Logos spermatikos (kºcor speqlatijºr) als gestaltender Feuergeist gegenüber; er wird mit dem warmem Lebenshauch, dem Pneuma, identifiziert und durchwaltet das Universum als tätiges Prinzip. Aufgrund der Analogie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos gilt auch die am göttlichen Pneuma partizipierende Einzelseele als Feuerhauch, als Pneuma. Zu diesen naturphilosophischen Kontexten vgl. die in Anm. 16 genannten Werke von Max Pohlenz und Maximilian Forschner. 40 In diesem Kontext erwähnt Schopenhauer auch das Problem der Vermittlung ethischer Prinzipien (WWV I: 405): Er spielt Senecas Diktum „velle non discitur“ gegen die stoische Maxime von der Lehrbarkeit der Tugend aus (Diogenes Laertios: „doceri posse virtutem“).

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Nur in diesem Sinne erweist sich der Wille als „wahrhaft autonomisch“ (WWV I: 377). Im Horizont seiner Willensmetaphysik setzt Schopenhauer also spezifische Akzente bei der Reflexion über das zentrale stoische Postulat, „Glückseligkeit durch Geistesruhe“ setze ein naturgemäßes Leben voraus (WWV I: 144). In diesem Kontext geht er auf Epiktet ein, der dem „Zweck der Stoa gemäß“ zu differenzieren empfiehlt zwischen dem, „was von uns abhängt und was nicht“, um „von allem Schmerz, Leiden und Angst“ befreit zu sein (WWV I: 144).41 Für ethisch relevant hält Schopenhauer diese Überlegung, weil sie die Erkenntnis ermöglicht, daß äußere, „von uns nicht abhängige“ Konstellationen „Glück und Unglück“ bewirken, während „innere Zufriedenheit“ allein aus dem Willen selbst hervorgehen kann (WWV I: 144). Angesichts dieser Analogien ist abschließend aber zu betonen, daß sich Schopenhauers Willensbegriff von dem der Stoiker fundamental unterscheidet: Die Vertreter der stoischen Philosophie schreiben dem vernünftigen Willen42 die Fähigkeit zur Abwehr der Affekte und damit auch das Potential zur Ataraxia zu. Schopenhauer hingegen versteht den Willen als universales Grundprinzip, das alle naturalen Sphären triebhaft durchwirkt und sich nur beim Menschen mit dem Intellekt verbindet; dieser fungiert allerdings außerhalb ästhetischer Erfahrung und ethischen Handelns bloß als Instrument des Willens.43

41 In Epist. 72,4 charakterisiert Seneca den Weisen durch eine immer und überall ungetrübte Heiterkeit, weil er nicht von Freuden abhängt und weder mit der Gunst des Schicksals noch mit der eines Menschen rechnet. Er verfügt über ein innerliches Glück, das in seiner Seele selbst entsteht („nulla causa rumpitur, nulla fortuna, semper et ubique tranquillus est. Non enim ex alieno pendet nec favorem fortunae aut hominis expectat. Domestica illi felicitas est […]“). Zur Selbstgenügsamkeit vgl. auch Epist. 32,4 – 5. 42 Vgl. dazu die Belege in Anm. 3. 43 Zu Problemkonstellationen, die sich aus der Korrelation zwischen Willen und Intellekt in Schopenhauers Philosophie ergeben, vgl. Barbara Neymeyr: sthetische Autonomie als Abnormitt. Kritische Analysen zu Schopenhauers sthetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. Berlin/New York 1996 (Quellen und Studien zur Philosophie Bd. 42). Vgl. auch Barbara Neymeyr: Ideenschau mit Illusionen. Zu heterogenen Konzeptionen in Schopenhauers sthetik, in: Philosophisches Jahrbuch 106, 1999, S. 64 – 84.

„Selbst-Tyrannei“ und „Bildsäulenkälte“. Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit der stoischen Moral von Barbara Neymeyr Nietzsches Reflexionen über den Stoizismus sind durch markante Ambivalenzen bestimmt. Meistens gelangt er allerdings zu kritischen Urteilen. Seine Auseinandersetzung mit den Lehren der Stoiker reicht vom Frühwerk bis zu späten Nachlaßfragmenten. Wesentlich sind vor allem exemplarische Aphorismen in Nietzsches Schriften Die frçhliche Wissenschaft und Jenseits von Gut und Bçse, aber auch in Menschliches, Allzumenschliches, Zur Genealogie der Moral sowie in zahlreichen nachgelassenen Notaten. Die Lektürespuren, die Senecas und Epiktets Werke in Nietzsches Bibliothek aufweisen, lassen erkennen, daß sie zu den von ihm besonders gründlich rezipierten Büchern gehören. Ein weiteres Indiz für seine intensive Beschäftigung mit den Stoikern ist seine erste philologische Publikation, die sich unter dem Titel De Laertii Diogenis fontibus auf eine der Hauptquellen des Stoizismus konzentriert.1 1

Friedrich Nietzsche: De Laertii Diogenis fontibus. In: Rheinisches Museum NF XXIII, 1868, S. 632 – 653 und Rheinisches Museum NF XXIV, 1869, S. 181 – 228. Darauf weist bereits Nussbaum hin; vgl. Martha C. Nussbaum: Mitleid und Gnade: Nietzsches Stoizismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41, 1993, S. 831 – 858, hier S. 843. Eine detaillierte Darstellung von Inhalt und Entstehungskontext von Nietzsches philologischer Abhandlung, auf die auch Nussbaum rekurriert (ebd., S. 843), bietet Jonathan Barnes: Nietzsche and Diogenes Laertius. In: Nietzsche-Studien 15, 1986, S. 16 – 40. Zur philosophiehistorischen Dimension von Nietzsches philologischem Zugriff (allerdings ohne philosophische Analyse seiner Stoizismus-Rezeption) vgl. Enrico Müller: Die Griechen im Denken Nietzsches. Berlin/New York 2005 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Bd. 50), S. 103 – 117. – Martha Nussbaum bietet zwar eine luzide Darstellung von Argumenten zur Mitleidskritik, geht aber, wie schon die Titelformulierung Nietzsches Stoizismus signalisiert, vorschnell von einer affirmativen Stoizismus-Rezeption Nietzsches aus. Die fundamentale Kritik Nietzsches an stoischen Denkmustern und Verhaltensnormen läßt Nussbaum gänzlich unberücksichtigt. Sie sieht Nietzsches „eigentliches Vorhaben […] darin, eine Wiederbelebung der stoischen Werte der Selbstbeherrschung und Selbstbildung innerhalb eines nach-christlichen und nach-ro-

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Erstaunlicherweise war Nietzsches Stoizismus-Rezeption dennoch bislang kaum Gegenstand der Forschung.2 Die vorliegende Abhandlung

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mantischen Kontextes herbeizuführen“ (ebd., S. 832). – Am 15. April 1868 erwähnt Nietzsche Stobaios und Diogenes Laertios brieflich in einer Reihe „einige[r] Namen“, die ihm „näher stehen“ (Friedrich Nietzsche: Smtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Aufl. München/Berlin/New York 2003, Bd. 2: S. 266). Am 16. Juni 1869 nennt er sie im Zusammenhang mit Arbeitsplänen (Bd. 3: S. 18). In den Abhandlungen, die Nietzsches Verhältnis zur Antike thematisieren, wird seine Einstellung zum Stoizismus, soweit ich sehe, zumeist völlig ausgeblendet. Und selbst dort, wo dieser philosophiehistorische Horizont zumindest benannt wird, finden sich keine hinreichend differenzierten Analysen. So beschränken sich die Autoren einer Monographie von 1999 darauf, lapidar zu konstatieren: „Nietzsche hat Archaik, ,frühe‘ Lyrik, Vorsokratiker, das tragische Zeitalter, Homer, Heroik herausgestellt; er hat die römische Kultur weggedrückt“ (Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier: Philolog und Kultfigur. Friedrich Nietzsche und seine Antike in Deutschland. Stuttgart/Weimar 1999. S. 249). Außerdem findet sich das folgende Pauschalurteil über Nietzsche: „Die Stoa war ihm zu römisch, zu moralisch, zu rationalistisch“ (Hubert Cancik: Nietzsches Antike. Vorlesung. Stuttgart/Weimar 1995. S. 80). Völlig unergiebig im Hinblick auf die Thematik des Stoizismus ist die Monographie von Victorino Tejera: Nietzsche and Greek Thought. Dordrecht 1987. – In einem Sammelband findet sich allerdings ein Aufsatz zum Thema: R. O. Elveton: Nietzsche’s Stoicism. The Depths Are Inside, in: Nietzsche and Antiquity. His Reaction and Response to the Classical Tradition, hg. von Paul Bishop, Rochester 2004, S. 192 – 203. Elveton betont „important affinities between Nietzsche and Stoic thought“ (S. 192) und meint: „Nietzsche is in agreement with several of the most decisive elements of Stoic philosophy“ (S. 193). In diesem Zusammenhang hebt er die zentrale Bedeutung von „self-mastery“, „self-discipline“, „fatalism“, „internalization“ und aristokratischer Individualität hervor (S. 193 – 196). Elvetons einseitig auf Affinitäten ausgerichtete Darstellung vernachlässigt Nietzsches fundamentale Kritik am Stoizismus. Beim Versuch, das stoische Postulat naturgemäßen Lebens sowie das asketische Ideal mit Nietzsches Konzepten zu korrelieren, bezeichnet er Nietzsches Experimentalphilosophie erstaunlicherweise sogar als Transformation der „Stoic inwardness“ (S. 197). – Zwei neuere Miszellen zur Quellenforschung bieten informative Materialsammlungen, aber keine Analysen: Thomas H. Brobjer: Nietzsche’s Reading of Epictetus, in: Nietzsche-Studien 32, 2003, S. 429 – 434. Thomas H. Brobjer: Nachweise aus Epiktet: „Handbchlein der Moral“, sowie Simplikios: Commentar zu Epiktetos Handbuch. In: Nietzsche-Studien 32, 2003, S. 438 – 441. – Bertino geht in seinem kenntnisreichen Aufsatz zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der hellenistischen Philosophie in einem Abschnitt auch auf Nietzsches Verhältnis zum Stoizismus ein und behandelt insbesondere die Themenkomplexe des Amor fati, der Wiederkunftslehre und der Mitleidskritik: Andrea Christian Bertino: Nietzsche und die hellenistische Philosophie. Der bermensch und der Weise.

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bietet erstmals eine systematische Rekonstruktion und Analyse seiner heterogenen Argumente und eröffnet durch einschlägige Belegstellen zur stoischen Programmatik in Schriften Ciceros und Senecas sowie durch Seitenblicke auf Positionen Kants und Schopenhauers zugleich einen weiteren Horizont.

I. Am Ende der postum erschienenen Frühschrift Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne ist der Stoizismus in einer Passage relevant, in der Nietzsche zwei Menschentypen kontrastiert: Während der vernünftige Mensch aufgrund seines vom Willen instrumentalisierten Intellekts „durch Vorsorge, Klugheit, Regelmässigkeit den hauptsächlichsten Nöthen zu begegnen weiss“ (KSA 1: 889) 3, ignoriert der „nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet[e]“ Mensch die Negativität des Daseins und gibt sich lustvoll dem schönen Schein hin; dabei genießt er seine spielerische Kreativität, indem er mit seinem frei agierenden Intellekt das Konstrukt der Begriffe „zerschlägt“, die Metaphern „durcheinanderwirft“ und neu kombiniert (KSA 1: 888). Tendenziell korreliert Nietzsche die beiden Typen mit Wissenschaft und Kunst: Während „der vernünftige Mensch“ zugleich „unkünstlerisch“ ist und geradezu „in Angst vor der Intuition“ lebt, erweist sich „der intuitive Mensch“ als „unvernünftig“ – auch in seinem „Hohn über die Abstraction“; in der griechischen Antike führte der Primat des

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In: Nietzsche-Studien 36, 2007, S. 94 – 130, hier S. 110 – 124. – Die vorliegende Abhandlung konzentriert sich vor allem auf moralphilosophisch relevante Aspekte in Nietzsches Stoizismus-Rezeption. Friedrich Nietzsche: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York 1980. – Nach den Bänden dieser Ausgabe wird mit vorangestellter Sigle KSA zitiert. Die Belege folgen im laufenden Text jeweils direkt dem Zitat. Nietzsches Hervorhebungen in Gestalt von Kursiva, Fettdruck oder Sperrung gebe ich einheitlich durch Kursivsetzung wieder. – In Nietzsches Essay Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne sind deutliche Affinitäten zu Schopenhauers Willensphilosophie zu erkennen, insbesondere zu seiner These vom Primat des Willens und vom bloß instrumentellen Status des Intellekts, der sich aber in ästhetischer Kontemplation vom Willensdienst befreit. – Vgl. dazu Barbara Neymeyr: sthetische Autonomie als Abnormitt. Kritische Analysen zu Schopenhauers sthetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. Berlin/New York 1996 (Quellen und Studien zur Philosophie Bd. 42).

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intuitiven Menschen zu kultureller Blüte und zur „Herrschaft der Kunst über das Leben“ (KSA 1: 889). In seinem Essay Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne betont Nietzsche auch das je spezifische Erlebnisspektrum, das die beiden anthropologischen Grundtypen kennzeichnet. Mit dieser Unterscheidung, die bis in spätere Werke weiterwirkt, bringt er bereits wichtige Aspekte der stoischen Lehre zur Sprache: „Während der von Begriffen und Abstractionen geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt“ und dabei „nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet“, aber ohne sich dadurch „Glück zu erzwingen“, findet „der intuitive Mensch“ bereits in „seinen Intuitionen“ die Quelle seelischer „Erhellung, Aufheiterung, Erlösung“; allerdings empfindet er den Schmerz auch „heftiger, wenn er leidet“, und verhält sich „dann ebenso unvernünftig wie im Glück“ (KSA 1: 889 – 890). Der „stoische, […] durch Begriffe sich beherrschende Mensch“ hingegen, der Schmerzlosigkeit intendiert, legt „im Unglück“ als Leidender „das Meisterstück der Verstellung ab“, indem er „eine Maske mit würdigem Gleichmaasse der Züge“ aufsetzt: „Wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgiesst, so hüllt er sich in seinen Mantel und geht langsamen Schrittes unter ihr davon“ (KSA 1: 890). Kontrastiv arbeitet Nietzsche in dieser offenbar autobiographisch gefärbten4 Schlußpartie seiner Schrift Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne Charakteristika des Stoikers heraus: eine Haltung, die durch vernunftgeleitete Selbstbeherrschung und das Ideal der Ataraxia und Apatheia bestimmt ist.5 Cicero und Seneca betonen in 4

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Thomas Mann erwähnt in seinem Essay Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung von 1947 eine bekannte „charakteristische Anekdote“ über den Musterknaben Nietzsche, der „bei einem Platzregen gemessenen und würdigen Schrittes von der Schule nach Hause geht, – weil die Schulregeln den Kindern ein sittsames Betragen auf der Straße zur Pflicht machen“ (Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bnden. Frankfurt a.M. 1990. Bd. IX: Reden und Aufstze 1, S. 675 – 712, hier S. 677). Textstellen dazu sind in der stoischen Tradition ubiquitär. Zahlreiche Belege finden sich bei Seneca. Vgl. Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. 5 Bde, hg., übersetzt und eingeleitet von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1980 – 1989. Bd. 1 – 2: Dialoge. Bd. 3 – 4: Ad Lucilium epistulae morales [künftig abgekürzt als Epist.]. Bd. 5: De clementia, De beneficiis. Die Schriften Senecas werden – wie üblich – mit der jeweiligen Absatzziffer zitiert. – Vgl. z. B. Epist. 9,2, wo Seneca den griechischen Begriff Apatheia thematisiert. In Epist. 9,12 betont er die glückliche Selbstgenügsamkeit des Weisen, der das Schicksal verachtet. Weitere Belegstellen: Epist. 32,4; 36,6;

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ihren Werken wiederholt die Bedeutung konsequenten Wollens und planvoller Selbstbestimmung.6 Auch in einem Nachlaß-Notat von 1887/88 formuliert Nietzsche typisch stoische Leitvorstellungen, indem er den „stoische[n] Typus“ durch die „Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche“ charakterisiert und seinen inneren Frieden auf die „Unbeugsamkeit eines langen Willens“ zurückführt (KSA 13: 125).7 Allerdings sieht Nietzsche durch den Versuch, die Negativität des Lebens mithilfe disziplinierter Rationalität8 zu überwinden, zugleich auch

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45,9. Die Bedeutung des stoischen Postulats der tranquillitas animi ist schon daran zu erkennen, daß Seneca eine seiner Schriften mit dem Titel De tranquillitate animi versehen hat. Seneca verwendet ,tranquillitas‘ analog zum griechischen Begriff ,euthymia‘ (Frohsinn); vgl. ebd. II, 3. Die Voraussetzung dafür ist innere Harmonie, Einigkeit mit sich selbst, die durch Abkehr von allen Äußerlichkeiten entsteht (vgl. ebd. II, 4; XIV, 2). Von dem Mißverständnis, der stoische Apatheia-Begriff sei im Sinne eines spannungsfreien Quietismus zu verstehen, grenzt sich Seneca selbst ausdrücklich ab. In Epist. 67, 14 betont er, daß unerschütterte Muße keineswegs mit stoischer Apatheia gleichzusetzen ist, sondern mit einer Flaute: „in otio inconcusso iacere non est tranquillitas: malacia est.“ Seines Erachtens muß die tranquillitas animi in der Auseinandersetzung mit widrigen Konstellationen erst errungen werden. Der Weise antizipiert mögliche Schicksalsschläge mit Seelenstärke („animi robore“); vgl. De tranquillitate animi XI, 6; XIII, 3. Seneca rät zur Mäßigung unterschiedlicher Emotionen: „Lernen wir, die Beherrschung zu steigern, die Genußsucht zu zügeln, den Ehrgeiz zu mäßigen, den Jähzorn zu beschwichtigen […] und die Genügsamkeit zu pflegen“ („Discamus continentiam augere, luxuriam coercere, gloriam temperare, iracundiam lenire, […] frugalitatem colere“: ebd., IX,2). – Zur stoischen Lösung für die Affektproblematik vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. 2. Aufl. Darmstadt 1995, S. 134 – 141. Laut Cicero grenzen die Stoiker von allzu heftigem Begehren den Willen als vernunftgemäßes Streben ab, das den Weisen kennzeichnet („eius modi adpetitionem Stoici bo¼kgsim appellant, nos appellamus voluntatem. eam illi putant in solo esse sapiente, quam sic definiunt: voluntas est, quae quid cum ratione desiderat“). Vgl. Marcus Tullius Cicero: Gesprche in Tusculum. Lateinisch-deutsch mit ausführlichen Anmerkungen neu hg. von Olof Gigon. 2. Aufl. München 1970. [Im folgenden zitiert mit der Sigle Tusc. sowie mit nachgestellter römischer Buchziffer und arabischer Absatzzahl.] Tusc. IV,12. Die Bedeutung rationaler Selbstbestimmung und kontinuierlichen Wollens betont auch Seneca in Epist. 23,8: „Pauci sunt, qui consilio se suaque disponant […]. Ideo constituendum est, quid velimus, et in eo perseverandum.“ Allerdings signalisiert schon die erste Zeile dieses Nachlaßfragments eine pejorative Wertung: „Der stoische Typus. Oder: der vollkommene Hornochs“ (KSA 13: 125). In seinen Epistulae morales (37,4) formuliert Seneca die These: „si vis omnia tibi subicere, te subice rationi“ („wenn du dir alles unterwerfen willst, unterwirf

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positive Erlebnismöglichkeiten erheblich reduziert. Die Lebensqualität des intuitiven Menschen hingegen bemißt sich wesentlich nach der Intensität seiner Emotionen. Nietzsche beschränkt sich nicht darauf, die Differenz zwischen den beiden Menschentypen zu beschreiben; darüber hinaus problematisiert er hier bereits den stoischen Habitus, indem er ihn als bloße Inzenierung souveräner Gelassenheit, mithin als unauthentische Fassade erscheinen läßt. Die Maskerade derer, die eine stoische Apatheia lediglich simulieren, um den genuinen Ausdruck ihrer Gefühle zu verhindern, macht Nietzsche auch in anderen Werkpartien zum Thema. So spricht er in seiner Schrift Die frçhliche Wissenschaft explizit vom „Stoicismus der Gebärde“, der es zu kaschieren erlaubt, „was Einer nicht hat!“ (KSA 3: 606) 9 – ähnlich wie alle anderen „Idealisten-Mäntel“10, die das wahre dich der Vernunft“). – Cicero betont in seinen Tusculanen ebenfalls den Stellenwert der Rationalität: So vertritt er die These, „ohne die Vernunft könne nichts richtig geschehen“ (Tusc. IV,84: „nihil sine ratione recte fieri posset“). In der auf rationaler Argumentation beruhenden Philosophie sieht er die „Stützen und Hilfsmittel […], die für ein gutes und glückseliges Leben notwendig sind“ („omnia adiumenta et auxilia […] bene beateque vivendi“: ebd.). In Tusc. III,15 – 16 charakterisiert Cicero die Seele des Weisen durch die Fähigkeit, die Vernunft bestmöglich anzuwenden („ut ratione optime utatur“); sie erspart ihm jede Verwirrung der Seele („perturbatio […] animi“). 9 Ähnlich argumentiert bereits Schopenhauer in seinen Parerga und Paralipomena. Seines Erachtens ist die Selbstinszenierung derer, die „affektiert“ eine „bonne mine au mauvais jeu“ zur Schau tragen (PP II: 378), vom Mangel an Authentizität, ja sogar von einer Tendenz zu bloßem Simulieren einer gar nicht vorhandenen Haltung bestimmt. – Die Werke Schopenhauers zitiere ich nach der folgenden Edition: Arthur Schopenhauer: Smtliche Werke, hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Darmstadt 1976 – 1982. Folgende Siglen finden Verwendung: WWV I und WWV II für Die Welt als Wille und Vorstellung (I/II), Kl. Schr. für Kleinere Schriften, PP I und PP II für Parerga und Paralipomena (I/II). – Schopenhauer kritisiert die leere Prätention eines stoischen Habitus, der nicht als moralische Leistung aufgrund von Vernunft und Selbstdisziplin des Individuums gelten kann, sondern nur ein Defizit verrät: als Verhalten „aus bloßer Gefühllosigkeit“ oder aus Mangel an „Energie, Lebhaftigkeit, Empfindung und Phantasie“ (PP II: 378). Diese Negativversion stoischer Apatheia läßt auf eine depravierte Persönlichkeit schließen. 10 Schon Kant betont in der Kritik der reinen Vernunft: „der Weise (des Stoikers) ist ein Ideal, d. i. ein Mensch, der bloß in Gedanken existirt, der aber mit der Idee der Weisheit völlig congruirt“. Obwohl man derartigen Idealen „gleich nicht objective Realität (Existenz) zugestehen möchte“, sind sie dennoch „nicht für Hirngespinnste [sic] anzusehen, sondern geben ein unentbehrliches Richtmaß der Vernunft ab“. (Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Nachdruck der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von

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Wesen der „unheilbaren Selbstverächter“ oder der „unheilbar Eiteln“ verbergen (KSA 3: 606).11 Schon in der Aphorismen-Sammlung Menschliches, Allzumenschliches sieht Nietzsche die „Ansprüche der höheren Cultur“ geradewegs in eine Perversion der Natur münden: wenn der Mensch „für gewöhnlich starr und stoisch sich hält“ und lediglich „bei dem Genusse der Schmerzlosigkeit weinen muss“ oder bei den „seltenen Anfälle[n] des Glücks“ (KSA 2: 471). Bereits Schopenhauer formuliert in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung derartige Vorbehalte: Ihm erscheint der stoische Weise als „ein hölzerner, steifer Gliedermann“.12 Wenn der frühe Nietzsche den künstlerisch-intuitiven mit dem stoisch-rationalen Menschentyp kontrastiert, läßt er keinen Zweifel an seiner eigenen Präferenz. In der vierten Unzeitgemssen Betrachtung, die den Titel Richard Wagner in Bayreuth trägt, entwirft er einen Ausblick auf Lebensperspektiven in einer „zukünftigen Welt“: Hier kann die „Sprache der auch im Menschlichen wiederhergestellten Natur“ in der Überzeugung Ausdruck finden, „dass die Leidenschaft besser ist, als der Stoicismus und die Heuchelei“ (KSA 1: 506 – 507). Diese Position ist durch einen ,dionysisch‘ grundierten Antistoizismus geprägt. Auch in der Schrift Jenseits von Gut und Bçse kritisiert Nietzsche die Glückssuggestionen stoischer Moralprediger, die „Recepte“ gegen Kants gesammelten Schriften. Berlin 1968. Bd. III: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787), S. 384 [=B 597].) 11 Immerhin konzediert Nietzsche, daß „aus solchen geborenen Feinden des Geistes […] mitunter jenes seltene Stück Menschthum“ entsteht, „das vom Volke unter dem Namen des Heiligen, des Weisen verehrt wird“ (KSA 3: 606). 12 Schopenhauer: WWV I: 147. – Im Kontext dieser kritischen Feststellung gibt es allerdings auch sehr positive Bewertungen. So erklärt Schopenhauer dezidiert: „Die stoische Ethik, im ganzen genommen, ist in der Tat ein sehr schätzbarer und achtungswerter Versuch, das große Vorrecht des Menschen, die Vernunft, zu einem wichtigen und heilbringenden Zweck zu benutzen, nämlich um ihn über die Leiden und Schmerzen, welchen jedes Leben anheimgefallen ist, hinauszuheben“ (WWV I: 145). Schopenhauer spielt auch auf die stoische magnanimitas an (WWV II: 204), wenn er die „Geistesgröße und Würde“ des Weisen exponiert, der „das Unvermeidliche […] in melancholischer Ruhe“ erträgt, durch „geistige Diätetik“ den ausgeglichenen Seelenzustand einer Apatheia erringt und abrupte Wechsel „vom Jubel zur Verzweiflung“ durch seine „Unerschütterlichkeit ( !taqan¸a) und ungetrübte Glückseligkeit“ zu vermeiden weiß (WWV II: 205). – Zu Schopenhauers Auseinandersetzung mit dem Stoizismus vgl. Barbara Neymeyr: Ataraxie und Rigorismus. Schopenhauers ambivalentes Verhltnis zur stoischen Philosophie (im vorliegenden Werk).

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starke Leidenschaften formulieren, und zwar gegen positive wie negative Affekte (KSA 5: 118). Denn in ihrem „unvernünftig[en]“ Anspruch auf Generalisierbarkeit mißachten sie die spezifischen Lebensbedingungen von Individuen und bieten letztlich bloß ein heterogenes Konglomerat von „Klugheit, gemischt mit Dummheit“ (KSA 5: 118). Nietzsche beschränkt sich nicht darauf, allgemeine Vorbehalte gegen derartige „Altweiber-Weisheit“ zu äußern. Er konkretisiert sie auch durch den Hinweis auf die „Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten“ (KSA 5: 118) 13, sowie durch Spinozas „naive[s]“ Plädoyer für die „Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben“.14 Auch die Mesotes-Lehre der Aristotelischen Ethik, die laut Nietzsche eine Reduktion „der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaass“ propagierte (KSA 5: 118), gerät ins Visier. Kritisch bewertet er darüber hinaus die Ausdrucksformen religiöser oder künstlerischer Sublimierung, die zu „einer absichtlichen Verdünnung“ der Emotionen führt (KSA 5: 118). Daß Nietzsche den stoischen Konzepten skeptisch gegenübersteht, die auf Disziplin durch vernünftige Selbstregulierung zielen, zeigt auch der mit „Selbstbeherrschung“ betitelte Aphorismus 305 in seiner Schrift Die frçhliche Wissenschaft. Hier problematisiert Nietzsche die Theorien jener „Morallehrer“, die „dem Menschen anbefehlen, sich in seine

13 Im Vierten Buch seiner Tusculanen (IV,11) exponiert Cicero die stoische Vorstellung des Pathos folgendermaßen: „Zenon definiert die Leidenschaft, die er als Pathos bezeichnet, als eine von der rechten Einsicht abgewandte naturwidrige Bewegung der Seele“ („Est igitur Zenonis haec definitio, ut perturbatio sit, quod p²hor ille dicit, aversa a recta ratione contra naturam animi commotio“). Andere Stoiker – so Cicero (Tusc. IV,11) – betrachten die Leidenschaft als ein allzu heftiges Streben, weil es sich „allzu weit von der Beständigkeit der Natur entferne“ („qui longius discesserit a naturae constantia“). Zum Umgang der Stoiker und Peripatetiker mit der Problematik leidenschaftlicher Affekte vgl. auch Cicero: Tusc. IV,31 – 47. – Seneca kontrastiert mit der Torheit leidenschaftlicher Empfindungen „die Weisheit, die allein Freiheit ist“ (Epist. 37,4: „sapientia, quae sola libertas est“). Er empfiehlt ein vernunftorientiertes Verhalten (ebd.). 14 Allerdings plädiert Nietzsche im Kontext seiner Experimentalphilosophie entschieden für eine schonungslose Selbst-Vivisektion. Ausdrücklich empfiehlt er: „treibt Vivisektion […] an euch!“ (KSA 5: 153). Mit identifikatorischem Gestus schreibt Nietzsche sogar: „wir experimentiren mit uns […] und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf“ (KSA 5: 357).

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Gewalt zu bekommen“ (KSA 3: 543).15 Aus solchen Selbstdisziplinierungsmaßnahmen resultiert seines Erachtens eine „beständige Reizbarkeit bei allen natürlichen Regungen und Neigungen“ (KSA 3: 543), die letztlich zu radikalen Abwehrmechanismen führt. Seelische Verarmung und eine Reduktion der Erlebnisfähigkeit seien die Folge, weil nun alle Impulse von innen oder außen als Bedrohung für die „Selbstbeherrschung“ erscheinen: Der Mensch „darf sich keinem Instincte, keinem freien Flügelschlage mehr anvertrauen“, sondern steht fortwährend „bewaffnet gegen sich selber“ da – als „der ewige Wächter seiner Burg, zu der er sich gemacht hat“ (KSA 3: 543).16 Nietzsche greift hier auf eine tradierte stoische Vorstellung zurück, um zu zeigen, daß dieser seelische Antagonismus Harmonie und Ausgeglichenheit verhindert. Wegen der mit ihm verbundenen psychischen Spaltungstendenzen erscheint er ihm sogar als „Krankheit“ (KSA 3: 543). Zwar erwähnt Nietzsche die durch habitualisierte „Selbstbeherrschung“ mögliche Größe und spielt damit auf den stoischen Leitbegriff der magnanimitas oder magnitudo animi an.17 Aber die tänzerische Leichtigkeit, die er immer wieder als Ideal menschlicher Existenz entwirft18, steht im Kontrast zu den Zwängen, welche die rigiden „Morallehrer“ mit ihren unnatürlichen Selbstdisziplinierungsmaßnahmen 15 Vgl. z. B. Seneca: Epist. 77,15: „Fac tui iuris, quod alieni est“. („Tu in Selbstbestimmung, was fremdem Willen unterliegt.“) 16 Auch in einer Nachlaß-Notiz schreibt Nietzsche dem „stoische[n] Typus“ „das Unerschütterliche“ zu; zugleich bringt er ihn allerdings mit einer defensiven Haltung in Verbindung, die den inneren Frieden zumindest gefährdet, wenn nicht sogar einschränkt: „die tiefe Ruhe, der Vertheidigungszustand, der Berg, das kriegerische Mißtrauen – die Festigkeit der Grundsätze; […] EinsiedlerTypus“ (KSA 13: 125). 17 In Tusc. II,53 korreliert Cicero ausdrücklich Seelengröße mit Selbstbeherrschung. 18 Schon in der Geburt der Tragçdie betrachtet Nietzsche den Tanz als Ausdruck höchster Lebensintensität. So betont er das rauschhafte Entgrenzungserlebnis auf dionysischen Festen (KSA 1: 32), wenn sich der Mensch „singend und tanzend […] als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit“ fühlt (KSA 1: 29 – 30). In Menschliches, Allzumenschliches formuliert Nietzsche ein „Gleichniss vom Tanze“: Die „hohe Cultur“ analogisiert er mit „einem kühnen Tanze“, der „viel Kraft und Geschmeidigkeit“ verlangt (KSA 2: 229). Und in seiner Schrift Die frçhliche Wissenschaft schreibt er: „ich wüsste nicht, was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst“ (KSA 3: 635). „Zarathustra der Tänzer“ (KSA 1: 22) wird für Nietzsche zum idealen Gegenentwurf zum ,Geist der Schwere‘, den er kritisch bewertet (KSA 4: 49 – 50).

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erzeugen: Sie haben zur Folge, daß der Mensch „schwer“ an sich selbst trägt und „verarmt und abgeschnitten von den schönsten Zufälligkeiten der Seele“ sein Dasein fristet (KSA 3: 543). Obwohl Nietzsche in dem Aphorismus „Selbstbeherrschung“ keinen expliziten Bezug zur stoischen Ethik herstellt, lassen seine Anspielungen auf die Lehren der Stoiker erkennen, daß er hier auch das stoische Postulat der Selbstdisziplinierung kritisiert. Dafür spricht die Tatsache, daß den Darlegungen zur „Selbstbeherrschung“ ein Aphorismus mit dem Titel „Stoiker und Epikureer“ folgt. Parodistisch zugespitzt beschreibt Nietzsche hier eine Perversion. Der Stoiker verordnet sich eine bizarr anmutende Selbsttherapie, die Abhärtung zum Ziel hat: Er „übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter und Skorpionen zu verschlucken und ohne Ekel zu sein“ (KSA 3: 544). Diese radikale Methode, welche die Wahllosigkeit zum Prinzip erhebt und auf die Möglichkeit zur Selektion des Angemessenen und Zuträglichen bewußt verzichtet, dient dem Zweck, den Menschen gegen die Unwägbarkeiten der prinzipiell unkalkulierbaren Fortuna zu immunisieren: der „Magen soll endlich gleichgültig gegen Alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet“ (KSA 3: 544). Nietzsches Polemik gegen diese stoische Attitüde zielt auch auf ein mit ihr verbundenes symptomatisches Bedürfnis nach Selbstinszenierung: Der Stoiker hat „gerne ein eingeladenes Publicum bei der Schaustellung seiner Unempfindlichkeit“ (KSA 3: 544). Einen ähnlichen kritischen Akzent setzt Nietzsche in seiner Schrift Die frçhliche Wissenschaft, wenn er mit ironischem Unterton antike Tugendapostel erwähnt, „die im Glauben an ihre Vollendung mit der Würde eines Stiergefechtshelden umherzogen“ (KSA 3: 478). Im Kontext dieser Stelle nennt er exemplarisch die Bücher „Seneca’s und Epiktet’s“ (KSA 3: 478). Während Nietzsche in der Gçtzen-Dmmerung unter dem Titel „Meine Unmçglichen“ „Seneca“ als „Toreador der Tugend“ bezeichnet (KSA 6: 111) und in einer nachgelassenen Notiz von 1884 erklärt: „Nichts ist mir widerlicher als die lehrhafte Anpreisung der Philosophie, wie bei Seneca oder gar Cicero“ (KSA 11: 271) 19, würdigt er in der 19 Nietzsches Polemik könnte sich beispielsweise auf die Epistulae morales beziehen, in denen Seneca die Philosophie als einzigen Weg empfiehlt, um gesund, sorgenfrei, glücklich und frei zu sein (Epist. 37,3: „Ad hanc te confer, si vis salvus esse, si securus, si beatus, denique si vis esse, quod est maximum, liber“). – Trotz seiner Vorbehalte gegenüber Seneca unterschreibt der in Sils Maria weilende Nietzsche am 21. August 1883 eine Postkarte an seinen Freund

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früheren Schrift Menschliches, Allzumenschliches noch die „grossen Moralisten […] Pascal, Epictet, Seneca, Plutarch“ (KSA 2: 230).20 Mit der Karikatur stoischer Widernatürlichkeit und Selbstinszenierung kontrastiert Nietzsche in der Frçhlichen Wissenschaft als positives Modell die diätetische Vernunft des Epikureers, der die Lebensbedingungen für sich auswählt, die „zu seiner äusserst reizbaren intellectuellen Beschaffenheit passen“ (KSA 3: 544). Bewußt verzichtet er auf „das Allermeiste“, weil es für ihn „eine zu starke und schwere Kost“ wäre (KSA 3: 544). Daß sein Verhalten durch bloßen Hedonismus motiviert sein könnte, wie gängige Vorurteile schon seit der Antike behaupten21, schließt Nietzsche dadurch aus, daß er von der „intellectuellen Beschaffenheit“ des Epikureers spricht. Allen „Menschen der geistigen Arbeit“, die Aussicht auf eine einigermaßen verläßliche Lebenskontinuität haben, empfiehlt er nachdrücklich, „sich epikureisch einzurichten“, da die stoische Apatheia die für kreatives Schaffen erforderliche Sensibilität bedroht: Für Intellektuelle wäre es laut Nietzsche der schlimmste Verlust, „die feine Reizbarkeit einzubüssen und die stoische Heinrich Köselitz scherzhaft-identifikatorisch mit „Seneca exul.“ (Briefe [Anm. 1], Bd. 6: S. 434). Zuvor hatte Nietzsche am 24. Mai 1880 auf „Seneca’s Art zu trösten“ und die zentrale Bedeutung des Suizidgedankens bei ihm Bezug genommen (ebd., Bd. 6: S. 19 – 20). Vgl. dazu Seneca: Epist. 24,7 – 8; 26,10; 58,34 – 36; 77,14. In einem brieflichen Bericht über gesundheitliche Probleme schreibt Nietzsche am 20. August 1877: „Ich […] sah gestern (zu Bett liegend) Seneca ähnlich“ (ebd., Bd. 5: S. 272). 20 In einem frühen Brief vom 20. Februar 1867 empfiehlt Nietzsche ausdrücklich Senecas Epistulae morales als eine an Schopenhauer erinnernde Lektüre (ebd., Bd. 2: S. 201). In der Frçhlichen Wissenschaft hingegen polemisiert er unter dem Titel „Seneca et hoc genus omne“ in versifizierter Kontrafaktur der Maxime ,primum vivere, deinde philosophari‘ gegen Seneca: „[…] primum scribere, j Deinde philosophari“ (KSA 3: 360 – 361). 21 Ein Reflex dieses schon in der Antike verbreiteten Klischees ist das bekannte Diktum des Horaz (Epist. 1, 4, 16), der sich selbstironisch-provokant als ein „Schweinchen aus der Herde Epikurs“ bezeichnete („Epicuri de grege porcus“). Vgl. Wielands Kommentar zu seiner Horaz-Übersetzung. Christoph Martin Wieland: bersetzung des Horaz, hg. von Manfred Fuhrmann. Frankfurt a.M. 1986. S. 108 – 111. – Darauf rekurriert Nietzsche implizit, wenn er am 3. August 1883 in einem Brief an Köselitz feststellt, Epikurs leichtfertiger Umgang „mit der Meinung ber sich“ habe dazu geführt, daß sich „die Schweine in seine Gärten“ drängten; „und es gehört zu den großen Ironien der fama, daß wir einem Seneca zu Gunsten der Epikurischen Männlichkeit und Seelenhöhe Glauben schenken müssen – einem Menschen, dem man im Grunde immer sein Ohr, aber niemals ,Treu und Glauben‘ schenken sollte. In Corsica sagt man: Seneca è un birbone. – “ (Briefe [Anm. 1], Bd. 6: S. 418 – 419).

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harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu bekommen“ (KSA 3: 544).22 Das traditionelle Klischee vom lustfixierten Epikureer, dem der disziplinierte Stoiker diametral gegenübersteht, greift Nietzsche in seinem Aphorismus auf, um die Wertung umzukehren: Er läßt den Stoiker in einen unvernünftigen Exzeß der Selbstdisziplinierung geraten, wenn er durch die Resorption auch des Schädlichsten das ganze Spektrum der unkalkulierbaren Fortuna zu erproben sucht, um sich dagegen zu immunisieren. Diese in grotesker Übertreibung dargestellte prophylaktische Maßnahme des Stoikers kontrastiert Nietzsche mit dem Ethos vernünftigen Maßhaltens als dem Lebensprinzip des Epikureers, der sein Interesse mit vorausschauender Besonnenheit von vornherein auf das ihm Zuträgliche konzentriert und alles zu vermeiden trachtet, was seine Sensibilität gefährden könnte. Auch die Tendenz des Stoikers zur Selbstinszenierung erscheint als problematische Einschränkung einer konsequent stoischen Ataraxia und Apatheia. Wenn er es darauf anlegt, durch die Leistung radikaler Abhärtung und Selbstdisziplin den Beifall eines bewundernden Publikums zu erringen, ja wenn er sich vom Applaus anderer vielleicht sogar mental abhängig macht, läßt er dabei gerade die mit magnanimitas verbundene stoische Autarkie vermissen. Die im Aphorismus „Stoiker und Epikureer“ entworfene Konstellation forciert Nietzsche bis zum dialektischen Umschlag: Eigentlich erscheint der Epikureer nämlich sogar als der bessere Stoiker, weil er ein naturgemäßes Leben wählt, es seiner intellektuellen Disposition angleicht und entsprechend maßvoll gestaltet, um seelische Harmonie zu erreichen. Der selbstgenügsame Rückzug des Epikureers in den „Garten“, den Nietzsche mit der eitlen Selbstdarstellung des Stoikers vor einem bewundernden Publikum kontrastiert (KSA 3: 544), zeugt von genuiner Autarkie. Anders als der maßlose Stoiker mit seinem Exzeß der Abhärtung sucht sich der kluge Epikureer ein Refugium, das ihm Gelegenheit zur Muße bietet und dadurch auch ideale Voraussetzungen für kreative intellektuelle Leistungen schafft. 22 Bereits Schopenhauer sieht in seinen Parerga und Paralipomena von 1851 den Habitus der Stoiker mit einer problematischen Einbuße an Sensibilität verbunden. Der „Stoizismus der Gesinnung“ ist zwar „ein guter Panzer gegen die Leiden des Lebens“, aber er umgibt das Herz mit „einer steinernen Rinde“ (PP II: S. 378). In diesem Sinne diskutiert schon Cicero in seinen Tusculanen die Auffassung, ob nicht die Schmerzlosigkeit um einen allzu hohen Preis erkauft ist: nämlich mit der Unmenschlichkeit der Seele („nam istuc nihil dolore non sine magna mercede contingit inmanitatis in animo“ (Cicero: Tusc. III,12).

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Nietzsches dialektische Argumentation ist ebenso geistreich wie maliziös; die trotz markanter Gegensätze vorhandenen Konvergenzen zwischen Stoikern und Epikureern klammert er dabei allerdings aus.23 Eine Nachlaßnotiz macht deutlich, daß Nietzsche den Antagonismus zwischen Stoizismus und Epikureismus auf ein übertriebenes Abgrenzungsbedürfnis zurückführt: „Die stoische Art (welche es sehr nöthig hat zu kämpfen und folglich den Werth des Kämpfenden über die Gebühr schätzt –) verleumdet immer den ,Epicur‘“! (KSA 11: 707). Nur in jenen Ausnahmefällen, in denen „das Schicksal“ mit den Menschen „improvisirt“, kann sich Nietzsche trotz seiner prinzipiellen Vorbehalte ein stoisches Lebensmodell als sinnvoll, praktikabel, ja sogar als „rathsam“ vorstellen: „in gewaltsamen Zeiten“ oder in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem man „abhängig von […] veränderlichen Menschen“ leben muß (KSA 3: 544), also unter den Rahmenbedingungen historisch-politischer oder sozialpsychologischer Instabilität. Ansonsten gilt für die im 306. Aphorismus der Frçhlichen Wissenschaft ad absurdum geführte Perversionsform des Stoizismus genau das, was Nietzsche schon in Menschliches, Allzumenschliches statuiert hatte: Die stoische Erstarrung „verkehrt endlich die Natur“ (KSA 2: 471). In seiner Schrift Jenseits von Gut und Bçse tritt Nietzsche in einen fiktiven Dialog mit den Stoikern ein und hinterfragt dabei in einer 23 Bekanntlich hatte Seneca eine besondere Bedeutung für die Vermittlung der epikureischen Tradition. Im Unterschied zum Rigorismus der frühen Stoiker verfuhr Seneca eher eklektizistisch, indem er auch epikureische Konzepte adaptierte. Vor allem in seinen Epistulae morales lassen sich epikureische Einflüsse nachweisen. Seine Entscheidung, mitunter wie ein Anhänger Epikurs zu sprechen (Epist. 48, 2: „ego tamquam Epicureus loquor“), legitimiert Seneca mit dem Diktum: „Was wahr ist, ist mein Eigentum“ (Epist. 12, 11: „Quod verum est, meum est“). Bereits im zweiten Brief seiner Epistulae morales beruft sich Seneca auf eine Aussage Epikurs und betont, er pflege auch „in ein fremdes Lager hinüberzugehen: nicht als Überläufer, sondern als Kundschafter“ (Epist. 2,5: „soleo enim et in aliena castra transire, non tamquam transfuga, sed tamquam explorator“). An zahlreichen Stellen finden Sentenzen Epikurs in Senecas Epistulae morales Eingang; vgl. z. B. Epist. 7,11; 8,7; 9,1; 12,11; 16,7; 18,9; 48,2. In Epist. 8,7 würdigt Seneca ausdrücklich ein Postulat Epikurs: „Philosophiae servias oportet, ut tibi contingat vera libertas“ („Man muß der Philosophie dienen, um die wahre Freiheit zu erlangen“). – Zu Senecas eklektizistischem Verfahren vgl. auch Ilsetraut Hadot: Seneca und die griechischrçmische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969, S. 55 ff. Rudolf Schottlaender: Epikureisches bei Seneca. Ein Ringen um den Sinn von Freude und Freundschaft, in: Seneca als Philosoph, hg. von Gregor Maurach, 2. Aufl. Darmstadt 1987 (Wege der Forschung Bd. 414), S. 167 – 184.

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mehrgliedrigen subversiven Argumentation das Prinzip ,secundum naturam vivere‘: „,Gemäss der Natur‘ wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte!“ (KSA 5: 21).24 Bezeichnenderweise findet sich diese ebenso prägnante wie scharfsinnige Reflexion in einem Abschnitt mit dem Titel „von den Vorurtheilen der Philosophen“. Hier entfaltet Nietzsche mehrere Kritikansätze, um das stoische Grundprinzip eines naturgemäßen Lebens25 zu konterkarieren. Sein erstes Argument setzt beim Naturbegriff selbst an: Ausgehend von der maßlosen Verschwendung und furchtbaren Gleichgültigkeit der Natur, die „ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit“ ist und insofern „die Indifferenz selbst als Macht“ repräsentiert (KSA 5: 21), betrachtet Nietzsche ein Verhalten, das der stoischen Maxime eines naturgemäßen Lebens folgt, als wenig erstrebenswert, ja sogar als kontraproduktiv. Denn er definiert die menschliche Existenz in radikaler Differenz zur Natur: als „ein Anders-sein-wollen, als diese 24 Auch Schopenhauer setzt sich in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung mit dem stoischen Ideal naturgemäßen Lebens auseinander. Vgl. dazu WWV I: 144 – 145, WWV II: 198, 203. Er selbst sieht das Ideal Zenons, des Stifters der stoischen Schule, darin, „daß man zur Erlangung des höchsten Gutes, d. h. der Glückseligkeit durch Geistesruhe, übereinstimmend mit sich selbst leben solle“ (WWV I: 144). Diese Position markiert er mit griechischen Zitaten aus Stobaios’ Eclogae physicae et ethicae (WWV I: 144). 25 Belege zum stoischen Prinzip ,secundum naturam vivere‘ sind ubiquitär. Seneca definiert den Menschen als animal rationale, das „gemäß der eigenen Natur leben“ soll (Epist. 41,7 – 8: „secundum naturam suam vivere“). Cicero formuliert in Tusc. IV,79 die rhetorische Frage: „an quicquam est secundum naturam quod fit repugnante ratione?“ („Ist irgendetwas naturgemäß, was gegen die Vernunft geschieht?“) In Tusc. V,82 referiert er die stoische Auffassung, ein Leben im Einklang mit der Natur („congruere naturae cumque ea convenienter vivere“) stehe in der Macht des Weisen und damit auch das glückselige Leben („vita beata“). Zum stoischen Postulat eines naturgemäßen Lebens vgl. auch Seneca: Epist. 5,4: „propositum nostrum est secundum naturam vivere“. Zum spezifischen Status des Menschen als animal rationale vgl. Epist. 41,8 – 9. Vgl. auch Epist. 16,5; 66,6. In De vita beata III,3 sieht Seneca in der Zustimmung zur Natur Einigkeit unter allen Stoikern: „Weisheit bestehe darin, nicht von ihr abzuweichen und sein Leben nach ihrem Gesetz und Vorbild zu ordnen“ („Interim, quod inter omnis Stoicos convenit, rerum naturae assentior; ab illa non deerrare et ad illius legem exemplumque formari sapientia est“). In Epist. 16,7 koinzidieren Vorstellungen des Stoizismus mit Idealen des Epikureismus; Seneca zitiert hier ausdrücklich Epikur: „si ad naturam vives, numquam eris pauper, si ad opiniones, numquam eris dives“. („Wenn du nach der Natur lebst, wirst du niemals arm sein, wenn du nach Wunschvorstellungen lebst, wirst du niemals reich sein.“)

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Natur ist“ (KSA 5: 22). Seine eigenen Prämissen formuliert Nietzsche als Frage: „Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen?“ (KSA 5: 22). Mit der naturalen Indifferenz und Maßlosigkeit kontrastiert er also das Bewußtsein menschlicher Begrenztheit und ein aus ihm notwendigerweise resultierendes Interesse an gezielter Auswahl von Existenzmöglichkeiten. Direkt im Anschluß an diese Überlegung entfaltet Nietzsche noch ein weiteres Argument. Selbst wenn der erstgenannte Einwand keinen Anspruch auf Gültigkeit hätte und der stoische „Imperativ ,gemäss der Natur leben‘“ synonym wäre mit „gemäss dem Leben leben“, bliebe immer noch der Vorbehalt: „wie könntet ihr’s denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müsst?“ (KSA 5: 22). Dieser kritischen Reflexion zufolge ist die Maxime naturgemäßen Lebens tautologisch. Indem die Stoiker Faktizität zur Basis einer Präskription machen, versuchen sie auf sinnlose Weise Sein in Sollen zu transformieren. Im Zuge seiner Entlarvungspsychologie will Nietzsche verborgene Motive hinter dieser offenkundigen Absurdität aufspüren: Statt das Lebensgesetz „aus der Natur zu lesen“, schreiben die stoischen „SelbstBetrüger“ in stolzer Überschätzung ihrer Möglichkeiten sogar der Natur selbst ihre „Moral“ und ihr „Ideal“ vor – Ausdruck einer Hybris, die davon zeugt, daß sie das jeweils Perspektivische allen Daseins verkennen. Eine solche Tendenz zur Universalisierung des Stoizismus läßt sich als spezifischer Ausdruck eines Willens zur Macht begreifen: „Euer Stolz will der Natur […] eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, dass sie ,der Stoa gemäss‘ Natur sei“ (KSA 5: 22). Wenn die Stoiker – Nietzsches kritischer Diagnose zufolge – „alles Dasein“ nach ihrem „eignen Bilde“ zu modellieren versuchen, vollziehen sie eine Generalisierung „des Stoicismus“ (KSA 5: 22), die zugleich der Selbst-Apotheose dient. Hier sind Analogien zur Anfangspartie von Nietzsches Essay Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne zu entdecken, der auf eine Relativierung des Wahrheitsbegriffs im Kontext eines universellen Perspektivismus zielt und anthropozentrische Weltdeutungen satirisch demontiert: Die „klugen Thiere“, die in „irgend einem abgelegenen Winkel“ des Kosmos „das Erkennen erfanden“ (KSA 1: 875), täuschen sich über die Endlichkeit ihrer Gattung und sind sich auch über die Flüchtigkeit, Beliebigkeit und Willkür ihres eigenen Intellekts nicht im klaren. Die pathetische Selbstüberschätzung des Menschen karikiert Nietzsche durch den Vergleich mit dem imaginären Selbstgefühl der

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Mücke, die auf ähnliche Weise „in sich das fliegende Centrum dieser Welt fühlt“ (KSA 1: 875). Der Philosoph als „der stolzeste Mensch“ aber glaubt sogar „von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen“ (KSA 1: 875 – 876). Dabei verfällt er in extremem Maße jener fundamentalen „Täuschung“, die Nietzsche als „allgemeinste Wirkung“ des Intellekts und damit auch als gattungsspezifisches Schicksal des Menschen beschreibt (KSA 1: 876). Die humoristische Metapher „Augen des Weltalls“ ist polemisch akzentuiert: Mit ihr attestiert Nietzsche dem Philosophen einen ebenso hybriden wie naiven Anthropomorphismus. Statt einer auf Objektivität gerichteten Erkenntnisanstrengung dominiert hier ein narzißtischer Subjektivismus. Der besondere intellektuelle Anspruch philosophischer Reflexion über Ich und Welt wird dadurch ad absurdum geführt. Wie die Philosophen generell neigen laut Nietzsche auch die Stoiker zur Selbstüberschätzung. In seinem Aphorismus über das Prinzip „Gemäss der Natur“ apostrophiert er sie geradezu despektierlich: „ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betrüger“ (KSA 5: 22). Die vom Willen zur Macht zeugende Hybris, die Nietzsche in seinem Essay Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne gewissermaßen als eine Berufskrankheit der Philosophen betrachtet, bestimmt auf eklatante Weise auch das Selbst- und Weltbild der Stoiker: Sie versuchen die Natur mit ihrer präskriptiven Moral zu okkupieren, indem sie von ihr verlangen, daß sie „,der Stoa gemäss‘ Natur sei“ (KSA 5: 22). In seiner Schrift Jenseits von Gut und Bçse stellt Nietzsche diese Diagnose in den Dienst einer scharfen Polemik, die darauf zielt, die stoische Ethik zu konterkarieren. Demnach steigert sich die Hybris der Stoiker sogar bis zur Usurpation göttlicher Schöpfungskompetenz, die wie in der biblischen Genesis auf Selbstreproduktion zielt: Ihr „möchtet alles Dasein nur nach eurem eignen Bilde dasein machen – als eine ungeheure ewige Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus“ (KSA 5: 22). Der „hypnotisch-starr[en]“ Sicht der Stoiker entspringt ihre von Vorurteilen bestimmte Einstellung zur Natur. In dem Maße, wie sich die „falsch[e], nämlich stoisch[e]“ Perspektive auf sie verfestigt, gerät ihnen jede Deutungsalternative aus dem Blick. Die Okkupation der Natur für eigene Zwecke folgt einem hybriden Herrschaftsanspruch, den Nietzsche mit dem Begriff der ,Tyrannei‘ markiert. Mit einem dialektischen Kunstgriff läßt er die heterogenen Aspekte konvergieren, – allerdings nur, um so die Absurdität des Gesamtkonzepts noch schärfer zu pointieren: „irgend ein abgründlicher Hochmuth giebt euch zuletzt

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noch die Tollhäusler-Hoffnung ein, dass, weil ihr euch selbst zu tyrannisiren versteht – Stoicismus ist Selbst-Tyrannei – , auch die Natur sich tyrannisiren lässt: ist denn der Stoiker nicht ein Stck Natur? …..“ (KSA 5: 22). Aus dieser subversiven pars-pro-toto-Argumentation leitet Nietzsche am Ende des Aphorismus eine Generalisierung ab, die es ihm erlaubt, auch die Angriffsfläche zu vergrößern: Seine Attacke zielt nun auf problematische Konzepte in der Philosophie überhaupt. Mangel an Selbstkritik und übersteigertes Selbstbewußtsein verleiten die Philosophen fast zwangsläufig zu Fehlurteilen: „was sich damals mit den Stoikern begab“, so Nietzsche, „begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur ,Schaffung der Welt‘, zur causa prima“ (KSA 5: 22). Diese Quintessenz beruht in doppelter Hinsicht auf einer pars-prototo-Argumentation, denn Nietzsche wählt nicht nur den Stoizismus als Paradigma philosophischer Grundprobleme, sondern charakterisiert darüber hinaus die Philosophie überhaupt als „tyrannische[n] Trieb“ und als die intellektuelle Variante eines universellen Willens zur Macht. Der konzise, auf das stoische Prinzip naturgemäßen Lebens26 bezogene Aphorismus, dessen dialektischer Esprit einer radikalen Subversion dient, macht somit evident, daß sich Nietzsche zwar konkret mit dem Stoizismus auseinandersetzt, bei seiner Attacke aber immer auch Grundsätzliches mit im Blick hat. Seine Aufmerksamkeit gilt repräsentativen Irrtümern im Denken, die er mit psychologischer Raffinesse auf anthropologische Grundbefindlichkeiten hin transparent macht. Den „Tugendstolz des Stoikers“ begründet Nietzsche in einem Nachlaßnotat von 1880 explizit mit einem „neue[n] Gefühl von Macht“: „man kann ihn mit nichts unterwerfen, er regiert“ (KSA 9: 175). Auch hier erscheint der Stoiker als Repräsentant eines typisch philosophischen Habitus.

26 Einen weiteren Aspekt dieser Thematik rückt ein nachgelassenes Fragment von 1881 ins Blickfeld: Hier meint Nietzsche, die Tendenz zum Stoizismus sei jeweils durch eine entsprechende innere Disposition bedingt: „Erreicht der Stoiker die Beschaffenheit, welche er haben will – meistens bringt er sie mit und wählt deshalb diese Philosophie! – so hat er die Druckkraft einer Binde, welche Unempfindlichkeit hervorbringt“ (KSA 9: 653).

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Denn Nietzsche fährt fort: „Jede Philosophie hatte ihre herrische Seite“ (KSA 9: 175).27 Eine aufschlußreiche Pointe, die sich auf das stoische Ataraxie-Ideal bezieht, bietet die Schrift Zur Genealogie der Moral in dem wichtigen Abschnitt „was bedeuten asketische Ideale?“ Hier sieht Nietzsche den Menschen aufgrund der kopernikanischen Wende aus dem Mittelpunkt des Kosmos geraten und in eine zentrifugale Bewegung versetzt (KSA 5: 404). Diesen traumatischen Bedeutungsverlust reflektierte Jahrzehnte nach Kant und Nietzsche bekanntlich auch Sigmund Freud in seinen Vorlesungen zur Einfhrung in die Psychoanalyse. 28 Nietzsche schreibt der wissenschaftlichen „Erkenntniss-Selbstkritik“ explizit eine „eigene herbe Form von stoischer Ataraxie“ zu: Gerade mit der „mühsam errungene[n] Selbstverachtung des Menschen“ begründe sie „dessen letzten ernstesten Anspruch auf Achtung“ (KSA 5: 404). In dieser immanenten Dialektik liegt gewissermaßen ein heroischer Triumph der intellektuellen Redlichkeit. Sie ist charakteristisch für den ,freien Geist‘, der zu vorurteilsfreien Experimenten auch mit sich selbst bereit ist. In zwei Aphorismen seiner Schrift Die frçhliche Wissenschaft thematisiert Nietzsche das Verhältnis zwischen Schmerz, Unglück, Unlust und ihren positiven Korrelaten. Auch diese beiden Textpartien stehen im Kontext seiner Stoizismus-Kritik. Gerade der Schmerz ist schon in der Affekttherapie der antiken Stoa ein zentrales Thema; in der Skala der zu besiegenden Affekte rangiert er an erster Stelle. So widmet sich Cicero im zweiten Buch seiner Tusculanen der Frage, wie man den Geist formieren könne, um den Schmerz zu ertragen. Das stoische Rezept zielt auf Schmerzbewältigung durch Vernunft und Willenskraft: „Totum igitur in eo est, ut tibi imperes. […] atque haec cogitatio, quid patientia, quid fortitudine, quid magnitudine animi dignissimum sit, non solum 27 Das gilt auch für den Epikureismus: „die Epicureer triumphirten, den Acheron besiegt zu haben und die Todesfurcht, die Furcht vor der Natur: also Herren der Natur zu sein“ (KSA 9: 175). 28 Laut Freud mußte „die Menschheit“ drei „große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe“ erdulden: erstens durch die Entdeckung des Kopernikus, „daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist“, zweitens durch die Evolutionslehren Darwins und seiner Vorgänger und drittens durch „die heutige psychologische Forschung“ (nicht zuletzt auch durch die Resultate von Freuds eigener Psychoanalyse), „welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause“ (Sigmund Freud: Studienausgabe in zehn Bänden und einem Ergänzungsband, hg. von A. Mitscherlich, A. Richards, J. Strachey, Frankfurt a.M. 1982, Bd. I, S. 283 – 284).

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animum comprimit, sed ipsum etiam dolorem nescio quo pacto mitiorem facit“.29 Auch Nietzsche selbst betont, daß die Auseinandersetzung mit dem „Verhalten gegen den Schmerz und die Unlust-Vorstellungen“ im Stoizismus das „Wesentliche“ ist; „Starrheit und Klte sind der Kunstgriff, Anaesthetika also“ (KSA 9: 652 – 653).30 Der 326. Aphorismus der Frçhlichen Wissenschaft trägt den Titel „Die Seelen-Aerzte und der Schmerz“. Hier exponiert Nietzsche zunächst die Fragwürdigkeit pessimistischer Weltanschauungen von „Moralprediger[n]“ und „Theologen“, die er als „Aberglauben“ diskreditiert. Die „gemeinsame Unart“ dieser Ideologen, die über „Jahrhunderte“ eine beachtliche Wirkung entfalteten, sieht Nietzsche darin, daß sie den Menschen zu suggerieren versuchen, „sie befänden sich sehr schlecht und es thue eine harte letzte radicale Cur noth“ (KSA 3: 553). Diejenigen, die diese Lehren bereitwillig adaptieren, geraten dadurch in ein ambivalentes Verhältnis zum eigenen Leben. Denn ihre ursprüngliche Existenzgewißheit und Lebenslust wird dann durch Resignation und Überdruß reduziert, obwohl sich bislang durchaus geeignete Linderungsmittel und Anästhetica „wie Betäubungen, […] Erinnerungen, Absichten, Hoffnungen“ sowie Tapferkeit, „Stolz und Mitgefühl“ fanden, um negative Erfahrungen zu kompensieren und „dem Schmerze und Unglücke seinen Dorn auszuziehen“ (KSA 3: 554). Mit dieser Konstellation sieht Nietzsche die Problematik verbunden, „dass vom Schmerze und Unglücke immer bertrieben geredet“ und 29 Cicero: Tusc. II,53: „Alles liegt also daran, daß du dich selbst beherrschest. […] Und dieser Gedanke, was der Ausdauer, der Tapferkeit, der Seelengröße am würdigsten sei, festigt nicht nur die Seele, sondern macht auf irgendeine Weise auch den Schmerz milder.“ 30 Die „Hauptabsicht der stoischen Erziehung“ besteht laut Nietzsche in der Anästhesierung (KSA 9: 653). Entschieden kritisiert er die Tendenz zur Pathologisierung der Passion: Seelische „Versteinerung“ gelte im Stoizismus als Therapeutikum gegen „die leichte Erregbarkeit“. Dabei werden „Haß und Feindschaft gegen die Erregung, die Passion selber“ mobilisiert, „als ob sie eine Krankheit oder etwas Unwürdiges sei“ (KSA 9: 653). Nietzsches Darstellung läßt sich durch die Tusculanen verifizieren: Hier vertritt Cicero die Einschätzung, jede Leidenschaft sei „schlimm und vom Wahnsinn nicht weit entfernt“ (Tusc. IV,82: „omnis animi perturbatio gravis est nec multum differt ab amentia“). In einer früheren Passage des Werkes betont Cicero allerdings explizit, Pathos sei eine leidenschaftliche Seelenbewegung, die aber nicht als Krankheit zu betrachten sei (Tusc. III,21). In diesem Zusammenhang grenzt er sich von der Auffassung der Griechen ab, die jede Erregung der Seele p²hor, also Krankheit, nennen („Graeci omnem animi perturbationem […] vocant enim p²hor, id est morbum“: Tusc. III,23).

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zugleich die Existenz probater Gegenmittel verschwiegen wird (KSA 3: 554). Daraus resultiert eine weitere Schwierigkeit insofern, als die von Nietzsche kritisierten Moralisten und Theologen gleichsam allzu schweres Geschütz auffahren, um dann mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Konnten die üblichen Beschwernisse des Alltags durch bewährte Rezepte nämlich bislang erfolgreich bewältigt werden, so scheint die Negativität des Lebens nun eine extreme Leidenssituation zur Folge zu haben, der man nur noch durch eine „radicale Cur“ glaubt beikommen zu können (KSA 3: 553). Nicht allein auf maßlose Übertreibung, sondern auch auf bewußte Lüge führt Nietzsche die fragwürdigen Therapiekonzepte moralisierender Pessimisten zurück: „Was haben die Moralprediger vom inneren ,Elend‘ der bösen Menschen phantasirt! Was haben sie gar vom Unglücke der leidenschaftlichen Menschen uns vorgelogen!“ (KSA 3: 554). Zu differenzieren ist allerdings zwischen den antiken Stoikern und ihren moralisierenden Adepten in der Folgezeit; offenbar sind es letztere, denen Nietzsche hier Unredlichkeit vorwirft. Denn die Frage „Was trieb die Alten, Stoiker zu werden […]?“ beantwortet er folgendermaßen: „Die furchtbare Mçglichkeit großer plötzlicher Leiden, und die furchtbare Kraft ihrer Leidenschaften – sie litten an sich und an der Welt der Unsicherheit“ (KSA 9: 360). Vom echten Leidensdruck der „Alten“ unterscheidet sich das unredliche Verhalten der stoisch inspirierten und von Nietzsche kritisierten Moralisten grundlegend. Ihr Handeln ist insofern von strategischem Kalkül bestimmt, als sie die Realität bewußt pessimistisch interpretieren, um die eigenen Lehren dann wider besseres Wissen erfolgreich propagieren zu können. Laut Nietzsche verschweigen sie „das überreiche Glück“ der „leidenschaftlichen Menschen“ allein mit dem Ziel, „eine Widerlegung ihrer Theorie“ zu verhindern, „nach der alles Glück erst mit der Vernichtung der Leidenschaft und dem Schweigen des Willens entsteht!“ (KSA 3: 554). Mit der Formulierung „Schweigen des Willens“ spielt Nietzsche auf die Philosophie Schopenhauers an. So macht er deutlich, daß seine Kritik hier nicht nur den Repräsentanten des Stoizismus gilt, sondern auch einem zeitgenössischen Vertreter des Pessimismus. Schopenhauer hatte in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung die Negativität des Daseins diagnostiziert und dargelegt, daß „alles Leben Leiden“ und ein „durchweg unseliger Zustand“ sei.31 Daraus zog er die 31 Schopenhauer: WWV I: 426, 443.

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Konsequenz, daß die Überwindung voluntativen Getriebenseins allein „durch das völlige Schweigen des Willens“ oder die zur „wahre[n] Willenslosigkeit“ führende „gänzliche Selbstaufhebung und Verneinung des Willens“ zu erreichen sei, die „den Willensdrang für immer stillt und beschwichtigt“.32 Die „vollkommene Resignation“ ermöglicht laut Schopenhauer die „gänzliche Meeresstille des Gemüts“ – eine Aussage, die zusammen mit anderen Belegen seine Affinität zum stoischen Ideal der Ataraxie erkennen läßt.33 Implizit rekurriert Nietzsche also auch auf Schopenhauers Philosophie, wenn er im 326. Aphorismus seiner Schrift Die frçhliche Wissenschaft an den Rezepten pessimistischer „Seelen-Aerzte“ und „Moralprediger“ Kritik übt. Auf den Stoizismus bezieht sich Nietzsche sogar explizit – mit der rhetorischen Frage: „ist dieses unser Leben wirklich schmerzhaft und lästig genug, um mit Vortheil eine stoische Lebensweise und Versteinerung dagegen einzutauschen?“ (KSA 3: 554).34 Und um jegliches Mißverständnis auszuschließen, läßt er seinen Aphorismus mit der lapidaren Quintessenz enden: „Wir befinden uns 32 Schopenhauer: WWV II: 479, WWV I: 494. 33 Schopenhauer: WWV I: 327, 558. Eine Analogie zwischen stoischen und epikureischen Konzepten stellt Schopenhauer her, indem er die ästhetische Einstellung als den „schmerzenslose[n] Zustand“ beschreibt, „den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries“ (WWV I: 280). In der Idealvorstellung einer zur Schmerzlosigkeit führenden Ataraxia konvergieren die Lehren der Epikureer und der Stoiker. Schopenhauer sieht „den ruhigen, stillen, willenfreien Gemütszustand des Künstlers“ durch „Geistesruhe“ ausgezeichnet (WWV I: 281) und vermittelt diese mit der stoischen Vorstellung der Ataraxia. Die „stoische Ethik“ befreit den Menschen von der Illusion, er könne im Leben ein dauerhaftes Glück finden und ermöglicht ihm dadurch „unerschütterlichen Gleichmut“ (WWV I: 436). Das von Schopenhauer wiederholt verwendete Wort ,unerschütterlich‘ (WWV I: 530) entspricht exakt der stoischen Ataraxia. In Senecas Epistulae morales finden sich zahlreiche Belege: In Epist. 59,14 betont Seneca, der Weise sei „erfüllt von Freude, heiter und friedlich, unerschütterlich; mit den Göttern lebe er auf gleicher Ebene“. („Sapiens ille plenus est gaudio, hilaris et placidus, inconcussus; cum dis ex pari vivit“.) 34 Schopenhauer reflektiert die Gefahr einer psychischen Verhärtung: „der Stoizismus der Gesinnung […] verstockt das Herz. Wie sollte doch dieses durch Leiden gebessert werden, wenn es, von einer steinernen Rinde umgeben, sie nicht empfindet?“ (PP II: 378). Die in Schopenhauers rhetorischer Frage verwendete Steinmetapher gebraucht bereits Cicero in seinen Tusculanen, wenn er konstatiert, der Mensch sei „nicht aus Stein geboren, vielmehr sei in seiner Seele von Natur aus etwas Zartes und Weiches“ (Tusc. III,12: „non enim e silice nati sumus, sed est naturale in animis tenerum quiddam atque molle“).

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nicht schlecht genug, um uns auf stoische Art schlecht befinden zu müssen!“ (KSA 3: 554). Auch in nachgelassenen Fragmenten distanziert sich Nietzsche entschieden von „der Unempfindlichkeit“ der „Stoiker“; er selbst favorisiert eine spannungsreiche Ambivalenz: „Man muß den Gegensatz in sich haben – die zarte Empfindung und die Gegenmacht, nicht zu verbluten“ (KSA 11: 277), also sowohl Sensibilität als auch Selbstschutzmechanismen. Im 12. Aphorismus seiner Schrift Die frçhliche Wissenschaft, der den Titel „Vom Ziele der Wissenschaft“ trägt, setzt sich Nietzsche mit der Lust-Unlust-Korrelation auseinander. Kritisch beleuchtet er hier das Vorurteil, das „letzte Ziel der Wissenschaft“ bestehe darin, „dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen“ (KSA 3: 383). Diese Vorstellung kontrastiert Nietzsche zunächst nur hypothetisch mit einer Denkalternative, die er dann allerdings als seine eigene Position kenntlich macht: „Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, dass, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst viel von der andern haben muss“ (KSA 3: 383). Unter dieser Prämisse sind die Extreme „Himmelhoch-Jauchzen“ und „zum-Tode-betrübt“ jeweils korrelativ zu denken. Daß Nietzsche selbst zu dieser Einschätzung tendiert, zeigt bereits seine Feststellung: „Und so steht es vielleicht!“ (KSA 3: 383).35 Mit dieser These begibt sich Nietzsche zugleich in eine Affinität zu stoischen Überzeugungen, die er „consequent“ in der Maxime formuliert sieht, „möglichst wenig Lust“ anzustreben, „um möglichst wenig Unlust vom Leben zu haben“ (KSA 3: 383). Das Verhältnis von Lust und Unlust soll demnach so austariert werden, daß sich das Leiden auf ein Minimum beschränkt. Die zweite Hälfte des Aphorismus macht schließlich evident, daß Nietzsche nicht bloß eine Hypothese formuliert, sondern dezidiert seine eigene Überzeugung vertritt. Denn im Hinblick auf die conditio humana, die trotz des historischen Wandels in der Abfolge der Epochen konstant geblieben ist, entwirft er die folgende Alternative: „Auch heute noch habt ihr die Wahl: entweder mçglichst 35 Aufschlußreich ist auch eine autobiographische Feststellung. Nietzsche teilt seinem Freund Erwin Rohde am 8. Dezember 1875 in einem Brief mit, daß er sich „eigentlich wundere, wie schwer es sich doch lebt. Es scheint sich doch nicht zu lohnen, diese ganze Quälerei, man nützt weder sich noch anderen im Verhältniß zu der Noth, die man sich und andern auflegt! Dies ist die Meinung eines Menschen, der gerade nicht von den Leidenschaften gepeinigt wird – freilich auch nicht von ihnen beglückt wird“ (Briefe [Anm. 1], Bd. 5: S. 125 – 126).

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wenig Unlust, kurz Schmerzlosigkeit […] oder mçglichst viel Unlust als Preis für das Wachsthum einer Fülle von feinen und bisher selten gekosteten Lüsten und Freuden!“ (KSA 3: 383 – 384). Die Entscheidung für exklusive Genüsse, in der sich bereits Nietzsches ambivalente Faszination durch die Décadence abzeichnet, setzt zugleich also eine entsprechende Leidensfähigkeit voraus. Besondere Sensibilität eröffnet den avantgardistischen Erforschern des menschlichen Gefühlspotentials ein weites Spektrum positiver und negativer Emotionen. Obwohl Nietzsche die Überzeugung von der notwendigen Korrespondenz von Lust und Unlust mit den Stoikern teilt, zieht er daraus gegenläufige Konsequenzen. In entschiedener Opposition zu stoischen Maximen betont er gerade das Defizitäre eines Lebensprinzips, das „Schmerzlosigkeit“ zum Ideal erhebt: Die Reduktion des Leidens vermindert zugleich auch die „Fhigkeit zur Freude“ (KSA 3: 384). Anders, als es gängige Vorurteile suggerieren, ist die Wissenschaft laut Nietzsche auf keine der beiden Optionen festgelegt. Denn mit ihr kann man „das eine wie das andere Ziel fördern“ (KSA 3: 384). Aus diesem Grund stellt er der verbreiteten Meinung, die Wissenschaft bringe „den Menschen um seine Freuden“, indem sie „ihn kälter, statuenhafter, stoischer“ mache36, die Utopie neuer Erlebnisweisen gegenüber. Seines Erachtens gilt es das ganze Spektrum der Gefühle auszuloten, das auch Extreme einschließt: tiefen Schmerz ebenso wie „neue Sternenwelten der Freude“ (KSA 3: 384). Diese Perspektive entspricht dem Selbstverständnis Nietzsches, der sich als „den ersten tragischen Philosophen“ definiert, weil er für sich beansprucht, erstmals die „Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos“ vollzogen zu haben (KSA 6: 312). Seines Erachtens gehört dazu wesentlich das „Jasagen zum Leben selbst noch in seinen […] härtesten Problemen“ und die Bereitschaft zu extremen Empfin36 Das Motiv der Statue verwendet Nietzsche auch, wenn er die „Versteinerung als Gegenmittel gegen das Leiden“ problematisiert: „Tugend fürderhin der Statue bei[zu]legen“, erscheint ihm geradezu als absurd: „Was ist es, eine Statue im Winter umarmen, wenn man gegen Kälte stumpf geworden ist? – was ist es, wenn die Statue die Statue umarmt!“ (KSA 9: 653). Und Nietzsches prononcierte Quintessenz lautet: „Diese Denkweise ist mir sehr zuwider: sie unterschätzt den Werth des Schmerzes (er ist so nützlich und förderlich als die Lust), den Werth der Erregung und Leidenschaft“ (KSA 9: 653). In seiner Abhandlung Zur Genealogie der Moral bringt Nietzsche eine „hypnotistische Gesammtdämpfung der Sensibilität, der Schmerzfähigkeit“ mit einem „intellektuellen Stoicismus“ in Verbindung (KSA 5: 382).

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dungen – im Bewußtsein „der eignen Unerschöpflichkeit“ (KSA 6: 312). In Ecce homo korreliert Nietzsche selbst den dionysischen Fatalismus seines Amor fati mit Heraklits Konzept einer Bejahung des permanenten Lebensprozesses, der Werden und Vergehen umfaßt (KSA 6: 312 – 313): Die Theorie vom „unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustra’s kçnnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum Mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon. –“ (KSA 6: 313). Mehrfach konstatiert Nietzsche, daß die Stoiker zentrale Konzepte Heraklits übernommen haben, allerdings – wie er meint – in simplifizierter Form.37 Bekanntlich differenzieren die Stoiker zwischen der Fortuna als der durch Zufälle bestimmten Oberflächenstruktur der Wirklichkeit und dem Fatum als der Tiefenstruktur naturgesetzlicher Notwendigkeit, die in kausaler Funktionalität die Welt durchwaltet und alles bestimmt.38 Stoischen Lehren zufolge kommt es darauf an, zwar der Fortuna Widerstand zu leisten39, aber das Fatum als vorherbestimmte Notwendig-

37 Vgl. dazu Nietzsches nachgelassene Notiz: „Die Stoiker haben Heraklit in’s Flache umgedeutet und mißverstanden“ (KSA 7: 456). Vgl. auch KSA 1: 833. Bertino ([Anm. 2], S. 115) weist auf die bereits von Chrysipp betonte und auch von Nietzsche hervorgehobene Inkompatibilität des Fatalismus mit der von den Stoikern vorausgesetzten Willensfreiheit hin, die Nietzsche durch ihre „ethische Kraft“ bedingt sieht (KSA 7: 454). 38 Zum gedanklichen Kosmos der stoischen Philosophie insgesamt vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprachund Moralphilosophie im altstoischen System. 2., erw. Aufl. Darmstadt 1995. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 2 Bde. Göttingen 1943/ 47. 4. Aufl. 1970. 39 Für die stoische Devise ,fortunae resistere‘ finden sich in der antiken Tradition zahlreiche Beispiele. Vgl. Seneca: De providentia IV,12: „Praebendi fortunae sumus, ut contra illam ab ipsa duremur“. („Wir müssen uns dem Schicksal stellen, um uns gegen es mit dessen Hilfe abzuhärten.“) In Epist. 66,6 rühmt Seneca die Seele, „die sich keinem Schicksal unterwirft, über alles, was vorfällt und eintrifft, erhaben ist“ („animus […] neutri se fortunae summittens, supra omnia quae contingunt acciduntque eminens“). Laut Epist. 76,21 liegt die virtus gerade in der Geringschätzung („contemptu“) der fortuna. In seiner Schrift De constantia sapientis (V,4) betont Seneca die Unabhängigkeit der virtus von der fortuna: „libera est, inviolabilis, immota, inconcussa“ („sie ist frei, unverletzlich, unveränderlich, unerschütterlich“). Vgl. zu diesem Themenkomplex auch den Aufsatz von Gerda Busch: Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca, in: Seneca als Philosoph, hg. von Gregor Maurach. 2. Aufl. Darmstadt 1987 (Wege der Forschung Bd. 414), S. 53 – 94. Zur Symbolfigur

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keit zu akzeptieren und ihm bereitwillig zu folgen. Dieses Prinzip bringen die berühmten Verse aus dem griechischen Zeushymnus des Stoikers Kleanthes prägnant zum Ausdruck, die Seneca in der lateinischen Übersetzung Ciceros wiedergibt: „Ducunt volentem fata, nolentem trahunt“.40 Deutliche Affinitäten zu dieser stoischen Maxime lassen die Verse erkennen, die Nietzsche in seiner Morgenrçthe zitiert: „Schicksal, ich folge dir! Und wollt’ ich nicht, j ich msst’ es doch und unter Seufzen thun!“ (KSA 3: 168). Mit seiner Auffassung, daß nicht nur die Kunst, sondern auch die Wissenschaft intensive Erlebnisqualitäten zu vermitteln vermag (KSA 3: 384), relativiert Nietzsche den Kontrast zwischen dem intuitiven Menschen, der zwischen extremen Emotionen changiert, und dem auf abstrakte Erkenntnis konzentrierten Typus des Wissenschaftlers, der tendenziell einen „intellektuellen Stoicismus“ kultiviert (KSA 5: 382), dabei aber durch Askese emotional verarmt. Diese Opposition bestimmt – wie gezeigt – bereits die Schlußpartie des frühen Essays Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne (KSA 1: 888 – 890). Sie reicht bis zu dem Gegensatz zwischen Künstlern und Wissenschaftlern, den Nietzsche in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral beschreibt: Im dritten Teil dieses Werkes, der den Titel „was bedeuten asketische Ideale?“ trägt, bezeichnet er die „Verarmung des Lebens“ und die Abkühlung der Affekte als physiologische Basis, die für die Wissenschaft und für „das asketische Ideal“ gleichermaßen charakteristisch sei (KSA 5: 403). Den Typus des Wissenschaftlers kontrastiert Nietzsche mit dem des kreativen Künstlers, für den eine Orientierung am asketischen Ideal geradezu „die eigentlichste Künstler-Corruption“ wäre (KSA 5: 403).41

der Fortuna vgl. Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Gçttin des Glcks im Wandel der Zeiten. München/Berlin 1997. 40 Seneca: Epist. 107, 11. 41 Mit Grundzügen der Décadence-Vorstellung, die Nietzsche bereits in der Geburt der Tragçdie entfaltet, korrespondiert der Gegensatz zwischen Wissenschaftler und Künstler in einem wichtigen Aspekt: Während Nietzsche die Kreativität des Künstlers durch das dionysische Lebensprinzip stimuliert sieht, hält er den Primat des Gelehrten-Typus für ein Charakteristikum von Décadence-Epochen, in denen die vitalen Energien, „die überströmende Kraft, die Lebens-Gewissheit, die Zukunfts-Gewissheit“ schon verloren gegangen sind (KSA 5: 403). Die bereits referierten Thesen Nietzsches legen die Einschätzung nahe, daß er in diesem Sinne auch den Stoizismus als ein Décadence-Symptom verstehen müßte – aufgrund von Affektabwehr und Apatheia-Ideal.

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II. Der radikalen Kritik am Stoizismus, die in Nietzsches Stellungnahmen dominiert, stehen Thesen gegenüber, die von subversiver Polemik weit entfernt sind. Zwar betrachtet er in einem nachgelassenen Notat von 1881 den „Stoicismus im gefassten Ertragen“ als „ein Zeichen gelähmter Kraft“, das einen „Mangel an Heroismus“ verrät (KSA 9: 600), aber ein Aphorismus der im selben Jahr publizierten Morgenrçthe läßt eine positivere Einstellung erkennen. Hier erklärt sich Nietzsche die „Heiterkeit des Stoikers“42 trotz des selbstverordneten „Ceremoniell[s]“ aus einer besonderen Selbsterfahrung: „er geniesst sich dabei als Herrschenden“ (KSA 3: 205). Vertieft wird dieses diagnostische Aperçu in einem Nachlaß-Fragment von 1880, in dem Nietzsche den Stoikern einen spezifischen Willen zur Macht attestiert: „Die Asketen erlangen ein ungeheures Gefühl von Macht; die Stoiker ebenfalls, weil sie sich immer siegreich, unerschüttert zeigen müssen“ (KSA 9: 151).43 Allerdings läßt das Modalverb ,müssen‘ auch an das Zwanghafte heroischer Selbstinszenierung und damit an die Problematik des Maskenhaft-Unauthentischen denken, die Nietzsche im Zusammenhang mit stoischer Ataraxia betont (KSA 1: 890, KSA 3: 606). Besonders auffällig wird die moderatere Beurteilung des Stoizismus dort, wo Nietzsche ihn in eine charakteristische Beziehung zum Konzept des ,freien Geistes‘ bringt. Erstaunlicherweise findet sich in seiner Schrift Jenseits von Gut und Bçse sogar der identifikatorische Appell: „bleiben wir hart, wir letzten Stoiker!“ (KSA 5: 162). Aufschlußreich ist der argumentative Kontext dieser überraschend positiven Bewertung des Stoizismus. Ebenfalls in Jenseits von Gut und Bçse reflektiert Nietzsche über die „Philosophen der Zukunft“, als deren Vorläufer er sich selbst und die anderen ,freien Geister‘ seiner Gegenwart betrachtet (KSA 5: 60). Unter den Prämissen einer geistesaristokratischen Herrenmoral grenzt er sich nachdrücklich vom Habitus demokratisch gesonnener „Nivellirer“ ab. Er polemisiert gegen die „Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner ,modernen Ideen‘“, die das Ziel 42 Seneca betont in seinen Epistulae morales, der Weise sei „erfüllt von Freude, heiter und friedlich, unerschütterlich“ (Epist. 59,14: „sapiens ille plenus est gaudio, hilaris et placidus, inconcussus“). 43 Gerade im Hinblick auf einen solchen Machtanspruch unterscheiden sich die Stoiker fundamental von den Epikureern, die „das Glück nicht im Gefühl der Macht über sich“ finden, sondern im Gefühl „der Furchtlosigkeit in Hinsicht auf Götter und Natur“ (KSA 9: 151).

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verfolgen, „Gleichheit der Rechte“, Mitleidsmoral und „Erleichterung des Lebens für Jedermann“ zu verwirklichen, um auf diese Weise „das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde“ zu sichern (KSA 5: 61). In entschiedener Distanz zu Mitleidspostulaten und damit in deutlicher Affinität zu den Stoikern und zu Kant44 plädiert Nietzsche 44 Mit seiner Mitleidskritik stellt sich Nietzsche in eine Tradition, die außer den Lehren der Stoiker auch die Positionen Spinozas und Kants umfaßt. Zugleich distanziert er sich von Mitleidskonzepten Rousseauscher oder Schopenhauerscher Prägung. In seiner Morgenrçthe schreibt er: „Das Mitleiden, sofern es wirklich Leiden schafft […], ist eine Schwäche, wie jedes Sich-verlieren an einen schdigenden Affect. Es vermehrt das Leiden in der Welt“ (KSA 3: 127 – 128). – Auffällig ist die implizite Affinität zu einer Formulierung Kants in der Metaphysik der Sitten. Kant nimmt affirmativ auf die Mitleidskritik der Stoiker Bezug: Seines Erachtens trägt ohnmächtiges Mitleid angesichts fremden Schmerzes dazu bei, „die Übel in der Welt zu vermehren“ (Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Nachdruck der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Berlin 1968. Bd. VI: S. 457). Kant erläutert seine Auffassung folgendermaßen: „Es war eine erhabene Vorstellungsart des Weisen, wie ihn sich der Stoiker dachte, wenn er ihn sagen ließ: ich wünsche mir einen Freund, nicht der mir in Armuth, Krankheit, in der Gefangenschaft u. s. w. Hülfe leiste, sondern damit ich ihm beistehen und einen Menschen retten könne; und gleichwohl spricht eben derselbe Weise, wenn sein Freund nicht zu retten ist, zu sich selbst: was gehts mich an? d. i. er verwarf die Mitleidenschaft. In der That, wenn ein Anderer leidet und ich mich durch seinen Schmerz, dem ich doch nicht abhelfen kann, auch (vermittelst der Einbildungskraft) anstecken lasse, so leiden ihrer zwei; obzwar das Übel eigentlich (in der Natur) nur Einen trifft. Es kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren, mithin auch nicht aus Mitleid wohl zu thun; wie dann dieses auch eine beleidigende Art des Wohlthuns sein würde […]“ (ebd.). – Cicero und Seneca propagieren das Ideal der Leidenschaftslosigkeit und formulieren unter dieser Prämisse ausdrücklich auch Vorbehalte gegenüber einer Affektion durch Mitleid. Cicero schreibt, dem Weisen sei sowohl Neid als auch Mitleid fremd. Vgl. Tusc. III,21: „non cadit autem invidere in sapientem; ergo ne misereri quidem. […] abest ergo a sapiente aegritudo.“ In Tusc. IV,59 empfiehlt Cicero Heilmethoden gegen verschiedene Arten von Leidenschaften oder Kummer, auch gegen das Mitleid („alia est enim lugenti, alia miseranti aut invidenti adhibenda medicina“). Auch Seneca formuliert Vorbehalte gegenüber dem Mitleid. Vgl. Seneca: De tranquillitate animi XV,5: „alienis malis torqueri aeterna miseria est“ („sich von fremdem Unglück quälen zu lassen, ist endloses Elend“). Vgl. auch XVI,4. In seiner Schrift De clementia 2,6 wendet sich Seneca gegen das Mißverständnis, die stoische Ablehnung des (pathologischen) Mitleid-Affekts sei Hartherzigkeit. – Schopenhauer grenzt sich unter dem Aspekt des Mitleids von den Vorstellungen der „Stoiker (Seneca, ,De clementia‘ 2,5)“ sowie von Spinoza und Kant ab, die „das Mitleid geradezu verwerfen und

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nachdrücklich für andersartige Strategien, um die Höherentwicklung der menschlichen Gattung zu fördern. Unter Berufung auf historische Erfahrungen favorisiert er sogar die „umgekehrten Bedingungen“: Gefährliche Lebenskonstellationen sowie anhaltender „Druck und Zwang“ erscheinen ihm als optimale Voraussetzungen dafür, daß sich der menschliche „Geist […] in’s Feine und Verwegene entwickeln“ kann (KSA 5: 61). Als kulturell produktiv betrachtet Nietzsche ein Spektrum unterschiedlicher Einflußfaktoren: „Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art“ sowie „alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte“ (KSA 5: 61). Die Konstellation, die Nietzsche als ideal für eine „Erhöhung der Species ,Mensch‘“ ansieht (KSA 5: 62), läßt an das physikalische Prinzip eines Dampfkessels denken, der durch großen Druck explosive Kräfte zuerst aufstaut und dann kontrolliert freisetzt. Ein sozialpsychologisches Profil verleiht Nietzsche seiner These in einer späteren Passage seiner Schrift Jenseits von Gut und Bçse. Von einer generellen Charakterisierung der Moral ausgehend, formuliert er Einschätzungen, die er dann auch konkret auf „den Stoicismus“ bezieht (KSA 5: 108). Wie bereits gezeigt, verwendet Nietzsche den Begriff ,Tyrannei‘ dort pejorativ, wo er das stoische Prinzip naturgemäßen Lebens ad absurdum zu führen versucht (KSA 5: 21 – 22). Aber in Abschnitt 188 von Jenseits von Gut und Bçse ist der Begriff ,Tyrannei‘ überraschenderweise anders konnotiert: „Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die ,Natur‘, auch gegen die ,Vernunft‘: das ist aber noch kein Einwand gegen sie“, es sei denn, man würde von „irgend einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei“ (KSA 5: 108).45 Vor dem Hintergrund von Nietzsches prononcierter Moralkritik überrascht vor allem seine Aussage: „Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist“ (KSA 5: 108). Er exemplifiziert diese These zunächst mit dem „Stoicismus“ und dem tadeln“ (Kl. Schr. 781). Er selbst knüpft mit seiner Mitleidsethik ausdrücklich an Rousseaus Konzepte an (ebd.). 45 Gerade eine solche moralphilosophische Metaebene verwirft Nietzsche selbst schon in der Morgenrçthe, wenn er die Behauptung, „die Moral des Mitleidens sei eine höhere Moral, als die des Stoicismus’“, mit der Prämisse des Perspektivismus konfrontiert: „es giebt keine absolute Moral“, sondern nur eine Pluralität unterschiedlicher „Maassstäbe“ (KSA 3: 131), auf deren adäquate Auswahl und Anwendung es jeweils ankommt.

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„Puritanerthum“ (KSA 5: 108), um dann sogar Affinitäten zwischen Ethik und Ästhetik festzustellen. An einen recht spekulativen Analogieschluß von poetischen Strukturen46 auf moralische Prinzipien schließt Nietzsche eine Generalisierung an, die ein weites Spektrum von Lebens- und Kulturbereichen einbezieht: Im Hinblick auf das „Denken selbst“ sowie auf Politik, Rhetorik, Kunst und Moral glaubt er die These vertreten zu können, daß „Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz“ und meisterhafte Souveränität in sämtlichen Kultursphären „sich erst vermöge der ,Tyrannei solcher Willkür-Gesetze‘ entwickelt hat“ (KSA 5: 108).47 Das entscheidende Kriterium für dieses Tertium comparationis scheint im Prinzip einer Fokussierung von Energien zu liegen. Laut Nietzsche ist es von fundamentaler Bedeutung, „dass lange und in Einer Richtung gehorcht werde“ (KSA 5: 108 – 109). In diesem Sinne betrachtet er sogar die selbstauferlegte „Zucht“ von Systemphilosophie und Theologie (trotz seiner Vorbehalte ihnen gegenüber) als probate Mittel intellektueller Entfaltung. Denn durch sie wurden „dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet“ (KSA 5: 109).48 Nicht einmal angesichts der gravierenden Folgeschäden, die sich aus der „Sklaverei“ als Voraussetzung „der geistigen Zucht und Züchtung“ (KSA 5: 109) ergeben, sieht sich Nietzsche zur Modifikation seiner Thesen veranlaßt. So entwirft er in Abschnitt 188 der Schrift Jenseits von Gut und Bçse eine komprimierte Genealogie der Kulturgeschichte in nuce, in der „Unfreiheit“ dialektisch in „Freiheit“ umschlägt und sogar die „grandiose Dummheit“ des „strengsten Nachdenkens“ wider Erwarten zur Erzieherin des Geistes werden kann (KSA 5: 108 – 109). Diese geradezu paradox anmutende Genese aller schöpferischen Kulturleistungen aus Zwang und Tyrannei, die hier als Medium intellektueller Differenzierung bis hin zur Kreativität fungieren sollen, 46 Am Beispiel der „Tyrannei von Reim und Rhythmus“ oder Metrum versucht Nietzsche die kulturschaffende Funktion des Zwangs zu zeigen, „unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht“ hat (KSA 5: 108). 47 Gerade darin und nicht etwa im allgemeinen Laisser-aller erblickt Nietzsche sogar das, was ,Natur‘ und ,Natürlichkeit‘ eigentlich konstituiert (KSA 5: 108). 48 Mit psychologischem Scharfblick stellt Nietzsche fest, daß auch der Zustand künstlerischer „Inspiration“ von einem „Gefühl des Sich-gehen-lassens“ weit entfernt ist, daß vielmehr gerade hier „das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten“ nur dadurch möglich wird, daß der Künstler „streng und fein […] tausendfältigen Gesetzen gehorcht“ (KSA 5: 108).

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schließt auch den ,freien Geist‘ ein. Daß Nietzsche ihn nach den Prämissen stoischer Disziplin modelliert, zeigen markante Analogien in seinen Reflexionen. Die Textpartie, in der er das „Gewaltsame“ als „das Mittel“ zur „Züchtung“ des Geistes, als Ursprung seiner Stärke, Beweglichkeit und „rücksichtslose[n] Neugierde“ beschreibt (KSA 5: 109), korrespondiert mit Aussagen über den ,freien Geist‘. Sie finden sich ebenfalls in der Schrift Jenseits von Gut und Bçse und vermitteln den Eindruck, daß sich in der Radikalität der ,freien Geister‘ das „Gewaltsame“ ihrer Genese widerspiegelt (KSA 5: 109). Nietzsche charakterisiert die „freien Geister“ nämlich als „neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit“, als zu „jedem Wagniss“ bereite „Erobernde“ (KSA 5: 62), die ihre Lust zu vorurteilsfreiem Experimentieren49 mit äußerster Radikalität bis zur Vivisektion ihrer selbst steigern können: „wir experimentiren mit uns […] und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf“ (KSA 5: 357).50 Sogar physiologische Metaphern aus dem Bereich der Digestion setzt Nietzsche ein, um die Robustheit der ,freien Geister‘ zu betonen: Er sieht sie mit „Zähnen und Mägen für das Unverdaulichste“ ausgestattet (KSA 5: 62). Diese Bildlichkeit legt eine Retrospektive auf den oben bereits analysierten Aphorismus „Stoiker und Epikureer“ nahe, in dem Nietzsche ironisch das disziplinierte Anästhesierungstraining der Stoiker beschreibt: Sie üben sich, wahllos „Steine und Gewürm, Glassplitter und Skorpionen zu verschlucken“, um den Magen 49 In seiner Schrift Die frçhliche Wissenschaft betrachtet Nietzsche „das Leben“ als „ein Experiment des Erkennenden“ (KSA 3: 552). Und in Jenseits von Gut und Bçse fordert er sogar „Artisten der Zerstörung und Zersetzung“ mit der „Skepsis der verwegenen Männlichkeit“, die über die „Tapferkeit und Härte der zerlegenden Hand“ verfügen und von einem „Wille[n] zu gefährlichen Entdeckungsreisen“ angetrieben sind (KSA 5: 141). Schon in Menschliches, Allzumenschliches erklärt Nietzsche programmatisch, „das gefährliche Vorrecht […], auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen“, sei „das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes“ (KSA 2: 18). Und in der Morgenrçthe heißt es: „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“ (KSA 3: 274). Im selben Werk schreibt er an späterer Stelle: „Wir haben den guten Muth zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert – […]. Wir dürfen mit uns selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich!“ (KSA 3: 294). Laut Nietzsche könnte „ein Jahrhunderte langes Experimentiren […] alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen“ (KSA 3: 380). 50 Ausdrücklich empfiehlt Nietzsche: „treibt Vivisektion […] an euch!“ (KSA 5: 153).

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„gleichgültig gegen Alles“ zu machen (KSA 3: 544), vor allem gegen jede Konfrontation mit negativen Erfahrungen, die durch die unkalkulierbare Fortuna bedingt sind. Schon die metaphorischen Beschreibungen lassen Analogien zwischen dem stoischen Ethos der Selbstdisziplinierung und Nietzsches Konzeption des ,freien Geistes‘ erkennen. In seiner Schrift Jenseits von Gut und Bçse bringt er die Stoiker sogar ausdrücklich in eine Affinität zu den ,freien Geistern‘. Um die Redlichkeit als Fundamentaltugend der „freien Geister“51 zu „vervollkommnen“ und gegen die Gefahr von Müdigkeit, Laxheit und Laisser-aller zu schützen, empfiehlt Nietzsche eine stoische Strenge und Selbstdisziplin. Bereits am Anfang von Abschnitt 227 verwendet er die emphatische Selbstapostrophe „wir freien Geister“, um wenig später mit identifikatorischem Pathos einen Appell zu formulieren, der an den stoischen Topos der Selbstermahnung erinnert: „bleiben wir hart, wir letzten Stoiker!“ (KSA 5: 162). Mit dieser überraschenden Pointe konterkariert Nietzsche seine eigene Opposition gegen den Stoizismus. Sein Rückgriff auf den stoischen Appell ad se ipsum52 steht im Gegensatz zu der Kritik, die er am Stoizismus übt, wenn er die Gefahr emotionaler Verarmung bis zur „Bildsäulenkälte“ (KSA 5: 118), die drohende Einbuße an intellektueller Sensibilität und eine Tendenz zur Hybris betont. Die positive Bewertung des stoischen Ethos, die Nietzsche in Jenseits von Gut und Bçse trotz seiner gravierenden Vorbehalte formuliert, hat weitreichende Konsequenzen – auch für den Naturbegriff. Zwar versucht er das stoische Ideal eines naturgemäßen Lebens in Abschnitt 9 derselben Schrift noch ad absurdum zu führen, indem er auf die Maßlosigkeit und Indifferenz der Natur hinweist (KSA 5: 21). In Abschnitt 188 aber läßt Nietzsche seine Darlegungen zur Tyrannei als Wachstumsstimulans und als Medium zur Ausdifferenzierung und Sensibilisierung des Geistes sogar in einen „moralische[n] Imperativ der 51 Vgl. dazu Nietzsches Schrift Zur Genealogie der Moral: Die ,freien Geister‘ sind die „Verneinenden und Abseitigen von Heute, diese Unbedingten in Einem, im Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit, diese harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister, welche die Ehre unsrer Zeit ausmachen, […] diese Skeptiker, […] diese letzten Idealisten der Erkenntniss, in denen allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt“ (KSA 5: 398 – 399). 52 Paul Flemings Sonett An sich ist symptomatisch für die Stoizismus-Rezeption im Barock. Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett „An sich“. In: Daphnis 31, 2002, S. 235 – 254.

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Natur“ münden (KSA 5: 110); damit grenzt er sich zugleich von Kants kategorischem Imperativ ab.53 Apodiktisch formuliert Nietzsche: „Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst“ (KSA 5: 110). Dieser Appell irritiert durch zwei Provokationen: erstens durch das Insistieren auf der Notwendigkeit des Gehorsams, unabhängig davon, ob der Herrschende auch des Gehorsams würdig ist, und zweitens durch die Zumutung, daß ausgerechnet in kontinuierlichem Gehorsam, also in Heteronomie, sogar die Selbstachtung begründet sein soll. Dieser vom Anspruch auf autonome Selbstverwirklichung weit entfernte „moralische Imperativ der Natur“ läßt sich erst dann besser nachvollziehen, wenn man die Prämissen Nietzsches genauer betrachtet: „allzugrosse Freiheit“ (KSA 5: 109), so argumentiert er, führe zu geistiger Diffusion, also zu einer unkreativen, für die Weiterentwicklung der menschlichen Gattung hinderlichen Verfassung. Nur innere Formierung könne hier Abhilfe schaffen: nämlich eine Konzentration, die zur Bündelung der Energien führt, und zwar durch „Verengerung der Perspektive“ (KSA 5: 110). So kann sich eine kluge Beschränkung des geistigen Aktionsradius sogar als ideale „Lebens- und WachsthumsBedingung“ erweisen (KSA 5: 110). Betrachtet Nietzsche in Abschnitt 188 seiner Schrift Jenseits von Gut und Bçse ein solches Spannungsfeld als Voraussetzung intellektueller Entwicklung, so betont er im folgenden Abschnitt 189 komplementäre Wirkungszusammenhänge anderer Art: Gerade in Gesellschaften mit einem dominierenden Arbeitsethos sind festgelegte Zeiten für Muße und Laissez-faire notwendig, um die Arbeitslust immer wieder neu zu stimulieren. Diese Auffassung, die mit Aussagen Senecas korrespondiert54, begründet Nietzsche folgendermaßen: „Die arbeitsamen Rassen 53 In einer Notiz von 1884 reflektiert Nietzsche die Bedeutung des Imperativs: „,Du sollst‘ – unbedingter Gehorsam bei Stoikern, in den Orden des Christenthums und der Araber, in der Philosophie Kant’s (es ist gleichgültig, ob einem Oberen oder einem Begriff). Höher als ,du sollst‘ steht ,ich will‘“ (KSA 11: 105). – In seiner Schrift Menschliches, Allzumenschliches skizziert Nietzsche eine philosophische Traditionslinie, indem er den „Moralismus Kant’s“ und „Schiller’s“ auf die „Wiederauferstehung des stoisch-grossen Römerthums“ zurückführt; er betont, auch Kant selbst habe auf diese Wurzeln seiner Ethik in Konzepten Rousseaus und im „wiedererweckten stoischen Rom“ wiederholt hingewiesen (KSA 2: 651). 54 In seiner Schrift De tranquillitate animi (XVII,5 – 8) betont Seneca die Bedeutung der Muße („otium“) zur Kräftigung der Seele (XVII,8): „Danda est animis

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finden eine grosse Beschwerde darin, den Müssiggang zu ertragen“; so wird die Verpflichtung, „den Sonntag […] zu heiligen und zu langweiligen“, zu einer Art „klug eingeschalteten Fastens“, das den Menschen wieder „nach seinem Wochen- und Werktage lüstern“ macht (KSA 5: 110). Entsprechendes gilt für Fastenzeiten aller Art, durch die „ein Trieb in Ketten gelegt wird und wieder einmal hungern lernt“ (KSA 5: 110). Derartige Selbstkasteiung hat eine produktive Katharsis zur Folge, durch die der Trieb „sich reinigen und schrfen lernt“ (KSA 5: 110). Im Kontext dieser Argumentation, die eine Erweiterung kreativer Möglichkeiten aufgrund bewußter Einschränkung behauptet, erhält der Stoizismus eine neue kulturschöpferische Funktion. Denn Nietzsche ordnet „die Stoa inmitten der hellenistischen Cultur und ihrer mit aphrodisischen Düften überladenen und geil gewordenen Luft“ (KSA 5: 110) ausdrücklich in dieses Spannungsfeld ein, das den Menschen zwischen unterschiedlichen Optionen schwanken läßt. An einer exemplarischen Konstellation zeigt er mithin die kompensatorische Funktion und den therapeutischen Nutzen, die einem „moralischen Fanatismus“ stoischer Provenienz (KSA 5: 110) gerade unter den spezifischen kulturellen Rahmenbedingungen einer dekadenten libidinösen Enthemmung zukommen können. Analoge Zielsetzungen verfolgt Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment von 1888. Hier differenziert er zwischen einer „Moral, mit der sich der gesund gebliebene Instinkt gegen die beginnende décadence wehrt“, und einer „andere[n] Moral“, die zur Selbstlegitimation ebendieser décadence dient: Während die erstere „stoisch, hart, tyrannisch zu sein“ pflegt, ist die letztere „schwärmerisch, sentimental, voller Geheimnisse“ (KSA 13: 422).55 Nietzsches Präferenz für den stoischen remissio: meliores acrioresque requieti surgent […]“ („Der Seele muß man Entspannung gewähren: nach der Ruhe wird sie sich besser und leidenschaftlicher erheben“: XVII,5). Schon Seneca weist auf die Funktion festgelegter Pausen und Festtage hin, die für einen stimulierenden Rhythmus von Arbeit und Entspannung sorgen (XVII,7: „Legum conditores festos instituerunt dies ut ad hilaritatem homines publice cogerentur, tamquam necessarium laboribus interponentes temperamentum“). 55 In einem anderen Nachlaßfragment differenziert Nietzsche zwischen zwei divergierenden „décadence-Bewegungen“: der „üppige[n], […] prunk- und kunstliebende[n] décadence“ einerseits und der „stoische[n] Selbst-Verhärtung“ andererseits (KSA 13: 169). Wenn er letztere mit der „platonische[n] SinnenVerleumdung“ korreliert, die dem Christentum den Boden bereitete (ebd.), dann setzt er durch den Hinweis auf einen dekadenten Vitalitätsmangel auch

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Moraltypus erhellt schon aus dem nostalgischen Pathos des bereits zitierten Appells: „bleiben wir hart, wir letzten Stoiker!“ (KSA 5: 162). Ein positives Urteil über den Stoizismus kommt noch in einem weiteren Nachlaß-Fragment zum Ausdruck, in dem Nietzsche der Herdenmoral des Christentums die „Aristokratie des Individuums“ im „Stoicismus“ entgegenhält (KSA 11: 432). Die stoische Formierung des Menschen, die von einem Ethos energischer Disziplin, ja sogar „Selbst-Tyrannei“ (KSA 5: 22) bestimmt ist, fungiert nicht nur als unentbehrliches Movens der Kulturentwicklung, sondern erhält – angesichts drohender Décadence – auch eine wichtige Stabilisierungsfunktion. Trotz aller Vorbehalte, die Nietzsche formuliert, indem er das Ideal der Ataraxie pejorativ als vordergründige Legitimation für unauthentische Selbstinszenierungen von PseudoHeroen versteht, und trotz seiner Warnung vor emotionaler Erstarrung in stoischer „Bildsäulenkälte“ (KSA 5: 118) betrachtet er den Stoizismus gerade angesichts dekadenter Neuropathie und affektiver Überreizung auch als Therapeutikum.

einen kritischen Akzent. Im Hinblick auf die Relation zwischen Stoizismus und Décadence changieren Nietzsches Thesen zwischen unterschiedlichen Positionen: Die Wissenschaft und das „asketische Ideal“ setzen eine „gewisse Verarmung des Lebens“ voraus (KSA 5: 403).

VII. Stoische Anthropologie im kulturellen Spektrum des 20. Jahrhunderts

Vom Überleben in heillosen Zeiten. Stoizismus in der Weltliteratur vom Fin de siècle bis zur Gegenwart von Frank Pauly „Lçsch aus das licht Marc gute nacht…“ (Zbigniew Herbert)

„Also nichts mehr von Cato jetzt!“1 Mit diesen Worten Pia Laudins an ihre Tochter, die fünfzehnjährige Marlene, scheint das Urteil des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der Ideale der Stoa gefällt zu sein. In Jakob Wassermanns Roman Laudin und die Seinen (1925) hatte Marlene, über ihre Hausaufgaben gebeugt, kurz zuvor mehr als bloß skeptisch gezetert: Dieser Cato, Mutter, ist das unleidlichste Ekel unter der Sonne […]. Ich kann ihn nicht ausstehen mit seiner Tugend. Streng! Ein Heuchler ist er in meinen Augen. Solche Leute hat es doch nur gegeben, um die Anständigkeit in Verruf zu bringen.2

In der Tat ist der Stoizismus vielen Autoren des 20. Jahrhundert keine empfehlenswerte Philosophie mehr. Als Felix, der Protagonist von Arthur Schnitzlers Novelle Sterben (1895), mit der Diagnose konfrontiert wird, binnen Jahresfrist sterben zu müssen, besteht eine seiner Strategien, mit der Situation souverän umzugehen, darin, sich den Habitus der Stoiker zu eigen zu machen, d. h. „sich erst zur völligen Lebensverachtung durch[zu]ringen, um dann, der stummen Ewigkeit ruhig entgegensehend, wie ein Weiser seinen letzten Willen aufzuzeichnen.“3 In dieser Haltung werde er „den gewissen Tag in Heiterkeit erwarten“.4 Er erfreut sich zunächst daran, „daß er es durch seinen Willen dazu gebracht hatte, so gleichgültig zu sein“.5 Doch zunehmend 1 2 3 4 5

Wassermann: Laudin und die Seinen, Berlin 1928, S. 11. Ebd., S. 10. Schnitzler: Sterben, hg. von Hee-Ju Kim, Stuttgart 2006, S. 28. Ebd., S. 37. Ebd., S. 50.

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gerät dieser therapeutische Stoizismus mitsamt prophylaktischer Endzeit-Heiterkeit ins Wanken, so daß Felix schließlich verbittert alle entsprechenden philosophischen Bewältigungsversuche, wie sie von Sokrates bis Nietzsche formuliert wurden, als Pose und Komödie abtut: „Das Leben verachten, wenn man gesund ist wie ein Gott, und dem Tod ruhig ins Auge schauen, wenn man in Italien spazieren fährt, – das nenn’ ich ganz einfach Pose. […] Mich widert’s geradezu an. Alle sind sie Poseure!“6 Milder, wenn auch nicht weniger skeptisch, ist der analoge Vorbehalt W.H. Audens gegenüber der Stoa: Wie sehr man auch den stoischen Gestus antiker Autoren schätze, so seien es doch eigentlich nur die vom Schicksal begünstigten jungen Menschen, die die Chuzpe hätten, entsprechende Töne anzuschlagen.7 Ebenfalls allzu hehren Tugend-Idealen gegenüber argwöhnisch bleibt auch – gemäß seinem Motto „Die großen Männer sollte man ehren / Aber man sollte ihnen nicht glauben“8 – Bertolt Brecht, wenn er in seinem Gedicht Verurteilung antiker Ideale (1943) den Stoizismus „unerschütterter Greise“ sowie deren „klagloses Ertragen vermeidbarer Leiden“ als konterrevolutionären „Stumpfsinn der Größe vergangener Zeiten“ geißelt.9 Und geradezu verstörend wirkt es, wenn Albert Camus’ Caligula (1938) ganz nebenbei vorexerziert, wie sogar stoische Maximen pervertierbar sind, falls sie von falscher Seite interpretiert werden: Daß es reicht, „sein Herz zu verhärten“, um „ein Gott zu werden“10, daß man sich daneben auch „seinem Schicksal rückhaltlos überlassen“11 mag, um die absolute Freiheit zu erhalten, ist verbaliter reinste Stoa. Jedoch ist es nun ein sadistischer Tyrann, der solches zu seinem Credo erhebt: „Was ich am meisten bewundere, ist meine Fühllosigkeit“, bekennt Caligula inmitten seiner Grausamkeiten und führt damit stoische Werte auf bestialische Weise ad absurdum. „Die große Leere […], in der das Herz Ruhe 6 Ebd., S. 65. 7 „Yet however much we may like / The stoic manner in which / The classical authors wrote, / Only the young and the rich / Have the nerve or the figure to strike / The lacrimae rerum note“ (Auden: A Walk after Dark (1948), in: Collected Poems. Ed. by Edward Mendelson, London 1991, S. 345 f., dort S. 346). 8 Brecht: Die Gedichte, hg. von Jan Knopf, Frankfurt/Main 2000, S. 538. 9 Ebd., S. 1024 f. 10 Camus: Caligula II,2. In: Dramen, übersetzt von Guido G. Meister, Hamburg 23 2006, S. 51. 11 Ebd. II,2, S. 54.

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findet“12, ist nicht Ziel philosophischer Selbstdisziplinierung, sondern Ausgangspunkt inhumaner Praxis. Marie Luise Kaschnitz’ Erzählung Die Fße im Feuer (1964) nimmt das stoische Ideal absoluter Apatheia beim Wort und demonstriert drastisch die mit radikaler physischer wie psychischer Schmerzunempfindlichkeit einhergehenden selbstzerstörerischen Konsequenzen: Ihre Protagonistin verbrennt bei lebendigem Leibe, in ihrer Hand „ein Fetzen Papier, auf dem das Wort Liebe steht.“13 Und Martin Walser schließlich läßt in seinem Monodrama Nero lßt grßen, oder Selbstportrt des Knstlers als Kaiser (1989) Seneca als opportunistischen „Oberheuchler“14 verspotten, dessen Stoizismus hinter seinen privaten Interessen zurückstehen mußte: Seneca ist schuld. Ja, ja, ja, ja! Millionen verdient als mein Lehrer. Gelernt ist nichts. Doch. Daß man nichts lernen kann, das habe ich gelernt. Dieser Stoikerschwindel. Meine Mutter gab mir Seneca als Lehrer, weil sie ihn durchschaut hatte. Öffentlich predigt er heroisch finsteren Quatsch, privat ging’s nur ums klingende Geld. Ja, um Unsterblichkeit, ich weiß! Da man aber von der Unsterblichkeit, weil man ja tot ist, nichts hat, muß man sich schon bei Lebzeiten wahnsinnig bezahlen lassen. Für spätere Unsterblichkeit. Seneca wurde wütend, wenn ich sagte, seiner Philosophie nach müßte er weniger verdienen. So ein Philosoph, und weiß nicht, daß etwas, wofür man Geld kriegt, seinen Wert verliert! Seneca hielt mich für negativ. Stimmt überhaupt nicht.15

Gleichzeitig jedoch zeigen viele Autoren des 20. Jahrhunderts eine ausgesprochene Affinität zur Stoa und evozieren deren Gedankengut als Orientierungshilfe in dunklen Zeiten drohenden Sinnverlusts. So konturiert der von jeher mit der Stoa auf vertrautem Fuße stehende Wilhelm Raabe noch in seinem Spätwerk viele Protagonisten vor der Blaupause des Stoizismus16 ; und Maurice Maeterlinck zeigt bis in seine naturkundlichen, stark pantheistisch inspirierten Studien über das Leben der Bienen, Termiten und Ameisen eine deutliche Nähe zu ratiomor-

12 Ebd. IV,14, S. 72. 13 Kaschnitz: Die Fße im Feuer, in: Gesammelte Werke, hg. von Christian Büttrich und Norbert Miller, Frankfurt/Main 1981 – 89, Band 4, S. 507 – 520, dort S. 520. 14 Walser: Nero lßt grßen, oder Selbstportrt des Knstlers als Kaiser, Eggingen 1989, S. 24. 15 Ebd., S. 12. 16 Etwa im resignativen Weltabgeschiedenheits-Habitus der Akten des Vogelsangs (1896) sowie in der nostalgischen Retrospektive von Altershausen (1899/1900).

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phen Naturvorstellungen und Idealen der Stoa.17 John Galsworthy verfaßt 1916 die Erzählung A Stoic; in den 20er und 30er Jahren entwickelt Fernando Pessoas Heteronym ,Ricardo Reis‘ einen stoischen Neopaganismus als Alternative zum Christentum, während ,Baron von Teive‘, ein anderes Heteronym, die seinem Selbstmord vorausgehenden Aufzeichnungen unter dem Titel Die Erziehung zum Stoiker in der Schublade eines Hotelzimmers deponiert. 1945 tauft Theodore Dreiser den Abschlußband seiner Roman-Trilogie über einen Finanzier The Stoic. Marguerite Yourcenar läßt in den fiktiven Memoiren Hadrians (1951) den Geist des römischen Stoizismus auferstehen; Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer (1952) mutet zuweilen an wie ein narrativ ausgestaltetes Exemplum stoischer Maximen – und leitet darüber hinaus die Popularität eines säkularisierten Stoizismus ein, der auch die stoischen Helden der Kriminalromane Raymond Chandlers und Dashiell Hammetts prägt.18 Auch die in eine religiöse Krise geratene Franny Glass aus Salingers Zooey (1957) besinnt sich in der Situation spiritueller Not auf den „geliebten, verehrten Epiktet“19, wenn sie in einer gleichsam hysterischen Übersprungshandlung beginnt, sich reproduktiv dessen Weisheit auf der Tafel eines Universitäts-Hörsaals zu versichern: „…und so ging ich also in den Hörsaal und setzte mich. Ich saß und saß da, stand schließlich auf und begann, Sachen von Epiktet an die Tafel zu schreiben. Ich schrieb die ganze Tafel voll – ich wußte nicht einmal, daß ich so viel von Epiktet behalten hatte. Gott sei Dank wischte ich alles wieder aus, bevor die Leute anfingen hereinzukommen. Aber das Ganze war natürlich kindisch. Epiktet hätte mich unbedingt gehaßt deswegen – aber“, Franny zögerte, „ich weiß nicht. Ich glaube, ich wollte einfach nur den Namen von irgend jemand, der nett ist, auf der Tafel sehen.“20 17 Vgl. Maeterlinck: La Vie des Abeilles (1901), La Vie des Termites (1927) und La Vie des Fourmis (1930). 18 Besonders Chandlers Privatdetektiv Philip Marlowe stellt solch einen popularisierten Stoiker par excellence dar, einen kultivierten und emotional distanzierten Einzelgänger, der in einer korrupten Gesellschaft die letzte Bastion moralischer Integrität repräsentiert (vgl. u. a. Chandlers Briefe an John Houseman vom Oktober 1949 und an D. J. Ibberson vom 19. April 1951 (in: Raymond Chandler: Briefe 1937 – 1959, ausgewählt und hg. von Frank MacShane, übersetzt von Hans Wollschläger, München 1990, S. 295 f. und 392 – 397)). 19 Salinger: Zooey, in: Franny und Zooey, übersetzt von Annemarie und Heinrich Böll, Reinbek bei Hamburg 312006, S. 39 – 159, dort S. 132. 20 Ebd., S. 115.

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Des weiteren erscheint seit den 60er Jahren kaum ein Werk von Hermann Lenz, durch dessen Seiten nicht Marc Aurel hilfreich geistert; Günter Grass läßt 1969 einen Zahnarzt und einen Lehrer über Seneca diskutieren, um einen Siebzehnjährigen davon abzuhalten, seinen Dackel aus politischen Gründen öffentlich zu verbrennen; 1986 kürt Markus Werner unter Bezug auf die Stoa die Faulheit zur Retterin des Menschen. Sie sei „eine stoische Rebellin“, die (neben dem Selbstmord) als einzige den Ausweg aus dem „besinnungslos rumorende[n] Weltgetümmel“ unserer Zeit gewährleisten könne, ohne „Autonomie mit Autismus zu verwechseln“21; kurz vor Ende des 20. Jahrhunderts verfaßt Heiner Müller das Gedicht Senecas Tod (1992). 1995 publiziert Durs Grünbein in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sein Gedicht In Gedanken an Marcus Aurelius, und bis zu seinem Gedicht An Seneca. Postskriptum knapp ein Dezennium später erscheinen viele weitere StoikerHommagen Grünbeins. 2005 schließlich veröffentlicht Michel Houellebecq mit La Possibilit d’une le einen utopischen Roman, der nichts geringeres beschreibt als die Verwirklichung stoischer Ideale nicht bloß auf onto-, sondern auf phylogenetischer Ebene. Wie diese Beispiele zeigen, oszillieren die Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gegenüber dem Stoizismus zwischen skeptischer Ablehnung und bedürftig-hoffnungsvoller Akzeptanz. Diese Ambivalenz hat triftige Gründe, denn einerseits ist kaum eine Epoche intellektuell derart stoa-resistent wie das vom Subtext der Freudschen Psychoanalyse beherrschte 20. Jahrhundert. Der Stoizismus nämlich steht der Lehre Freuds kontradiktorisch entgegen, er gilt als fadenscheinige Ideologie, die mit der Affekt-Beherrschung etwas als erstrebenswerte Errungenschaft apostrophiert, was für Freud lediglich ein vom Über-Ich diktierter Kultur-Zwang ist, der auf Kosten der psychischen Gesundheit des Individuums gehen muß.22 Stoizismus gilt also nicht länger als 21 Vgl. Werner: Die zweitschçnste Braut, in: „Allein das Zçgern ist human“ – Zum Werk von Markus Werner, hg. von Martin Ebel, Frankfurt/Main 2006, S. 18 – 20, dort S. 20. 22 Das erste „Kulturopfer“, das bei Freud geleistet werden muß, ist die Unterdrückung von ureigenen Trieben, besonders der Triebkomplexe, die als „erotische“ im landläufigen Sinne bezeichnet werden können. Kultur entsteht also „unter dem Antrieb der Lebensnot auf Kosten der Triebbefriedigung“ (1. Vorlesung zur Einfhrung in die Psychoanalyse, in: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. a., Frankfurt/Main, Sonderausgabe 2000 der verbesserten Neuauflage 1989, Band 1, S. 48). Es fällt dem Menschen nicht leicht, sich dieser Gewalt zu beugen. Kultur ist potentiell eine Angele-

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Triumph des Menschen über seine naturale Beschränktheit, sondern vielmehr als ein Neurosen generierendes, wenn auch notwendiges Moment im zivilisatorischen Prozeß, das nicht die Seele heilt, sondern sie erst krank macht.23 Auf der anderen Seite mutet aber gerade das 20. Jahrhundert als „age of anxiety“ (W.H. Auden) den Menschen mitunter schier unerträgliche Erfahrungen zu (Weltkriege, Holocaust, Totalitarismus, Tschernobyl, AIDS, Umweltkatastrophen, 11. September 2001 etc.), Erfahrungen, zu deren psychischer Bewältigung kaum eine Philosophie so adäquat ergenheit von vehementem Zumutungscharakter und überfordert die Fähigkeit des Menschen, sich zivilisiert zu verhalten. Denn vehemente Unterdrückung der erotischen Triebenergie führt unwillkürlich zu dem, was Freud Neurose nennt (vgl. Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervositt, in: Studienausgabe, Band 9, S. 25). Eine Kultur, die also lediglich den Trieb unterdrückt, produziert nicht nur neurotische Mitglieder, sie wird vielmehr selbst zwangsläufig neurotisch, da der unhintergehbare Freiheitsdrang des Menschen sich immer „gegen bestimmte Formen und Ansprüche der Kultur oder gegen Kultur überhaupt“ (Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe, Band 9, S. 191 – 270, dort S. 226) richtet. Der Mensch ist eben kein im wesentlichen gutes höheres Tier, das einstmals geläutert werden könnte, der „Glaube an die ,Güte‘ der menschlichen Natur [ist] eine jener schlimmen Illusionen […], von denen die Menschen eine Verschönerung und Erleichterung ihres Lebens erwarten“ (32. Vorlesung zur Einfhrung in die Psychoanalyse, Neue Folge, in: Studienausgabe, Band 1, S. 537). Der Kulturprozeß als „jene Modifikation des Lebensprozesses, die er unter dem Einfluß einer vom Eros gestellten, von der Ananke, der realen Not angeregten Aufgabe erfährt“ (Das Unbehagen in der Kultur, S. 265), bleibt immer ein zwanghafter. Alle kulturelle Zähmung ist letztlich aufgrund der Unhintergehbarkeit des basalen Eros provisorisch. Freud betont immer wieder, „daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen […] wieder zum Vorschein gebracht werden kann.“ (Das Unbehagen in der Kultur, S. 201) So auch die kulturell gebändigten Triebe und der egoistische Kampf aller gegen alle: „Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht.“ (Das Unbehagen in der Kultur, S. 241) Die Kultur ist folglich eine aus der Not geborene Lösung, deren Durchführung den Menschen das Leben zwar erleichtert, doch diese Erleichterung mit einem neuen, genuin kulturellen Druck erkauft. Diesen Druck verspürt der Kulturmensch als „Unbehagen“. Freud hütet sich also, „dem Vorurteil beizustimmen, Kultur sei gleichbedeutend mit Vervollkommnung, sei der Weg zur Vollkommenheit, die dem Menschen vorgezeichnet ist“ (Das Unbehagen in der Kultur, S. 226). 23 Entsprechend befremdet räsoniert in Hermann Lenz’ Jung und Alt zeitdiagnostisch der stoische Protagonist, „heutzutage sei den Menschen das am wichtigsten, was mit Animalischem in Verbindung stand, während alles andere gewissermaßen nebenherlief“ (Lenz: Jung und Alt, Frankfurt/Main 1989, S. 84).

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scheinen mag wie der Stoizismus, dessen Radikalität als „the most absolute and uncompromising system of morals ever accepted by man“24 die überdimensionalen Leiden und – so Zbigniew Herbert in seinem Gedicht An Marc Aurel – „die alte angst die finstre angst / was da ans morsche menschenufer schlägt / und siegt“25, zu bannen verspricht. Aus dieser Aporie, nämlich der psychoanalytisch geschulten Voreingenommenheit und intellektuellen Rancune gegenüber der stoischen Philosophie einerseits sowie der existentiellen Not, angesichts enormen Leidensdrucks nur noch mittels stoischer Selbstbewahrung bestehen zu können, andererseits – aus diesem Dilemma heraus versucht sich die Dichtung des 20. Jahrhunderts mit dem Stoizismus auseinanderzusetzen. Dabei entsteht eine Vielzahl von Metamorphosen des stoischen sapiens: Der moderne Stoiker erscheint hier sowohl als Hilfsbuchhalter und stolzer Adliger (Pessoa) wie auch als römischer Kaiser (Yourcenar), als Großwildjäger, Stierkämpfer und Hochseefischer (Hemingway), als hartgesottener Privatdetektiv (Chandler, Hammett), Klon (Houellebecq), als Wirtschaftsmagnat (Dreiser), politikverdrossener Studienrat (Grass), Kammerdiener, Maler und Schriftsteller (Lenz) – und selbst als Zauberlehrling.26 Viele solcher Stoiker nehmen sich im 20. Jahrhundert allerdings als blasse Revenants dessen aus, was einst als Stoizismus galt. Denn die Lehre der Stoa begegnet in ihren modernen Repräsentanten oft nicht mehr als aktiver und selbstgewählter Vollzug eines Lebensideals, sondern als umstandsbedingte Notlösung, als Surrogat einer gelingenden Existenz, das gerade noch ertragen läßt, was ansonsten unerträglich wäre.

24 Henry James: The Works of Epictetus, in: Literary Criticism, Vol. I, selected by Leon Edel, New York 1984 (Library of America, Vol. 22), S. 5 – 14, dort S. 7. 25 Herbert: Gedichte, übersetzt und hg. von Karl Dedecius, Frankfurt/Main 1964, S. 79. 26 So wird sogar Harry Potter, der Held der Romane J. K. Rowlings, mittlerweile unter dem Paradigma des Stoizismus analysiert (wobei allerdings pubertäre stubbornness gründlich mit stoischer constantia verwechselt wird), vgl. Edmund Kern: Harry Potter, Stoic Boy Wonder, in: The Chronicle of Higher Education, Vol. 48, Iss. 12 (16. Nov. 2001); p. B. 18.

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„Die Prüfungen geduldig ertragen, die das Schicksal für uns bereithält“: ˇ echov C ˇ echov (1860 – 1904) seinen Bruder, einen Maler, der an Als Anton C Schwindsucht dahinsiecht, 1889 ärztlich behandelt, beschwört er in einem Brief den Adel stoischer Vorstellungen – und seine eigene Unfähigkeit, ihnen zu entsprechen: Oh Marcus Aurelius Antonius! Oh, Epiktet! Ich weiß, es ist kein Unglück, es ist nur meine Meinung; ich weiß, den Maler verlieren, heißt, ihn zurückgeben, aber ich bin doch mehr Potëmkin denn Philosoph, und ich bin absolut unfähig, dem Schicksal tapfer ins Auge zu blicken, wenn ich nichts von Tapferkeit im Herzen habe.27

ˇ echovs lassen vermuten, ihr Autor habe geZwei späte Erzählungen C nerelle Zweifel an der Praktikabilität stoischer Lehren gehegt. Denn in beiden werden Protagonisten, die sich auf solche Lehren berufen, entweder harsch zurechtgewiesen oder drastisch von ihren Ansichten kuriert. Die Erzählung In der Verbannung (1892) läßt den „alte[n] Semjon, mit Spitznamen der Gescheite“, diverse Stoizismen artikulieren. Der in einer Strafkolonie als Fährmann arbeitende Semjon betont trotz seiner Armut und Gefangenschaft, daß „es keinen reicheren und freieren Menschen gibt als mich“28, denn erst, wer sich nichts mehr wünsche und es dahin bringe, „ohne alles auf der Erde schlafen und Gras fressen“ zu können29, werde nicht länger Opfer des Schicksals sein, sondern sich souverän lachend von ihm emanzipieren.30 Was sich als Weisheit geriert, ist aber eher aus abgeklärter Resignation und Abstumpfung denn aus wahrhaft philosophischer Einsicht erwachsen. Semjons Stoizismus wird entsprechend von jenen Mitkolonisten, die immer noch hoffen und stets neue Versuche zur Verbesserung ihrer Lebenssituation innerhalb der Strafkolonie unternehmen, auch nicht bewundert, sondern geradezu verachtet: Seine Haltung verrate den ˇ echov an A. S. Suvorin, 11. April 1888, in: Briefe, hg. und übersetzt von Peter 27 C Urban, Zürich 1998, Band 2, Nr. 206, S. 14. ˇ echov: In der Verbannung, in: Gesammelte Erzhlungen, übersetzt von Vera 28 C Bischitzky, Kay Borowsky u. a., Düsseldorf und Zürich 2003 f., Band 3, S. 43 – 54, dort S. 45. 29 Ebd., S. 45 f. 30 Vgl. ebd., S. 46: „Ja… Auch wenn […] uns beiden das Schicksal übel mitgespielt hat, so hat es keinen Sinn, bei ihm um Gnade zu bitten und ihm zu Füßen zu fallen, sondern man muß es verachten und darüber lachen. Sonst wird es selbst seinen Spott mit uns treiben.“

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letzten Rest von Menschlichkeit in einem ohnehin menschenfeindlichen Terrain. So charakterisiert ein junger Tatar Semjon im Vergleich mit einem anderen Gefangenen, der trotz aller Aussichtslosigkeit darum kämpft, sich und seiner Tochter ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, aufgebracht als „Tier“, ja sogar als „Stein“: Er ist gut… gut, und du – schlimm! Du schlimm! Gnädiger Herr ist eine gute Seele, großartig, und Du ein Tier, du schlimm! Gnädiger Herr lebt, und du bist verreckt… Gott hat Mensch geschaffen, daß er lebendig ist, daß Freude ist, und Schwermut ist, und Leid ist, aber du willst nichts, also bist du nicht lebendig, sondern Stein, Lehm! Stein braucht nichts und du brauchst nichts… Du bist Stein – und Gott liebt dich nicht…31

In der Novelle Krankensaal Nr. 6 (1892) ist es der Arzt Dr. Ragin, dessen Stoizismus erst auf eine argumentative und dann auch auf eine existentielle Probe gestellt wird, beide Male kann er nicht bestehen. Als frustrierter Arzt in einem heruntergekommenen Provinzkrankenhaus fristet er eine kommunikationsarme Existenz, die erst durchbrochen wird, als er bei einer Visite im für Geisteskranke reservierten und skandalös vernachlässigten Krankensaal Nr. 6 mit dem Patienten Gromow einer Persönlichkeit begegnet, mit der es ihm endlich möglich ist, ein philosophisches Gespräch zu führen. Trotz aller pathologischen Nuancen verlaufen diese Gespräche recht konsequent und sachbezogen. Ragin versucht zunächst, dem an Verfolgungswahn leidenden Gromow das Ertragen allen Leidens mittels stoischer Philosophie glaubwürdig zu machen: In jeder Situation können Sie Beruhigung in sich selbst finden. Das freie und tiefschürfende Denken, das danach strebt, das Leben zu erkennen, und die völlige Verachtung der törichten Eitelkeit der Welt – nie hat der Mensch Höheres gekannt als diese beiden Güter. Und Sie können über sie verfügen, selbst wenn Sie hinter drei Gittern lebten.32

Doch Gromow zerpflückt Ragins Reden argumentativ nach allen Regeln der Kunst und hält ihnen schließlich entgegen, daß sich der Stoizismus nur um den Preis des Lebens realisieren lasse: Wie der junge Tatar aus In der Verbannung betont auch Gromow, um es dahin zu bringen, „das Leiden zu verachten, immer zufrieden zu sein und sich über nichts zu wundern“, müsse man „sich durch Leiden bis zu einem solchen Grad abhärten, daß man jede Empfindlichkeit gegenüber dem 31 Ebd., S. 53 f. ˇ echov: Krankensaal Nr. 6, in: Gesammelte Erzhlungen, Band 3, S. 80 – 152, 32 C dort S. 114.

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Leiden verliert, das heißt mit anderen Worten, bis man zu leben aufhört.“33 Die Lehren der Stoiker seien daher „nicht praktikabel, nicht lebensnah“.34 Dementsprechend führt Gromow Ragins Stoizismus auf mangelnde Lebenserfahrung zurück; das wahre Leben mit all seinen Leiden „haben Sie nicht gesehen, Sie kennen es überhaupt nicht, und mit der Realität sind Sie nur theoretisch vertraut.“35 Nein, mein Herr, das ist keine Philosophie, kein Denken, kein weiter Horizont, sondern Faulheit, Fakirtum, Schlafmützigkeit… Jawohl! […] Das Leiden verachten Sie, aber klemmen Sie sich bloß einmal den Finger in der Tür ein, wie Sie dann aus vollem Halse schreien! 36

Die Argumente gegen den Stoizismus werden dabei keineswegs daˇ echov sie von einem ausgewiesenen Wahnsindurch relativiert, daß C nigen vorbringen läßt.37 Denn in der Tat hält der Stoiker Ragin der schließlich über ihn hereinbrechenden Realität nicht stand. Als er sich plötzlich nicht länger als Arzt, sondern als entmündigter Patient im Krankensaal Nr. 6 wiederfindet, dauert es nicht lange, bis er als gebrochener Mann stirbt. Wenn in jenem 10. Kapitel von Krankensaal Nr. 6 derart vehement mit dem Stoizismus ins Gericht gegangen wird, könnte der Eindruck ˇ echov habe die Philosophie der Stoa wohl recht genau entstehen, C studiert, lehne sie jedoch ab. Doch gilt für den Autor gerade nicht, was ˇ echov zur für seine Figuren gilt. In mehreren Briefen bekennt sich C stoischen Lebensführung: Die Natur ist ein sehr gutes Beruhigungsmittel. Sie stimmt friedlich, d. h. sie macht den Menschen gleichgültig. Und man muß auf dieser Welt unbedingt gleichgültig sein. Nur die Gleichgültigen sind imstande, die Dinge klar zu sehen, gerecht zu sein und zu arbeiten.38 33 34 35 36 37

Ebd., S. 119. Ebd., S. 119. Ebd., S. 121. Ebd., S. 122. Auch die durchaus positiv konnotierte Erwähnung Marc Aurels in Der schwarze Mçnch (1894) ist ambivalent, findet sie doch im Gespräch des vom Wahnsinn befallenen Protagonisten mit einem imaginierten Mönch statt. ˇ echov an A. S. Suvorin, 4. Mai 1889, in: Briefe, Band 2, Nr. 210, S. 21. Wie 38 C ˇ echovs Beurteilung des Stoizismus und derjenigroß der Kontrast zwischen C gen seiner Protagonisten ist, zeigt ein Vergleich mit einer thematisch verwandten Passage: „Man sagt, die Philosophen und die wirklichen Weisen seien gleichmütig. Falsch, der Gleichmut ist eine Lähmung der Seele, ist der vorzeitige Tod“ (Eine langweilige Geschichte, in: Gesammelte Erzhlungen, Band 2, S. 179 – 255, dort S. 250).

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ˇ echov Nicht von ungefähr ist es auch ein stoischer Text, der für C gleichsam zur philosophischen Privat-Bibel gerät: eine russische Übersetzung der Selbstbetrachtungen des Marc Aurel, die er im Oktober 1883 erhält und in den folgenden Jahren immer wieder zu Rate zieht und mit Anmerkungen versieht.39 Spätestens am Umgang mit diesem Band läßt sich ermessen, wie verfehlt es wäre, Figuren- und Autorenˇ echov zeigt sich durchgehend hinPerspektive gleichzusetzen, denn C gerissen von Marc Aurels konzisen Beschreibungen und Analysen der conditio humana. „Ich schicke Ihnen den Marc Aurel, den Sie lesen wollten“, schreibt er an Aleksandr Lenskij, „lesen Sie alles der Reihe nach, denn alles ist gleichermaßen gut.“40 Für die letzten zwanzig Jahre des cˇechovschen Schaffens erweist sich Marc Aurels Werk denn auch oft als Referenzpunkt der großen Erzählungen und Dramen. Man kann geradezu von einem Fall poetischer Aneignung sprechen: Wer die angestrichenen Stellen in dem vehement durchgearbeiteten Handexemplar der Selbstbetrachtungen heranzieht, bemerkt, wie homogen sie den ˇ echovs eingegliedert worden sind. Die Skala der RefeDichtungen C renz-Intensität reicht dabei von subtilen Anspielungen41 über Paraˇ echovs Rückgriff auf den Stoizismus phrasen bis zu direkten Zitaten. C ist nun mitnichten eine antikisierende Manier, sondern vielmehr ein Zeichen der Zeit um 1900. Die Philosophie der Stoa wird zum letzten Sinn-Refugium in einer sinnentleerten Existenz. Stoische Haltung ist immer einer Wirklichkeit abgerungen, an der man ansonsten zugrunde gehen müßte. Einige Beispiele aus dem Drama Onkel Wanja (1897) mögen solche Aneignung illustrieren. Wenn der am Naturschutz interessierte Arzt Dr. Astrow betont, man solle stets die weitreichenden und langfristigen Folgen jeglichen Eingreifens in die Natur bedenken, liegt das organoˇ echovs Umgang mit seinem Ex39 Für eine detaillierte Dokumentation von C emplar Marc Aurels vgl. Peter Urbans Vorwort zu: Urban (Hg.): Wie soll man ˇ echov liest Marc Aurel, hg. und übersetzt von Peter Urban, Zürich leben? Anton C 1997, S. 5 – 30. ˇ echov an Aleksandr Lenskij, 9. April 1889, zit. n.: Wie soll man leben? Anton 40 C ˇ echov liest Marc Aurel, S. 13. C 41 So steht hinter der herben Selbstanalyse des Erzählers der Langweiligen Geschichte („Jedes Gefühl und jeder Gedanke lebt vereinzelt in mir, und in all meinen Urteilen […] sowie in all den Bildchen, die meine Einbildungskraft zeichnet, fände auch der gewiefteste Analytiker nichts von dem, was man eine allgemeine Idee oder den Gott des lebendigen Menschen nennt“) die Folie der Marc Aurelschen Lehre vom göttlichen Leitvermögen, dem hegemonikon (vgl. Eine langweilige Geschichte, S. 252).

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logische Weltmodell Marc Aurels zugrunde, dem „die Welt ein einziges Lebewesen“ ist, aus dem alles entsteht und in das alles zurückkehrt, „so daß jedes Einzelwesen in unzertrennlicher organischer Verbindung zu allem übrigen steht.“42 Auch schimmert der Marc Aurelsche Prätext durch, wenn die Figuren des Stücks sich beständig auf ein vorbestimmtes Schicksal beziehen, um damit ihr verfehltes Leben in den Rahmen einer notdürftigen Sinnstiftung einzuschreiben43, denn unter ˇ echov markierten Passagen seines Handexemplars finden sich den von C entsprechende Stellen: „Bedenke, daß die Eigentümlichkeit, die ein vernunftbegabtes Wesen auszeichnet, die freiwillige Unterordnung unter sein Schicksal ist, nicht der beschämende Kampf dagegen…“44, ebenso wie: „Wie immer dein Schicksal auch sei, du mußt […] mit ihm zufrieden sein.“45 Viele weitere Passagen, die Marc Aurel verpflichtet sind, ließen sich aufzählen.46 ˇ echov relevante Marc Aurel-Passagen werden 42 Vgl. Marc Aurel IV, 40; für C hier nach der Ausgabe Peter Urbans zitiert (dort S. 103), da sie dem Wortlaut ˇ echov benutzte, näher steht, als viele moderne und der russischen Edition, die C philologisch genauere Übersetzungen (zur editorischen und sprachlichen Gestalt jener russischen Edition vgl. Urban (Hg.): Wie soll man leben?, S. 14 ff.). 43 Etwa Telegin, der im vierten Akt zu Marina sagt: „Es war ihnen also nicht bestimmt, hier zu leben, Marina Timofejewna. Es war ihnen nicht bestimmt… ˇ echov: Onkel Wanja, in: Der KirschEine Vorherbestimmung des Fatums“ (C garten. Dramen, übersetzt von Vera Bischitzky, Ulrike Lange u. a., Düsseldorf und Zürich 2006, S. 303 – 365, dort S. 353); oder Sonja: „Ich bin wahrscheinlich nicht weniger unglücklich als du, aber ich verzweifle nicht. Ich ertrage mein Schicksal und werde es ertragen, bis mein Leben von allein endet… Ertrage auch du es. […] Ertrage es, Onkel! Ertrage es!“ (ebd., 4. Akt, S. 357 f.). 44 Vgl. Marc Aurel X, 28 (Urban (Hg.): Wie soll man leben?, S. 81). 45 Vgl. Marc Aurel V, 8 (Urban (Hg.): Wie soll man leben?, S. 82). 46 Nachdem Woinizki versucht hat, seinen Schwager zu erschießen, wird er zwar nicht der weltlichen Gerichtsbarkeit anheimgegeben („Ich habe einen Mordversuch unternommen, werde aber weder verhaftet noch dem Richter übergeben.“ (Onkel Wanja, Akt 4, S. 355)), sieht sich aber dem Bewußtsein gegenüber, für den Rest seines Lebens seinem Gewissen und seiner Scham ausgeliefert zu sein: „Ich schäme mich! Wenn du wüßtest, wie sehr ich mich schäme! Dieses brennende Schamgefühl ist keinem Schmerz der Welt vergleichbar. Es ist unerträglich! […] angenommen, ich werde sechzig, dann habe ich noch dreizehn Jahre vor mir. Eine lange Zeit! Wie soll ich diese dreizehn ˇ echov Jahre überstehen?“ (ebd., Akt 4, S. 356) Damit illustriert er die von C markierte Passage XII, 16, in der Marc Aurel betont, bei einem Verbrechen sei zunächst einmal zu prüfen, ob der Verbrecher „sich nicht schon selbst für dieses sein Vergehen verurteilt hat. Glaube mir, daß er in diesem Falle von seinem

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In der Figur der Sonja verdichten sich die Marc Aurel-Bezüge schließlich zu einer resignativ-stoischen Figur, deren Schlußmonolog wie eine Variation über ein Thema von Marc Aurel anmutet. Wir, Onkel Wanja, werden weiterleben. Wir haben eine lange, lange Reihe von Tagen und langen Abenden vor uns; wir werden die Prüfungen geduldig ertragen, die das Schicksal für uns bereithält; wir werden für andere arbeiten, jetzt und im Alter, ohne Atempause und wenn unsere Stunde schlägt, werden wir fügsam sterben, und im Jenseits werden wir erzählen, wie wir gelitten haben…47

Gerade Sonjas positive Einstellung zum Tod als ersehnte Ruhe nach einem leidvollen Leben speist sich aus stoischem Geist: Das dreimalige „Dann werden wir ausruhen!“, mit dem das Stück schließt48, rekurriert ˇ echovs Exemplar des Marc Aurel markierte Passage, die auf eine in C den Tod nicht zu etwas Schrecklichem erklärt, „im Gegenteil, er ist ein Gut“.49 Der vermeintliche Widerspruch zwischen der Stoa-Ablehnung ˇ echovs Bekenntnis zu Marc Aurel wird seiner Protagonisten und C damit gewissermaßen in der Sonja des Onkel Wanja vermittelt. Wenn ˇ echovs Figuren den Stoizismus ablehnen, dann mit dem Argument, C Stoizismus verwandle den Menschen in einen Stein und gebe ihn damit dem Tod anheim. Solches Totsein lösche das eigentliche Leben aus und ˇ echov sei keinesfalls eine diskutable Form der Lebensbewältigung. C diagnostiziert – als Kenner Schopenhauers – allerdings zugleich, daß die menschliche Existenz selbst einen unaufhörlichen Leidenszusammenhang darstellt, daß Leben mithin selbst Leiden ist. Will man das Leiden umgehen, kann dies also nur über die philosophische Vernichtung des Lebens gelingen. Insofern bietet der Stoizismus in seiner Nähe zum positiv verstandenen Tod die einzig adäquate Bewältigungsstrategie solchen Lebensleidens.

inneren Richter härter bestraft ist als von jedem äußeren Gericht.“ (Urban (Hg.): Wie soll man leben?, S. 50) – Auch das in Onkel Wanja propagierte Arbeitsethos („Arbeiten, arbeiten!“ (ebd., 4. Akt, S. 361)) ruht auf Marc Aurelschen Fundamenten (vgl. IX, 12). ˇ echov: Onkel Wanja, Akt IV, S. 364. Der Prätext für diese Stelle, so vermutet 47 C Peter Urban, lautet: „Wie soll es weitergehen? Du wartest mit heiterer Resignation auf das Verlöschen oder den Übergang. Bis die Zeit dafür kommt – was kann da helfen?“ (Marc Aurel V, 33) ˇ echov: Onkel Wanja, Akt IV, S. 364. 48 Vgl. C 49 Marc Aurel XII, 23 (Urban (Hg.): Wie soll man leben?, S. 106).

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„Nicht nur ein Schriftsteller, sondern eine ganze Literatur“: Pessoas stoische Heteronyme Fernando Pessoa (1888 – 1935) ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie ein Dichter nicht nur stoa-infiltrierte Texte produziert, sondern zuvörderst stoische Autoren solcher Texte erschafft. Gemeint ist hiermit das verwirrende Faktum, daß kaum ein Werk Pessoas diesem unmittelbar zugeordnet werden darf, sondern als aus der Feder eines eigens dafür erfundenen Autors zu gelten hat. Solche nicht mit Pseudonymen zu verwechselnde Heteronyme stellen sich als eigenständige Charaktere mit je eigener Biographie, eigenem Psychogramm, eigener Weltanschauung und eigenem Stil dar. „Auf diese Weise“, resümiert Pessoa, „ist aus mir […] nicht nur ein Schriftsteller, sondern eine ganze Literatur“50 geworden. Was prima vista wie eine absurde Form raffiniert arrangierter Schizophrenie anmuten mag, ist tatsächlich Ausdruck einer komplexen Poetologie, durch die Pessoa zum „Medium [s]einer selbst“51 wird, denn er „schreibt, als ob man ihm diktieren würde“52. 50 Pessoa: [Vorstellung der Heteronyme], in: Pessoa / ,António Mora‘ et al.: Die Rckkehr der Gçtter, übersetzt und hg. von Steffen Dix. Zürich 2006, S. 8 – 12, dort S. 11. Die Uneindeutigkeit der Identitätszuschreibung wird bei Pessoa dadurch auf die Spitze getrieben, daß er nicht nur orthonyme und heteronyme Autoren kennt, sondern auch sog. halb-heteronyme. ,Bernardo Soares‘ etwa, Verfasser des Livro do Desassossego, ist ein Halbheteronym, da sich dessen Ansichten weitgehend mit denen des biographischen Pessoa decken. Zugleich wird die Signatur ,Pessoa‘ oft selbst wie ein Heteronym verwendet. 51 Pessoa: [Die Genese der Heteronymie], in: Pessoa / ,António Mora‘ et al.: Die Rckkehr der Gçtter, übersetzt und hg. von Steffen Dix. Zürich 2006, S. 19 – 20, dort S. 20. Zu den Heteronymen vgl. den ausführlichen Brief Pessoas an Adolfo Casais Monteiro vom 11. Januar 1930 (ebd., S. 21 – 33) sowie Pessoa: Biographische bersicht, in: Pessoa: Dokumente zur Person und ausgewhlte Briefe, hg. von Georg Rudolf Lind, Frankfurt/Main 1992, S. 11 – 13, v. a. S. 11 f.: „Was Fernando Pessoa schreibt, gehört zwei Kategorien an, die wir orthonym und heteronym nennen können. Man kann nicht sagen, sie seien anonym und pseudonym, denn das sind sie in Wahrheit nicht. Das unter Pseudonym veröffentlichte Werk stammt vom Autor in Person, nur der Name, mit dem er unterschreibt, ist ein anderer; das heteronyme stammt vom Autor außerhalb seiner Person, von einer vollständig von ihm hergestellten Individualität, wie es die Aussprüche irgendeiner Gestalt aus irgendeinem von ihm verfaßten Drama sein würden. […] Diese Individualitäten müssen als von der ihres Autors verschieden betrachtet werden. Jede bildet eine Art von Drama; und sie alle zusammen bilden ein weiteres Drama. […] Es ist ein Drama in Leuten statt in Akten.“ 52 Pessoa: [Vorstellung der Heteronyme], S. 9.

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Aus der Perspektive der Heteronyme gesprochen: „Wir sind Geschichten, die Geschichten erzählen, sonst nichts.“53 Unter diesen Heteronymen Pessoas gibt es zwei, die sich unmißverständlich zur Stoa bekennen: Ricardo Reis, Theoretiker des Neopaganismus und Verfasser pessimistisch-stoischer Oden, und Baron von Teive, Autor von Die Erziehung zum Stoiker. Die Vita von Ricardo Reis – „am 29. Januar 1914 gegen 11 Uhr morgens in meiner Seele geboren“54 –, dem Vertreter eines „,wissenschaftlichen‘ Neoklassizismus“55, beschreibt Pessoa wie folgt: Ricardo Reis wurde 1887 […] in Porto geboren; er ist Arzt und lebt gegenwärtig in Brasilien. […] [er] ist ein wenig, aber wirklich nur ein wenig, kleiner und kräftiger [als das Heteronym ,Alberto de Campos‘], wobei aber sehr hager. […] [Er ist] von einer leicht matten Bräune […]; [er] wurde in einem Jesuitenkolleg ausgebildet und ist, wie gesagt, Mediziner; seit 1919 lebt er in Brasilien, da er Monarchist ist, verabschiedete er sich spontan von seinem Vaterland. Er ist Latinist durch fremde Erziehung und halber Gräzist durch eigene Erziehung.56

Sein „zutiefst trauriges“ Werk sei ein „halbbewußter, disziplinierter Versuch, eine Form der inneren Ruhe zu erreichen“.57 Genauer handelt es sich dabei um einen Versuch, in dem sich der Stoizismus gelegentlich mit epikureischen Elementen mischt. Damit kommt Reis nicht nur seinem geistigen Ahnen Seneca sehr nahe, sondern auch einem Verständnis von Stoizismus, wie es einer seiner ,Halb-Brüder‘ im pessoaschen Heteronym-Kosmos, der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, formuliert, welcher betont, daß „aller Stoizismus nicht mehr ist als ein strenger Epikureismus“.58 Reis selbst weist seine Nähe zu Soares’ 53 Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Poesia – Poesie, übersetzt und hg. von Inés Koebel. Zürich 2005, S. 189. Ein modernes Beispiel poetischer Heteronymie ist der Dichter ,Hildegunst von Mythenmetz‘, den Walter Moers mit bislang drei von ihm verfaßten Romanen inszeniert hat: Ensel und Krete (2000), Die Stadt der trumenden Bcher (2004) und Der Schrecksenmeister (2007). 54 Pessoa: Ricardo Reis – Leben und Werk, in: Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Poesia – Poesie, S. 7. 55 Ebd., S. 7. 56 Pessoa an Adolfo Casais Monteiro, 11. Januar 1930, in: Pessoa / ,António Mora‘ et al.: Die Rckkehr der Gçtter, übersetzt und hg. von Steffen Dix. Zürich 2006, S. 21 – 33, dort S. 29. 57 Pessoa / ,Federico Reis‘: Betrachtungen zur Dichtung von Ricardo Reis, in Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Poesia – Poesie, S. 8. 58 Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, übersetzt von Inés Koebel, hg. von Richard Zenith, Frankfurt/Main 2006, § 398, S. 379.

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Konzept aus, wenn er erklärt: „Was mich betrifft, so würde ich gerne beides zur selben Zeit sein, Epikureer und Stoiker.“59 Epikureisch durchwobener Stoizismus bestimmt beide Ebenen von Reis’ Schrifttum, sowohl seine theoretischen Abhandlungen über die Möglichkeit eines gegen das Christentum – Reis spricht meist von „Christismus“ – gerichteten Neopaganismus wie auch seine Lyrik. Auf theoretischer Ebene wird der Stoizismus als höchste Form der Moral gegen das Christentum stark gemacht: Die stoische Moral ist eine Unterordnung der niederen Qualitäten des Geistes unter die höheren, aber nur unter die höheren und menschlichen; der Höhepunkt des Christismus ist erreicht in der Aufopferung und der Hingabe an eine spirituelle Menschheit, der Höhepunkt des Stoizismus besteht in der Selbstdisziplin und in der Hingabe an das eigene Schicksal, und wenn in der Hingabe an die Menschheit, dann nur an die als wirklich gesittet begriffene Menschheit. Der Stoizismus ist die höchste heidnische Moral, weil er die heidnische Moral auf ein abstraktes Prinzip reduziert, welches das Wesen aller heidnischen Ethiken ausmacht. Die Disziplin ist die einzige ethische Göttin der Stoiker, und es ist die Disziplin, wie wir sagen, die das reale Fundament der ethischen Doktrinen des Heidentum bildet.60

Als Kronzeugen jenes unmißverständlich gegen die Christen gerichteten Stoizismus beruft sich Reis auf Marc Aurel, Julian Apostata, den er – wie später auch Durs Grünbein61 – als Stoiker charakterisiert, und auf Epiktet.62 Nicht weniger ist Ricardo Reis’ Lyrik in ihrem resignativ-pessimistischen Tenor Leitmotiven des Stoizismus verpflichtet. Zwar 59 Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Aufzeichnungen zu einem Vorwort fr Alberto Caeiro in: Pessoa / ,António Mora‘ et al.: Die Rckkehr der Gçtter, übersetzt und hg. von Steffen Dix. Zürich 2006, S. 85 – 178, dort § 44, S. 171. Ein Bekenntnis zu Epikur findet sich auch in der Lyrik Reis’, wenn er hinsichtlich Aristoteles’ betont: „Doch Epikur spricht mich mehr an“ (vgl. Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Poesia – Poesie, S. 65); entsprechend charakterisiert ein fiktiver Verwandter Reis bei all seinem Stoizismus auch als Vertreter eines „traurige[n] Epikureertum[s]“ (vgl. ebd., S. 8). 60 Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Aufzeichnungen zu einem Vorwort fr Alberto Caeiro, in: Pessoa / ,António Mora‘ et al.: Die Rckkehr der Gçtter, übersetzt und hg. von Steffen Dix. Zürich 2006, S. 85 – 178, dort § 17, S. 117. 61 Vgl. Grünbein: Julianus an einen Freund, in: Nach den Satiren, Frankfurt/Main S. 30 – 32. 62 Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Aufzeichnungen zu einem Vorwort fr Alberto Caeiro, in: Pessoa / ,António Mora‘ et al.: Die Rckkehr der Gçtter, § 25, S. 132 und § 44, S. 170.

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scheinen auch hier immer wieder Gedanken Epikurs durch, doch sind diese stoisch überformt. So etwa im Gedicht Die Schachspieler, das beschreibt, wie inmitten wildesten Kriegstreibens während der Invasion einer persischen Stadt zwei Spieler unbewegt eine Partie Schach zu Ende spielen. Epikureismus und Stoizismus treffen sich hier im Gestus der Mäßigkeit und – „von Gleichmut träumend“63 – der Unbeweglichkeit angesichts äußerer Widerfährnisse; epikureisch ist das Bekenntnis zum Garten-Philosophen („Meine Brüder in der Liebe zu Epikur“64), stoisch die jede epikureische Ataraxia übersteigende, schier unfaßbare Apatheia der Spieler, die in ihrer Partie gleichsam die Züge des unbarmherzigen Fatums symbolisch wiederholen: Häuser brannten, geplündert Wurden Truhen und Wände, Geschändet die Frauen An den eingestürzten Mauern, Von Lanzen durchbohrt, waren Die Kinder nur mehr Blut auf den Straßen… An ihrem Platz aber, nahe der Stadt Und fern allen Lärms, Spielten die Schachspieler Schach. Obgleich der einsame Wind Ihnen die Schreie überbrachte, Und sie, während des Überlegens mit Gewißheit wußten, Daß ihre Frauen und zarten Töchter Unweigerlich vergewaltigt wurden Unweit von ihnen, Und obgleich in dem Augenblick, in dem sie dies dachten, Ein leichter Schatten Ihre selbstvergessene Stirn streifte, Wandten rasch sich ihre ruhigen Augen Wieder aufmerksam und arglos Dem alten Schachbrett zu.65

Reis’ Lyrik reflektiert in wechselnder Gestalt den Topos der Vergänglichkeit und insistiert auf der Vergeblichkeit jeden Versuchs, gegen das Schicksal aufzubegehren: „Wir vergehen wie der Fluß“.66 Der Fatalismus in Reis’ theoretischen Texten macht dabei nicht einmal vor 63 64 65 66

Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Poesia – Poesie, S. 103. Ebd., S. 101. Ebd., S. 97 f. Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Poesia – Poesie, S. 58.

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dem Bezirk des Göttlichen Halt. Denn neben den Menschen sind auch die Götter den „unerklärlichen Dekreten“ des Fatums unterworfen.67 Vor diesem Hintergrund muß sich das Individuum zurechtfinden. „Außerhalb von mir, fern meinem Denken, / Erfüllt das Fatum sich. Ich aber erfülle mich / Innerhalb dessen, was mir / Von meinem Schicksal zugemessen.“68 Die Oden legen beredtes Zeugnis davon ab, indem sie den Menschen als „Untertan / Des Weltenschicksals“ präsentieren69, dem nichts bleibt, als auf den ihm undurchschaubaren Ratschluß des Fatums zu vertrauen: Ob Engel oder Götter, stets vertrauten Wir darauf, daß über uns Uns leitend andere Wesenheiten walten. Wie über das Vieh auf den Feldern Unsere, ihm unverständliche Kraft Gebietet und es Unmerklich lenkt, Sind unser Wille und unser Denken Die Hände, an denen andere uns Führen, wohin sie wollen, Daß wir es wünschen.70

Dem Einzelnen ziemt also nur, sich gleichsam ,auf determinierte Weise eigenständig wollend‘ in den Plan des Schicksals zu fügen: Nur diese Freiheit gewähren uns Die Götter: uns ihrer Macht Aus freien Stücken zu unterwerfen.71

Dem damit einhergehenden Erduldungs-Stoizismus trägt Reis’ Lyrik auf vielerlei Weise Rechnung. Seine Gedichte erscheinen oft wie sentimentalische Evokationen einer von antiker Mythologie beseelten bukolischen Kultur, die um ihren baldigen Untergang weiß. Einige Jahre, bevor Ernest Hemingway einen sterbenden Schriftsteller ange67 Vgl. Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Aufzeichnungen zu einem Vorwort fr Alberto Caeiro, S. 145: „…daß über den Göttern des heidnischen Systems immer in unkörperlicher Form die Ananke, das Fatum schwebt, was sowohl die Götter als auch die Menschen seinen unerklärlichen Dekreten unterwirft…“. 68 Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Poesia – Poesie, S. 149. 69 Ebd., S. 25. 70 Ebd., S. 91. 71 Ebd., S. 75; vgl. auch S. 177: „Ich nehme es an und sage nichts.“

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sichts des schneebedeckten Gipfels des Kilimandscharo stoisch über sein Leben räsonieren läßt72, wählt Reis ein ähnliches Szenario für analoge Meditationen: In der Ferne scheint Schnee auf sonnigen Bergen, Doch sanft ist schon die stille Kälte, Die der hohen Sonne Spitzen Glänzend feilt. Laß, Neaira, heut uns nicht verstecken, Nichts fehlt uns, wir sind nichts. Wir hoffen nichts Und in der Sonne ist uns kalt. Genießen wir den Augenblick so wie er ist, Freudig und mit heiterer Würde, Den Tod erwartend Wie einer, der ihn kennt.73

Der stoische Topos der brevitas vitae wird ebenso evoziert74 wie der stoische Gedanke, man könne seine Freiheit wahren, solange man sich selbst gleich bleibe.75 Unzählige andere Stoizismen schlagen sich in geradezu maximenartigen Formulierungen nieder: „Entsage / Und sei dein eigener König“76 ; „Betrachte das Leben von fern“77; „Verzichte und sei / König deiner selbst“78 ; „Wünsche wenig und du bekommst alles. / Wünsche nichts und du bist frei“79 ; „Wer wenig will, hat alles; wer nichts will, / Ist frei; wer nichts besitzt und nichts begehrt, / Ist ein Mensch den Göttern gleich“80 ; „Begnüge dich, / Erfreue dich an dem Wenigen, das du bist. / Besser nimmt die bescheidene Hütte dich auf,

72 Vgl. Hemingway: The Snows of Kilimanjaro (1936); auch Houellebecqs neomenschlicher Stoiker „Daniel 25“ evoziert eine analoge Seelenlandschaft, wenn er nachts von einer „Kette steiler Berge“ träumt, „auf denen ewiger Schnee glitzerte“ (Houellebecq: Die Mçglichkeit einer Insel, übersetzt von Uli Wittmann, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 224). 73 Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Poesia – Poesie, S. 59. 74 Vgl. Reis’ zwanzigste Ode, in: Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Poesia – Poesie, S. 31 f. 75 Ebd., S. 103: „Solange mich das Leben nicht ermüdet, / Laß ich es über mich ergehen, / Solange ich nur selbst mir gleich bleibe.“ 76 Ebd., S. 67. 77 Ebd., S. 107. 78 Ebd., S. 149. 79 Ebd., S. 173. 80 Ebd., S. 175.

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die dir gegeben, / Als der Palast, der dir gebührte“81; „Wer aber nichts erwartet, / Den erwartet nur Wohltat.“82 Einen gänzlich anderen ,stoifizierten‘ Typus repräsentiert Baron von Teive, gleicht dieses Heteronym in seiner defizitären Persönlichkeitsstruktur und Handlungsohnmacht doch eher einer Gestalt der Jahrhundertwende, wie man sie bei Arthur Schnitzler oder Hugo von Hofmannsthal erwartet. In der Tat haben seine Aufzeichnungen auf den ersten Blick trotz ihres Titels Die Erziehung zum Stoiker und der Beteuerung des Autors, einen stoischen Weltzugang zurecht für sich zu reklamieren, wenig gemein mit theoretischem wie praktischem Stoizismus.83 Lediglich die Tatsache, daß Teive eine philosophische Rechtfertigung seines baldigen Selbstmordes konstruiert, die ansatzweise nach Stoa schmeckt, scheint hier das tertium comparationis zwischen ihm und den Stoikern zu bilden. Gleichwohl bleibt Teives problematische Identitätskonstruktion und -destruktion unterschwellig auf den Stoizismus bezogen, da dieser zumindest ex negativo den Charakter des Barons grundiert. Teive bedient sich stoischer Allgemeinplätze, um kompensatorisch die Nichtigkeit des eigenen Daseins zu nobilitieren. Er bemüht den Stoizismus als eine Folie, auf der er das ˇ echovs Figuren in ähnlich Wunschbild seiner selbst entwirft. Während C ausweglosen Situationen auf den Stoizismus zurückgreifen, um dem eigenen Bewußtsein ein letztes Refugium von Sinn zu generieren, kommt es bei Teives Selbstinszenierung nicht einmal mehr dazu. Alle Sinnstiftung bleibt eine in der Selbstlüge gegründete Illusion, an die nicht einmal Teive so recht glaubt, vermag er doch solcher stoischen Wunschprojektion nicht gerecht zu werden. Zwar faselt er etwas von „transzendenten Entsagungen“84, doch nicht stoische Askese, sondern ein paradoxes Gemenge aus Minderwertigkeitskomplex und hypertrophem Stolz charakterisiert Teive.85 81 Ebd., S. 179. 82 Ebd., S. 191. 83 Selbst der artikulierte „Wunsch nach völliger Entsagung“, der einige Jahre später Marguerite Yourcenars Hadrian als stoa-affin charakterisieren wird, besagt im Falle Teives wenig, zu oft betont er, daß der Erfüllung seiner Vorsätze entgegenstand, daß er „zu wollen unfähig war“ (vgl. Pessoa / ,Baron von Teive‘: Die Erziehung zum Stoiker, hg. von Richard Zenith, übersetzt von Inés Koebel, Zürich 2004, S. 19 u. 21). 84 Pessoa / ,Baron von Teive‘: Die Erziehung zum Stoiker, S. 34. 85 Georg Kohler charakterisiert Teive in seinem Nachwort zur Erziehung zum Stoiker entsprechend: „Teive will Stoiker sein; gleichwohl tut er all das, was er

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An angespielten Stoizismen mangelt es hingegen nicht, so habe Teive bei der Amputation seines linken Beines die Narkose abgelehnt; doch entlarven die genaueren Umstände jenen stoischen Heroismus als bloß verbale Geste: „einer Lokalanästhesie“ hat Teive zugestimmt.86 Gleichwohl fährt der Baron darin fort, Stoizismen zu propagieren. Den Schmerz habe er verachtet, genauer gesagt, die Vorstellung vom Schmerz, also „die Furcht, die er hervorrufen kann“.87 Auch Sehnsucht habe er niemals empfunden und sei zudem „immer rational in [s]einen Gefühlen“88 gewesen. Beharrlich insistiert er darauf, „nach dem Gesetz der Vernunft“ zu leben.89 Doch diese Aussagen sind nicht getragen von konkreter Selbstdisziplinierung aufgrund philosophischer Einsicht, sie enthüllen vielmehr die Nichtigkeit einer weitgehend kernlosen Existenzform, die sich in hellen Momenten – sofern sie nicht gerade in diverse neurotische Zwangsmechanismen verstrickt ist – ihrer „düsteren Belanglosigkeit“90 bewußt wird. Schließlich gesteht Teive selbst ein: Die Überzeugung, daß alle Seelentherapie nichtig ist, sollte mich unweigerlich auf den Gipfel der Gleichgültigkeit führen, wo Wolkenschleier alles irdische Treiben verhüllen würden. Doch so beherrschend der Verstand auch ist, gegen das Aufbegehren der Empfindung kann er nichts ausrichten.91

Teive bestätigt die freudsche Perspektive auf den Stoizismus. Zwar versucht er sich als Stoiker zu gerieren, indem er für sich in Anspruch nimmt, die naturalen Determinanten seiner psychischen Disposition

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tut, um solcher Unwägbarkeiten willen wie ,Ansehen und Würden‘. Souveränität und wahre innere Freiheit sind so nicht zu finden. Ich behaupte also, daß Teives ,Erziehung zum Stoiker‘ eine falsche Vorstellung des stoischen Ideals und stoischer Lebensführung empfiehlt.“ Kohler belegt seine Analyse, indem er Teives Aufzeichnungen mit Senecas De ira konfrontiert. „Die Souveränität des Weisen gründet in der Einsicht der unverrückbaren, fundamentalen Gesetze des Kosmos; von den Zufälligkeiten sozialer Anerkennung ist sie darum nicht zu erschüttern. Scheinbar steht auch Teive auf diesem stoischen Standpunkt, wenn er etwas pathetisch erläutert, die ,Würde der Klugheit‘ bestehe darin, ,daß sie ihre Grenzen erkennt und weiß, daß sich das Universum außerhalb von ihr befindet‘.“ Kohler kommt zum Schluß, Teive sei „kein Stoiker, sondern ein Mensch, der geplagt ist von einem grandiosen Ich-Ideal und einem schrecklichen Über-Ich.“ (Georg Kohler: Der Baron als Stoiker, in: Pessoa / ,Baron von Teive‘: Die Erziehung zum Stoiker, S. 89 – 108, dort S. 99 ff.). Pessoa / ,Baron von Teive‘: Die Erziehung zum Stoiker, S. 34. Ebd., S. 35; vgl. Epiktet, Ench. 5 sowie Marc Aurel IV, 39. Pessoa / ,Baron von Teive‘: Die Erziehung zum Stoiker, S. 39. Ebd., S. 47. Ebd., S. 40. Ebd., S. 30 f.

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eigenmächtig zu beherrschen, doch erwächst aus solchen unangemessenen Bemühungen keine homogene Seelenökonomie, sondern eine Mixtur aus Neurosen, die „unweigerlich zur Passivität“92 und, am 11. Juli 1920 auf seinem Landgut in Macieira, zum einzigen ,Sakrament‘ des Stoizismus93, dem Selbstmord Teives führt. In seiner letzten Stunde jedoch offenbart sich, wie benachbart der reklamierte Stoizismus dem Eigendünkel von Teives Stolz ist. Konfrontiert mit seiner baldigen Selbstauslöschung verfällt Teive in die Pose des stoischen Gladiators, der selbst die Niederlage noch zum eigenen Sieg stilisiert. „Angesichts der Welt Tränen vergießen“, dieser „letzte[n] Unwürdigkeit, die ein Besiegter, der sein Schwert nicht für seine letzte Soldatenpflicht aufzuheben wußte, gegenüber seinem Seelenleben begehen kann“94, will sich Teive nicht schuldig machen. Mit seinen letzten Worten codiert er die Niederlage zum ureigensten Sieg, zum Ausweg aus seiner Passivität, zum paradoxen Triumph um: Ich habe, wie mir scheint, die volle Entfaltung meines Verstandes erreicht. Und daher werde ich mich töten. Gladiator bin ich, versklavt und unterjocht; das Schwert, greife ich nach ihm, wird meine Niederlage sein und, verschmähe ich es, meine Freiheit; laut grüße ich das Schicksal mit dieser vorletzten Geste – der Geste, die jener vorangeht, mit der ich mich, mich besiegt bekennend, zum Sieger mache. […] Nach diesem Gruß aber stoße ich das Schwert, das mir nicht dienen wird in diesem Kampf, in meine Brust. Wenn Besiegter ist, wer stirbt, und Sieger, wer tötet, dann mache ich mich, mich besiegt bekennend, zum Sieger.95

Während Ricardo Reis’ Lyrik die Symbolik Hemingways bloß präludiert, nimmt sich Teive bereits als direkter Vorfahr von Hemingways stoischem Personal aus. So klingt das Credo von Hemingways Fischer Santiago: „Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben“96 wie eine Wiederholung von Teives „Ich bekenne mich als vom Leben besiegt, aber nicht als vom Leben geschlagen.“97 92 Ebd., S. 32. 93 Vgl. Nietzsche, Nachlaß W II 3, Nr. II [190], in: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 2 1988, Band 13, S. 80: „Der Stoicismus, der nur Ein Sakrament hat: den Selbstmord…“ 94 Pessoa / ,Baron von Teive‘: Die Erziehung zum Stoiker, S. 47. 95 Ebd., S. 53 f. 96 Hemingway: Der alte Mann und das Meer, in: Gesammelte Werke, übersetzt von Annemarie Horschitz-Horst, Reinbek bei Hamburg 1977, Band 4, S. 201 – 267, dort S. 255. 97 Pessoa / ,Baron von Teive‘: Die Erziehung zum Stoiker, S. 53.

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„Grace under Pressure“: Ernest Hemingways stoisches Männlichkeitsethos Als 1981 eine erste Ausgabe der Briefe Hemingways erscheint98, wird ihr nicht nur ein Motto vorangestellt, sondern dieses bereits auf dem Titelblatt abgedruckt: „Zuerst bedenke, was du sein willst, dann tu, was du tun mußt“ – eine Passage aus Epiktet.99 Es spricht für sich, daß der Herausgeber just ein Stoiker-Zitat an jene markante Stelle seiner Edition setzt. Denn kaum ein Dichter ist derart besessen von einer spezifisch-heroischen Ausformung des Stoizismus wie der Autor von The old Man and the Sea (1952). Was Ernest Hemingway in einem Brief an Gertrude Stein und Alice B. Toklas mit einem launigen Wortspiel formuliert – „Klang es nicht, als ob ich Marcus O Realius geschrieben hätte?“100 –, ist dabei gewissermaßen exemplarisch für seinen Umgang mit dem Stoizismus: Der private pun gegenüber der Meisterin des punning verschleiert und enthüllt nämlich gleichermaßen den Bezug auf Marc Aurel, und was sich hier an einem kleinen Wortspiel manifestiert, charakterisiert auch Hemingways Umgang mit der Philosophie der Stoa insgesamt: In seinem literarischen Werk sind explizite Verweise auf die Stoa spärlich bis nichtexistent, doch werden Stoizismen als mehr oder weniger deutliche Anspielungen, Echos oder intertextuelle Verweise eingestreut.101 Im Unterschied zu anderen von der Stoa durchdrungenen Autoren ˇ echov oder Pessoa nennt Hemingway die Stoa oder ihre Vertreter wie C somit nicht ausdrücklich; dennoch ist unter den amerikanischen 98 Hemingway: Selected Letters 1917 – 1961, ed. by Carlos Baker, New York 1981; deutsche (leicht gekürzte) Ausgabe: Ausgewhlte Briefe, hg. von Carlos Baker, übersetzt von Werner Schmitz, Reinbek bei Hamburg 1984. 99 Zur Vorstellung eines ,Lebensplans‘ (enstasis) bei Epiktet vgl. Ench. 23 u. Diatr. III, 22 (vgl. auch Ench. 33). 100 Vgl. Hemingways Brief an Gertrude Stein und Alice B. Toklas vom 10. Oktober 1924, in: Ausgewhlte Briefe, S. 103 f. 101 Angesichts des nahenden Todes etwa flackern im Bewußtsein eines Sterbenden Erinnerungen und – wenn auch nicht als solche markierte – Zitate jenes „Marcus O Realius“ auf: „Sie hatten einmal darüber diskutiert, daß Gott keinem etwas schicke, was er nicht ertragen könne…“ (Hemingway: Schnee auf dem Kilimandscharo, in: Gesammelte Werke, übersetzt von Annemarie HorschitzHorst, Reinbek bei Hamburg 1977, Band 6, S. 50 – 72, dort S. 69); die Passage verweist deutlich auf Marc Aurel V,18: „Nichts passiert einem, was man nicht von Natur aus zu ertragen imstande ist“ (Marc Aurel: Wege zu sich selbst, hg. und übersetzt von Rainer Nickel, München und Zürich 21998, S. 109).

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Schriftstellern des 20. Jahrhunderts kaum jemand für seine stoischen Protagonisten derart berüchtigt wie Hemingway. Bei ihm vollzieht sich eine Säkularisierung des stoischen Ideals, die noch auf jeder der von ihr generierten Schwundstufen des Stoizismus das antike Vorbild erkennen läßt.102 Die Stoiker, die Hemingway entwirft, sind keine weltflüchtigen Gestalten, keine gescheiterten Existenzen, von des Gedankens Blässe angekränkelt, sondern Stierkämpfer, Großwildjäger, Soldaten oder Hochseefischer; kurz: äußerst virile, wenn auch zutiefst problematische Charaktere, denen ihr Stoizismus als Garant der Selbsterhaltung und -achtung dient. Im Œuvre Hemingways sind dabei folgende Aspekte der Stoa relevant: Die Bändigung der Triebe, das Streben nach Autonomie sowie das Aushalten und Bestehen vor dem Schicksal. Die Affekte, die es zu bezwingen gilt, treten bei Hemingway dem Subjekt aber nicht primär auf der psychischen Ebene antagonistisch entgegen, sondern figurieren als konkrete objektive Gegebenheiten. Im äußeren Geschehen bildet sich ab, was im Inneren stattfindet, sobald ein Stoiker sich daran macht, seine Affekte nicht nur zu bändigen, sondern gar auszumerzen.103 Die zu beherrschenden Triebstrukturen werden figurativ externalisiert, so daß der Protagonist nicht mit und in sich, sondern mit wilden Tieren oder menschlichen Gegnern außerhalb seiner kämpft. Der projektierte Sieg über die gegnerische Macht verweist auf den intrapsychischen Triumph der Vernunft über die triebhaften Aspekte des Menschen.104 In solchen Auseinandersetzungen besteht der stoische Kämpfer entweder oder vermag im Scheitern zumindest die eigene Würde zu bewahren. Denn nicht allein der siegreiche Ausgang konstituiert die stoische Selbstbe102 Sogar der Selbstmord Hemingways ist solchen Idealen geschuldet. Denn Hemingway modellierte für die Öffentlichkeit seine eigene Biographie nach dem selben stoischen Muster, das er seinen Helden zugrunde legt. Er stilisierte sich als starken, selbstgenügsamen Mann, dem weder Schicksalsschläge noch irrationale Anfechtungen etwas anhaben können, der sich aber umbringt, sobald er nicht mehr in Würde weiterleben kann. Wie er damit wirkungsvoll zur Legendenbildung beigetragen hat, zeigt u. a. Rolf Hochhuths Monodrama Tod eines Jgers (1976), das die letzten zwei Stunden vor Hemingways Selbstmord thematisiert. 103 Vgl. Seneca, Ep. 116. 104 Hierbei gestaltet Hemingway transformativ das, was – nach stoischer Interpretation – bereits die Mythen um verschiedene ,Heilige‘ der Stoa – Herkules, Odysseus und Laokoon – ins Bild setzten, denen ikonographisch ähnliche Tiergestalten und deren angestrebte Überwindung zugeordnet sind.

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stimmung, sondern schon die Bereitschaft, die Auseinandersetzung als solche zu wagen. Für den jungen David, der in Islands in the Stream den aussichtslosen Kampf mit einem Schwertfisch aufnimmt, gilt dies nicht weniger als für den alten Santiago in The old Man and the Sea. Es gilt sogar für den ängstlichen Anti-Helden Francis Macomber in The short happy Life of Francis Macomber (1936). Seiner Ehre verlustig gegangen, nachdem er vor einem Löwen Reißaus genommen hat, stellt er sich, all seine Furcht besiegend, während der nächsten Jagd einem waidwunden Büffel. Hierdurch wird er in seinen und den Augen der Mitwelt zum „Mann“105 – Hemingways Synonym für seine stoischen Helden. Macomber restituiert seine Würde in solcher Todesverachtung und erfährt noch im Angesichts des möglichen Todes sein Glück vor der Matrix stoischer Wertvorstellungen: Nicht das Überleben, das durch das Ausweichen vor einem wilden Büffel gesichert gewesen wäre, ist das Gut, das er wählt. Vielmehr wird ihm erst durch die bewußte Konfrontation mit den ihn bedrängenden Mächten und in seiner Beständigkeit angesichts ihrer – auch oder gerade um den Preis des eigenen Lebens – jene autarkeia zuteil, die ihn letztlich als glücklichen Menschen sterben läßt. „Bleib an der Stelle, die dir die Natur gewiesen hat“, rät Seneca, und erläutert dies durch die nachgerade hemingwaysche Forderung: „Bleib ein Mann!“106 Ein „Mann“ hemingwayschen Zuschnitts ist nun jener stoische Charakter, der selbst unter enormem Druck nie die eigene Würde und Anmut verliert, sondern gerade hier seinen ureigensten Wesenskern findet. „Grace under pressure“ lautet die knappe Formel solchen Stoikertums.107 Hemingways Stoiker ist kein passiv-fatalistischer Leidender, er ist ein Dulder, der im Ausharren seine Macht beweist. Geradezu parabolisch wird dieser Stoizismus des „Mann“-Seins108 in The old Man and the

105 Hemingway: Das kurze glckliche Leben des Francis Macomber, in: Gesammelte Werke, übersetzt von Annemarie Horschitz-Horst, Reinbek bei Hamburg 1977, Band 6, S. 7 – 37, dort S. 33. 106 Seneca: De const. sap. 19, in: Die kleinen Dialoge, hg. und übersetzt von Gerhard Fink, München und Zürich 1992, Band 1, S. 46 – 95, dort S. 95. 107 Vgl. Hemingways Brief an F. Scott Fitzgerald vom 20.(?) April 1926, in: Ausgewhlte Briefe, S. 154. 108 Santiagos Vorsatz beim Kampf mit dem Schwertfisch lautet entsprechend: „Ich werde ihm zeigen, was ein Mann tun kann und was ein Mann aushält“ (Hemingway: Der alte Mann und das Meer, in: Gesammelte Werke, übersetzt von

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Sea (1952) gestaltet. Der alte Fischer Santiago fährt nach 84 Tagen erfolglosen Fischens erneut aufs Meer hinaus. Endlich fängt er einen gigantischen Schwertfisch, mit dem er mehrere Tage und Nächte hindurch kämpft. Schließlich siegt er, um dann bei der Heimfahrt von Haien attackiert zu werden, die ihm seine Beute rauben. Als er das Ufer erreicht, ist von dem Marlin nur noch das Skelett als stoisches vanitasSymbol übrig. Santiago schleppt sich mit letzter Kraft in seine Hütte, ein Verlierer, aber kein Geschlagener: Bald wird er erneut ausfahren. In dieser Figur konzentriert sich alles, was in Hemingways sonstigem Œuvre an Stoizismen versprengt ist. Santiago wird zur Allegorie des Menschen, der angesichts scheinbar schicksalhaft über ihn verfügter Umstände dennoch einsam und konsequent den ihm vorbestimmten Weg geht und sich dabei durch keinerlei Äußerlichkeiten beirren läßt, denn „schließlich ist nichts leicht“.109 Bereits seine Lebensführung ordnet den Fischer dem Ideal antiker Stoiker zu: Er ist ein ärmlich gekleideter alter Mann, der in einer notdürftig ausgestatteten Hütte ein äußerst karges Dasein fristet. Weder benötigt er viel Schlaf noch häufiges oder gar üppiges Essen. Das wenige, was er an Nahrung zu sich nimmt, verzehrt er darüber hinaus noch nicht einmal aufgrund naturaler Bedürftigkeit, sondern weil es ihm vernünftig erscheint: Der alte Mann trank langsam seinen Kaffee. Das war alles, was er den ganzen Tag über zu sich nehmen würde, und er war sich klar darüber, daß er ihn trinken mußte. Seit langem schon hatte ihn die Esserei gelangweilt, und er nahm niemals etwas zu Mittag mit. Er hatte eine Flasche mit Wasser im Bug des kleinen Bootes, und das war alles, was er am Tag brauchte.110

Noch unter härtesten Umständen scheint ihm wenig zu mangeln, und als er während des langen Ringens mit dem Fisch den körperlichen Schmerz etwas auszugleichen sucht, indem er die Position wechselt, konstatiert der Erzähler zwar: „Die Lage war tatsächlich nur einigermaßen weniger unerträglich“ – doch aus der Innenperspektive seiner Annemarie Horschitz-Horst, Reinbek bei Hamburg 1977, Band 4, S. 201 – 267, dort S. 234 f.). 109 Ebd., S. 239. 110 Ebd., S. 214. Auch auf hoher See regelt rationale Affektkontrolle Santiagos Eßverhalten. So etwa, wenn er sich trotz mangelnden Appetits dazu entschließt, einen Fisch zu verzehren, um gegebenenfalls bei Kräften bleiben zu können: „darum ist es besser, wenn ich jetzt alles esse, obwohl ich keinen Hunger habe. […] Ich werde alles essen, und dann bin ich bereit“ (ebd., S. 231). Für sein Schlafverhalten gilt ähnliches: „Es ist ein halber Tag und eine Nacht und jetzt wieder ein Tag, und du hast nicht geschlafen. […] Ich könnte ohne Schlaf auskommen, sagte er zu sich. Aber es wäre zu gefährlich“ (ebd., S. 241).

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Figur erscheint die Haltung „beinahe bequem“.111 Er fühlt „sich ganz behaglich, obwohl er litt, aber er gestand sich’s nicht ein, daß er litt.“112 Allem, was ihm zustößt, begegnet er trotz hohen Leidensdrucks mit stoischem Gleichmut. Weder der mangelnde Respekt seiner Mitfischer noch sein verschwundenes Glück beim Fischfang können seine beherrschte Selbstachtung untergraben, die durch eine eigentümliche Demut dem Schicksal gegenüber vermittelt ist: „Er war zu einfältig, um sich zu fragen, wann er diesen Zustand der Demut erlangt hatte. Aber er wußte, er hatte ihn erlangt, und er wußte, es war nicht entehrend, und es brachte nicht den Verlust echten Stolzes mit sich.“113 Denn Santiagos Stolz hängt nicht wie der Stolz von Pessoas Baron von Teive an gesellschaftlicher Anerkennung, sondern ist gegründet im Wissen, seine ihm zugeordnete Position auszufüllen. Santiago ist nicht einfach ein Fischer, vielmehr spielt er im theatrum mundi die ihm vom Fatum zugewiesenen Rolle: „dafür bin ich geboren“.114 Was er hinsichtlich seiner konkreten Situation auf dem offenen Meer formuliert, gilt nicht weniger für seinen Lebensweg als ganzen: „Segle auf deinem Kurs und nimm’s auf dich, wenn’s kommt.“115 Beim tage- und nächtelangen Ringen mit dem Schwertfisch erweist sich Santiago als Musterbeispiel stoischer Constantia, die auch angesichts herbster Herausforderungen nicht ins Wanken gerät. Trotz größter Schmerzen ermahnt sich Santiago: „Es ist nicht schlimm […]. Und Schmerzen machen einem Mann nichts.“116 Immer, wenn er an den Rand der Erschöpfung gerät und fürchtet, nicht länger ausharren zu können, besinnt er sich auf sein grenzenloses Durchhaltevermögen: „Viele Wendungen kann ich nicht mehr aushalten. Doch, du kannst, sagte er zu sich. Du kannst ewig aushalten.“117 111 112 113 114 115 116 117

Ebd., S. 224. Ebd., S. 234. Ebd., S. 207. Ebd., S. 226; vgl. Epiktet: Ench. 17. Ebd., S. 255. Ebd., S. 245. Ebd., S. 249. Wie sehr solches Aushaltevermögen im Kampf mit einem Tier nicht nur von bewußter Affektkontrolle abhängt, sondern zugleich die Tatsache illustriert, daß in solchem Ringen mit einem Tier vor allem der intrapsychische Kampf mit den Affekten inszeniert ist, zeigt sich daran, daß Santiago, sobald er die rationale Kontrolle verliert, nicht länger Herr über das widerständige Tier ist: Im Schlaf nämlich träumt er seit Jahren konsequent den immer wiederkehrenden Traum von jungen, spielenden Löwen. Wenn im Schlaf Santiagos Fähigkeit zu bewußter Affektkontrolle suspendiert ist, sind die als Tiere figu-

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Während des Kampfes entwickelt sich in Santiagos Wahrnehmung eine symbiotische Beziehung zu dem Fisch. Auch hier erweist er sich als Stoiker, wenn er nebst den ihm begegnenden Meereslebewesen selbst den Fisch als „Bruder“ empfindet und mit ihm in eine – wenn auch einseitige – Kommunikation tritt. Nicht weniger als die eigene Person empfindet Santiago den Fisch als Teil des beseelten Schöpfungsganzen, einen Teil, dem es Respekt zu zollen gilt: „Fisch […], ich liebe und achte dich sehr.“118 Der Schwertfisch gerät ihm zunehmend zum Alter Ego, dem er seine eigenen stoischen Attribute („ruhig und stetig“119) zuzuschreiben beginnt, und er wundert sich, als der Fisch plötzlich unkontrollierte Affekte zeigt: Was ihn wohl so plötzlich zum Losgehen gebracht hat? Kann ihn der Hunger zur Verzweiflung getrieben haben oder hat ihn irgendetwas in der Nacht geängstigt? Vielleicht hat er plötzlich Angst gehabt. Aber er war solch ein ruhiger, starker Fisch, und er schien so furchtlos zu sein und so zuversichtlich. Es ist merkwürdg.120

Als er erkennt, daß er in seiner Beherrschung stärker als sein Fang ist, beginnt er sogar, auf den Fisch Rücksicht zu nehmen, der ihm im Ertragen von Leiden unterlegen scheint: „Ich darf seine Schmerzen nicht größer werden lassen, dachte er. Meine sind ganz egal. Meine kann ich beherrschen. Aber seine Schmerzen können ihn zum Wahnsinn treiben.“121 Nach seiner Niederlage und Heimkehr erweist sich Santiagos Stoizismus als ungebrochen. Hatte er sich zuvor des öfteren in den Gesamtzusammenhang der Natur eingegliedert, wenn er die Tiere als seine Brüder bezeichnete oder sich selbst das Herz einer Schildkröte zuschrieb, das „noch stundenlang schlägt, nachdem man [die Schildkröte] zerstückelt und ausgeschlachtet hat“122, so erweist er sich auch

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rierten Triebe frei und ungebändigt, sie können ihrer natürlichen Bestimmung gemäß in aller Unschuld ,spielen‘. Ebd., S. 228. Auch der junge und zu Tode erschöpfte David in Islands in the Stream äußert über den ihm nach lang andauerndem Kampf entkommenen Fisch entsprechendes: „Als es am schlimmsten war, und ich kaum noch konnte, hätte ich nicht sagen können, wer wer von uns beiden war. […] Da habe ich ihn geliebt. Mehr als irgend etwas in der Welt.“ (Hemingway: Inseln im Strom, in: Gesammelte Werke, übersetzt von Annemarie Horschitz-Horst, Reinbek bei Hamburg 1977, Band 5, S. 123 f.) Hemingway: Der alte Mann und das Meer, S. 231. Ebd., S. 244. Ebd., S. 246. Ebd., S. 219.

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hier als zwar besiegt, aber willens, weiter zu kämpfen, sobald er ausgeruht ist. Als Verwandter des Camusschen Sisyphos bleibt er auch nach der scheinbaren Niederlage seiner Maxime treu: „Aber der Mensch darf nicht aufgeben“, sagte er. „Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.“123

„Ausschweifung in umgekehrter Richtung“: Yourcenars eklektischer Hadrian Im Genre des historischen Romans kommt es zuweilen vor, daß antike Stoiker auftreten: Marc Aurel geistert durch Walter Paters Marius the Epicurean (1885) wie durch Gisbert Haefs Roma, oder Der erste Tod des Marc Aurel (2001), Cicero und Cato durch Bertolt Brechts Die Geschfte des Herrn Julius Caesar (1937 – 39) und Thornton Wilders The Ides of March (1948). Doch bleiben sie in den genannten Beispielen zumeist Statisten, deren Stoizismus angespielt, selten aber thematisiert wird. Auch in Marguerite Yourcenars (1903 – 1987) Les Memoires d’Hadrien (1951) 124 ist Marc Aurel auf den ersten Blick bloß eine Hintergrundfigur. Eine Analyse der Textstruktur erweist allerdings, wie zentral die mit Marc Aurel assoziierte Philosophie für den Ich-Erzähler ist, wird der Stoizismus in diesem Werk doch auf zweierlei Weise thematisch. Einerseits wird er kritisiert und abgelehnt, andererseits jedoch läßt er sich gleichsam als eine weltanschauliche Folie des inneren Werdegangs von Hadrian selbst verstehen – eine Folie, vor der Yourcenar Hadrian teils kontrastiv, teils in Einverständnis mit ihr profiliert. Der Autorin gerät dabei der von verschiedenen Historiographen als lustbetont geschilderte Kaiser wenn nicht gar zum Stoiker, so doch zum stark stoifizierten Hedonisten. Ähnlich wie Pessoas Ricardo Reis changiert auch Hadrian zwischen beiden Positionen und vermittelt sie, so daß nicht nur von einem „traurige[n] Epikureertum“125, sondern zugleich von einem ,fröhlichen Stoizismus‘ zu sprechen ist. Punktgenau formuliert diesen Umstand die Autorin, wenn sie an anderer Stelle, in ihrem Essay über Konstantinos Kavafis, ein paralleles Phänomen benennt: „Überall, selbst 123 Ebd., S. 255. 124 Im folgenden zitiere ich nach der deutschen Erstausgabe: Marguerite Yourcenar: Ich zhmte die Wçlfin. Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian, übersetzt von Fritz Jaffé, Stuttgart 1953. 125 Pessoa / ,Ricardo Reis‘: Poesia – Poesie, S. 8.

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in den aufs köstlichste verzärtelten Formen, finden wir das harte Rückgrat des Stoizismus.“126 Diesen latenten Stoizimus des Kaisers integriert Yourcenar auf vielfältige Weise in ihr Portrait Hadrians, der – nach Aussage etwa des Aurelius Victor – „mit peinlicher Sorgfalt auf alles bedacht“ gewesen sei, „was zu einem luxuriösen, ausschweifenden Leben gehört“.127 Unbestreitbar, das Szenario, das Hadrian von seinem Leben entwirft, ist größtenteils der Kultivierung der Sinnlichkeit gewidmet; allein seine maßlose Infatuation bezüglich Antinous’ brächte jeden Stoiker zum Erschaudern. Doch betont Yourcenar gleichzeitig gerade jene stoakompatiblen Aspekte seines Wesens, von denen andere antike Historiker berichten. So etwa Hadrians Neigung zu ,rauher‘ und spröder Dichtung: Später zog ich den rauhen Ennius [dem Vergil] vor […] und die wissende Bitterkeit des Lukrez. Hesiod in seiner kargen Demut sagte mir mehr zu als Homers großherzige Fülle. Mir gefielen vor allem die dunklen, schwer verständlichen Dichter, die dem grübelnden Verstand am meisten zu schaffen machten, und unter ihnen wieder die jüngsten und die ältesten.128

Auch den historisch dokumentierten Umgang mit stoischen Philosophen wie Epiktet, Arrian, Euphrates129 oder Marc Aurel130 hebt Yourcenar hervor. Insbesondere aber sorgt ein struktureller Kniff dafür, daß der Stoizismus nie aus dem Blickfeld verschwindet: die programmatische Adressaten-Bezogenheit der Memoires d’Hadrien. Hadrian rekapituliert sein Leben nämlich in Form eines bekenntnishaften Briefes an den siebzehnjährigen Marc Aurel. Marc Aurel und seine Geisteshaltung repräsentieren damit den subkutan verlaufenden Diskurs, auf den die Biographie Hadrians bezogen bleibt, sei es kontrastiv oder im 126 Yourcenar: Konstantinos Kavafis. Eine Einfhrung, in: Konstantinos Kavafis: Das Gesamtwerk, übersetzt und hg. von Robert Elsie, Frankfurt/Main 42006, S. 5 – 49, dort S. 41. 127 Aurelius Victor: Lib. Caes. XIV,6, in: Die rçmischen Kaiser / Liber de Caesaribus, hg. und übersetzt von Kirsten Groß-Albenhausen und Manfred Fuhrmann, Zürich und Düsseldorf 1997, S. 49. 128 Yourcenar: Ich zhmte die Wçlfin, S. 39; vgl. dazu das Zeugnis von Historia Augusta XVI, 5 ff.: „amavit praeterea genus vetustum dicendi. […] Ciceroni Catonem, Vergilio Ennium, Sallustio Caelium praetulit…“ (Historia Augusta, ed. with an English translation by David Magie, Cambridge/Massachusetts and London 2006, Band 1, S. 50). 129 Zu Euphrates vgl. Epiktet, Diatr. IV, 8, 17 ff. und Plinius, Ep. I, 10. 130 Vgl. Historia Augusta XVI,10 und Cassius Dio LXIX,8.

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Blick auf die Ähnlichkeiten beider. Daß dieser Bezugsrahmen nicht vergessen wird, ist durch regelmäßige Adressaten-Ansprache gesichert. Die Raffinesse, mit der Yourcenar auf diesem Wege das Psychogramm des Kaisers zwischen Hedonismus und Stoizismus oszillieren läßt, ist bemerkenswert. Expressis verbis steht Hadrian dem Stoizismus des jungen Marc Aurel sehr skeptisch und kritisch gegenüber. Die Anreden an Marc Aurel dienen denn auch zumeist dazu, Hadrians Abwehrhaltung gegenüber dem Stoizismus zu betonen. Marc Aurels „jugendliche Sittenstrenge“131 wird ironisiert, er überschätze „den starren Eigensinn der Stoiker“132 ; sein stoischer Gestus wird nachsichtig getadelt und prophetisch der stoische vanitas-Topos auf die Spitze getrieben: Ich sah, wie begeistert du die Schriften der Philosophen lasest, dich in rauhe Wolle kleidetest, auf dem harten Boden schliefst, dem etwas zarten Leib alle Kasteiungen der Stoiker aufzwangst. Darin liegt Übertreibung, aber mit siebzehn Jahren ist die Übertreibung eine Tugend. Manchmal frage ich mich, an welcher Klippe diese Weisheit scheitern wird, denn scheitern tut sie einmal: wird es eine Gattin sein, ein zu innig geliebter Sohn, kurz eine jener ordnungsmäßigen Fallen, in denen schüchterne, reine Gemüter sich verfangen? Oder noch einfacher: Alter, Krankheit, Müdigkeit, jene Enttäuschung, die uns sagt, daß wenn alles eitel ist, auch die Tugend es ist? 133

Marc Aurels Verhältnis zu ihm, dem Stoa-Skeptiker, faßt der Kaiser wie folgt zusammen: Aus deiner wehmütigen Verachtung für all diesen vergänglichen Glanz, für diesen Hof, der nach meinem Tode auseinanderfallen wird, hast du mir kein Hehl gemacht. Du liebst mich nicht sehr; […] in mir witterst du eine Weisheit, die der von deinen Lehrern verkündeten zuwiderläuft, in meiner Hingabe an die Sinne eine Lebensauffassung, die der Strenge der deinigen entgegengesetzt ist.134

Doch gar so entgegengesetzt sind beider Lebensauffassungen nicht, denn in seiner Selbstcharakteristik erscheint Hadrian zuweilen als gerade für den Stoizismus disponiert. Betont er doch, daß auch er von Jugend an „Genuß im Maßhalten“135 gefunden habe, das er der allgemein prak-

131 132 133 134 135

Yourcenar: Ich zhmte die Wçlfin, S. 15. Ebd., S. 49. Ebd., S. 289. Ebd., S. 290. Ebd., S. 12.

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tizierten Völlerei entgegensetzte.136 Er bekennt seine „Neigung zu allen selbstauferlegten, vorübergehenden Arten von Verzicht und Entsagung“137; entsprechend „machte ich die Bedürfnislosigkeit zu einer Regel, der ich mich selbst beugte“138 ; auch habe er sich stets gegen die Widrigkeiten des Geschicks und der äußeren Umstände zu konditionieren gesucht: Diese Übungen gestatteten mir bisweilen, mit dem Gedanken der fortschreitenden Selbsttötung zu spielen, mit dem Tod durch Entkräftung, den so manche Philosophen sich erkoren haben, jener Ausschweifung in umgekehrter Richtung, die bis zur Aufhebung des leiblichen Daseins getrieben wird.139

Desgleichen übt er sich darin, von äußerlichen Gegebenheiten unabhängig zu werden: oft versuchte ich sogar, vom körperlichen Druck der Müdigkeit ganz freizukommen. […] Alle Empfindungen, Gedanken und Geschäfte mußten es sich gefallen lassen, jederzeit unterbrochen und wieder aufgenommen zu werden. Meine Gewißheit, daß ich sie wie Sklaven fortschicken und zurückrufen konnte, nahm ihnen jeden Schein der Tyrannei und mir das Gefühl der Knechtschaft.140

Motiviert wird für Hadrian solcher Asketizismus durch das gerade für die Stoa wesentliche Ziel der Bewahrung der eigenen Autarkie und Freiheit: Mir ging es immer mehr um die Freiheit als um die Macht, um die Macht nur, weil sie bis zu einem gewissen Grade frei macht. Nicht die Philosophie der Freiheit kümmerte mich – sie war mir immer langweilig – sondern die Kunst, sie auszuüben. Nach dem Scharnier suchte ich, das Wille und Schicksal verbindet, nach dem idealen Punkt, wo die Disziplin die Anlage fördert, statt sie zu hemmen.141

All dies wirkt ausgesprochen stoisch, doch beharrt Hadrian auf seiner Ablehnung des stoischen Entsagungs-Pathos: „Es handelt sich hier, wohlgemerkt, nicht um den starren Eigensinn des Stoikers, dessen Einfluß du überschätzen magst. Es handelt sich nicht um ein un136 Vgl. ebd., S. 116: „Ein merkliches Sichgehenlassen ist mir immer als Bekundung schlechter Sitte erschienen.“ 137 Ebd., S. 59. 138 Ebd., S. 76. 139 Ebd., S. 17. 140 Ebd., S. 50. 141 Ebd., S. 49.

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fruchtbares Wollen oder Nichtwollen, das das Wesen dieser unserer leibhaftigen und gegenständlichen Welt außer acht läßt.“142 Um zu verhindern, daß man ihn in allzu große Nähe zu den Stoikern rückt, ist er sogar bereit, selbstverordnete Mäßigkeitsgebote zu umgehen: „Lieber verspeise ich mein ganzes Leben hindurch Mastgänse und Perlhühner, als daß ich mir bei jeder Mahlzeit ein betontes Asketentum nachsagen lasse.“143 Denn für ihn machen sich insbesondere die radikalen Stoiker jenes Lasters schuldig, das sie ihm unterstellten, der Ausschweifung, wenn auch einer „Ausschweifung in umgekehrter Richtung“.144 Gleichwohl ist es gerade Hadrian, der in seiner Neigung zur Askese jene „Ausschweifung in umgekehrter Richtung“ kultiviert. Es ist also ein Paradoxon zu diagnostizieren, nämlich das eines hedonistischen Strebens nach Entsagung. Dies Paradoxon entbehrt indes nicht einer gewissen Logik, denn wer nichts begehrt, kann sich auch nicht bewußt – gar genießend – enthalten. Hadrians „Lust am Fleische“145 ist somit die nötige Basis, von der aus er die „Lust an der Askese“ überhaupt erst ausleben kann. Im Umfeld dieses Paradoxons ergibt sich im folgenden immer wieder das Bild eines veritablen Stoikers, der sich nicht nur in sein Schicksal fügt, sondern sich sogar dazu erzieht, „den Zustand, in dem ich mich befand, zu bejahen.“146 Auch, als er sich in die Mysterien des Mithras-Kultes einweihen läßt, geschieht dies primär aufgrund von seiner Faszination an der Entsagung: „Mich bestach [dessen] Geist der Askese, der den Bogen des Willen hart spannte…“147 Der Mut, den Hadrian für sich anstrebt, „müßte kalt, gleichgültig und frei von Erre142 143 144 145 146

Ebd., S. 49. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 92. Ebd., S. 50. Ganz analog läßt später Günter Grass in çrtlich betubt einen seiner Protagonisten Seneca zitieren: „Erziehen wir uns zu der seelischen Haltung, selbst zu wollen, was die Lage erfordert“ (Grass: çrtlich betubt, in: Werkausgabe, hg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes, Göttingen 1993 ff., Band 6, S. 258). Sowohl bei Yourcenar wie bei Grass steht hier Epiktet, Ench. 8 im Hintergrund. 147 Yourcenar: Ich zhmte die Wçlfin, S. 60. Selbst dem stoischen Materialismus steht Hadrians Denkweise nicht allzu fern: „Und wir fragten uns, ob die Seele mehr sei als eine letzte Verfeinerung des Leibes, gerade stofflich genug, um Qual und Lust des Seins zu verspüren“ (ebd., S. 198; vgl. auch ebd., S. 226: Die Seele „dünkte mich nicht unbedingt unkörperlicher als die menschliche Wärme.“). Zur materialistischen Seelenlehre vgl. Marc Aurels Betonung, daß das „erbärmliche Seelchen selbst nur ein Dampf aus dem Blut ist“ (V, 33).

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gung sein, gelassen wie der Gleichmut eines Gottes“148, von „Verzicht um seiner selbst willen“149 ist die Rede, von seiner emotionalen Unerschütterlichkeit angesichts martialischer Triumph-Musik150, und wenn er bei Gladiatoren- und anderen Kampfspielen anwesend ist, geschieht auch dies noch um der Stärkung seiner Selbstüberwindungsgabe willen: „Mochte das Schauspiel mich anwidern, die Selbstüberwindung, die es mich kostete, mir nichts anmerken zu lassen, war mir dienlicher als die Lektüre des Epiktet.“151 Dennoch betont er bis zuletzt, er habe sein Leben nicht an jenen stoischen Idealen ausgerichtet: „Ich schätze mich glücklich, […] daß ich diese Verhärtung, diese Starre, dies Eintrocknen nicht zu erleben brauche und diese grauenhafte Wunschlosigkeit.“152 Doch auch entgegengesetzter epikureischer Metaphysik vermag er trotz seiner Vorliebe für Lukrez am Ende nicht vorbehaltlos zuzustimmen: „Andrerseits kommt es auch vor, daß mir […] das reine Nichts, die hohle Leere, wo Epikurs Lachen schallt, zu einfach erscheinen will.“153 Übrig bleibt schließlich ein stoischer Fatalismus, ausgedrückt in jenem Diktum, das sich Hadrian einst in seinen Ring einritzen ließ: „Natura deficit, fortuna

148 149 150 151

Ebd., S. 62. Ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 114. Ebd., S. 115. Letzteres ist als Spitze gegen den Stoizismus Marc Aurels gerichtet, der bei solchen Veranstaltungen stets ein Buch lese. Der angesichts der Gladiatorenkämpfe lesende Marc Aurel wird auch in Paters Marius the Epicurean eigens Gegenstand einer stoa-kritischen Darstellung. Denn statt den blutigen Spielen seine Aufmerksamkeit zu widmen, liest er lieber: „For the most part indeed, the emperor had actually averted his eyes from the show, reading, or writing on matters of public business, but had seemed, after all, indifferent. He was revolving, perhaps, that old Stoic paradox of the Imperceptibility of pain; which might serve as an excuse, should those savage popular humours ever again turn against men and women.“ (Walter Pater: Marius the Epicurean, in: The Works of Walter Pater, London 1900, Band 2 und 3, dort Band 2, S. 244). Auch Durs Grünbeins Gedicht Im Gedanken an Marcus Aurelius (1995) greift den Topos des sich vom zuweilen brachialen Weltgeschehen durch Lektüre abwendenden Marc Aurel auf, wenn er den Kaiser assoziativ mit einer Grille verbindet, die angesichts des mikroskopischen Weltgetümmels „einen Sprung weit entfernt, […] in den Wolkenzügen“ liest, „schweigend, ein stoischer Philosoph“. 152 Yourcenar: Ich zhmte die Wçlfin, S. 313. 153 Ebd., S. 308.

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mutatur, deus omnia cernit. Die Natur läßt uns im Stich, das Glück wechselt, der Gott beschaut sich all dies.“154 Wie Durs Grünbein später die eigene Zeit an der Epoche Senecas spiegelt, so spiegelt auch Yourcenar im synkretistischen Stoizismus Hadrians die Orientierungslosigkeit ihrer eigenen Epoche, der die traditionellen verbindlichen Werte brüchig geworden sind, die aber noch keine echten Alternativen anzubieten hat und sich deshalb in einem eklektizistischen Amalgam aus Altem und Neuem einrichtet, das letztlich jedoch unbefriedigend bleibt. Hadrians Stoizismus haftet entsprechend der Beigeschmack eines ,parastoischen Ästhetizismus‘ an, der sich in Selbstdeutungen ergeht. Yourcenars Kaiser positioniert sich damit gleich weit entfernt von Hemingways stummem Dulder Santiago wie von Pessoas Pseudo-Stoiker Baron von Teive.

„Einer, der abseits steht“: Hermann Lenz’ Marc Aurel-Jünger In Hermann Lenz’ (1913 – 1998) Erzählung Jung und Alt (1989) wird der Maler Robert Ross einmal gefragt, ob er den Schriftsteller Eugen Rapp kenne.155 Jener Rapp ist Protagonist vieler Romane von Lenz, so etwa von Der Wanderer (1986), wo mitgeteilt wird, daß er jüngst einen Roman mit dem Titel „Drommersheim“156 vollendet habe. Drommersheim wiederum ist jener die Grenzen von Raum und Zeit nivellierende fiktive Ort, von dem Lenz’ Roman Spiegelhtte (1962) handelt. Nicht nur sind hier drei Romane durch intertextuelle Verweise miteinander verknüpft, es durchzieht sie noch ein weiterer roter Faden – wie das Lenzsche Œuvre generell: Die Protagonisten aller genannten Werke unterhalten ein intensives Verhältnis zu Marc Aurel157 – und 154 155 156 157

Ebd., S. 260. Vgl. Lenz: Jung und Alt, Frankfurt/Main 1989, S. 142. Vgl. Lenz: Der Wanderer, Frankfurt/Main 1986, S. 200. In Spiegelhtte imaginiert Carl Umgelter eine Audienz bei Marc Aurel (Lenz: Spiegelhtte, Frankfurt/Main 1999, S. 96); in Der Wanderer reflektiert der Erzähler Marc Aurels Lehre vom „Leitvermögen“ (Lenz: Der Wanderer, S. 285), genauso wie dies Otto Nestle in Erinnerung an Eduard tut (Lenz: Erinnerung an Eduard, Frankfurt/Main 1981, S. 135 f.); in Jung und Alt schließlich heißt es: „Wenn die Straßenlampen angehen, hab’ ich das Gefühl, als ob ich einem Herrn begegnen könnte, der Geduld hat, sozusagen. Marc Aurel zum Beispiel“ (Lenz: Jung und Alt, S. 39), und in Seltsamer Abschied sorgt „wieder einmal […] Marc Aurel dafür“, daß der Protagonist „gleichgültig blieb“ (Lenz: Seltsamer Abschied, Frankfurt/Main 1988, S. 253).

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ebenso ihr Autor Lenz. Es gibt nur wenige Werke Lenz’, die nicht explizit oder implizit von den Selbstbetrachtungen des stoischen Kaisers ˇ echov hat so sehr im bestimmt wären.158 Denn kaum ein Dichter nach C Bann Marc Aurels gestanden wie Lenz, der die Auskunft gibt: Ich denke […] an Stellen in meinen Büchern, wo Marc Aurel erwähnt wird, und überlege, in welchen Sätzen sein Einfluß nachweisbar ist. Vielleicht sogar in allen, die ich geschrieben habe, obwohl ich beim Schreiben nur dann an ihn denke, wenn ich seinen Namen erwähne.159

Das Zeitübergreifende des Dialogs, den Lenz mit ,seinem‘ Philosophen führt, illustriert eine Passage aus Der Tintenfisch in der Garage (1977). Ludwig, der studentische Protagonist, spaziert 1971 mit seiner Freundin Friederike und deren vorgeblichem Onkel durch Marc Aurels Castra Regina, Regensburg. Sie gelangen an das Tor des römischen Lagers, und Ludwig phantasiert sich in eine Vergangenheit, in der Marc Aurel mit einem Markomannenfürst am Ufer der Donau ein Gespräch führt. Dieses endet mit der Feststellung des Kaisers: „Wir werden beide gleich weit kommen.“ In jenem Moment mischt sich der Onkel Friederikes in den phantasierten Dialog ein: „Was meinen Sie mit ,gleich weit‘?“, woraufhin nun Friederike ganz im Geiste des philosophischen Kaisers antwortet: „Zum Grabstein.“160 In dieser narrativen Inszenierung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Dialog unterstreicht Lenz die Nähe des fatalistischen Stoizismus Marc Aurels zur Gegenwart. Lenz’ Neigung zu Marc Aurel ist jedoch anders motiviert als die ˇ echovs. Lag die Affinität C ˇ echovs für Marc Aurel insbesondere darin, C ˇ daß Cechov in Marc Aurel – auch unabhängig von dessen Stoizismus – einen ihm seelenverwandten scharfsinnigen psychologischen Diagnos158 Markiert wird dies u. a. durch ein topographisches Leitmotiv, das verschiedene Werke des Autors durchzieht: das Römerlager Carnuntum bei Wien, die Stätte, an der einst ein Teil der Selbstbetrachtungen Marc Aurels geschrieben wurde. In Die Augen eines Dieners (1964) nimmt Kemmler in diesem Areal Ausgrabungen vor, bei denen u. a. die Büste eines römischen Kaisers zutage gefördert wird, die Marc Aurel darstellt; in Erinnerung an Eduard reflektiert wiederum Otto Nestle das stoische Konzept eines ,Leitvermögens‘ ausgerechnet „nahe bei Wien, wo ein verwittertes Tor aus der Ebene ragte, ein rundbogiger Klotz […]; denn dies sah ich dort, wo früher Carnuntum gestanden war.“ (Lenz: Erinnerung an Eduard, S. 136) Eugen Rapp, Lenz’ fiktives Alter Ego, betitelt schließlich in Freunde (1997) einen Teil seines Werkes als „In Carnuntum“ (Lenz: Freunde, Frankfurt/Main 1997, S. 162). 159 Lenz: Leben und Schreiben. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/Main 1986, S. 150. 160 Lenz: Der Tintenfisch in der Garage, Frankfurt/Main 1977, S. 82 f.

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tiker erblicken konnte, so ist das Verhältnis zwischen Lenz und Marc Aurel eher durch eine Parallele in der charakterlichen Disposition begründet. Lenz sieht in Marc Aurel speziell den stoischen Philosophen und damit einen ihm vertrauten weltabgewandten Einzelgänger, der ihn „im übrigen auch in meinem Fatalismus bestärkt“ habe161, „denn vom Leben hält [Marc Aurel] nicht viel.“162 Daß Marc Aurel der Repräsentant einer resignativen Weltanschauung ist, deren Betrachtungen „nur in heillosen Zeiten angestellt werden“ konnten163, ist für Lenz geistesgeschichtliche Selbstverständlichkeit. In historisch ähnlich dunklen und „heillosen“ Zeiten des 20. Jahrhunderts sei es insbesondere Marc Aurel gewesen, der „mir [half], durchzukommen“.164 Den Kritikern seines Fatalismus hält Lenz stoisch entgegen: „Wer weiß, daß auf Hitler über 200 Attentatsversuche mißglückt sind, wird, falls er so etwas wie Fatalismus in Mißkredit bringen will, zumindest nachdenklich werden.“165 Selbst Marc Aurel und sein Denken geraten dabei in den Sog einer allgemeinen Schicksalergebenheit, wenn Otto Nestle in der Mörike-Erzählung Erinnerung an Eduard bei seiner Marc Aurel-Lektüre über die Vergeblichkeit sinniert, die auch dessen Philosophie anhaftet: „Im Buch des Kaisers lesen, an die Worte denken, die er aufgeschrieben hatte, mir einbilden, daß dieselben sich einmal auswirken würden, obwohl sie sich bis jetzt noch nicht ausgewirkt hatten.“166 Dennoch kommt ihm solche Lektüre „schlauer vor“ als alles andere, denn wenigstens könne sie jene innere Ruhe gewähren, die so nötig ist. „Nur in sich selbst hat jeder seinen sicheren Bezirk“167 konstatiert Nestle und handelt danach, bietet doch der Stoizismus für ihn wie für seinen Erzähler Lenz genau jenes 161 Lenz: Lesen und Schreiben, S. 148. 162 Ebd., S. 144. 163 Ebd., S. 145; auch Starusch artikuliert in Grass’ Roman çrtlich betubt einen ähnlichen Zusammenhang: „Sie haben recht, Dokter [sic!], besonders in der Gefangenschaft vermag Seneca Trost zu spenden“ (Grass: çrtlich betubt, in: Werkausgabe, hg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes, Göttingen 1993 ff., Band 6, S. 97). 164 Ebd., S. 142; ebenso betont auch Peter Handke, bei Lenz handle es sich um einen „von den Umständen, der Zeit, dem 20. Jhdt. erzeugten Stoizismus“ (Handke an Lenz, 18. November 1975, in: Peter Handke / Hermann Lenz: Briefwechsel, hg. von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer, Frankfurt/Main 2006, S. 91). 165 Lenz: Lesen und Schreiben, S. 151. 166 Ebd., S. 137, Hervorhebung von F.P. 167 Ebd., S. 73.

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Refugium des ,inneren Bezirks‘, das der Einsicht des Gedichts Besitz entspricht: „Daß es still ist, darauf kommt es an.“168 Thematisiert wird solcher Stoizismus besonders in Die Augen eines Dieners (1964). Dieser Roman beschreibt das Dasein des Dieners Anton Wasik im Wien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es wird gezeigt, wie sich um Wasik herum die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse verändern, während er weitgehend unbeeinflußt vom Wandel der Zeit bleibt. Zunächst der Familie von Engelsleben als Kammerdiener zugeordnet, wird er Zeuge der Ehe des wenig feinsinnigen und politisch zum rechten Lager tendierenden Oberleutnants von Engelsleben mit der kultivierten Fanny. Als die Nazis zunehmend Einfluß gewinnen, versucht Fanny zusammen mit dem befreundeten Baron von Kemmler und Wasik, die Erziehung ihres Sohnes Eduard unabhängig vom alten Engelsleben zu gestalten. Als Eduards Eltern sterben, nimmt sich Wasik, mittlerweile Registraturbeamter, seiner an, und Eduard verlobt sich schließlich mit Wasiks Tochter Maria. Durchgehend ist der Text voller Anspielungen auf Marc Aurels Philosophie. Schon früh wird betont, wie wenig diese in die heutige Zeit passe, als deren negativer Repräsentant Engelsleben erscheint: Engelsleben saß auf der Balustrade und hatte eine grünlich oxidierte Bronzefigur in der Hand, nicht länger als ein Fingerglied. Kemmler nahm sie ihm weg: „Römisches in deiner Hand, das ist ein Sakrileg, du Wenzel.“ – „Ach, du mit deinem Kaiser. Der hat doch geschrieben: ,Sieh nach innen‘ oder ,Grabe innen‘. Ehrlich gesagt, das find ich blöd.“ – „Der spottet über Marc Aurel. Was meinen Sie dazu, Wasik?“ – „Mich würde es interessieren, Herrn Marc Aurel einmal zu begegnen“, sagte Wasik. Und Kemmler nickte, abwesend, groß und schwer. Dann sagte er zu Engelsleben: „Was der Kaiser geschrieben hat, wird ein Barbar niemals verstehen. Dich treibt’s halt, immer wieder Neues anzuzetteln, wie?“ Kemmler gab die Bronzefigur an Fanny weiter. Sie sah ihn unterm sonnenvergilbten Leinendach an, als sänke sie in sich zurück. Dann sagte sie: „Basedow… Marc Aurel hat die Basedowsche Krankheit gehabt, wie viele Empfindliche.“169

Während Engelsleben als ausgewiesener „Barbar“ keinerlei Zugang zur antiken Kultur findet, ist seine Frau Fanny empfänglicher disponiert, sie betont sogleich die Innerlichkeit, die in ihrer Deutung das Äußere jener Statue prägt. Auch Wasik verleiht seiner Affinität zu Marc Aurel Ausdruck. Insbesondere aber wird Kemmler als Verehrer Marc Aurels 168 Lenz: Zeitlebens. Gedichte 1934 – 1980, München 1981, S. 159. 169 Lenz: Die Augen eines Dieners, Frankfurt/Main 21979, S. 24 f.

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präsentiert. Das von Kemmler zitierte Wort „Sieh nach innen“170 kehrt als Leitmotiv nicht nur unzählige Male im Roman wieder, auch das Marc Aurelsche Motiv des Grabens, das den Gang in die eigene Seele umschreibt, findet hier Eingang. Kemmler wird nämlich an späterer Stelle nicht nur als „einer, der sich eingrub“171 beschrieben, er gräbt als dilettierender Archäologe auch ganz konkret die Schätze der Vergangenheit aus. Es verwundert kaum, daß die Büste eines römischen Kaisers als eines seiner ersten Fundstücke erwähnt wird – die Büste Marc Aurels.172 Wieder erhält dieser Akt eine symbolische Bedeutung, denn Kemmler wählt ausgerechnet jenen der Vergangenheit entrissenen Schatz als mahnendes Hochzeitsgeschenk für Engelsleben. Die Reaktion ist bezeichnend: „niemand beachtete sein Geschenk.“173 Kemmlers Versuch, der „barbarischen“ Sphäre Engelslebens die eigenen philosophischen Werte zu implantieren, scheitert also. Auch andere Bemühungen Kemmlers, den Unbekehrbaren zu bekehren, laufen ins Leere. Als er Engelsleben „den abgewetzten Lederband“ gibt, in dem „zum Beispiel […] ,Sieh nach innen…‘“174 steht, zeitigt dies keine Wirkung, genauso wenig wie die diversen von Kemmler zitierten oder paraphrasierten Marc Aurel-Passagen.175 Kemmler ist Vertreter eines höchst resignativen Stoizismus’. Denn seine stoische Haltung erschöpft sich darin, völlig von der Welt zurückgezogen zu leben und mit Marc Aurel-Zitaten die eigene Passivität zu bemänteln. Die pädagogische Verantwortung als Pate Eduards erfüllt er dann zuweilen auch eher formal: Die zitierte Losung des Stoikers, die die eigene Existenz bestimmen und Wertvorstellungen an Eduard vermitteln sollte, degeneriert schließlich zum Bestandteil sinnentleerter Begrüßungs-Rituale:

170 Marc Aurel VII, 59. 171 Lenz: Die Augen eines Dieners, S. 64. 172 Ebd., S. 85. Den im Roman nicht weiter beschriebenen ausgegrabenen Kopf identifiziert Lenz in seinen Frankfurter Vorlesungen: „Der sympathische Schweiger gräbt später einen Marc Aurel-Kopf aus Bronze aus einer Wiese aus“ (Lenz: Leben und Schreiben, S. 150 f.). 173 Lenz: Die Augen eines Dieners, S. 86. 174 Ebd., S. 108. 175 Zitiert werden u. a. Marc Aurel VII, 28, 49 und 59; auch Kemmlers Bemerkung, die Seele sei nur eine Leihgabe, verweist – genau wie der oben zitierte ˇ echovs vom 11. 4. 1889 an A. S. Suvorin – auf Marc Aurel. Brief C

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„Was hat der Kaiser geschrieben?“ Kemmler war stehengeblieben und sah Eduard herrisch an. „Eso blepe“, sagte Eduard.176

Wenn Kemmler dabei wirkt, „wie einer, der nirgends hingehört“177, so besteht auch der Stoizismus des Kammerdieners Anton Wasik vor allem darin, sich in das eigene Selbst zurückzuziehen und zum unbeteiligten Zuschauer des Weltgeschehens zu werden. Er ist „im übrigen einer, der abseits steht und nicht mitzumachen braucht“.178 Als „abgesondert“179 und „ungerührt“180 wird er wahrgenommen, als „gleichmütig“181, als „Philosoph“182, der „Strenge walten lasse“.183 Er hat sich mit seiner Funktion als Diener abgefunden und strebt danach, diese ihm zugeteilte Rolle getreu stoischer Lehre zu erfüllen184 : „Ich bin Diener, etwas anderes gibt es für mich nicht.“185 Auch formal wird Wasik dabei oft mit den Selbstgesprchen Marc Aurels in Verbindung gebracht, da die meisten Aussagen, die über ihn gemacht werden, von ihm selbst in der zweiten Person Singular artikuliert werden: „Du hast keine Leidenschaften, oder du nimmst deine Leidenschaften an die Kandare“.186 In diesem Nirgends-Hingehören empfindet er sich „der Vergänglichkeit entrückt“187 – doch entlarvt sich dies als Täuschung, als er seine Frau kennenlernt und die Wirren der Zeit nicht nur die Menschen um ihn herum, sondern auch ihn selbst beuteln: „Ich habe früher immer nur alles von außen angesehen, und da war’s aus Stein. Mit dieser Frau sah ich’s von

176 Lenz, Die Augen eines Dieners, S. 199; vgl. auch ebd., S. 149: „Dabei fragte er den jungen Herrn: ,Was hat der Kaiser geschrieben?‘ – ,Eso blepe, zu deutsch: „Sieh nach innen…“‘“ sowie ebd., S. 215: „,Sieh nach innen – grabe innen: Wer hat das gesagt?‘ fragte Kemmler, und Eduard antwortete: ,Der Kaiser. Ich weiß schon…‘“ 177 Ebd., S. 209. 178 Ebd., S. 28. 179 Ebd., S. 101. 180 Ebd., S. 32. 181 Ebd., S. 52. 182 Ebd., S. 52. 183 Ebd., S. 124. 184 Vgl. Epiktet: Ench. 7. 185 Lenz: Die Augen eines Dieners, S. 141. 186 Ebd., S. 69. Dieser Modus des inneren Selbstgesprächs ist für die meisten Figuren von Lenz charakteristisch, der sich selbst als „eine[n], der oft nur mit sich selber spricht“, bezeichnet (Lenz an Peter Handke, 21. Februar 1873, in: Handke / Lenz: Briefwechsel, S. 15). 187 Lenz: Die Augen eines Dieners, S. 147.

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innen, und da war’s ein Leib!“188 Als seine Frau in den Wirren der Nazidiktatur verschwindet, ,erwacht‘ Wasik kurz aus seinem stoischen Dornröschenschlaf. In einem gleichsam habitualisierten Abwehrmechanismus besinnt er sich jedoch auf seine ehemalige Existenzform: „Bleibe der Diener Wasik, bleibe außerhalb. Verliere dich nicht außerhalb des Hauses. Vor deiner Haut beginnt die Fremde. Du hast nur ein Haus in dir selbst; und alles andere verändert sich.“189 Sinnfällig wird sein Rückzug an einem Siegelring, den Fanny von Engelsleben ihm einst schenkte: Analog zum eigenen Rückzug ist auch der darauf eingravierte Doppeladler im Laufe der Zeit so „verwischt, daß er aussieht, als läge er unter Wasser oder hätte sich zurückgezogen ins goldene Innere.“190 Daß Wasik in der Nachkriegszeit aufgrund seines Stoizismus gerade nicht mehr wie ein Diener, sondern wie ein respekteinflößender Adliger wirkt, unterstreicht zwar einerseits den Anachronismus seiner Haltung, zugleich aber auch deren zeitenthobene Größe, der selbst jene, die nichts mehr von ihr wissen, mit Ehrfurcht begegnen.191 Es ist aber gerade die neue Generation – illustriert am Beispiel von Wasiks Tochter Maria und Eduard –, die aus dem Gestus stoisch-resignativer Weltferne herausfindet und Lebensbejahung und Handlungswillen zeigt. Markiert wird dies nicht zuletzt dadurch, daß Eduard sich zwar noch dem Begrüßungsritual Kemmlers fügt, aber im gleichen Atemzug seine Zweifel am Stoizismus artikuliert: „Sieh nach innen – grabe innen: Wer hat das gesagt?“ fragte Kemmler, und Eduard antwortete: „Der Kaiser. Ich weiß schon, daß er recht hat, aber nicht in allem. ,Laß stillestehen das Zugwerk der Triebe‘, hat er auch geschrieben, und wenn du das denkst, kannst du nicht heiraten.“192

Der stoisch-resignative Typus bleibt für Lenz’ Werke auch nach Die Augen eines Dieners unvermindert repräsentativ, viele ähnlich Abseitige wie Wasik und Kemmler werden zu Helden seiner Romane und Er188 Ebd., S. 181. 189 Ebd., S. 183. Die fast schon automatische Assoziation dieser Passage mit dem Zentralsatz freudscher Psychoanalyse, das Ich sei nicht Herr im eigenen Haus (vgl. Freud: 18. Vorlesung zur Einfhrung in die Psychoanalyse, in: Studienausgabe, Band 1, S. 284), liegt nahe. Insofern wäre mit der zitierten Passage auch Wasiks Stoizismus als eine Position gekennzeichnet, die durch Freud obsolet geworden wäre, im freudschen System jedoch als Sublimierungsleistung ihren Platz fände. 190 Ebd., S. 195. 191 Vgl. ebd., S. 220: „,Wenn du dabei bist, nehmen sich die Kollegen zusammen‘, sagte Eduard.“ 192 Ebd., S. 215.

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zählungen. So etwa der Marc Aurel bewundernde Maler Robert Ross in Jung und Alt, der „sich aus allem heraus“193 hält, „gewissermaßen im Abseits“ lebt194 und stets „auf Distanz“195 bleibt; denn bei aller Sympathie zu seinen Mitmenschen gilt: „Innen aber wollte er unabhängig bleiben.“196 Insbesondere aber ist es Otto Nestle, der Erzähler der Erinnerung an Eduard (1981), der einem spätromantischen Doppelgänger Wasiks gleicht. Auch Otto Nestle ist bestimmt vom „Wunsch nach Ruhe und nach Zuschaun“197; er will sich nie „einlassen“198, fühlt sich nirgendwo zugehörig199, „hat seinen Bezirk abgegrenzt“200 und wird charakterisiert als einer, der immer nur „zugucken“ will201; in noch höherem Grade als Wasik bleibt auch er weitgehend unbemerkt.202 Auf seinen Marc Aurel schwört er und bezieht sich auf ihn als Blaupause des eigenen Existenzentwurfs: Nun… ich lese immer noch im Marc Aurel: ,Was bleibt wertvoll? Ich denke, nach der eigenen Anlage sich zu bewegen und sich zu halten…‘ Und eigentlich ist das ein guter Satz.203

Doch die Skepsis der Nichte seines Arbeitgebers, Valerie, bezweifelt diese philosophische Absicherung der Unzugehörigkeit und des eigenen Abseitsstehens: „Mir ein bißchen zu steinern… Ich denke: der spürt Chaotisches und rettet sich in diesen Satz.“204 Daß Lenz seine Figuren auch hier sehr ernst nimmt und für den von Valerie unterstellten eskapistischen Zug dieses ,abseitigen‘ Stoizismus keineswegs blind ist, dokumentiert nicht nur seine augenzwinkernde Selbstcharakteristik als „ein rückgewandter Eskapist wie ich“ in einem Brief an Paul Celan205, sondern auch das Gedicht Selbstgesprch, das nach einem Verweis auf Lenz: Jung und Alt, S. 78. Ebd., S. 22. Ebd., S. 28. Ebd., S. 28. Lenz: Erinnerung an Eduard, S. 42. Ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 54 und S. 88: „ich, der ich mich abseits hielt“. Ebd., S. 56. Ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 183. Ebd., S. 183. Vgl. auch Valeries Charakterisierung Nestles: „Er […] hat ja auch alle Schwierigkeiten elegant umschifft; mit einem gewissen Stoizismus nämlich, also durch Nichtbeachtung“ (ebd., S. 99). 205 Lenz an Paul Celan, 11. August 1958, in: Paul Celan / Hanne und Hermann Lenz: Briefwechsel, hg. von Barbara Wiedemann, Frankfurt/Main 2001, S. 106.

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Marc Aurel die mögliche Verarmung der Existenz, die eine entsprechende Haltung mit sich bringen kann, thematisiert: „Vielleicht hast du etwas versäumt.“206 ˇ echov – bei Lenz EinSo findet der Stoizismus – wie schon bei C gang als eine Technik der Leidbewältigung, ja Leidverhinderung, die zuweilen auf Kosten eines sinnreichen Lebens zu gehen droht. Neu ist dabei die ethische Perspektive, in die – durch die Figur des Wasik – die stoische Welthaltung rückt, denn in einer Zeit katastrophaler politischer Entwicklungen nimmt sich Wasiks beharrlicher Rückzug ins ,eigene Haus‘ beinahe fahrlässig aus. Eine geschützte Innerlichkeit scheint im 20. Jahrhundert nämlich allein um den Preis des Mitverschuldens möglich. Dieser neue Aspekt bestimmt nun die Auseinandersetzung mit dem Stoizismus bei Günter Grass.

„Wie ein Stoiker haben Sie durchgehalten“: Grass’ lokalanästhetischer Stoizismus Auch im Werk von Günter Grass (*1927) wird dem Stoizismus Tribut gezollt. War für Lenz die Schlüsselgestalt des Stoizismus Marc Aurel, so ist es bei Grass Seneca, der das vielschichtige Textgewebe des Romans çrtlich betubt (1969) durchgeistert, sei es durch mehr als vierzigmalige Namensnennung, sei es in Form von Zitaten und Anspielungen. çrtlich betubt ist nicht nur aufgrund der inhaltlichen Bezüge Grass’ ,stoischstes‘ Werk, auch sprachlich ist dieser Text in ,stoischem‘ Duktus abgefaßt: Der Ton, der den Roman bestimmt, ist für Grass’ Œuvre untypisch lakonisch und asketisch, das sprachlich Barocke und Sinnliche seiner beiden vorherigen Romane rückt weitgehend in den Hintergrund. Im Zentrum des dreiteiligen Romans steht die langwierige und komplizierte Zahnbehandlung des Studienrats Eberhard Starusch, aus der Blechtrommel bekannt als „Störtebeker“. Der einstmals anarchistische Bandenführer ist mittlerweile ein „gemäßigte[r] Studienrat“207 für „Deutsch und also Geschichte“.208 Starusch wird von Anfang an als passabler Stoiker präsentiert. „Dem Humanismus, der Humanitas ver206 Lenz: Zeitlebens. S. 130. Vgl. das Selbstgespräch Otto Nestles in Erinnerung an Eduard, S. 68: „Du hast etwas versäumt, weil du dich herausgehalten hast.“ 207 Grass: çrtlich betubt, in: Werkausgabe, hg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes, Göttingen 1993 ff., Band 6, S. 228. 208 Ebd., S. 14.

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pflichtet“209 finden sich in seiner Wohnung – ähnlich wie bei Kemmler in Lenz’ Die Augen eines Dieners – allerlei römische Altertümer.210 Grass betont, Starusch sei einer der Menschen, „die auf Vernunft und auf Aufklärung setzen“211, allerdings auch „sehr rasch zur Resignation, zu einer Art Wehleidigkeit“212 neigen. Die verschiedenen BehandlungsSitzungen stellen nun den Rahmen dar, innerhalb dessen er Gelegenheit hat, mit seinem „Dokter“213 zwei Themenkomplexe, die ihn umtreiben, in größtenteils phantasierten Gesprächen („beliebigen Fiktionen“214) zu analysieren: den Umgang mit der eigenen Vergangenheit und die Haltung gegenüber der politischen Gegenwart andererseits. So konzentriert sich der erste Teil auf die imaginative Rekonstruktion des Scheiterns einer weit zurückliegenden Verlobung Staruschs mit Linde, der Tochter des im Verdacht nationalsozialistischer Gesinnung stehenden Zementfabrikanten Krings; im zweiten und dritten Teil dagegen liegt der Fokus auf Staruschs Auseinandersetzung mit seinem Schüler Philipp Scherbaum, der seinen Dackel öffentlich verbrennen will. Mit dieser Provokation, die eine weitgehend schockresistente Öffentlichkeit aufrütteln soll, will Scherbaum gegen den Einsatz von Napalm protestieren. Starusch und dem Zahnarzt gelingt es schließlich mittels vieler Gespräche, dieses Vorhaben Scherbaums zu verhindern und ihn – gegen den vehementen Protest seiner Freundin Vero Lewand – zu milderen Formen politischer Agitation zu bewegen. Das Thema Schmerz und Schmerzunempfindlichkeit markiert dabei die Andockstelle für Staruschs angelesenen Stoizismus. In Lenz’ Mörike-Erzählung Erinnerung an Eduard diagnostiziert Valerie: „Erinnerung kann sich wie eine Verletzung auswirken, und dann hilft weder Schmalz noch Kupfervitriol“.215 Auch Starusch leidet an den Erinnerungen an seine gescheiterte Verlobung, und seine Kollegin Irmgard Seifert wird ebenfalls von Erinnerungen heimgesucht.216 Schmerz ist in çrtlich betubt 209 Ebd., S. 107. 210 Vgl. ebd., S. 141. 211 Grass: Ich und meine Rollen, in: Werkausgabe in zehn Bnden, hg. von Volker Neuhaus, Darmstadt und Neuwied 1987, Band 10, S. 81 – 87, dort S. 83. 212 Ebd., S. 84. 213 Grass: çrtlich betubt, S. 9 u. passim. 214 Ebd., S. 131. 215 Lenz: Erinnerung an Eduard, S. 165. 216 Irmgard Seifert findet sich nach Jahren erfolgreicher Verdrängung mit der Tatsache konfrontiert, daß sie als Siebzehnjährige eine „gläubige BDM-Ziege“ (Grass: çrtlich betäubt, S. 142) war, die noch in den letzten Tagen des Zweiten

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der ständige Widerpart einer Verdrängungstendenz Staruschs217, weshalb er versucht, Herr über ihn zu werden. Nicht von ungefähr wird das vom Zahnarzt verschriebene Betäubungsmittel Arantil für Starusch lebensnotwendig218, seine hypertrophe Phantasie prägt es gar zum Zentrum einer privaten Mythologie um.219 Dennoch lassen sich die körperlichen wie emotionalen Schmerzherde nicht dauerhaft neutralisieren, so daß Schmerz jeglicher Art zum Auslöser emotional fundierter und fiktional überformter Erinnerungen wird (der Zahnarzt spricht von „krausen Fiktionen“220). Erst der bewußte Umgang mit dem Schmerz (sei es als Vermeidung oder Konfrontation) rüttelt aus der passiven Lethargie gedämpften Erinnerungs- und Konfrontationsvermögens auf: „Schmerz als Mittel der Erkenntnis“221 – darin besteht letztlich der tiefere Sinn der öffentlichen Protestaktion Scherbaums wie auch der privaten Zahnbehandlung Staruschs. Der Stoizismus wird dabei im Horizont beider oben genannter Problemkomplexe applizierbar. Zunächst wird er zum Paradigma eines fragwürdigen Umgangs mit der Vergangenheit, der dem Subjekt auch im Rahmen geschichtlicher Prozesse eine scheinbar unantastbare Autarkie zu gewähren verspricht. Der stoische Weise, der in völliger Selbstbeherrschung Herr über sein Leben und Denken ist, wird zum Vorbild des erinnernden Individuums, das sogar im Stande sein will, sich aus der Fremdbestimmung historischer Verhältnisse herauszunehmen. Diese Unabhängigkeit von Geschichtlichem inszenieren mehrere Figuren des Romans, wenn sie die objektive Vergangenheit zugunsten einer subjektiv-imaginierenden Vergangenheits(re)konstruktion suspendieren. Nicht nur vom Kriegsheimkehrer Krings, einem „moder-

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Weltkriegs Mitbürger denunzierte und nicht einmal davor zurückgeschreckt hätte, die ihr anvertrauten Kinder für den Volkssturm zu rekrutieren. Dieser Erinnerungsschock bewirkt eine hysterische Selbstbestrafungssucht, aus der Starusch sie nur mittels einer gelegentlichen Ohrfeige befreien kann. So erwägt er, „eine Schildkröte [zu] kaufen und [zu] betrachten. Wie macht sie das: zurückgezogen leben? Wieviel Wehleidigkeit muß zu Fleisch werden, damit ein Panzer wächst: nicht mehr zu kränken?“ (ebd., S. 224). Vgl. ebd., S. 240: „…während ich bei leisestem Zahnschmerz nach Arantil greife: Unglück gleich Zahnschmerz! – Könnte es sein, daß Nero, als konsequenter Schüler des Seneca, Rom in Brand stecken ließ, weil Zahnschmerz ihn trieb?“ Vgl. u. a. ebd., S. 63 f. Ebd., S. 252. Ebd., S. 192.

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ne[n] Stoiker“, der „seinen Seneca“ kennt222, wird berichtet, wie er im eigens dafür angelegten sandkastenartigen Miniaturgelände entscheidende Schlachten des Zweiten Weltkriegs nachstellt – und nach eigenem Gutdünken ausgehen läßt; ähnlich verfährt auch Starusch, auf dem Behandlungsstuhl rhapsodisierend, mit den Erinnerungen an seine Verlobung. Bis zum Mord an seiner Verlobten reichen dabei die Szenarien, mittels derer er sich zum souveränen Arrangeur eines, objektiv gesehen, unverfügbaren historischen Geschehens macht.223 Der stoische Referenzrahmen, der sich durch dergestalt generierte Alternativ-Geschichte(n) zieht, erweist sich als bis ins Detail hinein bestimmend. So siegt in einem von Starusch inszenierten Militärgeschichts-Quiz sein Schüler Scherbaum über Krings. Krings erhält jedoch „als Trostpreis eine Dünndruckausgabe der ,Briefe an Lucilius‘“224 ; in einem anderen Szenario befindet sich Starusch neun Jahre lang auf der Flucht vor der Polizei, während derer er sich der Lektüre stoischer Texte widmet. Besonders vertiefte er sich in die Lehre der Stoa (und könnte heute als Seneca-Spezialist gelten). […] „Neun Jahre lang habe ich die Unannehmlichkeiten der Flucht, gestärkt durch die Lehre der Stoa, ertragen können…“225

Auch übergibt er bei seiner Verhaftung „der Polizei ein in zwölf Jahren gewachsenes Manuskript von beträchtlichem Umfang: ,Der frühe Seneca als Erzieher des späteren Kaisers Nero. – Philosophische Anmerkungen eines flüchtigen Mörders.‘“226 Die in solchen Phantasien nur latent aufscheinende Politikverdrossenheit wird in Staruschs Auseinandersetzung mit seinem Schüler Scherbaum deutlich profiliert. Dieser ist der Gegenpol zum RückzugsStoizismus seines Lehrers. Denn Starusch zitiert sich mittels beständiger 222 Ebd., S. 22. 223 „Ersatzerlebnisse verdrängen reale Erlebnisse und verformen reale Erlebnisse, indem sich Ersatzerlebnisse von realen Erlebnissen speisen“ (Grass: Zu „çrtlich betubt“, in: Werkausgabe in zehn Bnden, hg. von Volker Neuhaus, Darmstadt und Neuwied 1987, Band 9, S. 410). Auch Durs Grünbein attestiert in seinem Essay Im Namen der Extreme Seneca einen entsprechenden „gewaltige[n] Ehrgeiz, selber Ursache zu sein, anstatt immer nur Spielball verschiedener undurchschaubarer Wirkungen“ (Grünbein: Im Namen der Extreme, in: Grünbein: An Seneca. Postskriptum / Seneca: Die Krze des Lebens, Frankfurt/Main 2004, S. 83). 224 Grass: çrtlich betubt, S. 120. 225 Ebd., S. 54 f. 226 Ebd., S. 57.

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Seneca-Referenzen seinen Rückzug aus dem Politischen zurecht – und blendet dabei bezeichnenderweise die eigene politische Vergangenheit als Anführer der radikalanarchistischen Stäuber-Bande der Blechtrommel weitgehend aus. Der Duktus des Sichheraushaltens aus dem politischen Leben wird denn auch zentraler Gegenstand mancher Diskussion mit dem Zahnarzt, wenn Starusch Seneca zitiert: Hören Sie, Dokter, der alte Rauschebart sagt: „Außerdem befindet sich der Weise nicht außerhalb des Staates, selbst wenn er in Zurückgezogenheit lebt.“ – Ich verspüre nicht wenig Lust, demnächst zu privatisieren.227

Im Gegensatz zu solcher ,Privatisierungstendenz‘ wird Scherbaum als höchst empfänglich für verschiedene Dimensionen des Leids geschildert, nicht zuletzt für die politische.228 Der Roman gestaltet Scherbaum und Starusch zunächst sowohl als Gegenpole229 wie auch als Doppelgänger230, um ihre Positionen schließlich miteinander zu vermitteln. So soll nicht nur die Radikalität Scherbaums gemildert, sondern auch die existentielle Betäubung Staruschs partiell aufgehoben werden. Bezeichnenderweise ist dieser Vermittlungsprozeß in all seinen Phasen geprägt durch die Vorgabe eines klassisch stoischen Lehrer-SchülerDiskurses, in dem Starusch sich in der Position Senecas sieht, der seinen Lucilius Scherbaum auf den rechten Pfad führt.231 Doch leider spielt in das anvisierte Unternehmen auch eine andere mit dem Stoizismus verbundene Lehrer-Schüler-Assoziation hinein, nämlich das Verhältnis Senecas zu seinem problematischen Zögling Nero.232 Wie identitäts227 Ebd., S. 230 f. 228 „Er leidet an der Welt. Das fernste Unrecht trifft ihn“ (ebd., S. 150). 229 Die Gegensätzlichkeit beider wird auch durch ihre jeweiligen physiognomischen Merkmale unterstrichen, die der Zahnarzt diagnostiziert: „Übrigens amüsant, wie extrem konträr sich der Distalbiß des Schülers zur echten, weil angeborenen Progenie des Lehrers verhält“ (ebd., S. 242). 230 So erscheint der siebzehnjährige Scherbaum oft als Wiedergänger des siebzehnjährigen Störtebeker. Folgerichtig läßt Staruschs Phantasie seine Mutter über Scherbaum sagen: „Waißt, Jonkchen, der is wie du best jewesen“ (ebd., S. 273). Es ist auch kein Zufall, daß beide bei gegebenem Anlaß die ihnen zugeordnete weibliche Figur (Irmgard Seifert bzw. Vero Lewand) einmal linkshändig ohrfeigen. 231 Vgl. ebd., S. 153: „Oder soll ich Scherbaum zum Lucilius machen?“ Auch der Zahnarzt schätzt Scherbaum als einen „wahre[n] Lucilius“ ein, „der allerdings noch nicht seinen Seneca gefunden hat“ (ebd., S. 205). 232 Dies ist nicht nur über das Motiv des In-Brand-Setzens vermittelt, das Scherbaum (Dackel) und Nero (Rom) einander näher rückt, sondern wird auch dann nahegelegt, wenn der Zahnarzt mit Starusch über Scherbaum spricht und

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stiftend die Seneca-Lucilius-Folie für Starusch ist, sobald er Scherbaum von seinem inflammatorischen Protest abzuhalten versucht, erkennt vor allem Scherbaums Freundin (und Staruschs Kontrahentin) Vero Lewand. Dies wird sinnbildlich durch den Modus ausgedrückt, in dem Vero dem Studienrat Drohbriefe zukommen läßt. Als die ersten beiden Versuche nichts fruchten, deponiert sie eine entsprechende Notiz in Staruschs Exemplar der Epistulae ad Lucilium – und dringt damit symbolisch ins geistige Zentrum der Beziehung Staruschs und Scherbaums ein: Die dritte Drohung fand ich als Lesezeichen in meinem Band zwei: „Briefe an Lucilius“. Sie faßte sich immer kürzer: „Wir fordern: Schluß machen mit dem Abwiegeln!“ Den zweiundachtzigsten Brief, Gegen die Todesfurcht, hatte sie lesenswert gefunden.233

Als pädagogische Seneca-Figur scheitert Starusch allerdings weitgehend, erst die Intervention des Zahnarztes, der schon im Hinblick auf Staruschs Phantasieren als psychologische Hebamme fungierte, bewirkt bei Scherbaum eine gewisse ,Luciliisierung‘: Wenn dieser sich in zahnärztliche Behandlung begibt und stoische Constantia an den Tag legt – „er versprach mir, durchzuhalten. Mehrmals versprach er mir, durchzuhalten“234 –, ist der Grundstein gelegt für eine stoische Modifizierung seines radikalen Vorhabens. So berichtet der Zahnarzt: Auf mein Anraten hin hat er sich die Briefe an Lucilius vorgenommen. Was meinen Sie, was sich der Bengel herausgelesen hat? Ihr Schüler stellt Übereinstimmung fest bei Seneca und Marcuse in der Beurteilung der spätrömischen wie spätkapitalistischen Konsumgesellschaft. Sie erinnern sich. Im fünfundvierzigsten Brief heißt es: „Man erklärt Dinge für notwendig, die größtenteils überflüssig sind.“ – Ich habe dem Jungen geraten, seinen Marcuse weiterhin in den Schriften des alten Stoikers zu suchen…235 diesen zwar als Lucilius thematisiert, aber gleichzeitig von Seneca als dem „Erzieher des kleinen Nero“ (ebd., S. 242) spricht. Eine verborgene Anspielung auf Scherbaums Nerohaftigkeit kann daneben über die leitmotivische Ziffer 17 erschlossen werden. In çrtlich betubt spielt es nämlich eine große Rolle, wer wann siebzehn Jahre alt war. Nicht nur waren zwei historischpolitische Vorbilder Scherbaums Siebzehnjährige, auch Starusch war mit siebzehn Anführer der Stäuber-Bande, Irmgard Seifert befand sich mit siebzehn auf dem ideologischen Höhepunkt ihrer BDM-Karriere, Vero Lewand und Philipp Scherbaum sind beide siebzehn – und siebzehn Jahre alt war auch Nero, als er 54 n. Chr. an die Regierung kam. 233 Grass: çrtlich betubt, S. 225. 234 Ebd., S. 242. 235 Ebd., S. 232.

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Daß der Zahnarzt dabei für Starusch gleichsam zum Konkurrenten um die Rolle des stoischen Erziehers wird, ist im Text von Anfang an nahegelegt, da beide – „Stoiker unter sich“236 – ihre verschiedenen Idealvorstellungen unter Berufung auf Seneca gegen einander artikulieren. Beide liefern sich ihre Rededuelle geradezu ,bewaffnet‘ mit Seneca-Zitaten. Beide führen ein permanentes „Seneca sagt…“ im Mund, vor allem Starusch, der aber dann irgendwann selbst davon genervt ist und dem Stoizismus aufbrausend abschwört: Als der Zahnarzt wieder einmal zu jenem „Seneca sagt…“ anhebt, reagiert Starusch mit vehementem Protest: „Nein. Kein Zitat mehr!“, und aus Seneca wird verächtlich „Ihr Seneca“: Ihr Seneca hat die längste Zeit dem Bluthund Nero die Regierungsgeschäfte geführt und ihm blumige Reden geschrieben. Erst als Greis, keiner Lust mehr fähig, wurde er weise. Da mag es leichtfallen, mit dürrem Penis den Freitod zu wählen und die Tugend wäßrig ausbluten zu lassen. Übet Muße, und schaut dem Elend der Welt ohne Wimpernschlag zu. Nein, Doktä! Ich lasse mir meinen Schüler nicht zusammenschlagen. Zum Teufel, Doktä, mit aller stoischen Gelassenheit! 237

Am Ende des gemeinsamen Projektes, Scherbaum zu entradikalisieren, ist nicht nur Scherbaum gezähmt, auch Starusch ist hinsichtlich seines politisch-sozialen Eskapismus gemäßigt – er rückt aus der Position schmerzmittelinduzierter Weltflucht heraus, indem er, des Arantil entwöhnt, ein authentischeres Selbstverhältnis anstrebt. Er verlobt sich mit Irmgard Seifert und nimmt die damit zusammenhängende gesellschaftliche Verbindlichkeit und Verantwortung in Kauf. Sein Zahnarzt wählt als Verlobungsgeschenk bezeichnender- und passenderweise „die Schmekelsche Erstausgabe über die ,Mittlere Stoa‘.“238 Starusch akzeptiert, daß die Vergangenheit, sobald sie nicht länger Autarkie-heischend imaginativ überblendet wird, das eigene Dasein determiniert; daß der Schmerz wohl kurzfristig zu betäuben ist, aber nicht endgültig negiert werden kann, wird durch den Zahnstein verbildlicht, der immer 236 Ebd., S. 230. 237 Ebd., S. 232. 238 Ebd., S. 269. Das Geschenk ist ausgesprochen passend, da in der mittleren Stoa besonders die Pflicht des Stoikers, sich aktiv um das Gemeinwesen zu bemühen, hervorgehoben wird. Mit dem Geschenk des Zahnarztes ist also auch eine entsprechende Mahnung an Starusch verbunden, nicht wieder in den politikfernen Bezirk (Scherbaum hatte Starusch mit „Sie machen doch nie was“ charakterisiert (ebd., S. 268)) abzugleiten.

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wiederkehrt: „Immer neue Schmerzen.“239 So sehr Starusch es auch versuchen mag, das amoralische Sich-Heraushalten aus der Gegenwart, dem Lenz’ Figuren frönen, ist in den von Grass geschilderten Zeiten nicht länger möglich. Es gibt nicht mehr den selbstbestimmten Ausstieg aus der Geschichte, aus der Politik und dem Risiko eines damit verbundenen Schuldzusammenhangs. „Jeder hängt am Seil, / Aus dem Gesellschaft sich ein Treibnetz knüpft, den Staat“240 formuliert ein weiterer Dichter, der wie Lenz und Grass die Erfahrungen von Diktatur und Schuldzusammenhang machen mußte: Durs Grünbein.

„Eine brüchige Plastik aus Politik und Passion“: Grünbeins skeptische Seneca-Hommage Eine gewisse Mischung aus Stoizismus und Politikverdrossenheit, wie sie für Grass’ Starusch typisch ist, begegnet auch bei Durs Grünbein (*1962). Aufgewachsen in der DDR, bezeichnet er sich einmal als „politikferne[n] Tagedieb“, der „den Zerfall der Diktaturen […] grundsätzlich passiv“ erlebt habe.241 Einen autobiographischen Befund seiner Existenz unter dem DDR-Regime formuliert das Gedicht Vita brevis in angemessen resignativen Tönen.242 Der Titel jenes Gedichts evoziert dabei nicht nur das bekannte hippokratische Diktum, sondern verweist vor allem auf den stoischen Topos der brevitas vitae; insbesondere aber läßt er jene Schrift Senecas assoziieren, die Dreh- und Angelpunkt von Grünbeins Stoa-Rezeption darstellt: Denn Senecas De brevitate vitae verbindet ein für Grünbein zentrales Thema – die Frage nach der Zeit243 – mit dem Stoizismus. So gibt Grünbein selbst Auskunft: Der Philosoph Seneca beschäftigt mich schon seit vielen Jahren. So gehört seine Schrift „Von der Kürze des Lebens“ zu den Büchern, die ich gern im 239 Ebd., S. 283. 240 Grünbein: An Seneca. Postskriptum, in: Grünbein: An Seneca. Postskriptum / Seneca: Die Krze des Lebens. Frankfurt/Main 2004, S. 9 – 15, dort Z. 60 f. 241 Grünbein: Kurzer Bericht an eine Akademie, in: Antike Dispositionen. Aufstze 1995 – 2004, Frankfurt/Main 2005, S. 11 – 14, dort S. 13. 242 Vgl. Grünbein: Nach den Satiren, Frankfurt/Main 1999, S. 117 f. 243 Vgl. v. a. Aporie Augustinus (in: Grünbein: Nach den Satiren, S. 33 – 36) und Traktat vom Zeitvertreib (in: Grünbein: Erklrte Nacht, Frankfurt/Main 2002, S. 97 – 118).

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Notgepäck mit mir herumtrage, bei Überseeflügen und ähnlichen Anlässen.244

Stoisches ist nahezu allgegenwärtig in Grünbeins Schaffen, angefangen von versprengten Anspielungen und Zitaten in den ersten Lyrikbänden245 bis zu den immer häufiger werdenden Stoiker-Gedichten um die Jahrtausendwende. Auch Grünbeins Aufzeichnungen und Essays verweisen mit Vorliebe auf den Stoizismus, sei es bei Betrachtung einer anonymen Portraitbüste246 oder anläßlich der Erinnerung an Heiner Müller.247 Im Zentrum seiner Stoa-Rezeption steht jedoch das lyrische Werk. Marc Aurel (In Gedanken an Marcus Aurelius 248), Julian ( Julianus an einen Freund 249), Chrysipp (Schwacher Trost 250) und Seneca (In gypten, Julia Livilla, Sand oder Kalk 251) sind Gegenstand entsprechender Gedichte. Der präferierte Stoiker ist Seneca, für Grünbein das Exemplum eines Renaissancemenschen wie Shakespeare, Montaigne oder Rubens.252 Ihm widmet sich Grünbein – über die genannten Gedichte sowie eine Übersetzung des Thyestes hinaus – ausführlichst im Gedicht 244 Grünbein: Nachwort zur ,Thyestes‘-bersetzung, in: Seneca: Thyestes, deutsch von Durs Grünbein, Frankfurt/Main, 2002, S. 111. 245 So zitiert Grünbein (im Band Schdelbasislektion (1991)) in Ultra Null „soviel ich weiß [einen] Ausspruch des Epiktetos“: „Seelchen / Mit einem Leichnam bepackt“ (vgl. Grünbein: Gedichte. Bcher I-III, Frankfurt/Main 2006, S. 230 u. 245). 246 Vgl. Grünbein: Das erste Jahr, Frankfurt/Main 2001, S. 60. Hier beschreibt Grünbein am 16. September 2000 jene Portraitbüste, die in seinem IuvenalEssay (Schlaflos in Rom, in: Grünbein: Antike Dispositionen, S. 328 – 368) evoziert wird: „Es mochte sich um den ewigen Stoiker handeln, den Idealtyp des vir impavidus, der unerschrocken allen Lebenszumutungen trotzt, der Welt die gefurchte Stirn bietend.“ 247 Vgl. Das Lcheln des Glcksgotts (in: Grünbein: Antike Dispositionen, S. 81 – 101) und Bogen und Leier (ebd., S. 102 – 120); für Grünbein ist Müller Musterbeispiel eines stoischen Charakters, so „geschult in stoischem Gleichmut, daß er seelisch unerschütterlich wirkte“ (ebd., S. 81). Immer wieder wird die „stoische Miene“ (ebd., S. 117) Müllers erwähnt sowie die Tatsache, „daß hinter dem Gestaltenwandler stets der Stoiker erkennbar“ geblieben sei (ebd., S. 107). Auch in seinem Gedicht an Heiner Müller, Brief an den toten Dichter, evoziert Grünbein einen unerschütterlichen Stoiker: „Dir blieben Stücke, / Geschrieben im Gleichgewicht von no hope no fear“ (Grünbein: Nach den Satiren, S. 62). 248 Veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. April 1995. 249 In: Grünbein: Nach den Satiren, S. 30 – 32. 250 In: Grünbein: Erklrte Nacht, S. 67. 251 In: Grünbein: Erklrte Nacht, S. 68 – 72. 252 Vgl. Grünbein: Im Namen der Extreme, in: Grünbein: An Seneca. Postskriptum / Seneca: Die Krze des Lebens, Frankfurt/Main 2004, S. 59 – 83, dort S. 71.

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An Seneca. Postskriptum, das 2004 zusammen mit Senecas De brevitate vitae ediert wurde. Ein weiteres Gedicht (In eigener Sache) und ein ausführliches Nachwort Grünbeins zu seinem Verhältnis zu Seneca ergänzen den Band, der die enge Bindung zwischen antikem Stoiker und zeitgenössischem Lyriker dokumentiert. Denn eng ist die Bindung in der Tat. Senecaisches Gedankengut begegnet schier überall in Grünbeins Lyrik und Prosa, mal explizit als solches ausgewiesen, sobald er notiert, wie ihm Seneca eine Passage aus De brevitate vitae zuraunt253, mal subkutan den Gedankengang bestimmend, wenn er, geleitet vom stoischen Gedanken der meditatio mortis, „wie Marc Aurel unbeirrbar auf Todeskurs“ segelnd notiert: „Ist es nicht die höchste Stufe der Disziplin, zu der ein Mensch sich aufraffen kann: bei klarem Verstand zu bleiben vis-à-vis dem unabwendbaren Tod?“254 Als lyrischer Thanatologe publiziert Grünbein nicht nur eine Sammlung von 33 Epitaphen255, sondern erwägt sogar, ein Kinderbuch zu verfassen, das das Ziel habe, Kindern die Angst vor dem Tod zu nehmen.256 Senecas Denken bestimmt Grünbeins Betrachtungen zur Übersetzung der aischyleischen Perser 257 ebenso wie seine Lektüre Canettis, bei dem er „einen bestimmten, fast stoischen Pessimismus“ wahrzunehmen meint.258 Geradezu von Hingabe an Seneca möchte man sprechen – wäre da nicht der spezielle Tonfall, mit dem sich Grünbein an ,seinen‘ Stoiker in Prosa und Vers heranschreibt. Die Haltung, die er Seneca gegenüber einnimmt, ist komplex. In den Seneca gewidmeten Gedichten umkreist er diesen immer wieder, er nähert sich ihm unter verschiedenen Perspektiven und ertastet behutsam jene „brüchige Plastik aus Politik und Passion“259, die ihm dabei erscheint und an deren Konturen er – bei Bedarf sogar erfrischend respektlos – meißelt. Grünbeins Zugang zu 253 Vgl. Grünbein: Das erste Jahr, S. 102 (Eintrag vom 1. August). 254 Ebd., S. 300 (Eintrag vom 22. Dezember). 255 Grünbein: Den Teuren Toten, Frankfurt/Main 1994, S. 47. Das dieser Sammlung vorangestellte Motto „n.f.n.s.n.c.“ kommentiert Grünbein in Das erste Jahr (S. 302 f., Eintrag vom 22. Dezember): „Wie kommt es, daß mir die lapidare Abschiedsformel der römischen Stoiker so oft in den Ohren klingt, dieses non fui non sum non curo, das seinerzeit auf so manchem Grabstein stand? (,Ich bin nicht gewesen, ich bin nicht mehr, und was kümmert’s mich.‘)“ 256 Vgl. Grünbein: Das erste Jahr, S. 294 f. (Eintrag vom 16. Dezember). 257 Vgl. das Nachwort zu: Aischylos: Die Perser, übersetzt von Durs Grünbein, Frankfurt/Main 2001, S. 55. 258 Vgl. Grünbein: Wir Buschmnner, in: Galilei vermißt Dantes Hçlle. Aufstze 1989 – 1995, Frankfurt/Main 1996, S. 197 – 209, dort S. 200. 259 Grünbein: Im Namen der Extreme, S. 76.

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Seneca ist weder der eines polemischen Diagnostikers, der einseitig die Ungereimtheiten in Senecas Biographie zu Ungunsten von dessen Philosophie auslegt oder ihn gar zur possenhaften Gestalt herunterdekliniert; noch wird Seneca in Grünbeins Werk die unbedingte Affirmation eines gläubigen Adepten zuteil, wie sie die Protagonisten von Lenz Marc Aurel entgegenbrachten. Grünbeins lyrische Präsentationen Senecas changieren vielmehr zwischen diesen beiden Positionen hin und her und verweilen – bei allen definitiv anmutenden Aussagen – zumeist in der Schwebe jenes Fragezeichens, das die formale Gestalt mancher Gedichte bestimmt. So etwa in dem durch Fragen organisierten Gedicht Sand oder Kalk. Schon der Titel beugt einer allzuschnellen Verurteilung vor. Statt des Caligula-Wortes, bei Seneca handle es sich um Sand ohne Kalk260, relativiert das „oder“ Grünbeins solche Aburteilung. Das Gedicht stellt hingegen Fragen, Fragen, die zunächst ein ganz bestimmtes Urteil über Seneca zu insinuieren scheinen: Wie erklärst du dir, daß in Neros Regierung Roms zweitreichster Mann, Seneca, So gern die Armut pries inmitten des Luxus? Was bleibt von der Tugend und all den Gütern, Die den Charakter des Weisen bilden – Von der Milde, der Seelenruhe, der Muße, Wenn selber im Zwielicht lebt, der sie lehrt? Wie will er die Richtung weisen den Kleinen, Der Große, blind für das eigene Privileg? […] Doch was, Wenn einzigartig nur seine Zunge war?

Bei allen rhetorischen Fragen, trotz aller Aufzählung überlieferter Unstimmigkeiten im Leben Senecas („Fauler Zauber die Maske des Philosophen, / Sein Lob der Genügsamkeit nichts als Theater“) und entgegen allen Anspielungen, derer sich der Text bedient261, verweigert das Gedicht dennoch ein allzu leichtfertiges letztgültiges Verdikt über Se260 Der Titel bezieht sich auf ein bei Sueton überliefertes Wort Caligulas über Senecas Stil. Dieser sei bloße Schulrednerei und wie Sand ohne Kalk (vgl. Sueton, Calig. 53). 261 So etwa das Zitieren von Nietzsches Aburteilung Senecas als „Toreador der Tugend“ (vgl. Nietzsche: Gçtzendmmerung, in: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 21988, Band 6, S. 111).

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neca. Die Kompetenz des Urteils wird vielmehr dem vorschnellen und besserwisserischen „Jüngling“ abgesprochen und an jene delegiert, die aufgrund selbst erworbener Weltkenntnis dazu geeigneter sein mögen. Grünbeins Herangehensweise an den stoischen Philosophen gleicht oft derjenigen, die der von ihm bewunderte Heiner Müller in seinem Gedicht Senecas Tod (1992) erprobt hatte: „Was dachte Seneca (und sagte es nicht) / als der Hauptmann von Neros Leibwache stumm / das Todesurteil aus dem Brustpanzer zog / gesiegelt von dem Schüler für den Lehrer…“262 „Was dachte Seneca…“, diese immer wiederkehrende Wendung in Müllers Gedicht formuliert eine zentrale Frage auch für die Seneca-Texte Grünbeins. Denn weit davon entfernt, Seneca bloß von außen zu betrachten, strebt Grünbein dessen Ergründung gleichsam von innen an. Dieses Programm wird einerseits durch Monolog-Gedichte, die Seneca in den Mund gelegt werden263, andererseits durch die Inszenierung einer direkten Kommunikation zwischen Grünbein und Seneca realisiert. Letzteres geschieht programmatisch in An Seneca. Postskriptum. Die verschiedenen Versuche Grünbeins, seiner Ambivalenz gegenüber Senecas Philosophie poetische Gestalt zu verleihen, kulminieren in diesem Langgedicht, das sich ausdrücklich an De brevitate vitae orientiert – nicht nur inhaltlich, sondern bereits in der formalen Gestalt des Textes. Denn Senecas Ideal eines persönlichen Umgangs mit gleichgesinnten Geistern über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg264 wird von Grünbein beim Wort genommen und das Gedicht als Brief an und „Gespräch“265 mit Seneca konzipiert. „Für wen sonst schreiben wir / Als für die Toten allwissend im Staub“266 – gemäß diesem Programm Heiner Müllers kommuniziert auch Grünbeins Lyrik immer wieder mit Verstorbenen, nicht nur in seinem an Müller adressierten Brief an den toten Dichter 267, sondern auch in An Seneca. Postskriptum. Doch „wie spricht man einen an, den nichts mehr trifft?“268 Das lyrische Ich tritt dem Adressaten Seneca zu Beginn des Gedichts als bescheidener und etwas befremdeter Nachgeborener entgegen. Daß es 262 Müller: Senecas Tod, in: Werke, hg. von Frank Hörningk, Frankfurt/Main 1998 – 2005, Band 1, S. 250 f., dort S. 250. 263 Z.B. In gypten und Julia Livilla, beide in: Grünbein: Erklrte Nacht, S. 68 – 70. 264 Vgl. Seneca: De brev. vit. 14. 265 Grünbein: An Seneca. Postskriptum, Z. 186. 266 Müller: Mommsens Block, in: Werke, Band 1, S. 257 – 263, dort S. 260. 267 Vgl. Grünbein: Nach den Satiren, S. 61 – 63. 268 Grünbein: An Seneca. Postskriptum, Z. 12.

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„zweitausend Jahre später“ und „nicht [als] deinesgleichen“269 zu Seneca spreche, daß es „aus einer Welt, so himmelweit entfernt von deiner“270 stamme, artikuliert eine geographische, historische und mentalitätsspezifische Distanz zu Seneca und seinem Denken. Es ist allerdings nicht nur die Distanz des Lebenden zum „Tote[n]“, als der Seneca mehrfach angeredet wird271; auch ideologisch scheint eine kaum zu überbrückende Kluft beide zu trennen, sind doch die beständig repetierten formelhaften Maximen einer stoischen Sittenlehre, „die beim Wiederkäun am Gaumen klebt“272, nichts, dem die Gegenwart etwas abgewinnen könnte: „Braucht, was ihr Tugend nanntet, nicht ein Herz aus Stein? / Nein, Apathie – wo Schmerz regiert – ist nichts für jeden.“273 Was dergestalt als Grundsatz formuliert ist, charakterisiert nun zugleich die konkrete Gegenwart als Epoche schmerzlicher Existenz, der gegenüber die stoischen Rezepte für die beata vita nicht länger vermittelbar sind. Der in De brevitate vitae beschworene Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben etwa wird wie bei Grass für die Gegenwart als schlicht unmöglich charakterisiert: „Jeder hängt am Seil, / Aus dem Gesellschaft sich ein Treibnetz knüpft, den Staat.“274 Die heutigen Menschen sind allzusehr verstrickt in kollektiv diktierte Wertvorstellungen, „die Geiseln ihrer Konten, Autos, Hobbies, ihrer Freizeit“, als daß man ein Ohr für Seneca hätte: „Umsonst dein Rat, / Lucius Annaeus“.275 Auch das senecasche Konzept des otium hat höchstens nominell überlebt, wie sich zeigt, wenn Grünbein mit De brevitate vitae als Prätext des eigenen Gedichts nun Senecas Diagnosen in die Sprache zeitgenössischer Befindlichkeit übersetzt: In Depressionen stürzt sie eines Tags der Ruhestand. Nicht mehr gefragt zu sein, ergraut die Schläfen, Erwischt sie kalt. Schon ist die Rente da. Am Ende sind sie müde, magenkrank und ausgebrannt. Erinnerung wird zur privaten Hölle. All die Phasen 269 270 271 272 273

Ebd., Z. 6. Ebd., Z. 28. Vgl. ebd., Z. 1, 106 u. 151. Ebd., Z. 40. Zur Steinartigkeit der Stoiker vgl. auch Grünbein: Vom Schnee, oder Descartes in Deutschland, Frankfurt/Main 2003, XX, S. 71: „Erst kommt der Stein, ein Stoiker“, sowie ebd. XLI, S. 137: „Dies marmorne Entree, kaum bleicher als die Stirn / Des Stoikers“. 274 Ebd., Z. 60 f. 275 Ebd., Z. 64 f.

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Des falschen, viel zu kurzen Lebens suchen sie nun heim. Wer die Bilanz nicht aushält, wirft sich vor den Zug.276

Denn bei aller Umtriebigkeit wird gerade in der vermeintlichen ,Muße‘ der Freizeit die existenzielle Misere erkennbar, die darin besteht, innere Leere mit Geschäftigkeit zu übertünchen: „Langeweile – all der Streß war nichts als Selbstbetrug.“277 Das Gedicht stellt die grundsätzliche Frage, ob denn der heutige Mensch überhaupt für Stoisches geeignet sei. Zumindest die entsprechend optimistische Anthropologie der Antike vermag das 20. Jahrhundert nicht länger zu vertreten: „Was, wenn wir unbelehrbar sind, verstockt, und in uns regt / Mit jedem Ja ein Nein sich, treu dem Dämon Eigensinn?“278 Daß der Mensch durch philosophische Erziehung zu einer gottgleichen Vollendung gebracht werden könne, dieses stoische Credo scheint obsolet. Auf die Frage, was der Mensch sei, vermag das Gedicht nur noch zu antworten: „Ein Tier, das sich im Trotz verliert. […] Erziehung bleibt ein frommer Wunsch.“279 „Zerrissene“280 sind die Menschen – und darin sind sie nun ausgerechnet dem historischen Seneca ähnlich, dem Grünbein im Begleitessay zu De brevitate vitae ein „gespaltenes Ich“281 attestiert und ihn damit gar zum „Prototyp des zerrissenen Philosophen“282 stilisiert, in der Sprache des Gedichts: „so viele Senecas in einem.“283 Die Parallele zu Seneca wird ausgeweitet zur Analogisierung der Gegenwart mit der Epoche Senecas. Nicht nur Philipp Scherbaum stellte in Grass’ çrtlich betubt Übereinstimmungen zwischen der spätrömischen und spätkapitalistischen Konsumgesellschaft fest.284 Schließlich ist beiden gemeinsam die Tendenz zu Individualismus, Hektik und Maßlosigkeit in allem, was der sinnlichen Affekterregung und -steigerung dient. Es ist bloß noch eine rhetorische Frage, die das lyrische Ich angesichts solcher Umstände stellt: „Sein eigner Herr, Freund sapiens, wie wird man das, / Zerzaust von tausend Interessen, jeder gegen jeden?“285 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285

Ebd., Z. 69 – 75. Ebd., Z. 78. Ebd., Z. 108 f. Ebd., Z. 114 u. 133. Ebd., Z. 125. Grünbein: Im Namen der Extreme, S. 74. Ebd., S. 76. Grünbein: An Seneca. Postskriptum, Z. 172. Grass: çrtlich betubt, S. 232. Grünbein: An Seneca. Postskriptum, Z. 145.

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Grünbein gestaltet die Schilderung der Zeit Senecas nun auch sprachlich derart modern, daß die Unterschiede beider Epochen zunehmend verschwimmen: Lässig-modernes Vokabular („Roms Who is who“, „Superhirn“, „Parties“286 etc.) benennt die Zustände des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, anachronistische Anspielungen u. a. auf Heidegger („Mach auf Sein und Zeit / Dir deinen eignen Reim im Stillen“287) tun das übrige, um sprachstrategisch die beiden Epochen miteinander engzuführen. So intensiviert sich die furchteinflößende Ahnung der Nähe unserer Zeit zur dekadenten Epoche Roms bis zur Gewißheit – und aus ihr erwächst eine nachsichtigere Haltung auch gegenüber dem Phänomen Seneca. Denn schien das Gedicht zunächst Senecas Biographie zu einer zuweilen skandalösen Erfolgsgeschichte zu stilisieren, wie sie das 20. Jahrhundert liebt: „Du weißt, was deine Biographen streun. Roms Who is who / Hat dich als Millionär verbucht. Im engsten Kreis / Des Cäsars heimisch…“288, so verschwinden entsprechende Innuendos gegen Ende des Gedichtes immer mehr. Zwar sind solche Legenden, so bedauert das lyrische Ich, „weit zäher als Gedanken“289, den einseitigen Attacken gegen Seneca jedoch will der Autor Grünbein keinen Vorschub leisten. Denn trotz aller saloppen Schelte, die auch er Seneca zuweilen angedeihen läßt290, mahnt er: „Auf einer Marmorbüste herumzuhacken ist keine Kunst. Weitaus schwieriger ist es, der Maserung ihrer Oberflächen zu folgen, die vieles bedeuten kann“.291 Der mittels des Gedichts unternommene Versuch, vieldeutiger „Maserung“ nachzuspüren, befreit Senecas Werk zu einem guten Teil von den Schlacken bornierter historischer Nachrede und Legendenbildung. Das Bild des machtpolitisch kalkulierenden korrupten Erziehers Neros, von dem „die Biographen murmeln“, weicht dem des „einsame[n] Denker[s] […] inmitten mächtiger Hyänen“.292 Damit 286 287 288 289 290

Ebd., Z. 94, 99 u. 137. Ebd., Z. 44. Ebd., Z. 94 – 96. Ebd., Z. 158. Daß Seneca als Erzieher Neros „gründlich versagt“ und „als Mitwisser Neros“ das Todesurteil verdient habe, ist nur der geringste der Vorwürfe Grünbeins an Seneca (vgl. Grünbein: Im Namen der Extreme, S. 59 u. 82). Seneca sei daneben „radikal egoistisch“ gewesen, so daß seine Philosophie „auf Weltflucht hinauslief“ (ebd., S. 61). Seine Werke werden als „Moralbelletristik“ (ebd., S. 66) eines „großspurigen Stoizismus“ (ebd., S. 59) abgekanzelt, er selbst als begnadeter Schauspieler des eigenen Lebens desavouiert (ebd., S. 81). 291 Grünbein: Im Namen der Extreme, S. 74. 292 Grünbein: An Seneca. Postskriptum, Z. 166 – 169.

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öffnet sich der Horizont für eine vorurteilsfreie Lektüre Senecas, für die De brevitate vitae nicht länger verstaubtes Objekt bloß archivarischer Geistesgeschichte oder Anlaß hämisch besserwisserischen Spotts ist, sondern ein lebendiger Text, der zur Kommunikation anregt. Der anfangs markierte historische wie mentalitätsspezifische Hiatus weicht einer eigentümlichen Nähe und Vertrautheit zwischen dem schreibenden Ich und seinem Adressaten: Die Bemerkung, daß Senecas „Brief“ De brevitate vitae „lange unterwegs [war], seit ihn Paulinus las“293, deutet darauf hin, daß er nunmehr endlich sein Ziel erreicht habe: „Ich bin der eine, Seneca, nach dem du schreibend suchtest.“294 Dennoch bestimmt weiterhin eine gewisse Distanz die Rede, doch nun ist es nicht mehr die zweitausendjährige Distanz zweier einander indifferent oder antagonistisch gegenüberstehender Pole, sondern der Abstand des hilfesuchenden Subjekts zu dem, den es um Hilfe bittet. Als intendierter Empfänger des von Seneca geschickten Briefes über die Kürze des Lebens rückt das lyrische Ich dem „Bruder“295 Seneca näher und kann nun allererst als paritätischer Ansprechpartner seinen eigenen Brief an den Philosophen senden. Der zu Beginn des Gedichtes eher formelhaft wirkende Bescheidenheits- und Distanzgestus gegenüber Seneca weicht somit einer authentischen, fast schon identifikatorischen Rezeption von De brevitate vitae. Die bis dato inszenierte Entfernung des Lebenden zum „Tote[n]“, den man um Verzeihung für gelegentliche Impertinenz bitten mußte296, relativiert sich schließlich so weit, daß die paradoxe Schlußwendung des Gedichts den Toten ins ewige Leben ruft: Ich bin der Reisende, verwickelt ins Gespräch, vertieft In deine Schrift De brevitate vitae. Einer, der nicht merkt, Daß er längst angekommen ist – im Überübermorgen, So sehr gefesselt hat, verzeih mir, mich dein Brief. So sehr bezaubert, okkupiert, im Eigensinn bestärkt. Ich bin der eine, Seneca, nach dem du schreibend suchtest. Der späte Lauscher, der ihr zuhört, deiner Geisterstimme. Es braucht mich nicht. Auch nach mir liest man noch dein Buch. Ich leb nur kurz, ein Weilchen nur. Doch du lebst immer.297

293 294 295 296 297

Ebd., Z. 151 f. Ebd., Z. 191. Ebd., Z. 162. „Verzeih mir Toter“ (ebd., Z. 1, 106, 151). Ebd., Z. 186 – 194.

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Während bei Grünbein die Konfrontation mit Seneca in die Auseinandersetzung mit der Gegenwart eingeschrieben ist, wird ein Jahr nach An Seneca. Postskriptum bei einem anderen Autor der Stoizismus im Rahmen der Frage nicht nur nach der Gegenwart, sondern nach der Zukunft der Menschheit relevant: Michel Houellebecq.

„Die funktionelle Autonomie der Neo-Menschen“: Houellebecqs dystopischer Stoizismus Stoische (Selbst-)Erziehung hatte von jeher das Anliegen, das Individuum gegen die Anfechtungen der Leidenschaften, die Abhängigkeit von äußeren Gütern und die Zufälle des Lebens dergestalt zu immunisieren, daß es ein durch philosophische Erkenntnis fundiertes selbstbestimmtes Leben zu führen vermochte. Das Muster einer solchen Entwicklung vom in seinen Affekten befangenen und unter ihnen leidenden unfreien Subjekt zum autonomen Stoiker wird nun bei Michel Houellebecq (*1958) aufgegriffen, aber nicht vorrangig als individualgeschichtlicher Prozeß, sondern vielmehr in gattungsgeschichtlichem Horizont gezeichnet. Die ,Erziehung zum Stoiker‘ wird in La Possibilit d’une le (2005) nicht in ontogenetischer, sondern in phylogenetischer Dimension vollzogen. Bei kaum einem Autor gewinnt die eingangs skizzierte Aporie, mit der das 20. Jahrhunderts konfrontiert ist, so radikal ihre literarische Gestalt wie bei Houellebecq: Ideologisch stoa-resistent, kultiviert der Mensch der Gegenwart sein Triebleben, um den von Freud diagnostizierten Zivilisationsneurosen und dem „Unbehagen in der Kultur“ zu entgehen; dabei aber generiert er zugleich den Automatismus eines Leidenszusammenhangs, angesichts dessen nur noch ein flächendeckender Stoizismus der Selbstzerstörung der Menschheit Einhalt gebieten kann. Der Roman berichtet auf zwei Ebenen vom Schicksal der gegenwärtigen wie der künftigen Menschheit. Auf der ersten Ebene wird die Anfang des 21. Jahrhunderts spielende Handlung von einem Erzähler namens „Daniel 1“ berichtet. Zu diesem Bericht gesellen sich auf der zweiten Ebene die Kommentare der Neo-Menschen „Daniel 24“ und „Daniel 25“, ungefähr aus dem Jahr 4000, Klonen jenes ersten Daniel, die mittlerweile das Stadium vollendeter Gefühllosigkeit und weitgehend ungetrübter Erkenntnisfähigkeit erreicht haben, nur noch via Internet kommunizieren und also ohne direkten physischen Kontakt zu ihren Mitklonen in Autarkie leben, allein damit beschäftigt, die

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Aufzeichnungen von Daniel 1 sowie die entsprechenden Kommentare von Daniel 2 bis Daniel 24 zu studieren und erneut zu kommentieren. In jenen Dokumenten wird die Geschichte des Endstadiums der uns bekannten Menschheit erzählt. Diese ist Anfang des 21. Jahrhunderts an einem Punkt angekommen, an dem sie derartig durch Machtstreben, Geld und Sex korrumpiert ist, daß im entsprechend zynischen Klima Liebe, Seelenruhe und Freiheit unmöglich geworden sind. Daniel 1 ist selbst in solch einer existentiellen Ausweglosigkeit befangen, er verfügt zwar über alle äußeren Güter, doch vermag kein Reiz mehr die innere Leere auszufüllen oder auch nur zu verdrängen, der er sich angesichts unerfüllter Liebe und voranschreitenden Alterns konfrontiert sieht. Da verkündet eine Sekte, die Elohimiten, eine neue Phase der Menschheit, in der jene verlorenen Güter wieder restituiert sein werden. Daniel studiert die Elohimiten und stellt fest, daß es sich um einen gigantischen Schwindel handelt, der allerdings von Wissenschaftlern genutzt wird, um gentechnische Experimente durchzuführen, die den Menschen in Form von Klonen unsterblich machen sollen. Als der Sektenführer ermordet wird, läßt man diesen in einem Täuschungsmanöver ,auferstehen‘ – doch entwickelt sich die Technik schließlich tatsächlich soweit, daß statt der Menschen vor allem die Neo-Menschen (re)produziert werden und sich weiterentwickeln. Die Reste der ungeklonten Menschheit degenerieren dagegen zu zunehmend verrohenden Halbtieren. Am Schluß des Romans bricht der Klon Daniel 25 aus seiner stoisch-isolierten Existenz aus und begibt sich auf die Suche nach Überbleibseln der alten Menschen. Stoisches Gedankengut findet sich dabei auf fast allen Ebenen des Romans. Schon im Menschen Daniel 1 scheint es eine latente Tendenz zum Stoizismus zu geben. Zwar betont er selbst „[s]eine Vorliebe für das Animalische und die Fähigkeit, mich Lust und Ekstase hemmungslos zu überlassen“298, doch bewertet er diese Befangenheit im physischen Begehren als Leidenszustand: „auf jeden Fall hatte ich einen Körper, einen leidenden Körper, der vom Begehren zugrunde gerichtet wurde.“299 Ähnlich Grass’ Starusch besteht auch er nur aufgrund intensiven Konsums von Sedativa (in diesem Falle: Rohypnol300) seinen Alltag. Jedoch wird er nicht umsonst, trotz seines Zynismus, als 298 Houellebecq: Die Mçglichkeit einer Insel, übersetzt von Uli Wittmann, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 79. 299 Ebd., S. 314. 300 Ebd., S. 278.

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scharfsichtiger Moralist und Kritiker moderner Mißstände wahrgenommen.301 Und obgleich die Filme, die er als Regisseur dreht, nur in extremer Form die unseligen Mechanismen seiner Gegenwart repetieren, verweist einer der Filmtitel auf antike Entsagungslehre: „Diogenes, der Kyniker“.302 Daniel 1, „eine Art Zarathustra der Mittelschicht“303, dämmert noch vage eine Möglichkeit des wahren Lebens im falschen, da er eingesteht, daß er „auf die Menschlichkeit […] nicht verzichtet“ hat304 und sogar „noch immer tief in [s]einem Inneren trotz besseren Wissens an die Liebe glaubte.“305 Diese letzten Relikte von Glaube an und Hoffnung auf eine menschengemäßere Existenzform lassen Daniel 1 auf die Elohimiten aufmerksam werden. Trotz aller distanzierten Skepsis ihnen gegenüber empfindet er eine unterschwellige Affinität zu ihren Zielen, denn ihr Programm stellt in Aussicht, der Sklaverei der Leidenschaften dadurch zu entkommen, daß man sich ihnen zwar hingibt, dabei jedoch stets die eigene Autonomie bewahrt: der Prophet ermunterte alle seine Anhänger lebhaft, ihre Autonomie und ihre Unabhängigkeit, vor allem in finanzieller Hinsicht, zu bewahren, niemand sollte dem dauerhaften Entzug seiner individuellen Freiheit zustimmen.306

Der Umgang mit dem Begehrten, sei es Objekt oder Subjekt, ist dabei durchaus stoisch, wenn betont wird, man solle sich genau bewußt machen, was es denn sei, was man begehre. So tröstet einer der Sektenoberhäupter einen Anhänger über seinen Liebeskummer mit folgendem Argument hinweg: „Mach dir klar, daß sie nur eine Sterbliche ist, eine Sterbliche wie wir alle bisher; eine vorübergehende Anordnung von Molekülen.“307 Solch kühle Reduktion eines geliebten Wesens auf „eine hübsche Anordnung von Partikeln, eine glatte Oberfläche, ohne 301 So bezieht sich Daniel 1 auf „de[n] Moralist[en], der in mir schlummerte“ (ebd., S.66), und betont, daß man ihn „oft mit den französischen Moralisten, manchmal mit Lichtenberg verglichen“ habe (ebd., S. 392). 302 Ebd., S. 50. Die Diagnose von Daniel 1 lautet: „Wenn man älter wird, knüpft man immer an die alten Griechen an“ (ebd., S. 88), entsprechend finden sich im Roman weitere Allusionen auf antike Philosophie, wenn Empedokles (Frg. 5) sowie Platon (Symposion) anzitiert werden. 303 Ebd., S. 418. 304 Ebd., S. 222. 305 Ebd., S. 409. 306 Ebd., S. 196. 307 Ebd., S. 290.

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Individualität, deren Verschwinden keinerlei Bedeutung hatte“308, stellt eine genuin stoische Strategie dar.309 Ebenso greifen die Elohimiten die stoische Erlaubnis des Suizids unter gewissen Bedingungen dahingehend auf, daß der rituelle Selbstmord als Moment eines Übergangs gilt, auf den die Wiederauferstehung folgt.310 Tatsächlich wird es unter Sektenmitgliedern Usus, sich frohen Mutes umzubringen, um möglichst bald als Wiederauferstandener die Unsterblichkeit zu genießen. Die Sekte, die einen Ausweg aus dem Leidenszusammenhang anstrebt, ist jedoch letztlich den gleichen Macht-Mechanismen unterworfen wie die von ihr kritisierte Menschheit.311 Ihre Mitglieder bleiben im Grunde befangen in der Sklaverei irrationaler Leidenschaften und äußerer Güter. Die theoretische Erkenntnis der Mißstände löst also den Erkennenden noch nicht aus dem Problemzusammenhang heraus. Dazu muß vielmehr eine radikale Wende erfolgen. Erst mit der ersten durch Selbstmord eingeleiteten ,Reinkarnation‘ vollzieht sich ein Ausbruch aus diesem Raster, und die Erfüllung aller stoischen Ideale ist eingeleitet. Dieser Umschwung vollzieht sich nicht mehr auf Menschenebene, sondern erst mit den frühen Generationen von NeoMenschen, die zunehmend unempfindlicher für Macht, Geld und Sexualität werden. Da auch die Elohimiten trotz ihres ,freieren‘ Umgangs mit Geld und Sexualität nicht dem damit einhergehenden Verstrickungszusammenhang entrinnen konnten, besteht für die Gründerväter der neo-menschlichen Kultur „ihr erstes Ziel […] natürlich darin, Geld

308 Ebd., S. 341. 309 Vgl. Epiktet: Ench. 3: „Wenn du […] deine Frau küßt, dann sage dir: ,Es ist ein Mensch, den du küßt.‘ Dann wirst du deine Fassung nicht verlieren, wenn er stirbt“; vgl. auch Marc Aurels Beschreibung des menschlichen Körpers als „erbärmliche[s] Fleisch: Schmutziges Blut, Knochen, Gebilde aus Sehnen, Verschlingungen von Venen und Arterien“ (II,2) und die daraus gezogene Konsequenz: „bei der geschlechtlichen Verbindung [sollst du dir vorstellen]: das ist nur die Reibung eines Organs und das Ausscheiden von Schleim, welches mit Zuckungen verbunden ist“ (VI,13).Tatsächlich wundert sich später auch Daniel 1 angesichts der so reduzierten ehemaligen Geliebten, wie er sie je habe lieben können. 310 Vgl. Houellebecq: Die Mçglichkeit einer Insel, S. 365. 311 Das zeigt sich nicht nur daran, daß der Sektengründer von einem seiner Anhänger ausgerechnet aufgrund von Eifersucht ermordet wird, sondern auch daran, daß in dieser Situation durch das plötzliche Erscheinen einer bewaffneten Wacheinheit deutlich wird, wie bereits die ganze Zeit über ein paramilitärischer Apparat im Hintergrund für die relative Stabilität der Sekte zu sorgen hatte.

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und Sex aus der Welt zu schaffen“.312 An die Stelle des sich mittels Geschlechtsverkehr fortpflanzenden Menschen tritt der Neo-Mensch, der seine Existenz der ,Wiedergeburt‘ mittels Klonen verdankt. Ab einem gewissen Stadium sind die aus solchen Klonen evolvierten Neo-Menschen soweit aller menschlichen Leidensfähigkeit und -not entrückt, daß sie vollendete Stoiker darstellen, die sich ihres Stoizismus auch reflektierend bewußt sind. Denn das Studium der Aufzeichnungen ihrer Vorgänger dient weniger der historischen Information als dem primären Zweck, den Ursprung menschlicher Leiden nicht allein zu überwinden, sondern ihn verinnerlichend zu begreifen: So „mußten wir zunächst die Schwächen, die Neurosen und die Zweifel der Menschheit nachvollziehen; wir mußten sie uns völlig zu Eigen machen, um sie anschließend zu überwinden.“313 Daß diese Überwindung gelungen ist, belegen die Kommentare Daniels 24 und Daniels 25. „Die Freiheit erlangen, gleichgültig zu werden“, so haben die Neo-Menschen erkannt, „das ist die Voraussetzung für die Möglichkeit vollkommener Gelassenheit“.314 Sie leben als geographisch streng voneinander isolierte autarke Individuen, deren genetisches Design nicht nur ihre apatheia durch die Rückbildung schmerzempfindlicher Nervenfasern befördert, sondern ihnen auch ermöglicht, mit einem Minimum an Nahrung auszukommen, eine geringe Dosis mineralischer Salze genügt. Sie haben nicht nur „den Pfad der Lust verlassen“315 und erheben den Anspruch „besänftigt, rational und fern von Lust und Leid zu sein“.316 Sie haben auch einen stoischen Fatalismus entwickelt317, vertreten den stoischen Glauben an die Determiniertheit aller Dinge318 und führen die „Existenz einer residuellen geistigen Tätigkeit, die keinerlei Interessen 312 Ebd., S. 457. 313 Ebd., S. 183. Wenn Seneca oft bei der Schilderung der Laster und Fehlbarkeiten des Menschen plakativ radikalisierend vorgeht, um seinen Adressaten von der Dringlichkeit zu überzeugen, sich ihrer zu entledigen, so wird eine ähnliche Strategie auch bei der stoischen Erziehung der Neo-Menschen angewendet: Sie sollen geradezu Ekel bei der Lektüre der Lebensberichte ihrer fehlerhaften Vorgänger verspüren, denn „gerade dieser Ekel oder diese Langeweile müssen wir in uns entwickeln, um uns vom Menschengeschlecht zu unterscheiden“ (ebd., S. 101). 314 Ebd., S. 381. 315 Ebd., S. 41. 316 Ebd., S. 483. 317 Ebd., S. 485. 318 Ebd., S. 477.

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verfolgt und der reinen Erkenntnis gewidmet ist.“319 Weder Grausamkeit noch Mitleid oder Güte sind Emotionen, die in ihrem Leben irgendeinen Sinn hätten.320 Zur Unterstützung ihrer apatheia ist ihnen dabei höchstens die Lektüre Spinozas verordnet.321 Doch je länger Daniel 24 und 25 die Aufzeichnungen ihres Vorfahren Daniel 1 studieren, desto ,humanoider‘ werden sie wieder, d. h. anfälliger für menschliche Empfindungen und die Einsicht in die sterile Leere ihrer eigenen Existenzform. Schließlich erwächst aus der apatheia des philosophischen Ideals bei Daniel 25 „zunehmende Apathie“.322 Und statt in stoischer Selbstgenügsamkeit zu verharren, erkennt er, daß er einer jener „unerschütterte[n] Greise“ ist, die bereits Brecht angeprangert hatte: „Wir hatten das leidenschaftslose Dasein von Greisen geführt, der Blick, mit dem wir die Welt betrachteten, war scharfsichtig, aber ohne Wohlwollen.“323 Als das einzige Objekt von affektiver Zuneigung, derer die Daniel-Klone noch fähig waren, der ebenfalls geklonte Nachkömmling von Daniels 1 Hund stirbt, bricht Daniel 25 aus seiner stoisch-isolationistischen Existenz aus und macht sich auf die Suche nach gleichgesinnten, der Leidenschaftlosigkeit überdrüssigen Neo-Menschen. Und trotz der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens und der Gewißheit, daß er bald sterben wird, empfindet er zum ersten Mal so etwas wie Glück. Genretypisch kristallisiert der Roman als dystopischer Entwurf gegenwärtig bestehende Zustände und Tendenzen. Er liefert die schonungslose Analyse einer körperfetischistischen, sexbesessenen Gesellschaft, wie sie die Texte antiker Stoiker kaum schärfer hätten formulieren können. Was er aber darüber hinaus aufzeigt, ist die eigentümliche Dialektik, die mit solcher hedonistischen Fixierung auf die Leiblichkeit verbunden ist: Denn der hier zelebrierte Körperkult ist in seinem Wesen selbst zutiefst körperfeindlich, da er den individuellen Körper den kollektiv vorgegebenen tyrannischen Wunschvorstellungen unterwirft. Daß in Die Mçglichkeit einer Insel die Entwicklung der körperbefangenen Menschheit auf die Bildung einer körperlosen ZukunftsGesellschaft ausgerichtet ist, markiert einen konsequent dialektischen 319 320 321 322

Ebd., S. 432. Vgl. ebd., S. 61 u. 76. Vgl. ebd., S. 396. Ebd., S. 446. Bereits die Aufzeichnungen von Daniel 24 weisen „eine seltsam ernüchterte Bitterkeit“ sowie „Überdruss und Gefühl der Leere“ (ebd., S. 182) auf. 323 Ebd., S. 473.

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Umschlag in der Auseinandersetzung mit der als exzeptionell bestimmten Rolle der Leiblichkeit. Mit solcher Dialektik verbindet sich allerdings auch die Diagnose, daß extreme Körperfeindlichkeit zu einer erneuten Art des Körperkultes führt. Denn daß der Körper gleichsam Antagonist des eigenen freien Willens sei, daß es gilt, die Leiblichkeit diesem eigenen Willen mittels askesis unterzuordnen – dies ist nicht nur das Programm des Stoizismus von Zenon bis Hemingway, sondern auch das eines narzisstischen Körperkultes, wie er sich u. a. im Bodybuilding Bahn bricht. Hier bleiben zwar die Praktiken des Stoizismus (Enthaltsamkeit, Modellierung des Körpers durch Unterwerfung unter den eigenen Willen, Aushalten größter Schmerzen) erhalten, doch gehen die philosophischen Grundlagen solcher Praktiken verloren. Gerade das Gegenteil stoischer Autonomie, nämlich die modeinduzierte Fixierung auf äußerliche Schönheitsideale, bestimmt solche ,stoischen‘ Praktiken. Nicht mehr zum Fatum oder zu den Göttern wird philosophisch gebetet, die Adoration richtet sich auf die eigene Leiblichkeit. Davon legt nicht nur ein Roman wie John von Düffels Ego (2001) 324 Zeugnis ab, sondern auch ein Gedicht Grünbeins, das gleichsam die ultimative Perversion stoischer Ideale artikuliert: Nachts ein Studio. Panoramafenster. Auf der Stelle tretend, Sieht man, in den Ohren Stöpsel, Frauen an Metallgeräten, Die wie Folterwerkzeug aussehn, Streckbank und Garotte. Fitness ist das Zauberwort. Zum eignen Körper beten, Gilt als Prüfung, die man absolviert nach Plan, voll Inbrunst. Jeder ist sein eigner Inquisitor. Herz und Lungen Werden streng bewacht, daß sie dem Muskelaufbau dienen. Was das Hirn macht? Dämmern, sagen böse Zungen. Ist es, weil hier eine ganze Himmelsrichtung abbricht, Daß sie stoisch in Bewegung bleiben auf dem letzten Pier? Vor sich, was zu keinem Aufbruch mehr verlockt, das Meer. Sind sie besser durchtrainiert in Langeweile hier? 325

Der hier deutlich gemachte, zuweilen extrem erweiterte Horizont, innerhalb dessen stoischer Philosopheme aufgegriffen, interpretiert und instrumentalisiert werden, zeigt, daß der Stoizismus gemäß dem ihm vorauseilenden ambivalenten Ruf für die problematische Zeit zwischen Jahrhundert- und Jahrtausendwende eine Herausforderung darstellt – und wohl auch weiter darstellen wird. Die Warnung des stoa-skepti324 John von Düffel: Ego, Köln 2001. 325 Grünbein: Nach den Satiren, S. 130.

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schen Nero in Martin Walsers Nero lßt grßen, oder Selbstportrt des Knstlers als Kaiser ist weiterhin aktuell: „Wer sich von den Philosophen raten läßt, muß ein sehr kluger Mann sein.“326 Denn die Instrumentalisierung des Stoizismus zum Zweck des menschenwürdigen Überlebens stellt auch künftig eine heikle Aufgabe für all jene dar, die – mit Sylvia Plath zu sprechen – im Rahmen des Stoizismus „the triumph of wit over suffering“ zu ihrem Ziel machen und nach Einsicht streben in the celestial balance Which weighs our madness with our sanity.327

326 Walser: Nero lßt grßen…, S. 16. 327 Plath: Perseus. The Triumph of Wit over Suffering, in: The collected Poems, ed. by Ted Hughes, New York 1992, S. 82 – 84.

Der Stoiker als komischer Typus. Stoa-Parodien in Literatur und Film von Frank Pauly Er allein ist sich selbst genug, er allein ist reich, er allein vernünftig, er allein König, er allein frei; kurz, er ist alles allein, freilich nach seinem alleinigen Urteil; auf Freunde gibt er nichts – er ist auch niemand freund – ; den Göttern empfiehlt er rundweg, sich aufzuhängen, und alles, was unter Menschen auf Erden sich abspielt, verwirft und verlacht er als Tollheit. Eine prächtige Gestalt, nicht wahr? Und doch, so schaut jener vollendete Weise aus.1

Mit dieser polemischen Charakterisierung des stoischen Weisen steht Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit (1508) nicht allein, im Gegenteil: Eine bisher wenig beachtete Form der Rezeption der Stoa zeigt sich in der literarisch wirkungsmächtigen Tradition ihrer Veralberung. In zahlreichen Texten figuriert der Stoiker nämlich nicht als philosophische Idealgestalt, vielmehr markiert er einen spezifisch komischen Typus, der im Genre des Philosophenspotts an exponierter Stelle steht. Kaum eine philosophische Schule ist im Laufe der Geistesgeschichte so oft und so gründlich ironisiert, persifliert und karikiert worden wie die Stoa. In der Tat eignet sie sich aufgrund der Radikalität ihrer Lehren wie keine andere Denkrichtung für spöttische Attacke und satirische Reflexion. Zur Genese eines Typus Zum komischen Typus avanciert der Stoiker zunächst im Ausgang von jenen Parodien, Satiren und Persiflagen, die sich gegen konkrete historische Persönlichkeiten richten. Deren Verhalten läßt die von ihnen propagierte stoische Lehre in einem zweifelhaften Licht erscheinen. Besonders Chrysipp bildet einen bevorzugten Gegenstand solcher Verspottung. Das ist wohl darauf zurückzuführen, daß bereits in der 1

Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Abschn. 30, in: Ausgewhlte Schriften, hg. von Werner Welzig, Darmstadt 1975, Band 2, S. 1 – 211, dort S. 67.

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frühesten populären Philosophiegeschichte ein reichhaltiger Fundus höchst parodiefähiger Charaktereigenschaften dieses Philosophen zusammengetragen worden war: So schildert um 220 n. Chr. Diogenes Laërtius Chrysipp als eitlen und streitsüchtigen Charakter, der sich in sophistischen Spitzfindigkeiten gefallen habe. Diese sprichwörtlich chrysippeische Spitzfindigkeit traktierte vor Diogenes Laërtius schon Lukians Dialog Der Verkauf der philosophischen Sekten, in dem sich Chrysipp damit brüstet, jedermann in die Fallen seiner ,subtilen‘ Logik und raffinierten Rhetorik locken zu können. Einem potentiellen Käufer droht er sogar damit, jene Logik als Waffe einzusetzen: „nimm dich in acht, daß ich dir nicht einen unauflöslichen Syllogismus in den Leib schieße!“2, woraufhin er ihn erst in einen Stein verwandelt, um ihn dann auf nicht weniger bizarre Weise wieder in ein Lebewesen zurückzuverwandeln.3 Diogenes Laërtius charakterisiert Chrysipp zudem als einen geschwätzigen Vielschreiber von mehr als 705 Büchern, der den selben Lehrsatz immer wieder reproduziere und sich übermäßig mit Zitaten anderer Autoren zu schmücken liebe. Seine Schriften schwollen ihm aber zu so großer Zahl an, weil er sich häufig mit dem nämlichen Lehrsatz zu schaffen machte, alles, was ihm gerade einfiel, zu Papier brachte, es häufig wieder verbesserte und mit einer übergroßen Anzahl von Belegstellen ausstattete. Als er z. B. einmal in einer seiner Schriften nahezu die ganze Medea des Euripides einflocht, da gab einer, der dies Buch in der Hand hatte und befragt wurde, was es wäre, die Antwort: „Des Chrysippos Medea.“ Und Apollodoros von Athen sagt […] folgendes: „Entfernt man aus den Büchern des Chrysipp alles, was er an fremdem Gut mit beigelegt hat, so werden ihm schließlich nur die leeren Blätter verbleiben.“4

Auch argumentiere Chrysipp je nach Belieben sowohl gegen wie auch für eine Sache5 und traktiere inhaltlich höchst anstößige Themen.6 Die Quantität seiner Schriften wird schier ebenso sprichwörtlich wie seine 2 3 4 5 6

Lukian: Der Verkauf der philosophischen Sekten, in: Werke, übers. von C. M. Wieland, hg. von Jürgen Werner u. Herbert Greiner-Mai, Berlin u. Weimar 1981, Band 1, S. 211 – 229, dort S. 225 f. Ebd., S. 226. Diogenes Laërtius: Leben und Meinungen berhmter Philosophen. Übers. von Otto Apelt, hg. von Klaus Reich, Hamburg 21967, dort VII, 180 f. Ebd. VII, 184. So gestatte er „den fleischlichen Umgang mit Müttern, Töchtern und Söhnen“ und gebe „die Anweisung, auch die Gestorbenen zu verzehren“ (ebd. VII, 188).

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Spitzfindigkeit, so daß Erasmus von Rotterdam es als Zeichen der Unendlichkeit ansieht, wenn zu einem Thema selbst die Bände des Chrysippos nicht alles fassen könnten.7 Was hingegen die Qualität des chrysippeischen Schrifttums betrifft, notiert später Wieland lakonisch: „Allein, […] ist doch von den 705 Büchern, die er geschrieben haben soll, kein einziges bis auf uns gekommen; und es scheint nicht, daß die Welt viel dabei verloren habe.“8 Auch bei John Lyly begegnet eine Variation des von Diogenes Laërtius vorgegebenen Themas Chrysipp, wenn unser Stoiker als „leane old mad man“ geschildert wird, der so „bookish“, so sehr in seiner Bücherkunde befangen ist, daß er – stumpf vor sich hinstarrend und nicht einmal mehr fähig, selbständig zu essen – von seiner Magd gefüttert werden muß.9 Gestorben sei er, so wieder Diogenes Laërtius, entweder durch den Genuß zu viel ungemischten Weines oder dadurch, daß er sich totgelacht habe; jedenfalls sprechen beide Varianten durchaus gegen die Ernsthaftigkeit seiner propagierten Asketik. Kurz, das kursorische Portrait dieses Stoikers in dem zuweilen der Polemik verpflichteten philosophiehistorischen Kompendium des Diogenes Laërtius bietet genug Material, um künftige Generationen humoriger Stoa-Kritiker mit brauchbarer Munition zu versorgen So kann bereits Kaiser Julian, dessen philosophisches Vorbild Marc Aurel war, auf ein reiches Repertoire entsprechender Klischees zurückgreifen, wenn er sich selbst als Stoiker parodiert. Gezielt mobilisiert sein Barthasser (362 n. Chr.) einen ganzen Katalog skurriler bis absurder Attribute, die den stoischen Philosophen komisierend kennzeichnen. Das Dickicht eines borstigen Bartes, das Läuse bewohnen, lasse ihn wie „einen Ziegenbock“ erscheinen; sein gesamter Körper sei behaart, die Fingernägel schmutzig und ungefeilt, „so ein störrischer und primitiver Typ“ sei er, betont der Kaiser. Eine „unmögliche Lebensweise“ pflege er, schlafe auf einem Strohsack, esse wenig, da „[mich] schon in meiner Kindheit […] eine schreckliche und unvernünftige Verblendung [überkam], Krieg gegen meinen Bauch zu führen.“10 „Bäurische Ma7 Vgl. Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Abschn. 65 (Ausgewhlte Schriften 2, S. 193). 8 Wielands Anmerkung zu Horaz’ Sat. I,4, in: Werke (Frankfurter Ausgabe), hg. von Gonthier-Louis Fink, Manfred Fuhrmann, Sven-Aage Jørgensen u. a., Frankfurt/Main 1986 ff., dort Band 9, S. 699. 9 Vgl. Lyly: Campaspe I, 3, in: The Complete Works of John Lyly, ed. R. Warwick Bond. Oxford 1902, Band 2, S. 303 – 360, dort S. 323 ff. 10 Vgl. Julian Apostata: Misopogon, in: Der Barthasser, übers. von Marion Giebel, Stuttgart 1999, dort 338c-340b.

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nieren“, „grämliches Einsiedlertum“, eine „ungeschliffene Art“, „Unbelehrbarkeit und Schmähsucht“11, das Drechseln von Phrasen in der „üblichen verdrehten Art“12 markieren das Stoikertum dieser Selbstparodie. „Also trage ich selbst nach Kräften zu den satirischen Angriffen gegen mich bei und gieße mir noch reichlicher einen ganzen Kübel solcher Schmähungen über den Kopf.“13 Das sich schon in der Antike, insbesondere bei Horaz, Lukian, Diogenes Laërtius und Julian herauskristallisierende Stereotyp des ,verlachenswerten Stoikers‘ bleibt bis in die Neuzeit als literarisches Klischee aktuell, sei es in Gestalt der „Frösche aus der Stoa“ bei Erasmus von Rotterdam14, der „bookish“ und „blockish men“ bei John Lyly15, der „stoischen Schwätzer“ bei Christoph Martin Wieland16, der „elende[n] Grimassirer“ bei Johann Karl Wezel17, der Patrone römischen Aberglaubens bei G.W.F. Hegel18, des unnatürlich stoischen Pudels Brutus bei Heinrich Heine19, des „vollendeten Hornochsen“ bei

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Ebd. 342d. Ebd. 345b. Ebd. 346d. Vgl. Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Abschn. 38 (Ausgewhlte Schriften 2, S. 85). Vgl. Lyly: Campaspe I, 3 (Complete Works 2, S. 323). Vgl. Wielands Anmerkung zu Horaz’ Sat. II,3 (Werke 9, S. 944). Vgl. Wezel: Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1774 hg. von Victor Lange, Stuttgart 1991, hier Band 2, Kap. 15, S. 100. Vgl. Hegel: Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, in: Werke, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/Main 1986, Band 18 – 20, dort Band 19, S. 267 f. Zum Aberglauben der Stoiker vgl. auch Wieland: Geschichte des Agathon (1. Fassung), VI, 4, in: Werke (Frankfurter Ausgabe), hg. von Gonthier-Louis Fink, Manfred Fuhrmann, Sven-Aage Jørgensen u. a., Frankfurt/Main 1986 ff., Band 3, S. 191 f.: „Die Stoiker […] hatten unter anderen Sonderlichkeiten, eine große Meinung von der Natur und Bestimmung der Träume. Sie trieben es so weit, daß sie sich die Mühe gaben, eben so große Bücher über diese Materie zu schreiben, als diejenigen, womit die gelehrte Welt noch in unsern Tagen, von einigen weisen Mönchen über die erhabne Kunst, die Gespenster zu prüfen und zu bannen, beschenkt worden ist […], und dasjenige in die Form einer schlußförmigen Theorie [zu bringen], was bei ihren Großmüttern ein sehr unsichers Gemische von Tradition, Einbildung und Blödigkeit des Geistes gewesen sein möchte.“ Vgl. Heine: Der tugendhafte Hund, in: Smtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, München 21985, Band 6/1, S. 291 – 293.

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Friedrich Nietzsche20 oder in Form weltfremder Jünglinge bei Adalbert Stifter21. Im harmlosesten Falle sind es die humorig-schrulligen, aber mehr oder weniger gutherzigen und moralisch integren stoischen Sonderlinge im Œuvre Wilhelm Raabes, die von dieser Tradition zeugen.22 In diesen und zahllosen anderen Beispielen zeigt sich der Stoizismus als Akkumulation sonderbarster Spleens und der ,literarische‘ Stoiker als Inkarnation von Weltfremdheit, als unglaubwürdiger Vertreter eines moralischen Rigorismus, als sinnenfeindlicher sturer Misogyn ohne jeden Sinn für Humor, als abergläubischer Narr, als geschwätzig-sophistischer Rhetor – oder schlicht als großspuriger Pseudophilosoph, der weniger echter Stoiker ist, als sich den Anschein eines solchen gibt. So etwa, wenn ein siebzehnjähriger Dorfschullehrer in Gottfried Kellers Roman Der grne Heinrich (1879 – 80) im Rahmen seines PhilosophieUnterrichts alle philosophischen Systeme wörtlich auswendig lernt und sie jeweils unreflektiert in die eigene Existenz umsetzt. Als der Stoizismus an die Reihe kommt, geriert er sich ganz nach den traditionell geläufigen Klischees: Als Stoiker […] richtete er allerhand spaßhafte Händel an und brachte die Leute in Harnisch, um in dem entstandenen Lärm dann einen kalten Gleichmut zu behaupten und sich nichts anfechten zu lassen; insbesondere aber erklärte er sich als einen Verächter der Frauen und führte einen beständigen Krieg mit ihnen, welche mit ihren sinnlichen Reizen und ihrem eitlen Wesen die Männer ihrer Tugend und Ernsthaftigkeit berauben wollten. Als Cyniker verfolgte er die Frauen und Mädchen überall mit Natürlichkeiten, als Epikuräer mit erotischen Witzen, und als Stoiker sagte 20 Vgl. Nietzsche: Nachlaß W II 3, Nr. 11 [297], in: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 2 1988, Band 13, S. 125. 21 Vgl. Stifter: Die drei Schmiede ihres Schicksals, in: Bunte Steine und Erzhlungen, hg. von Uwe Japp, Düsseldorf, Zürich u. München 1996, S. 317 – 345, dort S. 321. 22 U.a. Johannes Wacholder, der Erzähler der Chronik der Sperlingsgasse (1857), der an einer Abhandlung De vanitate hominum arbeitet; Heinrich Ulex in Die Leute aus dem Walde (1863); August Hahnenberg in Drei Federn (1865); Ludwig Dorsten, ironisch genannt „der weise Seneka“ in Das Horn von Wanza (1881) und der Magister Buchius in Das Odfeld (1889), der mit seiner „Blechlaterne, der allerechtesten Lucerna Epicteti“ zuweilen fast schon Züge einer Stoa-Allegorie hat (vgl. Das Odfeld, Kap. 18, in: Smtliche Werke (Braunschweiger Ausgabe), hg. von Karl Hoppe und Jost Schillemeit, Göttingen 1951 – 1985, Band 17, S. 5 – 229, dort S. 150).

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er ihnen Grobheiten, war aber immer zu finden, wo drei bei einander standen.23

Offensichtlich verliert die Repertoire-Nummer des ,komischen Stoikers‘ im Laufe der Jahrhunderte nicht ihren Reiz. Sie wird immer wieder aufs neue genutzt, so daß es einem Autor oft schon genügt, Stoizismen lediglich anzuspielen, um sich des Amüsements des Publikums gewiß zu sein. So bedarf es 1814 bei E.T.A. Hoffmann schließlich nicht mehr als einer lapidaren Erwähnung eines stoischen Traktats, um eine entsprechend humorige Assoziation hervorzurufen: In dem Moment, in dem mitgeteilt wird, daß im Goldnen Topf der Konrektor Paulman „in Cicero de Officiis vertieft“24 sei, qualifiziert sich Paulmann beim zeitgenössischen Leser automatisch als spießbürgerlich phantasieloser und verlachenswerter Philister. Ein Eindruck, den der weitere Handlungsverlauf gründlich untermauert.25 Wie wirkungsmächtig und strukturbildend gerade das von der Stoa formulierte Ideal des Weisen für entsprechende Verulkungen ist, läßt sich mithin daran ablesen, daß es nicht nur in ausdrücklichen StoaParodien vorkommt, sondern daß ein Großteil auch unspezifischer literarischer Philosophen-Verballhornungen eigentlich latente StoikerVerulkungen darstellen, so sehr hat sich das stoische Musterbild des sapiens im kollektiven Bewußtsein als Paradigma des ,Philosophen‘ schlechthin sedimentiert.26 In Molières Lustspiel Der Brger als Edelmann 23 Keller: Der grne Heinrich (Zweite Fassung) II, 9, in: Smtliche Werke (Frankfurter Ausgabe), hg. von Gerhard Kaiser, Thomas Böning u. a., Frankfurt/Main 1985 – 1996, dort Band 3, S. 286. 24 Hoffmann: Der goldne Topf, 5. Vigilie, in: Smtliche Werke (Frankfurter Ausgabe), hg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht, Frankfurt/Main 1985 – 2004, Band 2/1, S. 229 – 321, dort S. 260. Noch ironischer wirkt es, daß Hoffmann dieses für den Handlungsverlauf überhaupt nicht relevante Element scheinbar sinnlos eigens in die Inhaltsangabe der fünften Vigilie integriert, die lautet: „Die Fräulein Hofrätin Anselmus – Cicero de officiis – Meerkatzen und anderes Gesindel – die alte Liese – das Aequinoctium“ (ebd., S. 258). 25 Eine ähnliche Assoziation ergibt sich bei einem weiteren Ciceros De officiis zitierenden literarischen Konrektor, dem Konrektor Eckerbusch im 12. Kapitel von Wilhelm Raabes Horacker (1876). 26 Das gilt nicht nur für generelle Philosophen-, sondern oft auch für GeistlichenVerspottungen, die hier nur am Rande erwähnt seien. Nicht zufällig bezeichnet das Lob der Torheit (Abschn. 11) des Erasmus von Rotterdam die Mönche als zeitgenössische Erben der hochnäsigen stoischen Philosophen – mit allen Ambivalenzen und Absurditäten bezüglich des Auseinanderklaffens von Anspruch und Wirklichkeit. In vielen Satiren auf Geistliche (von den mittelal-

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(1670) etwa bekennt sich der „Philosoph“, der in der Liste der dramatis personae in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Denkrichtung nicht näher charakterisiert ist, nicht nur zur stoischen Einteilung der Philosophie in Logik, Ethik und Physik, er führt zugleich explizit stoische Theoreme zum Zorn im Munde.27 Sogleich nach seiner Tirade läßt er sich jedoch – aus verletzter Eitelkeit – zu einer Rauferei mit Tanz-, Fecht- und Musikmeister provozieren. Auch der eigentlich im Zeichen des Fichteanismus charakterisierte Schoppe in Jean Pauls Titan (1800 – 03) verkörpert bei genauerem Hinsehen einen extrem an der stoischen Lehre orientierten Typus, der letztlich ein stoisches Ideal nach dem anderen ad absurdum führt. Nicht zufällig verweist sein selbstgewählter Name „Schoppe“ auf Caspar Scioppius, der sich im 17. Jahrhundert um die Renaissance des Stoizismus bemüht hatte.28 Schoppes Weltanschauung und Lebensart läßt nämlich durchaus die „Halle“ (Wieland) assoziieren.29 Nicht nur sucht er die Bedingtheiten der eigenen Körperlichkeit zu überwinden, indem er im „Sommer und terlichen Märendichtungen des Strickers bis zu Tucholskys Die Einsiedlerschule (1917)) sind die Protagonisten implizit auch christlich spiritualisierte (Pseudo-)Stoiker. – Ebenso ließe sich bis in die Gegenwart hinein aufzeigen, wie stark neben dem Geistlichen- auch allgemeiner Gelehrten-Spott davon lebt, den Gelehrten mit genuin stoischen Attributen zu charakterisieren (vgl. Alexander Kosˇenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklrung. Göttingen 2003; Jenny Gehrs: Komische Philosophie – philosophische Komik: philosophische Komçdien und satirische Kritik der Philosophie im 19. Jahrhundert. Heidelberg 1996). Jüngst wurde in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) die Komik, die dort der Schilderung Alexander von Humboldts eignet, mitunter auch dadurch generiert, daß der Autor Humboldt als Gelehrten porträtiert, bei dem in der Konfrontation mit seiner Umwelt gerade sein stoisches Selbstverständnis oft groteske Situationen produziert. 27 „Ich bitte Sie, meine Herren“, spricht er drei Streitende an, „darf man sich denn so hinreißen lassen? Haben Sie den gelehrten Traktat von Seneca über den Zorn nicht gelesen? Gibt es etwas Gemeineres und Schändlicheres als diese Leidenschaft, die aus dem Menschen ein wildes Tier macht? Soll denn nicht die Vernunft Herrin über all unsere Triebe sein?“ (Molière: Der Brger als Edelmann, übers. von Arthur Luther, Stuttgart 1967, hier II,3 und 4). 28 Vgl. Jean Paul: Titan, 1. Jobelperiode, 3. Zykel und 33. Jobelperiode, 136. Zykel, in: Smtliche Werke, hg. von Norbert Miller, München 61999, Band I/3, S. 29 u. 784; vgl. Joseph Kiermeier: Der Weise auf den Thron! Studien zum Platonismus Jean Pauls, Stuttgart 1980, S. 44. 29 In der 19. Jobelperiode, 83. Zykel des Titan wird Schoppe sogar ausdrücklich mit entsprechenden Signalwörtern beschrieben: als „Stoiker“ und als „ein Kato auf Ruinen“ (Smtliche Werke I/3, S. 460).

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Winter eiskalt“ badet und „in allem enthaltsam“ bleibt30, er hält sich auch der gesellschaftlichen Sphäre fern, und zwar so entschieden, daß er sogar „das Fixum eines Lohns ablehnen“ muß, um seine Freiheit zu bewahren. Aufgrund dieses Freiheitspathos will er sich soweit wie möglich von den Umständen unabhängig machen. Nur wer sich „von allem […] rein entkleidet“, um „nichts [zu] behalten als [s]ich selber“, bleibt nach Schoppes Ansicht im Besitz seiner „göttliche[n] Freiheit“.31 Dieses stoisch grundierte Autarkie- und Autonomie-Ideal erweist sich indes im Verlauf der Handlung als nicht tragfähig und als eine Art Luxus-Stoizismus, als eine Unabhängigkeit, die sich vornehmlich Schoppes ererbtem Wohlstand verdankt. Denn als schließlich sein Vermögen versiegt und er sich noch dazu unglücklich verliebt, ist es vorbei mit der stoischen Selbstbewahrung, beim ersten Anlaß verfällt er dem Wahnsinn und stirbt.

Spielarten komischer Stoa-Kritik Was nun macht das Verulken stoischer Charaktere so reizvoll? Unverkennbar kommt in den persiflierenden literarischen Argumenten ad hominem (für die jene o.g. komischen Chrysipp-Figurationen ein frühes eindrückliches Beispiel geben) meist auch eine inhaltliche Skepsis gegenüber der stoischen Lehre zum Ausdruck. Nicht von ungefähr notiert Gustave Flaubert in seinem Wçrterbuch der Allgemeinpltze (ca. 1881) unter dem Stichwort „Stoicisme“ lapidar: „est impossible.“32 Mitunter ist es jene zum Allgemeinplatz geronnene ,Impossibilität‘, die den Stoizismus zum beliebten Gegenstand der komischen Kritik werden ließ. Die Literatur unterzieht nun das stoische Konzept einer fiktionalen Gegenprobe, indem sie die Theorie in einer simulierten praktischen Situation durchspielt, um stets die Undurchführbarkeit stoischer Philosopheme zum Vorschein zu bringen. Dabei wird der Nachweis, wie 30 Jean Paul: Titan, 9. Jobelperiode, 48. Zykel (Smtliche Werke I/3, S. 235). 31 Ebd., 31. Jobelperiode, 122. Zykel (Smtliche Werke I/3, S. 699). 32 Flaubert: Le Dictionnaire des Ides reÅues, in: Œuvres, hg. von Albert Thibaudet u. René Dumesnil, Paris 1952, dort Band 2, S. 1022. Eine neuere deutsche Übertragung, die zwar weniger philologisch korrekt als der Sache nach übersetzt, unterstreicht zusätzlich den süffisanten Unterton dieses Eintrags: „Wenn man bedenkt, daß das unmöglich ist“ (vgl. Flaubert: Bouvard und Pcuchet und Das Wçrterbuch der Allgemeinpltze, übers. von Caroline Vollmann, Frankfurt/ Main 2004, S. 434).

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grotesk und alltagsuntauglich der philosophische Anspruch manchen Stoikers ist, zum Gravitationszentrum entsprechender Texte. So läßt etwa Voltaire in Memnon ou La Sagesse humaine (1756) seinen Protagonisten den „törichten Vorsatz“ fassen, höchst stoisch zu leben und „vollkommen weise zu sein.“ Denn „um wirklich weise und demzufolge vollkommen glücklich zu sein, braucht man nur ohne jede Leidenschaft zu leben, und bekanntlich ist nichts einfacher als das.“33 Also entschließt sich Memnon, nie wieder eine Frau zu lieben, in allem Maß zu halten und sein Vermögen umsichtig zu verwalten. Gesagt – aber nicht getan! Am Ende des Textes steht Memnon an Leib und Seele beschädigt und ohne Geld da, weil er wegen einer Frau jedes Maß verloren hat. Ähnlich ergeht es zwei Jahrhunderte später einem Nachfahren Memnons, dem christianisierten Stoiker George Marvin Brush in Thornton Wilders Heaven is my Destination (1935). Zwar hält er lange auf höchst weltfremde Weise an seinem synkretistischen Stoizismus fest, am Ende aber wird er – durch Frauen, Spitzbuben und die eigene Gutmütigkeit bedingt – gründlich desillusioniert. Auch in anderen Fällen werden die Selbstwidersprüche eines (echten oder vorgetäuschten) Stoikers durch unterschiedliche fiktionale Experimentalanordnungen mit spitzer Feder entlarvt und sein prätentiöses Postulat als solches decouvriert. Das Muster komischer Kritik des Stoizismus läßt sich grosso modo in zwei grundsätzliche Spielarten gliedern. (1) Die Kritik zielt auf die Entlarvung bloß stoischer Poseure bzw. heuchlerischer „soi-disant Stoiker“ (Raabe) 34 und nicht primär auf den Stoizismus als philosophischen Diskurs; (2) die komische Kritik nimmt den Stoizismus inhaltlich ins Visier, entweder lediglich auf einzelne Philosopheme bezogen, oder die Attacken richten sich gegen den Stoizismus als ganzen, wobei in letzterem Fall meist von einem anderen weltanschaulichen Diskurs aus der Geltungsanspruch der stoischen ,Ideologie‘ in Frage gestellt wird. Daß sich diese Facetten komischer Stoiker-Kritik nicht immer trennscharf voneinander unterscheiden lassen und sich zuweilen in der konkreten literarischen Durchführung vermischen, liegt in der Natur der Sache. Die Gestaltung des Kleanth in Wielands Musarion beispielsweise stellt einerseits die Entlarvung eines pseudostoischen 33 Voltaire: Memnon, in: Smtliche Romane und Erzhlungen, übers. von Liselotte Ronte u. Walter Widmer, München 1969, S. 107 – 113, dort S. 107. 34 Raabe: Das Horn von Wanza, Kap. 3, in: Smtliche Werke 14, S. 271 – 449, dort S. 287.

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Heuchlers dar, ist andererseits aber auch von dem philosophisch-weltanschaulichen Grundsatzdiskurs nicht zu trennen, innerhalb dessen diese Entlarvung stattfindet. Ähnliches gilt für Horaz’ Satiren auf einzelne paradoxa Stoicorum. Was jedenfalls alle stoa-komisierenden Varianten verbindet, ist die skeptische Frage nach der Praktikabilität eines konsequenten Stoizismus und die mehr oder weniger offene Unterstellung, die Überführung stoischer Theorie in stoische Praxis sei eine höchst problematische Angelegenheit.

Kritik an stoischen Heuchlern Die erste Variante der Kritik gilt weniger der Stoa als einzelnen PseudoStoikern. Hier steht ein Poseur im Fokus der Darstellung, bei dem stoischer Anspruch und nichtstoische Wirklichkeit eklatant auseinanderklaffen. Entsprechende komische Kritik muß folglich nicht unbedingt von Gegnern der Stoa stammen, sondern kann auch Anliegen des Stoizismus selbst sein, da dieser – wie antike Philosophie prinzipiell – keine Trennung zwischen philosophischer Theorie und philosophischer Praxis kennt. Einen ,bloß theoretischen Stoiker‘ kann es dem Stoizismus zufolge nicht geben. Hierin sind sich die Stoiker mit den Platonikern einig: Wer wirklich etwas als wahr erkannt hat, kann gar nicht anders, als sein Leben dementsprechend auszurichten. Defizitäre Praxis hingegen läßt immer auf defizitäre Einsicht schließen. Die Variante komischer Kritik, die sich die ,Vorspiegelung stoischer Tatsachen‘ zum Gegenstand gewählt hat, gilt somit stoischen Lippenbekenntnissen. Solche Stoiker werden als maskierte Heuchler „im Stoische[n] Costum“ (Wieland) 35 diskreditiert. Dies ist besonders bei den Stoikern in Lukians Hermotimos der Fall, die sich nicht nur durch ihr „Streiten über unverständliche Wörter, Syllogismen und spitzfündige Fragen“ hervortun, sondern auch durch ihren zweifelhaften Charakter, seien sie doch „so jähzornig, so karg, so streitsüchtig, so wollüstig“.36 Freilich ist es schwer, den ,wahren‘ vom ,falschen‘ Stoiker zu trennen, denn nicht einmal die ,echten‘ Stoiker, so wird bei Erasmus von Rotterdam gemutmaßt, verschlössen „der Lust die Tür, auch wenn sie […] ihr vor den Leuten 35 Wielands Anmerkung zu Horaz’ Sat. II,3 (Werke 9, S. 944). 36 Lukian: Hermotimus, in: Werke, übers. von C. M. Wieland, hg. von Jürgen Werner u. Herbert Greiner-Mai, Berlin u. Weimar 1981, Band 3, S. 5 – 68, dort S. 63.

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tausend Schimpfwörter ins Gesicht schleudern.“37 Daß also nicht jeder, der unter dem Namen des Stoikers firmiert, auch tatkräftig den mit dessen Tugend-Ideal verbundenen Anforderungen genügt, ist nahezu eine Binsenweisheit. Denn die in stoischer Emphase postulierte Tugend erweist sich allzu oft als leerer Anspruch: „die meisten ihrer Anhänger waren freilich nur elende Grimassirer, die sie [d.i. die Tugend, F.P.] im Gesichte und nicht im Herzen hatten“, konstatiert Wezel in der Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt (1773 – 76). Hier kommt man zu dem Schluß, „daß der größere Theil der Stoiker wie andre sterbliche Bewohner unsers Planeten, die stärksten Helden einzig in Formalitäten waren und die größre oder geringre Geschicklichkeit in diesen den größern oder geringern Unterschied zwischen einem Stoiker und einem Idioten ausmachte“.38 Christian Fürchtegott Gellerts Fabel Die beiden Knaben (1746) setzt die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit selbsternannter Philosophen – und es gibt gute Gründe anzunehmen, daß damit nicht zuletzt die Stoiker gemeint sein könnten39 – am Beispiel zweier Brüder ins Bild, von denen der jüngere beim Anblick einer mit Schnee gefüllten Grube sogleich von der „Lust hinein zu springen“ erfaßt wird. Der ältere Bruder rät ihm mit allerlei gewichtigen Argumenten davon ab. Jedoch läßt sich der Jüngere nicht beirren, springt in die Grube und vergnügt sich. Kaum ist er damit fertig und von dannen gezogen, „so sprang der Philosoph so gut wie er hinein“, sobald er sich unbeobachtet fühlt. Dieses Szenario ist für Gellert nun ein Sinnbild für die Hypokrisie der „strengen Moralisten“: Dies ist die Kunst der strengen Moralisten. Bekannt mit dem System und von Grundsätzen voll, Beweisen sie das, was man lassen soll, So froh, als ob sie nichts von den Begierden wüßten. Sie sind von besserm Ton als wir. Sie bändigen ihr Herz durch die Gewalt der Schlüsse. Uns Armen ist die Torheit süße; Doch ihnen ekelt nur dafür. Wir lassen sie, wenn wir sie unternehmen, Aus gutem Herzen andern sehn Und denken nicht daran, daß wir uns so vergehn. Sie aber, die gelehrt sich aller Torheit schämen, 37 Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Abschn. 12 (Ausgewhlte Schriften 2, S. 25). 38 Wezel: Tobias Knaut, Band 2, Kap. 15, S. 100 ff. 39 Zu Gellerts Stoa-Kritik weiter unten.

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Begehn die That, die sie uns übel nehmen, Aus Tugend eher nicht, als bis wir es nicht sehn.40

Eine zentrale historische Vorlage für die Figur des ,unechten‘ Stoikers liefert Seneca, der aufgrund seiner Biographie in den bis in die Gegenwart hinein perpetuierten Verdacht geraten ist, jene unverzichtbare Kongruenz von philosophischer Theorie und Praxis verraten zu haben, da er sich weder weltlichem Wohlstand noch politischem Machtkalkül entzogen habe.41 Entsprechende Diskrepanzen vermeint man nun auch auf allen Ebenen seines Werkes wiederzufinden, so daß seine Schriften inhaltlich wie formal Opfer zuweilen messerscharfen Witzes werden. Das beginnt bei der literarischen Form, wenn Senecas geistreiche Eleganz z. B. in den Grçnlndischen Prozessen (1783 – 84) Jean Pauls gegeißelt wird: …aber ich weis auch, daß sein Wiz oft ein Kastrat ist und nur eine schöne Stimme hat, daß derselbe öfter Worte mit Worten als Gedanken mit Gedanken Ringe wechseln läst, und daß seine Geburten oft den Blumen gleichen, die der Zufal durch Kälte an den Fenstern bildet. Solcher Wiz ist nur Zuker, den die Kinder lieben und den eine ältere Zunge freilich nicht vergöttern kan. Auch sind Antithesen leichter als Vergleichungen gemacht, und seinem Wize fehlet oft die Lebhaftigkeit, ob man es gleich dem guten Stoiker ansieht, daß er sich pudert, eh’ er die Hare ausgekämt und gekräuselt, und den Vogelbauer von altem Kothe reinigt, eh’ er den Vogel gefangen.42

Das fatale Urteil bezüglich der Dominanz des Stils über den Inhalt bei Seneca findet schließlich seine pointierte Formulierung im Vorspiel der Frçhlichen Wissenschaft (1882) Nietzsches. Unter dem Titel Seneca et hoc genus omne diagnostiziert Nietzsche: 40 Gellert: Fabeln, Buch 2, in: Werke, hg. von Gottfried Honnefelder, Frankfurt/ Main 1979, dort Band 1, S., 155 f. 41 Das Bild des weltlicher Lustbarkeit sich hingebenden Seneca wirkt bis in die Unterhaltungskultur: Noch in der historisch gänzlich unkorrekten britischen Slapstick-Komödie Carry on Cleo (1964, dt.: „Ist ja irre, Caesar liebt Kleopatra“; Regie Gerald Thomas) trägt Caesars Schwiegervater, ein oft betrunkener älterer Sittenstrolch, bezeichnenderweise den Namen Seneca. 42 Jean Paul: Grçnlndische Prozesse, 1. Bändchen, Beschluß, in: Smtliche Werke, hg. von Norbert Miller, München 61999, Band II/1, S. 371 – 582, dort S. 474; vgl. auch Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie II (Werke 19, S. 296): „Bei Seneca finden wir viel Erbauliches, Erweckendes, Bekräftigendes für das Gemüt, geistreiche Antithesen, Rhetorik, Scharfsinnigkeit der Unterscheidung; aber wir empfinden zugleich Kälte, Langeweile über diese moralischen Reden“.

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Das schreibt und schreibt sein unausstehlich weises Larifari, Als gält es primum scribere, Deinde philosophari.43

Der Seneca unterstellte Lebensstil läßt aber neben der sprachlichen Gestalt auch den philosophischen Gehalt seiner Werke zweifelhaft erscheinen. Derart verdächtig ist Seneca als Talmi-Stoiker, daß ihm sogar niedere Absichten unterstellt werden, wo es von der Sache her keinen Grund dazu gibt. Die prekäre Legende seines Verrätertums am stoischen Ideal wirkt sich also auch auf prima facie unverdächtige Stellen aus. So insinuiert in Raabes Das Horn von Wanza (1880) Ludwig Dorsten, selbst ironisch „der weise Seneka“ genannt, anläßlich des 27. Lucilius-Briefs: die Empörung Senecas über das absurde und verschwenderische Verhalten des Calvisius Sabinus, eines dem Luxus frönenden unvernünftigen Freigelassenen, sei keineswegs redlicher stoischer Strenge geschuldet, sondern bloß Ausdruck ganz privater und niederer Regungen Senecas: „Der soi-disant Stoiker mokiert sich über ihn natürlich, und natürlich nur aus reinem blassen Neide.“44 Was die Möglichkeit wahrhaftiger philosophischer Relevanz betrifft, wird Seneca von ihm als „stoische[r] Narr“ bezeichnet, auf die Weisheit der antiken Philosophie sei ohnehin nichts zu geben: „gebrauchen kann man nichts davon.“45

43 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, in: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 21988, Band 3, S. 343 – 651, dort S. 360 f. 44 Raabe: Das Horn von Wanza, Kap. 3 (Smtliche Werke 14, S. 287). Diese Seneca-Deutung ist neben der geistesgeschichtlichen Klischeevorstellung, Senecas biographischer Stoizismus sei fadenscheinig, natürlich auch kontextuell von der konkreten Befindlichkeit Dorstens mitgeneriert. Denn unter der Hand unterstellt Dorsten, daß seinen Namensgeber, den er im übrigen je nach privatem Anlaß kritisch oder affirmativ zitiert, die gleichen Bedürfnisse und Leidenschaften wie ihn selbst bestimmten: „wenn ich je mich in die Haut eines andern Menschenkindes hineingedacht und hineingewünscht habe, so ist’s dieses bemerkenswerte Individuum. Uh, der hatte es gut! […] Calvisius möchte ich mit Wonne gänzlich sein“ (ebd.). 45 Ebd., Kap. 3 (Smtliche Werke 14, S. 287 f.).

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Partial- und Universal-Kritik an stoischen Lehren Komische Kritik ist aber auch systematische Kritik der Stoa, wenn sie etwa einzelne Philosopheme in humoresker Manier aufgreift. Sie richtet sich dann besonders auf stoische Theoreme, die als in sich widersprüchlich oder hypertroph wahrgenommen werden. Die Auffindung solcher Steine des Anstoßes ist nicht allzu schwierig, da bei der Vielzahl der (v. a. altstoischen) Lehrgehalte allerlei Selbstwidersprüche nicht ausbleiben können, wie sie in extenso bereits von Plutarch kompiliert worden sind.46 Weitaus prominenter in den komisch-literarischen Auseinandersetzungen sind allerdings – und das verwundert wenig – die „bekannten seltsamen Sprüche der Stoiker“ (Erasmus) 47, die „übertriebnen Lieblingssätze“ (Wieland) 48, kurz: die berüchtigten paradoxa stoicorum, die verkünden, einzig die Weisen seien schön, auch wenn sie noch so verkrüppelt sind, seien reich, auch wenn sie bettelarm sind, seien Könige, auch wenn sie als Sklaven dienen. Doch von uns, die wir keine Weisen sind, behaupten die Stoiker, wir seien Flüchtlinge, Verbannte, Feinde, ja Geisteskranke; alle Fehler seien gleich schlimm; jedes Versehen sei ein ruchloses Verbrechen; wer ohne Not einen Haushahn töte, fehle nicht minder als derjenige, der seinen Vater erdrosselt. Der Weise hingegen sei nie auf Vermutungen angewiesen, er bereue nichts, irre sich in keinem Falle und ändere niemals seine Meinung.49

Horaz’ Satire I,3 etwa attackiert an der Person des Damasippus, der nicht aus philosophischer Einsicht, sondern aus der ökonomischen Not eines Bankrotteurs heraus zum ,Stoiker‘ wurde, den Lehrsatz, demzufolge alle Vergehen gleich schwer seien; die Satire II,3 gilt dem Paradoxon, „alle (moralischen) Narren [seien] (physisch) toll, oder verrückt im Kopfe“ (Wieland) 50 ; und Satire II,7 schließlich handelt vom Para46 Vgl. Plutarch: De stoicorum repugnantiis und De communibus notitiis adversus stoicos. 47 Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Abschn. 53 (Ausgewhlte Schriften 2, S. 133). 48 Wielands Einleitung zu Horaz’ Sat. I,3 (Werke 9, S. 650). 49 Cicero: Pro Murena 61, in: Smtliche Reden, übers. von Manfred Fuhrmann, Düsseldorf u. Zürich 2000, Band 2, S. 291 – 349, dort S. 332. Vgl. auch Lukian: Der Verkauf der philosophischen Sekten, wo einem Käufer, der sich nicht sicher ist, ob er Chrysipp kaufen soll, die Essenz des Stoizismus erklärt wird: „Das will sagen, daß der Mann hier allein weise, allein schön, allein gerecht, allein tapfer, reich, König, Redner, Gesetzgeber, kurz, alles, was man sein kann, ist“ (Werke 1, S. 222). 50 Wielands Einleitung zu Horaz’ Sat. II,3 (Werke 9, S. 901).

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doxon, daß nur der Weise frei, alle anderen Menschen hingegen Sklaven seien. Die intensivste Diskreditierung erfährt der Stoizismus allerdings dann, wenn nicht länger einzelne Philosopheme, sondern der stoische Weltentwurf insgesamt attackiert wird. Anders als im Falle logischer Selbstwidersprüche wird nicht systemimmanent argumentiert, sondern aus externer Perspektive der Versuch unternommen, das System der Stoa ad absurdum zu führen, indem die Möglichkeit, innerhalb des stoischen Paradigmas auf angemessene Weise ein sinnvolles und glückliches Leben zu führen, als illusionäre Täuschung erscheint. Für solcherart verfahrende weltanschauliche Grundsatz-Kritiken sind drei exemplarische Diskurse maßgeblich. a. Zunächst das Christentum. Bei aller Affinität zwischen der Stoa und dem Christentum, wie sie etwa Hieronymus, Laktanz, Tertullian, Augustinus und Boethius bekunden, bleiben doch wesentliche Differenzen. Dazu gehört eine den Stoikern attestierte fatale Hybris: Das christliche Veto richtet sich vor allem gegen den Anspruch des vollendeten stoischen Weisen, nicht nur als gottähnlich oder gar gottgleich zu gelten, sondern sich sogar ber Gott erheben zu können. Gellert konstatiert in seinen Moralischen Vorlesungen (1770) mit Blick auf Seneca: „Was war der Stoiker bey seiner eingebildeten Tugend, als sein eigner Gott? Er hatte, wie er sagte, der Gottheit und ihrer Hülfe nicht nöthig, um tugendhaft zu seyn. […] Ist nicht der Stolz, ein kleiner Gott seyn zu wollen, der Mittelpunkt der stoischen Sittenlehre?“51 Hinzukommt, daß das stoische Weltbild vielen der christlichen Grundwerte keine oder nur wenig Relevanz zugesteht: Für ein Leben, das am christlichen Paradigma orientiert ist, erweist sich die stoische Philosophie als kontraproduktiv für den menschlichen Weg zum Seelenheil: „Die alten Weisen steckten die Schranken der Mäßigkeit und männlichen Keuschheit sehr weit. Der strenge Cato pries die Hurerey als ein Gegenmittel wider den Ehebruch an. – Einige hielten die Trunkenheit für kein sonderliches Laster. – Der Haß und die Verfolgung der Feinde war 51 Gellert: Moralische Vorlesungen, 1. Band, 1. Abteilung, 3. Vorlesung, in: Gesammelte Schriften, hg. von Bernd Witte, Berlin u. New York 1987 ff., dort Band 6, S. 37 f.; vgl. Wieland: Musarion, 2. Buch, in: Smmtliche Werke, Leipzig 1794 – 1811, Band 9, S. 1 – 104, dort S. 59 f.: „Die guten Leute preisen / Uns ihre Apathie als ein Geheimniß an, / das uns zu mehr als Göttern machen kann.“

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in Rom Tugend, und selbst ein Cicero begünstigte die Rache. – Der Selbstmord war eine erlaubte Freylassung…“52 Bei soviel Empörung erstaunt es nicht, wenn bereits vor den Moralischen Vorlesungen Gellert in seiner Fabel Der gehoffte Ruhm (1748) Cicero als zutiefst inkonsequenten, weil ruhmsüchtigen Stoiker darstellte, der ins Licht der Lächerlichkeit gerückt wird, da er bei seiner Rückkehr aus Sizilien feststellen muß, daß niemand so recht weiß, wer er eigentlich ist. So folgt als hämische Moral: Du, der du denkst, daß alle von dir wissen, Von dir itzt alle reden müssen, Und dich im Herzen stolz erhebst; Von Tausenden, die dich nach deiner Meinung kennen Und dich und deine Taten nennen, Weiß oft kaum einer, daß du lebst.53

b. Auch jede im weitesten Sinne hedonistische Weltanschauung erwehrt sich der Stoa gerne mit vehementem Spott. Hierbei werden weniger metaphysische und ethische Grundlagen des Stoizismus hinterfragt, als vielmehr die Sinnenfeindlichkeit und moralische Rigidität der Stoiker einer herb-humoristischen Kur unterzogen. Dies spiegelt sich etwa in der anakreontisch geprägten Dichtung des 17. Jahrhunderts dort, wo sie sich als explizite Gegenbewegung zum Stoizismus versteht. Der strengen Askese wird der dionysische Tanz, dem entsagungsfreudigen Zenon der genußfreudige Anakreon gegenübergestellt: „Tanze, mein Mädchen, tanze, / berausche dich am Tanze. / Wer kümmert sich um Zenon, / der laut verbietend rufet, / wenn hier Anakreon steht?“ dichtet Caspar von Barth 161354, und John Miltons Comus (1634) beklagt angesichts der wunderbaren sinnlichen Überfülle der Natur die „foolishness of men! that lend their ears / To those budge doctors of the

52 Gellert: Moralische Vorlesungen 1. Band, 1. Abteilung, 3. Vorlesung (Gesammelte Schriften 6, S. 38 f.). Gellerts Kritik bezieht sich hier v. a. auf folgende Passagen: Horaz, Sat. I,2,31 („Hurerey“), Seneca: De tranq. an. 15 („Trunkenheit“), Cicero: Ad Attic. IX, 12; De orat. I,8 und De offic. III,19 („Haß und die Verfolgung der Feinde“), Seneca: Ep. 70 und Epiktet: Diatr. I,9,20 u. III,8,6 („Selbstmord“). 53 Gellert: Fabeln, Buch 3 (Werke 1, S. 175). 54 Caspar von Barth: Amphitheatrum Gratiarum III, 27, in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, hg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel u. Hermann Wiegand, Frankfurt/Main 1997, S. 885 (Bibliothek der frühen Neuzeit Abt. I, Band 5).

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Stoic fur“.55 Eine der amüsantesten Stoiker-Karikaturen liefert Wielands Musarion oder Die Philosophie der Grazien (1768). Hier ist es Kleanth – vom Erzähler charakterisiert als „von der freudenscheuen Zunft / geschwollner Stoiker ein Mitglied“56 –, der einen ,Wiedergänger‘ des von Lukian und Diogenes Laertius skizzierten Chrysipp verkörpert. Er ist ein Beispiel eitler Geschwätzigkeit und zeichnet sich durch „die Lust am Zank“57 aus; mit seinem Gesinnungsgenossen, dem Philosophen bei Molière, hat er gemein, daß sein erster Auftritt in Form einer recht unstoischen Prügelei mit dem Pythagoreer Theophron von statten geht: „Der nervige Kleanth war im Begriff, ein Knie / Dem Gegner auf die Brust zu setzen. / Der, unter ihm gekrümmt, für die Filosofie, / Die keine Bohnen ißt, die Haare ließ…“58 Zudem fällt er angesichts weiblicher Reize und im Alkoholrausch jäh aus seiner stoischen Pose. Kaum hat er die schöne Musarion erblickt, kann der Erzähler vermelden: „Das Wollustathmende, das eine Atmosfäre / Von Reitz und Lust um sie [d.i. Musarion] zu machen schien, / Bestürmt auf einmahl, für die Ehre / Der Apathie zu stark, den überraschten Sinn.“59 Im weiteren erweist sich der Stoizismus Kleanths als „Flitterkrame / Von falschen Tugenden und großen Wörtern“60, als er in betrunkenem Zustand seine Philosopheme kundtut und also „wenn die Flasche blinkt, / wie Zeno spricht und wie Silenus trinkt“61: Nicht wenig stolz auf sein gefrornes Blut, Beweist indeß mit hoch empor geworfner Nase Kleanth, der Stoiker, bey oft gefülltem Glase, Daß Schmerz kein Übel sey, und Sinnenlust kein Gut. […] Sein Eifer für den Lieblingssatz der Halle, Durch jeden Widerspruch und jedes Glas vermehrt, Hat von sechs Flaschen schon die dritte ausgeleert.62

55 Milton: Comus. A Masque presented at Ludlow Castle, Z. 705 ff., in: The Poems of John Milton, hg. von John Carey u. Alistair Fowler, London u. New York 2 1980, S. 211. 56 Wieland: Musarion, 1. Buch, in: Smmtliche Werke, Leipzig 1794 – 1811, Band 9, S. 1 – 104, dort S. 22. 57 Ebd., 2. Buch (Smmtliche Werke 9, S. 57). 58 Ebd., 2. Buch (Smmtliche Werke 9, S. 45). 59 Ebd., 2. Buch (Smmtliche Werke 9, S. 48). 60 Ebd., 2. Buch (Smmtliche Werke 9, S. 57). 61 Ebd., 3. Buch (Smmtliche Werke 9, S. 99). 62 Ebd., 2. Buch (Smmtliche Werke 9, S. 67 f.).

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In Absetzung von dieser sinnenfeindlichen und heuchlerischen Asketik plädiert die kluge Musarion für eine vernünftige Sinnlichkeit, derer ein Stoiker vom Schlage Kleanths nicht fähig ist. Den Sieg ihrer „reizende[n] Filosofie, / Die, was Natur und Schicksal uns gewährt, / Vergnügt genießt“63, markiert nicht zuletzt die Tatsache, daß Kleanthes mit der letzten Zeile des Werkes endgültig der Welt Musarions und Phanias’ verwiesen wird und sich heimlich davonschleichen muß: „Kurz, er verschwand, und ward nicht mehr gesehn.“64 c. Schließlich rebelliert auch die sympathetische Anthropologie und Ethik im Gefolge Shaftesburys, Humes und der Empfindsamkeit gegen die Stoa. Denn jeder Entwurf einer solchen sympathetischen Anthropologie muß per definitionem gegen die Stoa gerichtet sein, die das Mitleiden als Vermögen empathischer Identifikation mit dem Leiden anderer für krankhaft und geradezu als Symptom des Wahnsinns erachtet.65 Der Tatsache, daß naturgemß „die Seele […] einen Instinkt [hat], die Leiden einer andern Seele zu fühlen“66, wird von der Stoa zu wenig Rechnung getragen. Doch „wie vor einem gespenstigen Ungeheuer flieht alles entsetzt vor einem solchen Menschen, der taub geworden gegen die Wünsche natürlicher Regungen, der keine Seele mehr hat und weder von Liebe noch von Mitleid weiß, ,starr, als wäre er Fels, eine Marmorklippe auf Paros‘.“67 Der Stoiker in seiner mitleidslosen Radikalität erscheint dem Theoretiker der Sympathie denn auch als monströs (Hume) oder pervers (Shaftesbury).68 Daß der Mensch von den Adepten des Stoizismus „in fühllosen Stein“ verwandelt werde, „indem sie [ihm] […] alle menschlichen Regungen nehmen“ (Agrippa von Nettesheim) 69, und daß sich die Stoiker, so Jean Paul, „bloß in das Eis der Vernunft“ verpanzerten und lediglich „das Glück, niemals un-

Ebd., 3. Buch (Smmtliche Werke 9, S. 99). Ebd., 3. Buch (Smmtliche Werke 9, S. 101). Vgl. Cicero: Pro Murena 61; Seneca: De clementia, II,6; Epiktet: Enchiridion 16. Stifter: Die drei Schmiede ihres Schicksals, S. 335. Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit; Abschn. 30 (Ausgewhlte Schriften 2, S. 67; Erasmus zitiert Vergil, Aeneis 6, 471). 68 Vgl. Hume: An Enquiry concerning the Principles of Morals, Sect. VI, Pt.1 und Shaftesbury: An Inquiry concerning Virtue or Merit, Bk. II, Pt. 1. 69 Agrippa von Nettesheim: ber die Fragwrdigkeit, ja Nichtigkeit der Wissenschaften, Knste und Gewerbe, übers. von Gerhard Güpner, hg. von Siegfried Wollgast, Berlin 1993, S. 11.

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glücklich zu werden“, genössen70, ist Ausgangspunkt vieler komischer Stoa-Figurationen. Dazu gehört auch Adalbert Stifters Erzählung Die drei Schmiede ihres Schicksals (1843): Zwei sozial isolierte Freunde, Leander und Erwin, nehmen sich in ihrer Jugend die Kultur der Spartaner und Stoiker als Vorbild ihres Lebensentwurfs, der sogar die Gestaltung ihrer Bärte „nach altgriechischer Art“ motiviert.71 Sie fassen den Entschluß, sich von allem unabhängig zu machen, was zufällig sei, damit geschehen könne, was auf Erden möglich, ohne ihr inneres Glück zu berühren. Von diesem Tage an aßen sie nur mehr eine vegetabilische Brühe, annähernd die schwarze Suppe Lakedämons, schliefen auf bloßem Stroh, und verbannten alle Geräte, außer einem Tische und einer Bank. Ihre Zeit und ihre Mitwelt ging neben ihnen her, als sei sie vor tausend Jahren gewesen.72

Ihre Wege trennen sich jedoch alsbald. Während Leander eine seiner sozialen Stellung geschuldete Kavalierstour durch Europa antreten muß, widmet sich Erwin unentwegt der flächendeckenden Mission des Stoizismus. Er beschließt, nach Texas zu gehen, dort an der Grenze der Wilden eine Niederlassung zu gründen mit dem Keime antiker Kraft und Gesetze, der sich durch die ganze Republik verbreiten, dereinst wachsen, und etwa einen Staat von spartanischem Erze, athenischer Schönheit und römischer Tüchtigkeit erzeugen, der dereinst seiner geographischen Lage nach der erste der Welt werden würde.73

Über Jahre hinweg bleibt Erwin als wandelnder Anachronismus seinem Ideal treu. Der Erzähler kommentiert: „zwei Jahre nicht zornig und zwei Jahre unerbittlich […], dabei immer ernsthaft bleiben – – es ging über menschliche Begriffe!“74 Leander hingegen wird infolge seiner Kavalierstour ent-stoifiziert und weltgewandt, wie Erwin feststellen muß, als er eines Tages auf seiner Reise nach Texas zufällig eine Einladung zur kurz bevorstehenden Hochzeit Leanders erhält. Erwartungsgemäß enttäuscht und überfordert – „Das erste Mal in seinem Leben half ihm die Stoa nichts“75 – reist er an und ist entsetzt über den Gesinnungswandel seines einstigen Gefährten, den er nun als „feinen, 70 Vgl. Jean Paul: Vorschule der sthetik, 3. Abt., 2. Vorlesung, in: Smtliche Werke, hg. von Norbert Miller, München 61999, Band I/5, S. 425, Anm.1. 71 Vgl. Stifter: Die drei Schmiede ihres Schicksals, S. 323. 72 Ebd., S. 321. 73 Ebd., S. 324. 74 Ebd., S. 325. 75 Ebd., S. 326.

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schönen, verweichlichten Mann“76 antrifft. Erwin entschließt sich, sogleich nach der Trauung wieder abzureisen. Nachts allerdings, nachdem er, „verstimmt, mürrisch und durchaus nicht mehr Herr seiner Stimmung“77, beim Blättern in einem seichten Liebesalmanach zusätzlich verstört wird („es stand von nichts als lauter überschwenglicher Liebe in überschwenglichen Versen darinnen“78), gerät auf sonderbare Weise eine Schlafwandlerin in sein Bett – wodurch Erwin verständlicherweise mehr und mehr seiner apatheia verlustig geht. Es gelingt ihm jedoch gerade noch, formvollendet die Situation zu meistern, denn er wird von etwas gänzlich Unstoischem ergriffen, dem Mitleid. Dank einer riskanten Kletteraktion schafft er es, die Schlafwandlerin so diskret wie möglich in ihr eigenes Zimmer zurückzubringen. Daß er nach vollbrachter Tat nicht wieder einzuschlafen vermag und erneut im „Liebesbuch“79 blättert, spricht für sich. Am folgenden Tag beginnen Gerüchte über die jüngste Nacht die Runde zu machen. Nicht nur verwirrt diese Situation Erwin, sogar „jenes feine, unsichtbare, ungreifbare Gift schnöder Meinung“80 fängt auch auf ihn zu wirken an und läßt ihn wütend und maßlos werden. Es kommt, nachdem er – gleichsam in einer emotionalen Übersprungshandlung – zum ersten Mal in seinem Leben dem Alkohol zuspricht, zu Handgreiflichkeiten und einem Duell. Alle Errungenschaften von Erwins jahrelanger Selbstdisziplinierung werden zunichte gemacht, so daß er „vor der Menge vergebens mit seinem Zorne kämpfte, wie ein Knabe, der ihn nicht beschwichtigen kann.“81 Am Ende ehelicht der seines stoischen Selbstverständnisses endgültig Beraubte die Schlafwandlerin und wird damit vom sozial isolierten rigiden Stoiker zum gesellschaftlich integrierten Gatten, der, so der leicht süffisante Erzähler, „ein ganz klein wenig unter dem Pantoffel stehe“.82 Das Scheitern seines philosophischen Lebenskonzepts kleidet er in eine kurze zornige Notiz für seine Bedienten – wobei das Nacheinander der Ereignisse durchaus in einem Kausalzusammenhang gedeutet werden darf – : „Ich bin von

76 77 78 79 80 81 82

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 328. S. 330. S. 331. S. 338. S. 341. S. 343. S. 345.

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dem Weg […] durch Zufall abgewichen, habe gezankt, habe mich betrunken, duelliert und verlobt.“83 Auch der griesgrämig misanthropische August Hahnenberg in Wilhelm Raabes Drei Federn (1865), der sich sowohl am stoisch-fatalistischen Diktum Vergils „Wie uns auch das Schicksal hin- und herzieht, wir müssen ihm folgen („quo fata trahunt retrahuntque sequamur“)“84 wie auch an der Forderung „Sei stark, kühn, gewandt und mitleidlos („Sis strenuus, audax, sollers et immisericors“)“85 orientiert, wird – entgegen der eigenen emotionellen Ökonomie – dermaßen in die Intrigen und Verstrickungen um sein Patenkind und dessen Braut hineingezogen, daß darüber sein erzen-griesgrämiger Stoizismus (zu seinem Schrecken) marode zu werden beginnt und er zu konstatieren genötigt ist: Hier sitze ich und wundere mich immer mehr. Ist es erlaubt, hat man das Recht, im Alter so weich zu werden, oder bin ich aus einem abnormen Zustand in den andern gefallen? […] Das knuspert und knaspert, das rauscht und rasselt und pfeift und nagt sehr bedenklich; – man verliert allmählich alles Vertrauen auf die felsenfesten Mauern, die eisernen Türen, die engvergitterten Fenster. Schon regt es sich im Wandschrank und tanzt unheilverkündend um den stoischen Laib schwarzen Brotes und den philosophischen Wasserkrug, und was das schlimmste ist, das Gezeug geht mehr in keine der sophistischen Fallen, die sonst so gute Dienste leisteten.86

Trotz der anfänglichen Irritation bewährt sich Hahnenberg zunehmend als wohlwollender und wertvoller Helfer in den Liebes- und Lebensangelegenheiten seiner Schutzbefohlenen. In der Folge tritt er aus den Grenzen seines einstmals isolationistischen Stoizismus dergestalt heraus, daß er schließlich sogar, wenn auch leicht resignativ, „das Encheiridion des Epiktet“ als „törichte[s] Buch“ abwerten muß.87 Das Einfühlungsvermögen hat über die stoisch-dünkelhafte Mitleidslosigkeit gesiegt.

83 Ebd., S. 344. 84 Raabe: Drei Federn, Abschn. I, in: Smtliche Werke (Braunschweiger Ausgabe), hg. von Karl Hoppe und Jost Schillemeit, Göttingen 1951 – 1985, Band 9/1, S. 241 – 403, dort S. 261; zitiert wird Vergil, Aeneis 5, 710. 85 Ebd., Abschn. VI (Smtliche Werke 9/1, S. 361). 86 Ebd., Abschn. VI (Smtliche Werke 9/1, S. 374). 87 Ebd., Abschn. VI (Smtliche Werke 9/1, S. 394).

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Der Stoiker und die Gemeinschaft In unmittelbarem Zusammenhang mit der Kritik an der stoischen Unfähigkeit zur Sympathie steht ein weiterer Anlaß komischer StoaKritiken. Denn gerade die Absurdität stoischer Ideale, wie sie Raabe u. a. mit Blick auf die natürliche Empathiefähigkeit und -notwendigkeit des Menschen formulieren, führt zu einem zentralen Bereich komischkritischer Stoa-Rezeption: Generell setzen viele komischen StoikerKritiken beim problematischen Verhältnis von stoischen Philosophen zu Öffentlichkeit und Politik an. Fast alle entsprechenden Texte teilen hierbei die der Stoa unterstellte – zwar philosophisch keineswegs korrekte, aber literarisch desto wirkungsträchtigere – Ansicht, der stoische Weise müsse sich prinzipiell dem Treiben der öffentlichen und politischen Welt fernhalten. Die Kritiken stellen die komischen Figurationen solcher Denkart in zwei unterschiedlichen Varianten dar: Die eine entlarvt den ,autarken‘ Stoiker als in Wahrheit ganz und gar pragmatischen Untertanen, der sich dem Willen des Herrschers beugt und damit seine philosophische Integrität untergräbt; die andere zeigt auf, daß die angestrebte radikale Unabhängigkeit für den sich nach allen Regeln der Kunst sozial isolierenden Stoiker ein unerreichbares Ziel bleibt. Zunächst zum Stoiker als ,Untertan‘. Wilhelm Heinse diagnostiziert im Ardinghello (1787) den Stoizismus Senecas aufgrund von dessen politischen Ambitionen als fragwürdig: Kein hoher Geist, der frei sein kann, verpflichtet sich an den Hof eines Despoten; er erwählt lieber Wasser und Brot. Bei einem schlechten Fürsten kann keiner ausdauern, ohne schlechte Streiche zu begehn: es ist platterdings nichts anders zu tun für einen Edeln, der sich retten will, als zu fliehen. So hätte Seneca […] den Nero verlassen, wenn er ein Stoiker, wie sich gebührt, hätte bleiben wollen.88

Wo Heinse lediglich konstatiert, setzt indes John Lylys Campaspe (zw. 1580 – 83) die insinuierte politische Verführbarkeit des Stoikers in 88 Heinse: Ardinghello I,3, hg. von Max L. Baeumer, Stuttgart 1975, S. 143 f. Vgl. auch Hegels Urteil über Seneca in den Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie: „In Seneca selbst ist mehr Brast und Bombast moralischer Reflexion als wahrhafte Gediegenheit. Einesteils sein Reichtum, seine Pracht der Lebensart ist ihm entgegengehalten worden – er hatte sich unermeßliche Reichtümer von Nero schenken lassen –, andernteils kann man ihm seinen Zögling, den Nero, entgegensetzen: dieser hält eine von Seneca gemachte Rede“ (Werke 19, S. 292 f.).

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Szene: Alexander der Große beruft in diesem Drama die größten Denker seiner Zeit an den Hof, um junge Menschen zu erziehen und den Alten ihren Seelenfrieden zu sichern. Ihre philosophische Integrität dürfen die Philosophen jedoch nur so weit bewahren, wie sie sich aus den politischen Entscheidungen Alexanders heraushalten: „In Kinges causes I will not stande to schollers arguments.“89 Die beiden Stoiker Kleanthes und Chrysipp fügen sich – nach einem abstrusen philosophischen Quiz – diesem Befehl, weil, wie es ein Untertan Alexanders unmissverständlich ausdrückt, „they were not Philosophers, if they knew not their dueties“.90 Damit werden sie der Willkür ihres Herrschers untergeordnet und fristen fürderhin ihr Dasein als Marionetten und intellektuelle Alleinunterhalter. Andere Autoren, welche die Stoa wegen ihres Verhaltens in der Gesellschaft auf’s satirische Korn nehmen wollen, lassen ihre Protagonisten in das der opportunistischen Assimilation entgegengesetzte Extrem eines radikalen Rückzugs aus der Öffentlichkeit, ja aus allen zwischenmenschlichen Bindungen verfallen. Daraus resultieren erwartungsgemäß allerlei Verwicklungen. Wenn David Hume betont, der Stoizismus stelle letztlich „nur ein verfeinertes System der Selbstsucht“ dar, um sich „aus aller Tugend wie aus allen geselligen Freuden heraus“ zu vernünfteln91, so setzen die literarischen Texte diese Einschätzung munter ins Bild. Das Beispiel Schoppes aus Jean Pauls Titan wurde bereits angeführt, hinzuzufügen wäre, daß sich dieser fichteanische Stoiker so entschieden den sozialen Erfordernissen verweigert, daß er nicht nur eine feste Anstellung ausschlägt und von Ort zu Ort wandert, sondern auch ständig seinen Namen ändert, um jeglicher Art gesellschaftlich vermittelter Fremdbestimmung zu entgehen.92 Selbst seine 89 Lyly: Campaspe I, 3 (Complete Works 2, S. 325). 90 Ebd. I,3 (Complete Works 2, S. 324). 91 Hume: Untersuchung ber den menschlichen Verstand, übers. von Raoul Richter, hg. von Jens Kuhlenkampff, Hamburg 121993, dort 5. Abschn., 1. Teil, S. 52. Auch in Jean Pauls Teufelspapieren (1789) wird auf eine solche Gefahr des Stoizismus hingewiesen: „Der Stoizismus im eigentlichen Sinne, der den ganzen Menschen stärkt und hebt, macht selbstsüchtig und giebt dem moralischen Unkraut neue feste Wurzeln, wenn es nicht schon vorher weggeschaft [sic!] worden. So werden auch vom Arzt vor dem Gebrauche strkender Mittel allezeit abfhrende verordnet.“ (Auswahl aus des Teufels Papieren, 2. Zusammenkunft, XIII, in: Smtliche Werke Band II/2, S. 111 – 469, dort S. 374 f.). 92 So nennt er sich u. a. Peter Schoppe, Heinrich Leibgeber, Firmian Siebenkäs, Junipere d’Ancone, Denius, Vargas, Grosippe, Krigsöder, Sotelo, Hay, Löwenskjöld, Graul, Mordian, Sakramentierer oder Huleu.

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pro forma-Anstellung als Erzieher Albanos nimmt er nur unter der Bedingung an, diesem nie in „die Poch-, Wasch-, Röst-, Schmelz- und Treibwerke vornehmer Häuser“ folgen zu müssen. Dies begründet er mit der rhetorischen Frage: „Soll ich von den drei Ständen kalandert werden und mich glatt und poliert drcken lassen von Glanzpressen?“93 Zumeist sind es dann die Verlockungen der Macht oder des Eros, die jene von ihren stoischen Thronen herunterziehen, die sich aus den Verstrickungen der Welt gänzlich heraushalten wollten. Nicht nur Schoppe wird durch die Liebe schockartig entstoifiziert, auch Phanias in Wielands Musarion wird durch Amor gründlich kuriert: Inmitten seiner philosophischen Ausführungen gegenüber der liebreizenden Musarion geschieht das Unvermeidliche: Hier ward der hohe Schwung, den Fanias zu nehmen Begriffen war, gehemmt. Schon schwanden Raum und Zeit Aus seinem Blick, schon fühlt’ er sich entkleidt Vom niederziehenden Gewand der Sterblichkeit, Schon war er halb ein Gott; – als eine Kleinigkeit, Die wir uns fast zu sagen schämen, Ihn plötzlich in die Unterwelt Zurücke zog. – Ihr mächtigen Besieger Der Menschlichkeit, die ihr dem Sternenfeld Euch nahe glaubt – das Herz ist ein Betrüger! […] Ihn, der nichts Sterblich’s mehr mit seinem Blick beehrt, Den stolzen Gast des Äthers, schießet Musarion mit einem – Blick herab.94

Phanias wird also durch seine Empfindungen Musarion gegenüber gleichsam wieder in den ,natürlichen‘ Zustand versetzt. Retrospektiv erscheint sein Stoizismus nun lediglich als Kompensation ehemals erfahrener emotionaler Zurückweisung und als (wenn auch existentiell fundierte) Attitüde.

Vom Stoiker-Test zum Populär-Stoiker: Zusammenfassung und Ausblick Die literarische Tradition komischer Stoa-Kritik verdichtet sich im Hinblick auf ihr Gestaltungsprinzip in einer Art von ,Stoiker-Probe‘, wie sie Jean Paul in seinen Teufelspapieren vorexerziert. Wie bei Molière 93 Jean Paul: Titan, 1. Jobelperiode, 3. Zykel (Smtliche Werke I/3, S. 30). 94 Wieland: Musarion, 1. Buch (Smmtliche Werke 9, S. 29 f.).

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und Stifter ist es der Zorn, der zum Prüfstein stoischer Authentizität wird: Eben so ists schon eine alte Geschichte aber eine der merkwürdigsten, daß ein gewisser Stoiker, da ich – nach einer verdrüßlichen Disputazion über die Zornlosigkeit – seine längsten Seitenhaare in meine Hände schlang und sie aus Lust und aus menschlichen Absichten hin und her zog, und dadurch seinem Kopf im Vorbeigehen das Ansehen gab, als würde derselbe von iemand in etwas geschüttelt, daß sag’ ich dieser Stoiker auf die verdrüßliche Vermuthung verfiel, ich woll’ ihn im Grunde raufen. Was that ich aber in dieser Lage? Ich that nichts, sondern sagte zu ihm: „könntest du in mein Herz hineinsehen; so würdest du so gut empfinden als ich, mit welchem recht du dir weis machst, ich schüttelte dich nicht sowol aus Liebe als aus Abneigung und wahrer Kälte. So aber gehst du ganz über das hinweg, daß ich einen vernünftigen Schlösser sichtbar nachahmen will: dieser wird allemal die Eisenstangen, die man ihm feilbietet, in die Höhe halten und gewaltig schtteln; denn sind sie berhrtet und schlecht, so springen sie davon entzwei und er mag sie nicht kaufen. Aus einer ähnlichen wiewol figürlichen Absicht rüttelte ich dein Haupt vermittelst deines natürlichen Haares sehr: mein Vorsatz war, wenn du diese Bewegung ohne vor Zorn zu zerspringen ausgehalten hättest, zu mehr als einem zu sagen, du wärest meines Wissens nicht überhärtet, sondern gerade stoisch genug.“95

Wie hier der Sprecher, so verfahren auch viele der im Medium komischer Kritik arrangierten Gegenproben. Noch die abenteuerliche Wut-Kur eines Professor Dr. Horn in Heimito von Doderers Die Merowinger oder Die totale Familie (1962) spielt auf solche absurden Verfahren zur Provokation und Erprobung eines grundsätzlichen Stoizismus an. Unechte wie echte Stoiker werden in der komischen Kritik gut durchgeschüttelt, und mit den meisten der so operierenden literarischen Proben aufs stoische Exempel werden neue verlachenswerte Stoiker zutage gefördert, deren Stoizismus sich je nach Durchhaltevermögen, je nach constantia mal früher, mal später als nicht wirklichkeitstauglich zu erkennen gibt. Beim namenlos verhandelten Stoiker in den zitierten Teufelspapieren geht das recht schnell, bei Brutus, dem pflichtbewußten Pudel in Heines Gedicht Der tugendhafte Hund (1855), dauert es etwas länger. Ob seiner „Tugend und seinem Verstand“ als „Muster der Sittlichkeit, / Der Langmut und Bescheidenheit“ gepriesen, vertraut ihm sein Herr so weit, daß er ihn sogar Besorgungen beim Metzger tätigen läßt: 95 Jean Paul: Auswahl aus des Teufels Papieren, 2. Zusammenkunft, I (Smtliche Werke II/2, S. 258).

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Wie lieblich und lockend das Fett gerochen, Der Brutus berührte keinen Knochen, Und ruhig und sicher, mit stoischer Würde, Trug er nach Hause die kostbare Bürde.

Doch schließlich, angesichts anderer Hunde, die ihm seinen Korb entreißen und sich sogleich über ihre Beute hermachen, besinnt auch er sich: Brutus sah anfangs dem Schauspiel zu Mit philosophischer Seelenruh; Doch als er sah, daß solchermaßen Sämtliche Hunde schmausten und fraßen, Da nahm auch er an der Mahlzeit teil Und speiste selbst eine Schöpsenkeul.

Wenn Wielands Phanias durch Musarion von seinem Stoizismus geheilt und gleichsam re-naturalisiert wurde, unterstreicht auch Heines Gedicht das Verdikt, daß radikaler Stoizismus letztlich contra naturam sei: Auch du, mein Brutus, auch du, du frißt? So ruft wehmütig der Moralist. Ja, böses Beispiel kann verführen; Und, ach! gleich allen Säugetieren, Nicht ganz und gar vollkommen ist Der tugendhafte Hund – er frißt! 96

Und obgleich die Epiktet-Fabel (1746) des stoa-kritischen Gellert noch kein allzu eindeutig negatives Urteil über die Glaubwürdigkeit der in ihr geschilderten Apatheia fällt, betont auch sie deutlich die solchem stoischen Märtyrertum immanente Vergewaltigung natürlicher Prinzipien. Nachdem anekdotisch berichtet wird, wie Epiktet die im wörtlichen Sinne Mark und Bein erschütternden Schläge seines Herren ohne affektive Beunruhigung hinnimmt, gelangt der Sprecher zum skeptischen Schluß: Dies, Mensch, kann Zenos Weisheit thun! Besiege die Natur durch diese starken Gründe. Und willst du stets zufrieden sein: So bilde dir erhaben ein, Lust sei nicht Lust und Pein nicht Pein. „Allein“, sprichst du, „wenn ich das Gegenteil empfinde, Wie kann ich dieser Meinung sein?“

96 Heine: Der tugendhafte Hund (Smtliche Schriften 6/1, S. 291 – 293).

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Das weiß ich selber nicht; indessen klingt’s doch fein, Trotz der Natur sich stets gelassen sein.97

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß das Spektrum der komischen Stoa-Kritiken, wie sie die Literatur gestaltet, durchaus vielfältige Spielarten des verlachenswerten Stoikers bietet: Da ist (1) der ,NotStoiker‘, der nur aufgrund unerfreulicher Umstände zum Stoizismus sich bekennt und aus der Not kompensatorisch eine Tugend zu machen versucht (Phanias in Wielands Musarion, Damasippus in Horaz’ Satire II,3); (2) der ,Luxus-Stoiker‘ bzw. der ,Stoiker aus Mangel an Gelegenheit‘, der seinen Stoizismus nur ausagieren kann, weil es ihm an nichts fehlt (Schoppe in Jean Pauls Titan); (3) der weltfremde Stoiker (Chrysipp in Lylys Campaspe, Erwin in Stifters Die drei Schmiede ihres Schicksals); (4) der spitzfindige Stoiker (Chrysipp bei Lukian und Diogenes Laertius); (5) der ruhmsüchtige Stoiker (Kleanth in Musarion; Cicero bei Gellert); (6) der zornig sich prügelnde Stoiker (der Philosoph in Molières Der Brger als Edelmann, Kleanth in Musarion, Erwin in den Drei Schmieden ihres Schicksals); (7) der maßlos trinkende Stoiker (Kleanth in Musarion); (8) der lüsterne Stoiker (Kleanth in Musarion) und (9) der politisch korrupte Stoiker (Kleanth und Chrysipp in Lylys Campaspe). Diese und andere ins Lächerliche gezogene Spielarten des Stoikers erweisen sich bis in die jüngste Zeit hinein als wirkungsmächtig, nicht allein auf dem hohen Niveau der Weltliteratur. Sie kehren auf dem Niveau der Populärkultur wieder, wobei das jeanpaulsche Modell der Stoiker-Probe zwar beibehalten wird, diese oft genug jedoch ein weniger eindeutig satirisches Resultat zeitigt. Häufig nämlich bleibt der Stoiker und sein Stoizismus für diejenigen, die ihn parodieren, persiflieren und ironisieren, auch etwas Rätselhaftes, bei dem längst nicht klar ist, ob es bloß zu verlachen oder nicht doch auch zu bestaunen ist, so daß ein definitives Urteil über die Stoa in der humoristischen Schwebe verbleibt. Neben dem verlachenswerten Stoiker präsentiert sich also – gemäß der den Genres der Populärkultur eigenen Weichzeichner – auch der liebenswert amüsante Stoiker, den man zwar als exotisch empfindet, aber eben auch als harmlos und als in seiner Eigentümlichkeit zuweilen ausgesprochen charmant. Die Komisierung eines stoischen Charakters dient hier ja auch nicht mehr der Kritik und Desavouierung eines philosophischen Systems, sondern der Unterhaltung. 97 Gellert: Fabeln, Buch 2 (Werke 1, S. 139).

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So etwa in der Gestalt des in England bereits durch Literatur und Film mythisch gewordenen britischen Butlers („valet“) Reginald Jeeves in P.G. Wodehouses Jeeves-Zyklus zwischen 1915 und 1974.98 Jeeves ist seinem Herrn, dem jungen aristokratischen Taugenichts Bertie Wooster als Kontrastfigur beigeordnet, um über mehr als ein Dutzend Romane und Erzählungen hinweg dessen hanebüchene Eskapaden und deren Konsequenzen mit stoischer Gemütsruhe (und regelmäßiger Lektüre der Schriften Spinozas) zu erdulden, auszubügeln und hinreißend trocken zu kommentieren. Noch im größten Tohuwabohu führt er wohlgewählte und zur Affektkontrolle mahnende Passagen aus Horaz, Lukrez, Iuvenal und anderen Dichtern im Munde: „Doch mitten in dem Strom der Leidenschaft mßt Ihr Euch Mßigung zu eigen machen.“ „Was zu eigen machen?“ „Mäßigung, Sir.“ „Stammen diese Worte vom Dichter Burns?“ „Nein, Sir. Diese Worte kommen in Shakespeares Drama Hamlet vor.“99

Die Affinität eines britischen Kammerdieners zur Philosophie der Stoa ist dabei durchaus konsequent genetisch ableitbar. Ist für die Herausbildung des spezifisch britischen Ideals eines „gentleman“ bekanntermaßen der Stoizismus Vorbild, um wieviel mehr muß er es für den Butler sein, der nicht nur als „gentleman“ erzogen, sondern ausdrücklich als „the gentleman’s gentleman“ definiert wird? Die stoische Gemütsruhe, die den idealtypischen Gentleman bestimmt, gerät in der Realität allerdings zunehmend zur bloßen Fassade des Adligen. Der vom Gentleman beanspruchte Stoizismus wird delegiert an dessen „valet“, der damit gleichsam zur personalen Externalisierung des für seinen Herrn verbindlichen Verhaltenskodex gerät. An diesem Punkt entfaltet dann die Karikierung ihre Wirkung. Denn die Autarkie des Stoiker-Butlers ist eigentlich keine, da seine Existenz nicht an ihm selbst, sondern definitionsgemäß an seinem Herrn orientiert ist. So infiltriert das Ideal stoischer Autarkie den radikal heteronom bestimmten Berufsstand des britischen Butlers und Kammerdieners, um diesen nun als den vollendeten Stoiker 98 U.a. Extricating Young Gussie (1915), The Inimitable Jeeves (1923), Very Good, Jeeves (1930), Right Ho, Jeeves (1934), The Code of the Woosters (1938), Jeeves and the Feudal Spirit (1954) und Aunts aren’t Gentlemen (1974). Zu Jeeves vgl. Richard Osborne, Plum Sauce. A P.G. Wodehouse Companion, New York 2003, S. 81 – 93. 99 Wodehouse: Ohne Butler geht es nicht, übers. von Monika Eckert, München 1984, S. 118 (das von Jeeves zitierte Diktum stammt aus Hamlet III,2).

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in Erscheinung treten zu lassen, der trotz vielfältiger sozialer und ökonomischer Zwänge sich selbst zu bewahren vermag. Der vollendete Butler Jeeves ist damit der legitime Nachfahre des Sklaven Epiktet. Unter allen Umständen bewahrt er seinen Gleichmut, und während in Krisensituationen jeder andere um ihn herum den Kopf verliert, bleibt er – „anstatt sich zu beklagen“ (Gellert) 100 – Herr seiner Affekte, so daß in Much obliged, Jeeves (1971) Woosters Tante Dahlia auf die Frage ihres Neffen hin, wie Jeeves eine sogar ihm katastrophal dünkende Nachricht aufgenommen habe, berichten kann: „Du weißt, wie Jeeves Dinge aufnimmt. Er zog ganz leicht eine Augenbraue hoch und sagte, daß er entsetzt und erschrocken sei“ – wobei selbst diese recht verhaltene Reaktion von Bertie Wooster noch als für Jeeves’ Verhältnisse geradezu sensationell emotional gedeutet wird: „Das ist sehr stark […], meistens sagt er nur ,äußerst unangenehm‘.“101 Einer weiteren populären Variante des komischen Stoikers, geradezu einer echten Stoa-Ikone, begegnet man ab 1966 im extrem stoischen Vulkanier Mr. Spock in der Fernsehserie Star Trek (dt.: Raumschiff Enterprise). Der traditionell dem Stoizismus immer wieder unterstellte Vorwurf der Unmenschlichkeit wird hier wörtlich genommen und personifiziert. Denn Mr. Spock ist Abkömmling keiner menschlichen, sondern einer extraterrestrischen Kultur, die Gefühle wohl kennt, sie aber um der Vernunft willen radikal negiert. Mit den emotionalen Schwankungen seiner menschlichen Kollegen konfrontiert, kommentiert er diese entweder mit „Faszinierend!“ oder einem trockenen „Sie verhalten sich unlogisch, Sir!“ und produziert damit über unzählige Episoden hinweg einen klassischen ,running gag‘. Wie positiv die Rolle dieses komischen Stoikers dabei angelegt ist, zeigt die Resonanz des Publikums: Spock wird nicht nur die beliebteste Figur der Serie, sondern der gesamten Fernsehserienlandschaft: Als die Zeitschrift TV Guide eine Sondernummer herausbringt, gewidmet „TV’s 50 Greatest Characters ever“, ist auf dem Cover des Heftes nicht zufällig unter den ausgewählten vier markantesten Figuren auch jener vulkanische Stoiker abgebildet. Die Fremdheit eines vollendeten Stoizismus kann also im 100 Gellert: Fabeln, Buch 2 (Werke 1, S. 138). 101 Wodehouse: Ohne Butler geht es nicht, S. 113. Auch im Falle angenehmer Emotionen ist Jeeves Meister der Beherrschung, wie Bertie Wooster bei Gelegenheit bemerkt: „Sein Gesicht strahlte, sofern man dies als Strahlen bezeichnen kann, da er es stets vorzieht, die reglose Miene einer Wachsfigur aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett zu wahren“ (ebd. S. 151).

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Unterhaltungsmedium einer Science Fiction-Fernsehserie offensichtlich sympathisch anmuten. Nicht von ungefähr tritt daher als Steigerung in der auf Star Trek folgenden Serie Star Trek – The next Generation (ab 1987) mit Data ein konstruktionsgemäß emotionsloser Androide als Spocks Nachfolger so konsequent vernünftig und leidenschaftslos konstruiert auf, daß er in seiner vollendeten Apatheia und Logos-Orientierung einen ,perfekten‘ Stoiker vorstellt. Statt sich allerdings selbstgenügsam seines ultimativen Stoizismus zu erfreuen, ist Data bizarrerweise jedoch gerade darauf erpicht, menschliche Affekte nicht nur theoretisch zu ergründen, sondern am eigenen synthetischen Leibe zu erfahren. Und so wirkt es bei den Versuchen der menschlichen Crew, ihm etwa den Zorn oder die Liebe zu erklären, nicht selten so, als ob entsprechende stoische Ausführungen palimpsestartig hinter den Dialogen des Drehbuchs durchschimmerten, allerdings nicht im Dienste der Affektbeherrschung, sondern um deren eigentümliche Struktur philosophisch zu ergründen.102 Der utopisch-komische Radikal-Stoiker vom Format eines Jeeves, Spock oder Data versöhnt denn auch mit der stoischen Philosophie. Denn dieser Typus eines komischen Stoikers erscheint dem Rezipienten nicht länger befremdlich als anmaßender und weltentrückter Theoretiker oder gar als verabscheuenswürdiger Philosophaster, dessen „Beschreibung des Ideals […] Rederei oder allgemein und eben ohne Interesse“ (Hegel) 103 ist. Er vermittelt vielmehr den Stoizismus mit einer liebenswerten Menschlich-Allzumenschlichkeit, über die man gleichsam interesselos lachen kann, die aber auch eine Möglichkeit eröffnet, sich trotz aller Fremdheit im Horizont des Komischen dem tieferen Gehalt des Stoizismus anzunähern und damit eine auf Ausgleich zielende Botschaft wie jene Gleims zu aktualisieren: Sey nicht der Stoa feind, doch fühle jeden Schmerz! – Gleichgltigkeit legt Eis um’s Herz! 104

102 Zu Spock und Data vgl. u. a. Richard Hanley: The Metaphysics of Star Trek. New York 1997; Andreas Rauscher: Das Phnomen Star Trek: Virtuelle Rume und metaphorische Weiten. Mainz 2003; Katja Kanzler: ,Infinite Diversity in infinite Combinations‘: The multicultural Evolution of Star Trek. Heidelberg 2004. 103 Hegel: Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie II (Werke 19, S. 290). 104 Gleim: Sprche, Nr. 23.

Personenregister Abaelard 34 Abbt, Th. 421, 903 Abel, J. F. von 902, 903, 905 Addison, J. 109, 300, 380 f., 382, 383, 389, 709 Aegidius, P. (Gilles) 516 Aelian 591 Aerssen, C. van 595 Agricola, R. 501, 505 Agrippa von Nettesheim 985, 1284 Ailly, P. d’ 985 Aischylos 1252 Alard von Amsterdam 501 Alberti, L. B. 453 – 485 Alberti, V. 284 Alciati, A. 502 Alexander der Große 242, 727 Alexander von Aphrodisias 17 f., 148, 152, 159, 160 Alfred der Große, König von England 45 Althusius, J. 599, 985 Ambrosius, Bischof von Mailand 28, 82, 119, 206, 209 Anakreon 1282 Anaximander 232 Antiochus von Askalon 256, 562 f. Antipatros von Tyros 365 Antiphon 200, 234 – 236, 249 Antisthenes 297 Antoninus Pius, röm. Kaiser 310 Antonius, der Einsiedler 37, 98 Apollodoros von Athen 1268 Archedemos 19 Archilochos 196, 1043 Areios Didymos 15, 20 Argyropoulos, J. 465 Aristipp 299, 321, 864, 871 Aristophanes 421, 516 Aristoteles 25, 58, 77 f., 100 f., 106, 117, 136 – 141, 146, 161,

200, 230, 239 – 243, 247, 249, 251, 256, 276, 304, 353, 497, 521, 550, 552, 568, 580, 592, 601, 632, 897, 903, 906, 914, 917, 921, 925, 1043, 1064, 1074, 1075, 1076, 1081, 1107, 1109, 1111, 1113, 1114, 1118, 1121, 1122, 1136, 1172 Arnisaeus, H. 596 Arrian 15, 39, 634, 1048, 1049, 1153, 1162, 1163, 1230 Athenodoros von Kordylion 344, 366 Attalos (Stoiker) 205 Atticus 368 Auden, W. H. 1202, 1206 Augustinus 29, 30, 34, 37, 43, 48, 53 – 65, 82 f., 93, 94, 119, 208 f., 213, 245, 272 – 274, 276, 374 f., 429 f., 495, 523, 673, 749, 762, 773, 1037, 1040, 1134, 1281 Augustus (Gaius Octavius), röm. Kaiser 717, 722, 725 Aurelius Victor 1230 Avicenna 568 Bach, J. Chr. 389 Bach, J. S. 325 Bacon, F. 105, 977 – 979 Bakchylides 298 Balde, J. 97 Balzac, H. de 1043 Banér 606 Barth, C. von 1282 Basilius, Kirchenvater 321 Bassi, P. A. de’ 303 Batteux, Ch. 871 Bayle, P. 31, 858, 985 Beatus Rhenanus 504 Becman, J. Chr. 600, 622 Beethoven 111 Bellay, J. du 777

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Personenregister

Bellori, G. P. 354, 355 Bentham, J. 1110, 1111, 1113, 1119, 1131 Berkeley, G. 1061 Bernegger, M. 599 Bérulle, P. de 1043 Bidermann, J. 76, 90 – 97, 738 Blumenberg, H. 632 f. Boccaccio 410, 412 Bodin, J. 74, 587, 598, 760, 762, 977 Bodmer, J. J. 856, 857 Boecler, J. H. 599, 600, 624 Böhme, J. 985 Boethius 44 – 46, 50, 55, 73, 97, 209 – 213, 559, 561 f., 563, 568, 572, 574, 674, 684, 708, 759, 773, 795, 1281 Bose, J. A. 599 Bouchet, A. 388 Bouillon, P. 388 Bovillus, C. 87 f. Boxhornius, M. Z. 596 Brant, S. 321 – 325, 431, 776, 884 Brecht, B. 1202, 1229, 1264 Brentano, C. 884 Brockes, B. H. 220 f. Browne, Th. 708 Brucker, J. J. 112, 858, 859, 1081 Brunelleschi, F. 478 Bruni, L. 454, 477, 478 Bruno, G. 106, 445, 977, 986, 991, 1004 Brutus 107, 109 – 111, 387, 677, 709, 899, 1053 Budé, G. 74 Büchner, G. 27, 116, 129, 391 Burgersdyck, F. 600 Burns, R. 1294 Burton, R. 708 Butler, J. 1061 Caesar 366, 367, 369, 371, 373, 375, 383, 388, 593, 677 Cajot, J.-J. 287 Caligula 67, 506, 1202, 1253 Calvin, J. 549, 614, 714, 969 Campanella, T. 985

Camus, A. 132, 710, 1202, 1229 Canetti, E. 1252 Canius Julius 547 Cardano, G. 985 Carl Eugen, Herzog von Württemberg 110 Carlyle, Th. 1113, 1132 Carracci, A. 325 Casaubonus, I. 591 Cassius Dio 92, 448 Castellio, S. 579 Castiglione, B. 123 Cato 39, 85, 107, 109 f., 208, 210, 365 – 392, 545 f., 675, 679, 709, 860, 861, 863, 864, 865, 899, 1054, 1158, 1201, 1229, 1281 Catull 196 Caussin, N. 738, 741 ˇ echov, A. 132, 1208 – 1213, C 1220, 1223, 1236 Celan, P. 1242 Cellarius, Chr. 600 Celtis, C. 821 Chandler, R. 1204, 1207 Chapman, G. 378, 381, 676, 677, 678, 686 f., 707 Charron, P. 76, 85, 86, 88 f., 581, 977, 980 – 984, 985 Chaucer, G. 45 Christian IV., König von Dänemark 606 Christine, Königin von Schweden 599, 607 Chrysipp 14, 46, 47, 52, 61, 84, 116 f., 145 f., 152, 154, 157, 158, 159, 197 f., 201, 211 f., 230, 244, 246 f., 253 – 256, 262, 268, 476, 488, 796, 797, 860, 955, 988, 1011, 1077, 1082, 1153, 1162, 1163, 1188, 1251, 1267 ff., 1274, 1283, 1289, 1293 Cicero 12, 14, 19, 21, 26, 29, 32, 42, 44, 46, 47, 52, 54, 55, 56, 57, 58, 62, 69, 71, 72, 73, 84 f., 88, 89, 94, 95, 107, 109, 119, 120, 124, 137, 145 f., 149, 150, 151, 152, 154, 156, 157, 158, 159, 170, 175, 176, 178 – 183, 187, 190,

Personenregister

191, 194, 196 f., 200 – 205, 211 f., 220, 230 f., 236, 250, 253, 256 – 274, 278 f., 282, 300, 301, 308, 320, 321, 329, 330 f., 368, 369, 393 – 396, 425, 428, 430, 455, 457, 491, 492, 493, 496, 516, 536, 546, 550, 553, 554, 555, 559, 560, 562 f., 563, 564, 568, 572, 574, 598, 614, 622, 674, 675, 678, 725, 727, 728, 773, 796 – 798, 801, 817, 820, 830, 865, 884, 886, 892, 899 – 903, 906, 907, 910, 918, 925, 928, 933, 934, 970, 972, 977, 987, 989, 991, 998, 1025, 1038, 1068, 1069, 1070, 1077, 1081, 1099, 1109, 1122, 1125 – 1127, 1142 – 1144, 1148, 1149, 1153 – 1158, 1167 – 1170, 1172 – 1174, 1176, 1178, 1182, 1183, 1185, 1189, 1191, 1229, 1272, 1281, 1293 Clapmarius, A. 600 Claudius, röm.Kaiser 67 Clemens von Alexandria 29 146, 148, 150 Cocceji, H.von 626 Colbert, J.-B. 603 Colonna, G. 409 Comenius, J. A. 327 f. Comte, A. 1136 Conrad, J. 710 Conring, H. 601 Contzen, A. 601, 609 Coornhert, D. 45, 588, 589, 991 Corneille, P. 535 Cosimo de’ Medici 456, 458, 459 Coste, P. 1053 Covarruvias, D. 586 Cranach, L. 325 Crell, P. 1048 Creutz, F. C. C. 420 Cromwell, O. 603 Cunaeus, P. 596 Cusanus, N. 985 Dacier, A. 1053 Dankelman, E. 619

1299

Dante 34, 307, 375 f., 477, 495, 496, 499 Danton, G. 27 Darwin, Ch. 1182 David (bibl.) 1036 David, J. L. 312 Davies, J. 1052 Delrío, M. A. 502 Demokrit 106, 1143 Descartes, R. 58, 535, 573, 580, 980, 982, 985, 989, 997, 1004, 1163 Deschamps, F. 109, 381 f. Dickens, Ch. 710 Diderot, D. 287, 972, 1060 Dilthey, W. 999 Diogenes Laërtius 15, 16, 21, 30, 41, 78, 84, 170, 171, 172, 175, 176, 220, 297, 491 – 495, 498, 500, 528, 536, 801, 900, 1109, 1147, 1153, 1163, 1165, 1166, 1268 f., 1283, 1293 Diogenes von Sinope 25, 1049, 1147, 1163 Dion von Prusa, gen. Chrysostomos 306, 310 Dionysius Areopagita 43 Distelmeier, Chr. 614 Doderer, H.von 1291 Dohna, Abraham von 620 Dohna, Alexander von 621, 627 Dohna, Chr. A. 621 Domitian, röm. Kaiser 309 Dostojewski 1043 Dreiser, T. 1204, 1207 Düffel, J. von 1265 Dürer, A. 325 Duplessis-Mornay, Ph. 579 Du Vair, G. 68, 70, 73 – 75, 99, 581, 673, 674, 707, 708 Eliot, T. S. 677, 696 Elisabeth I., Königin von England 45 Elsheimer, A. 668 Elyot, Th. 675 Elzevier 596, 606 Empedokles 226, 633

1300

Personenregister

Ennius 813, 1230 Epiktet 15, 30, 36 – 38, 42, 54, 61 f., 71, 73, 75, 93, 97, 100, 107, 110, 130, 170, 184 f., 248, 282, 414, 497, 527, 580, 622, 634, 674, 687, 886, 900, 905, 972, 998, 1000, 1018, 1025, 1026 – 1035, 1038, 1039, 1040, 1041, 1042, 1047 – 1062, 1071, 1073, 1146, 1153 – 1155, 1162 – 1164, 1165, 1174, 1175, 1204, 1208, 1216, 1223, 1230, 1234, 1287, 1292, 1295 Epikur 20, 26 – 33, 72, 84, 106, 109, 169, 175, 250, 330, 351, 529, 535 f., 546 f., 557, 558, 559, 560, 562, 708, 801, 814, 833, 834, 858, 869, 1088, 1100, 1107, 1110, 1111, 1119, 1130, 1137, 1139, 1143, 1152, 1154, 1161, 1175, 1177, 1178, 1185, 1217, 1234 Erasmus von Rotterdam 39, 89, 119, 467, 480, 501 – 524, 549, 648, 664, 665, 668, 678, 679, 1043, 1267, 1269, 1270, 1276, 1280 Ercole I. d’Este, Herzog von Ferrara 303 Ernst der Fromme, Herzog von Gotha 624 Euphrates 1230 Euripides 197 f., 298, 488, 497, 521, 1268 Eusebios 20 Expilly, C. 540 Federico da Montefeltre, Herzog von Urbino 305 Feind, B. 389 Feuerbach, L. 105 Ficino, M. 66, 86, 304, 985 Fielding, H. 709 Flaubert, G. 1274 Fleming, P. 98 f., 727, 732, 771 – 785, 787 – 805, 807 – 831, 849 f., 967, 1195 Ford, J. 677

Fornelius, L. 607 Fortunatus, M. 505 Francke, A. H. 618, 623 Frank, S. 985 Franz I., König von Frankreich 74 Freinsheim, J. 599, 607 Freud, S. 1182, 1205 f., 1241, 1259 Friedrich I. von Brandenburg 629 Friedrich der Große 24, 119, 311, 619, 627, 899, 972 Friedrich Heinrich von Oranien 591, 615, 971 Friedrich Wilhelm I., Kurfürst von Brandenburg 615, 629 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 312 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 626 Froben, J. 504 Fuchs, P. 616, 625 Gaius 271 Galenos 22, 61, 116 f., 988 Galilei 985 Galsworthy, J. 1204 Garve, Chr. 119, 1081, 1098, 1099 Gassendi, P. 31 Gataker, Th. 76 Geer, L. de 607 Gellert, Chr. F. 1277 f., 1281 f., 1292 f. Gellius 152 Gerson, J. Ch. 985 Gesner, C. 788 Geulinx, A. 986 Gleim, J. W. L. 1296 Goethe 18, 104, 106, 108, 112, 121 – 124, 129, 215 – 227, 317, 328, 361, 362, 778, 875 – 895, 922, 930, 942, 1043 Goldsmith, O. 709 Gorgias 199 f., 235 f. Gottsched, J. Chr. 109, 381 – 385, 899, 960 Gracián, B. 830, 886 Graevius, J. G. 617 Granvella, A. P. de 595

Personenregister

Grass, G. 132, 1205, 1207, 1233, 1243 – 1250, 1255, 1256, 1260 Grimmelshausen, H. J. Chr. 96 Groote, B. 410 Großer Kurfürst (Friedrich Wilhelm) von Brandenburg 13, 607, 611, 616, 617, 619 f., 629, 970, 971 Grote, G. 1105, 1107 Grotius, H. 13, 187, 188 f., 231, 278 – 281, 288, 575 f., 588, 592, 600, 602, 605, 607, 626, 627, 985, 988, 1066 Grünbein, D. 132, 1205, 1216, 1234, 1235, 1250 – 1259 Grünewald 98 Grumbkow, F. W. von 625 f. Gruterus, J. 591, 620 Grynäus, S. 566 Gryphius, A. 53, 101, 102, 731 – 770, 788, 791, 811, 836, 845 – 847, 964 Guallensis, J. 410 Günther, J. Chr. 808 Guérin, P. N. 388 Guevara, A. de 96 Gustav Adolf, König von Schweden 599, 611, 612, 622 Gyllenstierna 606 Hacks, P. 421 f. Hadrian, röm. Kaiser 310, 618 f., 1229 – 1235 Haefs, G. 1229 Händel 325 Hagesandros 344 Hall, J. 76, 98, 675, 680 Haller, A. von 836, 845 – 847 Hammett, D. 1204, 1207 Harris, J. 1051 Harsdörffer, G. Ph. 737 Hasse, J. A. 389 Hebenstreit, J. 600 Heemskerck, J. van 719 Hegel 926, 1020, 1021, 1042, 1270, 1295 Heidegger, M. 1257 Heine 219, 1270, 1291 f.

1301

Heineccius, J. G. 602, 626 Heinrich von Navarra 74 Heinrich III., König von Frankreich 74 Heinrich IV., König von Frankreich 74, 611 Heinse, W. 360, 361, 1288 Heinsius, D. 604, 606, 709, 714, 719, 721, 987 Hemingway, E. 132, 710, 1204, 1207, 1218, 1222, 1223 – 1229, 1235 Heraklit 6, 83, 215 – 218, 232 f., 242 f., 434, 449, 633, 927, 928, 930, 938, 941, 946, 1188 Herbert, Z. 978 f., 1201, 1207 Herder 328, 881, 882, 973 Herdesianus, C. 614 Hermes Trismegistos 487, 488, 496 Herodot 226, 809, 1043 Herwagen, J. 504 Hesiod 299, 321, 329, 338, 1230 Hierokles 170, 173, 174, 175 Hieronymus, der Kirchenvater 29, 35, 43, 206 – 208, 213, 409, 492, 497, 508 f., 988, 1281 Hildesheim, F. 613 Hille, Chr. W. 629 Hippias 234 Hirschfeld, Chr. C. L. 850 Hirt, A. 357, 358, 361 Hitler 1237 Hobbes, Th. 105, 281 – 286, 288, 598, 979, 986, 994 Hochhuth, R. 1224 Hölderlin 18, 106, 111, 112, 121, 126 f., 129, 215 – 227, 333 – 341, 927 – 950, 951 – 962 Hoffmann, E. T. A. 1272 Hoffmannswaldau, Chr. H. von 379 f. Hofmannsthal, H. von 1220 Homer 195 f., 200, 473, 474, 516, 727, 1230 Horaz 29, 98, 109, 369, 377, 516, 726, 727, 816, 819, 824, 859, 868, 869, 870, 871, 872, 873,

1302

Personenregister

888, 966, 1053, 1054, 1175, 1270, 1276, 1280, 1293, 1294 Horn 606 Horneius, C. 600 Houellebecq, M. 132, 1205, 1207, 1219, 1259 – 1265 Hoyer, E. 621 Humboldt, W. von 926 Hume, D. 979, 1093, 1284, 1289 Hutcheson, F. 1061, 1066 Hutten, U. von 885, 886 Ibsen, H. 1043 Ignatius von Loyola 97 Isidor von Sevilla 29 Jacob I., König von England 598 Jacobi, F. H. 104, 106 James I., König von England 675 James, H. 1207 Jandun, D. de 627 Jansenius, C. 1034 Jean Paul 1273, 1278, 1284, 1289 ff., 1293 Jesus 25, 80, 1107 Joachim Friedrich, Kurfürst von Brandenburg 613 Johann Sigismund, Kurfürst von Brandenburg 620 Johann von Neumarkt 431 Johann Moritz von Nassau-Siegen 615 Jonson, B. 644, 675, 676, 678, 680 Joyce, J. 1043 Julian, röm. Kaiser 1216, 1251, 1269 f., 1270 Julius II., Papst 344 Juvenal 516, 836, 1294 Kalkhuhn, J. F. 971 Kallikles 235 f. Kant 18, 78, 89, 112 – 121, 125, 127, 184, 185, 189, 333, 341, 898 – 901, 903, 904, 906, 917 – 920, 923, 990, 1081 – 1103, 1133, 1141, 1144, 1145, 1157 – 1159, 1167, 1170 – 1171, 1182, 1191, 1196

Karl August, Herzog von SachsenWeimar 121, 325, 329 Karl IV., deutscher Kaiser 431 Karl V., deutscher Kaiser 68 Karl V., König von Frankreich 431 Karl IX., König von Schweden 598 Karl Gustav, König von Schweden 598 Karneades 17, 146, 250, 279 Kaschnitz, M. L. 1203 Kavafis, K. 1229 Kebes 1052 Kehlmann, D. 1273 Keller, G. 1271 Kepler 985 Kipling, R. 710 Kleanthes 14, 42, 218, 230, 243 – 247, 262, 403, 797, 907, 927 f., 955, 958, 1082, 1149, 1153, 1163, 1189, 1283 f., 1289, 1293 Kleist, E. Chr. von 420 f., 973 Kleist, H. von 112, 127 – 129, 963 – 974 Klopstock 856, 857, 875, 882, 883 Körner, Ch. G. 901, 922 Kopernikus 1182 Krantor 200 Krates 1163 Krates aus Mallos 19 Krates von Theben 489, 491, 492, 494, 499, 500 Kuhlmann, Q. 811, 830 Lactanz 29, 34, 43, 59, 82, 929, 1281 Laelius 1054, 1068 La Fontaine 58 Lamberg, J. Ph. 610 Lambertus Danaeus 583 La Mettrie, J. O. de 865 Lamormaini, W. 609 Landino, C. 304 – 308, 329 f. Langius, C. 51, 72, 649 – 653 La Rochefoucauld 131 Lavater, J. C. 877 Lehmann, J. Chr. 830

Personenregister

Leibniz 98, 823, 858, 985, 1061 Lenz, H. 132, 1205, 1207, 1235 – 1243, 1244, 1250, 1253 Leonardo da Vinci 483, 484 Lessing 18, 106, 353, 356, 384, 385, 390, 420, 914, 917, 921, 922, 930 L’Hôpital, M. de 579, 588 Lillo, G. 709 Lipsius 13, 40, 45, 51 f., 57, 61, 65 – 73, 85, 90, 93, 95, 99, 112, 114, 115, 118, 376, 411 f., 502, 506, 535, 549, 575 – 630, 631, 636, 643 – 653, 655, 656, 658 – 666, 673, 674, 676, 693, 707, 708, 709, 713, 714, 719, 724, 725, 726, 728, 734, 748, 749, 751, 752, 769, 772, 796, 802, 803, 831, 833, 892, 899, 969, 973, 987, 1000 Locher, J. 321 f., 326 Locke 1061 Logau, F. von 811 Lucan 373, 377, 719 Lüning, J. Chr. 622, 972 Ludewig, J. P. 628 Ludwig XIII., König von Frankreich 309 Ludwig XIV., König von Frankreich 31, 309 Lukian 20, 467, 598, 885, 1268, 1270, 1276, 1283, 1293 Lukrez 30, 31, 106, 527, 538, 986, 994, 1043, 1230, 1234, 1294 Luther 53, 64, 119, 520, 523, 524, 716, 727, 729, 766 Lykurg 85 Lyly, J. 1269, 1270, 1288 f., 1293 Lynker, N. Ch. 600 Macchiavelli 586, 677, 678, 761 Macrobius 261 f., 281 Mändl, J. 609 Maeterlinck, M. 1203 Maffei, R. da Volterra 502 Mann, Th. 1168 Manutius, A. 512

1303

Marc Aurel, röm. Kaiser 15, 22 – 24, 76, 107 f., 110, 116, 118, 119, 126, 127, 132, 282, 310, 341, 580, 628, 634, 674, 684, 696, 697, 704, 708, 710, 787 – 788, 899 – 901, 925, 934, 939 f., 944, 945, 946, 951 – 962, 972, 988, 989, 990, 991, 1018, 1047 – 1062, 1107, 1109, 1205, 1208, 1211 – 1213, 1216, 1223, 1229 ff., 1235 ff., 1243, 1251, 1252, 1269 Marcian 244 Marcuse, H. 1248 Maria Theresia, Kaiserin von Österreich 610 Marnix, Ph. 581, 620 Marston, J. 677 Martens, D. 503 Martial 373, 810, 813, 829 Martin von Braga 505 Marvell, A. 708 Mascardi, A. 1052 Masen, J. 830 Massinger, Ph. 677 Maurikios 592 Maximilian I., deutscher Kaiser 313 Maximilian I., Kurfürst von Bayern 601, 607 – 609, 611 Maximos von Tyros 1051 Medici, Lorenzo de’ 86, 304 – 308, 330 Mei, G. 419 f. Meichel, J. 91 Meinders, F. 626 Melanchthon 50, 53, 549 – 574, 760, 762 Melissus, P. 821 Merck, J. H. 390 Merula, A. 620 Metastasio, P. 325, 389 Meteranus, E. van 620 Metsys, Q. 516 f. Meursius, J. 591, 606, 620 Mevius, D. 596 Mill, James 1105, 1131 Mill, John Stuart 189, 1105 – 1140 Milton 598, 708, 1282

1304

Personenregister

Minturno, A. 736 Mörike, E. 1237, 1244 Moers, W. 1215 Molière 58, 1043, 1272 f., 1283, 1290, 1293 Montaigne 26, 377, 480, 525 – 548, 677, 678, 706, 708, 788, 798, 799, 826, 831, 873, 964, 980, 981, 1026 – 1035, 1036, 1042, 1043, 1251 Monteverdi, C. 415 – 420 Moravus, M. 503 Morhof, D. G. 830 Moritz von Oranien 591, 596, 620, 646 Morus, Th. 516, 999 Moses 1036 Müller, H. 1205, 1251, 1254 Murena, L. L. 368 Muret, M. A. 506 Mussato, A. 409 Nero 67, 94, 309, 371, 448, 501, 510, 634, 704, 1246, 1247, 1253, 1266 Newton 985 Nietzsche 18, 117, 131 f., 216, 898, 918, 1043, 1152 – 1153, 1155, 1157, 1159, 1165 – 1198, 1202, 1271, 1278 Nilus von Ankyra 37 Notker Labeo 45 Oldenbarneveldt, J. van 595, 611 Olearius, A. 818 f. Opitz, M. 39, 98 – 101, 378 f., 414 f., 709 – 729, 736, 776, 811, 822 f., 836, 839 – 842, 843, 845, 846 Ovid 204, 210 f., 813, 815, 820, 829, 987, 1091 Owen, J. 811 Oxenstierna 606 Panaitios 14, 46, 47, 58, 119, 200, 256 f., 351, 631, 633, 649, 933, 952, 989 Pandolfini, N. 456

Papinianus, A. 756 f. Paracelsus 985 Parmenides 137 Pascal 64, 980, 1017 – 1046, 1175 Paschal, Ch. 649 Pasiello, G. 389 Pater, W. 710, 1229, 1234 Paul V., Papst 648 Paulus 35, 41, 81 f., 83, 273, 276, 409, 504, 505, 509, 648 Perikles 85 Pessoa, F. 132, 1204, 1207, 1214 – 1222, 1223, 1227, 1229, 1235 Petrarca 53 – 65, 119, 122, 219, 300 f., 425 – 452, 493, 496, 713, 772, 776, 778, 785, 793, 833, 999 Petronius 373, 405 Philodemos von Gadara 21 Philipp II., König von Spanien 68, 70, 578 Marnix, Ph. 581 Philippe de Cabassole 426 Philon von Alexandria 46, 80 f., 90 Picander 325 Piccolomini, E. S. 491, 499, 885 Pico della Mirandola 86 f., 123, 474, 985 Pighius, St. 768 Pindar 298, 331, 881 Pinturicchio 489 – 491, 493 – 500 Plantin, Chr. 597 Platen, N. E. von 616 Plath, S. 1266 Platon 6, 25, 77, 80, 106, 138, 140, 146, 177, 209 – 211, 216, 230, 236, 237 – 240, 242 f., 247, 256, 271, 355, 366, 368, 400 – 402, 405, 512, 569, 601, 884, 903, 941, 1043, 1051, 1052, 1062, 1081, 1091, 1100, 1105, 1106, 1107, 1111, 1112, 1113, 1118, 1119, 1121, 1138, 1141, 1145, 1157 Plinius 49, 344, 516, 521 Plutarch 18, 30, 110 f., 226, 250, 366, 367, 373, 374, 516, 528,

Personenregister

529, 536, 545, 788, 869, 1106, 1175, 1280 Poliziano, Angelo de 86 Polyaenus 591 Polybius 591, 644, 649 Polydoros 344 Polyklet 347, 348 Pompeius 366, 371 Pontanus, J. I. 502 Pope, A. 381 Poseidonios 14, 197, 256 f., 287, 933 f., 952, 954 Poussin, N. 325 Price, R. 1061 Prodikos 44, 69, 94, 114, 125, 210, 297 – 302, 320 – 329, 333, 337, 339, 340, 1048, 1054 f. Proklos 43 Protagoras 234, 1106 Proust 1043 Prudentius 97 f. Pseudo-Phocylides 30 Publilius Syrus 503, 516 Pufendorf, S. 282 – 286, 288, 599, 600, 607, 619, 970 Puschkin 1043 Quevedo, F. de 30, 75, 535, 999 Quintilian 16 f. Raabe, W. 1203, 1271, 1275, 1279, 1287, 1288 Radziwill, Boguslaus, Fürst 616 Raffael 355 Raleigh, W. 598 Ramler, K. W. 311 Raymund von Sabunde 985 Rechtenberg, W. 602 Regulus 101, 375 Reinhardt, K. F. von 629 Rembrandt 662 Reuchlin, J. 985 Richelieu 611 Rimbaud, A. 884 Ripa, C. 314 f., 318 Rist, J. 776 Robespierre 27, 109 f., 312, 899 Rode, B. 311

1305

Rötenbeck, G. P. 600 Romero, B. 503 Rosenhane 606 Rousseau 115 f., 189, 286 – 292, 385 – 387, 836, 847 – 850, 898, 936, 942, 972, 1157, 1191, 1192, 1196 Rowling, J. K. 1207 Rubens, P. P. 325, 411 – 414, 665 – 669, 1251 Rubens, Ph. 645, 655, 660, 662 – 666, 669 Rufus, S. S. 258 Rutilius 1054 Sacchi, B. 410 f. Sachs, H. 325 Sacy, Le Maistre de, I.-L. 1026 – 1035 Sadoleto, J. 348, 349, 350, 357 Sala y Abarca 624 Sales, Franz von 93 Salinger, J. D. 1204 Sallust 368, 369, 987 Salmasius, C. 604 Salutati, C. 55, 313 f., 454, 496 Sangallo, G. da 344 Sartre 710 Sauerzapf, S. 609 Scaevola, Q. M. 101, 258 f. Scaliger, J. C. 591, 604 Scharnhorst, G. J. D. von 973 Scheffer, J. 592, 599 Schellenberg, J. B. 40 Schelling 106 Schiller 110, 112, 119, 121, 124 – 126, 127, 129, 130, 329, 331 – 333, 338, 339 f., 341, 357, 362 – 364, 897 – 926, 961, 1157, 1196 Schlüsselburg, K. 648 Schnitzler, A. 1201, 1220 Schoock, M. 616 Schoockius, I. 618 Schopenhauer 18, 116, 117, 129 – 131, 352, 353, 357, 660, 662, 920, 921, 1141 – 1164, 1167, 1170, 1171, 1175, 1176, 1178, 1184, 1185, 1191, 1213

1306

Personenregister

Schoppe, K. 75 Schott, A. 502 Schürer, M. 516 Schwerin, O. von 597 Scioppius, C. 1273 Scipio 85, 366 ,649, 834 Scotus Eriugena 44 Scriverius, P. 596 Seckendorff, V. L. von 599, 600, 624 Seneca 9, 14, 17, 33 – 43, 46, 47, 49, 50, 54, 55, 57, 59, 62, 66 f., 68, 71, 72, 75, 78, 82, 85, 88, 90, 92, 94, 95, 96, 99, 110, 114, 115, 117, 122, 125, 126, 127, 128, 129, 131, 144, 146, 149, 170, 171, 173, 175, 176, 179, 193 – 195, 201 f., 205, 210 – 212, 220, 237, 248, 255, 282, 287, 315, 333, 336 f., 341, 350, 351, 363, 364, 370 – 372, 374, 395 – 404, 407 – 422, 425, 428, 434, 435, 437, 445, 448, 455, 466, 469, 470, 491, 496, 497, 501 – 524, 527, 528, 529 – 535, 536, 541, 543, 545, 547, 549, 553, 580, 587, 588, 592, 614, 622, 625, 631, 633 – 644, 648, 655 – 660, 663, 664, 669, 673, 674, 675, 676, 681, 684, 687, 688, 693, 704, 709, 717, 733, 734, 736, 739, 741, 742, 759, 764, 773, 774, 776, 780, 784, 788 – 795, 797, 798, 801, 802, 804, 805, 834, 836 – 839, 844, 886 – 892, 898 – 905, 907 – 910, 912 – 916, 918, 919, 925, 944, 945, 952, 966, 969, 972, 973, 977, 988, 990, 991, 998, 999, 1000, 1001, 1013, 1015, 1035, 1040, 1049, 1081, 1109, 1142 – 1144, 1147, 1149, 1150, 1152 – 1155, 1157 – 1159, 1161 – 1164, 1165, 1167 – 1169, 1172 – 1175, 1177, 1178, 1185, 1188 – 1191, 1196 – 1197, 1203, 1205, 1215, 1225, 1235, 1243, 1246 ff., 1250 – 1259, 1278 f., 1281, 1288

Servius Sulpicius 204 f. Sextius, Q. 637 f. Sextus Empiricus 147, 148 Shaftesbury 326 f., 986, 1284 Shakespeare 17, 673 – 710, 1251, 1294 Shelley, M. 710 Silius Italicus 322 f. Simplikios 39, 1051 Sixtus Arcerius 591 Skelton, R. 1060 Skytte, B. 617 Skytte, J. 599, 606, 617 Slevogt, J. Ph. 600 Smith, A. 1063 – 1079, 1081 Smith, Th. 596 Sokrates 24, 82, 84, 94, 106, 210, 230, 236, 240, 299, 385, 386, 400 – 402, 406 f., 464, 466, 489, 494, 499, 500, 511, 535, 545 f., 728, 769, 982, 1015, 1106, 1107, 1130, 1163, 1202 Sophokles 349, 352, 353 Spinoza 18, 52 f., 89 f., 102 – 106, 219, 445, 929, 930, 931, 932, 933, 943, 979, 986, 987 – 991, 997 – 1015, 1157, 1163, 1172, 1191, 1264, 1294 Steele, R. 709, 861 Stein, G. 1223 Stifter, A. 1271, 1285 ff., 1291, 1293 Stilpon von Megara 665 Stobaios 20, 21, 47, 85, 170, 1048, 1142, 1153, 1161 – 1163, 1166, 1178 Stricker 1273 Sueton 506 Svarez, C. G. 626 Swift, J. 709 Tacitus 205, 281, 398 – 407, 411, 415, 418, 448, 470, 583, 592, 596, 645, 657, 836 Teissier, A. de 627 Telesio, B. 977, 985, 986, 991 – 995 Tertullian 33 f., 1281

Personenregister

Theophrast 516, 521 Toklas, A. B. 1223 Thomas von Aquin 48, 187 f., 245, 274 – 276, 1064, 1114 Thomasius, Chr. 220, 620, 626 Thrasymachos 235 Thukydides 199, 406, 598 Tiedemann, D. 112 Timon 860 Titus 344 Trajan, röm. Kaiser 310 Tucholsky, K. 1273 Ulpian 272, 289 Upton, J. 1051 Valerius Maximus 369 Valla, L. 30 f., 454 Vergil 17, 82, 347 – 349, 369, 377, 488, 527, 714, 715, 717, 719, 720, 721, 722, 723, 725, 884, 1230, 1287 Vervaux, J. 609 Virdung, M. 600 Viritius, A. 650 Vitoria, F. de 276 – 279, 579, 586 Vivaldi 389 Voltaire 119, 381, 385, 972, 1275 Vondel, J. van den 741 Vossius, I. 604, 618 Waldeck, Graf von 616 Walser, M. 1203, 1266 Warburton, W. 1060 Washington, G. 380 Wassermann, J. 1201 Weigel, V. 985 Werlhof, J. W. 601 Werner, M. 1205 Wezel, J. K. 1270, 1277

1307

Wieland 31, 108, 120, 121, 302, 317, 325, 328 f., 390, 855 – 873, 899, 1061, 1175, 1269, 1270, 1273, 1275, 1276, 1280, 1283 f., 1290, 1292, 1293 Wilder, T. 1229, 1275 Wilhelm V., Herzog von Bayern 607 Wilhelm Ludwig von Nassau 591 Wilhelm von Conches 45 Wilhelm von Oranien 578, 583 Winckelmann, J. J. 123 f., 316 f., 343, 347 – 360, 362, 363, 656, 1156 Wodehouse, P. G. 1294 f. Wolf, H. 1048, 1054 Wolff, Chr. 626, 858 Woverius, J. 595, 636, 660, 663, 665, 666 Xenophon 44, 69, 94, 210, 298 – 302, 306, 320 f., 325, 328 f., 494, 554, 592, 1048, 1051, 1052, 1106 Yourcenar, M. de 132, 1204, 1207, 1229 – 1235 Zedler, J. H. 573 Zenon 7, 10, 14, 16, 41, 84, 109, 191, 218, 230, 243, 246, 250, 254 – 256, 268, 297, 469, 470, 489, 490, 492, 493, 494, 497, 498, 500, 631, 633, 798, 860, 869, 887, 906, 910, 927, 955, 1071, 1082, 1088, 1100, 1143, 1153, 1161 – 1163, 1172, 1178, 1282, 1283, 1292 Ziegler, K. 830 Zwingli, U. 49