Stiller Zeuge - Bewegtes Leben: Selbstbewusstsein in Phänomenologie und Advaita-Vedānta 9783495820469, 9783495489963


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Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
Verzeichnis der häufigsten Abkürzungen
0. Einleitung
0.1 Gang der Arbeit
0.2 Phänomenologischer Horizont
Formaler und radikaler Transzendentalismus
Konvergenzen
0.3 Interkultureller Horizont
Methodisches
Systematisches
Kapitel I
1. Husserls Paradoxie der Subjektivität
1.1 Das logische und das lebendige Paradox
1.2 Fruchtbares Scheitern
1.2.1 Welt, Gemeinschaft, Einsamkeit
1.2.2 Das Fremde im Eigenen
1.2.3 Reduktion und Abstraktion
1.2.4 Einfühlung und die Reziprozität der Fremderfahrung
1.3 Das fungierende Ur-Ich und die natürliche als eine transzendentale Einstellung
1.4 Finks Zuschauer und das Sich-selbst-Erkennen des Absoluten
1.5 Die Ichspaltung und der interessiert uninteressierte Zuschauer bei Husserl
1.6 Bewusste Untiefe – Transzendentale und existenzielle Epoché
2. Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins
2.1 Der gerade und der gewendete Blick
2.2 Ungegenständliches Zeitbewusstsein als Selbstwahrnehmung
2.3 Vorreflexives Selbstbewusstsein – eine analytische Annäherung
2.4 Die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins und die Metaphysik der Präsenz
2.5 Das Faktum des Mit-sich-vertraut-Seins
2.6 Vorreflexives Selbstbewusstsein bei Husserl – konstitutionstheoretische Hinsichten
2.7 Die Erfahrung lebendiger Gegenwart – impersonale Subjektivität
2.7.1 Erlebte und lebendige Gegenwart
2.7.2 Das Ärgernis lebendiger Gegenwart
a) Einzigkeit
b) Anonymität
c) Ständigkeit
Kapitel II
3. Spuren impersonaler Subjektivität in der phänomenologischen Philosophie Sartres
3.1 Impersonales Bewusstsein beim frühen Sartre
3.2 Ein latenter Dualismus
3.3 Erste Entscheidungen
3.4 Das Verhältnis des unpersönlichen Bewusstseins zum Ego
3.4.1 Binnenstruktur des Ego
3.4.2 Projektion und Hypnose
3.4.3 Intimität und Interiorität
3.4.4 Autophobie und Epoché
3.5 Erfahrung als Seinsweise
4. Selbstbewusstsein in Das Sein und das Nichts
4.1 Entschiedenes Scheitern – der ontologische und der metaphysische Horizont von Das Sein und das Nichts
4.1.1 Sein, Erscheinen, Bewusstsein
4.1.2 An-sich und Für-sich
4.1.3 An-sich-für-sich
4.2 Die Binnenstruktur des Für-sich
4.2.1 Fragmentierte Präsenz – die Krux der Theorie des präreflexiven Cogito
4.2.2 Das ekstatische und das gegenwärtige Selbst
4.2.2.1 Anwesenheit bei sich – zwei Spiegel, die Welt und ein Zeuge
4.2.2.2 Abwesenheit von sich – Personalität und Ego
4.2.2.3 Einen Augenblick, bitte! – Zeitlichkeit, Reflexion und Ego
Die Ekstasen
Einheit und Zeitlichkeit
Zwei Reflexionen
4.3 Die Faszination Rousseaus
Kapitel III
5. Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty
5.1 Das klaustrophobe, das allmächtige und das offene Selbst – Intellektualismus und Epoché
Die existenzielle Epoché Merleau-Pontys
5.2 Engagierter Leib, uninteressierter Zuschauer und ein notwendiger Zeuge
5.3 Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen
5.3.1 Das transzendentale als ein impersonales Feld
5.3.2 Das stillschweigende Cogito und das letzte Bewusstsein als Gegenwart bei der Welt
5.3.3 Notwendiger Zeuge – ein unüberwindlicher Solipsismus und Gott als der Andere
Kapitel IV
6. Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta
6.1 Historisch-systematische Orientierung
6.1.1 Die Quellen des Advaita-Vedānta
6.1.2 Gauḍapāda
6.1.3 [Selbst]
6.1.4 Śaṅkaras Vedānta
6.1.4.1 Standpunkte und Stufen der Realität
6.1.4.2 Die große Täuschung und der Deus ludens
6.1.4.3 Mittel und Methoden
6.1.4.4 Śaṅkaras Schüler
6.2 Methodische Orientierung
6.2.1 Disziplinäre Verquickungen
6.2.2 Phänomenologie und Advaita-Vedānta
Advaita Phänomenologie. Selbst, wahres Selbst und das Absolute – Worum es nicht gehen kann
7. Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta
7.1 Erkenntnistheoretische Grundzüge
7.1.1 Śaṅkaras phänomenologische Redlichkeit
7.1.2 Rudimente einer Theorie sinnlicher Erkenntnis
7.2 Phänomenologische Grundzüge
7.2.1 Person und Selbst
7.2.2 Reflexion und Übertragung
7.2.3 sākṣin – Stiller Zeuge
8. Schlussbetrachtungen
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Eugen Fink
Edmund Husserl
Maurice Merleau-Ponty
Jean-Paul Sartre
Śaṅkara
Sekundärliteratur
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Stiller Zeuge - Bewegtes Leben: Selbstbewusstsein in Phänomenologie und Advaita-Vedānta
 9783495820469, 9783495489963

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Robert Lehmann

Stiller Zeuge – Bewegtes Leben

KONTEXTE

Selbstbewusstsein in Phänomenologie und Advaita Vedānta

ALBER PHÄNOMENOLOGIE https://doi.org/10.5771/9783495820469

.

B

ALBER PHÄNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler

KONTEXTE Band 29

https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Robert Lehmann

Stiller Zeuge – Bewegtes Leben Selbstbewusstsein in Phänomenologie und Advaita-Vedānta

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Robert Lehmann Silent Witness – Moved Life Self-awareness in Phenomenology and Advaita Vedānta The question of Self-awareness is one of the key challenges of philosophical research. Phenomenological studies in particular should not rush towards making Self-awareness the object of conceptual provisions. Before such an endeavor they must accept the task of experiencing this phenomenon in a methodically reflected way. The present study shows that the phenomenologies of Husserl, Sartres, and Merleau-Ponty are theoretically at a loss when faced with this task. For the Advaita Vedānta, in turn, the quandary this task provides is the prerequisite and motive of its philosophical praxis. By means of the concept of impersonal subjectivity, those moments of Self-awareness are thus identified, which are accessible from a phenomenological perspective. But against the background of a vedāntic system they allow for a recapitulation of phenomenological theorizing.

The Author: Robert Lehmann, born 1985, is a research assistant at the University of Greifswald.

https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Robert Lehmann Stiller Zeuge – Bewegtes Leben Selbstbewusstsein in Phänomenologie und Advaita-Vedānta Die Frage des Selbstbewusstseins gehört zu den entscheidenden Herausforderungen philosophischer Forschung. Insbesondere phänomenologische Untersuchungen dürfen sich nicht vorschnell darauf ausrichten, Selbstbewusstsein zum Gegenstand begrifflicher Bestimmungen zu machen. Zuvor müssen sie sich die Aufgabe stellen, dieses Phänomen methodisch reflektiert in Erfahrung zu bringen. Die vorliegende Studie zeigt, dass die Phänomenologien Husserls, Sartres und Merleau-Pontys angesichts dieser Aufgabe in eine theoretische Verlegenheit geraten, die für den Advaita-Vedānta Voraussetzung und Motiv philosophischer Praxis ist. Mittels des Begriffs impersonaler Subjektivität werden so diejenigen Momente von Selbstbewusstsein identifiziert, die in phänomenologischer Perspektive zugänglich sind, vor dem Hintergrund einer vedāntischen Systematik aber Anlass zu einer Rekapitulation phänomenologischer Theoriebildung geben.

Der Autor: Robert Lehmann, geb. 1985, ist wissenschaftlicher Assistent an der Universität Greifswald.

https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck //SW_JUA_11-PC/sw/alber/2019/lehmann/978-3-495-82046-9_k1. pdf

Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48996-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82046-9

https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

In jedem ernsteren philosophischen Problem reicht die Unsicherheit bis an die Wurzel hinab. Man muß immer darauf gefaßt sein, etwas ganz Neues zu lernen. L. Wittgenstein (Bemerkungen über die Farben § 15)

https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Verzeichnis der häufigsten Abkürzungen . . . . . . . . . . . .

15

0. 0.1 0.2 0.3

. . . .

17 24 26 36

Kapitel I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

1. Husserls Paradoxie der Subjektivität . . . . . . . . . 1.1 Das logische und das lebendige Paradox . . . . . . . 1.2 Fruchtbares Scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Welt, Gemeinschaft, Einsamkeit . . . . . . . . 1.2.2 Das Fremde im Eigenen . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Reduktion und Abstraktion . . . . . . . . . . 1.2.4 Einfühlung und die Reziprozität der Fremderfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das fungierende Ur-Ich und die natürliche als eine transzendentale Einstellung . . . . . . . . . . . . . 1.4 Finks Zuschauer und das Sich-selbst-Erkennen des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Ichspaltung und der interessiert uninteressierte Zuschauer bei Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Bewusste Untiefe – Transzendentale und existenzielle Epoché . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

49 52 57 57 61 62

. .

67

. .

72

. .

79

. .

92

. .

98

Einleitung . . . . . . . . . . Gang der Arbeit . . . . . . . Phänomenologischer Horizont Interkultureller Horizont . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

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. . . .

. . . .

. . . . . .

9 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Inhalt

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der gerade und der gewendete Blick . . . . . . . . . Ungegenständliches Zeitbewusstsein als Selbstwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorreflexives Selbstbewusstsein – eine analytische Annäherung . . . . . . . . . . . . Die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins und die Metaphysik der Präsenz . . . . . . . . . . . . . Das Faktum des Mit-sich-vertraut-Seins . . . . . . . Vorreflexives Selbstbewusstsein bei Husserl – konstitutionstheoretische Hinsichten . . . . . . . . Die Erfahrung lebendiger Gegenwart – impersonale Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . 2.7.1 Erlebte und lebendige Gegenwart . . . . . . . 2.7.2 Das Ärgernis lebendiger Gegenwart . . . . . .

Kapitel II 3. 3.1 3.2 3.3 3.4

3.5

. . 108 . . 111 . . 116 . . 120 . . 126 . . 135 . . 139 . . 152 . . 152 . . 157

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Spuren impersonaler Subjektivität in der phänomenologischen Philosophie Sartres . . . . . . . . . Impersonales Bewusstsein beim frühen Sartre . . . . . . Ein latenter Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis des unpersönlichen Bewusstseins zum Ego 3.4.1 Binnenstruktur des Ego . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Projektion und Hypnose . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Intimität und Interiorität . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Autophobie und Epoché . . . . . . . . . . . . . . Erfahrung als Seinsweise . . . . . . . . . . . . . . . .

4. Selbstbewusstsein in Das Sein und das Nichts . . . . . . 4.1 Entschiedenes Scheitern – der ontologische und der metaphysische Horizont von Das Sein und das Nichts 4.1.1 Sein, Erscheinen, Bewusstsein . . . . . . . . . 4.1.2 An-sich und Für-sich . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 An-sich-für-sich . . . . . . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

173 174 179 181 186 186 191 193 197 202

. . 209 . . . .

. . . .

209 210 213 217

Inhalt

4.2 Die Binnenstruktur des Für-sich . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Fragmentierte Präsenz – die Krux der Theorie des präreflexiven Cogito . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Das ekstatische und das gegenwärtige Selbst . . . 4.2.2.1 Anwesenheit bei sich – zwei Spiegel, die Welt und ein Zeuge . . . . 4.2.2.2 Abwesenheit von sich – Personalität und Ego 4.2.2.3 Einen Augenblick, bitte! – Zeitlichkeit, Reflexion und Ego . . . . . . . 4.3 Die Faszination Rousseaus . . . . . . . . . . . . . . . .

225

Kapitel III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das klaustrophobe, das allmächtige und das offene Selbst – Intellektualismus und Epoché . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Engagierter Leib, uninteressierter Zuschauer und ein notwendiger Zeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen . 5.3.1 Das transzendentale als ein impersonales Feld . . . 5.3.2 Das stillschweigende Cogito und das letzte Bewusstsein als Gegenwart bei der Welt . . . . . . 5.3.3 Notwendiger Zeuge – ein unüberwindlicher Solipsismus und Gott als der Andere . . . . . . .

225 232 233 236 241 256

5.

261 262 271 276 276 282 298

Kapitel IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311

6. Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta . . . . 6.1 Historisch-systematische Orientierung . . . . . . . . 6.1.1 Die Quellen des Advaita-Vedānta . . . . . . . . 6.1.2 Gauḍapāda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 [Selbst] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Śaṅkaras Vedānta . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4.1 Standpunkte und Stufen der Realität . . . 6.1.4.2 Die große Täuschung und der Deus ludens 6.1.4.3 Mittel und Methoden . . . . . . . . . . . 6.1.4.4 Śaṅkaras Schüler . . . . . . . . . . . . .

311 313 314 321 331 337 339 344 350 361

. . . . . . . . . .

11 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Inhalt

6.2 Methodische Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Disziplinäre Verquickungen . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Phänomenologie und Advaita-Vedānta . . . . . .

364 364 369

7.

Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Erkenntnistheoretische Grundzüge . . . . . . . . . . . 7.1.1 Śaṅkaras phänomenologische Redlichkeit . . . . . 7.1.2 Rudimente einer Theorie sinnlicher Erkenntnis . . 7.2 Phänomenologische Grundzüge . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Person und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Reflexion und Übertragung . . . . . . . . . . . . 7.2.3 sākṣin – Stiller Zeuge . . . . . . . . . . . . . . .

382 382 382 388 392 392 403 409

8.

Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

426

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

430

12 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Vorwort

Wir müssen kaum soweit gehen wie Pascal und das ganze Unglück der Welt darauf zurückführen, dass es uns nicht gelingt, ruhig in einem Raum zu bleiben. Doch es kann sicher zu den ausnehmend schwierigen Übungen zählen, eine Zeit der Stille mit sich selbst zu verbringen. Das vorliegende Buch – eine überarbeitete Version meiner Dissertation, die ich im Frühjahr 2017 an der Universität Greifswald verteidigt habe – ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit zwei philosophischen Traditionen, für die sich gewissenhaftes Philosophieren dadurch auszeichnet, auch dieser Schwierigkeit standzuhalten. Das kontemplative Moment der Philosophie ist nicht unbedingt zeitgemäß. Zu übermächtig erscheinen die Herausforderungen, vor die der ökologische, globalpolitische, digitale überhaupt technische Wandel uns stellt, als dass wir es uns leisten könnten, den philosophischen Anspruch auf Selbsterkenntnis tatsächlich durch eine radikale Wende auf uns selbst einzulösen. Eine solche Wende scheint umso verdächtiger, wenn sie sich von den Traditionen inspirieren lässt, die uns die Philosophien des Ostens anbieten. Trotz der weithin sichtbaren Entwicklung interkulturellen Philosophierens schwelt immer noch das Vorurteil, eine solche Inspiration stehe im Zeichen eines Eskapismus, der mit innerem Frieden im Herzen dem Untergang der Menschheit beiwohnt. Dieses Vorurteil ist aber kaum mehr als Ausdruck der genannten Schwierigkeit. Konfrontiert die Wende zu uns selbst doch zunächst mit dem inneren Tumult eines bewegten Lebens, für das die Bezeichnung »Bewusstseinsstrom« nur ein höflicher Euphemismus sein kann. Die Wucht, mit der die Ruhe eines Raumes die Wasser des Bewusstseins aufwühlen kann, verlangt in der Tat ein Pathos der Distanz. Wenn wir verstehen wollen, was es heißt, Bewusstsein von uns selbst zu haben, müssen wir uns erst enthalten. Hier haben wir aber nicht die stille Kultivierung eines asketischen Ideals, sondern einer methodischen Sensibilität vor uns, die dem singulären Rätsel des Selbstbewussteins gerecht werden will. 13 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Vorwort

Diese Arbeit versteht sich als Beitrag zu einer Philosophie, die diesem Rätsel durch methodisch reflektierte Selbsterfahrung auf die Spur zu kommen versucht. Wie jede auf einer Wende der Erfahrung beruhende Forschung weiß eine solche Bewusstseinsphilosophie um ihre galileische Verantwortung. Die Herausforderung ist, nicht allein mit seinen Argumenten zu überzeugen, sondern dazu zu bewegen, hinzusehen. Ob Jupitermonde oder das Selbst – wir müssen einen Blick riskieren. Da, wo dieses Buch gelungen ist, ist es nicht zuletzt Resultat glücklicher Begegnungen, und so gibt es eine Reihe von Menschen, denen ich an dieser Stelle von Herzen danken möchte: meinem Doktorvater, Michael Astroh, ohne dessen sokratische Gelassenheit und ruhige Räume, diese Arbeit nicht hätte entstehen können; meinem Zweitgutachter Rolf Elberfeld, dessen Hildesheimer Kolloquien stets Quelle der Inspiration und Ermutigung waren; meinen Eltern, Brigitte und Egbert Lehmann, für ihre liebevolle Zuversicht; Haṃsa für die Enttäuschungen; Ram Adhar Mall für den frühen Zuspruch, der einige Zweifel des Anfangs zerstreuen konnte; Birgit Recki für den frühen Widerspruch, der einige fruchtbare Zweifel weckte; Mark Miller für das »why not?«; Anna Berres für das Hineintäuschen ins Wahre (Tak for Alt); Marcus Schmücker für Hilfe bei den Herausforderungen des Sanskrits und manchem wichtigen Hinweis; Katrin Felgenhauer, Christine Neubert, Hannes Pohlman, Robert Jende und Georg Meier für das heitere Philosophieren jenseits des Schreibtisches; Till Ermisch für das richtige Motto zur richtigen Zeit, Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber und den Herausgebern der Reihe Phänomenologie für die freundliche Aufnahme, den Damen und Herren der Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für die Bereitstellung des Druckkostenzuschusses. Leipzig, im Januar 2019

14 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Verzeichnis der häufigsten Abkürzungen

Die vollständigen bibliographischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. Edmund Husserl Ideen I Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie Krisis Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. CM Cartesianische Meditationen EU Erfahrung und Urteil Eugen Fink VI. CM VI. Cartesianische Meditation Jean-Paul Sartre TE Transzendenz des Ego Imag Die Imagination SuS Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis SN Das Sein und das Nichts Maurice Merleau-Ponty SV Struktur des Verhaltens PhW Phänomenologie der Wahrnehmung SuU Das Sichtbare und das Unsichtbare

Sanskritliteratur Upaniṣaden Die Upaniṣaden werden, wo nicht anders angegeben, in der Übertragung von Deussen (2007) und unter Angabe der dort verwendeten Einteilung zitiert, z. B. (BĀU, III.4.2) = 3. Kapitel, 4. Abschnitt, 2. Vers.; bzw. (KeU, II.3) = 2. Kapitel, 3. Vers. BĀU ChU

Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad Chāndogya-Upaniṣad

15 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Verzeichnis der häufigsten Abkürzungen KU KeU MU

Kaṭha-Upaniṣad Kena-Upaniṣad Muṇḍaka-Upaniṣad

Kommentare (bhāṣya) und eigene Abhandlungen (prakaraṇa grantha) Śaṅkaras: Die Quellen der bhāṣya und prakaraṇa grantha sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. Sie werden nach der dort verwendeten Einteilung der Orignaltexte, die bhāṣya zudem unter der Angabe der Seitenzahl des Kommentars zitiert. ABh BhGBh BĀUBh BSBh ChUBh KeUBh MUBh DdV Upad VC

Adhyāsabhāṣyam (Einleitung zum Brahmasūtrabhāṣya) Bhagavadgītābhāṣya Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣadbhāṣya Brahmasūtrabhāṣya Chāndogya-Upaniṣadbhāṣya Kena-Upaniṣadbhāṣya Muṇḍaka-Upaniṣadbhāṣya Dṛgdṛśya Viveka Upadeśasāhasrī Vivekacūḍāmaṇi

Andere Sanskritliteratur Die Quellen der übrigen Sanskritliteratur sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. Sie werden nach der dort verwendeten Einteilung zitiert. BhG BS ManU MMK

Bhagavadgītā Brahma-Sūtra(s) Māṇḍūkyaupaniṣadkārikā (Gauḍapāda) Mūlamadhyamakakārikā(s) (Nāgārjuna)

16 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

0. Einleitung

Selbstverständliches fragwürdig werden zu lassen, ist eine bewährte Form philosophischer Praxis. Was der Philosophie rätselhaft ist, wird es oft dadurch, dass einen Augenblick länger zur Geltung kommt, was die alltägliche Orientierung fraglos lässt. Selbsterkenntnis ist schon deshalb ein so gewichtiges Element philosophischer Kultur, weil sie in diesem Sinne zugleich nahe liegendes und anstößiges Unterfangen ist. Nicht nur dürften wir selbst zu den Momenten der Wirklichkeit gehören, über die wir die meisten und intimsten Vorurteile hegen, es ist bekanntermaßen auch keineswegs klar, ob die Frage »Wer bin ich?« eine philosophische Frage ist. Wenigstens wird sie sich nur bedingt allgemein verbindlich beantworten lassen. Die Frage, was es heißt, Bewusstsein von sich selbst zu haben, besitzt hingegen anerkanntermaßen die Dignität, ein philosophisches Rätsel anzuzeigen. Phänomenologie kann als diejenige philosophische Bewegung gelten, für die diese beiden Fragen in einer entscheidenden Hinsicht ununterscheidbar sind. Beide lassen sich nur im Rahmen kultivierter Selbsterfahrung beantworten. Die tradierte Form dieser Selbsterfahrung sprechen wir wohl seit Leibniz als Reflexion an. 1 Das allzu vertraute Bild von Bewusstsein, das sich vermöge einer besonderen Anlage zur Selbstreferenzialität in den Blick nimmt, ist in der phänomenologischen Tradition und darüber hinaus so sehr Ausgangspunkt, wie es Kritikpunkt ist. Denn Bewusstsein, das ich von mir selbst habe, als solches bewusst und theoretisch verfügbar zu machen, scheint das in Frage stehende Phänomen auf eigentümliche Weise zu verfehlen. Müssen wir doch schon in Anspruch nehmen, was wir uns gegenständlich zugänglich zu machen suchen. Innerhalb der drei klassiVgl. Monadologie § 30. »Durch die Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten und durch ihre Abstraktionen, sind wir auch zu den reflexiven Akten erhoben, die uns ein Ich denken und Betrachtungen darüber anstellen lassen, daß dies und jenes in uns ist.« Leibniz (2005), 27.

1

17 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Einleitung

schen phänomenologischen Positionen, deren Untersuchung der erste Teil der vorliegenden Arbeit gewidmet ist, zeichnet sich angesichts dieses Bildes in verschiedenen Facetten eine philosophische Verlegenheit ab, die sich in Husserls Begriff lebendiger Gegenwart, Sartres Begriff des präreflexiven Cogito und Merleau-Pontys Begriff des stillschweigenden Cogito artikuliert. Diese Verlegenheit motiviert sich aus einer Spannung zwischen den begrifflichen Dispositionen, die Struktur und Dokumentation phänomenologischer Selbsterfahrung organisieren, der Beiläufigkeit dieser Erfahrungen selbst und der umgreifenden philosophischen Architektur einer Theorie des Bewusstseins, in der diese Erfahrungen ihren Ausdruck finden. Von phänomenologischer Warte aus kann es darum kaum einerlei sein, an welcher Erfahrung man anhebt, Selbstbewusstsein philosophisch zu problematisieren. Wir gelangen natürlicherweise zu einem anderen Fokus, wenn wir unsere Überlegungen zu Begriff und Phänomen des Selbstbewusstseins an den vertrauten Momenten rationalen Selbstbezugs organisieren, in denen wir uns als psychosoziale, zu Ich-Gedanken fähige Wesen erleben, als wenn wir auch solche Selbsterfahrungen berücksichtigen, wie sie aus dem methodisch geleiteten Einstellungswechsel phänomenologischer Epoché entspringen, oder solche, aus denen uns die zumeist dämmrigen Modi ichlosen oder ichfernen Erlebens vertraut sind. Besonders das blasse Zwischenreich des Einschlafens, das zähe Zerstreuen des Weltbezugs durch Rausch oder Synkope und das »anonym[e] Sich-Bilden einer Welt beim Erwachen aus einer Narkose« (Frank 2012, 8) legen, wie auch der phänomenologische Zugriff, zuweilen eine Rede von Selbstbewusstsein nahe, die dem »›Feld‹- oder ›Dimensions‹-Charakter des Bewusstseins« (ebd.) Rechnung trägt. Ein wieder anderer Fokus muss sich ergeben, wenn man solche Selbsterfahrungen in Erwägung zieht, wie sie die begrifflichen und ästhetischen Differenzierungen philosophischer Kulturen anzeigen, in denen sich die Frage nach Selbstbewusstsein im Rahmen soteriologischer Praxis stellt und Selbstbewusstsein nicht vordergründig als zu erklärendes Phänomen, sondern als existenzielle Aufgabe zur Geltung kommt. 2 Wenn im Folgenden der Begriff einer Soteriologie bzw. einer entsprechenden Praxis in Anspruch genommen wird, so handelt es sich um ein Zugeständnis an die Tradition westlicher Indologie, die auch das indische Ideal der Befreiung (mokṣa) unter diesen Begriff zu bringen sich angewöhnt hat. Es sei aber schon einleitend darauf hingewiesen, dass sowohl die heilsgeschichtliche und teleologische Konnotation des christlichen Erlösungsbegriffs als auch die Vorstellung, eine entsprechende postmortale

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Einleitung

Der zweite Teil der vorliegenden Arbeit wird sich in diesem Sinne einer philosophischen Analyse der entsprechenden Elemente des Advaita-Vedānta widmen, wie er von Śaṅkara im Indien des 8. Jh. kodifiziert wurde. Als philosophische Maxime des Vedānta kann die Auffassung gelten, menschliches Bewusstsein entfalte natürlicherweise und in dem Maße eine falsche Vorstellung von sich selbst, wie es sich fortschreitend als distinkte individualisierte und personalisierte Entität (jīva) auffasse, die einer Welt mannigfaltiger Erscheinungen gegenüberstünde. Dementsprechend zielen die philosophischen Verfahren des Vedānta Śaṅkaras darauf, das wahre Selbst (ātman) des Menschen durch einen Begriff von Bewusstsein (caitanya) zu bestimmen, der dieses Selbst nicht nur als das Feld alles durchdringenden (vibhu), selbstleuchtenden (svayaṃprakāśa) und selbsterscheinenden (svayaṃsiddhā) Bewusstseins ausweist, sondern zugleich erlaubt, es als wesensgleich mit dem brahman genannten absoluten Urgrund aufzufassen und als solches in Erfahrung zu bringen. Die folgende Untersuchung lässt sich als der Versuch verstehen, die Erfahrung einer in ihrer intimen Nähe unverfügbaren Subjektivität, wie sie sich an den phänomenologischen Bemühungen um eine Beschreibung von Selbstbewusstsein abzeichnet, mit der vedāntischen Beschreibung von Selbsterfahrung zu konturieren, die eine solche Subjektivität als eigentliche Form von (Selbst-)Bewusstsein bestimmt. Der leitende methodologische Imperativ der Arbeit lässt sich dementsprechend wie folgt angeben: Wir sollten offen bleiben für die Möglichkeit, dass die Antwort auf die Frage, was es heißt, Bewusstsein von sich selbst zu haben, nicht Bestätigung und Begründung, sondern Vertiefung und Verwandlung unseres Selbstverständnisses bedeutet. 3 Eine phänomenologische Antwort auf diese Frage wird sich nur im Vollzug ihrer Beantwortung fortschreitend abzeichnen lassen. Erlösung vollziehe sich im Horizont einer Hinwendung zu einem personal gedachten Schöpfergott, im Falle des Advaita-Vedānta, irreführend sind. 3 In diesem Sinne nehme ich Husserls implizite Programmatik der Cartesianischen Meditationen ernst, die bekanntlich nicht mit Descartes, sondern Augustinus enden: »›Noli foras ire‹, sagt Augustinus, ›in te redi, in interiore homine habitat veritas‹.« (CM, 161) Und wie schon der weniger berühmte Nachsatz in De vera religione zeigt, geht es Augustinus nicht um ein fundamentum inconcussum, sondern gerade um die Fragwürdigkeit des esse im sum des Cogito. »Wenn du entdeckst, von welch unbeständiger Beschaffenheit du bist, dann überschreite auch noch dich selbst.« Augustinus (1983), 72.

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Einleitung

Ziel wird es im Folgenden deshalb nicht sein, dem interkulturellen Projekt einen weiteren Vergleich beizusteuern, Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Horizont einer Ost-West-Dichotomie diskutierbar zu halten. Ziel ist es in einem ersten Schritt, konzeptuelle Spannungen innerhalb der phänomenologischen Analysen Husserls, Sartres und Merleau-Pontys so sichtbar werden zu lassen, dass sich der Punkt philosophischer Selbstbesinnung zeigt, von wo aus die Intuitionen fruchtbar werden, die die Entfaltung des Begriffs von Selbstbewusstsein leiten. Da, wo phänomenologische Philosophie in die Verlegenheit eines Bewusstseinsbegriffs gerät, der ihre tradierte Doktrin gegenständlicher und reflexiver Erkenntnis prekär werden lässt, zeigt sich die Dringlichkeit seiner Anerkennung einerseits an dem Bedürfnis, dem Regressproblem eines am Reflexionsbegriff entwickelten Verständnisses von Selbstbewusstsein 4 gerecht zu werden. Andererseits fordert phänomenologische Redlichkeit, auch solche Erfahrungen gelten zu lassen, in denen der natürliche Selbstbezug eines um sich selbst wissenden Individuums fragwürdig wird. Dies wird er schon insofern, als sich die durch die Leistung der Reflexion etablierte Selbstspaltung von Bewusstsein in Reflektierendes und Reflektiertes eben als Leistung von Bewusstsein zeigt, dessen lebendiger Vollzug durch eine Homogenität und Kohäsion gekennzeichnet ist, die die reflexiven Strukturen gegenständlicher Orientierung zu einer späten Leistung degradieren. Die quasi schizophrene Spannung, die dem Bewusstseinsbegriff durch den Fokus auf den Reflexionsbegriff eingeschrieben ist, hat deshalb sowohl innerhalb als auch außerhalb der phänomenologischen Diskussion die Intuition vorreflexiven Selbstbewusstseins wachgehalten. 5 Der Regress entsteht, wenn man Selbstbewusstsein dadurch verstehen will, ein zunächst unbewusstes Bewusstsein anzunehmen, das erst durch einen – selbst unbewussten – höherstufigen Akt vergegenständlicht wird, der seinerseits, um als bewusst zu gelten, von einem höherstufigen Akt vergegenständlicht werden muss, und so ad infinitum. 5 Die aktuelle Diskussion hat sich an dem 1966 von Dieter Henrich im Anschluss an Fichte wieder aufgedeckten Desiderat von Selbstbewusstseinstheorien entzündet, die Selbstbewusstsein als Reflexion im Sinne einer Rückwendung von Bewusstsein auf sich selbst verstehen. Der entsprechende Ausdruck eines präreflexiven Selbstbewusstseins ist Frank zufolge allerdings zuerst bei Sartre nachzuweisen. Vgl. Frank (2014), 12. Und nach wie vor nimmt der zeitgenössische Diskurs hier seinen Ausgang. (Vgl. die jüngsten Beitrage in Miguens/Preyer/Morando 2016). Der Idee nach kennt aber auch Husserl »ein unterstes Erleben, daß die Voraussetzung ist für alles reflektierende« (Hua Mat. VIII, 36). Zentrale phänomenologische Entwicklungen und entspre4

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Einleitung

Eine scheinbar schizophrene Struktur menschlicher Subjektivität findet sich auch an den Wurzeln der philosophischen Kultur Indiens. Das Bild zweier Vögel, der eine bewegt, der andere unbewegt, das uns in der Muṇḍaka-Upaniṣad begegnet, zählt zu den überkommenen Gleichnissen für die Verfasstheit menschlichen Bewusstseins. 6 dvā suparnā sayujā sakhāyā samānaṃ vṛkṣaṃ pariśaṣvajāte tayor anyaḥ pippalaṃ svādv atti anaśnann anyo abhicākaśīti (MU, III.1.1) Zwei Adler, zusammen angespannte Genossen, umklammern den gleichen Baum. Von ihnen ißt der eine die süße Feige, der andere schaut ohne zu essen zu. 7

Für Śaṅkara drückt diese Analogie das Verhältnis zwischen dem individuierten menschlichen Selbst (jīva) und dem höheren Selbst (ātman) aus, das dem bewegten Leben des jīva als Zeuge (sākṣin) beiwohnt. 8 Die Dopplung des Selbst markiert hier allerdings nicht Strukturmomente entschiedener Reflexion, sondern die durch eine bestimmte Art von Unwissen (avidyā) generierte Übertragung (adhyāsa) falscher Überlagerungen (upādhi) auf den ātman, die der Advaita-Vedānta zu identifizieren und zu beseitigen sucht. In einem zweiten Schritt sollen die historischen und systematischen Elemente der entsprechenden Bewusstseinskonzeption Śaṅkaras so entwickelt werden, dass der Begriff des ātman und seine methodische Konkretion als sākṣin bzw. die Vorstellung einer den Bewusstseinsbewegungen (vṛtti) zugrunde liegenden Dimension des Bewusstseins als Kernbegriff einer phänomenologischen Theorie des chende Brückenschläge zwischen Phänomenologie und der Philosophy of Mind finden sich bei Zahavi/Gallgher (2008) und Zahavi (2013). Seit den Siebzigern verteidigt Frank die Vorstellung eines nicht-relationalen und nicht-reflexiven Selbstbewusstseins. Siehe zuletzt Frank (2012) und Frank (2015). Auch am vedāntischen Begriff eines selbstleuchtenden Bewusstseins hat sich eine Debatte um den theoretischen Status präreflexiven Bewusstseins entwickelt. Für eine systematische Unterscheidung von präreflexivem, also selbstleuchtendem Bewusstsein (svayprakāśa) und reflexivem, also fremdbeleuchtetem (paraprakāśa) siehe MacKenzie (2007). 6 Für eine kulturkritische Interpretation des in diesem Bild angelegten quasi schizophrenen Verständnisses des menschlichen Selbst für die indische Kultur siehe Mathur (1972). 7 Vgl. Slaje (2009), 361. 8 MUBh, III.1.1, 138 f.

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Einleitung

Selbstbewusstseins zur Geltung kommen. Die leitende Intuition der vorliegenden Untersuchung besagt, dass die in diesem Bild ausgedrückte Dichotomie zwischen bewegtem Leben und stillem Zeugen als Heuristik zur Freilegung einer fundamentalen Bewusstseinsstruktur ernst genommen werden soll. Das Pathos der Distanz, das in dem Bild des Zeugen zum Ausdruck kommt, wird also nicht als Disposition geistiger Vermögen zu Introspektion und Autoobservation verstanden. In ihm drückt sich auch nicht die hypnotische Gesamtdämpfung eines asketischen Ideals 9, das Desengagement kultivierter Rationalität 10 oder die substanzialistische Hypostasierung eines Homunkulus 11 aus. Hier geht es darum, ein phänomenologisch ausweisbares Strukturmoment von Bewusstsein, eine Dimension von Subjektivität überhaupt zur Geltung zu bringen. Eine Dimension, die es Nietzsche hatte den Advaita-Vedānta neben dem Platonismus bereits in der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse zu einer Fratze der dogmatischen Philosophie erklärt. In seiner Streitschrift Zur Genealogie der Moral wird er Śaṅkaras Vedānta dann zum Vertreter eines lebensverneinenden asketischen Ideals und Nihilismus machen. Vgl. Nietzsche (2013b), 118 und 135 f. Für einige historische Voraussetzungen des Vedāntaverständnisses Nietzsches, die diese kurzsichtige Auffassung erhellen, siehe Rollmann (1978) und Smith (2004). 10 Eine Entfaltung der geistesgeschichtlichen Entwicklung eines Ideals wissenschaftlicher und ethischer Selbstbeherrschung und einer entsprechenden »desengagierten Vernunft« bietet Taylor. Die Wendung zum Subjekt, die der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes attestiert wird, geht demnach mit einer Selbstbestimmung einher, die, sich vorrangig von ihrer erkenntnistheoretischen Motivation her legitimierend, einer gewissen präferierten Kultur abendländischer Selbstwahrnehmung Kontur gegeben hat: der rationalen Selbstbeherrschung. Taylors Historiographie der »Verinnerlichung« verfolgt das abendländische Thema der Selbstbeherrschung von der Vorherrschaft der Vernunft als Anschauung kosmischer Ordnung bei Platon, über die Selbstbesinnung Descartes zu der Locke’schen Vorstellung eines zu radikalem Desengagement fähigen Subjekts, das vermöge dieser Distanzierungsleistung eine umfassende, instrumentelle Kontrollfunktion auszuüben imstande ist. Mit dieser aus dem Geiste radikaler Subjektivität entstandenen Selbstobjektivierung geht ein Menschenbild einher, und hier sieht Taylor sicher zu Recht eine »der großen Paradoxien der neuzeitlichen Philosophie«, in dem die letzten Reste von Subjektivität der naturwissenschaftlichen Sicht aus der Perspektive der dritten Person gewichen sind. Vgl. Taylor (1994), 310–319. 11 Es ist weder das Anliegen dieser Arbeit, dem stillen Zeugen einen Platz im »Cartesischen Theater« zu sichern, noch mit ihm den Geist aus der Maschine zu vertreiben. Die phänomenologische Fragerichtung erlaubt, sich der kategorialen Verlegenheit, etwas Zutreffendes über das Körper-Geist-Problem sagen zu wollen, zu enthalten. Etwaige ontologische Verpflichtungen der hier behandelten Denker werden aber da herauszustellen sein, wo sie Gang und Explikation entsprechender Selbsterfahrung betreffen. 9

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Einleitung

zu gewinnen, nicht zu erzeugen gilt. Sie entgleitet den phänomenologischen Reflexionen stets dort, wo sie nicht berücksichtigen, dass sich philosophische Selbsterfahrung im Allgemeinen und phänomenologische Selbsterfahrung im Besonderen nicht in vorsätzlicher Distanz entfalten kann. Da schon Selbsterfahrung unter phänomenologischer Epoché die Ordnung der natürlichen Einstellung brüchig werden lässt, muss man berücksichtigen, dass eine Ausweitung ihres Zugriffs auf das basale Selbstverständnis personaler Wirklichkeit die prinzipiell nicht antizipierbare Anstrengung intimer Wandlung evoziert und ihre gemeinsame Kultivierung einfordert. Für die Philosophie des Advaita-Vedānta ist es der zentrale Begriff des Zeugen (sākṣin), der in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit verdient. Versuche, diesen Begriff etwa mit der Konzeption des uninteressierten Zuschauers Husserls oder mit Sartres Vorstellung eines transparenten Bewusstseins in Verbindung zu bringen, beschränken sich bisher auf den Aufweis der Möglichkeiten und Grenzen begrifflicher Äquivalenz. (Vgl. Gupta 1992, Chartterjee 1982) Die vorliegende Arbeit ist hingegen nicht auf einen äußeren Vergleich hin angelegt, fragt also nicht nach möglichen begrifflichen Äquivalenzen. Vielmehr wird die in entschiedener Selbsterfahrung sich aufdrängende Grenze reflexiven und personalen Selbstbezugs in verschiedenen theoretischen Facetten so zu fassen sein, dass sie auf eine Dimension verweist, für die ich den Ausdruck impersonale Subjektivität 12 verwende. Zwar wird sich in den drei Phänomenologien, deren Erörterung im ersten Teil der vorliegenden Arbeit zu unternehmen ist, beiläufig nicht nur der Begriff, sondern im Falle Sartres und Merleau-Pontys der Ausdruck eines »Zeugen« nachweisen lassen und die antisubstanzialistischen Bemühungen, die die drei Philosophien in unterschiedlicher Gewichtung kennzeichnen, geben daUnter dem »Personalen« kann mit Husserl und mit der Vorläufigkeit einleitender Bestimmung eine »vorstellende, fühlende, bewertende, strebende, handelnde« Subjektivität verstanden werden, die in diesen »personalen Akten in Beziehung zu etwas« (Hua IV, 185) steht. Es muss hier nicht entschieden werden, ob und in welchem Maße eine entsprechende psychosoziale Struktur, mithin eine Persönlichkeit, oder ein Person-Sein im engeren Sinne, d. h. eine entsprechende Subjektivität unter dem Gesichtspunkt ihrer Vernunftbegabung und individuellen Autonomie verhandelt wird. »Impersonale Subjektivität« soll zunächst nur zum Ausdruck bringen, dass es sich um eine genuine Erfahrungsdimension, nicht um einen abstrakt zu erörternden Bereich vorbewussten Daseins handelt. In diesem Sinne ist »Subjektivität« eine Kategorie des Erlebens und zeigt nicht die Frage nach einem »Subjekt« an. Siehe auch den Interkulturellen Horizont dieser Arbeit. Kapitel 0.3

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Einleitung

bei Gelegenheit, für ein differenziertes Verständnis eines Zeugenbewusstseins zu sensibilisieren. Die Vorstellung einer der reflexiv strukturierten und personal engagierten Subjektivität gegenüber ursprünglichen Dimension von Bewusstsein, die der Begriff des Zeugen evoziert, führt aber allzu leicht in die theoretische Engführung, bei dieser Dimension handle es sich um theoretische Abstraktion oder unzulässige Hypostasierung eines uneinnehmbaren view from nowhere. Dieser Ansicht kann nicht durch Konfrontation, sondern nur durch fortschreitende Freilegung von theoretischen Inkonsistenzen begegnet werden, die daraus entstehen, dass eine impersonale Dimension in der phänomenologischen Selbsterfahrung angenommen und ausgedrückt, aber nicht theoretisch anerkannt wird. Im Folgenden kann es somit nicht genügen, die expliziten theoretischen Entwürfe so darzustellen, dass sie als mögliche Lösung für überkommene erkenntnistheoretische Probleme wie etwa der reflexionstheoretisch orientierten Vorstellung von Selbstbewusstsein zur Geltung kommen. Philosophische Architektur und methodische Ordnung der entsprechenden Positionen werden in solchem Umfang zu berücksichtigen sein, wie sie Einfluss auf den theoretischen Status eines phänomenologischen Faktums haben, das sich nachdrücklich einer gegenstandsorientierten Form der Erkenntnis entzieht. Da dieses Faktum nur an den Rändern phänomenologischer Erörterungen auffällig und letztlich ärgerlich wird, ist nicht nur auf das zu sehen, was die Philosophen sagen, sondern vor allem auf das, was sie tun.

0.1 Gang der Arbeit Aus diesem Grund wurde darauf verzichtet, die Arbeit vordergründig nach systematischen Gesichtspunkten zu organisieren. Die Schwelle der Theoriebildung, an der die Frage nach Selbstbewusstsein phänomenologisch prekär wird, weil sie auf den Null- und Quellpunkt gegenständlicher Orientierung verweist, wird sich nur entlang der Bewegung phänomenologischer Arbeit, nicht quer zu ihr identifizieren lassen. Die beiden Abschnitte des ersten Kapitels sind deshalb zwei zentralen Punkten der reifen Transzendentalphilosophie Edmund Husserls gewidmet, an denen sich die phänomenologische Problemsphäre von Subjektivität und Selbstbewusstsein als solche abzeichnen lässt. 24 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Gang der Arbeit

Im ersten Abschnitt wird die »Paradoxie der Subjektivität«, mit der sich Husserl nach seiner transzendentalen Wende konfrontiert sieht, zum Ausgangspunkt genommen, um einerseits sein Verständnis der Reichweite phänomenologischer Methode und anderseits den Weg zur Freilegung des phänomenologischen Datums des Ur-Ichs zu beleuchten. Eine Diskussion der entsprechenden Vorstellungen Eugen Finks wird es hiernach erlauben, die durch den Aufweis urichlichen Erlebens angezeigte Problematik sowohl hinsichtlich phänomenologischer Methodologie als auch hinsichtlich der Frage nach dem Begriff eines phänomenologischen Absoluten zu vertiefen und zugleich ein Desiderat des Husserl’schen Erfahrungsbegriffs aufzuweisen. Der zweite Abschnitt wird Husserls frühe Analysen zum Zeitbewusstsein zum Anlass nehmen, in die Problematik vorreflexiven Selbstbewusstseins einzuführen. Der im ersten Kapitel skizzierte Begriff des Ur-Ichs wird hier als lebendige Gegenwart wieder begegnen und Gelegenheit geben, eine Kritik dieses Begriffes sowie Husserls Haltung zu Begriff und Methode der Reflexion zu diskutieren. Während die Kritik am Begriff lebendiger Gegenwart nicht zu seiner Aufgabe, sondern vielmehr seiner Schärfung führt, wird zu verfolgen sein, dass der Phänomenologie Husserls das Phänomen lebendiger Gegenwart und die impersonale Subjektivität, die sich hier zu erkennen gibt, zu einem Ärgernis werden müssen. Eine Variation und Vertiefung dieses Ärgernisses wird in den beiden Abschnitten des zweiten Kapitels an der frühen Philosophie Sartres entfaltet. In dem Maße, wie Sartres frühe phänomenologische Bewusstseinsphilosophie von einem Begriff unpersönlichen Bewusstseins geprägt ist, den er in der phänomenologischen Ontologie von Das Sein und das Nichts aufgibt, lässt sich ein konzeptueller Raum abstecken, in dem einerseits das Verhältnis des personalen Egos zum unpersönlichen Bewusstsein, anderseits der Begriff eines präreflexiven Cogito und der entsprechende Begriff von Selbstbewusstsein erörtern lässt. Das dritte Kapitel widmet sich der Leibphänomenologie Merleau-Pontys und der dort entwickelten Kritik intellektualistischer Interpretationen bewusstseinsphilosophisch orientierter Phänomenologie. Die dabei entfaltete Absage an den Primat gegenständlicher Erkenntnis führt ihn zu einer Neubestimmung des cartesianischen Cogito und eines entsprechenden Begriffs von Subjektivität. Dabei stößt er zwar auf eine Dimension von Subjektivität, die er mit den 25 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Einleitung

Begriffen eines stillschweigenden Cogito und eines notwendigen Zeugen anzeigen kann. Ihre impersonale Implikation bleibt innerhalb seines phänomenologischen Horizontes aber ebenfalls unterbestimmt. Hier versagt sich die vorliegende Arbeit zunächst die Diskussion um den Begriff des Zeugenbewusstseins in der vedāntischen Tradition. Da ein Vorverständnis historischer und systematischer Grundzüge dieser Philosophie nicht vorausgesetzt werden kann, ist zunächst eine entsprechende Orientierung anzubieten. Im ersten Abschnitt des vierten Kapitels werden dazu einige wirkungsgeschichtliche Hintergründe des Advaita-Vedānta diskutiert und die Philosophie Śaṅkaras vor allem hinsichtlich ihrer methodischen Ausrichtung und ihrer Auffassung von Selbst und Selbstbewusstsein in einem ersten Anlauf entwickelt. Im Anschluss ist eine allgemeine methodische Orientierung nachzuholen, die diesen ersten Anlauf ihrerseits voraussetzt und deshalb nicht Gegenstand der einleitenden Erwägungen ist. Der zweite Abschnitt widmet sich abschließend Elementen einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im AdvaitaVedānta. Im Horizont ihrer erkenntnistheoretischen und phänomenologischen Grundzüge wird dabei einerseits der systematische und methodische Begriff von Selbstbewusstsein und eines entsprechenden Zeugenbewusstseins, andererseits das Verhältnis zwischen personaler und impersonaler Subjektivität zu entfalten sein.

0.2 Phänomenologischer Horizont Es wäre vergeblich, phänomenologisches Philosophieren von einem bestimmten Gegenstandsbereich oder einer Menge vorgegebener methodischer Verfahren her bestimmen zu wollen. Auf der einen Seite wird man im Kosmos solcher Denker, die ihr Philosophieren als phänomenologisch verstehen, kaum einen gemeinsamen methodischen Nenner finden, wenn das hieße, ein bestimmtes Denkverfahren anzugeben, mit dem man sich einer philosophischen Aufgabe widmet. Auf der anderen Seite findet außerhalb dieses Kosmos die auf einen ersten Blick verständliche Ansicht Verbreitung, dass die »Phänomenologie keine einzelne etablierte Methode gefunden [hat], die jedermann anwenden und bestätigen könnte«. (Dennett 1994, 66) Daher trifft Scheler den richtigen Ton, wenn er Phänomenologie bestimmt als das, was »weder der Name für eine neue Wissenschaft oder ein Ersatzwort für Philosophie, sondern der Name für eine Einstellung 26 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Phänomenologischer Horizont

des geistigen Schauens ist, in der man etwas zu er-schauen und zu erleben bekommt, was ohne sie verborgen geblieben wäre«. (Scheler 1986, 380) Der Umstand, dass der größte Teil des Husserl’schen Œuvre, das zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde, Einführungen in eine neue Weise des Philosophierens waren, tragen dieser Einschätzung genauso Rechnung wie seine ungebrochene Emphase auf den lebendigen Mitvollzug seiner transzendentalen Verfahren. Dass ihm so wenige Philosophen auf diesem Weg folgten, mag, wie Scheler meint, seinen Grund darin haben, dass er die »Geisteshaltung des Phänomenologen in seinen Untersuchungen trefflich auszuüben wußte, [dass] deren Beschreibung und Theorie ihm aber […] völlig mißlang«. (Scheler 1926, 281) 13 In einem Brief an Eduard Spranger bringt Husserl diesen Punkt, ein wenig vorsichtiger, selbst ins Gespräch. »Beurteilen Sie die Phänomenologie nicht zu sehr nach Reflexionen des Phänomenologen über die Phänomenologie, auch nicht nach den meinen vieljährig bedachten. Es ist zweierlei, tun und den Sinn seines Tuns richtig bestimmen. Sehen Sie auf das, was da getan wird […].« (Hua Dok III, Band 6, 419)

Sieht man auf das, was da getan wird, lassen sich cum grano salis zwei Momente methodologischer Entwicklung ausmachen: In einem ersten Moment, das sich in Husserls Werk des Durchbruchs, den Ideen I, einen ersten Ausdruck verschafft, wird die phänomenologische Epoché in einem urteilstheoretischen Horizont entwickelt. Einklammerung und Außer-Geltung-Setzen der natürlichen Einstellung und des naiven Seinsglauben an eine faktische, äußere Welt und unseres Standes in ihr sind hier im Sinne einer umfassenden Urteilsenthaltung zu verstehen. Es ist dieses Moment, das Scheler dazu führt, die Husserl’sche Reduktion als ein bloß »logisches Verfahren« zurückzuweisen, das durch eine »Techné der Reduktion« zu ersetzen sei, d. h. »durch ein Verfahren inneren Handelns, durch das gewisse Funktionen, deren Vollzug in der natürlichen Weltanschauung stets erfolgt, faktisch außer Kraft gesetzt werden«. (Scheler 1995, 207) In einem zweiten Moment kommt aber auch bei Husserl das Ansichhalten der Epoché als besondere Form phänomenologischer Erfahrung zur Geltung. So, wie in natürlicher Einstellung Welt und Umwelt als fraglos seiend erfahren werden, so muss, wie Husserl in der Krisis 13

Zitiert nach Leonardy (1976), 48.

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Einleitung

schreibt, »auch der Blick, den die Epoché frei macht, ein in seiner Weise erfahrender Blick sein«. (Hua VI, 156) Dass die Phänomenologie, schon in ihrer frühen transzendentalen Ausrichtung, eine neue Art des erfahrenden Blicks erfordert, zeigt ein kurzer Vergleich mit dem formalen Transzendentalismus Kants. Formaler und radikaler Transzendentalismus Auch wenn es Kant für möglich hält, dass die beiden Stämme menschlicher Erkenntnis »vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen« (KdrV, B 29), könne es aus Gründen, die er in der transzendentalen Dialektik ausbreitet, nicht Aufgabe seiner Philosophie sein, diese Wurzel freizulegen. Die Phänomenologie hingegen legt seit den späten Schriften Husserls ein mitunter radikaleres Erkenntnisinteresse nahe. Wenn Husserl sein transzendentales Programm als »die Rückfrage nach der letzten Quelle aller Erkenntnisbildungen« kennzeichnet (Hua VI, 100), dann lässt sich diese Fragerichtung nicht als Suche nach den formalen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis bestimmen. Auch mit der Frage nach »unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll« (KdrV, B 25) wäre schon Husserls Programm nicht mehr hinreichend beschrieben, wenn man unter dieser Transzendentalphilosophie, wie Kant es tut, ein kohärentes System von Begriffen versteht. Husserls methodische Emphase ist anders gelagert als die kantische. Das transzendentale Programm Husserls kommt überhaupt erst dann in Gang, wenn die »stets verborgene Dimension des ›Transzendentalen‹ wirklich zu Gesicht, zu d i r e k t e r E r f a h r u n g kommt«. (Hua VI, 104) Unter dieser Voraussetzung muss auch die Frage nach Selbstbewusstsein einen neuen Sinn bekommen. Mit Kant sind sich die meisten Philosophen aus guten Gründen einig, »daß ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen könne, und daß das bestimmende Selbst (das Denken) von dem bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt) wie Erkenntnis vom Gegenstande unterschieden ist«. (KdrV, A 402) Wenn nun das Selbst hiernach als »bloßes Bewußtsein«, d. h. als »x« vorgestellt wird, »welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird«, bewegen wir uns in der Absicht, es zu erkennen, notwendigerweise in »einem beständigen Zirkel […], indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen, um irgendetwas von ihm zu urteilen«. (B 405) Diese »Unbequemlichkeit« ergibt 28 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Phänomenologischer Horizont

sich daraus, dass Bewusstsein nicht selbst eine Vorstellung ist, »die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine Form derselben überhaupt«. (Ebd.) So wird Selbstbewusstseins im formalen Transzendentalismus Kants zur »Vorstellung desjenigen, was die Bedingung aller Einheit, und doch selbst unbedingt ist«. (A 402) Über die bedingungslose Einheit von Bewusstsein, die apperzeptive Syntheseleistung des »Ich denke«, lässt sich hiernach nicht viel mehr sagen, als das »nichts natürlicher und verführerischer [ist], als der Schein, die Einheit in der Synthesis der Gedanken für eine wahrgenommene Einheit im Subjekte dieser Gedanken zu halten«. (Ebd.) Ein entscheidender Unterschied in den transzendentalen Projekten Kants und Husserls ist nun, dass Letzterer sich ein wenig mehr verführen lässt, um die Funktionsweisen von Synthesis und Einheitsstiftung des Bewusstseinslebens und die eigentümliche Form von Bewusstsein nicht nur zu hinterfragen, sondern vor allem selbst zur Erfahrung zu bringen. In diesem Zusammenhang etabliert sich in den zwanziger Jahren die in einem Kantischen Horizont widersinnig erscheinende Vorstellung transzendentaler Selbsterfahrung. 14 Von einer formalen Transzendentalität kann somit eine radikale Transzendentalität unterschieden werden. Ich werde darunter ein philosophisches Unternehmen verstehen, in dem ein Begriff transzendentaler Erfahrung nicht widersinnig ist. Als Untersuchungsbereich transzendentaler Selbsterfahrung zeigt sich für Husserl dann nicht mehr eine formale oder substanzielle Einheit transzendentaler Subjektivität, sondern ein »Feld der transzendentalen Selbsterfahrung«. (Hua IX, 294) So wird die Phänomenologie für Husserl »eine deskriptive, das Feld des transzendental reinen Bewusstseins in der puren Intuition durchforschende Disziplin«. (Hua III, 127) Bei Husserl bringt der Begriff des Feldes dabei

Für die Kantische Philosophie ergibt sich der Widersinn offenbar »aus der Tatsache, daß die Bedingung der Möglichkeit jeder Erfahrung nicht selbst wieder Gegenstand einer durch sie ermöglichten Erfahrung sein kann«. Trappe (1995), 179. Für eine systematische Entfaltung des Begriffs transzendentaler Erfahrung bei Husserl siehe Trappe (1996). Kants Verständnis des Transzendentalen ist freilich reicher und feiner, als es diese Skizze nahelegt. Ob in der kantischen Philosophie ein Begriff transzendentaler Erfahrung möglich ist, kann hier nicht entschieden werden. Auch Kant stößt jedenfalls auf eine »ursprüngliche Apperzeption«, ein Selbstbewusstsein, »was, indem es die Vorstellung I c h d e n k e hervorbringt, die alle anderen muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann«. (KrV, B 132) 14

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Einleitung

bereits verhalten zum Ausdruck, was ihn auch für Sartre und Merleau-Ponty attraktiv macht. Sobald Bewusstsein im weitesten Sinne als topologische Ordnung aufgefasst wird, erscheint es schon für Husserl »als ein Feld intentionaler Vollzüge; und die Reflexion findet ihren Halte- und Ankerpunkt nicht in einem invarianten Gegenstand (sei es ›die Welt‹ oder ›das Ich‹), sondern in einer Formel, derjenigen der Intentionaliät«. (Bermes 2006, 21) Diese Entsubstanzialisierung von Bewusstsein und eine entsprechende Dynamisierung seiner intentionalen Pole wird besonders in den Analysen zum Zeitbewusstsein auffällig und fruchtbar. Von dem methodischen Feldbegriff, der sich in der Feldforschung eines intentional verfassten, konstituierenden Bewusstseins ausdrückt, kann daher ein Feldbegriff unterschieden werden, der dem radikalen Zug dieses Transzendentalismus, seiner Suche nach Quelle und Wurzel, noch deutlicher Ausdruck verleiht. Da, wo die Analysen der Zeitlichkeit von Bewusstsein in den Problemkreis des Selbstbewusstseins führen, wird sich bei Husserl ein Begriff von »Feld« und »Gegenwart« auftun, der auf eine Struktur von Bewusstsein verweist, die sich nur noch umständlich als »mein Urphänomen, mein Urfeld der ›Erfahrung‹« (Hua Mat. VIII, 10) bestimmen lässt. Hier ist die phänomenologische Fragerichtung nicht mehr vorrangig durch die Intentionalanalyse des Bewusstseins motiviert. Es gilt nun vielmehr, dem phänomenologischen Datum lebendiger Gegenwart gerecht zu werden, das die an den Begriffen der Intentionalität und Reflexion entwickelten methodischen Erörterungen prekär werden lässt. Auf den Wegen, Möglichkeiten und Grenzen phänomenologischer Annäherung an dieses Urfeld von Bewusstsein nachzuzeichnen, ergeben sich zwanglos Konvergenzen der hier behandelten Philosophien. Konvergenzen Der Feldbegriff, auch wenn er bei keinem der hier zu behandelnden Philosophen als streng systematischer Begriff vorkommt, verweist auf eine geteilte, bei Husserl gleichwohl noch schwach ausgeprägte Intuition phänomenologischer Arbeit. Der Rückgang auf die Phänomene im Wie ihres Gegebenseins gilt Husserl zumeist als ein Rückgang auf intentionale »Gegenständlichkeiten« und auch transzendentale Selbsterfahrung vollzieht sich nach Maßgabe reflexiver Leistung als Erkenntnis vom Gegenstande. Dieser Zug seines Philosophierens wird Husserl zwar, wie zu zeigen ist, ärgerlich, aber nicht wirklich fragwürdig. Die Schwächung einer statischen Vorstellung des inten30 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Phänomenologischer Horizont

tionalen Verhältnisses von Bewusstsein und Welt, die sich schon bei Husserl durch den Feldbegriff artikuliert, findet aber einen ausnehmend radikalen Widerhall in den fundamentalontologischen Intuitionen des frühen Heidegger. Aus ihnen erwächst letztlich die Aufgabe, zu zeigen, »wie die Intentionalität des ›Bewusstseins‹ in der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins gründet«. (SZ, 363, Anm.) Die Öffnung hin zu einer phänomenologischen Ontologie, einem entsprechenden Primat der Seins- vor den Gegebenheitsweisen, und vor allem zu Begriff und Phänomen des In-der-Welt-seins verbindet sich bei Sartre und Merleau-Ponty mit dem Festhalten an einer bewusstseinsphilosophisch orientierten Phänomenologie. Auch sie denken mehr oder weniger explizit einem bewusstseinsphänomenologischen Datum nach, dass eine Unmittelbarkeit des Welt- und Selbstbezuges anzeigt, die der alltäglichen und an gegenständlicher Erkenntnis ausgerichteten Orientierung der Einzelwissenschaften unauffällig und unzugänglich bleibt. Sartre versucht in diesem Zusammenhang Selbstbewusstsein nicht länger als bestimmte Form bewusster Erkenntnis, sondern als Seinsweise zu denken, die er als präreflexives Cogito bestimmt und mit Husserl und Heidegger als zeitliche Struktur zu entfalten sucht. Im Horizont der Bemühungen, eine Erneuerung der Idee des Subjektes aus einer Analyse der Zeitlichkeit zu gewinnen, gilt es auch Merleau-Ponty, eine Zeit »zur Auslegung zu bringen […], die nicht Gegenstand unseres Wissens, sondern eine Dimension unseres Seins ist«. (PhW, 472) Und auch das stillschweigende Cogito, als das sich die Selbstgegenwart von Bewusstsein an dieser Erneuerung abzeichnet, ist nicht ein besonderes Selbstwissen, sondern »gibt sich […] nur zu verstehen in den Grenzsituationen, in denen es bedroht ist«. (PhW, 460) Zunächst unbesehen der noch zu erörternden Kritik Sartres und Merleau-Pontys an den Auswüchsen einer transzendental-idealistischen Phänomenologie können auch diese beiden Denker als Philosophen eines im weitesten Sinne radikalen Transzendentalismus gelten. Beiden Denkern gilt phänomenologisches Philosophieren einerseits als eine besondere Weise bewussten Erlebens, andererseits verweisen sie gleichermaßen auf einen Bereich dieses Erlebens, den sie als transzendentales Feld ansprechen. Sartres frühes Philosophieren ist von der Überzeugung getragen, »daß die Phänomenologie eine Tatsachenwissenschaft [ist] und daß die von ihr gestellten Probleme Tatsachenprobleme sind […]. Die Probleme der Beziehung des Ich zum Bewußtsein sind 31 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Einleitung

also existenzielle Probleme« (TE, 42). 15 Und sie sind es schon insofern, als »unser psychisches und psychophysisches ICH ein transzendentes Objekt ist, das unter die ἐποχή fallen muß«. (TE, 43) Seine bewusstseinsphänomenologische Untersuchung Die Transzendenz des Ego erhebt vor dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses den Anspruch, eine phänomenologische Konzeption des Ego vorzulegen, die »die Befreiung des transzendentalen Feldes und gleichzeitig dessen Reinigung zu realisieren« (TE, 83) vermag. Das philosophische Selbstverständnis Merleau-Pontys, wie er es in der für diese Arbeit zentralen Schrift Die Phänomenologie der Wahrnehmung entfaltet, ist von dem Imperativ einer im Grunde ästhetischen Verfassung phänomenologischer Erfahrung geprägt. Auch hier führt diese Erfahrung zu der Konzeption eines transzendentalen Feldes, das seinen vollen Sinn in den Analysen zur Zeitlichkeit preisgibt und einen entsprechenden Begriff von Subjektivität ermöglicht. Dieses Feld bezeichnet bei ihm nicht mehr »die Gesamtheit konstitutiver Leistungen, kraft deren eine transparente, schattenlose und aller Undurchdringlichkeit entledigte Welt sich vor dem Blick eines unbeteiligten Zuschauers ausbreitete, sondern das zweideutige Leben, in dem der Ursprung der Transzendenzen geschieht«. (PhW, 417) Schon an diesen kurzen Ausführungen ist zu sehen, dass zwar sowohl Sartre als auch Merleau-Ponty Husserls reduktiven Rückgang auf eine transzendentale Subjektivität für eine eigentlich unzulässige Abstraktion halten. Beide Denker verzichten deshalb aber nicht auf den umfassenden Einstellungswechsel phänomenologischer Epoché. Wie Merleau-Ponty ganz richtig sieht, ist auch die Einsicht, dass eine phänomenologische Reduktion auf ein weltkonstituierendes Subjekt niemals vollständig sein kann, weil sie die lebensweltliche Quelle der Reduktion, ihr leibliches und zeitliches In-der-Welt-sein nicht einzuholen vermag, eine Einsicht, die erst unter Epoché gewonnen ist. So werden die in der Auseinandersetzung mit den Existenzialanalysen Heideggers entstandenen Intuitionen in den Frühschriften Sartres und Merleau-Pontys nicht als eine Abkehr von der Wenn Sartre hier von »Tatsachenwissenschaft« spricht, so meint er freilich nicht, dass Phänomenologie einen Schritt zurück in den naiven Realismus der objektiven Wissenschaften tun soll, die Husserl stets als »Tatsachenwissenschaften« von der (eidetischen) Phänomenologie abgehoben hat. Er hat hier vielmehr den Umstand vor Augen, dass phänomenologisches Philosophieren den Philosophen angeht und eine entsprechende Thematisierung von Selbstbewusstsein darum eine existenzielle Angelegenheit sein muss.

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Phänomenologischer Horizont

bewusstseinsphänomenologischen Fragerichtung, sondern eher als ihre Vertiefung entwickelt. 16 Der radikale Zug der Phänomenologie, d. h. ihr Streben zur Quelle aller Erkenntnisbildungen, wird von ihnen also durchaus als progressiver, nicht regressiver Zug anerkannt. Die Annahmen über die Verfassung dieser Quelle sind aber nicht länger an der Vorstellung eines konstituierenden transzendentalen Subjektes orientiert, sondern dem Gedanken eines ursprünglichen In-der-Welt-seins verpflichtet. Dieses In-der-Welt-sein wird allerdings nicht wie in Sein und Zeit als grundlegende Seinsverfassung des Daseins bedacht (vgl. SZ, 53), sondern bei Merleau-Ponty zugleich als »unreflektiertes Bewußtseinsleben« (PhW, 13) verstanden. Und so wird die anfängliche Schwierigkeit einer Bewusstseinsphänomenologie, »die Gegenwart meiner selbst bei mir selbst, das Faktum meines Bewusstseins wiederzufinden« (PhW, 12), nicht wie bei Husserl zu einem Unterfangen, um dadurch die überzeitlichen Konstitutionsgesetze fortschreitend zu explizieren, sondern um »von neuem zu lernen, die Welt zu sehen«. (PhW, XVI) Husserls Primat der Selbsterfahrung, Sartres Überzeugung, Phänomenologie habe es als Tatsachenwissenschaft mit existenziellen Problemen zu tun, und das letztlich ästhetische Sensibilisierungsprojekt Merleau-Pontys verweisen auf ein Merkmal phänomenologischer Arbeit, das sich auch für den interkulturellen Horizont dieser Arbeit als zentral erweist. Die Grenzdimensionen von Selbstbewusstsein, lebendige Gegenwart bei Husserl, Sartres präreflexives Cogito und das stillschweigende Cogito bei Merleau-Ponty, denen in dieser Arbeit nachzudenken ist und deren theoretischer Ort sich erst fortschreitend ergeben Den Einfluss von Sein und Zeit auf Sartre und Merleau-Ponty im Einzelnen zu ermitteln und nachzuzeichnen, würde eine eigene Arbeit erforderlich machen. So viel sie der Entwicklung einer phänomenologischen Ontologie und vor allem den Existenzialien von In-Sein und Welt verdanken, so sehr scheinen ihre Frühschriften das entsprechende Hinterfragen der Husserl’schen Phänomenologie auch für ein Überstürzen zu halten. Sowohl Sartre als auch Merleau-Ponty sehen sich in ihren hier maßgeblichen Arbeiten mit Husserl in einer epochal gewendeten Bewusstseinphilosophie verbunden. Es wird im Folgenden deshalb davon abgesehen, die Seinsfrage und die zugehörige Radikalisierung phänomenologischer Reduktion zu entwickeln und für die hier zu entfaltende Fragestellung fruchtbar zu machen. Erste Versuche, nicht nur die bewusstseinsphilosophische, sondern auch die ontologisch orientierte Phänomenologie Heideggers mit Śaṅkaras Vedānta zu konfrontieren, finden sich in Taber (1983), Grimes (2007) und Vallooran (2013).

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kann, sind in besonderer Weise von dem Selbstverständnis phänomenologischer Arbeit betroffen. Was diese Dimensionen besagen, lässt sich nicht von der Weise trennen, wie sie erfahren werden. Das ist nicht nur Ausdruck phänomenologischen Selbstverständnisses überhaupt; im Horizont der phänomenologischen Frage nach Selbstbewusstsein gewinnt dieses Prinzip an Gewicht. In diesem Horizont kann es nicht genügen, etwa in sicherer transzendentaler Distanz dem Korrelationsapriori zwischen intentionaler Gegenständlichkeit und dem Wie ihres Gegebenseins nachzugehen. Da, wo sich mein phänomenologischer Blick mit der Eigentümlichkeit der vorreflexiven Struktur seines eigenen Vollzuges konfrontiert sieht, verlangt diese Konfrontation, dass sich die Weise ändert, in der ich mich bewusst selbst erfahre. Die kantische Unbequemlichkeit, dass ich das, was ich voraussetzen muss, um Gegenständliches erkennen zu können, nicht selbst werde gegenständlich erkennen können, wird zu einem Ärgernis. Das Ärgernis, das mit diesen Phänomenen in das phänomenologische Philosophieren einzieht, ergibt sich aus der schon theoretischen Schwierigkeit, den Wandel zu antizipieren, geschweige denn anzuerkennen, den eine erfahrungsgebundene Philosophie bei der Frage nach Selbst und Selbstbewusstsein mitunter einfordert. Aus vor-phänomenologischer Perspektive können die Phänomene, auf die diese Ausdrücke verweisen, nur als Erlebnisgrenze maßgeblich werden. 17 Die Wende aus der natürlichen Einstellung, die die Epoché anzeigt, soll hingegen ermöglichen, das zur Erfahrung zu bringen, was der natürliche Lebensvollzug zunächst fraglos lassen muss. So wird im Verlauf der Arbeit zu zeigen sein, dass die Epoché nicht nur eine theoretische, sondern auch eine existenzielle Anstrengung erfordert. Wenn die Sphäre von Selbstbewusstsein als solche phänomenologisch fruchtbar werden soll, müssen wir nicht nur von neuem lernen, die Welt, sondern uns selbst zu sehen. Auch Śaṅkara will uns ermutigen, von neuem und anders sehen Die nicht-objektivierbare Faktizität von Selbstbewusstsein wurde mit Blick auf die phänomenologischen Tendenzen des klassischen Empirismus und der indischen Philosophie von Mall unter dem Begriff der »Seele« in Anspruch genommen und als »Erlebnisgrenze« im Gegensatz zur »Denkgrenze« bestimmt. Vgl. Mall (1984), 239– 242. Seit Kant, spätestens wohl seit Wittgensteins Tractatus ist die westliche Philosophie sensibel für den Umstand, dass man nicht beide Seiten der Grenze des Denkens denken kann, weil man etwas zu denken hätte, das sich nicht denken lässt. Grenzen des Erlebens sind, zumal im Kontext bewusstseinsphänomenologischer Forschung, von anderer Art: Ihre Identifikation versetzt sie bereits in Bewegung.

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Phänomenologischer Horizont

zu lernen. Der Anspruch, der mit dem lebendigen Nachvollzug philosophischer Differenzierungen und einer entsprechenden Sensibilisierung verbunden ist, beschränkt sich auch hier nicht auf die Analyse der Strukturen von Bewusstsein und ihrer Rolle im Prozess weltlichen Erkennens. Dieser Anspruch löst sich erst im Vollzug einer Selbsterfahrung ein, die sich als eine näher zu bestimmende Selbstenttäuschung artikuliert. Die erkenntnistheoretische Unbequemlichkeit Kants, die dem phänomenologischen Philosophieren Ärgernis wird, ist im Horizont des Advaita-Vedānta anerkannte Voraussetzung philosophischer Praxis. In der Spannung zwischen der selbstverständlichen Nähe und gleichzeitigen Unverfügbarkeit lebendiger Subjektität dokumentiert sich einerseits der »vorphilosophische« Zustand von Bewusstsein (caitanya). Dieser besteht darin, dass sich Bewusstsein über seine eigentliche Verfassung, selbstleuchtendes (svayaṃprakāśa) und daher selbsterwiesenes (svayaṃsiddhā) Bewusstsein zu sein, derart in einem Unwissen (avidyā) befindet, dass es, sich selbst objektivierend, nur als autonomes Selbst (jivātman), als Person, zu fassen bekommt. Andererseits ist die gegenständliche Unverfügbarkeit des Selbst, die sich in philosophischer Reflexion preisgibt, Anhaltspunkt für das Streben nach Aufhebung dieser Selbsttäuschung. Dazu bedarf es der Kultivierung eines besonderen Unterscheidungsvermögens (viveka) und des Vollzuges entschiedener Reduktion auf das höchste Selbst (paramātman). Ein Vollzug, der sich in einer Praxis fortschreitender Negation (neti neti) als Freilegung dieses Selbst als ein Zeugenbewusstsein (sākṣicaitanya) bekundet. Auch für ātman und seine methodische Konkretion als ein allem inneren und äußeren Welttreiben beiwohnender Zeuge (sākṣin) muss dementsprechend gelten, dass sein philosophischer Ausweis nicht von der Erfahrung zu trennen ist, in der er sich selbst offenkundig wird. Den entsprechenden Erörterungen über die phänomenologische Qualität, die sich in dieser Philosophie Ausdruck verschafft, soll hier jedoch nicht vorgegriffen werden. Es bietet sich an, diese erst im Anschluss an eine erste historisch-systematische Orientierung im Advaita-Vedānta zu entfalten. Zwar ließen sich auch Probleme der Zeitlichkeit von Śaṅkara her erörtern 18 Das Phänomen der Zeit ist im Advaita-Vedānta an die epistemologische und soteriologische Kategorie des Unwissens (avidyā) bzw. die kosmologische Kategorie der Täuschung (māyā) zurückgebunden und kommt bei Śaṅkara vor allem als Wirkung (kārya) der kosmischen Täuschung zum Tragen, die die bewegte Welt der Erscheinun-

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und es wird sich zeigen, dass die Feldqualität von Bewusstsein für das phänomenologische Verständnis des vedāntischen Begriffs eines Zeugenbewusstseins alles andere als unerheblich ist. Im Zentrum dieser Arbeit steht aber der Problemhorizont von Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung und an ihm werden auch die phänomenologischen Elemente der Philosophie Śaṅkaras zu entwickeln sein.

0.3 Interkultureller Horizont Methodisches Wie schon der phänomenologische, so lässt sich auch der interkulturelle Horizont dieser Arbeit nicht in Hinsicht auf eine fest umrissene thematische Ausrichtung oder ein besonderes methodisches Verfahren bestimmen. Hier wie dort ist die Methode nicht unabhängig von ihrem Gegenstandsbereich bestimmbar und dieser ist erst fortschreitend freizulegen. Dieser Arbeit liegt daher ein Verständnis interkultureller Philosophie zugrunde, die sich der methodischen Sensibilität einer transformativen Phänomenologie verbunden fühlt, wie sie von Rolf Elberfeld im Ausgang phänomenologischer und textpragmatischer Analysen entwickelt wird. Die interkulturelle Perspektive dieses Philosophierens zielt nicht auf einen äußerlichen Vergleich philosophischer Traditionen, sondern auf einen »Durchgang durch die Sache selbst« (Elberfeld 2004, 383). Ziel eines solchen Philosophierens kann es demnach nicht sein, nach möglicher begrifflicher Äquivalenz philosophischer Termini zu fragen – ein Unterfangen, dessen strukturelle Möglichkeit schon mit Blick auf die notwendige Unbestimmtheit von Übersetzung zweifelhaft ist 19 –, sondern Phänomene aus den spezifischen kulturellen und philosophischen Bewegung und

gen bedingt. Vgl. Hiriyanna (1992). In ontologischer Perspektive werden das wahre Sein (brahman) und damit auch das wahre Selbst (ātman) dementsprechend als zeitlos (akala) begriffen. Für eine Diskussion der naheliegenden Versuche ontischer Hypostase siehe Mahadevan (1992), ferner Balselv (1983), 64–72. Eine phänomenologische Betrachtung wird demgegenüber bei Śaṅkaras Begriff »immerwährender Gegenwart« (sarvadā vartamāna, vgl. BSBh, II.3.7; 389) anzusetzen haben. 19 Vgl. Quine (1981). Auch Quines Philosophieren impliziert dabei keinen radikalen Begriffs- oder Kulturrelativsmus, der in philosophischer Apathie mündet, sondern einen Holismus, der die Kultivierung philosophischer Empathie einfordert. Siehe dazu Cappai (2000).

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Interkultureller Horizont

Architekturen heraus zunächst fragwürdig werden zu lassen. 20 Die Urübersetzung mag zu Hause beginnen, 21 nicht aber das fruchtbare Befremden, das sie motiviert. »Von jeder Tradition aus kann die Betrachtung begonnen werden. Im Heranziehen und Durchwandern der verschiedenen geschichtlichen und interkulturellen Perspektiven kann sich ein Profil ergeben, das beispielsweise Phänomene wie ›Zeit‹, ›Sprache‹, ›Menschsein‹, ›gutes Leben‹, ›Sinnlichkeit‹, ›Kunst‹ usw. in interkultureller Perspektive auf innovative Weise erschließt, ohne sie damit abschließend behandeln zu können. Es geht nicht nur um ein kulturspezifisches Verstehen, sondern um die Entfaltung gegenwartsbezogener Perspektiven und Fragestellungen im Horizont verschiedener Kulturen im Sinne eines Philosophierens als Praxis und als Vollzug von Interkulturalität.« (Elberfeld 2007, 29)

Das bedeutet nicht, dass die entschiedenen Bemühungen gegen das eurozentristische Selbstverständnis abendländischer Philosophie, wonach die Emanzipation des Denkens von einem durch Religion und Mythos geprägten Weltbild ein singuläres Ereignis war, als dessen historischer Ort das antike Griechenland zu gelten habe, obsolet geworden seien. 22 Nur darf sich das Projekt interkulturellen Philosophierens nicht in den programmatischen Gesten solcher Bemühungen erschöpfen, sondern muss sich in fruchtbaren Einzelunter20 So gewendet versteht sich diese Arbeit durchaus als komperativ im Sinne einer techne maieutike, wie sie der Indologe Stanislaw Schayer vor Augen hat. »[Den] Hauptwert [der indischen Philosophie] für unsere Gegenwart erblicke ich darin, dass das Studium der indischen Gedanken zu einer ›techne maieutike‹ werden kann, dass es uns dazu zwingt, die überkommenden Anschauungen einer allseitigen Revision zu unterziehen, die Einseitigkeiten der abendländischen Tradition auf dem Gebiet des Erkennens aufzudecken, und endlich: dass es uns vor neue Probleme stellt und das geistige Leben des Abendlandes um neue Möglichkeiten bereichert.« Schayer, Indische Philosophie als Problem der Gegenwart, zitiert nach Elberfeld (2017), 180. Zu Begriff und Geschichte komperativer Philosophie siehe Elberfeld (2017), 150–182, für methodische Erwägungen Weber (2013). Zuletzt mögen sich die Bemühungen um eine interkulturelle bzw. komperative Philosophie, wie Chakrabarti/Weber (2017) in ihrem Plädoyer für eine Fusion Philosophy fordern, dann erfüllen, wenn die Epitheta »interkulturell«, »komperativ« usw. als das gesehen werden, was sie innerhalb eines weltoffenen, kreativen Philosophierens nur sein können – redundant. Für eine Kritik der stark analytisch ausgerichteten Fusion Philosophy Mark Sederits’, die sie zu einer komperativen Philosophie mit »methodological naïveté« erklärt, siehe Levine (2016). 21 Vgl. Quine (1975), 67. 22 Für eine Reihe verflechtungsgeschichtlicher Zusammenhänge, die dieses Bild entscheidend relativieren, siehe Elberfeld (2017), 21–128.

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Einleitung

suchungen und einer Haltung realisieren, welche die Fremde in sich und sich in der Fremde erträgt, eine Haltung, in der kultivierte Selbstentfremdung und Fremdfindung einander bedingen. 23 Der Ansatz transformativer Phänomenologie für eine interkulturelle Auseinandersetzung entbindet auch nicht von der philologischen Verantwortung gegenüber den fremdsprachigen Texten. Im Gegenteil wird der sprachlichen Gestalt der Texte mit Rücksicht auf die besonderen Formen philosophischer Schriftstellerei Rechnung getragen. 24 Dadurch kann dem philologischen, nicht selten hegemonialen Pathos der »richtigen« Auslegung fremdsprachiger Texte der lebendige Umgang mit ihnen und den dort entfalteten Phänomenen entgegengehalten werden. Dementsprechend wird der philologisch-hermeneutische Prozess zu einem ästhetischen hin geöffnet, der das gestalterische und transformative Moment phänomenologischer Arbeit zu berücksichtigen erlaubt. Der Grundmodus phänomenologischer Arbeit ist demnach einerseits, wie schon dargelegt, weniger erklärend als (auf) zeigend. Anderseits öffnet sich solches Philosophieren für ein unabschließbares Gespräch, in dem nicht nur Stimmen aus anderen Kulturkreisen ihren Ort haben, sondern in dem das Gespräch selbst als Übungsraum für die Entdeckung, Gestaltung und Realisierung von Wirklichkeitsvollzügen 25 kultiviert werden kann. So liegt es in Eine mögliche Voraussetzung entsprechender phänomenologischer Propädeutik wurde hier anzudeuten versucht: Lehmann (2019). Darüber hinaus ist nicht nur die theoretische Fundierung für ein solches kulturphilosophisches Engagement bereits weit gediehen – einen Überblick über einige grundlagentheoretische Entwürfe interkulturellen Philosophierens gibt Yousefi/Mall (2005). Dieses Philosophieren steht keineswegs nur im Zeichen der Toleranz wechselseitiger kultureller Vermittlung, sondern ist vielmehr systematische Herausforderung für ein überkommenes Philosophieverständnis geworden. Vgl. etwa aus indischer Perspektive Krishna (1955), Mohanty (1993), Radhakrishnan (1939) und für eine kritische Einordnung King (1999); aus japanischer Perspektive Nishida (1993), Nishitani (1982) und die vielfältigen Auseinandersetzungen der Kyōto-Schule in Ōhashi (2012) sowie die jüngsten Entwürfe einer Phänomenologie der Compasion in Ōhashi (2018); im afrikanischen Kontext siehe beispielsweise Oruka (1990); im anglophonen Raum Siderits (2003) sowie Thompson (2015), für den deutschsprachigen Raum z. B. Mall (1995), Stenger (2006) und Wirtz (2018). 24 Zum Begriff transformativer Phänomenologie im Hinblick auf eine Sprach(en)philosophie siehe Elberfeld (2013), 377–390. Grundelemente einer entsprechenden interkulturellen Textpragmatik finden sich in Elberfeld (2006). 25 »In der Vorgehensweise der ›transformativen Phänomenologie‹ ist die Analyse von Phänomenen nicht zentral ein Akt der Objektivierung, sondern selber eine Transformation meiner Wahrnehmung und Existenz und der Geschichte. Diese Transforma23

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Interkultureller Horizont

der Natur transformativer Phänomenologie, dass sie nicht angewendet werden kann, sondern sich ihrerseits je im »Durchgang durch die Sache selbst« zu exemplifizieren hat. Systematisches Auch wenn die Frage nach dem Verhältnis von Phänomenologie und Advaita-Vedānta im sechsten Kapitel erneut zu stellen sein wird, wenn ein erstes Verständnis des Advaita gewonnen ist, so ist für den systematischen Aspekt des interkulturellen Horizontes eine einleitende Perspektive anzugeben. Es ist dafür nicht erforderlich, einen »Stand der Forschung« zu entfalten. Dieser Ausdruck wäre in unserem Zusammenhang eher vorsichtige Hyperbel für einzelne Untersuchungen, die sich um Brückenschläge zwischen Phänomenologie und der indischen Tradition des Advaita-Vedānta bemühen. 26 Für den systematischen Aspekt des interkulturellen Horizontes dieser Arbeit ist vor allem die Monographie Bina Guptas von Bedeutung. In ihrem Buch The disinterested Witness. A Fragment of Advaita Phenomenology unternimmt Gupta eine eingehende, als phänomenologisch ausgewiesene Analyse des Begriffs des Zeugen (sākṣin), wie er in der Tradition des Advaita-Vedānta, in den Upaniṣaden, bei Śaṅkara und vor allem in der reichen Tradition nach ihm gebräuchlich ist. Als vorläufige Orientierung bietet sie dabei die folgende Charakterisierung des vedāntischen Zeugen-Bewusstseins an, das sie in seiner epistemologischen und metaphysischen Funktion analysiert: »It refers to a witness in the sense of the phenomenologically pure observer, the observer who observes without bringing anything to the observation. It signifies seeing without being the agent of the act under consideration. Its interests are not involved in what occurs. It signifies the self, which though



tion steht immer im Zusammenhang mit meiner Weise zu leben. Phänomenologie betreiben bedeutet dann, in einer gewissen Parallelität zur Kunst, Wirklichkeitsvollzüge zu entdecken, zu gestalten und zu realisieren.« Elberfeld (2006), 45. 26 Für frühe Vergleiche zwischen Husserls transzendentaler Methode und Śaṅkaras Vedānta siehe: Chaudhury (1959), Malhotra (1959), Chaudhuri (1962), Sinari (1972), Mohanty (1993). In monographischer Form unter besonderer Berücksichtigung von adhyāsa vgl. Scheepers (1988). Für einen ersten umfangreichen Sammelband vgl. Chattopadhyay (1992). Neuerdings finden sich verstärkt phänomenologisch vermittelte Anknüpfungspunkte zwischen indischer Philosophie und der »empirisch informierten« Philosophy of Mind. Vgl. Siderits/Thompson/Zahavi (2013), in Hinsicht auf den Advaita-Vedānta vor allem Fasching (2012a) und (2013) sowie Ram-Prasad (2013). Siehe auch den Abschnitt Phänomenologie und Advaita-Vedānta in dieser Arbeit 6.2.2

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Einleitung

not itself involved in the cognitive process, functions as a disinterested, uninvolved onlooker or witness-consciousness. The witness-consciousness in Advaita, though indifferent or detached, is intelligent. Its indifference or detachment is really its refusal to acknowledge the illusory distinctions of names and forms which fragment reality.« (Gupta 1998, 4)

Guptas Buch ist auf einen kurzen abschließenden Vergleich mit der phänomenologischen Tradition angelegt. »I show that while these Western thinkers do not develop this concept explicitly, they implicitly assume the existence of something very similar to it in their own systems.« (Ebd., 15) Von Husserl ausgehend lautet die entsprechende Einschätzung der philosophischen Tragweite vedāntischer und phänomenologischer Philosophie bereits einleitend so: »The program of transcendental phenomenology integral to the philosophic climate of European rationalism rules out anything that may be taken transcend the intellect. Advaita-Vedānta, on the other hand, does not simply stop at a mere analysis of the natural attitude and experience. Rather, it is interested in recovering a deeper layer of consciousness than that of surface experience. Husserl’s phenomenology is simply a construct for understanding experience like any scientific construct. Husserl does not appeal to such radical existential situations as call for a new orientation of one’s entire vocabulary and thought.« (Gupta 1998, 11)

Auch wenn diese Einschätzung im Großen und Ganzen zutreffen mag, verhindert sie doch eher eine eigentlich phänomenologische Auseinandersetzung, als dass sie sie eröffnet. Die Kluft zwischen einer in der rationalistischen Tradition von Wissenschaft stehenden und einer an der Transzendierung menschlichen Intellekts orientierten Phänomenologie einleitend und strikt zu stipulieren, schränkt die folgende Entfaltung allzu leicht auf eine affirmierende oder negierende Haltung zu dieser einleitenden Bestimmung ein. Darüber hinaus ist es nicht nur verkürzt, die Methode der Phänomenologie allein von Husserls Programm einer Transzendentalphilosophie her zu bestimmen. Dieses Programm selbst nimmt schon bei Husserl eine so vielfältige Gestalt an, dass es sinnvoll ist, programmatische Darstellung und Vollzug seines Philosophierens auseinanderzuhalten. Der Vergleich, den Gupta in diesem Horizont anschließend vornimmt, zielt zunächst auf Husserls Begriff eines transzendentalen Ichs und kommt zu dem Ergebnis: »Thus, the transcendental ego, for Husserl, is not a disinterested spectator; it is a constitutive ego. The witnessconsciousness, on the other hand, does not and cannot be said to con40 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Interkultureller Horizont

stitute the world.« (Gupta 1998, 156) Mit Blick auf Husserls methodischen Begriff eines »uninteressierten Zuschauers« räumt sie daraufhin zwar ein, dass er über den Begriff eines »desinterested spectator« verfüge und dieser eine verhaltene Nähe zum Begriff des Zeugenbewusstseins aufweise 27, er diesen aber nicht bewusstseinsphilosophisch fruchtbar machen könne. Ihm fehle dafür ein Verständnis vorreflexiven Selbstbewusstseins, wie es etwa Sartre als »nonpositional awareness of itself« artikuliere. »Husserl’s disinterested spectator is not the same sort of consciousness that Sartre articulates; it does not require what Sartre calls pre-reflective transparency of all consciousness.« (Gupta 1998, 158) Unbesehen der Tatsache, dass Gupta Husserl fälschlicherweise einen Begriff vorreflexiven Selbstbewussteins abspricht, fragt sie entgegen ihres Anspruches gerade nicht nach den vielleicht impliziten Konvergenzen, die sich nur in einem Gang durch die philosophischen Gebäude zu erkennen geben, sondern nach den ausdrücklichen Konvergenzen, die sich an ihren Aushängen ablesen lassen. So muss schon ihre Auseinandersetzung mit Husserl die Begriffe lebendiger Gegenwart und eines entsprechenden Ur-Ichs übersehen. Dabei lassen sich gerade an ihnen Spielräume für philosophische Konvergenz eröffnen. Denn an ihnen gerät das Husserl’sche Programm selbst in eine Verlegenheit, die diese Räume aufschließt. Der interkulturelle Horizont der vorliegenden Arbeit erstreckt sich deshalb nicht entlang der Suche nach begrifflicher Äquivalenz. Hier geht es darum, im Durchgang und Mitvollzug der phänomenologischen Bewegungen die Momente freizulegen und sichtbar zu machen, an denen die Überlegungen zu Selbst und Selbstbewusstsein angesichts ihrer eigenen Voraussetzungen fragwürdig werden und so Raum für eine Selbstentgrenzung anzeigen, die in ihrer Bewegung längst angelegt ist. Die entsprechende Selbstbegrenzung sehe ich in dem implizit leitenden Primat eines Begriffs personalen Selbstbewusstseins und einem entsprechenden Fokus auf das Ideal engagierten Bewusstseins. Mit Mohanty ist darum einleitend eine heuristische Unterscheidung in dem interkulturellen Horizont dieser Arbeit vorzunehmen. »However, what Husserl calls the ›disinterested on-looker‹ very closely captures the concept of the witness-consciousness. This on-looker, argues Husserl, is revealed in reflection. The existence of this on-looker, however, is not, for Husserl, a necessary condition for the occurence of any cognition. The Advaitins, on the other hand, maintain that without this on-looker no cognition at all would be possible.« Gupta (1998), 5.

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Einleitung

Es wird hier zwar nicht der Ort sein, Überlegungen zu den europäischen Grundlagen einer auf Personalität und das autonome Individuum hin zentrierten philosophischen Kultur anzustellen und sie zu einer südasiatischen Philosophie ins Verhältnis zu setzen, für die ein universales unpersönliches Bewusstsein die leitende Hinsicht ihrer Bemühungen ist. Eine vorläufige Unterscheidung zwischen »Subjektivität und Person«, wie Mohanty sie mit Blick auf die indische und europäische Philosophie vornimmt, ist an dieser Stelle aber schon deshalb sinnvoll, weil es den Begriff impersonaler Subjektivität, der die folgenden Ausführungen als »dramatisches tertium comperationis« 28 begleiten wird, einleitend zu konturieren erlaubt. Ich möchte den interkulturellen Horizont somit nicht, wie Gupta, in zwei gegenläufige Formen des Philosophierens teilen, sondern zwei Gewichtungen eines Philosophierens angeben, unter der Bewusstsein und Selbstbewusstsein fragwürdig werden können. Mohanty gibt in diesem Sinne eine leitende Unterscheidung vor: »In both indian and western philosophies, we find both these concepts: ›subject‹ und ›person‹. ›Subject‹ is an epistemological concept. The subject is, ideally, the ›who‹ of knowledge. ›Person‹ is a practical concept. The person is the ›who‹ of action. While these preliminary, and therefore misleading, characteristics of the distinction need to be improved upon, for the present I want to hypothesize that in Indian thought both knowledge and action are subordinated to the concept of subject, whereas in western thought both are subordinated to the concept of person.« (Mohanty 1993, 74)

Auch wenn man der Behaglichkeit solcher Zuordnung gegenüber skeptisch bleibt, so ist sie für den einleitenden Zusammenhang schon deshalb fruchtbar, weil sie zunächst irritieren muss. Dem westlichen Denken zu attestieren, es ordne Erkenntnis eher dem Begriff der Person und nicht dem des Subjektes unter, muss mit Blick auf eine PhiUnter einem dramatischen tertium comperationis verstehe ich einen Methodenbegriff, der eine Mischung aus einem tertium comperationis, also der »Hinsicht« eines möglichen Vergleichs, und einem MacGuffin ist, also jenes cineastischen Begriffs, den Alfred Hitchcock für Gegenstände eingeführt hat, die inhaltlich un- oder unterbestimmt sind und so eine Spannung aufrechterhalten, die ihren Zweck in sich selbst hat. Die Enthüllung eines MacGuffin würde die Spannung nicht lösen, sondern sie aus der Welt schaffen. So wird auch die Spannung eines ausstehenden direkten Vergleichs der hier erörterten Positionen auszuhalten sein. In diesem aufgespannten Raum spielt sich die vorliegende Arbeit ab. Eilige Explikation würde diese Spannung nicht produktiv auflösen und zu einem entsprechenden Verstehen führen, sondern sie aus der Welt schaffen und ein Verstehen unmöglich machen.

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Interkultureller Horizont

losophiegeschichte verwundern, die der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes eine Wende zur Subjektphilosophie zuschreibt, aus der die großen Theorien transzendentaler Subjektivtität entstanden sind. Mohanty legt hier dementsprechend Wert darauf, »that it is not so much the concept of subject as that of a person which determines western thoughts«. (Ebd., 78) Natürlich wird die philosophische Relevanz von Subjektivität von ihm nicht bestritten. Er möchte nur dafür sensibilisieren, dass auch die westlichen Versuche, Subjektivität im Sinne eines »transzendentalen Prinzips« zu verstehen, für das die Welt Objekt ist, einem Vorverständnis von Person mehr oder weniger implizit verhaftet bleiben – der Person als »concrete, corporeal entity who calls himself ›I‹, a bodily-psychic unity that is appropriated into the structure of a unitary self-consciousness«. (Ebd., 76) 29 Das durch den methodischen Zweifel freigelegte ego cogito Descartes’ etwa ist bekanntlich nicht schon absolute Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und Erfahrung, »but rather the apodictiv basis on which philosophy as a rational reconstruction of the experience was thought to be found. It is the person, stripped of his corporeality, in the interior of his reflective thinking, secure against possible doubt and error.« (Mohanty 1993 79) Das kantische »Ich denke«, die transzendentale Apperzeption des Selbstbewusstseins, hingegen gilt zwar als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und Erfahrung und beschränkt sich nicht wie das Cogito auf den letztlich pragmatischen Status eines fundamentum inconcussum wissenschaftlicher Philosophie. Aber, so Mohanty, »the constituting, synthesizing ego is but a demundanized rational ego, caught, not in the interiority of its reflective thinking about itself, but in its activity of perscribing laws unto nature«. (Ebd.) Mohanty sieht in der ersten Kantischen Kritik somit eine Antizipation der zweiten und damit ein entsprechendes Verständnis der konstitutiven Funktion von Subjektivität »in the light of the legislative autonomy of the rational person as a moral being«. (Ebd.) 30 Auch in der Philosophie Husserls diagnostiziert Mohanty eine große Nähe transzendentaler Subjektivität zum Begriff der Person. »The transcendental ego has all the richness and diversity of contents Für einen Überblick der philosophischen Diskussion des Personbegriffs siehe die Beiträge in Sturma (2001) sowie Römer/Wunsch (2013). 30 Für eine kantische Antwort auf das Problem personaler Identität, die diese Lesart stützen kann, siehe Korsgaard (1999). 29

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Einleitung

of the empirical ego, only minus the latter’s naive self-understanding as a man in the world, as a bit of nature, i. e. as a mundane entity.« (Ebd., 80) Diese Einschätzung wird mit Blick auf Ur-Ich und lebendige Gegenwart zwar zu relativieren sein, für das Gros der Husserl’schen Phänomenologie ist sie allerdings zutreffend. Auch das transzendentale Ich ist in Husserls Spätwerk eine durch assoziative Synthesen und sedimentierte Habitualitäten überformte ideosynkratische Gestalt. Dies schon insoweit, als »der Erlebnislauf des reinen Bewusstseins […] notwendig ein Entwicklungslauf [ist], in dem das reine Ich die apperzeptive Gestalt des persönlichen Ich annehmen muß, also zum Kern von allerlei Intentionen werden muß«. (Hua IV, 251) 31 Was für die reife Transzendentalphänomenologie Husserls gilt, wird auch für die frühen, einer engagierten Existenzphilosophie verpflichteten Philosophien Sartres und Merleau-Pontys gelten, deren phänomenologisches Philosophieren sich von vornherein den vermeintlich abstrakten Reduktionen ihres Lehrers auf eine reine Subjektivität zu entziehen versucht und einem je situierten In-der-Weltsein nachdenkt. Der indischen Philosophie attestiert Mohanty demgegenüber ein Desiderat hinsichtlich der Entwicklung eines reichen Begriffs von Person. Dieses Desiderat sieht er in der Ausbildung nur »schwacher« Konzepte von Person, also solcher, in denen der Begriff von Person auf weitere Momente reduziert werden kann. Insbesondere im Vedānta gelte: »The person is a derivative unity of two heterogeneous elements: a pure witness self, i. e. pure subject, and a psycho-physical complex.« (Mohanty 1993, 78) Der Begriff der Person werde letztlich zugunsten eines Begriffs reiner Subjektivität als einer »homogenous source of illumination« (ebd., 83) zurückgestellt. Im Falle des Advaita-Vedānta wird dieses Desiderat oft mit einer tradierten Fokussierung auf eine monistische Metaphysik erklärt und kritisiert, in deren Zentrum ein Begriff absolut unpersönlichen Bewusstseins stehe, das in kosmologischer Hinsicht brahman, in erkenntnistheoretischer bzw. anthropologischer Hinsicht ātman genannt werde. 32 Auch wenn dieser vergleichende Blick auf einen blinden Fleck westlicher und eine defizitäre Ausbildung indischer Bewusstseinsphilosophie aufschlussreich ist, so bleibt er doch äußerlich und wie der 31 32



Zum Personbegriff Husserls und seine ethischen Implikationen siehe Goto (2004). Vgl. Hacker (1978e), 275 ff. sowie den Abschnitt Person und Selbst in dieser Arbeit 7.2.1

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Interkultureller Horizont

Ansatz Guptas dem Austausch begrifflicher Äquivalenzen verpflichtet. 33 Er berücksichtigt nicht hinreichend die philosophische Bewegung, aus deren Vollzug heraus sich diese Begriffe entfalten. Mit Rücksicht auf zwei Formen des Philosophierens, deren Vollzug, wie sich klarer zeigen wird, von einer umfassenden Änderung der Haltung zur natürlich durchlebten Welt abhängt, muss ein solcher vergleichender Blick somit selbst als defizitär gelten. In der vorliegenden Arbeit sind deshalb nicht westliche Vorstellungen von personalem Bewusstsein mit den indischen Vorstellungen von impersonalem Bewusstsein zu konfrontieren. Die folgende Untersuchung wird einerseits diejenigen Elemente der drei westlichen Phänomenologien in den Fokus rücken, in denen die Orientierung an personalen Strukturen von Bewusstsein gerade fragwürdig wird und an Grenzdimensionen einer Bewusstseinsphänomenologie führt. In diesen Dimensionen werden sich nicht nur schon implizite und explizite Ansätze zum Verständnis eines Zeugen-Bewusstseins finden lassen. Es wird sich auch eine Dimension impersonaler Subjektivität abzeichnen, die aufgrund jenes impliziten Fokus auf die personalen Strukturen von Subjektivität und ein entsprechendes Verständnis von Selbstbewusstein zum Ärgernis werden muss. Andererseits werden die Elemente des Advaita-Vedānta zu berücksichtigen sein, an denen die Orientierung an der Fragwürdigkeit personaler Strukturen nicht einfach in eine Metaphysik oder zu einem defizitären Begriff von Person, sondern in eine Phänomenologie führt, deren soteriologisches Motiv eine radikale Anerkennung impersonaler Subjektivität und entsprechend feinere Differenzierungen fordert. Die von Mohanty aufgedeckten traditionellen Engführungen in Fragen des Bewusstseins bieten somit Raum für eine wechselseitige interkulturelle Bereicherung und Entgrenzung. 34 Diese Arbeit möchAuch hinsichtlich der basalen bewusstseinsphilosophischen Positionen hat Mohanty im Zuge eines äußerlichen Vergleichs vor allem die defizitären Aspekte im Blick: »Western thought has the notion of constituting and therefore historical subjectivity, but needs that of ›transcendental observer‹ if relativism has to be overcome; Indian thought has the concept of sākṣicaitanya, the witness-consciousness, but what it is a witness to is a finished, objective world, not the world being constituted, through history, by a community of intentional egos«. Mohanty (1993), 84. 34 Mohanty ist deshalb zuzustimmen, wenn er die geistesgeschichtlich zugespitzten Konzepte von »Subjekt« und »Person« als instabile Pole beschreibt, zwischen denen sich ein reiches menschliches Selbstverständnis bewegen kann. »It is not so much in reducing the one to the other, as in recognizing this unstable oscillation that a more promising future for philosophical anthropology appears to lie«. Mohanty (1993), 85. 33

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Einleitung

te einen Beitrag zur Entgrenzung phänomenologischen Philosophierens durch eine Untersuchung der impersonalen Subjektivität bieten, die sich an ihren Analysen immer schon Bahn bricht. Von hier aus unternimmt sie eine Hinwendung zu den phänomenologischen Elementen des Advaita-Vedānta, dessen Denken bei der impersonalen Dimension von Bewusstsein anhebt. So wird eine Nähe dieser Philosophien in der Sache ›Selbst‹ sichtbar. Eine Nähe, die nicht in einem Vergleich zur Darstellung, sondern im Fortgang der Arbeit zum Ausdruck kommt. 35 Für beide Hinsichten ist Mohantys Einsicht in den blinden Fleck westlicher Bewusstseinsphilosophie von Wert. Wenn Subjektivität, noch in ihren transzendentalen Ausprägungen, implizit als personal strukturiert gedacht wird, ist es nicht verwunderlich, dass die Vorstellung einer Dimension distanziert-neutralen Bewusstseins der westlichen Philosophie verdächtig ist. Der Begriff einer interesselosen Person ist kaum ein konsistenter Begriff, es sei denn, wie Mohanty ganz richtig einräumt, dass Interesselosigkeit eine besondere Form des Interesses ist. Wir werden dies bei Husserls Begriff eines »uninteressierten Zuschauers« zu verfolgen haben. Der Ausdruck »impersonale Subjektivität« soll diese Spannung westlicher neuzeitlicher Philosophie bewahren. Es scheint, als hätten wir mit ihm beih-



Die vorliegende Arbeit lässt sich daher durchaus in dem Sinne als anthropologisch verstehen, als sie einem Denken im Sinne des Plessner’schen Prinzips der Unergründlichkeit des Menschen zu entsprechen versucht. »Es muss offenbleiben, um der Universalität des Blickes willen auf auf das menschliche Leben in der Breite aller Kulturen und Epochen, wessen der Mensch fähig ist. Darum rückt in den Mittelpunkt der Anthropologie die Unergründlichkeit des Menschen, und die Möglichkeit zum Menschsein, in der beschlossen liegt, was den Menschen allererst zum Menschen macht, jenes menschliche Radikal, muß nach Maßgabe der Unergründlichkeit fallen.« Plessner (2003), 161. Es geht mithin nicht darum, im »stillen Zeugen« die Rechtfertigung eines Apriorismus transzendentaler Subjektivität zu finden oder ihn sogleich für eine Synthese mit den personalen Gehalten geschichtlicher Wirklichkeit verfügbar zu machen, sondern die impersonale Dimension menschlichen Erlebens als fruchtbare Unverfügbarkeit innerhalb bewusstseinsphänomenologischer Forschung freizulegen. 35 Auch wenn die Frage nach Selbst und Selbstbewusstsein als leitende Perspektive dieser Arbeit gelten muss, so wird damit keine methodische Leichtfertigkeit in Hinsicht auf ihren interkulturellen Horizont erkauft. Vielmehr wird eine methodische Sensibilität verpflichtend, die nicht nur hermeneutische Kontextualisierung vorsieht, sondern sich bemüht, die begrifflichen Gehalte phänomenologisch in situ aus den philosophischen Bewegungen heraus zu gewinnen, nicht über sie hinweg zu konstruieren. Vgl. die entsprechenden Orientierungen 6.1 und 6.2

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Interkultureller Horizont

nahe ein Oxymoron geschaffen. Das gibt Raum für die Vermutung, dass wir in dem Ausdruck »personale Subjektivität« vielleicht einen Pleonasmus übersehen. Der Umgang mit der Problematik des Impersonalen, wie sie uns aus dem urteilstheoretischen Zusammenhang klassischer Aussagenlogik überkommen ist und im 19. Jahrhundert eine weitreichende Debatte auslöste, zeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit impersonale Urteile wie ›es blitzt‹ in der Regel als subjektlose Sätze behandelt werden. 36 Vergegenwärtigen wir uns darüber hinaus, in welchem Maße die Unterscheidung einer grammatischen und einer philosophischen Bedeutung von »Subjekt« bereits bei Aristoteles verwischt und wie fraglos unser cartesianisches Selbstverständnis das Subjekt nicht nur als syntaktische, sondern auch als ontologische und psychologische Figur in Anspruch nimmt, dann spüren wir, dass ein impersonales Subjekt ein Unding ist. In dem bewusstseinsphänomenologischen Horizont dieser Arbeit muss die leidliche Frage nach dem ontologischen Status eines Subjektes und seiner möglichen Objektbeziehungen aber nicht gestellt werden. Die phänomenologische Frage nach Selbstbewusstsein verlangt vielmehr, Erfahrungsdimensionen von Subjektivität freizulegen 37 – und es ist eine impersonale Subjektivität, die hier in den Blick geraten soll. Das oxymoronische Unbehagen bleibt aber bestehen – und zeigt uns etwas: In phänomenologischer Perspektive zeigt es uns, dass es einige Mühe kostet, Subjektivität unabhängig von personaler Überformung zu denken und zu erfahren. In diesem Sinne ist es ein genuin phänomenologischer Begriff. Er soll Raum für die Anschaulichkeit der Grenzdimension gewährleisten, an der die Begriffe eines »nicht-egologischen« bzw. »nicht-ichlichen Bewusstseins« 38 schon deshalb fehlgehen, weil sie leere formale Begriffe bleiVgl. etwa die zusammenfassende Diskussion bei Marty (1894); ferner Hua Mat. I, 207–215. 37 Zum Begriff der Erfahrungsdimension und der phänomenologischen Dringlichkeit, die Frage nach einem Subjekt durch die Frage nach Subjektivität zu ersetzen siehe Zahavi (2008), 115–132. 38 Als Terminus technicus tritt der Ausdruck »non-egological consciousness« wohl als erstes bei Gurwitsch (1941) auf. Während egologische Ansätze davon ausgehen, dass der Akthaushalt unseres bewussten Erlebens die Beziehung zu einem Ego impliziert, das als Subjekt dieser Erlebnisse gilt, sehen nicht-egologische Ansätze die Bewusstseinserlebnisse auf einer vorreflexiven Ebene in eine anonyme Struktur gefasst, die nicht die Beziehung zu einem Egopol verlangt. Die an dieser Unterscheidung entfachte phänomenologische Diskussion darüber, wie grundlegend unser vertrautes Erleben als eines first-personal mode of presentation ist, wird am Ende der Arbeit beschäfti36

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Einleitung

ben und so leicht eine vermeintlich anschauungsresistente Verfassung von Bewusstsein zum Ausdruck bringen. Impersonale Subjektivität ist aber nicht formale Struktur oder metaphysische Hypostase, sondern in ihrer selbstverständlichen Nähe oft übersehene Dimension lebendigen Bewusstseins.



gen, wo die Erfahrungsdimension impersonaler Subjektivität vor dem Hintergrund des vedāntischen Zeugenbewusstseins diskutiert wird. 7.2.3

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Kapitel I 1. Husserls Paradoxie der Subjektivität

Das Staunen, das seit Platon den Anfang abendländischer Philosophie markiert, hat seinen Preis. Es gibt nicht bloß Anlass zu philosophischer Praxis, es zwingt in sie hinein. Mit Wilfried Sellars ist man geneigt zu sagen, wir mögen gut oder schlecht philosophieren, aber wir müssen philosophieren, d. h. eine verstehende, letztlich vielleicht versöhnende Haltung zu der im Staunen fremd gewordenen Welt anstreben. 1 Eine der Hürden zu dieser Versöhnung, die sich für Edmund Husserl in seiner transzendental gewendeten Philosophie zeigt, ist ein Problem, das sich in der Krisis als »Paradoxie der menschlichen Subjektivität« zu erkennen gibt, das aber bereits in den Ideen I einen ersten Ausdruck gefunden hatte. Einerseits »soll das Bewußtsein das Absolute sein, in dem sich alles Transzendente, also schließlich doch die ganze psychophysische Welt konstituiert, und andererseits soll das Bewußtsein ein untergeordnetes reales Vorkommnis innerhalb dieser Welt sein«. (Hua III, 116)

In natürlicher Einstellung erfahren wir uns als bewusste Individuen, als lebendigen Teil der Welt mit allen intersubjektiven und objektiven Verbindlichkeiten dieser Teilhabe. Nach gelungenem Vollzug phänomenologischer Epoché, d. h. dem radikalen Absehen von diesen Verbindlichkeiten und dem Außer-Geltung-Setzen des natürlichen Glaubens an die fraglose Existenz von »Welt«, finden wir uns auf das Residuum reiner Subjektivität reduziert. Hier wird die Teilhabe»It is not until we have eaten the apple with which the serpent philosopher tempts us, that we begin to stumble on the familiar and to feel that haunting sense of alienation which is treasured by each new generation as its unique possession. This alienation, this gap between oneself and one’s world, can only be resolved by eating the apple to the core; for after the first bite there is no return to innocence. There are many anodynes, but only one cure. We may philosophize well or ill, but we must philosophize.« Sellars (1975), 295.

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Husserls Paradoxie der Subjektivität

Relation in einer gewissen Weise umgekehrt, so dass die Welt samt ihrer Verbindlichkeiten nun als intentionales Gebilde des reduzierten Bewusstseinslebens erscheint. Die Husserl’sche Phänomenologie zwingt uns mithin in eine prekäre Haltung. Sie verlangt, zum Verständnis der uns dem Sinne nach bekannten Welt und unseres Standes in ihr, von genau diesen abzusehen. Husserls Philosophieren legt somit stärker als das Kantische die Auffassung nahe, dass der Mensch in einem bedeutenden Sinne nicht nur ein psychologisches, sondern auch ein transzendentales Wesen ist. Für Husserl musste die transzendentale Subjektivität Kants deshalb eine »mythische Konstruktion« (Hua VI, 116) bleiben. Kant stellt zwar eine formale Entität in Aussicht, deren transzendentale Funktionen die Welt der Erfahrung formen und deren »Wortsinn zwar auf Subjektives verweist, aber eine Weise des Subjektiven, die wir uns prinzipiell nicht anschaulich machen können«. (Ebd.) Bei dem Versuch, Kants Begriff transzendentaler Subjektivität einen anschaulichen Sinn zu geben, findet man sich eben »doch in der menschlich personalen, der seelischen, psychologischen Sphäre« (ebd.) wieder. Und so, wie dem Kantischen Begriff innerer Erfahrung »nicht noch ein anderer als der psychologische Sinn zu geben ist« (ebd., 117), muss transzendentale Selbsterfahrung dem Kantischen Philosophieren widersinnig bleiben. Demgegenüber ist die Erfüllung des phänomenologischen Transzendentalismus für Husserl erst dann in Sicht, »wenn der Philosoph zu einem klaren Ve r s t ä n d n i s s e i n e r selbst als der urquellend fungierenden Subjektivit ä t sich durchgerungen hat«. (Ebd., 102) Das heißt nicht weniger, als dass wir selbst »in eine innerliche Verwandlung hineingezogen [werden], in der uns die längst erfühlte und doch stets verborgene Dimension des ›Transzendentalen‹ wirklich zu Gesicht, zu d i r e k t e r E r f a h r u n g kommt«. (Ebd., 104) Diese transzendentale Dimension der Selbsterfahrung wird von Husserl im Rahmen seiner Intentionalanalysen hinsichtlich ihrer konstitutiven Leistungen in den Feldern des Wahrnehmens, Urteilens, Phantasierens usw. dann auch analytisch durchschritten, in ihrer Bedeutung für das phänomenologisierende Subjekt und die Frage nach einem entsprechenden Selbstbewusstsein aber erst spät und beiläufig befragt. Während er in der frühen, statischen Ausrichtung seiner Phänomenologie das transzendentale Ego noch als eine ganz und gar leere, an der transzendentalen Apperzeption Kants orientierte Funktionalität betrachtete, die sich in seinem Begriff des »Ich-Pol« 50 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Husserls Paradoxie der Subjektivität

niederschlägt 2, nimmt die Dimensionalität des Ego in den Spätschriften deutlich zu. Seine Analysen berühren dabei zum einen die Konstitution personaler Strukturen durch die Genese selbsteigener Habitualitäten und entsprechender Motivationen, bleibenden Themata in Erfahrungs- und Urteilszusammenhängen gegenüber eine konsequente Stellungnahme auszubilden. 3 Zum anderen legen die späten phänomenologischen Analysen der Zeitlichkeit eine Dimension des transzendentalen Ichs frei, die sich nicht wie das polartige Motivationssubjekt durch »reine Ichreflexion« oder wie das personale Ich durch »reflektive thematische Erfahrung« (Hua IV, 249) in den Blick nehmen lässt. Auf der Suche nach dem Absoluten des Bewusstseins stößt Husserl auf eine Form von Selbst und Selbstwahrnehmung, die sich nur umständlich durch die Emphase des »Ursprünglichen« in seinen konstitutionstheoretisch abgesteckten Weg einfügen lässt. Denn sie führt sowohl thematisch wie methodisch an einen Bereich vorreflexiver Subjektivität, der unter der Voraussetzung, dass »die Möglichkeit einer Phänomenologie überhaupt« von der »Leistungsfähigkeit der Reflexion« (Hua III, 178) abhängt, eine eigentümliche Grenze phänomenologischen Philosophierens offenlegt, der sich detailiert im nächsten Kapitel zu widmen sein wird. Husserls Ringen um ein phänomenologisches Verständnis von Bewusstsein als des Absoluten, in dem sich alles Transzendente konstituiert, berührt in der Krisis zunächst die in den Cartesianischen Meditationen aufgeworfene Frage danach, ob die Basis transzendentaler Konstitution, als die sich die transzendentale Subjektivität seit den Ideen I abzuzeichnen begann, nicht vielmehr intersubjektiv verfasst sei. Im Verlauf dieser Erwägung hält Husserl jedoch »aus tiefsten philosophischen Gründen, auf die nicht weiter eingegangen werden kann, und nicht nur aus methodischen«, auch hier an »der absoluten Einzigkeit des ego und seiner zentralen Stellung für alle Konstitution« (Hua VI, 190) fest. Diese für die transzendentale Konstitutionstheorie so entscheidende Frage wird dieses Kapitel zum Anlass nehmen, Husserls Bemühen deutlich zu machen, entlang der konstitutionstheoretischen Überlegungen zu einer transzendentalen Intersubjektivität eine ursprüngliche Dimension transzendentaler Selbsterfahrung im Blick behalten zu haben, die in der Krisis als »Ur-Ich«, im Rahmen seiner zeitphänomenologischen Analysen, die 2 3

Vgl. Hua III, 195. Vgl. Hua IV, 111–119.

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Husserls Paradoxie der Subjektivität

im zweiten Kapitel zu erörtern sind, als »lebendige Gegenwart« zur Geltung kommt. Zum einen soll dadurch einleitend verständlich werden, wie die konstitutionstheoretische Architektur seines transzendentalen Philosophierens beiläufig Raum für die existenzielle Perspektive lässt, die sich an der Paradoxie der Subjektivität abzeichnet. Denn diese Paradoxie zeigt sich nicht erst am Horizont theoretischer Artikulation phänomenologischer, d. h. epochaler Erfahrung, sondern bereits im Vollzug dieser Erfahrung selbst und der »innerlichen Verwandlung«, die ihrerseits phänomenologischer Anerkennung und Aufklärung bedarf. Zum anderen wird sich die eigentümliche Verlegenheit zu erkennen geben, wie sich ein Ur-Ich, das Husserl zur Auflösung seiner Paradoxie ins Felde führt, unter den Voraussetzungen seiner Phänomenologie eigentlich dem erfahrenden Blick des Philosophen preisgeben kann.

1.1 Das logische und das lebendige Paradox Die Paradoxie der menschlichen Subjektivität entsteht nicht schon aus der Verdopplung des Ego in ein transzendentales und ein weltliches. »Denn nicht, daß das Subjekt sich einerseits als empirisches, andererseits als transzendentales versteht, macht schon das Paradoxon aus; vielmehr liegt es darin, daß es nach Husserl als transzendentales ein konstituierendes und als menschliches lediglich ein konstituiertes Subjekt sein soll.« (Ströker 1987, 214)

Als konstituierendes ist das Subjekt zwar kein in einem strengen Sinne erzeugendes, aber durchaus ein hervorbringendes. Nur bringt es, wie man weiß, nicht auf wundersame Weise Dinge hervor, sondern »Sinngebilde in Modis der Seinsgeltung«. (Hua V, 158) Denn, dass »die Welt existiert, daß sie in der kontinuierlichen immerfort zu universaler Einstimmigkeit zusammengehenden Erfahrung als seiendes Universum gegeben ist«, ist für Husserl »vollkommen zweifellos«. (Ebd., 153) Aufgabe der Konstitutionsanalyse ist die Durchdringung der Funktionsweise dieser Sinnstiftung und ihres Stufenbaus, eine Analyse, die einen emphatischen Nachentwurf in Carnaps Aufbau gefunden hat. Hier wie dort führt dieses Unterfangen in einen zunächst methodischen Solipsismus. Während Carnap diesen zwar 52 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Das logische und das lebendige Paradox

ebenfalls durch den Vollzug der »phänomenologischen Einklammerung« (Carnap 1998, 86) rechtfertigt, zeigt sich die Basis seines Konstitutionssystems nach der Epoché aber als »subjektlos« (ebd., 89). Bei Husserl hingegen eröffnet sich nun das Refugium einer transzendentalen Subjektivität, die sich nach Vollzug phänomenologischer Reduktion selbst fortschreitend in ihrer weltkonstituierenden Leistung ansichtig wird und so »die Welt nach dem Wie ihrer Gegebenheitsweisen, ihrer offenen oder implizierten ›Intentionalitäten‹ zu befragen« (Hua VI, 163) im Stande ist. Das weltliche Subjekt mit seinem Erkenntnisinteresse und entsprechenden Dispositionen gilt in dieser Konstitutionstheorie als ein Sinngebilde unter anderen. Ein Sinngebilde, dessen Genese nun auf etwas zurückgehen soll, das selbst den Charakter eines Subjektes hat. Denn zu der weltkonstituierenden Leistung der transzendentalen Subjektivität gehört eben wesentlich hinzu, »daß die Subjektivität sich selbst als menschliche, als Bestand der Welt, objektiviert«. (Ebd., 116) Im Sog der konstitutionstheoretischen Einsichten gerät Husserl dementsprechend an einen Punkt, an dem sein bis dahin entwickeltes wissenschaftstheoretisches Programm fragwürdig wird. Da er sich mit einer bloßen Anerkennung der Verdopplung der menschlichen Egos als »Subjekte für die Welt […] und zugleich Objekte in dieser Welt« (Hua VI, 184) nicht zufrieden geben kann und will, muss das Verständnis dafür, was es heißt Subjekt zu sein, weiter vertieft werden. Denn die Unauflösbarkeit der Paradoxie »würde besagen, daß eine wirklich universale und radikale Epoché überhaupt nicht durchführbar ist, nämlich in Absicht auf eine strenge Wissenschaft« (ebd.) – und die strenge Wissenschaft, die hier infrage steht, ist die transzendentale Phänomenologie des konstituierenden Bewusstseins. Im Rahmen seines Versuchs, die Paradoxie aufzulösen, findet Husserl aber zu einer unprätentiöseren Formulierung ihrer Voraussetzung, die die Konstitutionsproblematik zunächst einklammert. Demnach ergibt sich die durch die Paradoxie angezeigte Schwierigkeit bereits »aus der Spannung zwischen der Macht der Selbstverständlichkeit der natürlichen objektiven Einstellung (der Macht des Common Sense) und der sich ihr gegenübersetzenden Einstellungen des ›uninteressierten Betrachters‹«. (Ebd., 183) Die Spannung, mit der sich Husserl konfrontiert sieht, ist zunächst nicht Ausdruck einer Paradoxie in dem Sinne eines möglichen Widerspruches innerhalb einer Menge von Sätzen, sondern Ausdruck einander widerstreitender Weisen bewussten Erlebens. Husserls Pa53 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Husserls Paradoxie der Subjektivität

radoxie der Subjektivität entfaltet sich mithin schon da, wo das philosophische Verfahren der Epoché eine para-doxe, gegen die naive Seinsgläubigkeit der natürlichen Einstellung gewendete Haltung etabliert. Der Sinn phänomenologischer Epoché besteht somit überhaupt nur in ihrer Paradoxalität. Und wie wir bereits sehen konnten, legitimiert sich die Epoché für Husserl dadurch, dass sie eine besondere Weise des bewussten Erlebens ist. So, wie in natürlicher Einstellung Welt und Umwelt als fraglos seiend erfahren werden, so muss »auch der Blick, den die Epoché frei macht, ein in seiner Weise erfahrender Blick sein«. (Hua VI, 156) Die Weise, wie sich der Philosophierende in natürlicher Einstellung und nach Vollzug der Epoché erfährt, ist hinreichend verschieden, um zu Widersprüchen zu führen, wenn man die Erlebnisse der transzendentalen Erfahrung in natürlicher Einstellung interpretiert. Dieses lebendige Paradox gewinnt der Philosoph mit dem Vollzug epochaler Erfahrung selbst. Was man das logische Paradox nennen kann, entsteht mithin erst dann, wenn die Präsumtion der strengen Wissenschaftlichkeit – und damit der vordergründige Anspruch kohärent artikulierbarer Erfahrungen – ohne weiteres aus der natürlichen in die transzendentale Einstellung hinübergerettet wird. Eine Einstellung, die auch für Husserl nicht sogleich Ergebnis eines genuin methodischen Verfahrens sein konnte, sondern zunächst eine Modifikation unseres Welt- und Selbstbezuges, die sich auf Grund unseres abendländischen Fokus auf das Ideal eines distanzierten Forschens als ein für das phänomenologische Projekt strenger Wissenschaftlichkeit wichtiges Instrument ausgestalten ließ. Die Spannung, die dem lebendigen Paradox eigen ist, bringt dabei zunächst keine prätentiösere Schwebe zum Ausdruck als jene wahrnehmungsphänomenologische Einsicht, die Merleau-Ponty im Anschluss an Koffka gewonnen hat und die besagt, dass die Linien der Müller-Lyer’schen Täuschung erst in der »Welt der Objektivität« zwingende Alternativen sind. (Vgl. PhW, 24) An Husserls Umgang mit dieser Paradoxie wird aber nicht nur die Spannung innerhalb seiner methodologischen Erwägungen anschaulich, sondern auch seine Besinnung auf die philosophische Eigentümlichkeit transzendentaler Selbsterfahrung. Neben der Freilegung eines absolut einzigen Ur-Ich ist dabei auch der »uninteressierte Betrachter« zu berücksichtigen, der die durch die Paradoxie aufgewiesene Spannung zu einer »Ichspaltung« (CM, 37) verschärft und dadurch zwanglos die für die Selbstbewusstseinsproblematik so entscheidende Frage nach der Reflexion auf den Plan ruft. 54 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Das logische und das lebendige Paradox

Die beiden von Husserl als grundlegend anerkannten Fragerichtungen der Phänomenologie, einerseits die Kritik der Existenz der Erfahrungswelt bzw. der Geltung mundaner Erfahrung und andererseits die Kritik der Existenz des eigenen Ich bzw. der Evidenz des »Ich bin« (Hua VIII, 75), hatte Husserl stets zu Gunsten der ersten aufgewogen. »Ich bevorzugte die erstere Kritik, welche in ihrer Universalität die letztere in sich schließen musste. Denn als Ich verstand ich natürlich mich als Mensch, und wie hätte ich in diesem Anfangsstadium an ein anderes denken können?« (Ebd.)

Auf diesen Punkt ist aus zweierlei Gründen zu insistieren. Einerseits wird sich auch an Husserls letztlich unbefriedigender Auflösung des logischen Paradoxes zeigen, dass er die Fruchtbarkeit des lebendigen Paradoxes für die Frage nach der Evidenz des »Ich bin« nicht anerkennen kann, weil es den konstitutionstheoretischen Fortgang seiner Kritik der Existenz der Erfahrungswelt gefährdet. Da sein Begriff des »uninteressierten Zuschauers« überdies die Präsumtion eines »theoretischen Betrachters« (Hua VIII, 107) bewahrt, muss die Spannung der Paradoxie stets als zu lösende, nicht als zu durchlebende gelten. Andererseits erlaubt erst ein vorsichtiger Fokus auf die Existenz des Ich in Form einer »absoluten Einzigkeit des Ego«, die existenzielle Dimension der Husserl’schen Phänomenologie im Blick zu behalten. Denn die »innere Wandlung«, die Husserl von der Epoché fordert, kann offenbar nicht überschätzt werden. »Vielleicht wird es sich sogar zeigen, daß die totale phänomenologische Einstellung und die ihr zugehörige Epoché zunächst wesensmäßig eine völlige personale Wandlung zu erwirken berufen ist, die zu vergleichen wäre zunächst mit einer religiösen Umkehrung, die aber darüber hinaus die Bedeutung der größten existenziellen Wandlung in sich birgt, die der Menschheit als Menschheit aufgegeben ist.« (Hua VI, 140)

Die meisten Interpreten gehen über den in diesem Zusammenhang aufbrechenden Horizont entweder hinweg oder qualifizieren ihn als Ergebnis geschichtsphilosophischer Spekulation, die Husserls eigentliche Ausrichtung streng wissenschaftlicher Bewusstseinsphilosophie übersteigt oder unterminiert. Und die exegetischen Marginalisierungen dieser Aussicht entsprechen durchaus dem Eindruck, den Husserl selbst von seiner Phänomenologie gewinnen wollte. Denn der oben angedeutete Horizont liegt für Husserl in einer Ferne, die ihn selbst

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nicht eigentlich angeht. Für ihn gibt es vielmehr gute Gründe, das Berufsartige phänomenologischer Einstellung so scharf hervorgehoben zu haben. Denn von der Epoché zeige sich, »daß sie eine habituelle Vollzugsepoché ist, die ihre Zeiten hat, in denen sie sich in Arbeit auswirkt, während andere Zeiten irgendwelchen anderen Arbeits- oder Spielinteressen gewidmet sind; und vor allem, daß die Vollzugsausschaltung an dem in der personalen Subjektivität fortwerdenden und fortgeltenden Interesse […] nichts ändert«. (Ebd.) Auch wenn Husserl sich hier mit vagen Andeutungen begnügt, die er auch in der Folge nicht einlösen wird, so besagt seine Emphase auf dem strengen Berufsethos der Phänomenologen aber nicht, dass Epoché »für das menschliche Dasein praktisch-›existenziell‹ nicht mehr bedeutet wie die Berufsepoché des Schusters […]«. (Ebd.) Es kann hier nicht darum gehen, einen irrationalen Zug der phänomenologischen Methode zu betonen, so als wäre die strenge Wissenschaftlichkeit ein Versehen, das ihren eigentlichen Zweck unterminiert. Angesichts der Husserl’schen Emphase der Unvoreingenommenheit des Philosophen und der Selbstgegebenheit der Phänomene ist es aber nur sachlich angemessen, auf solche Elemente seiner Philosophie zu verweisen, an denen dieser strenge Anspruch, der dem einer bestimmten Form von Wissenschaftlichkeit vorgeordnet sein muss, fragwürdig wird. Der »praktisch-›existenzielle‹« Zug der phänomenologischen Verfahren ist nicht lediglich Ärgernis einer ansonsten ungetrübten Beschäftigung mit den Sachen selbst. Er ist insbesondere innerhalb der Problemsphäre des Selbstbewusstseins konstitutives Element phänomenologischer Praxis. Bevor Selbstbewusstsein phänomenologisch ein allgemeines oder gar eidetisches Problem wird, ist seine Thematisierung im Horizont der epochalen Wendung auf eine transzendentale Subjektivität schon insofern eine existentielle Angelegenheit, als ich von dem einzigen Gegenstand absehen muss, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass ich ihm gegenüber in Grenzen distanzlos bin, nämlich von mir selbst. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, inwiefern Husserls phänomenologisches Forschen dieser Schwierigkeit Rechnung trägt. Sie sollen zeigen, dass er sich nicht gänzlich der Naivität schuldig macht, die etwa Merleau-Ponty dem Kantischen Kritizismus vorwirft: eine dem natürlichen Ich primordiale Dimension zu postulieren, »so als sei es nicht notwendig, um ein transzendentales Subjekt behaupten zu dürfen, allererst zu einem solchen zu werden«. (PhW, 56 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Fruchtbares Scheitern

86) Die phänomenologische Erfahrungsweise der urichlichen Dimension transzendentaler Subjektivität wird sich dabei als eine impersonale Subjektivität erweisen, deren anschaulicher Sinn sich in den Analysen zum Zeitbewusstsein als lebendige Gegenwart entfalten wird. Zunächst ist aber zu verfolgen, wie Husserl die Paradoxie der Subjektivität zu fassen bekommt und zu lösen beabsichtigt. Während das logische Paradox nur bedingt Auflösung findet, führt das lebendige Paradox im Horizont der Intersubjektivtiätsproblematik über die Sphäre eines primordialen Ego an die ursprüngliche Dimension eines Ur-Ich, von der aus ich »als erstes und fundierendes mein ›eigenes‹ Ich und von da aus die anderen« (Hua XV, 587) gewinne. Da Husserl durch eine »letzte Reduktion« auch auf diese absolute Dimension transzendentalen Bewusstseins den »schauenden Blick richtet« (ebd., 585), stellt sich die Frage nach Motiv und Struktur des uninteressierten Zuschauers, dem diese Leistung obliegen muss. An der Antwort, die notwendig in die metaphänomenologische Perspektive führt, wie sie Eugen Fink mit Husserls Auftrag in der VI. Cartesianischen Meditation zu entwickeln beabsichtigte, wird sich die Verlegenheit einer »Ichspaltung« ankündigen. Einerseits ist damit auf die Reflexionsproblematik verwiesen, mit der sich, wie im zweiten Kapitel zu zeigen ist, auch Husserls Theorie des Selbstbewusstseins konfrontiert sieht. Andererseits wird sich ergeben, dass die Ichspaltung, in die der Phänomenologe durch Epoché und Reflexion gerät, Raum für eine Vertiefung der Frage nach einer absoluten Subjektivität bietet. Husserls Fokus auf die »berufsartige Einstellung« und eine daraus entspringende Selbstsicherheit lässt aber nicht zu, den existenziellen Duktus einer Epoché anzuerkennen, die in dem Maße vollzogen wird, wie sie widerfährt.

1.2 Fruchtbares Scheitern 1.2.1 Welt, Gemeinschaft, Einsamkeit Die Paradoxie menschlicher Subjektivität erwächst für Husserl aus der Beobachtung, dass das phänomenologisierende Subjekt sowohl »›in der Welt als Objekt‹ und zugleich ›für die Welt Bewußtseinssubjekt‹« (Hua VI, 184) sein kann. Da, wo Husserl sich wie in § 53 und § 54 der Krisis an ihre Auflösung macht, stellt sie sich ihm aber zu57 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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nächst anders dar. Denn wer »Welt« sagt, muss auch »Wir« sagen. Zu behaupten, ein transzendentales Subjekt konstituiere die Welt, wäre innerhalb der reifen Husserl’schen Phänomenologie eine wenigstens irreführend verkürzte Redeweise. Denn der Seinssinn »objektive Welt« konstituiert sich zwar letztlich auf der Grundlage einer von Husserl sogenannten Sphäre eines »primordialen Ego«, die Konstitutionsleistung selbst ist aber eine gemeinschaftliche. (Vgl. CM, 109) Deshalb kann Husserl in § 54 der Krisis fragen: »Wer sind wir als die Sinn- und Geltungsleistung der universalen Konstitution vollziehenden Subjekte – wir als die in Vergemeinschaftung die Welt als Polsystem, also als intentionales Gebilde des vergemeinschafteten Lebens konstituierende?« (Hua VI, 186) Bevor das Ich »als Thema der obersten Reflexionsstufe […] zu seinem vollen Rechte« kommen kann, muss daher seinem Bedeutungswandel Rechnung getragen werden, wie er »in ›andere Ich‹, in ›Wir alle‹, Wir mit den vielen ›Ichen‹, worin ich ›ein‹ Ich bin« zum Tragen kommt. (Ebd.) Wenn wir nämlich mit Husserl in reduzierter Einstellung von der Welt zurückfragen, um die Schichten ihrer Konstitution freizulegen, dann ist da zunächst eine Gemeinschaft von anderen Subjekten, deren Welt meine Welt ist und die ich in einer zweifachen zuweilen widerstreitenden Hinsicht erlebe. Was uns aus der Perspektive eines Solus Ipse als Paradoxie erscheint, ist uns schon in der natürlichen Fremderfahrung eine Selbstverständlichkeit. Denn als psychophysische Objekte sind die anderen für mich in der Welt. »Andererseits erfahre ich sie zugleich als Subjekte für diese Welt, als diese Welt erfahrend, […] diese selbe Welt, die ich selbst erfahre […].« (CM, 93) Die Epoché muss mir die anderen daher nicht als »andere Menschen«, sondern als »Phänomene« freilegen. Unter Epoché kommt »jedes Ich rein nur als Ichpol seiner Akte und Habitualitäten und Vermögen in Betracht, von da aus als ›durch‹ seine Erscheinungen, seine Gegebenheitsweisen hindurch auf das Erscheinende in Seinsgewißheit gerichtet, auf den jeweiligen Gegenstandspol und seinen Polhorizont: die Welt«. (Hua VI, 187) Von der universalen Intersubjektivität, auf die ich im transzendental reduzierten Rückgang von der Welt stoße, hatte Husserl zunächst in Aussicht gestellt, dass sie »keine andere sein [kann] als die Menschheit« (ebd., 183). Nun zeigt sie sich aber als eine Gemeinschaft transzendental-konstituierender Subjekte, an denen sich »nichts Menschliches, nicht Seele und Seelenleben« zeigt, die mithin nicht als »reale psychophysische Menschen« gelten (ebd.). Als trans58 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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zendentale Intersubjektivität wird dieser Bereich des transzendentalen Lebens von Husserl zunehmend als Möglichkeitsbedingung transzendentaler Konstitution verstanden. 4 Damit vollzieht er einen durchaus paradigmatischen Wechsel, der insofern den Beginn einer »Philosophie des tiefsten und universalsten Selbstverstandes des philosophierenden ego als Träger der zu sich selbst kommenden absoluten Vernunft« bedeutet, als sich nun die »Entdeckung der absoluten Intersubjektivität« als etwas zeigt, das »in der Bewegung des taghellen Selbstverständnisses in unendlichem Progress ist«. (Hua VI, 275) Die genetische Ausrichtung der Phänomenologie führt somit weg von dem Bild des in starrer Pose eine Welt konstituierenden Subjekts, hin zu einem letztlich intersubjektiv verfassten »transzendentalen Leben der ständigen ›Weltkonstitution‹«. (Ebd.) Hinsichtlich einer Auflösung der hier infrage stehenden Paradoxie der Subjektivität ist aber die Einsicht, dass die volle Universalität der transzendentalen Subjektivität eigentlich Intersubjektivität ist und die objektive Welt daher allein als Korrelat dieser Intersubjektivität zu gelten habe, nur von geringem Wert. (Vgl. Hua VIII, 480) Die globale Problemsphäre der Paradoxie wird dadurch nämlich nur verschoben, indem es nun, anstatt eines einzelnen, eine Gemeinschaft von Subjekten ist, von denen geklärt werden muss, ob sie innerhalb einer Konstitutionstheorie letztlich als empirisch-konstituierte oder transzendental-konstituierende Subjekte zu gelten haben. Noch schwerer wiegen für Husserl aber die beiden folgenden Bedenken. Eine erste methodische Schwierigkeit liegt darin, dass die Leistung der Epoché, die der Phänomenologe an sich selbst vollziehen muss, unrechtmäßig auf die Menscheit übertragen wurde. »Die Naivität der ersten Epoché hatte […] die Folge, dass Ich […] in einem Sprunge und unbegründet, also unrechtmäßig, der Menschheit, in der ich mich finde, dieselbe Verwandlung in die fungierende transEin Umstand, der, wie Zahavi gezeigt hat, in eine Neuinterpretation des Konstitutionsbegriffs mündet. Vgl. Zahavi (1996), 88–100. Zuletzt hat Micali darauf hingewiesen, dass die Interpretation Zahavis eine »Verzerrung der Husserl’schen Ansicht« begünstigt, indem sie den phänomenologischen Status des fungierenden Ur-Ichs marginalisiert. Stattdessen sei zu berücksichtigen, dass Husserls Intersubjektivitätstheorie eine zirkuläre Bewegung zeitige, »indem das Ich sowohl als Ausgangs- als auch Endpunkt der Fremdwahrnehmung fungiert«. Micali (2008), 102. Auch wenn Micali beiläufig gelten lässt, dass die in dieser Bewegung freigelegten Dimensionen des Ich sich nicht nur als abstraktiv gewonnene Konstitutionsschichten, sondern, wie im Falle der Eigenheitssphäre, auch als genuines Erfahrungsfeld zeigen (vgl. ebd., 113), so verweist dies für ihn lediglich auf eine »Zweideutigkeit des Solipsismus«.

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zendentale Subjektivität zumaß, die ich allein in mir vollzogen hatte.« (Hua VI, 190) Die zweite, methodisch und sachlich schwerwiegendere Schwierigkeit, besteht darin, dass die oben genannte Lösung der Paradoxie nur um den Preis der vorschnellen »Selbstvergessenheit unserer selbst, der Philosophierenden« (ebd.) zu leisten ist. Die Übertragung der inhibierenden Leistung epochalen Vollzugs auf die Gemeinschaft möglicher Mitmenschen war nur durch Unterschlagung ihres Vollzugscharakters möglich. Zwar »könnte jeder Mensch, der die Epoché vollziehen würde, sein letztes, in all seinem menschlichen Tun fungierendes Ich erkennen« (ebd.), das bedeutet jedoch nicht, dass der Phänomenologe seinen eigenen Vollzug aus methodischen Gründen auf andere projizieren dürfte – »oder deutlicher gesprochen: die Epoché vollziehe i c h «. (Ebd., 187) Die transzendentalen Fremdsubjekte sind es zwar, deren »universale Sinnesschicht […] allererst objektive Welt für mich möglich macht«, und in der Tat »kann der hier fragliche Sinn von Fremdsubjekten noch nicht der von objektiven, von weltlich seienden Anderen sein« (CM, 95). Diese ohnehin ungenügende Lösung der Paradoxie übergeht aber auf der einen Seite eine transzendentale Dimension, die in den Cartesianischen Meditationen als die zur Aufklärung transzendentaler Intersubjektivität notwendige Konstitutionsschicht der »primordialen Eigenheitssphäre« eingeführt wurde. Auf der anderen Seite übergeht sie aber auch das »Ur-Ich, [das] ego meiner Epoché, das seine Einzigkeit und persönliche Undeklinierbarkeit nie verlieren kann«. (Hua VI, 188) Dass es sich bei dieser Einzigkeit und sogenannten Undeklinierbarkeit nicht um die eines »persönlichen« im Sinne eines empirischen Ich handeln kann, wird klar, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass Husserl zur Freilegung dieser Dimension eine »einzigartige philosophische Einsamkeit« fordert. »In dieser Einsamkeit bin ich nicht ein Einzelner, der aus irgendeinem, sei es auch theoretisch gerechtfertigten Eigensinn (oder aus Zufall, etwa als Schiffbrüchiger) sich aussondert aus der Gemeinschaft der Menschheit, der er sich aber auch dann noch zugehörig weiß. Ich bin nicht ein Ich, das immer noch sein Du und sein Wir und seine Allgemeinschaft mit Mitsubjekten in natürlicher Geltung hat. Die ganze Menschheit und die ganze Scheidung und Ordnung der Personalpronomina ist in meiner Epoché zum Phänomen geworden, mitsamt dem Vorzug des Ich-Mensch unter anderen Menschen.« (Hua VI, 188)

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Um den Sinn dieser Form von Einsamkeit, die von einem wie auch immer gearteten Alleinsein kategorial verschieden ist, verständlich zu machen, ist es in erster Linie erforderlich, Husserls Vorstellung von Intersubjektivität zu Klarheit zu bringen. Als Konstitutionsschicht, die den Sinn »objektive Welt« fundiert, verlangt die Sphäre der Intersubjektivität Husserl eine besondere methodische Vorsicht ab, die sich in den Cartesianischen Meditationen als die thematische Epoché der »primordialen Reduktion« zeigt. Auch die Eigenheitssphäre, die durch sie freigelegt wird, unterscheidet sich bereits grundlegend von jeder solitären Haltung eines psychologischen Subjekts. Als konstitutionstheoretische Schichtenbestimmung bildet sie das Fundament für die intentionale Leistung der Einfühlung bzw. Fremderfahrung und macht damit Intersubjektivität für Husserl denkbar. Zudem wird sich zeigen, dass diese im Stufenbau transzendentaler Konstitution grundlegende Schicht ebenso wie das Ur-Ich zugleich eine besondere Weise transzendentaler Erfahrung anzeigt. Und so, wie es noch bei Ur-Ich und lebendiger Gegenwart zu verfolgen sein wird, schenkt Husserl auch hier dieser eigentümlichen Selbsterfahrung des Philosophen zumeist nur insofern Aufmerksamkeit, wie es sein konstitutionstheoretisches Programm verlangt. Dadurch entgeht ihm die Sensibilität für eine Subjektivität, die nicht einfach die Selbstgefälligkeit eines erkenntnistheoretischen Solipsismus, sondern den Aufweis einer genuinen Erfahrungsdimension impliziert.

1.2.2 Das Fremde im Eigenen Es konnte Husserl nicht entgehen, dass Ausführungen wie die oben skizzierten seinem transzendentalen Programm den Vorwurf eines radikalen Solipsismus einbringen würden. Für eine Philosophie, die ihren Ausgang bei einem transzendental reduzierten, mithin radikal subjektiven Bewusstsein nimmt, müssen sich auch solche konstituierten Einheiten als diesem Bewusstsein zugehörig erweisen, deren Sinn es gerade ist, als Einheiten zu erscheinen, die sich dieser Zugehörigkeit entziehen. Nach Maßgabe der konstitutionstheoretischen Ausrichtung seines transzendentalen Programms stellt sich Husserl die Frage, wie eine Theorie, die ihren Ausgang bei einem subjektiven Pol transzendentaler Leistungen nimmt, zu solchen umfassenden Sinnund Geltungsstiftungen kommen kann, wie sie die Erfahrung von Objektivität und Fremdsubjekten fordert. 61 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Der Erfahrungshorizont, der sich in transzendentaler Einstellung zeigt, ist von dem des natürlichen Weltlebens zunächst hinsichtlich der Reichhaltigkeit seiner Geltung verschieden. Die Gegenstände unserer kontinuierlichen Erfahrung gelten uns nicht weiterhin als Gegenstände eigenen Seins, sondern als abhängig von der aktuellen oder aktualisierbaren intentionalen Beziehung auf sie. Der subjektive Charakter dieses Horizontes meint aber nicht, dass allem Erfahrenden der Index des Eigenen anhaftet, sondern nur, dass die entsprechenden Gegenstände auch als erfahrene Gegenstände erlebt werden. Dementsprechend kommen in diesem Horizont weiterhin Gegenstände vor, die ich als fremde Gegenstände in einem besonderen Sinne erlebe, nämlich als fremde Subjekte. Denn das konkrete Sein des transzendentalen Egos umfasst »wie jede so auch die auf Fremdes gerichtete Intentionaliät«. (CM, 96) Um diese besondere Form der Erfahrung von Fremdsubjekten und damit den Bereich intersubjektiver Erfahrung als eine eigene Konstitutionsschicht transzendental aufzuklären, sieht Husserl sich zunächst zu einer vertiefenden Modifikation der Epoché veranlasst. Das reduktive Verfahren, das die Epoché ermöglicht, wird durch ein abstraktives Verfahren erweitert, durch eine Abstraktion »von allem, was mir transzendentale Konstitution als Fremdes ergibt«. (Ebd., 95) Davon verspricht sich Husserl die Freilegung einer den intentionalen Strukturen von Intersubjektivität vorgeordneten und in diesem Sinne primordialen Dimension bewussten Erlebens. Von hier aus soll sich die Konstitution fremder Subjektivität und letztlich der objektive Sinn von »Welt« beschreiben lassen.

1.2.3 Reduktion und Abstraktion Etwas als fremd zu erleben, fordert für Husserl einen Sinn für das Eigene. Die Konstitutionsschicht »transzendentale Eigensphäre« (CM, 95) freizulegen und auszuzeichnen, ist dann auch der Weg, den er zur Bestimmung des transzendentalen Sinns von Fremdsubjekten einschlägt. Denn »ich kann offenbar nicht das ›Fremde‹ als Erfahrung haben, also nicht den Sinn objektive Welt als Erfahrungssinn haben, ohne jene Schicht in wirklicher Erfahrung zu haben«. (Ebd., 98). Das Verfahren der Reduktion, also die Rückführung der naiv seinsgläubigen Erfahrung auf den Horizont ihrer intentionalen Verknüpfungen und Genesen, wird dazu durch eine »abstraktive Epo62 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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ché« (ebd., 97) angereichert. 5 Dieses der transzendentalen Reduktion in ihrer Vollzugsbewegung gegenläufige Verfahren – sie abstrahiert gezielt von geltenden Intentionalitäten – entdeckt »nicht das auf ein bloßes Korrelatphänomen reduzierte gewöhnliche Menschen-Ich«, etwa als einen Bereich bestimmter Idiosynkrasien, sondern »eine wesensmäßige Struktur der universalen Konstitution«. (Ebd., 96) Es wäre mithin unzureichend die Abstraktion als eine innerhalb der transzendentalen Einstellung zu übende Praxis der Isolation oder eines entsprechenden Gedankenexperimentes zu verstehen: »Abstrahiere ich von den Anderen in gewöhnlichem Sinne, so bleibe ich ›allein‹ zurück. Aber solche Abstraktion ist nicht radikal, solches AlleinSein ändert noch nichts an dem natürlichen Weltsinn des Für-jedermannErfahrbar, der auch dem natürlich verstandenen Ich anhaftet und nicht verloren ist, wenn eine universale Pest mich allein übrig gelassen hätte.« (CM, 96)

Unser natürlicher, regulativer Sinn für eine objektive Welt präsupponiert, dass die Welt auch für andere Subjekte Welt ist, verweist mithin immer schon auf andere als konstituierende Subjekte. Entsprechend muss die Abstraktion, die mir meine eigenheitlichen Erfahrungszusammenhänge freilegt, so radikal sein, dass sie nicht nur von dem abstrahiert, was Menschen und auch Tieren »ihren spezifischen Sinn als sozusagen ich-artig lebenden Wesen gibt«, sondern auch »von allen Bestimmungen der phänomenalen Welt, die in ihre Sinne auf ›Andere‹ als Ichsubjekte verweisen und sie danach voraussetzen, wie alle Kulturprädikate«. (CM, 97) Das bringt mit sich, dass auch »der Charakter der Umweltlichkeit für jedermann, das Für-jedermann-da-und-zugänglich-Sein, Jedermann-in-Leben-und-Streben-etwas-angehen-oder-nicht-angehenkönnen« abstraktiv auszuschließen ist. (Ebd., 98) Dadurch verschwindet der Sinn »objektiv« ganz und gar. Denn zur Gegenstandskonstitution in einem weiten Sinne gehört stets auch die Beziehung »auf eine unbestimmte Subjektivität […] oder eine offene Vielheit von Subjektivitäten, in denen er […] sich konstituiert.« (Hua XIII, 463) Die abstraktive Epoché lässt nur noch einen Sinn »bloße Natur« übrig. In der »kontinuierlich einstimmig fortgehenden Welterfahrung« (CM, 98), Husserl ist natürlich nicht der Meinung, zuvor Epoché geübt haben zu müssen, um eine Erfahrung der Eigenheitlichkeit zu gewinnen, bevor man die Erfahrung von »Fremde« machen kann, sondern die Eigenheitssphäre ist »dadurch ausgezeichnet, daß sie die wesensmäßig fundierende ist«. (CM, 98)

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die uns diese abstraktive Einstellung nach wie vor gewährt, kommen dann auch die formalst als lebendig-leiblich verfasst erlebten Subjekte als bloße Körper zur Geltung. Ihnen fehlt der Ausdruck psychophysischer Einheit und Menschlichkeit, der sie mir in natürlicher Einstellung als empfindende Lebewesen erscheinen lässt. Der einzige Körper, an dem ich diese Einheit weiterhin erfahre, ist der, »›in‹ dem ich unmittelbar ›schalte und walte‹«, dessen Organe also »meinem ›Ich kann‹ unterstehen«. (Ebd., 99) Auch wenn die Abstraktion nicht mein Selbst, als »gewöhnliches Menschen-Ich« freilegt, so doch »›meinen Leib‹ und ›meine Seele‹, oder mich als psychophysische Einheit«, in der »mein personales Ich« beschlossen liegt, »das in diesem Leib und ›mittels‹ seiner in der ›Außenwelt‹ wirkt«. (Ebd., 100) Die gewöhnliche Konkretion, der »natürliche Sinn« des Ich bleibt aber in dem Grade ausgeschieden, wie alle Beziehung auf »ein mögliches Uns oder Wir und alle meine Weltlichkeit im natürlichen Sinne« ausgeschaltet ist. Da die personale Konkretion des Ich für Husserl überhaupt nur denkbar ist als eine intersubjektive 6, kann die Eigenheitssphäre also nicht Bereich eines personalen oder seelischen Urgrundes sein, sondern muss als eine Funktionsschicht transzendentaler Sinnstiftung gelten, die als eine gewissermaßen vor-soziale Ichlichkeit erfahren wird, auf deren Grundlage sich die Konstitution von Fremderfahrung zeitigt. In den Cartesianischen Meditationen bemüht sich Husserl zunächst sichtlich, diesen Rückgang auf die primordiale Sphäre des Bewusstseins als rein methodisches Erfordernis darzustellen. Zur phänomenologischen Beschreibung der Konstitution des Anderen sieht er sich veranlasst, die »synthetische Leistung« der »auf Fremdes gerichteten Intentionalität […] aus methodischen Gründen« (ebd., 96) auszuschalten. Da sich das phänomenologische Vorgehen hier eher aus einer methodischen Präsumtion als aus den Erfordernissen der Vgl. Hua XIV, 170–175. Gleichwohl scheint es für Husserl einen Begriff von Personalität zu geben, der nicht dem des konkreten Ich entspricht. Im Gang der Untersuchungen der CM besagt das Ego in ›alter ego‹ Husserl zufolge: »das bin ich selbst, innerhalb meiner primordialen Eigenheit konstituiert, und zwar in Einzigkeit als psychophysische Einheit (als primordialer Mensch), als ›personales‹ Ich waltend in meinem, dem einzigen Leib«. (CM, 113) Die primordiale Eigenheit umfasst mithin einen Bereich des personalen Lebens, der von den sozialen Leistungen fremder Subjekte vollkommen unabhängig ist. Vgl. dazu auch die vorreflexive Konstitution des personalen Ich in Hua IV, 251–253. Als Konstante in Husserls Begriff eines personalen Selbst kann aber die Vorstellung gelten, das entsprechende Bewusstsein sei »ein System des ›Ich kann‹«. (Hua IV, 253)

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Sache selbst zu ergeben scheint, hat die Einführung der primordialen Sphäre in den CM zuweilen den unphänomenologischen Zug eines bloßen Postulats. Angesichts der Künstlichkeit, mit der Husserl diese Abgrenzung des Eigenen, zur Explikation der Sinnkonstitution des Anderen in den CM vorgenommen wissen möchte, spricht Micali hier ganz zu Recht von einer »Inszenierung«, die aber möglicherweise auf »ein ursprüngliches Erfahrungsfeld« (Micali 2008, 111) verweise. Dass Husserl die Eigenheitssphäre auch als genuines Erfahrungsfeld gelten lässt, legt schon ihr Verhältnis zur Sphäre des Fremden nahe. In den Cartesianischen Meditationen verschärft sich der ohnehin schon markante, aber eben noch methodisch legitimierte Solipsismus, indem Husserl die auf dem Fundament der Eigenheitssphäre sich konstituierende Erfahrung von Fremdem zwar als eine Sphäre eigenen Rechts auszeichnet, diese aber zugleich der Sphäre der Eigenheitlichkeit zurechnet. Der Horizont transzendentaler Erfahrung zerfällt so »in die Sphäre einer Eigenheit […] und in die Sphäre des Fremden. Dabei gehört aber doch jedes Bewußtsein von Fremdem, jede Erscheinungsweise von ihm mit in die erste Sphäre«. (CM, 102) Das kann aber offenbar nicht besagen, dass eigenheitliches Bewusstsein von Fremden mir fremdes Bewusstsein in irgendeinem originären Sinne anschaulich machen kann. »Wäre das der Fall, wäre das Eigenwesentliche des Anderen in direkter Weise zugänglich, so wäre es bloßes Moment meines Eigenwesens, und schließlich er selbst und ich selbst einerlei.« (Ebd., 111) Als Husserl in den dreißiger Jahren das abstraktive Verfahren der Cartesianische Meditationen einer umfassenden primordialen Reduktion zuordnet, hebt er diese, wie Micali (2008, 112–115) gezeigt hat, dementsprechend deutlich von einer solipsistischen Reduktion ab. »Die solipsistisch reduzierte Welt ist nicht zu verwechseln mit der primordialen Welt, oder die solipsistische Reduktion mit der primordialen Reduktion. Denn diese ist die Reduktion dessen von der Welt, die ich erfahrungsmäßig in Geltung habe, auf das von ihr, was ich originaliter erfahre und je erfahren kann. Damit reduziere ich mich auf mein primordiales Ich als Schicht meines konkreten Ich. Zum primordialen gehören alle meine einfühlenden Erfahrungserlebnisse, nicht aber die darin wenn auch rechtmäßig erfahrenen Anderen.« (Hua XV, 51) 7

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Zitiert nach Micali (2008), 112.

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Dieser Begriff von Primordialität, der den bisher skizzierten in gewisser Hinsicht erweitert, meint nicht mehr nur eine konstitutionstheoretische Fundierungsschicht, sondern eine besondere Dimension transzendentaler Erfahrung. (Vgl. Micali 2008, 113) Anders als in gewöhnlicher transzendental reduzierter Welterfahrung, in der mir der Andere als fremdes Subjekt zwar leibhaftig gegeben, hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse und Erscheinungen aber unzugänglich erscheint, gilt mir in der primordialen Sphäre nur all das als Erscheinung, was sich als originär, also mir unmittelbar zugänglich auszeichnen lässt. Demzufolge kann es in dieser primordialen Sphäre keine anderen, nichts Fremdes geben, insofern sich keine unerfüllten Überschüsse meiner Intentionalitäten abzeichnen, die sich als prinzipiell unzugänglich erweisen könnten. Selbst »fremde Leiber werden dann meine primordialen Körper, die als fremde Leiber [erst] bei Aufhebung der primordialen Abstraktion zur Geltung kommen«. (Hua Mat. VIII, 14) In der so verstandenen primordialen Sphäre ist dann auch die Frage eine sinnvolle, »ob nicht die primordiale ›Welt‹ als solche und nicht als Gegebenheitsschicht der intersubjektiv identischen Welt […] eine Wesensmöglichkeit darstellt, […] ich also von mir wirklich alles abtun könnte, was den Konnex mit Anderen voraussetzt […]«. (Hua XV, 561 f.) 8 Micali hebt in diesem Zusammenhang pointiert hervor, dass die hier ausgedrückte Emphase auf einen tatsächlich vollzogenen, nicht nur inszenierten Rückgang auf eine primordiale Sphäre den schmalen Grat deutlich macht, der »die durch ein abstraktives Verfahren entstandenen konstitutiven Schichten von dem Reich der Erfahrung trennt: Das, was in einem konstitutiven Sinne als fundierend angesehen wird, kann zu einer Erfahrungsmöglichkeit werden«. (Micali 2008, 114) Wie bei der Paradoxie der Subjektivität lässt Husserl aber auch hier die Spielräume der lebendigen Erfahrung, die seine Verfahren gewähren, in aller Regel nur im Rahmen seiner kontitutionstheoretischen Interessen und eines entsprechend engen Begriffs theoretischer Erfahrung gelten. Auch die konstitutionstheoretisch inszenierte und die erfahrbare Primordialität werden von Husserl schon deshalb kaum systematisch auseinandergehalten, weil der »Andere« als konkretes Korrelat die primordiale Sphäre in beiden Hinsichten transzendiert. So wird auch die Möglichkeit konkreter primordialer Erfahrung für Husserl nur in 8

Zitiert nach Micali (2008), 114.

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Fruchtbares Scheitern

Hinblick auf ihre letztlich methodologische Relevanz innerhalb seines Versuches maßgeblich, die genetischen Strukturen auszulegen, die uns den Geltungssinn »Anderer« und von dort eine »objektive Welt« konstituieren. Die immanente Transzendenz, d. h. die ideale Einheitlichkeit intentionaler Gegenstände, die jedes meiner aktuellen Wahrnehmungserlebnisse insofern übersteigt, als ich mich auch in anderen produktiven und reproduktiven Akten auf diesen Gegenstand beziehen kann, gilt Husserl noch als Element der primordialen Sphäre. (Vgl. CM, 106 f.) Dieser Bereich von Eigenheitlichkeit wird erst dann überschritten, wenn es zur Sinnstiftung von »Welt«, also wirklicher Transzendenz kommt, d. h. sich die »Erfahrung von Fremdem (Nicht-Ich) […] als Erfahrung von einer objektiven Welt und darunter von Anderen« (ebd., 108) einstellt. Die Erfahrung von »Fremdem (Nicht-Ich)« ist dabei nicht schon fremde Subjektivität, sondern eine »Urstiftung« wirklicher Transzendenz im primordialen Bewusstsein, die die transzendentale Leistung von Fremderfahrung fundiert. Zu dieser gehört jedoch nicht nur, den Anderen als Pol seiner für uns unzugänglichen Erlebnisse und Habitualitäten zu erfahren, sondern auch als konkretes transzendentales Subjekt, das auf dem Fundament seiner Eigenheitsphäre mich als Anderen konstituiert. (Vgl. Hua XV, 39) Diese Reziprozität der Fremderfahrung, die den konstitutionstheoretischen Vorrang der Intersubjektivität und damit eine erste halbherzige Auflösung der Paradoxie der Subjektivität zu bestätigen scheint, wird aber lediglich erneut eine Erfahrungsdimension freilegen, die auf die absolute »Einzigkeit des Ego und seine zentrale Stellung für alle Konstitution« (Hua VI, 190) verweist.

1.2.4 Einfühlung und die Reziprozität der Fremderfahrung Die beiden Hinsichten von Primordialität als erfahrbarer Sphäre bloßer originärer Wahrnehmung (vgl. Hua XV, 129) und als abstraktiv freigelegter transzendentaler Fundierungsschicht (vgl. CM, 98) fallen dort zusammen, wo es um die konstitutionstheoretische Aufklärung derjenigen Motivationszusammenhänge geht, die die primordialen, unbeseelten Körper zu fremden Leibern, eben zu anderen werden lassen. Und es sind bereits die ursprünglichen Präsuppositionen dieser Motivationszusammenhänge, die die Husserl’sche Intersubjektivitätstheorie auf einen ersten Blick fragwürdig erscheinen lassen. 67 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Husserls Paradoxie der Subjektivität

Denn Husserl entwickelt sein Verständnis von Einfühlung oder Fremderfahrung auf der Grundlage derjenigen epistemischen Kategorien, die sowohl in den frühen urteilstheoretischen Analysen der Logischen Untersuchungen als auch in den späteren daran anschließenden Untersuchungen dinglicher Wahrnehmung zentral waren. So, wie ein Urteilsakt in epistemischen Zusammenhängen dann relevant wird, wenn es zu einer Synthese von intendierter Bedeutung und einer sie erfüllenden Anschauung kommt (vgl. Hua XIX/2, 599–600), so ist Husserl zufolge der Gang unserer einstimmigen sinnlichen Erfahrung dadurch motiviert, dass wir in unserer alltäglichen Orientierung stets einen intentionalen Überschuss vor uns herschieben, d. h. aus früheren Erfahrungen gespeiste Erwartungen an sinnliche Gegenstände, z. B. ihre Rückseiten haben, die sich im Fortgang des Erfahrungslebens erfüllen oder enttäuschen können (ebd., 593 ff.). Später, so in den CM, spricht Husserl diesen intentionalen Überschuss, also das Mitgegenwärtig-Machen von etwas, das nicht aktuell vorliegt, als Appräsentation an, ihre entsprechende originäre Erfüllung als Präsentation (vgl. CM, 111). Als sich wechselseitig fordernde Termini werden sie von Husserl auf eigentümliche Art auch für die intentionale Leistung der Fremderfahrung herangezogen; eigentümlich in dem Sinne, dass die originäre, also direkte intuitive Erfüllung der Appräsentation »beseelter Leib« für mich als primordialer Mensch »a priori ausgeschlossen sein muß« (CM, 112), denn das psychische Leben des Anderen, das ihn mir als leibliches Subjekt und nicht nur als Körper erscheinen lässt, ist mir, Husserl zufolge, schon in natürlicher und erst recht in primordialer Einstellung unzugänglich. Zur Selbsterfahrung der primordialen Sphäre gehört, wie wir schon wissen, in besonderer Weise der eigene Leib, »dem ich Empfindungsfelder zurechne« (ebd., 99) und der sich dadurch von den bloßen Körpern unterscheidet, als die mir die anderen Menschen in dieser Sphäre gelten. Den Sinn »Leib«, d. h. den Sinn »empfindungsfähiger, beseelter Körper mit eigenen Erlebnissen und Erscheinungen«, gewinnen diese Körper dann durch eine »apperzeptive Übertragung« bzw. eine »verähnlichende Apperzeption« (ebd., 113) mit meinem Leib als »urstiftendem Original« (ebd., 114). Den Leibniz’schen Begriff der »Apperzeption«, den Husserl oft synonym zu dem der »Appräsentation« gebraucht, dürfen wir hier als ein passives Leisten verstehen, das uns ermöglicht, etwa den Zwecksinn eines Gegenstandes unmittelbar an diesem Gegenstand zu erfassen. Nachdem wir in einer ursprünglichen, von Husserl als »Urstiftung« bezeich68 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Fruchtbares Scheitern

neten Erfahrung begriffen haben, dass der Zweck einer Schere das Schneiden ist, sehen wir jeder Schere diesen Zwecksinn künftig direkt an. Im Falle der Fremderfahrung ist die Grundlage dieser urstiftenden Erfahrung mein eigener Leib, der mir, anders als die ursprünglichen Apperzeptionen der Dingwahrnehmung »immerfort lebendig gegenwärtig ist« und damit auch »die Urstiftung selbst immerfort in lebendig wirkendem Gang bleibt«. (Ebd., 114) Tritt nun ein Körper in mein Wahrnehmungsfeld und handelt es sich dabei um einen menschlichen Körper, setzt auf der Grundlage meiner urstiftenden Vertrautheit mit meinem Körper als Leib eine bestimmte Form passiver Synthesis ein, die Husserl als Assoziation bzw. Paarung bezeichnet. Vermöge dieser »Urform« der Assoziation kommt es zu einer Übertragung des an meinem Körper gewonnenen Sinns »Leib« auf den anderen Körper. Dass mir der so als Leib erscheinende Körper auch als fremder Leib erscheint, verbürgt Husserl zufolge der Umstand, dass mir die maßgeblichen Spezifika der fremden Leiblichkeit, die ich von meinem Leib appräsentiere, also die Erlebnisse des fremden waltenden Ich, nicht verfügbar sind, die Appräsentation also prinzipiell nicht originär erfüllt werden kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass es von dem fremden Bewusstseinsleben überhaupt keine Präsentation für uns gibt. Der durch passive Assoziation als meinem hinreichend ähnlich identifizierte Körper 9 erweist sich insofern als eine »Verflechtung« von Leibkörper und Ich, als er sich mir in kontinuierlicher und einstimmiger Erfahrung als einer zeigt, an dem »immerfort zusammenstimmende Gebaren« (CM, 117) auftreten, die mir seine psychische Seite indizieren. Nur Körper, die einen fortwährend kohärenten Stil haben, werden von mir als menschliche, psychophysische Einheiten erlebt. Erst wenn an ihrem Benehmen zum Ausdruck kommt, dass ihre Bewegungen Ergebnis eines waltenden Ich, also auch meine Bewegungen sein könnten, kommen sie als alter ego zur Geltung. Die Erfüllung meiner Appräsentationen wird in der Fremderfahrung also stets nur angezeigt und indem sie sich einer letzten originären Selbstgebung entziehen, motivieren sie die beständige Erfahrung von Fremden. Und gerade in »dieser Art bewährender

Die Ähnlichkeitsassoziation muss als eine der Hürden der Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie gelten, da er nicht verständlich machen kann, inwiefern gerade das ausgezeichnete Erleben des eigenen Leibes als Orientierungszentrum und Empfindungsfeld uns dazu in die Lage versetzen sollte, einen »fremden« Körper, den wir so grundlegend anders erleben, als einen unserem ähnlichen aufzufassen.

9

69 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Husserls Paradoxie der Subjektivität

Zugänglichkeit des original Unzugänglichen gründet der Charakter des seienden ›Fremden‹«. (Ebd., 117) Appräsentation und kontinuierlicher Entzug der Selbstgebung sind also als Elemente der passiven Assoziation zu verstehen, die Husserl als »Paarung« anspricht. Das alter ego verweist demnach stets auf meine primordiale Sphäre und meinen Leib als diejenige Einheit, die die Fremderfahrung ursprünglich geweckt hat, aber zugleich verweist es auf seine primordiale, mir verschlossene Sphäre und in dieser Spannung entsteht ein »lebendiges, wechselseitiges Sich-Wecken, ein wechselseitiges, überschiebendes Sich-Überdecken nach dem gegenständlichen Sinn«. (Ebd., 115) Es gehört daher zum Sinn des »Anderen«, dass dieser, wie ich, seinerseits »Andere« auf dem Fundament seiner Eigenheitsphäre konstituiert. So besagt »›es ist ein Anderer‹ […] doch überhaupt für mich nur, er ist aus meiner Konstitution. Also ist evident, dass das Sein des Anderen von meinem Sein transzendental gesprochen abhängt. Allerdings gehört zum Sinn des für mich seienden Anderen zugleich, dass für ihn dasselbe gilt.« (Hua XV, 39) Die Reziprozität, die hier zum Ausdruck kommt, zeigt durchaus Husserls Neigung, die transzendentale Intersubjektivität als die eigentliche Dimension transzendentaler Sinnkonstitution anzuerkennen. Ganz davon zu schweigen, dass es die »komprehensive Vorstellung [ist], die Andere von mir haben, bzw. haben können, [die] mir dazu dient, mich selbst als sozialen ›Menschen‹ aufzufassen«. (Hua IV, 242) Aber auch wenn die wechselseitige Konstitution die Strenge eines transzendentalen Solipsismus abmildern mag, zwingt schon die phänomenologische Redlichkeit dazu, anzuerkennen, was auch dem Intersubjektivismus Merleau-Pontys zum Problem werden wird: »Es gibt einen erlebten Solipsismus, der unhintergehbar bleibt.« (PhdW, 409) »Also so ist Welt für mich konstituiert […], dass alles, was ist, von meinem Sein abhängt, dass aber auch alles, was ist, vom Sein der Anderen abhängt – die für mich sind.« (Hua XV, 39)

Im Durchgang durch die Schichten transzendentaler Konstitution, die Aufdeckung wechselseitiger Weckung der transzendentalen Subjekte und eine entsprechende Reziprozität in der Fremderfahrung, kann Husserl nicht umhin jene transzendentale Dimension anzuerkennen, an die alles transzendentale Leisten zurückgebunden bleibt. 10 10

Micali (2008, 121) nimmt dieses Bekenntnis zu einem letzten Solipsismus zum

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Fruchtbares Scheitern

Es ist diese urichliche Dimension unseres bewussten Erlebens, der Husserl in der Krisis jene oben erwähnte Einsamkeit attestiert, die weder eine Einsamkeit im Sinne des Mangels einer Gemeinschaft ist noch überhaupt die Solitärität eines personalen Individuums meint. Denn nicht nur die wechselseitige Sinnstiftung der intersubjektiven Welt, auch die Struktur meines personalen Erlebens ist letztlich an diese »Ursubjektivität« zurückgebunden. »Mache ich mir klar, wie ich selbst bin als dieses Ich all seiner Geltungserwerbe, […] so erkenne ich, dass diese Frage nach dem Wer nicht besagt die Frage nach der menschlichen Person, welche vielmehr ein Motivat im ständigen, lebendig fungierenden Motivationszusammenhang dieser Ursubjektivität ist. Dieser Wer bin ich selbst und doch nicht im gewöhnlichen Sinne, sofern ich in diesem gewöhnlichen Sinne ich sagend schon über ein Endgebilde meines letztlich fungierenden Ich spreche, das überhaupt, um sich auszusprechen, schon fungieren muss.« (Hua Mat. VIII, 16)

Weit davon entfernt, eine metaphysische Stipulation oder ein formaltranszendentales Prinzip zu sein, rekurriert Husserl mit seiner Rede von Ursubjektivität und dem fungierenden Ich einerseits auf die selbstverständliche Nähe unseres subjektiven Bewusstseinslebens, andererseits auf ein entsprechendes Funktionszentrum aller Konstitution, auf »das absolut einzige letztlich fungierende ego«. (Hua VI, 190) Beide Hinsichten kommen phänomenologisch zunächst gleichursprünglich zur Geltung, weil sie sich dem inneren Blick gleichermaßen entziehen, ganz gleich, wie schnell wir ihn auch wenden. Dieses Ur-Ich bleibt, »während es das ursprünglich lebendige ist, verborgen, unthematisch«. (Hua Mat. VIII, 16)

Anlass, eine grundlegende Asymmetrie zwischen der Sphäre des Eigenen und des Fremden in Husserls Konstitutionstheorie zu diagnostizieren. So will er jene Interpreten widerlegen, die, wie etwa Zahavi, den Spätschriften Husserls einen paradigmatischen Wechsel von einer egologischen hin zu einer intersubjektiven Grundlage transzendentaler Konstitution attestieren. Es bietet sich aber auch an, die Spannung nicht innerhalb der etablierten Konstitutionstheorie zu suchen, sondern vielmehr zwischen Husserls radikalem Transzendentalismus, der die »direkte Erfahrung« transzendentaler Konstitution verlangt und der fortschreitenden Artikulation dieser Erfahrung, die stets reicher sein wird als ihre konstitutionstheoretische Fixierung.

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Husserls Paradoxie der Subjektivität

1.3 Das fungierende Ur-Ich und die natürliche als eine transzendentale Einstellung Die Ursubjektivität, die in dem transzendentalen Programm Husserls das letzte Wort zu haben scheint, kann nach dem bisher Gesagten nicht einfach Konsequenz einer subjektphilosophischen Tradition sein, sondern muss als Ausdruck der methodischen Redlichkeit eines Programms gelten, für das das sich in der Erfahrung Gebende Rechtsquelle ihrer Erkenntnisse ist. In dieser Hinsicht wird es als ein schon beinahe trivialer Umstand gelten können, dass ich bei jeder Erfahrung »immer dabei«, also in einem Sinne »allgegenwärtig« bin (XIII, 52). Diese Allgegenwart des vollziehenden Ich ist für den natürlich eingestellten Menschen eine anonyme, unthematische und wird erst »durch eine ganz eigenartige Reflexion, durch die Urmethode aller philosophischen Methoden, die transzendentale Reduktion« zugänglich. (Hua Mat. VIII, 16) Husserls radikaler Transzendentalismus und die von diesem geforderte innerliche Wandlung angesichts der »direkten Erfahrung« transzendentaler Konstitution (vgl. Hua VI, 104) impliziert demnach eine eigentümliche Selbsterkenntnis, die sich letztlich in das lebendige und sodann logische Paradox der Subjektivität entfalten kann. In der ursprünglichen Ruhe transzendentaler Konstitution – und was gäbe es im Rückgang auf mich selbst anderes zu gewinnen – kann die Spannung des Paradoxes allerdings nicht zur Geltung kommen. Von der Warte dieses Ur-Ich her, das »jeder Mensch, der die Epoché vollziehen würde, [als] sein letztes, in all seinem menschlichen Tun fungierendes Ich erkennen« könnte (Hua VI, 190), löst sich für Husserl die Paradoxie der menschlichen Subjektivität in gewisser Weise auf. Denn aus diesem »letzten Selbstverständnis« erschließt sich mir die »einseitig verschlossene natürliche Einstellung«, in der ich »den Gegenstandspolen ganz hingegeben [bin], ganz gebunden an die ausschließlich auf sie gerichteten Interessen und Aufgaben […] als eine besondere transzendentale, als die einer gewissen habituellen Einseitigkeit des gesamten Interesselebens«. (Ebd., 209) Das Subjekt in der Welt erweist sich dem urichlichen Erfahren als eine transzendentale Struktur und vermag somit nicht mehr den Sog einer lebendigen Paradoxie zu erzeugen. Diese konnte sich ja nur in dem Maße aus der epochalen Verwirrung über die Ordnung der eigenen Subjektivität ergeben, wie diese Erfahrung mit der Macht des Common Sense stritt. Sobald ich, »der Philosophierende, in reiner Konsequenz auf 72 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Das fungierende Ur-Ich und die natürliche als eine transzendentale Einstellung

mich reflektiere als das im Wandel der Erfahrungen und daraus entsprungenen Meinungen beständig fungierende Ich« (ebd., 208), erkenne ich, dass ich »zwar in Wahrheit transzendentales ego, aber dessen nicht bewußt« war. (Ebd., 209) Hier werde ich auch dessen inne, »daß alle Meinungen, die ich von mir selbst habe, aus Selbstapperzeption stammen, aus Erfahrungen und Urteilen, die ich – reflexiv auf mich selbst gerichtet – gewonnen und mit anderen Apperzeptionen von meinem Sein, die ich im Konnex mit anderen Subjekten von diesen übernommen, synthetisch verbunden habe«. (Ebd.) Die urichliche Selbsterfahrung zeigt somit zweierlei: Innerhalb transzendentaler Erfahrung lässt sich eine lebendige Paradoxie der Subjektivität schon insofern nicht diagnostizieren, als sich hier die Weise, wie wir die Welt in natürlicher Einstellung erleben, als eine transzendentale unter anderen, als eine »einseitig verschlossene« erweist. Das bestätigt die weiter oben bereits nahegelegte Vermutung, dass die Paradoxie dann eine lebendige wird, wenn die Selbsterfahrung, die sich in der Epoché einstellt, in eine vor-transzendentale Haltung zur Welt hinübergerettet und interpretiert wird – und man erliegt nur »allzuleicht, und gleich bei den ersten Anfängen, den ohnehin sehr versucherischen Rückfällen in die naiv-natürliche Einstellung«. (Hua VI, 158) So, wie mir die Epoché eine Haltung zu mir selbst gewährt, in der sich mein eigenes Selbstbild als ein aus Fremdund Selbstapperzeptionen synthetisiertes offenbart, so zeigt sich in ihr mein ganzes natürliches Weltbild als ein transzendental bedingtes »Interesseleben«. Das lebendige Paradox büßt also seine Griffigkeit ein, wenn wir die Natürlichkeit der vor-transzendentalen Einstellung nicht länger als die fraglos umfassende gelten lassen, als die sie uns im alltäglichen Lebensvollzug erscheint. Die Unmittelbarkeit, mit der ich mich in der Welt erlebt habe und mit der die Welt »für mich einfach da, im wörtlichen oder bildlichen Sinne ›vorhanden‹« (Hua III, 56) war, weicht einer Distanziertheit, aus der heraus das weltgebundene Ich meines natürlichen Lebensvollzugs den Status »Ich-Pol« insofern einbüßt, als es sich als ein Gegenständliches, und das heißt nicht ursprünglich fungierendes zeigt. Im lebendigen Vollzug dieser Erfahrung vermag sich keine paradoxale Spannung einzustellen. Sie ist nicht aufgelöst, sondern aus der Welt geschafft. Das logische Paradox der Subjektivität kann hingegen nur um den Preis als aufgelöst gelten, das transzendental-konstituierende Ego als die zwar verdeckte, aber eigentliche Subjektivität anzuneh73 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Husserls Paradoxie der Subjektivität

men, der in irgendeinem Sinne höhere Dignität zukommt. Für eine solche Gewichtung besteht innerhalb phänomenologischer Philosophie aber weder ein Anlass, noch hat Husserl eine solche metaphysische Hypostasierung zum Ausdruck gebracht. 11 Die Freilegung des fungierenden Ich ist also nicht Schau eines höheren Ich, obgleich Husserl von der transzendentalen Subjektivität gelegentlich als von der »befiederten Seele« (Hua VIII, 167) spricht. Doch es zeigt sich, dass ich als Ur-Ich zumindest »nicht ein Ich [bin], das immer noch sein Du und sein Wir und seine Allgemeinschaft von Mitsubjekten in natürlicher Geltung hat«. (Hua VI, 188) Ich werde also in die Lage versetzt, mich vor der personal-habituellen Selbstapperzeption als etwas zu erfahren, das sich nicht mit dem vertrauten Ich meines alltäglichen Lebens decken kann. Denn »als Ich lebend (denkend, wertend, handelnd), bin ich notwendig Ich, das sein Du, sein Wir und Ihr hat, das Ich der personalen Pronomina«. (ebd., 270) Unter dieser Voraussetzung kann Husserl bei der Einführung des Ur-Ich in der Krisis schreiben: »Das Ich, das ich in Epoché erreiche […] heißt eigentlich nur durch Äquivokation ›Ich‹, obschon es eine wesensmäßige Äquivokation ist, da, wenn ich es reflektierend benenne, ich nicht anders sagen kann als: ich bin es, ich, der Epoché-Übende, ich, der die Welt, die mir jetzt nach Sein und Sosein geltende Welt, mit allen ihren Menschen, deren ich so völlig gewiß bin, als Phänomen befrage.« (Hua VI, 188)

Dieses Ur-Ich gilt Husserl nun in der Tat als eine Fundierungsleistung unseres natürlichen personalen Lebens, aber nicht, wie etwa Zahavi meint, als eine bloß »abstraktive Schichtenbestimmung« (Zahavi 1996, 67). Wie schon die primordiale Sphäre hat auch das Ur-Ich in konstitutionstheoretischem Zusammenhang zwar eine ausgezeichnete Stellung, in dem es als unterste Konstitutionsschicht zur Geltung kommt, die »von sich aus und in sich die transzendentale Intersubjektivität konstituiert, der es sich dann zurechnet, als bloß bevorzugEs gibt im Gegenteil genügend Stellen, in denen er zwar die Differenzierung, nicht jedoch eine Trennung oder Gewichtung der Egos nahelegt. Nichtsdestotrotz handelt es sich um zwei genuine Formen der Selbsterfahrung. »Mein transzendentales Ich ist also evident ›verschieden‹ vom natürlichen Ich, aber keineswegs als ein zweites, als ein davon getrenntes im natürlichen Wortsinn, wie umgekehrt auch keineswegs ein in naturlichem Sinne damit verbundenes oder mit ihm verflochtenes. Es ist eben das (in voller Konkretion gefasste) Feld der transzendentalen Selbsterfahrung, die jederzeit durch bloße Änderung der Einstellung in psychologische Selbsterfahrung zu wandeln ist«. (Hua IX, 294)

11

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Das fungierende Ur-Ich und die natürliche als eine transzendentale Einstellung

tes Glied, nämlich als Ich der transzendentalen Andern«. (Hua VI, 188) Zugleich ist es aber auch »Feld der transzendentalen Selbsterfahrung« (Hua IX, 294). Dieses Feld gibt sich einerseits als das »M i l i e u d e s S u b j e k t i v e n «, in dem »die Weltkugel zu schwimmen« scheint. (Hua IX, 148) Andererseits wird es sich selbst als »strömendes Phänomen« erweisen, als »mein Urphänomen, mein Urfeld der ›Erfahrung‹« (Hua Mat. VIII, 10). Der mediale Sinn dieses strömenden Urphänomens weist bereits voraus auf die Untersuchungen zum Zeitbewusstsein, denen sich in Kapitel I.2 zu widmen sein wird. Dort wird sich klarer zeigen, dass das von Husserl hier als Ur-Ich behandelte Phänomen nicht eine metaphysische Konstruktion oder eine implizit als Ur-Substanz verstandene Entität ist, sondern eine grundlegende Struktur unseres Bewusstseinslebens, die sich näher besehen als zeitlich erweist und die als Erfahrungsdimension der »lebendigen Gegenwart« die basale Dimension von Selbstbewusstsein bestimmt. Diese urichliche Bewusstseinsdimension, die Husserl, wie Taguchi gezeigt hat 12, in ihrer medialen Form der stehend-strömenden Gegenwart fortschreitend als das Absolute des Bewusstseinslebens begreift, bedarf zu ihrer phänomenologischen Thematisierung einer anschaulichen Rechtfertigung. Husserl ist tatsächlich der Meinung, dass Epoché und entsprechende Reduktionen selbst einen »reinen Blick auf den fungierenden Ichpol« (Hua VI, 187) freizulegen vermögen, und es ist eine »letzte Reduktion, die den schauenden Blick richtet auf das absolute urtümliche Leben, auf das urtümliche Ich-bin, auf das Strömen, auf das passive Strömen, auf das Ich-tue, Ich-identifiziere usw. […]« (Hua XV, 585). Dieser Abstand, diese letzte Distanz des schauenden Blicks auf die ursprüngliche Sphäre transzendentalen Bewusstseins lässt nun die methodologische Frage mit neuer Dringlichkeit hervortreten, wie die Phänomenologin sich dieses Bereichs eigentlich soll versichern können. Handelt es sich doch nicht nur um eine intentionale Struktur des erfahrenden Umgangs mit Welt, sondern um das Urfeld von Erfahrung überhaupt. An dieser Stelle ist daher eine erneute Besinnung auf das phänomenologische Verfahren der Epoché angezeigt. Da nun nicht nur die intentionalanalytische Auslegung transzendentaler Konstitution, sondern die ursprüngliche Dimension transzendentaler Subjektivität selbst in Frage steht, zeichnet sich eine weitere 12

Vgl. Taguchi (2006), 164–171.

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Husserls Paradoxie der Subjektivität

Auffächerung des Ich ab, wie sie an populärer Stelle bei Eugen Fink artikuliert wird. Nun ist mit Nachdruck zu fragen, wie das transzendentale Subjekt zu seiner phänomenologischen Selbstaufklärung gelangt. Im Rahmen der umfassenden Methodologie phänomenologischen Philosophierens, die Finks Arbeiten der dreißiger Jahre bestimmt, unterscheidet er deshalb drei Dimensionen des Ich. »1. das weltbefangene Ich (Ich, der Mensch, als Geltungseinheit, samt meinem innerweltlichen Erfahrungsleben), 2. das transzendentale, Welt in strömender Universalapperzeption vorgegeben und in Geltung habende Ich, 3. der Epoché-vollziehende ›Zuschauer‹.« (Fink 1933, 356)

Der Zuschauer ist dabei diejenige Instanz transzendentalen Lebens, die die Konstitutionsleistung in ihrem Fungieren zu erforschen erlaubt. Mit der Dringlichkeit der phänomenologischen Kritik der phänomenologischen Verfahren eröffnet sich so der Bereich, den, wie Luft (2002, 16) gezeigt hat, Fink und Husserl gleichermaßen unter dem Titel »Phänomenologie der Phänomenologie« als eine Metareflexion verstehen, die sich als »Selbstkritik des unbeteiligten Zuschauers hinsichtlich seiner ihm spezifischen Seins- und Funktionsweise« (ebd., 21) artikuliert. In der VI. Cartesianischen Meditation, die Fink 1932 in Husserls Auftrag als Vorarbeit zu einer »Transzendentalen Methodenlehre« verfasste, wird letztlich »das Phänomenologisieren selbst zum Gegenstand phänomenologischer Erforschung und Erkenntnis« (VI. CM, 61) gemacht. Diese Selbstkritik phänomenologischen Philosophierens entdeckt eine der Paradoxie menschlicher Subjektivität verwandte Spannung im Vollzug phänomenologischer Epoché und Reduktion. In dem Maße, wie nun fragwürdig wird, vermöge welcher Leistung die unter Epoché freigelegten Konstitutionsleistungen eigentlich erforscht werden können, rückt Fink neben der Spannung zwischen der transzendentalen und mundanen Subjektivität auch noch eine Spaltung innerhalb der transzendentalen Subjektivität selbst in den Fokus, die den sowohl am weltlichen als auch transzendentalen Leben uninteressierten Zuschauer etabliert, den schon Husserl in den Cartesianischen Meditationen als Resultat einer methodischen »Ichspaltung« eingeführt hatte. 13

»Nennen wir das natürliche in die Welt lebend hineinerfahrende und sonstwie hineinlebende Ich an der Welt ›interessiert‹, so besteht die phänomenologisch geänderte Einstellung darin, daß sich eine Ichspaltung vollzieht, indem sich über dem

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Das fungierende Ur-Ich und die natürliche als eine transzendentale Einstellung

Für den hier zu entfaltenden Zusammenhang ist im weiteren relevant, wie Fink Spannung und Spaltung der Subjektivität aufgehoben denkt und welcher Begriff des Absoluten sich ihm dabei aufdrängt. Am Ende der VI. CM wird er in Aussicht stellen, dass es keinen Anlass gibt, »die E n t g e g e n s e t z u n g von Mensch und transzendentalem Zuschauer zu beseitigen«, vielmehr solle man sie »als eine notwendige Antithetik in der synthetischen Einheit des Absoluten begreifen«. (VI. CM 166) Das entspricht der Anlage seiner transzendentalen Methodenlehre, die, wie er im Entwurf eines Vorwortes zu der VI. CM schreibt, »bei aller Nähe zu Husserls Philosophie durch den Vorblick auf eine meontische Philosophie des absoluten Geistes bestimmt« (Hua, Dok II/1, 183) ist. Diesen leitenden Vorblick möchte Fink durch eine in der VI. CM noch »unausdrücklich gemachte Reduktion des als individueller Geist beginnenden philosophierenden Subjekts in die vor aller Individuation liegende Lebenstiefe des absoluten Geistes« (ebd.) gerechtfertigt wissen. Diese Reduktion, wie auch die methodische Entfaltung des Absoluten, bleibt in der VI. CM aber eine bloße »Voranzeige« (Hua, Dok II/1, 158). Die anvisierte Radikalisierung der phänomenologischen Reduktion bringt nun zwar eine Hypostasierung von konstituierendem Ich und dem phänomenologisierenden Zuschauer hervor, von der Fink einräumt, dass sie Husserl zu stark betont finde, 14 sie erlaubt aber zugleich die »innere Wandlung« der Epoché und ihr existenzielles Gewicht klarer zu fassen. Denn für die Freilegung des Zuschauers durch Epoché und Reduktion verlangt Fink nicht lediglich einen umfassenden Einstellungswechsel, sondern »zutiefst eine Verwandlung des ›Selbst‹«. (Fink 1933, 357) Diese Verwandlung ist für ihn letztlich das »Zu-sich-selbst-Kommen der transzendentalen Subjektivität«, das seine Möglichkeitsbedingung in der im Vollzug der Epoché sich einstellenden Entmenschung des Philosophen und der damit einhergehenden Enthüllung des transzendentalen Zuschauers hat. (Vgl. Hua Dok II/1, 43 f.) In gewisser Weise entlastet der spekulative Vorblick, der Finks Systematik leitet, seine phänomenologische Selbstbeschreibung. Zugleich ist der Blick durch seinen Vorlauf aber getrübt. Finks Vorlauf naiv interessierten Ich das phänomenologische als ›uninteressierter Zuschauer‹ etabliert.« (CM, 37) 14 »Husserl findet den Gegensatz zwischen dem konstituierenden und dem phänomenologisierenden Ich zu stark betont.« (Hua Dok II/1, 183)

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Husserls Paradoxie der Subjektivität

»in« die Lebenstiefe des absoluten Geistes erlaubt es, mehr, als es Husserls Philosophieren könnte, mit der radikal entmenschten, impersonalen Dimension des transzendentalen Feldes zu rechnen, entledigt dieses aber zugleich der ursprünglichen Subjektivität der lebendig strömenden Gegenwart zugunsten eines spekulativen Begriffs des Absoluten. Husserl, für den sich das Absolute fortschreitend als die schlechthinnige unverfügbare Nähe des Selbst in seiner lebendigen Gegenwart abzeichnet 15, gewahrt zwar die ursprüngliche Subjektivität des absoluten Strömens, verfehlt aufgrund seines Fokus auf einer entschiedenen gegenstandsorientierten Erkenntnis aber dessen impersonalen Charakter. Indem Fink die sich aufdrängende Frage nach der Einheit von weltlichem und transzendentalem Ich im Horizont seiner Affinität zu einer »transzendentalen Interpretation […] des spekulativen Denkens« (Hua, Dok II/1, 169) zu beantworten sucht, geht er, wie zu zeigen ist, über Husserls Begriff der absolut strömenden Gegenwart von Bewusstsein zwar etwas vorschnell hinweg. Ihm gelingt aber dennoch klarer als Husserl der Aufweis, dass eine phänomenologische Thematisierung des Absoluten aus prinzipiellen Gründen nicht einfach theoretisch interessiertes Erfahren sein kann, das stets eine ontifizierende Modifikation des Erlebens bedeuten muss. Während Husserl einer spekulativen Präsumtion des Begriffs des Absoluten entsagt und in einer phänomenologisch ausweisbaren Ursubjektivität anzeigt, bleibt sein Begriff des uninteressierten Zuschauers, der diesen Ausweis zu leisten hat, ungenügend, weil er letztlich einem Begriff theoretischer Erfahrung verhaftet bleibt. Husserl hat zwar einen phänomenologisch, nicht spekulativ ausweisbaren Begriff des Absoluten vor Augen, bleibt aber im Rahmen seines methodologischen Entwurfes des uninteressierten Zuschauers einer theoretischen Einstellung und einer entsprechenden gegenstandsorientierten Form der Erkenntnis verhaftet. Diese methodische Treue wird sowohl Konsequenzen für die Frage nach der lebensweltlichen Motivation der Epoché als auch für die phänomenologische Thematisierung der konkreten Erfahrungsdimension urichlichen Erlebens haben, der lebendigen Gegenwart.

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Vgl. Taguchi (2006), 226 f.

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Finks Zuschauer und das Sich-selbst-Erkennen des Absoluten

1.4 Finks Zuschauer und das Sich-selbst-Erkennen des Absoluten In seinem Artikel Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik beginnt Fink seine umfangreiche Verteidigung von Epoché bzw. transzendentaler Reduktion 16, von der Husserl im Vorwort sagt: »daß in derselben kein Satz ist, den ich mir nicht vollkommen zueigne, den ich nicht ausdrücklich als meine eigene Überzeugung anerkenne« 17, mit einer Charakterisierung ihrer prinzipiellen Unbekanntheit. Die phänomenologischen Verfahren seien der alltäglichen Vertrautheit nicht nur fremd in der Weise, wie es etwa die Verfahren der Physik sind, sondern von so grundlegender Andersartigkeit, dass schon ihre nur skizzenhafte Erörterung »die imperativische Forderung eines Vollzuges, der uns über den Horizont unserer eigenen Möglichkeiten hinaussetzt« (Fink 1933, 346), unabdingbar macht. Mit dieser prinzipiellen Andersartigkeit verbindet Fink zugleich die These von der »Unmotiviertheit der phänomenologischen Reduktion«, durch die zugleich eine »Paradoxie des Anfangs der Philosophie« Ausdruck fände (ebd.). Insofern nämlich gerade die Reduktion die Aufhebung der natürlichen Einstellung bewirken soll, kann in dieser selbst kein Anlass zu ihr bestehen. Vielmehr wird ihre »transzendentale Motivation« erst nach ihrem eigenen Vollzug erkennbar. Diese »Verschlossenheit« der natürlichen Einstellung gegenüber der transzendentalen hat zur Folge, dass die Auseinandersetzung mit den transzendental-phänomenologischen Verfahren aus der natürlichen Einstellung heraus, wenn nicht zu Widersprüchen, so doch zu Missverständnissen führt.

Fink legt in aller Deutlichkeit dar, dass »Epoché und eigentliches Reduzieren […] die zwei inneren und sich gegenseitig fordernden und bedingenden Grundmomente der phänomenologischen Reduktion« (VI. CM, 44) seien. »Verstehen wir unter Epoché Glaubensenthaltung, so können wir unter dem Begriff des »Reduzierens« verstehen alle die t r a n s z e n d e n t a l e n E i n s i c h t e n , in denen wir die B e f a n g e n h e i t - i n - e i n e r- G e l t u n g s p r e n g e n und die Geltung überhaupt e r s t a l s G e l t u n g erkennen.« (Ebd.) 17 Vgl. Vorwort zu Fink in: Kant-Studien 38 (1933), 320. Anders verhält es sich mit Husserls Zustimmung zu der VI. CM, die in enger zeitlicher und systematischer Nähe zu dem Artikel von 1933 steht. Siehe dazu Luft (2002), 143–161, der die VI. CM im wesentlichen als eine Kritik Finks an Husserl interpretiert. Dazu auch Von Kerckhoven (2003), 39–54. 16

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Husserls Paradoxie der Subjektivität

So hat etwa auch Piper im Anschluss an Janssen und Landgrebe die Aporie der natürlichen Einstellung formuliert. Sie besteht darin, dass es zur Bestimmung der phänomenologischen Epoché des Rückgriffs auf die natürliche Einstellung bedarf, die aufgrund ihrer Ursprünglichkeit jedoch erst nach Vollzug der Einklammerung identifizierbar wird. Zum anderen macht er, wie auch Fink, darauf aufmerksam, dass innerhalb des natürlichen Lebensvollzugs kein Motiv, ja »nicht einmal die Möglichkeit« (Piper 1993, 29) eines Einstellungswechsels besteht, wie ihn Husserl für die Epoché fordert. Die Frage nach der lebensweltlichen Motivation der Epoché wollen wir hier einstweilen beiseite lassen; sie wird weiter unten zur Sprache kommen. Der Vorwurf der Aporie gibt uns an dieser Stelle die Möglichkeit, das Verhältnis von natürlicher und transzendentaler Einstellung genauer zu befragen, denn sie beruht auf der zutreffenden Beobachtung, dass sich der Begriff der »natürlichen Einstellung« erst von der transzendentalen Einstellung her entwickeln lässt und dass letztere ihren vollen Sinn erst auf der Grundlage eines reichen Begriffes von »natürlicher Einstellung« gewinnt. Diese wechselseitige Bestimmung fordert also offenbar ein vorsichtiges Oszillieren zwischen den Einstellungen. In vor-phänomenologischer Haltung kann unser prädiskursives Einverständnis bei der Rede von natürlicher und widernatürlicher Einstellung nur in einem weiten Sinne psychologisch motiviert sein. Wir wissen, dass unser Wissen von der Welt und unsere fortschreitende Erfahrung in ihr fallibel sind. Dieses Wissen haben wir uns durch Enttäuschung erworben, also durch Erfahrungen, in denen uns die Bewährung unserer Erwartungen versagt blieb. Damit verfügen wir über die Möglichkeit, uns in der Welt in den Modi des Zweifels oder der Negation zu bewegen. Zu einem ungestörten Indie-Welt-Hineinleben können wir also jederzeit Stellung beziehen. Descartes hat gezeigt, wie resolut eine Stellungnahme im Modus des Zweifels ausfallen kann. Sowohl das Hineinleben als auch eine entsprechende reflexive Einstellung sind nun aber gleichermaßen Element dessen, was Husserl die Generalthesis der natürlichen Einstellung nennt. Unreflektiertes Leben und reflexive Stellungnahme, mithin auch wissenschaftliche Bemühungen jedweder Couleur, präsumieren die natürliche Welt als ihren Horizont. Diese Präsumtion des thetischen Charakters der Generalthesis ist so fundamental, um nicht zu sagen ursprünglich, dass sie sich »unthematisch, ungedacht,

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unprädiziert« erst nachträglich in einem ausdrücklichen Existenzurteil bekunden kann. (Hua III, 64) Fink weist daher zu Recht darauf hin, dass die natürliche Einstellung zunächst gar nicht als ›Einstellung‹ angesprochen werden kann. Vielmehr ist sie der Boden, der von allen menschlichen Einstellungen bereits vorausgesetzt werden muss. Als menschliches Subjekt lebe ich nicht nur auf diesem Boden, mein ganzes Selbstverständnis als menschliches Subjekt speist sich aus der Selbstverständlichkeit, einen Stand in der Welt zu haben, einer Welt, in der andere Subjekte, wie ich, ihren Ort haben. Diese Seinsweise ist aber keine epistemische Beziehung zur Welt. Sie ist kein Welt-Glaube oder Welt-Wissen, in dem Welt in irgendeinem noch so vagen Sinne als gegenständlich gelten könnte. Sie ist einfach In-der-Welt-Sein. Ein erster Vollzug der Epoché kann dementsprechend auch nicht der Ausschaltung der Generalthesis dienen, sondern allererst ihrer Identifikation. (Vgl. Fink 1933, 350) Mit der Entdeckung des Weltglaubens geht für Fink »das Erwachen einer maßlosen Verwunderung über die Rätselhaftigkeit dieser Sachlage« einher. Diese Verwunderung ist aber nicht zu vergleichen mit Erstaunen gegenüber etwas Unerwartetem oder Unbekannten. »Die Epoché ist keine mundane Inhibierung des ontischen, innerweltlichen Glaubens an das Sein der Welt, sondern ist als die konsequente und radikale Außervollzugsetzung der Weltgläubigkeit die Ausschaltung des Glaubens an den menschlichen Glaubensvollzieher […].« (Fink 1933, 351)

Die von Husserl so oft herausgestellte Schwierigkeit der Epoché besteht nicht einfach darin, eine Einstellung aufrechtzuerhalten, so wie es etwa einiger Anstrengung bedarf, einen Gegenstand über einen längeren Zeitraum zu fokussieren oder sich gegenüber einem grob unfreundlichen Mitmenschen zu beherrschen. Der Grund der Widernatürlichkeit (vgl. Hua XIX/1, 14) der phänomenologischen Methode liegt vorrangig nicht darin, dass sie den Gegenständen gegenüber, die wir sonst naiv als seiende setzten, eine Haltung der radikalen Vorbehaltlosigkeit einnimmt, sondern dass der Philosophierende den naiven Weltglauben an der Wurzel herausreißen muss. Das bedeutet nicht nur, den Weltglauben, sondern in Eins damit unser Selbstverständnis zu inhibieren. Als beginnenden Philosophen ist uns die Welt nicht nur in ihrer gegenwärtigen Erscheinung insofern selbstverständlich gegeben, als wir sie als reale, von uns unabhängige Einheit erleben, in der wir irgendwie vorkommen, in die wir geboren wurden 81 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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und aus der wir hinaussterben, sondern sie ist auch der Horizont unseres Lebens, also jener äußerste Bereich, der unsere vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Erfahrungen derart umfasst, dass wir stets ihr Zentrum sind. Es ist dieser Horizont, von dem sich mit Wittgenstein sagen lässt, dass er sich nach dem Tode nicht ändert, sondern aufhört, 18 und es diese Welt ist, die für den Glücklichen eine andere ist als für den Unglücklichen. 19 Mit der Ausschaltung der als ständigem Geltungsuntergrund fungierenden »Welt« verfallen auch die »natürlich-menschlichen Einzelakte der Epoché«. (Fink 1933, 352) Als Phänomenologe bin ich somit angehalten, die Naivität meines Weltverhältnisses, dem nicht nur die Lebenswelt, sondern eben auch meine Heim- und Umwelt korreliert 20, durch eine radikale Reflexion so aufzubrechen, dass ich, mit Husserl gesprochen, »mich rein verhalte als ein […] absolut u n i n t e r e s s i e r t e r Z u s c h a u e r «. (Hua VIII, 92) Das Missverständnis aller Beschreibungen der phänomenologischen Verfahren und Einstellungen, die sich mit der Emphase auf »Einklammerung« und »Ausschaltung« der Welt begnügen, gründen insofern »auf einer Verkennung des ausschaltenden Ichs«, als die »im Weltglauben lebende und das Epoché übende Iche in schlichter Weise identifiziert« werden. (Fink 1933, 354 f.) Es ist auf einen ersten Blick auch allzu naheliegend, zu sagen: Ich bin es, der aus freien Stücken phänomenologische Reduktion übt und mir mein transzendentales Ich entdeckt, das jenes weltbefangene Ich, die Selbstapperzeption »Mensch«, in Geltung hat. Eine solche einfach anmutende Formulierung, die sich in der phänomenologischen Literatur zuhauf finden lässt, zeigt die »zum Vollzug der Reduktion wesenhaft gehörende Spannung der in einer umgreifenden Einheit auseinandertretenden Iche«. (Ebd., 356) 21 So, wie sich natürliche Einstellung und Lebenswelt erst nach Vollzug einer Abwendung in ihren Grenzen überhaupt als solche darbieten und fragwürdig werden, so wird auch das natürliche Ich, wie alles transzendentale Weltmeinen, erst nach einer WenVgl. Tractatus 6.341: »Wie auch beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört.« 19 Vgl. Tractatus 6.43: »Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.« 20 Zu den verschiedenen Weltbegriffen siehe: Held (1991) sowie Luft (2002), 41–56. 21 Fink ist sich der Problematik der Einheit des Ich sehr wohl bewusst, nur sieht er deren Lösung nicht, wie die Kantische Tradition, in der »Einheitsform des weltbefangenen Ich«. Fink (1933), 357. 18

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dung in seinen Grenzen zugänglich. Und so, wie die Welt ihre fraglose Einheit verlieren kann, zeigt sich nun, nach Fink, dass »die phänomenologische Reduktion zutiefst eine Verwandlung des ›Selbst‹ ist, daß sie die schlichte und ›unauflösliche‹ Einheit des menschlichen Ich transzendiert, sie entzweit und doch in einer höheren Einheit zusammenfaßt«. (Ebd., 357) Schon hier lässt Fink im Dunkeln, welche »höhere Einheit« er im Blick hat. Die Entzweiung, von der Fink spricht, meint zum einen die uns bekannte in ein natürlich-psychologisches, weltbefangenes Ich und jenes transzendentale Ich, das als konstituierendes die große Untersuchungssphäre der Husserl’schen Phänomenologie ausmacht. Um dieser Entzweiung, die für Fink eine notwendige Bedingung für eine erste Freilegung der transzendentalen Subjektivität ist, theoretisch habhaft werden zu können, »versagt sich der transzendental theoretische ›Zuschauer‹ jedes Mitgehen mit dem Weltglauben, jeden Mitvollzug, jede Zustimmung«. (Ebd., 356) »Zuschauer« ist nun aber zum anderen die Bezeichnung für die Dimension der transzendentalen Subjektivität, die als eine Art transzendentale Mitose ein Nebenprodukt der Reduktion ist. In deren Vollzug »tritt das transzendentale Leben […] außer sich, spaltet sich selbst, entzweit sich« und »produziert« so den Zuschauer. (VI. CM, 26) Diese zweite Spaltung ist für Fink die Bedingung der Möglichkeit der Selbstversicherung des transzendentalen Subjektes und verläuft somit quer zu jener Ichspaltung, die das Paradox der menschlichen Subjektivität konstituiert. Durch die »Selbstentzweiung des transzendentalen Lebens« (ebd.) entdeckt sich das transzendentale Ich als Zuschauer, dessen »thematisches Feld […] das transzendentale Weltmeinen, der transzendentale Weltglaube, und zwar nicht abgestellt, neutralisiert, sondern in der Lebendigkeit seines positiven Fungierens« ist. (Fink 1933, 356) Von hier ergibt sich Finks egologische Dreifaltigkeit: das natürlich eingestellte Menschen-Ich, das anonym konstituierende transzendentale Ich und das phänomenologisierende Ich als »Zuschauer« des transzendentalen Lebens. Die Spaltung und Enthebung des phänomenologischen Zuschauers vom konstituierenden Ich ist dabei »die Bedingung der Möglichkeit des Zu-sich-selbstKommens der transzendentalen Subjektivität«. (VI. CM, 26) In diesem Sinne ist der phänomenologisierende Philosoph, der sich als Zuschauer entdeckt, der »funktionelle Exponent« (ebd. 44) des transzendentalen Lebens. Dass er sich als solcher entdeckt, sich seiner bewusst wird, meint hier, dass bereits die »im Menschen erwachende transzendentale Tendenz […] nichts anderes als das ›innerliche‹, 83 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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schon im Entwurf der Motivation am Werk seiende Phänomenologisieren des transzendentalen Zuschauers« ist (ebd.) 22. Mit anderen Worten ist die Abspaltung des Zuschauers nicht einfach willkürliche Installation eines Refugiums transzendental-philosophischer Distanz, sondern eine in der ursprünglichen Motivation der Epoché selbst bereits angelegte Disposition, die in ihrem lebendigen Vollzug zur Entfaltung kommt. Der Spalt im transzendentalen Leben, der diese Entfaltung notwendig begleitet, kann aber »die über diese innere Selbstentgegensetzung hinübergreifende E i n h e i t « (ebd.), die uns die Ichspaltungen eben als Spannung, nicht als Bruch erleben lässt, nicht auflösen. Über den Hinweis auf »schwierige und noch dunkle Probleme« (ebd.) gelangt Fink kaum hinaus. Die unüberhörbar hegelianischen Töne des »Zu-sich-selbst-Kommens« 23 und die entsprechenden Ausführungen in den letzten Paragraphen der VI. Cartesianischen Meditation lassen Luft (2002) im Anschluss an Zahavi zu der Auffassung gelangen, Fink suche diese »übergreifende Einheit« in einer »absoluten Ur-Einheit«, in einer »Identität im ›Absoluten‹, in dem sich letztlich alles aufhebt – die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind« (ebd., 176). Finks Suche nach einer »transzendentalen Interpretation […] des spekulativen Denkens« (VI. CM, 169), wie sie am Ende der VI. CM zum Ausdruck kommt, legen zwar durchaus eine feinsinnigere Lesart nahe, als es Lufts joviale Paraphrase Hegelscher Schellingkritik nahelegt. Durch seinen Vorblick auf die Lebenstiefe des absoluten Geistes neigt Fink aber in der Tat dazu, wie die wenigen Anmerkungen zu den einschlägigen Stellen der VI. CM zeigen, Husserls phänomenologischen Begriff des Absoluten zugunsten eines spekulativen zu übergehen. Zugleich öffnet diese Antizipation den Blick aber für eine vorsichtige Befragung des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs. Fink spricht in der VI. CM regelmäßig vom »Produzieren« des Zuschauers. (Vgl. VI. CM, 10, 26.) Seine Ausführungen zur Selbstbesinnung des phänomenologisierenden Subjekts und das sich schon in der Motivation und Weckung der transzendentalen Tendenzen zeigende Streben des Zuschauers rechtfertigt an dieser Stelle die Rede vom »Entdecken«. 23 Man beachte, dass sich in der VI. CM, die von Husserl mitunter reichhaltig kommentiert ist, keine Einwände gegen diese grundlegende Tendenz transzendentaler Erfahrung finden. Die Idee des »transzendentalen Erwachens« (VI. CM, 216) ist Husserl vielmehr vertraut. Vgl. auch Hua I, 76: »Ich als natürlich eingestelltes Ich bin auch und immer transzendentales Ich, aber ich weiß darum erst durch Vollzug der phänomenologischen Reduktion«. 22

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Der im Zuge der Epoché exponierte Zuschauer gilt Fink als das konkrete phänomenologisierende Subjekt, das, wenn es sich als dieser unbeteiligte Zuschauer entdeckt hat, genauso wenig in natürlicher wie in transzendentaler Einstellung fungiert, sondern die vormals anonyme Weltkonstitution der transzendentalen Subjektivität als sein Thema hat. Nach Maßgabe des Programms der VI. CM, einer »transzendentalen Methodenlehre«, fragt Fink nun, inwieweit die Präsupposition der Husserl’schen Transzendentalphänomenologie eigentlich berechtigt ist, derzufolge sich dieses phänomenologisierende Subjekt in einer theoretischen Einstellung befindet, sich also »in theoretischer Habitualität auf seinen Erkenntnisgegenstand bezogen halte«. (VI. CM, 74) Schließlich ist der Begriff der »Wissenschaft« ebenso wie der des »Theoretischen« »ein in der natürlichen Einstellung erwachsener Begriff« und es ist keineswegs selbstverständlich, »dass das Phänomenologisieren […], theoretische« Erkenntnis, theoretische Erfahrung und vernunftgemäße Systematisierung der aus dieser Erfahrung entspringende Erwerbe ist«. (Ebd., 75) Hinzu kommt, dass der Erkenntnisgegenstand, das Leben transzendentaler Konstitution, dem phänomenologisierenden Subjekt zunächst gegeben ist »als die aktuell strömende ›lebendige‹ Gegenwart«, die sich »keineswegs in einem gegliederten Horizontbewusstsein eröffnet […] sondern in denkbar äußerster Armut«. (Ebd., 54), d. h. als ein Bereich, in dem sich nicht sogleich der Stil fortschreitend verfügbarer Gegenstände abzeichnet. Aber auch wenn dieser undifferenzierte Bereich »Kern- und Grundgegebenheit des transzendentalen Lebens« ist, so zeigt sich Fink zufolge doch bald auch eine »transzendentale egologische Vergangenheit […] und schließlich die in den egologischen Akten der Einfühlung sich bekundenden transzendentalen Anderen«. (Ebd., 63) Nachdem ich als transzendentaler Zuschauer wieder zu mir gekommen bin und mich meiner Situation versichere, bemerke ich, dass die Weltkonstitution immer schon im Gange ist, mir zugleich sedimentierte Erfahrungen, Erinnerungen und Habitualitäten genauso gegeben sind wie die Mitsubjekte der transzendentalen Intersubjektivität. Beide Gehalte des transzendentalen Lebens transzendieren Fink zufolge bereits die aktuelle lebendige Gegenwart, die »lediglich Kernund Grundgegebenheit des transzendentalen Lebens« (ebd.) sei. Hier aber sieht sich Husserl zu einer wichtigen Anmerkung veranlasst: Die Gegenwart, die hier transzendiert wird, ist zwar »Urbestand im Gange der transzendentalen Erkenntnis, aber nicht das Absolute wie 85 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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das urtümliche Strömen«. (VI, CM 63, Anm 178) Es handele sich lediglich um eine »immanent-egologische Zeitmodalität Gegenwart«, die grundverschieden sei von der »urtümlich lebendigen ›Gegenwart‹, die keine Zeitmodalität ist«. Diese schwer zu fassende urtümlich lebendige Gegenwart, der sich das nächste Kapitel ausführlich widmen wird, hält Fink nicht gründlich von der egologischen Zeitmodalität »Gegenwart«, dem nur je »gegenwärtigen habituellen Besitz« (ebd., 63) unterschieden und übergeht sie zugunsten einer fortschreitenden Bestimmung des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs. Dass phänomenologische Erfahrung mit »Gegebenheiten« zu tun hat, führt Fink zufolge allzu leicht dazu, sich von »mundanen Vorstellungen« (ebd.) missleiten zu lassen. Die Gegebenheiten transzendental-phänomenologischen Forschens können nicht als »bloße Anwesenheit« oder »aktuelle Gegenwärtigkeit« (ebd.) gelten. Nicht allein die Sphäre immanent-egologischer Gegenwart, d. h. das je aktuell Anwesende, ist der Phänomenologin gegeben. Vielmehr legt die Reduktion die transzendentale Subjektivität »in einer besonderen Situation ihrer Seinsweise« frei: »nämlich als begriffen in der transzendentalen Aktivität der Weltkonstitution«. (VI CM, 64) Wir können transzendental-phänomenologische Erfahrung daher nur missverstehen, solange wir Erfahrung einfach als natürliche, vor-transzendentale Erfahrung verstehen. In natürlicher »weltbefangener« Einstellung ist unser Erfahren und Erkennen stets Erfahren und Erkennen von Seiendem und »Seiendes« meint in dieser Einstellung »das Seiende in der Welt«. (Ebd., 81) Dieser Erfahrungsbegriff präsupponiert unter anderem, dass »das erfahrene Seiende ›an sich‹ vor der Erfahrung genau so da war, wie es in der Erfahrung gegeben ist«. (Ebd., 56) Das »perzeptive« Verständnis von Erfahrung, das hier evoziert wird, korrigiert Fink in Bezug auf den phänomenologisierenden Zuschauer daher zugunsten einer ›produktiven Erfahrung‹ : »Die phänomenologische Erfahrung erkennt nicht schon Seiendes, als was und wie es ist, sondern erkennt solches, was ›an sich‹ nicht seiend ist, vergegenständlicht es im Erkennen zu einem (transzendental) ›Seienden‹ ; sie holt die konstituierenden Aufbauprozesse aus dem ihnen eigenen Z u s t a n d d e s ›Vo r s e i n s ‹ heraus und objektiviert sie in einem gewissen Sinne allererst. M. a. W. die theoretische Erfahrung des phänomenologisierenden Zuschauers o n t i f i z i e r t d i e › v o r- s e i e n d e n ‹ L e b e n s v o rg ä n g e d e r t r a n s z e n d e n t a l e n S u b j e k t i v i t ä t und ist damit in einem – mit keiner weltlich vorgegebenen Weise von Produktivität vergleichbaren – Sinne ›produktiv‹.« (VI CM, 85 f.)

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Dadurch kennzeichnet Fink nicht nur einen neuen Erfahrungsbegriff, sondern weist, wie Kerckhoven (2003, 361) zu Recht herausstellt, gleichermaßen einen »vor-seienden« Bereich des transzendentalen Lebens aus. Eben den der absolut urtümlich lebendigen Gegenwart, für deren Erfassung auch transzendentale Reflexion und entsprechende prädikative Bestimmungen, die den eigentlichen Sinn des »Ontifizierens« 24 stellen, immer schon zu spät kommen müssen. Da der Zuschauer nun nichts anderes ist »als der Exponent, den das in der Weltkonstitution stehende transzendentale Leben auswirft, um durch diesen zu sich selbst zu kommen« (VI. CM, 65), hebt hier die Frage an, wie die durch Epoché etablierte Differenz zwischen dem Zuschauer und seinem Feld transzendentaler Konstitution zu denken ist. Der Zuschauer entdeckt zwar eine Gegenwart als die strömende Selbstanwesenheit des transzendentalen Lebens. »Aber ist mein transzendental-zuschauendes Ich auch ›gegenwärtig‹ in diesem Sinne? 25 Steht das Thema: das transzendental strömende Leben, und das Thematisieren in der Einheit eines ›Jetzt‹ ?« (Ebd., 58) Fink will sich dieser »naheliegenden« Antwort nicht verpflichten und die Bemerkungen Husserls lassen vermuten warum: Die erlebte Gegenwart eines zeitlichen »Jetzt« ist auch in ihrer transzendental reduzierten Form der immanent-egologischen Gegenwart grundverschieden von der lebendigen Gegenwart, die Husserl, wie noch zu zeigen ist, stets bemüht war, als eine vor-zeitliche Dimension zu fassen, die sich als aussichtsreicher Kandidat für die absolut ursprüngliche Dimensions des Bewusstseins zu erkennen gibt. Fink hat auf der Suche nach der Einheit von phänomenologisierendem Zuschauer und transzendentalem Ich allerdings eine Gegenwart vor Augen, die, wie Husserl meint, zwar »Urbestand im Gange der transzendentalen Erkenntnis, aber nicht das Absolute wie das urtümliche Strömen« (ebd., 63, Anm. 178) ist. Seine Verlegenheit angesichts der Frage nach der »›Identität‹ des phänomenologisierenden und des konstituierenden Ich in der Verschiedenheit ihrer transzendentalen Seinsart« (ebd., 58) lässt Fink einstweilen Verlegenheit sein. Die Frage nach der Einheit von

Vgl. VI. CM § 10. »›Gegenwart‹ hat aber hier keineswegs den temporalen Sinn einer in der Zeit stehenden Gegenwart, sondern bedeutet nur die strömende Selbstanwesenheit meines transzendentalen Lebens, die wir nur mit allen Vorbehalten als ›Gegenwart‹ bezeichnen.« VI CM, 58.

24 25

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»e i g e n t l i c h e m Subjekt: dem transzendentalen Zuschauer, und dem › E r s c h e i n u n g s ‹ -Subjekt: dem Menschen« (VI CM, 166) hingegen beantwortet Fink mit dem Hinweis darauf, dass ihre »Erscheinungswahrheit selbst das Resultat einer transzendentalen Konstitution« ist (ebd.). Hier befinden wir uns erneut in einiger Nähe zur Paradoxie der Subjektivität, jedoch in ihrer, wenn man so will, geschichtlich-genetischen Wendung. In Form der Frage nach der Historizität der Phänomenologie »i n d e r W e l t «, also dem Verhältnis »des Phänomenologisierens zu seiner › E r s c h e i n u n g ‹ « (ebd., 116), und d. h. weltliche Erscheinung; eine Problematik, die, wie Fink es ausdrückt: in der »nur d i a l e k t i s c h - p a r a d o x fassbaren Zwiespältigkeit der ›Sache selbst‹ begründet« (ebd.) ist. Diese »Sache« ist die uneigentliche oder sekundäre Verweltlichung der Phänomenologie. 26 Während die primäre Verweltlichung in der »Selbstverweltlichung des konstituierenden Ich zum Menschen in der Welt« (ebd., 119) besteht, reißt die sekundäre Verweltlichung »das ›unbeteiligt‹ phänomenologische theoretisierende Ich mit in die Mundanisierung.« (Ebd.) Vermöge dieser sekundären Verweltlichung tritt der phänomenologisierende Zuschauer an die weltliche Oberfläche. Dadurch werden seine phänomenologischen Erkenntnisse intersubjektiv zugänglich und ggf. wissenschaftlich objektivierbar. Diese Verweltlichung kostet aber »keine Aufgabe der Epoché und der reduktiven Erkenntnishaltung«. (Ebd. 120) Der Phänomenologisierende gibt die transzendentale Einstellung nicht auf und lässt sich vom naiven Weltglauben mitspülen, »sondern gerade seine konsequent festgehaltene ›transzendentale Einstellung‹ e r s c h e i n t . « (Ebd.) Angesichts der Einsicht in die fortschreitende Verweltlichung des transzendentalen Lebens gerät Fink erneut in Verlegenheit. Denn nun stellt sich die verfängliche Frage »nach dem ›W e r ‹ des Phänomenologisierens« (VI CM, 121) mit neuer Dringlichkeit. Ist denn das Phänomenologisieren, nach der ganzen Emphase radikalster Selbsterkenntnis, nun nicht doch eine m e n s c h l i c h e Tä t i g k e i t wie jede andere? Ist nicht vielleicht, was die Phänomenologin in sich entdeckt und zu beschreiben sucht, »am Ende der geistige Müßiggang, eine spielerische intellektuelle Ausgedachtheit eines den eigentlichen bedrohenden und erschütternden Wirklichkeiten des menschlichen Daseins (Tod, Schicksal, Schuld und anderen ›letzten Dingen‹) ent26

Näheres siehe: Van Kerckhoven (2003), 417–434.

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fremdeten Lebens?« (Ebd., 123) Der existenzielle Zweifel, Phänomenologie sei letztlich nichts anderes als ein unwahrscheinlich aufwändiger Eskapismus, ist Fink zufolge das Ergebnis eines Dogmatismus. Er besagt, dass »die sog. transzendentale Erkenntnis, derzufolge alle menschlichen Handlungen eigentlich transzendentale Handlungen sind und nur durch eine transzendentale Auslegung letztlich verständlich gemacht werden können, selbst eine menschliche Erkenntniseinstellung ist«. (Ebd., 122) Dieser Dogmatismus speist sich aus dem Ungenügen phänomenologischer Sprache, die »den mundan-naiven Bedeutungen« verhaftet bleibt, obgleich diese in den »phänomenologischen Sätzen nur ›analogisierend‹« (ebd., 123) fungieren. Das transzendentale Leben ist nichts, das vor dem aktuellen Vollzug der Reduktion auch nur der Möglichkeit nach bekannt ist. In jedem phänomenologischen Satz liegen daher »imperative Hinweisungen auf eine nur im S e l b s t v o l l z u g b e g r e i f b a r e Erkenntnishandlung«. (Ebd., 124) Nach einem solchen epochalen und reduktiven Selbstvollzug hat der Augenschein der letztlichen Mundanität des Phänomenologisierens, der den existentiellen Kritiker motiviert, keine Geltung mehr, da es gerade der Boden dieser Geltung ist, der durch Epoché und Reduktion aufgegeben werden muss. Er erkennt dann, dass hinsichtlich seines Fungierens »das eigentliche (letztwirkliche) Subjekt des Phänomenologisierens der transzendentale Zuschauer ist« (ebd.), dass aber »das v o l l s e i t i g e S u b j e k t des Phänomenologisierens […] weder das transzendentale (in seiner Transzendentalität verbleibende) Ich [ist], noch der ›Mensch‹ in seiner Naivität der natürlichen Einstellung […] sondern vielmehr die in der Welt – durch uneigentliche Verweltlichung – › e r s c h e i n e n d e ‹ t r a n s z e n d e n t a l e S u b j e k t i v i t ä t « . (Ebd., 127) Die dialektische Figur ist für Fink dabei die Bewegung fortschreitender Selbstbesinnung der transzendentalen Subjektivität, die ihren vollen Sinn erst in ihrer mundan erscheinenden Gestalt gewahr wird. So entdeckt das phänomenologische Philosophieren sich selbst als transzendentales Geschehen, »und zwar als das Geschehen der transzendentalen Selbstbewegung des konstituierenden Lebens«. (VI CM, 124) Zu dieser Einsicht, die Fink als Erwachen transzendentaler Subjektivität fasst, gehört, dass sie die vorgängige Anonymität des konstituierenden Lebens durchsichtig werden lässt. Die uneigentliche Verweltlichung spült somit eine transzendentale Subjektivität an die weltliche Oberfläche, die ihren so anonymen, wie im Vollzug der 89 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Selbstbewegung des konstituierenden Lebens impersonalen Grund als verweltlichtes Subjekt durchschaut. Somit konstituiert die uneigentliche Verweltlichung »eine ›dialektische Einheit‹ zwischen den Sphären des Transzendentalen und des Mundanen«. (Ebd., 127) Während im Zuge der primären Verweltlichung, jenes anonymen Mechanismus, den der transzendentale Zuschauer aufzudecken angetreten ist, das transzendentale Ich »seine t r a n s z e n d e n t a l e H e r k u n f t v e r g i ß t , s i c h n u r a l s M e n s c h k e n n t und in seinem Selbstbewußtsein nicht hinter die eigene Menschlichkeit zurückkommt«, so ist die uneigentliche sekundäre Verweltlichung »gerade die weltliche Objektivation des W i s s e n s u m d e n t r a n s z e n d e n t a l e n U rs p r u n g «. (Ebd., 128) Der Topos der dialektischen Selbstbesinnung, die sich im Durchgang durch die phänomenologische Reflexion einstellt, zeigt sich bei Fink auch gegen Ende der VI. CM, wenn er sich anschickt, die letzte »Voranzeige« einer prinzipiellen Problematik der transzendentalen Methodenlehre zu geben, die darin besteht, »den Begriff des Absoluten methodisch zu entfalten«. (Ebd., 158) Hier nimmt Fink das Problem der Einheit des Subjektes noch einmal beiläufig in den Blick. Die Bestimmung des phänomenologischen Sinns des »Absoluten« hebt für Fink da an, wo die »ungeheure Erschütterung, die jeder erlebt, der durch die phänomenologische Reduktion wirklich hindurchgeht«, zur Klarheit bringt, »dass die unfasslich große, grenzenlose, weite Welt den Sinn eines konstitutiven Resultates hat«. (Ebd., 159) Dass also die Welt, als Inbegriff alles Seienden, »nur ein Moment des Absoluten« darstellt. Als das andere Moment zeigt sich die »transzendentale Intersubjektivität«, also die der »Welt« korrelierende und ihre Objektivität bedingende »transzendentale Monadengemeinschaft«. (Ebd.) Hier konstatiert Fink nun ein fundamentales Problem, denn es ist im Zuge der Selbstbesinnung des phänomenologisierenden Philosophen gar nicht klar, »ob überhaupt mit der analytischen Ausweisung der transzendentalen monadischen Intersubjektivität schon das konstituierende Leben letztlich bestimmt ist« und sich nicht vielmehr zeigt, »dass die Monadengemeinschaft selbst noch eine konstituierte Schicht« ist. (Ebd., 159 f.) Für das phänomenologisch ausweisbare Absolute ergibt sich von hier aus die für Fink »unbewältigte« Frage, ob nicht alle Gliederungen des transzendentalen und natürlichen Lebens nur in diesem Absoluten »liegende Selbstartikulationen sind, es selbst nur unter der Idee des ›Einen‹ gedacht werden kann«. (VI CM, 160) Das die entsprechende Selbstaus90 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Finks Zuschauer und das Sich-selbst-Erkennen des Absoluten

legung leistende »Subjekt« der »absoluten Wissenschaft« ist dann freilich »d a s A b s o l u t e s e l b s t «, das »immer schon in der Form des menschlichen Selbstbewusstseins eine gewissen Erhelltheit erlangt hat« und nun »durch die Phänomenologische Reduktion seine Tiefe des konstitutiven ›Vor-Seins‹ eröffnet«. (Ebd., 166) Da die Trias der Iche bisher nur als etwas fragwürdig werden konnte, das die reduktive Methode der phänomenologischen Konstitutionstheorie begleitete, wurde ihre Erscheinungswahrheit »ausgelegt nach dem, was sie transzendental bedeutet, die Auslegung ging in der Richtung der Rückfrage in die Konstitution«. Wenn Fink nun am Ende der VI. CM das Absolute selbst als das Subjekt dieser Bemühungen anzeigt, gibt es keinen Anlass mehr »die E n t g e g e n s e t z u n g von Mensch und transzendentalem Zuschauer zu beseitigen, sondern sie [ist] als eine notwendige Antithetik in der synthetischen Einheit des Absoluten [zu] begreifen«. (Ebd.) Die entsprechende letzte Erkenntnisweise kann demzufolge nur im »Sichselbsterkennen des Absoluten« bestehen, das »selbst absolut« ist. (Ebd., 167) Husserls sparsame Anmerkungen zu diesen Ausführungen legen nahe, dass er Finks Ausdrucksweise wenigstens »bedenklich« findet (ebd., Anm. 526) und das Prädikat »absolut« für die Erkenntnisweise des Absoluten lieber nachträglich in Anführungszeichen setzen möchte (ebd., Anm. 528). Ausschlaggebend dafür mag unter anderem sein, dass Fink diese Erkenntnisweise nur noch negativ zu charakterisieren vermag. Die Selbsterkenntnis des Absoluten, die sich für Fink in der absoluten Wissenschaft entfaltet, dürfe nicht »am Leitfaden eines mundanen Begriffes von Gegenstand-Sein begriffen werden«. (Ebd., 168) Die Implikation relationalen Erkennens führe mit Blick auf das Selbsterkennen des Absoluten in die Irre, das nicht mehr relativ ist; weder in Hinsicht auf eine mögliche Außenwelt, noch lässt sich dieses Selbsterkennen im Begriff »einer gegen die ›Außenwelt‹ sich abgegrenzt haltenden Selbsterfahrung« (ebd., 169) erfassen. Für das Absolute kann es keine Außenwelt geben »und damit auch kein von dieser g e t r e n n t e s S e l b s t «. (Ebd.) Mit dem »Schema einer endlichen Erkenntnis« ist die Selbsterhellung des Absoluten für Fink daher nicht zu begreifen, die Affinität zu einer »unendlichen, absoluten Selbsterkenntnis« und die ihr entsprechende »transzendentale Interpretation der ›intellektuellen Anschauung‹, ›des spekulativen Denkens‹ usw.« (ebd.) in der VI. CM aber auch nicht weiter fruchtbar zu machen.

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Husserls Paradoxie der Subjektivität

1.5 Die Ichspaltung und der interessiert uninteressierte Zuschauer bei Husserl Die Hypostasierung des transzendentalen Zuschauers, die Fink in seiner Methodenlehre bis zur Auslegung der Selbstartikulation des Absoluten entfaltet, entstammt zwar seiner Präsumtion, die phänomenologische Reduktion bis zur »Lebenstiefe des absoluten Geistes« voranzutreiben, in der sich das Selbsterkennen des Absoluten organisiert. Die sogenannte »Spaltung« des Ich in weltliches und phänomenologisierendes ist aber nicht der Radikalität seines Verständnisses von Reduktion, sondern der Eigentümlichkeit transzendentaler Reflexion überhaupt geschuldet. Somit ist auch die Frage nach der Einheit der entzweiten Iche eine Problematik, die Husserl wohl vertraut ist. Anders als es die letzten Äußerungen Finks nahelegen, bedarf es bei Husserl, schon wegen der sparsameren Hypostase des Zuschauers, in diesem Zusammenhang keines noch theoretisch zu etablierenden absoluten Geistes, in dem sich die Spannung der Iche aufhebt. Neben der offenkundig problematischen Auflösung der Spannung durch einen höherstufigen Reflexionsakt sieht Husserl ihre Tilgung in der zunächst allzu harmlos wirkenden Beobachtung, dass »die in der Ichspaltung aufeinander bezogenen Ichsubjekte zu derselben strömenden Gegenwart gehören«. (Hua VIII, 89) Husserl wird von hier aus zu der Frage gelangen, die sich für das Verständnis von Selbstbewusstsein, wie wir es im weiteren Verlauf der Untersuchung herausstellen wollen, als maßgeblich erweisen wird: »Bin ich strömendes Gegenwartsleben oder bin ich eben das darin erlebende Ich?« (Hua XXXIV, 175)

An einer Selbsterfahrung, wie diese Frage sie evoziert, zeigt sich nicht mehr nur ein theoretisches Interesse, sondern die Dringlichkeit, einer bestimmten Intimität innerhalb dieser Erfahrung Rechnung zu tragen. Diese Intimität besteht in der zunächst beiläufigen Einsicht, dass mir alle Elemente meines personalen und transzendentalen Lebens zu einem Objekt werden können und in ihrer Position als Gegenständlichem nicht als Kandidaten für die solide Subjektivität in Frage kommen, als das ich mich durchlebe. Und Husserl wird fortschreitend einen Sinn dafür entwickeln, dass alles, was wir als »letztlich Seiendes, als Urseiendes in Anspruch nehmen unter dem Titel ›urphaenomenale Gegenwart‹ gerade […] dadurch, daß es für uns ›Phaenomen‹ ist, nicht das Letzte« (Hua Mat. VIII, 7) sein kann. 92 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Die Ichspaltung und der interessiert uninteressierte Zuschauer bei Husserl

Bevor die phänomenologischen Analysen aber in Richtung des zeitkonstituierenden Bewusstseins vorstoßen können und die methodische Ordnung phänomenologischer Erfahrung noch einmal fragwürdig wird, ist es angezeigt, einen Blick auf Husserls Verständnis des »uninteressierten Zuschauers« zu werfen. Es kann nicht überraschen, dass die Spaltung des Ich, die wir bei Fink gefunden haben, in diesem Zusammenhang eine deutliche Entsprechung in der Husserl’schen Philosophie hat. Auch bei ihm wird das Bild der Spaltung des Ich vor allem dort maßgeblich, wo es um das rechte Verständnis des »uninteressierten Zuschauers« (Hua VIII, 92) geht, der, wie schon Fink andeutet, als theoretischer Beobachter, die Forderung nach »Selbstbesinnung« (CM, § 1) bzw. »Selbstauslegung« (CM, § 41) in neuer transzendentaler Radikalität einlösen soll, mithin als Radikalisierung einer Leistung zu gelten hat, die Husserl als Reflexion anspricht. Hinsichtlich des Reflexionsbegriffes haben wir mit Husserl zu unterscheiden: 1. Die »natürliche Selbsterfahrung in der natürlichen Reflexion, die er [der Mensch] so oft vollzieht, als er sagt: Ich nehme wahr, erinnere mich, ich habe Gefallen an dem und jenem, ich begehre« (Hua VIII, 78 f.). Von dieser beiläufigen, reflexiven Selbsterfahrung, die den Titel »Reflexion« nicht eigentlich verdient, haben wir 2. die »natürliche Selbstbesinnung oder Reflexion« (ebd., 87) zu unterscheiden, jene vor-transzendentale Reflexion, in der ich mich im Verlauf einer sinnlichen Wahrnehmung »a l s I c h d e r R e f l e x i o n über den Aktus des ›Ich nehme wahr‹ erhebe, über j e n e n A k t u s , in dessen Vollzug aufgehend ich seiner und meiner als des vollziehenden Subjekts nicht gewahr wurde«. (Ebd., 89) Im Vollzug einer solchen Reflexion stellt sich nun insofern quasi eine Ichspaltung ein, als wir unterscheiden müssen: »[D]as Ich, das jetzt kontinuierlich das Haus betrachtet, und das Ich, das den Aktus vollzieht: Ich bin dessen inne, daß ich kontinuierlich das Haus betrachte.« (Ebd.) Das wache und fungierende, aber anonyme, den Reflexionsakt vollziehende Ich nennt Husserl nun »latent«, das reflektierte Ich eines geradehinlaufenden Aktes oder eines Reflexionsaktes niederer Stufe nennt er »patent«. (Ebd., 90) Unsere durchaus natürliche Vertrautheit mit dieser »Ichverdopplung«, wie Husserl dieses Phänomen auch bezeichnet, exemplifiziert er neben der Reflexion auf Wahrnehmungserlebnisse vor allem an der Reflexionsform der Wiedererinnerung, bei der die Vervielfältigung der Iche darin besteht, »daß zum Gehalt der Wiedererinnerung als des Erlebnisses meines gegenwärtigen wachen Ich 93 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Husserls Paradoxie der Subjektivität

mein vergangenes Ich gehört, das Ich, das dabei war, das von der Sache gehört hat u. dgl«. (Ebd., 94) 27 Diese zunächst beiläufige Selbstthematisierung, die wir freilich nicht nur in der Erinnerung finden, sondern gleichermaßen in der Ausgestaltung unserer antizipierten Zukunft, wie auch bei der introspektiven Begutachtung von dem, »was im Gemüte liegt«, gewinnt an Brisanz, wenn man sich mit Husserl fragt: »Warum sprechen wir aber von d e m s e l b e n I c h , das sich auf sich selbst zurück bezieht, seiner selbst in der ›Selbstwahrnehmung‹ inne wird und seines Aktus: wo doch evident ist, dass verschiedene Akte sich übereinander schichten und dass j e d e r Akt s e i n gesondertes Ich, sozusagen als seinen g e s o n d e r t e n A k t p o l hat –?« (Hua VIII, 90)

Hier steht freilich nicht weniger in Frage als die synchrone und diachrone Identität von Bewusstsein. Was aber gewährleistet die Persistenz des Bewusstseinslebens? Die von Husserl an vielen Stellen nahegelegte Lösung besteht in einer klassischen higher-order-theory, also der Vorstellung, dass die Einheit des Subjektes durch höherstufige Akte der Reflexion organisiert und realisiert wird. »Ich sehe, daß ich selbst mich als in höherer Reflexion überschauendes Ich etablieren kann, daß ich in evidenter synthetischer Identifizierung der Selbigkeit aller dieser Aktpole und der Verschiedenheit ihrer modalen Seinsweise bewußt werden kann.« (Hua VIII, 91)

Auf die Schwierigkeit dieser Lösung wird weiter unten noch einzugehen sein. 28 Hier genügt uns dieser Hinweis, um auf die Relevanz der Ich-Spaltung für eine phänomenologische Beschreibung von Bewusstsein im Allgemeinen und der Frage nach der Selbsterfahrung des Philosophierenden im Besonderen hinzuweisen. Wie Luft (2002, 119–125) zeigen konnte, sind Husserls Ausführungen zur Ichspaltung in einem kaum zu überschätzenden Maße von den psychologisch-phänomenologischen Untersuchungen Jaspers und vor allem Oesterreichs zu diesem Thema beeinflusst worden. Beide Psychologen nehmen ihren Ausgang bei der Beschreibung pathologischer Da, wo Reflexion nicht nur als Vergegenständlichung des Aktlebens, sondern als Selbstthematisierung des Ego erscheint, wie bei der Wiedererinnerung, attestiert Husserl eine Vermehrung des Ich, die an einigen Stellen an die entsprechenden Unterscheidungen von I und ME in der pragmatischen Philosophie James’ und Meads denken lässt. »Ich bin ein Objekt meiner mondanen Erfahrung unter anderen. Muss ich davon nicht scheiden dasjenige Ich, das hierbei das Subjekt der Erfahrung ist, das Ichsubjekt für das Ichobjekt?« Hua VIII, 71. 28 Vgl. Kapitel I, Abschnitt 2 dieser Arbeit. 27

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Die Ichspaltung und der interessiert uninteressierte Zuschauer bei Husserl

Zustände in der Selbsterfahrung und widmen sich in ihren Analysen solchen Phänomenen, in denen das »normale« personale Erleben tief greifenden Erfahrungen der Entfremdung, Verdopplung und anderer Formen der »Depersonalisation« unterliegt. Mag diese Nähe zu pathologischen Formen der Selbsterfahrung hinsichtlich der Ich-Spaltung in unseren alltäglichen Reflexions- und Antizipationsleistungen willkürlich erscheinen, so wird dieser Zusammenhang klarer, wenn man sich Husserls Überlegungen zu dem ansieht, was er radikale oder universale Epoché (vgl. Hua VI, 184) nennt. Die oben skizzierten noch der natürlichen Einstellung verpflichteten und insofern nur lebensweltlich-situativ, allenfalls psychologisch ertragreichen Reflexionen bringen es mit sich, und hierin liegt ihr vor-transzendentaler Charakter, dass ich als Reflektierender zwar den Akt »Ich nehme dieses Haus wahr« zu meinem Gegenstand machen kann, »aber ich teile auch den Wahrnehmungsglauben […], ich als reflektierendes Ich vollziehe den Glauben des Hauswahrnehmenden mit«. (Ebd., 91) Mag mich die Ichspaltung auch von der »naiven Hingegebenheit« an die Gegenstände der inneren und äußeren Wahrnehmung insofern distanzieren, als ich nicht in den entsprechenden Akten »aufgehe«, ich bin aber nach wie vor wenigstens so weit an dem Sein des wahrgenommenen Gegenstandes interessiert, dass ich ihn gelten lasse. (Ebd., 95) Die Radikalität der phänomenologischen Reflexion wird dann darin bestehen, sich dieses distanzierten Interesses am intentionalen Inhalt des Aktes zu enthalten, mithin die immer schon präsente Rede von der »Ausschaltung« einzulösen. Um diese Leistung zu vollziehen, die da »Ausschaltung der Generalthesis« heißt, genügt es nicht, mich reflektierend der Geltung einzelner Erlebnisinhalte zu enthalten, ich muss ganz »d e r u n i n t e r e s s i e r t e S e l b s t b e s c h a u e r u n d S e l b s t e r k e n n e r « (Hua VIII, 97) werden, d. h. eine Haltung, oder eben Einstellung, etablieren 29, in der die Ichspaltung zu einem Habitus wird. In schlichter Reflexion »kann ich nicht anders als mit mir selbst zu sympathisieren, als, über mich reflektierend, meine Interessen zu übernehmen«. (Ebd., 98) Zur Befreiung von dieser Sympathie bedarf es nach Husserl erst einer besonderen Motivation, von der er zunächst unklar lässt, worin ein entsprechendes Motiv bestehen kann. Im Gegensatz zu Fink betont Husserl in den Vorlesungen aus der Mitte der zwanziger Jahre aber Vgl. hierzu die treffende Differenzierung von Situation und Einstellung bei Luft (2002), 117.

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noch allein die »f r e i e Ta t d e r U r t e i l s e n t h a l t u n g «, das »Willentlich-sich-loslösen vom ursprünglichen Mitinteresse« (ebd.). Während es für Fink eine »transzendentale Tendenz [ist], die im Zuschauer erwacht, die ihn dazu antreibt, einmal alle Geltungen zu inhibieren« (VI. CM, 43), ist es für Husserl der entschlossene Philosoph selbst, der sich mit Blick auf seine wissenschaftliche Aufgabe einer umfassenden Enthaltung verschreibt. Schon in diesem Sinne ist die Uninteressiertheit des Zuschauers keine Interesselosigkeit. Im Gegenteil: Husserls Zuschauer hat ein genuines Erkenntnisinteresse, das nun eben nicht den Gegenständen, sondern der Erfahrung selbst gilt. (Hua VIII, 97) Insofern soll Husserls Reduktion nicht nur einen »reinen, uninteressierten Zuschauer«, sondern auch einen »theoretischen Betrachter« (ebd., 107) hervorbringen. Auch wenn der Phänomenologe bei seinen ersten Schritten in den »Welten der reinen Subjektivität« zunächst »wie der Blindgeborene, dem der Star gestochen ist […], regelrecht anfangen muss, sehen zu lernen« (ebd., 122) und er »keineswegs durch den Vollzug der Epoché ohne weiteres über einen Horizont selbstverständlich möglicher neuer Vorhaben« verfügt (Hua VI, 183) 30, so ist Husserls »uninteressierter Beobachter« doch eigentlich ein szientistischer Voyeur, der in dieser neuen Welt zu finden hofft, was ihm die natürliche, tradierte Welt an Erkenntnis versagt. Auch Husserls radikale Epoché ist ein bedingtes Innehalten. 31 Das Verfahren der Epoché ist angesichts der Präsumtion entschiedener transzendentaler Forschung geradezu berufen, eine Ich-Spaltung hervorzurufen, die eine notwendige Paradoxie zur Folge hat, »notwendig entspringend aus der Spannung zwischen der Macht der Selbstverständlichkeit der natürlichen objektiven Einstellung (der Macht des Common Sense) und der sich ihr gegenübersetzenden Einstellungen des ›uninteressierten Betrachters‹«. (Ebd.) 32 Eines Betrachters mit einer »gewissen berufs»Vor ihm breitet sich nicht sogleich ein transzendentales Arbeitsfeld aus.« Hua VI, 183. 31 In diesem Zusammenhang schreibt Fink in einem Manuskript aus der Zeit der VI. CM: »Einklammern ist keine Desinteressierung, sondern gerade das Gegenteil, eminentestes Interesse! Aber die noematisierende Reflexion geht immer auf den Gegenstand als Gegenstand im Wie der subjektiven Gegebenheit. Dabei ist die eigenartige Subjektivität des Subjektiven nicht geklärt.« Fink (2008), 118. 32 In einem anderen Sinne kennt Husserl aber sehr wohl einen interesselosen impersonalen Zuschauer: »Alles im höchsten Sinn schöpferische Tun hat einen wunderbaren Bewusstseinscharakter, der sich in der Reflexion mit den Wortenausspricht: Eigentlich tue ich gar nichts, es tut in mir, […] in herrlicher Vollendung und Zweck30

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artigen Einstellung« (ebd., 139), der in dieser Paradoxie ein zu lösendes Problem, nicht ein zu durchlebendes Rätsel zu sehen vermag. In Anbetracht dieser szientistischen Tendenz geht Taguchi zwar über Husserl hinaus, verweist aber auf eine Einsicht, die durchaus noch im Horizont der Husserl’schen Philosophie liegt, wenn er das Ur-Ich als den eigentlich uninteressierten Zuschauer identifiziert, der nicht als das »überblickende Dritte« interpretiert werden dürfe. »Dessen Charakterisierung als ›uninteressierter Zuschauer‹ mag in dieser Hinsicht irreführend erscheinen, aber hier geht es gerade um das Gegenteil der ›Vogelperspektive‹ : Alles natürlich-weltliche Interesse setzt sofort eine entsprechende ontifizierende Selbstauffassung von mir in Geltung, so dass ich mich mit einem ontisch Apperzipierten (Mensch, Person usw.) identifiziere und mich auf diese Weise von der ursprünglichen ›Nähe‹ meines urfaktischen Lebens entferne. Die natürliche ›Uninteressiertheit‹ des phänomenologisierenden Ich besagt also nichts anderes als den radikalen Rückgang auf die ›Nähe‹ meines urfaktischen Standpunktes selbst, also auf die unscheinbare, lebendige ›Perspektive‹, die im gewöhnlichen (natürlichen und wissenschaftlichen) Interessenleben schon vielfach überschritten wird.« (Taguchi 2006, 176 f.)

Diese Uninteressiertheit des urichlichen Standpunktes, der sich fortschreitend als lebendige Gegenwart ausweisen wird, kann Husserl nur beiläufig in den Blick geraten. Das Verständnis seiner phänomenologischen Verfahren bleibt bei aller Rede von radikaler und rückhaltloser Selbstbesinnung dem Philosophentypus eines einseitig entschlossenen, entschiedenen Wissenschaftlers verhaftet. Das Selbstbild des souveränen Theoretikers bleibt als Atavismus der natürlichen Einstellung auch in der transzendentalen Sphäre lebendig und verdeckt die Ruhe des medialen Feldes urichlichen »Zuschauens«. 33 Um die Motivation zu der inneren Wandlung, die Husserl mäßigkeit ordnet sich Glied für Glied der Geisteskette, ich habe das bloße Zusehen, also ich bin passiv. […] Im höchsten Sinne schöpferisch zu sein, heißt, völlig passiv zu sein, bloß zuzusehen, wie ich dem Ziel entgegengetragen werde in eine Tun, das nicht mehr eigentlich meines ist.« (Ms.A VI 5b) zitiert nach Micali (2008), 76. Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass Husserl sein eigenes Philosophieren je unter dieses schöpferische Tun gerechnet hätte. 33 Dementsprechend muss auch Plessner da, wo er auf dem Weg zur Entwicklung seines Begriffs exentrischer Positionalität an der Vorstellung eines selbstbewussten Ich-Pols festhält, diesen mit einem eigentümlich »hintergründigen« Zuschauer identifizieren: »Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es I c h , der ›hinter sich‹ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegen-

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von seinen Verfahren fordert, und zugleich die Eigentümlichkeit des radikalen Rückgangs auf die urichliche Nähe verständlich zu machen, darf man daher die Wende von der natürlichen zur transzendentalen Selbsterfahrung nicht lediglich als theoretische Anstrengung verstehen. Man muss sie als existentielle Angelegenheit anerkennen. 34 Schon deshalb, weil die vertraute Haltung zur Welt und zu sich selbst in dieser Wende nicht nur dahingestellt bleibt, sondern in gewissem Sinne tatsächlich auf dem Spiel steht.

1.6 Bewusste Untiefe – Transzendentale und existenzielle Epoché Das Pathos der Distanz, das die Rede von Epoché und Reduktion durchzieht, und die Radikalität des Selbstverhältnisses, die dadurch evoziert wird, haben, wie weiter oben schon zur Sprache kam, die ursprüngliche Motivation fragwürdig werden lassen, die möglicher Anlass für solch unnatürliche Haltungen sein könnte. Der Ethos der Phänomenologin ist für Husserl von grundlegend anderer Art als der des fraglos hinlebenden oder auch wissbegierigen Menschen, des positiven Wissenschaftlers, oder des »irrationalistischen Philosophen«, der in der strengen Wissenschaft der Phänomenologie nur eine weitere »höherstufige intellektuelle Technik im Dienst der positiven Wissenschaften« (Hua VI, 139) sehen will. Sie alle bleiben der Naivität der natürlichen Einstellungen verhaftet, denn »die Denkgewohnheiten einer jahrhundertelangen Tradition sind nicht so leicht zu überwinden und machen sich noch geltend, auch wenn man ihnen ausdrücklich entsagt«. (Ebd., 248) Um die Emphase auf die Widernatürlichkeit seines methodischen Einstellungswechsels einlösen zu über dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstellung zu rückende Subjektpol.« Plessner (2016), 363. 34 So verstehe ich auch David Carrs Versuch zu zeigen, dass das Paradox der Subjektivität nicht einfach ein theoretisch zu überwindendes Problem darstellt, sondern mit der Aufdeckung zweier fundamentaler Dimensionen von Subjektivität konfrontiert – »equally necessary and essentially incompatible«: »From the perspective of each, the other appears somehow bizarre, unreal. From that of the natural attitude, the transcendental subject seems artificial, contrived, a mere fiction. From that of the transcendental attitude, the world as a whole, including my (empirical) self within it, looms as ›phenomenon‹, its reality placed in abeyance or suspension. When this happens we feel what the existentialists try to capture by speaking of nausa, vertigo, anxiety, or anguish.« Carr (1999), 135.

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Bewusste Untiefe – Transzendentale und existenzielle Epoché

können, muss Husserl einsichtig machen, wie er in der geforderten Radikalität prinzipiell möglich sein kann, d. h. welche Motivation es in der natürlichen Einstellung geben kann, eine solche Wende im Welt- und Selbstverhältnis zu vollziehen. Bedenkt man die umfassende Selbstverständlichkeit der natürlichen Einstellung, lässt sich mit Blick auf Husserls Ausführungen schwerlich von einer intrinsischen Motivation ausgehen, als ob das empirische Ich die transzendentale Bedingtheit der Welt und seiner selbst erahnen würde und unvermittelt mit der Reduktion begänne. Husserl lässt zwar keinen Zweifel daran, dass seiner Auffassung nach niemand einfach unversehens in die Philosophie gerät, seine Anmerkeungen zur VI. CM lassen allerdings seine Anerkennung einer »transzendentalen Tendenz« und somit ein wenigstens dispositionales Verständnis transzendentaler Selbstbesinnung erkennen 35, die zu ihrer Aktualisierung freilich eines »Anlasses« bedarf. Diese transzendentale Tendenz mag sich, insofern sie wie bei Husserl und Fink mit einer allgemeinen Neigung zur Philosophie zu korrelieren scheint, in einem lustvollen Fragen an die Ordnung von Welt Bahn brechen. Für die umfassende Selbstbesinnung, die das phänomenologische Philosophieren fordert, kann aber kein noch so dringliches Befragen der vertrauten Welt genügen. »Welt« muss vielmehr als ganze fragwürdig werden können. Die Möglichkeit der phänomenologischen Epoché setzt wenigstens den Bruch mit der Ordnung der »Welt« und der durch diese evozierten und verbürgten Vertrautheit voraus. In der existenzialistisch gewendeten Phänomenologie Jaspers und Sartres, aber auch bei Fink, wird die strukturelle Möglichkeit solch eines Bruchs in den Erfahrungen gesucht, die das Gefüge alltäglicher Ordnung stört und sie wenigstens insofern als ganze fragHusserl betont dabei den je individuellen Zug dieser Tendenz, wenn er Finks allgemeine Ausführungen über die Tendenz im Menschen, in die erste Person übersetzt: »Die transzendentale Tendenz, die in mir, dem Menschen, erwacht, die mich dazu treibt, die im Strömen der Vorgegebenheit ständig sich vereinheitlichende Weltgewissheit zu inhibieren und damit einmal alle natürlichen Geltungen zu inhibieren, hebt mich, den Menschen, selbst thematisch auf, als Mensch bin ich nicht mehr mit all meinem Psychischen, in dem ich mich auf die Welt beziehe […]. So lege ich den transzendentalen Zuschauer in mir frei, vergehe in ihn. Dieser ist aber nicht erst durch die Epoché geworden, sondern ist nur frei geworden, von den Schranken der Anonymität, in welcher das transzendentale Leisten verläuft, als das Welt und mich Mensch in den vertrauten Formen der Vorgegebenheit Kontituierende.« (VI. CM, 43 Anm. 112)

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würdig machen können. Für Fink ist das Paradebeispiel einer solchen Erfahrung der Tod eines nahen Menschen oder die Antizipation des eigenen leiblichen Endes. Die Frage, wie eine solche Erfahrung zu einer umfassenden Einstellungsänderung wie der Epoché motivieren soll, stellt Husserl explizit in seinen Notizen zu Finks VI. Cartesianischer Meditation. Dort gelangt er zu der Ansicht, dass die möglichen Formen des horizonthaft erlebten Todes keine derartige Motivation geben können. Für Fink aber liegen die Motive dafür, dass wir von den Problemen der Welt absehen und auf das Problem »Welt« stoßen, durchaus im »Erleben eines Schicksalsschlages« oder auch in den »rätselhaften Stimmungen des Grauens und Entsetzens«, in denen die Welt »ihre alltägliche Vertrautheit und Wohnlichkeit verliert«. (Hua Dok. II/2, 30) Hinsichtlich der Bedeutsamkeit, die Fink solchen Erfahrungen zuschreibt, bleibt Husserl verhalten. Die Perspektive von Tod und Vergänglichkeit bieten für ihn keinerlei Motiv zu umfassender Selbstbesinnung. Im »schönen vollen Leben« bleibt vielmehr »der Tod im Horizont als ständige Möglichkeit eines ›glücklichen‹ Alters […], in dem die Person sich vollendet« (Hua Dok. II/2, 31, Anm. 114). Husserl hat hier die »ideale Lebenssattheit des Patriarchen« im Sinn, von der philosophische Motive in der Tat nur schwerlich erwachsen werden. Da der Tod im Kampf für Reich und Vaterland ebenfalls eher Vollendung als Erschütterung einer Ordnung sei, bleibt für Husserl nur noch der »Tod, den man vor sich im Horizont hat in der Form des Lebens in Hoffnunglosigkeit« (ebd.) und für einen am Ideal des Staunens geschulten Philosophen ist es offenkundig, dass Hoffnungslosigkeit wenigstens in einem psychologischen Sinne ein denkbar schlechtes Motiv für eine engagierte Haltung ist, ganz gleich, ob reflexiv oder nicht. Auf der anderen Seite greife der Gedankengang Finks insofern zu kurz, als dieser verkenne, dass durch tragische Ereignisse, wie den Tod geliebter Wesen, oder mitunter verstörende, wie die lebhafte Gegenwärtigung des eigenen Todes zwar die »Normalität gelegentlich durchbrochen ist, er aber den gesamten Gang der Welterkenntnis doch nicht sosehr stört, dass eine hinreichende Motivation von da ausgeht […]«. (Hua XXXIV, 65) 36 Denn solche Erlebnisse sind zwar extreme, aber deshalb nicht weniger vertraute Elemente der natürlichen Ordnung. In einer Anmerkung zu Finks Überlegungen zu der möglichen philosophischen Motivation, die aus den abgründigen Erfahrungen menschlicher 36

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Bewusste Untiefe – Transzendentale und existenzielle Epoché

Existenz erwachsen können, fragt Husserl dementsprechend: »Aber ist die Welt nicht weiter als seiend vorgegeben und in Geltung?« (Hua Dok. II/2, 30, Anm. 111) Fink ist sich wohl bewusst, dass die phänomenologische Antwort auf diese Frage nur lauten kann: Natürlich ist sie das, aber anders als zuvor! Sie ist in Geltung als fragwürdig und rätselhaft. Sie büßt ihre selbstverständliche Vertrautheit ein und wird als prekärer Ort erlebbar. Für Fink ist die Motivation, die solchen Erschütterungen entwächst und »die zumeist den religiösen Erlebnissen der Welt zugrunde liegt«, zentral. Einerseits, weil sie »im Hinausfragen über die Welt diese selbst doch thematisch« macht, andererseits richtet sich in diesem Hinausfragen »das natürliche Weltleben erstmals auf einen absoluten Ursprung der Welt hin, führt so zum ersten Vorbegreifen des Absoluten«. (Hua Dok. II/2, 30 f.) Ein solch vager Vorgriff darf dem Philosophen freilich nicht genügen, will er nicht in die Emphase bloßer Weltanschauung fliehen. So ist ein Philosophieren, das seinen Anfang in einer umfassenden Verunsicherung sucht, »weitaus das schwierigste«, denn diese »erste Nähe des Absoluten wird erkauft um den Preis der größten Ferne des Begriffs«. (Hua Dok. II/2, 30 f.) Der ungehörige Mangel an begrifflicher Souveränität, der den Anfang dieses phänomenologischen Philosophierens prägt, wird noch verschärft durch einen notwendigen Mangel personaler Souveränität. Denn die Aussicht, »die ganze Befremdlichkeit dieser vertrautesten Gewohnheit in uns wach werden« zu lassen, ist »keine Forderung, der wir uns durch einen willkürlichen Entschluss Genüge tun könnten, als ob das Loslassen und Preisgeben der Weltvertrautheit und Weltgewohnheit so einfach in unserer Macht stünde«. (Hua Dok. II/2, 34) Nicht der Philosoph verfügt zunächst über seine Weltvertrautheit und die entsprechenden habituellen Selbstapperzeptionen, sie verfügen über ihn, er steht in ihrem Sog und Bann. Innerhalb dieses heimweltlichen Bannes mag sich Unbekanntes und Fremdes ereignen, das nur als Bestätigung der eigenen Ordnung erlebt wird. Die Erschütterung, die Fink im Sinn hat, soll hingegen die »Vertrautheit im Ganzen« aufheben, es ist »das Selbstverständlichste und Alltäglichste […], was uns jetzt in dieser Erschütterung befremdent überfällt [m. H.]«. 37 Sollen die existenziellen Motive strukturell relevant werden, will man sich also nicht zu den naheliegenden Missverständnissen hinreißen lassen, dass nur derjenige

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Husserls Paradoxie der Subjektivität

Wie Luft hervorhebt, teilt Husserl mit Fink durchaus die Einsicht, dass die gesuchte Motivation der phänomenologischen Verfahren eine passive sein muss, eine Widerfahrnis, die in die Heimwelt einbricht. (Vgl. Luft 2002, 99) 38 Die entsprechende Figur der Fremderfahrung taucht bei Husserl allerdings vornehmlich in historischgenetischer Perspektive auf. Sie gilt ihm als »Motivationsfundierung, [die] auf den historischen Anfang von Philosophie und Wissenschaft bei den Griechen zurückverwiesen« ist. (Ebd., 102) Wie sich an dieser Perspektive zeigt, die sich in der philosophiegeschichtlichen Konzeption des ersten Teils der Krisis deutlich bestätigt, ist Husserl nicht so sehr an den strukturellen Merkmalen derjenigen Erfahrung interessiert, die er sich methodisch fruchtbar gemacht hat, sondern sucht eher nach einer tradierten Disposition seiner Verfahren. Einer Disposition, zu deren Aktualisierung es eines den Philosophen »überhaupt erst und ursprünglich schaffenden Entschlusses« (Hua VIII, 19) 39 bedarf. 40 Der ursprüngliche Entschluss des Philosophen zu umfassender Selbstbesinnung ist aber nur eine Seite der Medaille. Die existenzielle Emphase Finks verweist auf jene andere Seite, die der »entschlossene« Wissenschaftler Husserl nicht anerkennen kann. Erlebnisse existenzieller Dringlichkeit mögen in der Tat nicht ohne weiteres die Entschiedenheit der auf absolute Letztbegründung ausgerichteten

zu wirklichem Philosophieren im Stande ist, der in den transformativen Sog faktischer Schicksalsschläge geraten ist oder dass solche Schicksalsschläge notwendigerweise in eine philosophische Haltung führen, so darf diese Erschütterung nicht nur kontingentes Widerfahrnis sein. Im dritten Kapitel wird zu zeigen sein, wie Sartre den Widerfahrnischarakter der Epoché an die prekäre Struktur menschlicher Subjektivität bindet und dadurch zu einem stetig lauernden Ereignis erklärt, durch das dem Ego die unpersönliche Spontaneität von Bewusstsein widerfährt. 38 Der Widerfahrnischarakter der Epoché wird auch in den neueren, deutlich pragmatisch orientierten Arbeiten zu einer phänomenologischen Methodologie maßgeblich. Depraz, Varela und Vermersch (2003) sehen in ihrer Beschreibung der Epoché explizit einen »externen oder existentiellen Trigger« vor, etwa in Gestalt eines tiefgreifenden Verlustes oder einer »aesthetic surprise« (vgl. Depraz 2002). 39 Hier zitiert nach Luft (2002), 103. 40 In seiner Beiläufigkeit fast schon verlegen wirkt ein soteriologisches Motiv, das Husserls entschiedenen Anfang mit einem strebelosen Ende konterkariert: »Kann ich nicht die Welt in mir überwinden, alles Streben inhibieren. Mich von allem sinnlosen Streben erlösen, eingehen in das ewig streit- und strebelose Ich, in der ›beseligenden‹ Sicherheit, dadurch mich zu ›erlösen‹ ?« (Hua VIII, 355) Das Gegenteil von Entschlossenheit wird hier nicht Unentschlossenheit, sondern Gelassenheit sein.

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Bewusste Untiefe – Transzendentale und existenzielle Epoché

Transzendentalphänomenologin hervorbringen. Aber um die Möglichkeit der radikalen Wende der Epoché zu legitimieren, muss allein die Möglichkeit einer grundsätzlichen Distanzierung von der natürlichen Einstellung, nicht schon ihre engagierte Gestaltung aufgezeigt werden. Was Husserl nicht im Blick hat und Fink eindringlich fordert, bringt Scheler auf einen Begriff, wenn er für das Betreten der Schwelle »philosophischer Erkenntnis«, die auch bei ihm »außer und jenseits der bloßen Umweltsphäre des Seins überhaupt gelegen ist«, »die Verdemütigung des natürlichen Ich und Selbst« (Scheler 1968, 89) einfordert. Der ursprünglich schaffende Entschluss der Philosophen darf demnach nicht sogleich als Selbstbemächtigung des transzendentalen Forschers verstanden werden, weil diese stets auf die Beherrschbarkeit ihres Gegenstandsbereiches zielt. Vielmehr ist er entschiedene Öffnung durch Selbstzurücknahme, die sich bei Scheler mit einer »Liebe der ganzen geistigen Person zum absoluten Wert und Sein« (ebd.) sowie mit einer kultivierten Selbstbeherrschung verbindet. Scheler kritisiert an Husserls Verständnis der Reduktion die Vorstellung, ihre methodologische Ausgestaltung habe letztlich nur das Ziel, eine Welt und unseren Zugang zu ihr nach Maßgabe dessen verständlich zu machen, was wir in natürlicher Einstellung immer schon in Geltung haben. Für Scheler ist die Reduktion aber ein Weg zur Freilegung neuer Tatsachen, nicht nur ein Denkverfahren, zum sicheren Verständnis von Vertrautem. Für die Möglichkeit, dass in der Figur der Epoché nicht nur »ein zielbestimmtes Denkverfahren über Tatsachen«, sondern eine Öffnung phänomenologischer Selbsterfahrung hin zu »neuen Tatsachen selbst« (Scheler 1986, 380) angelegt ist, gilt es deshalb zu sensibilisieren, weil die konzeptionellen Spannungen, die im Folgenden an Husserls Auseinandersetzung mit dem Begriff lebendiger Gegenwart herausgearbeitet werden, nicht zuletzt auf einer Verkennung der existenziellen Dimension seiner Verfahren beruhen. Dadurch kann er der inneren Wandlung, die er von seinen Verfahren verlangt, nicht einräumen, dass sie als Widerfahrnis von existenzieller Tragweite, nicht lediglich als gelehrte Reflexion gelten muss. Die existenzielle Dimension bedarf zu ihrer Legitimation zwar nicht wie bei Fink einer bis auf weiteres nur spekulativ zu erfüllenden Freilegung der »vor aller Individuation liegenden Lebenstiefe des absoluten Geistes« (VI. CM, 183). Wir müssen aber achtgeben, hier nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten. Viele Kommentatoren 103 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Husserls Paradoxie der Subjektivität

können es nicht erwarten, Finks Überschreitung des Husserl’schen Selbstverständnisses hinter sich zu lassen und es mit ernsten Bedenken über die »Umdeutung des Ur-Ich in einen eshaften Ur-Grund« (Waldenfels 1971, 41) 41 und die Fragwürdigkeit, »die letzte Tiefendimension der Phänomenologie als das nicht-ichliche Absolute« (Taguchi 2006, 137) zu begreifen, auf sich bewenden zu lassen. Mit der bloßen Zurechnung der Fink’schen Intuition zu einem metaphysischen Neoplatonismus, der das Ur-Ich als das namenlose Eine behandeln möchte, 42 entledigt man sich vorschnell der Verlegenheit, dass man Husserls Begriff des Ur-Ich nicht einfach als eine »basic underlying form of the ego« (Moran 2012, 246) verstehen darf. In der Regel wird mit Blick auf Husserls Ausführungen natürlich anerkannt, dass das Ur-Ich nicht die personale Persistenz des empirisch-psychichen Ich meinen kann. »Das Ur-Ich ist also kein Ich im gewöhnlichen Sinne als Person-Ich: Es ist also kein Mensch mit einer narrativen Geschichte, einer Persönlichkeit, sondern die zugrunde liegende Anerkennung, dass dieses persönliche Ich eben immer zunächst ich bin.« (Niel 2011, 217) Bezeichnend an den Analysen Niels, die hier stellvertretend für die klassische Interpretation des Husserl’schen Ur-Ich stehen können, ist das Folgende: Aus der Einsicht in den impersonalen Charakter dieses ursprünglichen ich bin wird nicht die Konsequenz möglicher Vertiefung des phänomenologischen Verständnisses von Subjektivität in Erwägung gezogen. Diese Einsicht führt vielmehr sogleich in die Haltung, dass Husserls Hinweis, das »Ich« der Epoché dürfe nur durch Äquivokation »Ich« heißen, natürlich nicht bedeuten könne, das transzendentale Bewusstsein sei in einem emphatischen Sinne ichlos. Demnach ergebe es auch »überhaupt keinen Sinn zu behaupten, dass das Ur-Ich eine Art von ›unpersönlichem Es‹ wäre« (ebd.). Wenn es ein unpersönliches Es wäre, gäbe es Niel zufolge nur zwei Möglichkeiten. »Entweder sprechen wir von einem ›unbekannten Etwas‹ in einem ›mystischen Sinne‹, wozu wir überhaupt keinen Zugang haben und wovon es keine mögliche Rede gibt. Oder, wenn wir einen Zugang haben, wird es immer von mir aus meinem Ur-Ich heraus erfahren. Dann aber wieder kommt das Ur-Ich ins Spiel.« (Ebd.) Zitiert nach Taguchi (2006), 137. Vgl. Moran (2012), 246. »Fink’s interpretation is perhaps overly influenced by a kind of metaphysical Neoplatonism that treats the Ur-Ich as the unnameable One, the undeclinable source of all further opposition.«

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Bewusste Untiefe – Transzendentale und existenzielle Epoché

Niel gibt hier eine unter Phänomenologen verbreitete Verlegenheit preis: Der transzendental-phänomenologische Zugriff erfolgt in aller Regel im Konjunktiv. Auf die Anstrengung des Mitvollzugs der entsprechenden epochalen und reduktiven Leistung wird zugunsten einer Phänomenologie des Als-Ob verzichtet. Würde mir die Epoché ein »unpersönliches Es« zugänglich machen, käme ich natürlich nicht umhin anzuerkennen, dass ich es bin, der da den wachen Blick auf ein unpersönliches Etwas richtet. Nur im aktuellen Vollzug von Epoché kann sich aber die Möglichkeit für die Frage eröffnen, wer ich in dieser Dimension transzendentaler Selbsterfahrung bin. Die Antwort ist in der Tat nicht Es, sondern Ich. Aber die Struktur meines Erlebens, die Geltung meiner Identität ist hier dennoch impersonal. Ich zähle »nicht als ein Ich, das immer noch sein Du und sein Wir und seine Allgemeinschaft von Mitsubjekten in natürlicher Geltung hat«. (Hua VI, 188) Die Differenzierung zwischen empirischem und urichlichem Erleben verläuft also nicht entlang der Modi ichlich und nicht-ichlich, sondern entlang der Modi personal und impersonal. Die Anerkennung dieser impersonalen Subjektivität ist nicht deshalb rätselhaft, weil es die Setzung eines »nicht-ichlichen Ich« und dadurch eine sinnlose contradictio in adiecto (vgl. Niel 2011, 217) bedeutete. Diese Auffassung ist nur Widerschein der tiefen Gewohnheit, mit der wir I c h l i c h k e i t u n d P e r s o n a l i t ä t a l s u n u n t e r s c h e i d b a r e D i m e n s i o n e n durchleben und als solche zu denken gelernt haben. Sie ist rätselhaft, weil die phänomenologische Forschung ihrem tradierten Selbstverständnis nach von einer Struktur gewährleistet werden soll, die aus der natürlich-personalen Dimension stammt. Die Entschiedenheit, mit der Husserl sein Philosophieren beginnen lässt, setzt sich in seinem »theoretischen Betrachter« und dessen reflexivem Vermögen fort und bestimmt unterschwellig auch die Ausrichtung des phänomenologischen Blicks und die mögliche Anerkennung neuer Tatsachen. Diese Ausrichtung wird die philosophische Anerkennung einer lebendiger Gegenwart als Urphänomen zu einem bloßen Ärgernis werden lassen. Der Mangel an einer Kultivierung transzendental-phänomenologischer Selbsterfahrung und der Berücksichtigung ihrer existenziellen Dimension lässt darüber hinaus kaum begrifflichen oder auch nur ästhetischen Spielraum für die Einsicht, dass der Philosoph in der unmittelbaren Nähe seiner selbst nicht etwas über, sondern von und aus sich erfährt. Eine Erfahrung, die sich nicht bloß als Erkenntnis verdeckter Inhalte der konkreten personellen Gestalt und ihrer transzendentalen Genese, 105 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Husserls Paradoxie der Subjektivität

sondern zugleich als Wandel des Selbst vollziehen muss. Finks spekulative Entlastung des phänomenologisierenden Blicks hat ihn bei aller idealistischen Emphase für die impersonale Dimension sensibilisiert, die das transzendentale Geschehen prägt und die dem personalen Ich unverfügbar, dem phänomenologisierenden Ich hingegen bis hin zur Einsicht in die Artikulation des Absoluten selbstverständlich wird. Sobald man den Widerfahrnischarakter der Epoché gelten lässt, die Entschiedenheit der Phänomenologin als ihr Moment, nicht als ihre Bedingung versteht, ergibt sich Spielraum, die entschiedene Selbsterfahrung transzendentaler Epoché von einer entsprechenden Erfahrung existenzieller Epoché zu unterscheiden. Wie Hanna Arendt für die Denkungsart der Existenzphilosophie zeigt, werden die »Grenzsituationen« des Zufalls oder des Todes deshalb so pointiert in den Fokus gerückt, »weil in allen diesen Erfahrungen sich Wirklichkeit als unausweichlich, als nicht durch Denken auflösbare, herausstellt« und sich an ihnen dadurch die Abhängigkeit des Menschen zeigt: »nicht von irgend etwas Einzelnem und noch nicht einmal von seiner allgemeinen Begrenztheit, sondern abhängig davon, daß er ist.« (Arendt 1990, 13) Wie Fink zudem ganz richtig herausstellt, darf sich die Phänomenologie aber nicht mit einer noch so grundlegenden Evidenz eines natürlichen Ich bin oder einer anderen apodiktischen Erkenntnis befrieden. »Die phänomenologische Epoché ist von nichts weiter entfernt als von einer Methode der Sicherung und der Beruhigung bei apodiktisch gewissen Erkenntnissen – der natürlichen Einstellung. Vielmehr riskiert sie mehr als alle philosophischen Einsätze bei der Fragwürdigkeit und Unsicherheit des menschlichen Daseins; sie stellt in Frage, was alle solche ›existentiellen‹ Philosophien voraussetzen und worin sie sich beruhigt halten: das Menschsein selbst (die natürliche Einstellung).« (VI. CM, 51) Da, wo existenzielle Grunderfahrung also nicht sogleich in die Kultivierung eines existentialistischen Heroismus oder Pessimismus mündet, sondern als solche ausgehalten und fortschreitend in phänomenologischer Einstellung durchlebt wird, zwingt sie nicht in eine sentimentale, sondern eröffnet eine sensitive Selbsterfahrung, die dem phänomenologischen Interesse an den invarianten Strukturen von Bewusstsein entspricht. Selbsterfahrungen in existenzieller Epoché entsprechen also nicht etwa dem Typus der träumerischen Selbstbesinnungen, wie man sie in der Rousseau’schen Tradition finden kann. Für die Art kultivierter Reflexion auf die durch den Kopf strömenden Gedanken und die damit einhergehende »Erforschung seiner 106 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Bewusste Untiefe – Transzendentale und existenzielle Epoché

selbst«, denen sich Rousseau auf weiten Teilen seiner Spaziergänge hingibt, ist der Pfad der Forschung schon durchschritten, bevor er überhaupt begangen ist. Das Selbst ist schon ausgelegt und anerkannt, was jetzt noch erforscht wird, sind seine Inhalte und deren endlose Variationen, die sich natürlicherweise den Anschein geben, Tiefe und sogar einen Grund zu haben, den es zu erreichen gälte. 43 Die phänomenologische Rede vom »Bewusstseinsstrom«, dessen zeitlicher Struktur sich im folgenden Kapitel zu widmen ist, muss sich deshalb als transzendentaler Euphemismus für die empirische Realität eines trägen, tiefen und schlammigen Gewässers erweisen. Um an klares Wasser zu kommen, wird man sehr vorsichtig zu schöpfen haben. Sensitive Selbsterfahrung im hier intendierten Sinne legt daher nicht eine vermeintliche Tiefe des Bewusstseins frei, sondern schöpft im Gegenteil von seiner Oberfläche. Das phänomenologische Datum lebendiger Gegenwart, das im Folgenden Anlass ist, in die Problematik vorreflexiven Selbstbewusstseins einzuführen, kann dabei – um im Bild zu blieben – als die Oberflächenspannung von Bewusstsein gelten. Und doch ist solche sensitive Erfahrung eine innere Erfahrung. Nur ist es ein Innerhalb des Innen, das so sehr außen ist, wie das Außerhalb des Innen. Nicht über eine vermeintliche Tiefe personalen Bewusstseins erfahren wir durch solche Introspektion – die Tiefe solchen Bewusstseins ist immer schon in der Welt 44 –, sondern hier gibt sich die impersonale Untiefe von Bewusstsein selbst zu verstehen.

Beiläufig erscheint aber auch bei Rousseau am Horizont seiner pathologisch-personalen Reflexion in der II. und V. Rêverie die Möglichkeit einer anderen Form der Selbsterfahrung. Sie wird uns am Ende unserer Auseinandersetzung mit der Selbstbewusstseinstheorie Sartres beschäftigen. 44 Auch wenn die theatralische Herkunft unseres Personbegriffs aus dem antiken prosopon nur anekdotischen Charakter haben mag, so kann man Nietzsche doch zustimmen: »Alles, was tief ist, liebt die Maske.« Nietzsche (2013a), 49. Und man möchte hinzufügen: Alles, was Maske ist, liebt die Tiefe. Hier sollen Druck und Bewegungen für das per-sonare, das Durch-Tönen idiosynkratischen Ausdrucks entstehen. 43

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2. Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

Der Gang durch die Architektur der Husserl’schen Philosophie verlangt dem Philosophen einiges an Vorsicht und Vertrauen ab. Nicht nur Fassade und Ornament, tragende Wände, Ein- und Ausgänge dürfen dem immer wieder neu beginnenden phänomenologischen Philosophieren fragwürdig werden, auch das Fundament des philosophischen Gebäudes darf, ja muss, zur Disposition stehen können. Für die phänomenologische Frage nach Selbstbewusstsein ist diese Vorsicht vor allem da geboten, wo Husserl aus der statischen konstitutionstheoretischen Anlage seiner Philosophie in die unsteten Fahrwasser der genetischen Analyse von Bewusstseinsvorgängen gerät. In dem Maße, wie Husserl seine Philosophie fortschreitend als »die Rückfrage nach der letzten Quelle aller Erkenntnisbildungen« entwickelt, als ein »Sichbesinnen des Erkennenden auf sich selbst, und sein erkennendes Leben« (Hua VI, 100), wird die Frage nach Selbstbewusstsein so sehr thematisches wie methodisches Problem. Denn während im Horizont der statischen Phänomenologie »die Möglichkeit einer Phänomenologie überhaupt« noch von der »Leistungsfähigkeit der Reflexion« (Hua III, 178) abhing, gerät diese dort an ihre Grenze, wo die Analyse sich nicht länger nur auf die Konstitutionskorrelata Noesis-Noema 45 beschränkt, sondern der Genese des Bewusstseinsflusses selbst nachfragt. Die systematischen und sprachlichen Erblasten der ursprünglich am Inhalt-Auffassungs-Schema entwickelten Intentionalanalysen machen sich in diesem Zusammenhang vor allem da bemerkbar, wo lebendige Subjektivität im Horizont der Problemsphäre der Zeitlichkeit in ihrer Form als »urströmende Gegenwart« (Hua. Mat VIII, 6) zum Vorschein kommt. Die von Brentano tradierte Vorstellung intentionalen Bewusstseins präsupponiert bekanntlich eine Struktur bewussten Erlebens, die Bewusstsein allein in seinem je schon vergegenständlichenden Vollzug be45

Vgl. Hua III, §§ 87–96.

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Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

stimmt. Für die statischen Analysehinsichten ergab sich daraus, dass sich das reine, polartige Ich des transzendentalen Bewusstseins durch eine »reine Ichreflexion«, das persönliche Ich des bewegten Lebens durch »reflektive thematische Erfahrung« (Hua IV, 249) als phänomenologisch fasslich erwies. Im Rahmen der Analysen der Zeitlichkeit stößt Husserl demgegenüber auf ein »›wundersames‹ Für-michselbst-sein«. (Hua Mat VIII, 40) Hier reicht die Reflexion zwar weit genug zu bestätigen, »daß es ein Urphaenomen der lebendigen Gegenwart gibt, das ich als ›Tatsache‹ hinzunehmen habe. Der Gehalt der Vor-Zeitlichkeit aber entzieht sich der unendlich iterierbaren Reflexion, weil Reflektierbarkeit gleich Zeitlichkeit ist.« (Ebd.) Der Gehalt der Vor-Zeitlichkeit, der den zeit-konstituierenden Bewusstseinsfluss und die ihm korrespondierende Erfahrungsdimension der lebendigen Gegenwart auszeichnet, ist dem reflexiven Blick der Phänomenologin entzogen und wird in seiner eigentümlich unverfügbaren Vertrautheit – exemplifiziert es für Husserl doch gerade mein »Für-mich-selbst-sein« – erst dann auffällig, wenn der Vollzug bewussten Erlebens als transzendentale Verzeitigung problematisch wird. Schon darum musste er den statischen Intentionalanalysen verborgen bleiben. Denn so, wie das Problem durchlebter Subjektivität und ihrer noetischen Struktur im Grunde aus den Untersuchungen der Ideen I ausgeschlossen blieb, so gilt in ihnen auch die Zeit noch als »völlig abgeschlossene Problemsphäre« (III, 197), die erst nach und nach in dem Teil des Husserl’schen Œuvre zur Entfaltung kommt, den man als genetische Phänomenologie anzusprechen pflegt. In den Ideen I hatte Husserl da, wo er kursorisch vom Zeitbewusstsein handelt, recht kryptisch in Aussicht gestellt: »Das transzendentale ›Absolute‹, das wir uns durch die Reduktionen herauspräpariert haben, ist in Wahrheit nicht das Letzte, es ist etwas, das sich selbst in einem gewissen tiefliegenden und völlig eigenartigen Sinn konstituiert und seine Urquelle in einem letzten und wahrhaft Absoluten hat.« (Hua III, 198)

Zwar kommt das reine Ich für Husserl weder als Zentrum oder Pol noch als Funktionseinheit für den Titel »Urquelle« in Frage. Aber erst im Versuch, Zeitbewusstein, bzw. die ursprüngliche »Schicht« des Zeitbewusstseins 46 fortschreitend als diese Urquelle auszuweisen, In seinen frühen Analysen zum Zeitbewusstsein unterscheidet Husserl grundsätzlich drei Stufen des Zeitbewusstseins: (1) die objektive Zeit der Erfahrungsgegenstände, (2) die innere, subjektive und »präempirische Zeit« der immanenten Einheiten,

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Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

sieht sich Husserl gezwungen, das phänomenologische Faktum einer vorreflexiven Subjektivität anzuerkennen, das sich seinem bisher beschrittenen und methodologisch eingeholten Weg nicht ohne weiteres einfügen ließ. Denn dieser Weg wurde von einem phänomenologisierenden Subjekt begangen, dem nur das relevant werden konnte, was sich im Horizont eines vom »reinen Ich vorschießende[n] Ichstrahl« (Hua IV, 98) sinnfällig abzeichnete. Die Behäbigkeit dieses Bewusstseins, die sich anschaulich an Husserls Metapher des Blicks artikuliert, wird im Folgenden dazu dienen, eine methodologische Entscheidung zu skizzieren, von der sich Husserl nur in Grenzen emanzipieren wird. Seine Orientierung an dem Bild eines durch hervorschießende Blickstrahlen inneren und äußeren Gegenständlichkeiten zugewandten Ichs führt ihn zunächst an eine unzureichende Vorstellung der reflexiven Strukturen bewussten Erlebens, die unterschwellig auch seine methodische Ausrichtung in den späteren Analysen der Zeitlichkeit lenkt. Um anschließend ein erstes Verständnis von Husserls Versuch zu gewinnen, Zeitbewusstsein nicht nur als »Urquelle« transzendentaler Konstitution, sondern auch als ursprüngliche Form von Selbstbewusstsein auszuzeichnen, wird die Struktur inneren Zeitbewusstseins zu entfalten sein, die Husserl als unthematische Selbstwahrnehmung versteht. Das Problem der unthematischen Selbstwahrnehmungen wird zum Anlass genommen, für einige Aspekte der Diskussion um vorreflexives Selbstbewusstsein zu sensibilisieren. Zur Konturierung der phänomenologischen Problematik wird daraufhin die doppelte Kritik zu rekonstruieren sein, die Manfred Frank im Anschluss an Derrida gegen Husserl hervorgebracht hat. Sie besagt: Husserl habe eigentlich keinen anderen Begriff von Selbstbewusstsein als den des reflexiven Selbstbewusstseins. Um aber den reflexionstheoretischen Regress zu vermeiden, stipuliere er zugleich ein transzendentales Ich als eine ganz und gar bei-sich-seiende »reine Instantität«, die gewährleiste, dass der Reflexionsakt auch sein Ziel, eben dasselbe Bewusstsein, treffen könne. Für Frank hingegen ist vorreflexives Selbstbewusstsein keine transzendentale Leistung, die sich für ihn nur im Sinne einer »Metaphysik der Präsenz« artikulieren ließe, sondern es zeige sich bereits als Faktum alltäglicher Erfahrung in Form eines d. h. der intentionalen Erlebnisse, (3) den absoluten zeit-konstituierenden Bewusstseinsfluss. (Vgl. Hua X, 73–77)

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Der gerade und der gewendete Blick

grundlegenden »Mit-sich-vertraut-Seins«. Dieses natürliche Faktum soll als vorreflexives Selbstgewahren aber zugleich als Möglichkeitsbedingung reflexiven Selbstbezugs gelten. Nachdem wir mit Mohr auf die Inkonsistenz dieser Auffassung verwiesen haben, soll abschließend gezeigt werden, dass der Fehler der rationalistischen Psychologie, den Frank reproduziert, insofern ein fruchtbarer Fehler ist, als er auf die Eigentümlichkeit phänomenologischer Betrachtung von Selbstbewusstsein verweist. Denn der Fehler besteht im Wesentlichen darin, das »Mit-sich-vertraut-Sein« als Leistung eines je schon individualisierten und personalisierten Bewusstseins zu verstehen. Ein Fehler, der in der transzendental-phänomenologischen Selbstauslegung dann vermieden werden kann, wenn man die sich an Husserls Begriff lebendiger Gegenwart abzeichnende Erfahrungsdimension impersonaler Subjektivität entfaltet. Eine Dimension, die wenigstens im Rahmen einer phänomenologischen Heuristik die Möglichkeit offen hält, dass die Antwort auf die Frage, was es heißt, Bewusstsein von sich selbst zu haben, nicht nur eine Begründung dessen liefern wird, was wir immer schon über uns zu wissen glauben.

2.1 Der gerade und der gewendete Blick Husserls transzendental-phänomenologisches Programm, wie es populär in den Ideen I zu einer ersten Entfaltung kommt, hat ein klares Untersuchungsfeld: das reine, transzendental reduzierte Bewusstsein als eine Korrelationseinheit von Noesis und Noema. Ein Feld, das Husserl des Öfteren einfach als cogito anspricht. Das Ich, das da denkt, verstanden als eine psychische Einheit, wird aus den Untersuchungen der Ideen I explizit ausgeschlossen. »Bekanntlich wurde es von Descartes so weit verstanden, daß es mitumfaßte jedes ›Ich nehme wahr, Ich erinnere mich, Ich phantasiere, Ich urteile, fühle, begehre, will‹ […]. Das Ich selbst, auf das sie alle bezogen sind, oder das ›in‹ ihnen in sehr verschiedener Weise ›lebt‹, tätig, leidend, spontan ist, rezeptiv und sonstwie sich ›verhält‹, lassen wir zunächst ganz und gar außer Betracht, und zwar das Ich in jedem Sinne, in dem es in der rein psychologischen Sphäre verbleibt.« (Hua III, 75)

Auch wenn Husserl in der Mitte der Ideen I dann einräumt, dass unter »den allgemeinen Wesenseigentümlichkeiten des transzendental gereinigten Erlebnisgebietes […] eigentlich die erste Stelle der 111 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

Beziehung jedes Erlebnisses auf das ›reine‹ Ich [gebührt]« (Hua III, 194), so ist Ströker doch zuzustimmen, dass die umfassende Fragerichtung der Ideen I nicht auf »Bewußtsein als gehörig zu einem Ich, sondern Bewußtsein bloß mit einem Ich« (Ströker 1987, 28) abzielt. Neben den vorrangig auf die noematischen Bewusstseinsleistungen ausgerichteten Analysen der Ideen I wird der Grund für diese Vernachlässigung des Ich in Husserls Einschätzung zu suchen sein, dass das »erlebende Ich« nichts sei, »was für sich genommen und zu einem eigenen Untersuchungsobjekt gemacht werden könnte. Von seinen ›Beziehungsweisen‹ oder ›Verhaltensweisen‹ abgesehen, ist es völlig leer an Wesenskomponenten, es hat keinen explikablen Inhalt […].« (Hua III, 195) Die Einsicht, das reine Ich sei nur an seinen »Beziehungsweisen« verfügbar, diese cartesianische Einsicht 47, die sich bereits in den Ideen II weiter ausdifferenziert 48, bringt Husserl zu der bekannten Charakterisierung des reinen Ich, als Zentrum allgemeiner Aufmerksamkeit: »Das ›Gerichtetsein auf‹, ›Beschäftigtsein mit‹, ›Stellungnehmen zu‹, ›Erfahren, Leiden von‹ birgt notwendig in seinem Wesen dies, daß es eben ein ›von dem Ich dahin‹ oder im umgekehrten Richtungsstrahl ›zum Ich hin‹ ist – und dieses Ich ist das reine, ihm kann keine Reduktion etwas anhaben.« (Hua III, 195)

In den Ideen II wird Husserl dann deutlich machen, dass die »Struktur der Akte, die vom Ich ausstrahlen, bzw. das Ich selbst, […] eine Form [ist], die ein Analogon in der Zentralisierung aller sinnlichen Phänomene in Beziehung auf den Leib hat«. (Ebd., 105) Wie Marbach zeigen konnte 49, war diese Vorstellung bereits vor und in den Ideen I

Auch Descartes’ ego sum ist bekanntlich nichts ohne das cogito: »Ich bin, ich existiere; das ist sicher. Wie lange aber? Nun, solange ich denke; denn vielleicht könnte es auch geschehen, daß ich, wenn ich alles Denken unterließe, sogleich völlig aufhörte zu sein.« Descartes (2009), 30. 48 Auf der einen Seite wird Husserl die Abhängigkeit des reinen Ich von seinen cogitationes weiter betonen, indem er es im Rahmen einer zunehmenden Personalisierung zum »unselbständigen Zentrum für Affektionen und Aktionen« (Hua IV, 310) macht. Auf der anderen Seite erkennt er eine Art unmittelbar thetischen Zugang an: »Das reine Ich ist durch das reine Ich, das identisch selbe, gegenständlich setzbar. Zum Wesen des reinen Ich gehört dabei die Möglichkeit einer originären Selbsterfassung, einer »Selbstwahrnehmung«, aber dann auch der entsprechenden Selbsterfassungsmodifikationen, also einer Selbst-Erinnerung, Selbst-Phantasie u. dgl.« (Ebd., 101) 49 Vgl. Marbach (1974), 159–176 und zur Kontinuität der Auffassung des Ich als Ausstrahlungszentrum siehe: 291–298. 47

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Der gerade und der gewendete Blick

wirksam und motivierte hier Husserls bildliche Rede vom »geistigen Blick«. Ausgangspunkt dieser Analogisierung ist die Konstitution von räumlichen Objekten in der sinnlichen Wahrnehmung und deren »notwendige Beziehung auf den Nullpunkt der Orientierung, das absolute Hier« (ebd., 127), den Leib. So, wie sich ein räumliches Objekt nach Maßgabe der leiblichen Nähe und Richtung zu ihm in immer neuen Abschattungen und deren synthetischen Deckungen als Identisches konstituiert, so ist das reine Ich schon in dem Sinne »das Ausstrahlungszentrum bzw. Einstrahlungszentrum alles Bewußtseinslebens« (Hua III, 105), als es seine Aufmerksamkeit ist, die uns »eine ideelle Annäherung an das vollkommen erfaßte Objekt« (ebd., 106) ermöglicht. Gegenstände der Wahrnehmung sind uns als leiblich verfassten Wesen perspektivisch, einseitig gegeben; erst unsere kontinuierliche räumliche Orientierung an ihnen als identischem Gegenstandspol führt zu einer fortschreitenden Anreicherung unserer Kenntnis des Objektes. Die Aufmerksamkeit des Ich leistet eben dies in einem übertragenen Sinne: »ich bringe mir die Sache (auch wenn sie unräumlich ist) näher« (ebd., 106). Das Analogon der topologischen Ordnung des Bewusstseins bringt Husserl hier durch den Begriff des »Feldes« zum Ausdruck, in dem sich »der geistige ›Blick‹ des Aufmerkens bald auf ›dies‹, bald auf ›das‹« (ebd.) richtet. Selbst da, wo Husserl, wie etwa in § 22 der Ideen II, in expliziter Abstraktion vom Leib Selbstwahrnehmung übt, bleibt die Polarisierung des Ich maßgeblich, und damit auch das Bild eines »vom reinen Ich vorschießende [n] Ichstrahl[s] auf das Objekt hin« (Hua V, 98). Husserls frühe Charakterisierungen des reinen Ich sind sowohl von topologischen Begriffen (Richtung, Zentrum, Raum) als auch und vor allem von der visuellen Metapher des Blicks durchdrungen. In der Regel meint Husserl mit »Blick« die jedem Akt prinzipiell eigene Struktur der Intentionalität. »Ist ein intentionales Erlebnis aktuell, also in der Weise des cogito vollzogen, so ›richtet‹ sich in ihm das Subjekt (das ›Ich‹) auf das intentionale Objekt. Zum cogito selbst gehört ein ihm immanenter ›Blick-auf‹ das Objekt, der andererseits aus dem ›Ich‹ hervorquillt, das also nie fehlen kann.« (Hua III, 81)

Der »geistige Blick« oder »Blickstrahl«, den Husserl in § 92 der Ideen I explizit mit dem Modus der »Aufmerksamkeit« in Verbindung bringt, kennzeichnet die basale Eigenschaft von Akten, einem intentionalen Objekt zugewandt zu sein, das als Objekt dieser Zu113 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

wendung aber »keinesfalls dasselbe sagt wie erfaßtes Objekt« (Hua III, 82). Anders als das »im Blick haben« handelt es sich bei dem »Erfassen nicht um den Modus des Cogito überhaupt, um den der Aktualität, sondern, genauer besehen, um einen besonderen Aktmodus, den jedes Bewußtsein, bzw. jeder Akt, der ihn noch nicht hat, annehmen kann. Tut er das, so ist sein intentionales Objekt nicht nur überhaupt bewußt und im Blick des geistigen Gerichtetseins, sondern es ist erfaßtes, bemerktes Objekt«. (Ebd., 82) Etwas im geistigen Blick zu haben, meint mithin zunächst einfach, es zu erleben, noch nicht explizit gegenständliches Erleben. Aber einem »Dinge freilich, können wir nicht anders als in der erfassenden Weise zugewandt sein, und so allen ›schlicht vorstellbaren‹ Gegenständlichkeiten«. (Ebd., 82) Erfassen und Erblicken fallen für Husserl da zusammen, wo ein Gegenstand in »schlichtem Sachbewusstsein« (ebd., 83) erscheint. Das reine Ich als Cogito erfasst intentionale Gegenstände aber auch in schlichtem Sachbewusstsein nicht als Scherenschnitt, sondern aus einem offenen Feld von Gegenständlichkeiten, aus einem Hintergrund oder Horizont, heraus. Auch wenn das Cogito der Ideen I im prägnanten Sinne aktuell vollzogenes Bewusstsein von etwas meint (vgl. Hua III, 79), so macht Husserl diese Kennzeichnung, weil ihm im Verlauf der Vertiefung seiner Intentionalanalysen nicht verborgen bleiben konnte, dass sich das, was er als Residuum des reinen Bewusstseins vorfand, nicht in der jeweils aktuellen Korrelation von cogito und cogitatum erschöpft. Bewusstseinserlebnisse, beziehungsweise ihre noematischen Korrelate, zeichnet es vielmehr aus, stets von einem Hof inaktueller Erlebnisse umgeben zu sein. Jedes aktuell vollzogene Erlebnis, in Husserls Beispielen in aller Regel Wahrnehmungs- oder Erinnerungserlebnisse, kann eine Modifikation erfahren, »die wir bezeichnen als freie Wendung des ›Blicks‹ – nicht gerade und bloß des physischen sondern des › g e i s t i g e n B l i c k s ‹ […]«. (Ebd., 77) Diese Blickwendung bringt die vormals nur implizit bzw. potentiell bewussten Gegenstände in den Modus explizit bzw. aktuell bewusster Gegenstände. Verlässt der geistige Blick einen Gegenstand, sinkt dieser zurück in die Potentialität, oder verbleibt als »nebenbei beachteter«. So, wie die Blick-Metapher für Husserl nicht nur die Intuition gerader, sondern gewendeter Ichstrahlen nahelegt, dient sie ihm auch zur Kennzeichnung der Leistung der Reflexion.

114 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Der gerade und der gewendete Blick

»Im cogito lebend, haben wir die cogitatio selbst nicht aktuell bewußt als intentionales Objekt; aber jederzeit kann sie dazu werden, zu ihrem Wesen gehört die prinzipielle Möglichkeit einer r e f l e k t i v e n B l i c k w e n d u n g und natürlich in Form einer neuen cogitatio, die sich in der Weise einer schlicht erfassenden, und zwar gewahrend erfahrenden auf sie richtet.« (Hua III, 84)

In unserem natürlichen Erleben sind wir wahrnehmend bei den Gegenständen unserer alltäglichen Orientierung. Dahinlebend haben wir Husserls Auffassung in den Ideen I zufolge aber kein Bewusstsein des Wahrnehmens selbst. Unser Ich-Blick geht erlebend und erfassend auf einen intentionalen Gegenstand. Jedem Bewusstseinsakt ist aber die Möglichkeit inhärent, selbst Gegenstand eines neuen, nun reflektierenden Bewusstseinsaktes zu sein. Diese neue Thematisierung soll der Aktualitätsmodifikation des Horizontbewusstseins entsprechend eine Blickwendung sein. Nur ist sich Husserl nicht einig, ob es sich um eine Hinwendung zu einem schon implizit Bekannten, oder um die Rückwendung auf etwas Neues handelt. Offenbar kann es sich, um im Bild zu bleiben, nicht so verhalten, dass sich der IchBlick eines Wahrnehmungserlebnisses von seinem Gegenstand abwendet und auf sich selbst richtet. Denn dann wäre das Wahrnehmungserlebnis ohne intentionalen Gegenstand und damit für Husserl kein Bewusstseinserlebnis mehr. Die implizite Kontinuität und Kohäsion des geistigen Blicks wird im noetischen Horizont prekär, denn dieser erweist sich als sehr viel schlüpfriger als der noematische. Anstatt, wie im Falle des neomatischen Horizontbewusstseins, Hintergrund und Übergänge anzuerkennen, motiviert die Metapher des Blicks zuweilen eine Auffassung von Selbstwahrnehmung als je neuer cogitatio. Die Vorstellung einer diskreten Sukzession von Bewusstsein, die dadurch evoziert wird, ist nicht zuletzt der statischen Form der Phänomenologie in den Ideen I geschuldet und spiegelt sich auch in den Aktanalysen, in denen sie eine gewisse Hölzernheit der phänomenologischen Beschreibungen erzeugt. Zugleich ist sich Husserl aber der »unwahrgenommenen Realität« des inneren Erlebens bewusst, wenn er der Reflexion attestiert, dass sie »das merkwürdige Eigene hat, daß das in ihr wahrnehmungsmäßig Erfaßte sich prinzipiell charakterisiert als etwas, das nicht nur ist und innerhalb des wahrnehmenden Blickes dauert, sondern s c h o n w a r, e h e dieser Blick sich ihm zuwendet«. (Hua III, 104) Auch wenn die Behäbigkeit, die die Vorstellung vom geistigen Blick und seiner Umwendung begleitet, das methodische Selbstver115 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

ständnis der transzendentalen Phänomenologie auch in den Spätschriften prägen wird, so gelangt Husserl mit den Analysen des inneren Zeitbewusstseins doch an eine Stufe der Bewusstseinsanalyse, auf der er das »präphänomenale Sein der Erlebnisse, ihr Sein vor der reflektiven Zuwendung« (Hua X, 484) als genuinen Untersuchungsgegenstand anerkennt. Eine entsprechende vorreflexive ›Zuwendung‹ zum präphenomenalen Sein der Erlebnisse und die Möglichkeiten und Grenzen einer dieser Stufe korrelierenden transzendental-phänomenologischen Erfahrung wird Husserl schließlich in immer neuen Anläufen am Problem »Urgegenwart« des Bewusstseins entfalten und in seinen konstitutionstheoretischen Erörterungen der Struktur zeitlichen Erlebens vorbereiten.

2.2 Ungegenständliches Zeitbewusstsein als Selbstwahrnehmung Husserl teilt ausdrücklich die »innere Wahrheit des Kantischen Satzes: die Zeit ist die Form der Sinnlichkeit« (EU, 191). Die Einstimmigkeit, die unseren kontinuierlich fortschreitenden Wahrnehmungszusammenhang prägt, konstituiert sich dadurch, dass sich die intentionalen Gegenstände entsprechender Wahrnehmungen und Erfahrungen auf eine objektive Zeit beziehen und in dieser Zeit ihre feste Stelle haben. Von einem Gegenstand als in einem Zeitpunkt seiend, d. h. von ihm bereits als zeitlichem Gegenstand zu sprechen, ist aber nur insofern sinnvoll, als dieser Punkt als »Phase eines Vorgangs« (Hua X, 74) verstanden wird. Wir erleben Gegenstände als dauernd, d. h. als kontinuierlich in der Zeit seiend, und dieses Kontinuum hat seine Ordnung für uns nicht nur nach Maßgabe der Relationen »früher als«, »später als« und »gleichzeitig mit«, sondern auch in Form des »vergangen«, »gegenwärtig« und »zukünftig«. Unsere gesamte alltägliche Orientierung entfaltet sich nicht nur an einer räumlichen Umgebung, sondern auch entlang der zuletzt genannten drei Zeitdimensionen. Wir bewegen uns in stetiger, mehr oder minder, souveräner Antizipation äußerer und innerer Gegenstände und erinnern uns im gleichen Maße vergangener Ereignisse und Zustände, während wir uns in einer aktuellen Situation bewegen. Wir erleben Gegenstände und Ereignisse als in der Zeit verharrend, als zeitlich ausgedehnt, als uns selbst widerfahren und früher einmal wirklich gewesene. »Aber woher wissen wir denn, dass ein A früher 116 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Ungegenständliches Zeitbewusstsein als Selbstwahrnehmung

gewesen, schon vor dem Dasein dieses gegenwärtigen gewesen ist?« (Hua X, 18) Schon um ein einfaches Bewusstsein von zeitlicher Sukzession und der diskreten Folge von Gegenständen verständlich machen zu können, müssen wir voraussetzen, dass wir entsprechende Gegenstände zureichend zueinander ins Verhältnis setzen. Am bekannten Beispiel der Melodiewahrnehmung wird dies deutlich. Um das Erleben eines zeitlich ausgedehnten Gegenstandes, z. B. einer Melodie phänomenologisch verständlich zu machen, genügt es offenbar nicht anzunehmen, die einzelnen Töne seien uns jeweils in einem aktuellen Wahrnehmungsmoment gegeben, denn so bliebe unverständlich, wie sich die tonale Einheit der Melodie aus diesem ergibt. Das Problem ließ Brentano im Gefolge von Lotze annehmen, dass »die Anschauung einer Zeitstrecke in einem Jetzt, in einem Zeitpunkt, statthabe«. (Ebd., 20). Demnach wäre Bewusstsein eines zeitlich komplexen Gegenstandes, etwa einer Melodie, stets eine einheitliche Momentanschauung dieses Komplexes, ein Bewusstsein also, das »in einem unmittelbaren Zeitpunkt seinen Gegenstand umspannt«. (Ebd.) Diesem »Dogma von der Momentanität eines Bewußtseinsganzen« hält Husserl mit William Stern entgegen, dass wir bei der Wahrnehmung einer Melodie nicht etwa alle Töne auf einmal hören, sondern dass wir uns stattdessen das Bewusstsein der Melodie, das Wahrnehmungserlebnis selbst, als ein zeitliches vorzustellen haben. (Vgl. Hua X, 21 f.) Die zeitliche Dimension dieses Erlebnisses darf aber nicht selbst ein zeitlich ausgedehnter Prozess sein, denn das würde das Problem nur um eine Stufe verschieben. Die Ordnung dieses inneren Zeitbewusstseins spannt sich demnach weder aus im Horizont des »früher« oder »später«, noch in dem des »vergangen« oder »künftig«. Die Weise, wie Gegenstände dieses inneren Zeitflusses zur Geltung kommen, findet ihren Ausdruck bei Husserl vielmehr in anschaulichen Beschreibungen, wie »Abklingen«, »Herabsinken«, »Verblassen« oder »im Griff haben«. Im Falle der Melodiewahrnehmung schließt sich nach Husserl an die aktuelle Wahrnehmung eines Tones, die »Impression« oder auch »Urimpression«, nicht einfach eine weitere an. Zwei sukzessive, jeweils gegenwärtige Impressionen würden weder eine kontinuierliche Wahrnehmung ermöglichen, weil sie schlicht unverbunden blieben, noch ließe sich eigentlich von einem »gegenwärtigen«, von einer »Jetztauffassung« (ebd., 30) sprechen, wenn es nicht auch ein Bewusstsein von einem früher gegenwärtigen, einer vergangenen Jetztauffassung gäbe. Es gehört daher zur Struk117 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

tur des in beständigem Fluss befindlichen inneren Zeitbewusstseins, dass eine Urimpression, jener »Quellpunkt, mit dem die ›Erzeugung‹ des dauernden Objektes einsetzt« (ebd., 29), einer stetigen Modifikation unterliegt. Diese Modifikation, die uns das Fließen des inneren Zeitbewusstseins verständlich macht, besteht darin, dass eine Urimpression im Wahrnehmungsvollzug nicht einfach spurlos ins Bewusstlose verschwindet, sondern aufgehoben und zu dem modifiziert wird, was Husserl in intentionalen Kontexten als »Retention« anspricht. Wenn ein Ton als Phase einer Melodie das Wahrnehmungsfeld verlässt und ein neuer an seine Stelle tritt, geht der vorangehende nicht verloren, sondern wird »im Griff behalten (d. i. eben ›retentiert‹), und dank dieser Retention ist ein Zurückblicken auf das Abgelaufene möglich«. (Ebd., 118) Die Retention selbst ist hierbei nicht als eigenständiger Akt misszuverstehen, so als ob wir jedem vergangenen Ton erinnernd hinterhersehen müssten. Die Retention macht den vergehenden Ton nicht zu einem expliziten Objekt einer Wiedererinnerung, sondern »indem ich die abgelaufene Phase im Griff habe, durchlebe ich die gegenwärtige […]« (ebd.). Das retentierte Moment gehört zum Horizont jedes aktuellen Wahrnehmungserlebnisses, ja jedes Aktes überhaupt, hinzu und ist schon deshalb nicht der Willkür des empirischen Subjektes unterworfen, wie es die Erinnerung ist. Wir können eine Retention nicht initiieren, beschleunigen oder aussetzen und werden sie insofern als passive Bewusstseinsleistung anzusprechen haben. Retention unterscheidet sich von Erinnerungsleistungen maßgeblich dadurch, dass letztere »setzende« Bewusstseinsleistungen sind, d. h. dass sie durch die »Einordnung der reproduzierten Erscheinung in den Seinszusammenhang der inneren Zeit« charakterisiert sind. (Hua X, 60) Erinnerung vergegenwärtigt uns ein vormals gegenwärtiges Erlebnis in Form von Reflexion oder »immanenter Wahrnehmung« (ebd., 118), d. h. als thematisches Bewusstsein, »das frühere originäre Erscheinen vergegenwärtigt und damit zugleich das originäre Zurücksinken, das sich daran anschließt«. (Ebd., 368) Erinnerung setzt Retention also immer schon insofern voraus, als sie sich zur Reproduktion eines vergangenen Gegenwärtigen, eben auf die entsprechende »Urimpression« in ihrem Modus der Vergangenheit bezieht, der retentional ist. Als Strukturmoment von Wahrnehmung hingegen gibt uns eine Retention den einer aktuellen Tonwahrnehmung vorangegangenen Ton nicht in der Form eines setzenden, 118 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Ungegenständliches Zeitbewusstsein als Selbstwahrnehmung

explizit thematischen Gegenstandes. Mit einer Differenzierung der Ideen II können wir sagen, dass wir, während uns Erinnerung ihren Gegenstand reflexiv in »immanenter Wahrnehmung« zugänglich macht, von einer Retention lediglich ein vorreflexives »inneres Bewußtsein« haben. (Vgl. Hua IV, 118) Und so, »wie die retentionale Phase die vorangegangene bewußt hat, ohne sie zum Gegenstand zu machen, so ist auch das Urdatum bewußt – und zwar in der eigentümlichen Form des ›jetzt‹ – ohne gegenständlich zu sein«. (Hua X, 119) Auch das Urdatum, also jene Impression, mit der eine Wahrnehmungsphase eingeleitet wird, ist uns gleich der Retention in einer Weise bewusst, die keine Reflexion oder »immanente Wahrnehmung« erfordert. Husserl unterscheidet also grundsätzlich zwischen gegenständlichem und ungegenständlichem bzw. zwischen setzendem und nichtsetzendem Zeitbewusstein. Diese Differenzierung dient nicht zuletzt dem klaren Abweis einer Theorie, die Bewusstsein lediglich als Aufmerksamkeits- und Auffassungsleistung zu bestimmen versucht und sich nach Husserl unvermeidlich in einen infiniten Regress verstrickt. 50 »Sagt man: jeder ›Inhalt‹ kommt nur zum Bewußtsein durch einen darauf gerichteten Auffassungsakt, so erhebt sich sofort die Frage nach dem Bewußtsein, in dem dieser Auffassungsakt, der doch selbst ein Inhalt ist, bewußt wird, und der unendliche Regreß ist unvermeidlich. Ist aber jeder ›Inhalt‹ in sich selbst und notwendig ›urbewußt‹, so wird die Frage nach einem weiteren gebenden Bewußtsein sinnlos.« (Hua X, 119)

Es ist diese Form ursprünglichen Bewusstseins, d. h. die Weise, wie Bewusstsein sich selbst gegeben ist, deren Bestimmung an dieser Stelle weder einen Bezug zu einem empirischen noch transzendentalem Subjekt impliziert, sondern ein Strukturmerkmal intentionalen Husserl antizipiert also das Problem des infiniten Regresses bei metarepräsentationalen Modellen des Bewusstseins, d. h. solchen Modellen, die davon ausgehen, Selbstbewusstsein sei eine Art Autoobservation und dementsprechend auf höherstufige Akte innerer Wahrnehmung angewiesen, von denen freilich ungeklärt bleibt, wie diese anders als durch höherstufige Akte zu Bewusstsein kommen können, und ad infinitum. Der schon klassische Einwand der unendlichen Iteration, der zu Kritiken an der Möglichkeit von Selbstbewusstseinstheorien überhaupt geführt hat (vgl. Düsing 1997, 97–102), speist sich nicht zuletzt aus der allgemeineren Kritik an jenen Bewusstseinstheorien, die sich auf die eine oder andere Weise als eine Variante des »Cartesischen Theaters« rekonstruieren lassen. Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, diese Problematik zu entfalten. Vgl. Dennett (1994), sowie Ryle (1968)

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Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

Bewusstseins überhaupt darstellt. Gleichwohl ist dieses »innere Bewusstsein« für Husserl eine Weise der Selbstwahrnehmung 51: »Denn dieses ist nicht nur kontinuierlich dahinströmendes Erleben, sondern es ist, während es dahinströmt, immerfort zugleich Bewußtsein von diesem Strömen da. Dieses Bewußtsein ist Selbstwahrnehmen, obschon nur ausnahmsweise vom Ich her thematisch vollzogenes Gewahren. (Hua XI, 320)

Dass Husserl dieses ungegenständliche, unthematische Bewusstsein als eine Form der Selbstwahrnehmung verstanden haben möchte, die nicht notwendig die reflexiv-thematische Wendung eines Ichs präsupponiert, soll nun Anlass zu der Frage geben, wie man die Intuition eines vorreflexiven Selbstbewusstseins verständlich machen kann.

2.3 Vorreflexives Selbstbewusstsein – eine analytische Annäherung Die philosophische Problematik vorreflexiven Selbstbewusstseins lässt sich für eine erste Annäherung entlang der von Metzinger (1996, 139) als »die drei Kardinalprobleme« einer naturalistischen Philosophie des Geistes charakterisierten Problemfelder »Qualia«, »Bewusstsein« und »das phänomenale Selbst« entfalten. Ein Merkmal unseres bewussten Erlebens ist, dass es neben den erlebten Inhalten eine Weise gibt, wie es sich anfühlt, ein Erlebnis gerade diesen Inhalts zu haben, ein Merkmal, das im Anschluss an Thomas Nagel (1979, 165–181) als what is it like paraphrasiert und als phänomenale Erfahrung oder Quale angesprochen wird. Bewusstsein zeichnet sich demnach durch einen Gewissheitscharakter aus, der in der Regel durch die Betonung einer Unmittelbarkeit des Erlebens verständlich gemacht werden soll und dem entspricht, was Obgleich alle drei Begriffe von Husserl gebraucht werden, lässt sich keine systematische Differenzierung der sinnverwandten Ausdrücke »Selbstbewusstsein«, »Selbstwahrnehmung« und »Selbstgewahren« finden. Es lässt sich aber annehmen, dass sie eine Art implizite Hierachisierung von Bewusstseinsdichte anzeigen. »Selbstbewusstein« bezeichnet dann den vertrauten thetischen Selbstbezug, »Selbstwahrnehmung« die vorreflexive »originäre Selbsterfassung« des Bewusstseinsstroms und »Selbstgewahren« – wie noch zu zeigen ist – das eigentümlich paradoxe Erleben des stehend-strömenden Jetzt lebendiger Gegenwart.

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in der zeitgenössischen Diskussion als nicht-inferenzielle Direktheit behandelt wird. 52 Zu den mysteriösen Merkmalen des Bewusstseins zählt Metzinger überdies dessen Holismus und Homogenität. Letzteres meint, dass das phänomenale Bewusstsein »durch eine Art ›Feldqualität‹ charakterisiert [ist], eine bruchlose und nicht-fragmentierte Verbundenheit seiner Inhalte, die ein subjektives Kontinuum entstehen lassen«. (Metzinger 1996, 144) Und es sei diese »Feldqualität«, die die »aus der Perspektive der ersten Person unbezweifelbare Qualität der Ganzheit« (ebd.) mit sich bringe. Als phänomenales Selbst bestimmt Metzinger zum einen den »Brennpunkt« bzw. das »phänomenale Zentrum«, um das herum sich unser Erlebnisraum aufbaut, also die uns bekannte Idee des Ich-Pols; zum anderen rekurriert er in Anschluss an Nagels View from nowhere auf die »rätselhafte phänomenale Qualität der ›Meinigkeit‹«. (Ebd., 147) 53 Eine Qualität, die sich erneut »durch ein starkes Gewißheits- oder Gegebenheitselement auszeichnet« und als »präreflexive Selbstvertrautheit des Ich« (ebd., 148) angesprochen werden kann. In der gegenwärtigen analytischen Philosophie des Geistes werden vorrangig drei Merkmale verhandelt: Infallibilität, Inkorrigibilität und Immunität gegen Fehlidentifizierung. Das von Shoemaker in die Diskussion eingeführte Merkmal der Immunität gegen Fehlidentifizierung ist in einem gewissen Sinne die logisch-semantische Entsprechung von Infallibilität und Inkorrigibilität, insofern es diejenige exklusive Relation meint, die zwischen dem logischen Subjekt von Aussagen, in denen mentale Selbstzuschreibungen vorkommen, und den entsprechenden mentalen Prädikaten besteht. Die Untrüglichkeit, auf die dieses Merkmal aufmerksam machen soll, ist jedoch nicht diejenige gegenüber den durch die Prädikate gemeinten Zuständen oder die gegenüber den durch das Pronomen der ersten Person ausgeschlossenen anderen. Die angesprochene Immunität bezieht sich vielmehr auf die Evidenz solcher Aussagen der ersten Person, die eine Selbstzuschreibung enthalten und zwar hinsichtlich eben dieser Selbstzuschreibung. Vgl. Szanto (2012), 425. Anders gewendet: Ich kann mich nicht darüber täuschen, dass ich es bin, der sich in einem mentalen Zustand befindet. Die Eigenheit bewusster Wesen, in aller Regel immun gegen die fehlerhafte Selbstzuschreibung mentaler Zustände zu sein, wird zudem oft mit einer bestimmten Unmittelbarkeit unseres epistemischen Zugangs zu diesen Zuständen bzw. einer grundlegenden Selbst-Vertrautheit oder einem vorreflexiven Selbstbewusstsein in Verbindung gebracht. Szanto hebt diese nicht-inferenzielle Direktheit zu Recht von den drei tradierten Merkmalen ab. (Vgl. ebd., 26 ff.) 53 Die Entwicklung eines phänomenologischen Begriffs von »mineness« siehe Zahavi (2008) 124–132. Die entsprechenden Begriffe der for-me-ness bzw. der first-personal givenness werden am Ende der Arbeit im Zusammenhang mit dem vedāntischen Begriff des Zeugenbewusststseins (sākṣin) zu diskutieren sein. Hier wird auch auf den Hinweis Metzingers auf die scheinbar nur episodische Instantiierung dieser Selbstvertrautheit zurückzukommen sein, also ihr Verschwinden im Tiefschlaf. 52

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Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

Diese Problemfelder widersetzen sich den naturalistischen und reduktionistischen Versuchen schon allein deshalb, weil sie sprachlich nur schwer adäquat wiedergegeben werden können. (Vgl. ebd., 144) Die Versuche, sie sprachlich einzuholen, können in der Regel nicht auf die Emphase von Ausdrücken wie »Gewissheit«, »Vertrautheit«, »Unmittelbarkeit«, »Unbezweifelbarkeit« usw. verzichten. Alle drei Problemfelder verweisen auf ein Merkmal unseres Erlebens, das außerdem die Rede von »Ursprünglichkeit« motiviert, insofern als sie auf etwas zu rekurrieren scheinen, dass sich irgendwie noch im Horizont unseres bewussten Erlebens zeigt, von uns also bemerkt werden kann, das sich aber gleichzeitig einer direkten Thematisierung auf eine Weise entzieht, die nahelegt, dass es sich dabei um etwas handelt, das wirksam ist, längst bevor sich unser »innerer Blick« darauf richten kann. Insbesondere das phänomenale Selbst, bzw. die Meinigkeit als eine präreflexive Selbstvertrautheit, wird in der Diskussion um Selbstbewusstsein etwa von Manfred Frank und Dieter Henrich als das eigentliche Problem des Selbstbewusstseins herausgestellt, ein Problem, das Tugendhat auf bedenkliche Weise 54 und Husserl gar nicht 55 behandelt haben soll. In der Diskussion zwischen Frank, Tugendhat und den Vertretern der von ihm in Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (1979) sogenannten Heidelberger Schule wird das Problem von reflexivem und vorreflexivem Bewusstsein entlang der Unterscheidung zwischen propositionalem und nicht-propositionalem Wissen behandelt. Diese Debatte spiegelt die in der angelsächsischen Philosophie weit verbreitete Tendenz wider, die mit der traditionellen Bewusstseinstheorie verbundene visuelle Metaphorik durch epistemologisches Vokabular zu ersetzen. 56 Selbstbewusstsein ist hier kein Problem innerer Wahrnehmung, sondern einer Form von WisVgl. Frank (1991a), 19; Henrich (1989), 113 f. Vgl. Frank (1984), 300 ff. Auch Tugendhat (1979, 16 f.) sieht Husserls Theorie des Selbstbewusstseins sowohl der traditionellen, reflexionstheoretischen Subjekt-Objekt-Beziehung, als auch dem Versuch, Selbstbewusstsein metaphorisch am Modell des Sehens zu verstehen, verhaftet. 56 Der Abgesang auf die visuelle Metaphorik relational gedachten Bewusstseins führte u. a. zu den Überlegungen, Bewusstsein über das epistemisch ausgezeichnete Verhältnis der ersten Person zu seinen mentalen Zuständen zu begreifen. In diesem Fall wird die Frage nach Bewusstsein als solchem aber schnell von der Frage nach Selbstbewusstsein ununterscheidbar, insofern sich auch hier als das wesentliche Charakteristikum von Bewusstsein eine nicht-derivative »Meinigkeit« zeigt, die für eine Reihe analytischer Philosophen nur eine mehr oder minder obskure Empfindung von Ich54 55

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Vorreflexives Selbstbewusstsein – eine analytische Annäherung

sen, von dem man in Anschluss an Ryle und Davidson mit guten Gründen bezweifeln kann, dass es sich dabei um eine besondere Form von privatem oder innerlichem Wissen handelt. Wenn man mit Russell überdies anerkennt, dass es kein Wissen durch bloße Bekanntschaft geben kann, sondern dass sich Wissen immer propositional ausdrücken lässt, dann wird man auch Selbstbewusstsein als ein propositionales Wissen zu interpretieren haben. Es sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, um welche Form von Wissen es sich beim Selbstbewusstsein handelt. Tugendhat bestimmt es als ein unmittelbares »nichtinduktives empirisches Wissen«, das jedoch nicht auf innerer Wahrnehmung beruht. (Vgl. Tugendhat 1979, 135) Soldati (1988, 92) hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Tugendhat eine genauere Bestimmung dessen, was es mit diesem unmittelbaren Wissen auf sich hat, schuldig bleibt. Er bringt diesen Begriff von Wissen aber gegen wenigstens zwei Fronten in Stellung: Auf der einen Seite gegen die Tendenzen moderner und postmoderner Denker einer sogenannten semantischen Destruktion des Ich, die den Terminus »Ich« durch einen neutralen Ausdruck ersetzen möchten. Lichtenbergs Credo: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt« 57 und Wittgensteins analogen Überlegungen zu expressiv verwendeten Prädikaten in den Philosophischen Untersuchungen steht er somit gleichermaßen ablehnend gegenüber. (Vgl. Tugendhat 1979, 132) Auf der anderen Seite spricht er sich gegen Versuche aus, Selbstbewusstsein durch einen stärkeren Begriff von epistemischer Unmittelbarkeit, d. h. von nicht-propositionalem Wissen und von dementsprechend nicht-intentionalem Erleben verständlich zu machen. Zwar verfügt auch Tugendhat über solch einen starken Begriff. Wie Soldati klarlegt, zieht er aber nicht in Erwägung, »Selbstbewusstsein unter diese beiden Phänomentypen zu rechnen«. (Soldati 1988, 94) Frank

lichkeit meint, die sich jedem begrifflichen Zugang, geschweige denn sprachlichen Ausdrucks entzieht. Vgl. Krämer (1996), 43. 57 »Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch ›Ich denke‹ übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.« Lichtenberg (1972), 99. Elberfeld zeigt, dass der Fokus auf »subjektlose« Sätze mit Impersonalpronomen nicht etwa Ausdruck einer willkürlichen semantischen Dekonstruktion sein muss, sondern Ausdruck einer phänomenologischen und interkulturellen Sensibilität sein kann, die berücksichtigt, dass bestimmte Sprachstrukturen ein bestimmtes Denken nahelegen. Vgl. Elberfeld (2012).

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Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

und Henrich haben Tugendhats semantische Reduktion des Selbstbewusstseinsproblems hinsichtlich dieses Versäumnisses gleichermaßen kritisiert. Ihre Kritik sei hier kurz rekonstruiert. Tugendhats Reduktionsversuch entfaltet sich von dem her, was er das Prinzip der veritativen Symmetrie nennt: »Der Satz ›ich-φ‹, wenn er von mir geäußert wird, ist notwendigerweise genau dann wahr, wenn der Satz ›er-φ‹, wenn er von jemand anderem geäußert wird, der mit ›er‹ mich meint, wahr ist.« (Tugendhat 1979, 88)

Unter »ich-φ«-Sätzen versteht Tugendhat solche Sätze, in denen φ für einen Bewusstseinszustand steht (ebd., 50), also Selbstzuschreibungen der Form »ich habe Schmerzen«. Mit diesem Prinzip verfügt Tugendhat über eine Wahrheitsbedingung für solche Selbstzuschreibungen, die keine Voraussetzungen macht, von denen man annehmen muss, sie seien nur der ersten Person, dem Ich-Sprecher, zugänglich. Im Gegenteil verweist dieses Prinzip auf die von Strawson aufgedeckte Konvertibilität der Sprecherperspektiven bei der Selbstund Fremdzuschreibung von Bewusstseinsprädikaten. »Wenn ich z. B. sage ›ich habe Zahnschmerzen‹, dann kann jemand diese Aussage aufnehmen und sagen ›er hat Zahnschmerzen‹. Er behauptet dann, wenn er mit ›er‹ mich meint, dasselbe wie ich.« (Ebd., 89) Ich- und Er-Sprecher beziehen sich in ihren Aussagen mithin auf denselben Sachverhalt. Dieses Prinzip gibt uns somit darüber Auskunft, dass sich eine Person mit einem »er-φ«-Satz auf die gleiche Person beziehen kann, wie eine Person, die einen »ich-φ«-Satz äußert. Es lässt sich aber noch kein Verständnis für den Umstand gewinnen, dass die Person, die sich mit einem »ich-φ«-Satz Bewusstseinsprädikate zuschreibt, auch weiß, dass sie diejenige Person ist, auf die andere mit »er-φ«-Sätzen abzielen. Tugendhat ist deshalb auch der Überzeugung, dass ich mir mit dem Erwerb der Bedeutung des Ausdrucks »ich«, auch das Wissen erwerbe, dass andere mit dem Ausdruck »er« die gleiche Person meinen, die ich mit dem Ausdruck »ich« meine. Denn »die Bedeutung des Wortes ›Ich‹ impliziert, daß derjenige, der ›ich‹ sagt, weiß, daß auf denselben, auf den er mit ›ich‹ bezugnimmt, andere Personen mit ›er‹ oder ›dieser Mensch‹ bezugnehmen können.« (Ebd., 87) Selbstbewusstsein würde sich demnach aus der Kenntnis der Verwendung des Ausdrucks »ich« ergeben. Henrich (1989, 113) zufolge kann aber niemand »von einer Äußerung, die seine ist, als von einer solchen wissen, ohne daß ihm 124 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Vorreflexives Selbstbewusstsein – eine analytische Annäherung

wissendes Selbstverhältnis und also Selbstbewusstsein zugeschrieben werden muss«. Er reklamiert also, dass das Wissen, über das ein IchSprecher verfügt, wenn er weiß, dass ein Er-Sprecher mit »er« ihn meint, bereits ein Wissen des Ich-Sprechers von sich selbst impliziert, das eigentlich als Selbstbewusstsein anzusprechen ist. (Vgl. ebd., 113) Dementsprechend geht Henrich davon aus, dass der intersubjektiv bedingte Selbstwusstseinsbegriff Tugendhats das eigentliche Problem des Selbstbewusstseins, die »wissende Selbstbeziehung« (ebd., 95) nicht in den Blick bekommt. Tugendhat gesteht dies nicht nur indirekt selbst ein, wenn er von der veritativen Symmetrie eine epistemische Asymmetrie abhebt, die besagt, dass Zustände »– und zwar offenbar wesensmäßig, nicht aus kontingenten Gründen – anders vom Betroffenen und von anderen gewußt werden« (Tugendhat 1979, 89), in seiner jüngsten Stellungnahme gegenüber Henrich gibt er außerdem zu bedenken, dass er gar keine Erklärung von Selbstbewusstsein geben wollte, sondern nur »einen phänomenalen Bestand deskriptiv festzustellen versuchte« (Tugendhat 2005, 249). Einen Bestand, in dem das Phänomen »eines allem identifizierbaren Wissen von Objekten zu Grunde liegenden nicht-identifizierenden Wissen von einem selbst« (ebd.) keine Würdigung fand. Es ging ihm vorrangig darum, jene Klasse von »Ich-Sätzen« auszuzeichnen und zu analysieren, die sich durch das auszeichne, was Shoemaker die »Immunity to error through misidentification« genannt hat. Also solche Sätze, in denen ich mich nicht darüber täuschen kann, dass ich es bin, der sich mit »ich« bezeichnet. Der Witz dieser Sätze, Tugendhats »φ-Sätze«, sei gerade gewesen, dass sie insofern eine »Letztheit« darstellen, als sie eine Subjekt-Objekt-Differenzierung vermeidbar machen, indem sie nicht in die »zwei Faktoren des Gegenstandes des Subjektausdrucks und des Prädikates auseinandergenommen werden« könnten. (Ebd.) Henrich hingegen halte entsprechend der Fichteschen Tradition, gegen die Tugendhat in Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung argumentieren wollte, an einem Subjektbegriff fest, »so als könnte dasjenige Selbstbewusstsein, das in einem Wissen von eigenen […] Zuständen besteht, in der Weise aufgeklärt werden, dass es ein vorausgehendes Selbstbewusstsein impliziere, für das der Subjektausdruck steht, eine Identifizierung meiner mit mir selbst«. (Ebd.) Die Dringlichkeit, gerade ein »vorausgehendes Selbstbewusstein« als erklärungsbedürftig anzuerkennen, ergibt sich nun für Frank einerseits aus dem Scheitern der reflexionstheoretischen Ver125 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

suche, Selbstbewusstsein verständlich zu machen, in die er, wie wir sehen werden, auch die Husserl’schen einordnet, andererseits daraus, dass diese Form des Selbstbewusstseins schlicht ein evidentes Faktum sei, das nicht ignoriert werden könne. Im Folgenden wird sich, neben den beiden Hauptproblemen, mit denen sich jede reflexionstheoretische Konzeption von Selbstbewusstsein konfrontiert sieht, auch anzusehen sein, wie die Rede vom Faktum des Selbstbewusstseins zu verstehen ist und welche Schwierigkeit die Annahme dieses Faktums mit sich bringt.

2.4 Die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins und die Metaphysik der Präsenz Frank zufolge kennt Husserl »keinen anderen Begriff von Selbstbewusstsein, als den der Reflexion«. (Frank 1984, 300) Diese im Anschluss an die analytische und neostrukturalistische Kritik der Husserl’schen Subjekttheorie gewonnene Einschätzung des Selbstbewusstseins bedarf eines näheren Blicks, weil sich in ihr nicht nur ein klareres Verständnis der Husserl’schen Position zum Begriff und Phänomen des Selbstbewusstseins entwickeln, sondern auch die Rede von »Ur-Ich« und »lebendiger Gegenwart« vertiefen lässt, zumal sie ein Musterbeispiel der von Derrida kritisierten »présupposition métaphysique« zu sein scheint. Mit Tugendhat ist Frank der Meinung, dass Husserl seine Vorstellung von Bewusstsein an einem ungenügenden Begriff von Intentionalität entwickelt, der der Tatsache nicht hinreichend Rechnung trägt, dass ich schon in einfachen Wahrnehmungserlebnissen nie nur auf eine Sache oder einen Gegenstand, sondern immer auf komplexe Sachen oder Sachverhalte gerichtet bin. Intentionales Bewusstsein hat sein sprachliches Äquivalent nicht in der Form eines einfachen Bekanntsein-mit, oder einem »Etwas-Sehen«, sondern in der propositionalen Form des »sehen, daß«. (Vgl., 283 f.) Zwar habe Husserl bemerkt, dass uns der Gegenstand des Bewusstseins stets als Komplex gegeben ist, er »glaubte aber dem dadurch Rechnung tragen zu können, daß er ihn als aus synthetischen Akten zusammengesetzt erklärte, z. B. aus Synthesen von Akten, die den Gegenstand selbst, und Akten, die seine Zuständlichkeit konstituieren«. (Ebd., 285) Gleiches gelte nun auch für Husserls Vorstellung von Selbstbewusstsein, indem er »es für die Synthese eines invarianten Ich-Pols und einer 126 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins und die Metaphysik der Präsenz

wechselnden Menge ihm zugeordneter Bewußtseins-Erlebnisse« (ebd.) halte. Hier gilt es zunächst an eine Unterscheidung zu erinnern, die nicht immer sorgfältig genug getroffen wird. Welche Bewusstseinsleistung soll eigentlich als Selbstbewusstsein angesprochen werden? Geht es a) um die Weise, wie etwa ein Wahrnehmungs- oder Erinnerungsakt, als Akt eines Bewusstseinsstroms identifiziert wird, oder geht es b) um die sicher voraussetzungsreichere Frage, wie Bewusstsein ursprünglich mit sich vertraut ist, bzw. sich selbst »weiß«? Da in der Regel, wenigstens explizit, die erste Leistung in Frage steht und sie es ist, an der sich das Scheitern der Reflexionstheorie zeigen lässt, werden wir uns zunächst an ihr zu orientieren haben. 58 Immer noch in Gefolgschaft von Tugendhat und Derrida geht Frank davon aus, Husserls Verständnis von Selbstbewusstsein im Sinne von a) entfalte sich vorrangig am Begriff der »inneren Wahrnehmung« (Frank 1984, 289, 296 und wieder 2006, 31 f.), als einer zwar prä-prädikativen, aber intentionalen, d. h. gegenstandsorientierten Form des Selbstbezugs. An diese Diagnose schließen sich aber zwei Kritiken an: Die erste betrifft die von Derrida aufgerufene metaphysische Implikation des Husserl’schen Begriffs von Selbstbewusstsein im Sinne von b), die zweite betrifft die eigentlich reflexionstheoretischen Implikationen und ihre Schwierigkeiten, die sich aus einer unausweichlichen Dualität und Dialektik einer Selbstthematisierung entfalten. Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben »daß Bewußtsein, was es ist, erst im Nachhinein, als Ergebnis einer expliziten Selbstthematisierung, erfahre«. (Frank 1984, 294) Damit ein Bewusstseinsakt (erster Stufe) überhaupt ein bewusster und nicht vielmehr ein unbewusster Akt ist, bedarf es demnach eines weiteren Aktes (zweiter Stufe), der ersteren thematisch macht, d. h. explizit ins Bewusstsein hebt. Diese von Husserl noch in der zweiten Auflage der Logischen Untersuchungen nicht zuletzt durch die oben bereits angezeigte Vermengung von »innerem Bewusstsein« und »innerer Wahrnehmung« in der Tat nahe gelegte Auffassung bringt nun mit sich, dass die grundlegende Ein-

Szanto hat überzeugend dafür argumentiert, dass Selbstbewusstsein im Sinne von b) als cartesianisches Missverständnis interpretiert werden kann, das sich in seine eigenen Metaphern verstrickt. Auf den entsprechenden konstitutionstheoretischen Vorschlag, Bewusstseinserlebnissen wesensmäßig eine »mögliche reflexive Modalisierung« (Szanto 2012, 456) zuzuschreiben, komme ich unten zurück.

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Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

heit des Bewusstseins durch eine Selbst-Spaltung erklärt würde, die durch einen Akt der Reflexion wieder überwunden werden muss, wenn wir von Selbstbewusstsein sprechen wollen. Denn wie etwa Zahavi richtig herausstellt, »genügt es nicht, daß das in Frage stehende Erlebnis reflexiv thematisiert und so zum Gegenstand gemacht wird. Es muss auch als identisch mit dem thematisierenden Erlebnis aufgefasst werden«. (Zahavi 2002, 700) Innere Wahrnehmung soll sich auf das Erlebnis erster Stufe schließlich als »sein eigenes Erlebnis« beziehen. Da es sich offenbar nicht um eine numerische Identität handeln kann, muss sich das Erlebnis, auf das reflektiert wird, als Teil desselben Bewusstseinsstroms erweisen wie das reflektierende Erlebnis. Die Schwierigkeit, die sich hier zeigt, ist die folgende: Was ermächtigt das reflektierende Erlebnis dazu, ein anderes Erlebnis als zu demselben Bewusstseinsstrom wie es selbst gehörig zu identifizieren? Muss der Reflexionsakt sich nicht wenigstens selbst diesem Bewusstseinsstrom zugehörig wissen, um solch eine Identifikation leisten zu können? Das zu unterstellen, würde aber bedeuten, eine petitio principii in Kauf zu nehmen, indem man diese ursprüngliche Zugehörigkeit doch wohl als Selbstbewusstsein ansprechen müsste, und man damit voraussetzte, was man zu erklären beabsichtigt hatte. (Vgl. Frank 1984, 357) Die andere Möglichkeit wäre zu behaupten, diese Zugehörigkeit würde über einen weiteren Reflexionsakt zu Bewusstsein gebracht werden, was die Reflexionstheorie, ihrer klassischen Kritik entsprechend, in einen infiniten Regress verwickeln würde. »Anders gesagt: zwei oder mehrere aufeinander bezogene Elemente verraten mir alles Mögliche, nur nicht dies, daß sie miteinander identisch sind und dies auch noch wissen. Wenn diese negative Konsequenz zwingend ist, dann muß das unbezweifelbare Faktum unseres Mit-uns-Vertraut-Seins anders erklärt werden.« (Frank 1984, 359)

Husserls Festhalten am Intentionalitätsbegriff, der nicht anders als eine zweistellige Relation zu denken ist, gibt ihm mithin keine Möglichkeit an die Hand, das Mit-sich-vertraut-Sein, das nicht-referenziell, nicht-reflexiv und vor allem nicht-relational verstanden werden muss, adäquat zu fassen. (Ebd., 307) Im Anschluss an Derrida hat Frank Husserls Verständnis von Selbstbewusstsein aber auch noch in einem anderen Sinne, nämlich hinsichtlich seines transzendentalen Anspruchs, und damit im Sinne von b) kritisiert. Eine Kritik, die er offenbar mit der Kritik am Refle128 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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xionsmodell des Selbstbewusstseins in Verbindung bringt und an der deutlich wird, welche Form eines ursprünglichen Selbstbewusstseins bzw. Mit-sich-vertraut-Seins ihm nicht vorschwebt. Auf der einen Seite hält Frank Husserl also vor, dieser würde Selbstbewusstsein als »innere Wahrnehmung« eines Bewusstseins verstehen, das sich in dieser Wahrnehmung selbst zu einem Objekt macht. Auf der anderen Seite charakterisiert er Husserls Verständnis von Selbstbewusstsein als »reinen Selbstbezug«, mithin als »die Möglichkeit […], die das Bewußtsein hat, sich auf sich selbst zu beziehen, ohne mit der empirischen, der materiellen, und vor allem der sprachlichen Welt in Berührung zu kommen«. (Ebd., 297) Wie wir gesehen haben, hatte Frank mit der ersten Kritik Husserls Orientierung an der Intentionalität, d. h. an einer Form des Gegenstandsbewusstseins im Blick, das im Falle von Selbstbewusstsein nur zur Folge haben kann, dass dieses Bewusstsein in cartesischer Tradition als »zweipolig« gedacht wird: »als Beziehung eines auf sich selbst«, d. h. als Reflexion. (Ebd., 250) Über die Diagnose der Zeitdimension dieser Bewusstseinsform gelangt Frank von der Kritik am Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins zur Kritik desjenigen Modells von Selbstbewusstsein, das Husserl gerade als Lösung für die Schwierigkeiten des Reflexionsmodells vor Augen hat: eine Art Sich-gegenwärtig-Sein von Bewusstsein. »Der Zeitsinn von Reflexion ist das Gegenwärtige. Als das, was sich stets vor Augen hat, ist das Selbstbewußtsein ein sich zugleich ›Gegenständliches‹ und ›Gegenwärtiges‹, so wie das, was die Vorstellung ins Auge faßt (die Dinge der Welt), stets ein Gegenwärtiges ist. So ist Selbstbewusstsein nicht nur Reflexion, sondern auch Selbstgegenwärtigkeit: Bei-sich-Sein.« (Frank 1984, 251)

Der Begriff des Bei-sich-Seins, bzw. des Gegenwärtigen, zeige sich bei Husserl nun in der Form des »reinen Selbstbezuges«, als ein unmittelbares Selbstverhältnis des transzendentalen Ego, dem gegenüber das äußere, empirische Ego »ein transzendental Sekundäres« wäre. Damit ist das »psycho-physische (und das personale) Ich etwas gegenüber dem transzendentalen Ego Abkünftiges […], d. h. ein Seiendes von der Art der innerweltlich vorhandenen Gegenstände, von denen das reine transzendentale Ego Bewußtsein hat«. (Ebd.) Selbstbewusstsein als Reflexion und Selbstbewusstsein als reines Bei-sichSein eines als nicht-empirisch gedachten Egos sind bei Husserl also aufeinander bezogen. Während Selbstbewusstsein im ersten Fall ein129 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

fach nicht kohärent gedacht werden könne, zeige es, so Frank, im letzten Fall eine tiefe metaphysische Vorentscheidung, ja einen Wunsch: »den Wunsch nämlich einer geheimnisvollen körperlosen Selbstvergegenwärtigung, die von der Aristotelischen Bestimmung νοησις νοησεως bis zum Hegelschen ›Selbstbewußtsein des absoluten Geistes‹ reicht und noch der Phänomenologie ihre Spuren aufprägt«. (Frank 1984, 299) Dieser Wunsch zeitige sich in der Husserl’schen Phänomenologie in einer Metaphysik der Präsenz. (Vgl. Derrida, 1979) Derrida, und mit ihm Frank, meint in dieser Metaphysik die Wurzel freizulegen, aus der Husserls gesamter Diskurs sich speist. Wenn Derrida von Präsenz als »letzte Rechtsinstanz seines [Husserls] ganzen Diskurses« spricht (ebd. 58), hat er zunächst offenbar Husserls in den Ideen I artikuliertes »Prinzip der Prinzipien« im Blick, demzufolge »jede originäre gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich gibt« (Hua III, 51). Die Kritik an diesem Begriff von Präsenz gewinnt Derrida in Auseinandersetzung mit Husserls Verständnis vor-sprachlichen, oder besser vor-semiotischen Bewusstseins, wie es bereits in der Philosophie der Arithmetik am Begriff der »eigentlichen« im Verhältnis zu nur »symbolischen Vorstellungen« und in den Logischen Untersuchungen am Begriff der »intuitiven Akte« zum Ausdruck kommt. »Eine symbolische oder uneigentliche Vorstellung ist, wie schon der Name besagt, eine Vorstellung durch Zeichen. Ist uns der Inhalt nicht direkt gegeben als das, was er ist, sondern nur indirekt durch Zeichen, die ihn eindeutig charakterisieren, dann haben wir von ihm statt einer eigentlichen eine symbolische Vorstellung.« (Hua XII, 194)

Derridas Kritik zielt mithin auf den Mythos des Gegebenen, also die Auffassung, dass uns Gegenständlichkeiten in einer Weise gegenwärtig sein können, die keine symbolische Vermittlung erfordert, sondern »eigentlich«, direkt anschaulich, eben intuitiv gegeben sein kann. Dem gegenüber macht Derrida, durchaus im Sinne der analytischen Kritiker dieses Mythos, darauf aufmerksam, dass die Identifizierung eines Gegenstandes als solchem die Maßgabe einer möglichen Beziehung auf ihn ist, und dass man, um einen Gegenstand identifizieren zu können, ihn bereits von anderen Gegenständen un130 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins und die Metaphysik der Präsenz

terscheiden können muss, was eine Sphäre divergenter Ausdrücke, mithin eine auch nur rudimentäre Sprache voraussetzt. Damit sich das Bewusstsein sinnvoll auf Objekte außerhalb seiner selbst, also auf transzendente Gegenstände beziehen kann, muss es mithin sprachlich strukturiert sein; eine Konsequenz, die Husserl nicht vollumfänglich ziehen möchte. An dieser Stelle müssen wir Husserl nicht gegen diese Einwände verteidigen. Bald spricht Derrida von Präsenz nämlich nicht mehr nur als methodisches Prinzip, sondern als etwas, das das transzendentale Bewusstsein selbst auszeichnet, »als dem authentischen Modus der Idealität, welche ist, welche unendlich in der Identität ihrer Präsenz wiederholt werden kann, selbst wenn sie nicht existiert, nicht wiederholt ist, irreal ist«. (Derrida 1979, 54) Die Präsenz, von der er dabei handelt, ist zum einen Präsenz, wie sie sich in Husserls grundlegenden erkenntnistheoretischen Begrifflichkeiten der Evidenz und der anschaulichen Erfüllung zeigt, und zum anderen Präsenz der transzendentalen Selbsterfahrung, die Husserl in den Cartesianischen Meditationen dadurch auszeichnet, dass »in ihr das Ego sich selbst ursprünglich zugänglich ist«, eine Erfahrung, deren adäquaten Kern Husserl »lebendige Selbstgegenwart« nennt. (CM, 24) Für Derrida ist die Selbstgegenwart des Bewusstseins aber nicht Dimension einer bestimmten Erfahrung, sondern Husserls Strategie, die Konsequenz der sprachlichen Verfasstheit des Bewusstseins zu umgehen. »Die einzige Möglichkeit, die er dazu hat, besteht in der These, daß das Bewußtsein, das sich auf Weltgegenstände richtet, sich ebenso auf sich selbst richten kann, und zwar in Form einer vor-sprachlichen Selbstanschauung« (Frank 1984, 306). Husserl stehe damit in der Erbschaft des »traditionellsten aller Imperative […], der seinen expressivsten, wenn auch nicht originellsten Ausdruck in den Ennéades gefunden hat«. (Derrida 1979, 63) Die Fundierungsleistung des transzendentalen Bewusstseins sehen Derrida und Frank in der Tradition eines neuplatonischen Emanationsgedankens, aus dessen idealistischem Monismus letztlich eine Art Solipsismus des »transzendentalen Lebens« folgen müsse, für den alles Fremde, alles andere und Äußere, das Reale und Körperliche nur »das Andere seiner Selbst« sein könnte. (Frank 1984, 299) Das transzendentale Leben sei ein Ort ohne wirkliche Unterscheidungen, ein Bereich, in dem sich Bedeutung nicht durch Spiel und Differenzen der signifiants bilden könne. Selbstbewusstsein als Reflexion, also als Leistung, die gerade eine Differenz überbrücken soll, entfaltet sich 131 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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dann in der vorgängigen Einheit dieses transzendentalen Lebens und darf somit als eine nur virtuelle gelten. (Ebd., 301) Frank zufolge müsste aber das ursprüngliche Selbstbewusstsein des transzendentalen Egos letztlich selbst als virtuelles gelten, denn Realität setze Bestimmtheit und diese wiederum Unterscheidung voraus, die ihrerseits, um eine Wirkung zu zeitigen, wirklich sein müsse. Eine wirkliche Unterscheidung würde aber die Einheit des transzendentalen Lebens sprengen, und so ist Letztere nur zum Preis reiner Idealität zu haben, die mithin nicht eigentlich ist. Diese ideale Einheit, diese »Möglichkeit des Bewußtseins, sich ohne Weltberührung selbst zu vergegenwärtigen«, erfülle, wie Frank mit Derrida herausstellt, »weniger eine thematische als eine theoriekonstitutive Funktion« (Frank 1984, 298), indem sie als unmittelbare Konsequenz des Reflexionsmodells des Bewusstseins diejenige Einheit des gespaltenen Bewusstseins darstelle, die die Reflexion (wieder) herzustellen sucht. Die monadische Radikalität dieser Einheit mache sie aber unmöglich, insofern sich der Gedanke eines bloß virtuellen Bewusstseins selbst aufhebe. Das weltentrückte transzendentale solus ipse kann auf dieser Stufe der Kritik aber nicht mehr hinreichend von einem empirischen Ego abgehoben werden, ohne »einen heiklen Punkt des Husserlschen Philosophierens« (ebd., 303) zu berücksichtigen: die innere Zeitlichkeit des Selbstbewusstseins und die objektive Zeit des psychischen Ichs. »Wenn es aber wahr ist, daß das Selbst schlechterdings von sich kein Bewußtsein erwerben kann, es sei denn, es reflektiert sich wirklich, dann bricht diese Unterscheidung zusammen. Entweder gibt es Selbstbewußtsein, dann mußten mehrere Stadien der Bewußtwerdung durchlaufen werden; oder das Bewußtsein verharrt in seiner lauteren Präsenz, dann hat es – als reine Instantanität – auch kein Bewußtsein seiner selbst.« (Frank 1984, 303)

Wenn Selbstbewusstsein, wie Frank Husserl unterstellt, nur als Reflexion gedacht wird, dann muss diese Reflexion sich in der objektiven Zeit vollziehen und kann sich nicht im inneren Zeitbewusstsein konstituieren. Denn ist sich das Subjekt nicht ursprünglich bekannt, müssen drei Zeitmomente unterschieden werden: eine »noch bewußtlose Innerlichkeit«, ein »Aus-sich-heraus-Gehen und Sich-Spiegeln« und schließlich »das Rück-Erinnern des Spiegelbildes im Selbst«. (Ebd.) 132 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins und die Metaphysik der Präsenz

Soll Selbstbewusstsein aber als weltferne Selbstgegenwart, »als reine körperlose und überzeitliche Selbstberührung« (ebd., 302) gedacht werden – als reine Instantität – dann ist, unter der Voraussetzung, dass Selbstbewusstsein letztlich immer auch Selbstbewusstsein eines empirischen Egos sein muss, nicht einsichtig zu machen, wie »lautere Präsenz« das leisten soll. Abgesehen davon, dass Frank Husserls Differenzierung von innerem Zeitbewusstsein und dem »den Zeitfluss konstituierenden Absoluten« vorschnell in eins setzt, beruht seine Argumentation zu einem guten Teil darauf, dass er Husserls vorreflexives Bewusstsein in einem starken, metaphysischen Sinne interpretiert. »Indessen hat dieser, die Einheit des Selbstbewußtseins über den Strom der inneren Zeit und jenseits der irreduziblen Äußerlichkeit der Reflexion rettende Gedanke den Charakter eines reinen Postulats.« (Frank 1984, 311)

Die Konsequenz, die wir aus diesen Überlegungen Franks zunächst anerkennen wollen, ist diese: Die reflexive Selbstversicherung eines psychischen Egos kann nicht kohärent gedacht werden, ohne eine vorreflexive Form des Selbstbewusstseins vorauszusetzen. Die reine Selbstgegenwart eines transzendentalen Egos aber kann das Selbstbewusstsein des psychischen Egos nicht verbürgen, wenn diese Art Bewusstsein als die metaphysische Stipulation eines idealen Ich-Pols gedacht wird. Denn es bleibt dann in der Tat unverständlich, wie die vorreflexive Selbstgegenwärtigkeit des transzendentalen Egos ein Kriterium dafür hergeben soll, dass der Blick des psychischen Egos, der den Spiegel der Selbstreflexion trifft, der gleiche Blick ist, der den Spiegel verlässt, bzw. dass dieser Blick dem gleichen Ego zugehört. (Vgl. Frank 1984, 304) Der Mangel eines solchen Kriteriums verbirgt eine grundlegende Unentscheidbarkeit des Selbstbewusstseins und für Derrida bekanntlich eine unüberbrückbare Zerrissenheit des Bewusstseins selbst. Eine Zerrissenheit, die zugleich als Bedingung für die Selbstgegenwart des Bewusstseins und seines reflexiven Vermögens zu gelten hat. (Vgl. Derrida 1979, 115–124) 59 Das Pathos der Differenz, das Derrida – mit Husserl – gegen Husserl aufbringt, speist sich aus den Überlegungen zur Selbsterscheinung des Bewusstseins, in denen er

Diese Schwierigkeit wird bei Sartres Begriff eines präreflexiven Cogito wieder begegnen.

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Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

die doppelte Intentionalität des retentionalen Verströmens als Möglichkeitsbedingung für eine Phänomenalisierung überhaupt charakterisiert hatte. (Vgl. Hua X, 378–382) Ihnen wird sich weiter unten zu widmen sein. Wenn Bewusstsein demnach überhaupt nur als erscheinendes ist und jedes Erscheinen seine Bedingung in dem Horizont retentionalen Verströmens hat, dann lässt sich Bewusstsein als »reine Instantität« nicht denken. Wir werden nachfolgend dafür argumentieren, dass dies zwar in der Tat eine mögliche Konsequenz der konstitutionstheoretischen Rekonstruktion der Husserl’schen Beschreibungen ist, dass Husserl die Erfahrung lebendiger Gegenwart aber auch auf eine Weise charakterisiert, die seine eigene reflexiv gewonnene und abstraktiv entwickelte Konstitutionstheorie übersteigt. Für den Augenblick soll es genügen, gezeigt zu haben, dass Frank Husserls Bemühen anerkennt, Bewusstsein als etwas zu verstehen, das sich auf einer fundamentalen Ebene, nicht-relational und nicht-reflexiv, mithin selbst gegenwärtig ist. Gerade diese lebendige Gegenwart hält er mit Derrida aber für einen metaphysischen Atavismus, der sich zudem aus einem am Reflexionsmodell orientierten Verständnis von Selbstbewusstsein speist. Jede Theorie des Selbstbewusstseins, die ihren Ausgang bei einem Reflexionsmodell nimmt, hat aber auch keine andere Wahl, als die Einheit der beiden zunächst disparaten Momente durch das »Unternehmen der Identifikation« (ebd., 307) zu gewährleisten. Ein Unternehmen, das ein Kriterium benötigt, von dem zunächst nicht zu sehen ist, woher es theoretisch zu beziehen ist. Andererseits birgt die Emphase eines irrelationalen gegenwärtigen Bewusstseins für Frank die Schwierigkeit, wie ein solches Bewusstsein »je Teile von sich als vergangenen oder künftigen kennen (und überhaupt in Phasen zerlegen) sollte«. (Frank 1991, 543) Aber tritt diese Schwierigkeit nicht nur unter der Voraussetzung auf, dass ich das instantane, selbstgegenwärtige Bewusstsein als etwas verstehe, das zeitliche Phasen hat, die es kennen müsste? Wenn Bewusstsein demgegenüber nur als zeitlich strukturiertes, nach Maßgabe der Trias Retention – Urimpression – Protention, angenommen wird, der ursprüngliche Modus seines Erscheinens aber der der lebendigen Gegenwart ist, dann ist die implizite Hypostasierung des Bewusstseins unnötig. Das »Urbewusstsein« Husserls ist dann nicht eine Gegenwart, der etwas erscheint, es einfach ist die Gegenwart des Erscheinens. 134 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Das Faktum des Mit-sich-vertraut-Seins

Letztlich scheitern die phänomenologischen Theorien Frank zufolge aber vor allem »an der Explikation unserer Vertrautheit mit uns selbst« (ebd. 557). Und hier – so meine Vermutung – liegt die eigentliche Ursache für die Disqualifikation einer Bestimmung lebendiger Gegenwart. Sie ergibt sich letztlich aus der Überzeugung, dass die grundlegende Erfahrung des Bei-sich-Seins oder Mit-sich-vertrautSeins notwendig die vorreflexive Selbstgegenwart eines individuellen, personalen Bewusstseins anzeigt. Frank verwirft Husserls transzendentale Form von Selbstbewusstsein, wie sie sich im Begriff lebendiger Gegenwart ankündigt, nicht zuletzt deshalb, weil sie zwar ein Verständnis von vorreflexivem Bewusstsein bietet, aber die Konsequenz birgt, dass es sich dabei zugleich um ein vor-persönliches bzw. impersonales Bewusstsein handelt, dass sein Verständnis der Unhintergehbarkeit von Individualität (vgl. Frank 1986) gefährdet.

2.5 Das Faktum des Mit-sich-vertraut-Seins Für Frank ist es fraglos, dass es »so etwas wie die Erfahrung der Einheit des Selbstbewusstseins gibt« (Frank 1984, 535), und dass dies etwas ist, das den Reflexionsleistungen empirischer Subjekte irgendwie vorgeordnet ist. Dennoch soll es sich bei dem Mit-sich-vertrautSein um eine »alltägliche Erfahrung« handeln. (Vgl. 1984, 357) Mohr hat bereits auf die Inkohärenz hingewiesen, die sich aus dieser Position ergibt. Auf der einen Seite spricht Frank vom vorreflexiven Selbstbewusstsein als etwas, das als Bedingung des reflexiven Zugangs unseres personalen Erlebens gelten soll. Auf der anderen Seite wird die Dringlichkeit, dieses Bewusstsein theoretisch anzuerkennen, dadurch begründet, dass es ein unbezweifelbares und zugleich alltägliches Faktum sei. Im Folgenden werde ich Mohrs Nachweis rekonstruieren, dass »Franks Begriff von Selbstbewußtsein – auch als Begriff einer notwendigen Möglichkeitsbedingung allen artikulierten Selbstbezugs – überhaupt kein kohärent explizierbarer Begriff ist« und dass es das von Frank »reklamierte Faktum, eine Erfahrung der Einheit des Selbstbewusstseins gar nicht gibt«. (Mohr 1988, 70) Diese an Kant und vor allem Strawson entwickelte Argumentation zeigt nicht nur eine Inkohärenz in Franks Ausführungen und eine grundlegende Schwierigkeit, mit der sich eine Theorie des Selbstbewusstseins konfrontiert sieht, sie gibt uns auch Gelegenheit für den begrifflichen Spielraum zu sensibilisieren, den Husserls Begriff lebendiger 135 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

Gegenwart in Anspruch nehmen wird. Obgleich auch dieser ein ursprünglich erfahrenes »Für-mich-selbst-Sein« explizieren möchte, bedarf es für den phänomenologischen Ausweis dieser Erfahrung dem Verfahren transzendentaler Epoché und der in diesem Vollzug zu leistenden Anerkennung, dass hier die »Frage nach dem Wer nicht besagt die Frage nach der menschlichen Person, welche vielmehr ein Motivat im ständigen, lebendig fungierenden Motivationszusammenhang dieser Ursubjektivität ist«. (Hua. Mat. VIII, 16) Wie dargelegt, leitet Frank seine Vorstellung eines nicht-relationalen Selbstbewusstseins aus der Kritik der Reflexionstheorien her. Damit ich mir eines Bewusstseinserlebnisses als meines eigenen bewusst sein kann, genügt es innerhalb einer solchen Theorie nicht, dass ein weiteres reflexives Erlebnis mir Ersteres präsentiert, es muss dieses auch als meines präsentieren, was es nur kann, wenn es sich selbst durch eine mir ursprünglichere Vertrautheit mit mir auszeichnet. Mit-sich-vertraut-Sein gilt hier mithin als Möglichkeitsbedingung für empirisches Selbstbewusstsein. (Vgl. Mohr 1988, 70) Das Mit-sich-Vertraut-Sein wird von Frank aber auch als das verhandelt, was sich mir in alltäglicher Erfahrung als unbezweifelbares Faktum zeigen soll, die »Einheit des Selbstbewusstseins«, und ist insofern Gegenstand des empirischen Selbstbewusstseins, also des vormals bedingten. Mohr gibt zunächst folgende benevolente Lesart. Während Mitsich-vertraut-Sein als Faktum schlicht die Feststellung einer Erfahrung ist, muss das Mit-sich-Vertraut-Sein als Bedingung offenbar als Erklärung für diese Feststellung gelten. Aus der Feststellung: »jeder macht die Erfahrung der Einheit des Selbstbewußtseins« ergibt sich die Erklärung: »dieser Erfahrung muß eine bestimmte Verfaßtheit von Bewußtsein (bzw. Subjektivität) zugrundeliegen, eine Vertrautheit von Bewußtsein (Subjektivität) mit sich selbst, die diese Erfahrung ermöglicht«. (Ebd., 71) Die Feststellung enthält nun eine Beschreibung der Erfahrung, die als Faktum gelten soll: die Einheit des Selbstbewusstseins. Aus dieser Beschreibung leitet Frank die unterstellte Verfasstheit des Bewusstseins, also das Mit-sich-vertraut-Sein ab. Als Möglichkeitsbedingung ist das Mit-sich-vertraut-Sein somit abhängig von der Beschreibung des Faktums, nämlich der Erfahrung der Einheit des Bewusstseins. Es ist diese Beschreibung, die Mohr mit Strawson und Kant für falsch hält.

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Das Faktum des Mit-sich-vertraut-Seins

»Sie ist eine Fehlinterpretation der Unmittelbarkeit kriterienloser Selbstzuschreibung. Die vermeintliche Erfahrung der Einheit des Selbstbewußtseins kann nur um den Preis der referenztheoretischen Ambivalenz unterstellt werden, der Strawson den Cartesianer überführt. Die Rede von einer Erfahrung der Einheit des Selbstbewußtseins, der nicht personale Identität zugrundeliegen und die von allen empirischen […] Daten unabhängig sein soll, nimmt eine Funktion der Referenz auf eine individuelle Entität in Anspruch und sucht zugleich diese Funktion zu unterschlagen durch die Behauptung, es läge ein von Referenz und Identifizierbarkeit unabhängiges, unmittelbares Sich-selbst-Gewahren oder Mit-sich-Vertrautsein bloß von Bewußtsein als solchem bzw. Subjektivität als solcher vor.« (Ebd., 71)

Gegen die Seelenmetaphysik der rationalistischen Psychologie und deren Auffassung eines substanziellen Selbst hatte bereits Kant in losem Anschluss an Hume klargelegt, dass sich der inneren Anschauung kein beharrliches Ich, sondern nur beständig wechselnde Erscheinungen zeigen. Das Ich ist lediglich eine formale Einheit, ein Prinzip des Denkens, das sich entweder als »logische Identität des Ich« (KrV A 363) oder als »Einheit des Bewußtseins, welche den Kategorien zum Grunde liegt« (B 421 f.) 60 ausdrücken lässt. Die Rationalisten begehen daher einen Fehler, wenn sie diese grundlegende Einheit des Bewusstseins als eine Substanz ansprechen. Auf der einen Seite postulieren sie damit ein von den Bedingungen der Anschauung unabhängiges Subjekt, das die Bewusstseinseinheit sein soll, auf der anderen Seite nehmen sie für die Identifizierung dieses Subjekts aber eine Objekterkenntnis in Anspruch, die den Bedingungen der Anschauung unterliegt. (Vgl. Mohr 1988, 50) Strawson greift die Kantischen Einsichten auf und präzisiert die Kritik an der Hypostasierung des Ich: »[D]iese verwechselt die Einheit von (Einzel-)Erfahrungen in einem Bewußtsein mit der (vermeintlichen) Erfahrung eines einheitlichen Bewußtseinssubjekts«. (Ebd., 50) Für ihn sei die Einheit des Bewusstseins, »die Selbstreflexivität und begriffliche Einheit einschließt, […] nur ein allgemeines Strukturprinzip von Erfahrung überhaupt und stellt als solches nur ›the essential core of personal self-consciousness‹ dar«. (Ebd.) Strawson gestehe dem Cartesianismus zu, die Immunität des Subjektes gegen den Irrtum durch Fehlidentifikation richtig gesehen zu haben. Wir brauchen keinerlei Kriterien um uns zu vergewissern, dass ein aktueller Bewusstseinszustand uns und nicht jemand ande60

Die Zitate aus der KrV stammen von Mohr (1988), 49.

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Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

rem zugehört. (Ebd., 51) Der Fehler der Cartesianer bestehe aber darin, dass sie das »Ich« in Selbstzuschreibungen wie »Ich bin mir jetzt meiner selbst bewußt« oder »So verhält es sich jetzt mit mir« so interpretieren, als referiere es auf ein inneres Ich, als ein rein individuelles Bewusstsein, von dessen Individualität und Identität ein unmittelbares Gewahren besteht. Dadurch reklamieren sie »zugleich Unmittelbarkeit und Unbezweifelbarkeit und entziehe[n] damit dem Pronomen ›ich‹ seine gewöhnliche Referenzfunktion und nehme[n] eben diese Referenzfunktion gleichwohl in Anspruch«, indem sie unterstellen, sich »auf eine individuelle und identische Entität zu beziehen«. (Ebd., 52) Diese referenztheoretische Ambivalenz ist es, die Mohr Frank attestiert. So, wie Strawson aus der Inkonsistenz der Cartesianer den Primat der Person ableitet, so ist auch Mohr gegenüber Frank der Auffassung, dass sich der Begriff der Einheit und der des Selbstbewusstseins nicht verständlich machen lassen, wenn sie nicht »›Einheit von Erfahrungen‹ (Bewußtseinszuständen) eines bestimmten Selbst, einer Person nämlich« sind. (Ebd., 72) Franks Begriff von Bewusstsein und Subjekt impliziere hingegen: »1. Es ist einfach (individuum) – es ist sich unabhängig von allen mannigfaltigen empirischen Bestimmungen seiner selbst bewußt; 2. es ist beharrlich – es ist sich seiner als über die wechselnden Bewußtseinszustände hinweg dasselbe (Identisches) bewußt; 3. es ist immateriell – sein Selbstbewußtsein schließt keine Bezugnahme auf einen Körper ein.« (Ebd., 72 f.)

Da diese Prämissen schon »im Begriff eines bloß als Bewußtseinseinheit bestimmten individuellen Subjekts, das nur als solches ›mit sich bekannt‹ oder ›vertraut‹ sein und aller empirischen, artikulierten Selbstreferenz in Sätzen mit ›ich‹ als grammatischem Subjekt zugrundeliegen soll« (Mohr 1988, 73) in der Tat eingeschrieben sind, erübrigt sich die ausdrückliche Kategorisierung von Bewusstsein als selbstständiger Substanz. Die hier skizzierte Inkohärenz ergibt sich mithin daraus, dass das Mit-sich-vertraut-Sein als grundlegende Verfasstheit eines individuellen Bewusstseins gedacht wird, die dem explizit-reflexiven, d. h. personalen Selbstbewusstsein aber vorgeordnet sein soll. Wenn Individuation und Identität, wie Strawson (2011) gezeigt hat, aber nur über die intersubjektive Zuschreibungspraxis von Körper- und Bewusstseinsprädikaten und die Anerkennung von Fremdsubjekten laufen, und somit einen Personbegriff voraussetzen, lässt sich von einer 138 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Vorreflexives Selbstbewusstsein bei Husserl

solchen Vertrautheit nur unter der Inkonsistenz sprechen, die oben den cartesianischen Rationalisten zugesprochen wurde. Die folgenden Abschnitte werden daher einige Besonderheiten der Husserl’schen Analysen des Zeitbewusstseins betrachten. An ihnen wird deutlich, dass die ursprüngliche Form des Selbstbewusstseins, das Mit-sich-vertraut-Sein, aus einer phänomenologischen Perspektive nicht das vorreflexive Erleben einer individuellen Bewusstseinseinheit meinen kann. Sowohl der Begriff des ursprünglichen Selbstbewusstseins als auch die entsprechende Form der Selbsterfahrung sind dem Begriff der Person und dem personalen Erleben zwar vorgeordnet, setzen dabei aber kein individuelles Bewusstsein voraus, sondern verweisen auf eine strukturelle Verfassung von Bewusstsein, die sich als impersonale Subjektivität zeigt. 61

2.6 Vorreflexives Selbstbewusstsein bei Husserl – konstitutionstheoretische Hinsichten Nach Maßgabe der oben skizzierten Kritiken gilt es nun zum einen die wichtigsten Elemente einer Husserl’schen Konzeption vorreflexiven Selbstbewusstseins darzustellen und dabei zu zeigen, wie Husserl den Schwierigkeiten einer reflexionstheoretischen Konzeption entkommen möchte. Zum anderen ist dem Vorwurf einer metaphysischen Stipulation einer letztlich wirkungslosen Selbstgegenwart des transzendentalen Egos dadurch zu begegnen, dass gezeigt wird, dass ihre in konstitutionstheoretischer Hinsicht entwickelte Artikulation Mohrs Kritik an Frank ließe sich vielleicht auch so entschärfen, dass man die Vermengung empirischer und transzendentaler Elemente in Franks Explikation des Mitsich-vertraut-Seins mit Blick auf Kant für eine methodische Redlichkeit hält – »Und so muss denn der transzendentale Idealist immer zugleich empirischer Realist sein« (Kant KrV IV, A 371) –, die der Komplexität und Singularität des Subjektivitätsproblems Rechnung trägt. (Für diesen Hinweis bin ich Birgit Recki zu Dank verpflichtet.) Aber Franks Explikation scheint nicht als Ausdruck einer methodischen Offenheit konzipiert zu sein, sondern als Versuch, die vorreflexive Einheit der Selbstgegenwart als eine empirisch-personale gelten zu lassen, ihr zugleich aber eine formale und funktionale Beständigkeit zuzuschreiben, die transzendentalen Charakter hat. Die Konsequenz einer impersonalen Subjektivität, wie sie sich im Rahmen des radikalen Transzendentalismus Husserls abzeichnet, lässt sich unter dieser Voraussetzung nicht ziehen. Sie setzt die Anerkennung der Möglichkeit voraus, dass unsere Selbstgewissheit »mit der Unklarheit über das verschwistert ist, was der eigentlich ist, der in dieser Gewissheit steht und lebt«. Henrich (2004), 26.

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als konsequenter Widerschein phänomenologischer Erfahrung gelten kann. Da Husserl – methodologisch – aber über das Verfahren der Reflexion in der Tat nicht hinausgelangt ist, bleibt die Auslegung lebendiger Gegenwart, als der Form phänomenologischer Selbsterfahrung vorreflexiven Selbstbewusstseins, insofern prekär, als ihre besondere Erfahrungsdimension vor allem die Grenze reflexiver Verfahren anzeigt, bzw. dass Reflexion lebendige Gegenwart in ihrer konstitutiven Relevanz erkundbar macht, nicht aber bestimmen kann. Somit treffen Husserl zwar nicht die Kritiken Franks, in noch auszuzeichnender Hinsicht scheint Husserl aber der referenztheoretischen Ambivalenz, die wir in der Kritik Mohrs an Frank skizziert haben, so weit aufgesessen zu sein, als er den phänomenologischen Ausweis des vorreflexiven Selbstbewusstseins, die »strömend-lebendige Selbstgegenwart«, zumeist als etwas verstanden hat, das in Form eines Gegenstandbezuges erfasst, wenigstens aber »in einer Reflexion e r h a s c h t werden« (Hua X, 290) kann. Es ist also zu zeigen, dass Husserl Selbstbewusstsein zwar keinesfalls in einem reflexionstheoretischen Modell fassen möchte, sondern dass reflexives, d. h. vor allem personales Selbstbewusstsein, wesentlich fundiertes Selbstbewusstsein ist. Selbsterfahrung – methodologisch verstanden – wird von ihm allerdings vorrangig als reflexiv, d. h. gegenständlich-intentional, aufgefasst. Das führt dazu, dass er die Selbsterfahrungsdimension, die als phänomenologischer Ausweis vorreflexiven Selbstbewusstseins maßgeblich ist, lediglich als unverfügbare Grenzdimension verstehen kann, die in ihrer konstitutionstheoretischen Artikulation als jener vor-zeitliche, d. h. Zeit überhaupt erst konstituierende Ur-Fluss des transzendentalen Bewusstseinslebens zur Geltung kommt, der zur Hypostasierung eines Ur-Ich Anlass geben muss. Die möglichen Kritiken dieser Konstitutionstheorie versuchen dementsprechend zu zeigen, dass dieser absolute zeit-konstituierende Bewusstseinsfluss eine müßige, weil phänomenologisch nicht anschaulich zu machende und daher nur als Rekonstruktion oder Projektion zu gewinnende Schicht von Bewusstsein ist. Unter der Voraussetzung, dass »die Möglichkeit einer Phänomenologie überhaupt« von der »Leistungsfähigkeit der Reflexion« (Hua III, 162) abhängt, ist diese Diagnose korrekt. Der Eigentümlichkeit eines vorreflexiven Mit-Sich-vertraut-Seins, bzw. dem »Rätsel des Für-mich-selbst-seins«, wie Husserl es nennt, kommt man aber nicht eigentlich auf den Grund, wenn man das Ungenügen der Hus140 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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serl’schen Überlegungen allein durch Modifikationen seiner Konstitutionstheorie zu tilgen versucht. Husserls Verfahren und die entsprechenden Beschreibungen sind reichhaltiger als ihre methodologische Rekonstruktion. 62 Es wurde bereits in unterschiedlichen Zusammenhängen darauf hingewiesen, dass Husserl – schon in der statischen Phänomenologie – mehr oder weniger gründlich zwischen thematischem und unthematischem bzw. gegenständlichem und ungegenständlichem Bewusstsein unterscheidet; ob er diese Differenzierung nun terminologisch zwischen »Erlebtem« und »Erfasstem« oder zwischen implizit »Bewusstem« und explizit »Wahrgenommenem« fasst. Im Falle des Selbstbewusstseins wird die Bestimmung der Husserl’schen Position dadurch erschwert, dass er vor allem mit dem Terminus der »inneren Wahrnehmung« sehr ungenau verfährt. 63 Diese terminologischen Unklarheiten können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Husserl, wenn auch kein systematisches, so doch ein ausdrückliches Konzept vorreflexiven Selbstbewusstseins vorzuweisen hat. Die Anerkennung einer solchen Bewusstseinsleistung sagt aber noch wenig, solange nicht geklärt ist, inwiefern sie die bekannten reflexionstheoretischen Schwierigkeiten, allen voran einen infiniten Regress, zu vermeiden hilft. Wir wissen bereits, dass transzendentales Bewusstsein für Husserl seinem Wesen nach Zeitbewusstsein ist und es wird noch zu zeigen sein, dass sich das transzendentale Subjekt demnach nur in der paradoxen wie ursprünglichen Erfahrung einer »strömendenstehenden Gegenwart« erfassen kann. In diesem Zusammenhang gehört es zu den Charakteristika einer Reflexion, dass sie eben auf etwas zurückkommt, »das schon für mich da ist, schon bewusst ist und nur nicht thematisch erfahren ist«. (Hua XV, 493) Die Möglichkeitsbedingung dieser Erfahrung ist für Husserl die Retention, also jene Bewusstseinsleistung, die uns soeben Vergangenes noch im Horizont aktuellen Bewusstseins, mithin »gegenwärtig« hält. 64 Ein Horizont, der sich um eine ur-impressionale Jetzt-Phase formiert, und zu dem ebenso die zu der retentionalen komplementäre, antizipato»Beurteilen Sie die Phänomenologie nicht zu sehr nach Reflexionen des Phänomenologen über die Phänomenologie, auch nicht nach den meinen vieljährig bedachten. Es ist zweierlei, tun und den Sinn seines Tuns richtig bestimmen. Sehen Sie auf das, was da getan wird […].« (Hua Dok III, Band 6, 419) 63 Siehe dazu die Erwägungen Zahavis (2002), 704–705. 64 Vgl. Hua X, 118–119. 62

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rische Leistung der Protention gehört. In diesem dreigliedrigen Horizont erscheinen uns Wahrnehmungsgegenstände als zeitlich ausgedehnte. Die frühen Ausführungen Husserls zu den Konstitutionsstufen des Zeitbewusstseins legen nun nahe, dass nicht nur die transzendenten Gegenstände in einem solchen Horizont erscheinen, sondern dass auch die Bewusstseinsakte, Husserl nennt sie hier »die konstituierenden Erscheinungsmannigfaltigkeiten« (Hua X, 73), in einem solchen Horizont eines absoluten »inneren Zeitbewusstseins« erscheinen. Diese populäre Dreigliederung des transzendentalen Bewusstseins legt hinsichtlich der Frage nach einem vorreflexiven Selbstbewusstsein die Interpretation nahe, »Akte als voll gültige innere Gegenstände [zu] betrachten, welche unmittelbar als solche gegeben seien, sogar vor der Reflexion«. (Zahavi 2002, 710) 65 Bei einer Reflexion auf einen Wahrnehmungsakt hätte man Zahavi folgend zu unterscheiden zwischen: 1. dem Wahrnehmungsgegenstand, 2. dem Reflexionsakt, der vorreflexiv als innerer Gegenstand gegeben ist, 3. dem Wahrnehmungsakt, der reflexiv als innerer Gegenstand gegeben ist, und überdies bleibt 4. noch »der Fluß, für den jeder dieser Gegenstände gegeben ist« und der »sich selbst in einem grundlegenden Scheinen [offenbart]«. (Ebd., 711) Dieser Interpretation zufolge zeichnet sich das vorreflexive Bewusstsein der Akte dadurch aus, dass es eine nur schwächere, »marginale Form von Bewußtsein« wäre, so als würden »unsere vorreflexiven Erlebnisse als potentielle Themen in derselben Weise im Hintergrund bleiben wie etwa das Brummen des Kühlschranks«. (Ebd., 712) Demnach wäre jeder Akt also immer schon ein eben beiläufiger Gegenstand für das innere Zeitbewusstsein, ein Gegenstand, der dann vermittels einer auffassenden Reflexion in ein gegenständliches Bewusstsein gehoben wird. Offenbar verschiebt diese Vorstellung eines vorreflexiven Bewusstseins das Problem lediglich um eine Ebene, so dass jetzt zu fragen ist, »warum die Relation zwischen innerem Zeitbewusstsein und dem Akt ein Selbstbewusstsein hervorbringen sollte«? (Ebd., 710) Streng genommen gibt es in dieser Interpretation demnach zwei Formen vorreflexiven Selbstbewusstseins. Denn um einem Regress zu entgehen, muss für den ursprünglichen Fluss des inneren Zeitbewusstseins eine Art »Selbstmanifestation« (ebd., 710) angenommen werden. Oder wie Husserl es nennt: Selbsterscheinung (Hua X, 381). Da erst durch 65

Zahavi diagnostiziert diese Interpretation bei Sokolwski und vor allem Brough.

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diese Annahme das reflexionstheoretische Problem eigentlich umgangen ist, hält Zahavi die Auffassung eines marginalen, vorreflexiven Bewusstseins innerer Gegenstände zu Recht für überflüssig. Er bietet stattdessen eine Interpretation an, derzufolge Husserl von innerem Zeitbewusstsein spricht, »weil es der eigentlichen Struktur des Aktes selbst wesensmäßig innewohnt«. (Zahavi 2002, 712) Er versteht die Husserl’schen Beschreibungen des inneren Zeitbewusstseins daher als »Analyse der Struktur der vorreflexiven Selbstmanifestation unserer Akte und Erlebnisse«. (Ebd.) 66 Hinsichtlich der von Husserl wiederholt herausgearbeiteten dreigliedrigen Struktur des Zeitbewusstseins, ergibt sich aus dieser Interpretation, dass die zweite Stufe der subjektiven Zeit, in der die Akte als Gegenstände erscheinen, nur als eine nachträglich durch Reflexion und Wiedererinnerung konstituierte Stufe zu gelten hat. »Vor der Reflexion gibt es, mit anderen Worten, kein Bewusstsein von inneren Gegenständen, und es gibt keinen Unterschied zwischen der Gegebenheit des Aktes und der Selbstmanifestation des Flusses.« (Ebd., 713) 67

Damit sind wir an einem heiklen Punkt der Husserl’schen Bewusstseinsanalysen angelangt: der eigentümlichen Leistung des Bewusstseins zur Selbsterscheinung. »Der Fluß des immanenten Zeit konstituierenden Bewußtseins i s t n i c h t n u r, sondern so merkwürdig und doch verständlich geartet ist er, daß in ihm notwendig eine Selbsterscheinung des Flusses bestehen und daher der Fluß selbst notwendig im Fließen erfaßbar sein muß. Die Selbsterscheinung des Flusses fordert nicht einen zweiten Fluß, sondern als Phänomen konstituiert er sich in ›sich‹ selbst.« (Hua X, 381)

Konstitutionstheoretisch dient diese selbsterscheinende Bewusstseinsebene schon dadurch dem Abweis eines reflexionstheoretischen Regresses, dass sie als eine Fundierungsschicht gilt, die nicht mehr in dem phänomenologisch sonst maßgeblichen Sinne intentional verfasst ist. Ihre Konstitution impliziert mithin keine transzendente Gegenstandsorientierung. Im Gegensatz zu der Querintentionalität, bei der sich der Blick aus dem in ständiger retentionaler Abschattung befindlichen Bewusstseinsstrom löst und etwa einen Ton als einen dauernden konstituiert, »geht […] durch den Fluß eine LängsintenAuch Zantos (2012) Überlegungen gehen in diese Richtung. Für eine Angabe der Stellen, die diese Interpretation stützen, siehe Zahavi (2002), 714.

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tionalität, die im Laufe des Flusses in stetiger Deckungseinheit mit sich selbst ist«. (Hua X, 379) Zur Retention gehört somit eine doppelte Intentionalität. Die Querintentionalität konstituiert die immanenten zeitlichen Gegenstände, indem sie »durch die im stetigen Fortgang des Flusses sich ›deckenden Phasen‹« etwa eines Tones geht; die Längsintentionalität dem gegenüber konstituiert die Einheit des Bewusstseinsflusses, indem sie »stetige Reproduktionen von den stetig vergangenen Phasen« des Flusses bewahrt. (Ebd., 379) Die Leistung der Retention besteht mithin nicht nur in dem bewahrenden Zurücksinken des Tones, sondern in diesem Verströmen bewahrt sie zugleich die Urimpression des Tones selbst, also die gerade noch aktuell-gewesene Phase des Flusses. Nach Maßgabe der Retention spannt sich also ein Horizont auf, in dem überhaupt erst zeitliche Phänomene, auch jene des subjektiven Zeitbewusstseins, konstituiert werden. Dieser Horizont wird von Husserl daher in Korrelation zu den Bestimmungen des Ur-Ich und der lebendigen Gegenwart, die gewissermaßen die phänomenologischen Erfahrungsdimensionen dieser Bewusstseinsstufe anschaulich machen sollen, als »absolut« und »unzeitlich« bzw. »vorzeitlich« charakterisiert. Vermittels der Längsintentionalität der Retention 68 befindet sich dieser Horizont also in einem kontinuierlichen Selbstgewahren, das wir eingangs mit Husserl als »inneres Bewusstsein« bestimmt haben. Aber auch wenn man Husserl bis hierhin folgt, bleibt ein Unbehagen, solange man sich nicht vergewissert, wie selbstverständlich unser vorwissenschaftlicher Begriff von Selbstbewusstsein einem Reflexionsmodell eigentlich verhaftet ist. So zeigt Zahavi beispielsweise an Cramers Husserlkritik, wie schnell »Selbsterscheinung« als eine »Quasi-Wahrnehmung« verstanden wird, und sich dann natürlich die Frage aufdrängt »was denn erscheint, wenn der Strom sich selbst gegenüber erscheint«. (Zahavi 2002, 718) Husserls so ungenauer Gebrauch der Termini »Wahrnehmung«, »Bewusstsein« und »Reflexion« auf der einen und die stets präsente Metapher des Blicks auf der anderen Seite, leisten den dyadischen Bildern dabei erheblich Vorschub. Wenn man überdies noch den oben skizzierten Intuitionen rationalistischer Psychologie verhaftet bleibt, wird man wie etwa Szanto von der treffenden Bestimmung des Korrelates des inneren Bewusstseins als eines »reellen«, nicht etwa »intentionalen« Objektes und der entsprechenden Charakterisierung der reellen Immanenz als 68

Für eine genauere Analyse siehe Zahavi (1999), 67–81.

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»phänomenale[m] ›Ort‹ des reinen Selbstgewahrwerdens der absoluten Subjektivität« unweigerlich – wenn auch hier nur aus didaktischen Gründen – zu der Frage gelangen: »Doch wird das Subjekt in der inneren Wahrnehmung nun tatsächlich seines Selbst gewahr?« (Szanto 2005, 39) Es ist völlig unklar, worauf sich die Ausdrücke »Subjekt« und »Selbst« auf dieser Stufe der Untersuchung überhaupt beziehen sollen. Dass hier noch das Problem der Subjektivität verhandelt wird, ist anzunehmen, die entsprechende Nominalisierung ist aber bereits fragwürdig. Sie impliziert entweder eine phänomenologisch nicht aufzuweisende quasi substanzielle Entität und begeht den Fehler der rationalistischen Psychologie, oder sie impliziert das Bild eines immer schon konkret-umfassenden Ich, eines empirisch-personalen Subjektes, das sich vermittels seiner Aufmerksamkeit den Strukturen des eigenen Bewusstseins erst versichern müsste, damit diese überhaupt als bewusste gelten könnten. Wie im nächsten Abschnitt klarer werden wird, entstehen diese Unklarheiten aus einem ungenügenden Mitvollzug phänomenologischer Einstellung. Sie entstehen, wenn man die konstitutionstheoretischen Überlegungen unabhängig von den sie phänomenologisch bedingenden Erfahrungen betrachten möchte. Es genügt eben nicht, die Möglichkeit phänomenologischer Erfahrung von der Kohärenz der methodologischen Erwägungen Husserls aus zu bewerten. Seine eigene Warnung davor, nicht so sehr auf das zu achten, was er gesagt, sondern auf das, was er getan hat, sollte zumindest dafür sensibilisieren, dass es nicht als selbstverständlich gelten kann, dass Husserl sich selbst am besten verstanden hat. Was sich in phänomenologischer Erfahrung einstellt, wie man es beschreibt und wie man es methodologisch rekonstruiert und konstitutionstheoretisch modelliert, sind zwar zu differenzierende, aber hochgradig verwobene Momente phänomenologischer Arbeit. 69 Deshalb muss man die von Henrich herausgestellte Naivität der Husserl’schen Phänomenologie nicht sogleich für eine Disqualifikation, sondern darf sie für eine Anregung halten. Ihm zufolge hat sich auch im faktischen Gang ihrer deskriptiven Erkenntnisanstrengung »nur herausgestellt, daß unser Erkennen jeweils von einem Kategoriensystem abhängig ist. Diesseits seiner gibt es keine Möglichkeit irgendetwas zur Gegebenheit zu bringen, um es alsdann zu beschreiben. Unmittelbares Wissen reicht nur eben so weit, wie in einem entwickelten Kategoriensystem Dunkelstellen, Inkohärenzen und nicht artikulierte Bedingungen auffällig werden.« Henrich (2007), 16–17. Schon in den Logischen Untersuchungen bemüht Husserl das Gleichnis des

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Deshalb ist bei den Untersuchungen zum Selbstbewusstsein auf einen entscheidenden, um nicht zu sagen prekären Punkt der Phänomenologie überhaupt verwiesen, wenn man wie Szanto im Anschluss an Zahavi betont, dass in den Zeitanalysen »mit der methodischen Reflexion des Phänomenologen auf die konstitutiven Schichten der Subjektivität in eins die Möglichkeit der Reflexivität des (zeit-)erlebenden Subjekts selbst zum Thema wird«. (Szanto 2005, 34) Denn während das methodische Verfahren, das Husserl als Reflexion anspricht, zu eben jenen »konstitutiven Schichten der Subjektivität« führt, die von ihm als vorreflexiv und selbsterscheinend identifiziert werden, verunmöglicht die konstitutionstheoretische Analyse der Struktur dieser Schichten – nachträglich – gerade das Verfahren, das zu ihrer Identifikation geführt hat. Wenn nämlich die Bedingung allen phänomenalen Erscheinens der intentionale Bezug im retentional verströmenden Horizont des absoluten, Zeit konstituierenden Flusses ist, dann ist unverständlich, wie dieser letzte Fluss selbst eigentlich erscheinen soll. Wenn man, wie etwa Zahavi, »keinen Unterschied zwischen einem letzten, zeitlosen Bewusstsein und dem Zeitbewusstsein selbst macht und beide als identisches quasi- oder vor-zeitliches Erlebniskontinuum fasst, bleibt es fraglich, wie denn dieses Selbst jemals Intentionalhabe eines Subjektes werden kann?« (Ebd., 40) Damit will Szanto zwar nicht die Möglichkeit von Selbstbewusstsein leugnen, denn auch für ihn »ist jedes Zeiterlebnis im Modus eines nicht-intentionalen Zustandsbewusstseins, nämlich als inneres Bewusstsein unthematisch je schon bewusst«. (Ebd., 43) Was er in Abrede stellen will, ist zum einen die Annahme, dass ein Subjekt reflexiven Zugang zu diesem Kontinuum haben kann, zum anderen meldet er damit in Anschluss an RinofnerKreidl Zweifel darüber an, dass sich »insgesamt über ein letzt-konstituierendes Zeitbewusstsein – im Sinne eines Ursprungs der Zeit – als Objekt der transzendental-phänomenologischen Reflexion« etwas aussagen ließe. (Ebd., 44) Unter der Voraussetzung der intentionalen Verfassung bewussten Erlebens gelangt man bei Sorge um den methodischen Zugang zu »Zickzack« (Hua XIX/1, 17). Es verdeutlicht die methodische Schwierigkeit einer phänomenologischen Psychologie, die stets an ihre begrifflichen Anfänge zurückkehren muss, um neue Dunkelstellen dadurch zu erhellen, dass sich das, was sie zu Erfahren geben, an den begrifflichen Anfängen und die Anfänge an den neuen Dunkelstellen bewähren kann. Für eine Ausweitung des Gleichnisses hin zu einem archäologischen »Verstehen im Zick-Zack« siehe Hua Mat VIII, 357.

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einem selbsterscheinenden Bewusstsein nämlich – durchaus im Sinne der Derrida’schen Vermutung einer Metaphysik der Präsenz – zu der Frage: »Kann in der Ununterschiedenheit bzw. dem absoluten Mangel an Differenz zwischen reeler Immanenz (das Erlebnis) und absoluter Subjektivität (das Erlebnis qua Erleben) überhaupt jemals etwas zur Erscheinung kommen, wo doch Bedingung für jegliches Erscheinen Intentionalität ist?« (Szanto 2005, 39)

Szantos Sorge gilt hier aber nicht so sehr der konstitutionstheoretischen Frage nach der Selbsterscheinung des Bewusstseinsflusses, als vielmehr der Frage, wie ich eigentlich Kenntnis von diesem eigentümlich hermetischen, selbsterscheinenden Strömen haben kann. »Das zentrale erkenntnistheoretische Problem ist, dass sich die phänomenologische Reflexion auf ein Vor-Objektives und mithin Prä-Phänomenales in der Konstitution von Objektivität richten muss, dieses aber eben notgedrungen erst nachträglich, als bereits Objektiviertes zu fassen vermag.« (Ebd., 41)

Während also der Vorwurf, Husserl verfüge über keinen zureichenden Begriff vorreflexiven Selbstbewusstseins, nur haltlos genannt werden kann, bleibt der Verdacht einer Metaphysik der Präsenz solange in Kraft, wie man nicht verständlich machen kann, wie wir Kenntnis von diesem Bereich erlangen. Die Schwierigkeit ist nicht die Anerkennung eines vorreflexiven, unthematischen Selbstbewusstseins, sondern die methodologische bzw. erkenntnistheoretische Rechtfertigung, d. h. die mögliche phänomenologische Thematisierung dieses Bewusstseins. Die »Metaphysik der Präsenz« kann nun zwei Dinge meinen: In der Formulierung, die wir bei Frank und Derrida gefunden haben, zielt der Vorwurf darauf, dass, unter der Voraussetzung, dass Selbstbewusstsein immer auch Selbstbewusstsein eines personalen Individuums meint, nicht verständlich ist, wie ein als »reine Instantität« gedachtes vorreflexives Bewusstseins die Identität des personalen Ich mit sich selbst verbürgen soll. In der bei Szanto nahegelegten Lesart meint der Vorwurf: Auch unter der Voraussetzung, dass konstitutionstheoretisch verständlich gemacht werden kann, dass ein vorreflexives und selbstkonstituierendes Bewusstsein als Bedingung für reflexives Selbstbewusstsein zu gelten hat, ist solch ein Bewusstsein unter den Voraussetzungen, die sich die Phänomenologie selbst ge-

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geben hat (Zeitlichkeit des Bewusstseins und das Verfahren der Reflexion), nicht ausweisbar. In den C-Manuskripten bringt Husserl die Krux der letzten Lesart selbst wie folgt auf den Punkt: »Mein ›wundersames‹ Für-mich-selbst-sein ist zwar ein Rätsel, aber meine Reflexion und meine Reflexion auf Reflexionen bestätigt mir immer wieder, daß es ein Urphaenomen der lebendigen Gegenwart gibt, das ich als ›Tatsache‹ hinzunehmen habe. Der Gehalt der Vor-Zeitlichkeit aber entzieht sich der unendlich iterierbaren Reflexion, weil Reflektierbarkeit gleich Zeitlichkeit ist.« (Hua Mat VIII, 40)

Es liegt nun freilich im Begriff der Reflexion selbst beschlossen, dass sie immer schon zu spät ist, nur auf etwas zurückkommen kann, das bereits im Gange ist, und damit als Bewusstseinsakt nie im Verhältnis einer adäquaten Erfüllung zu seinem Inhalt stehen kann. Daraus lässt sich konstitutionstheoretisch durchaus der Schluss ziehen, dass so etwas wie ein vor-zeitliches, absolutes Bewusstsein einfach eine müßige Annahme ist. Wenn der Horizont der retentionalen Modifikation des Bewusstseins vielmehr dieses absolute Bewusstsein selbst ist, aufgrund seiner doppelten Intentionalität immer schon Bewusstsein von sich hat 70, dann können »die absolute (objektivierende) Subjektivität und das objektive Zeitbewusstsein [als] verschiedene Manifestationen ein und desselben Zeitigungsgeschehens« gelten, »die überhaupt erst in der transzendental-phänomenologischen Reflexion rekonstruktiv unterschieden werden (können)«. (Szanto 2005, 44 f.) Wird die Vorstellung eines letztfundierenden Bewusstseins aufgegeben, so ergibt sich etwa die von Szanto in seiner Dissertation als »MIR-These« (Meta-intentionale Reflexion) angesprochene, konstitutionstheoretisch sparsamere Auffassung von Reflexion als einer dispositionalen Eigenschaft immer schon unthematisch bewusster Akte. 71 Damit wird der phänomenologischen Reflexion nicht aufWie Zahavi zeigt, hebt Husserl von der selbstgewahrenden Leistung der Längsintentionalität noch die Selbstaffektion der urimpressionalen Phase hervor. 71 »Selbstreflexive Intentionen sind demnach Aktualisierungen von dispositionalen Eigenschaften (nämlich der Eigenschaft der Reflexivität) und explizite Thematisierungen des je subjektiven Pols und der intentionalen (und reel gewesenen) Inhalte von Akten, die der Träger genau dieser Akte je schon, wenn auch eventuell unthematisch bewusst hatte.« Szanto (2012), 454. 70

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gebürdet, zu einem für sie wesensmäßig unerreichbaren Bereich vordringen zu müssen. Man könnte vielmehr davon ausgehen, dass ihre eigene Verfassung lediglich den Eindruck eines solchen Bereiches erzeugt, der dann nachträglich rekonstruierbar ist und für eine Weile heuristischen Wert hat. Reflexives Selbstbewusstsein ist dann insofern eine natürliche Eigenschaft von Bewusstein, als »jedes Erlebnis wesensmäßig und intrinsisch eine mögliche reflexive Modalisierung auf[weist] – diese Möglichkeit, die der temporalen Struktur von Bewusstsein geschuldet ist, gehört einfach konstitutiv dazu, was ein Erlebnisbewusstsein als solches ausmacht«. (Szanto 2012, 454) Aber sind solche konstitutionstheoretischen Modifikationen eine befriedigende Antwort auf das Rätsel jenes wundersamen Für-michselbst-Seins? Jagen wir einem phänomenologischen Gespenst nach, wenn wir versuchen, der eigenen Selbstgegenwart weiter auf den Grund zu gehen? Vielleicht gibt es keine Entscheidung dieser Frage, die nicht letztlich auf einer naturalistischen oder existenzialistischen Emphase beruhen würde. Oder auf der Skepsis gegenüber der Auffassung, dass die Metaphern, derer sich Husserl – der sich seiner Sprachlosigkeit angesichts der absoluten Subjektivität gewiss war (vgl. Hua X, 75) – bedienen musste, nichts anderes beschreiben »als eine transzendentale Strukturbedingung von Selbstbewusstsein, die selbst nur reflexiv erfasst und abstraktiv gewonnen werden kann«. (Szanto 2012, 456) Es ist zwar irreführend, wenn nicht widersinnig, wie Frank von einem vorreflexiven Mit-sich-vertraut-Sein indiviuellen Bewusstseins als etwas zu sprechen, das zugleich eine alltägliche Erfahrung ist. Dieser Fehler verweist aber, wie zu zeigen ist, auf einen transzendental-phänomenologisch entscheidenen Punkt. Die selbstverständliche Persistenz und die Nähe, die ich zu mir selbst habe, ist in natürlicher Einstellung nicht erfahren, sondern gelebt. Ihr Ausdruck erscheint uns immer schon im Horizont unserer personalen Kohärenz und Identität. Es bedarf erst der Mühe der Reduktion, sich jener ursprünglichen Erfahrungsdimension zu versichern, einer Reduktion, die letztlich als Methode dafür zu gelten hat, »mir das empirisch-objektive Gewand abzuziehen, das ich innerlich mir selbst angelegt habe oder vielmehr das ich mir immer wieder in einem – während des naiven Erfahrungslebens unbeachtet bleibenden – habituellen Apperzipieren angestalte«. (Hua VIII, 78)

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Im Lichte einer so verstandenen Reduktion wird sich ergeben, dass die Selbstverständlichkeit des Mit-sich-vertraut-Seins eines empirischen Subjektes als Widerschein einer Persistenz lebendiger Gegenwart gelten kann, die dem phänomenologischen Projekt Husserls zumeist als anonyme »Ur-Subjektivität« in den reflektierend-erhaschenden Blick geraten ist. Die Schwierigkeit des phänomenologischen Ausweises dieser Dimension bewussten Erlebens liegt nicht allein in der transzendentalen, sondern in der impersonalen Verfassung dieser Subjektivität. Denn die viel beredete Widernatürlichkeit transzendentaler Reduktion ergibt sich mit Blick auf die einmal erhaschte Ursubjektivität nicht mehr nur aus der Anstrengung, eine Einstellung aufrechtzuerhalten, bei der man nur »allzuleicht, und gleich bei den ersten Anfängen, den ohnehin sehr versucherischen Rückfällen in die naiv-natürliche Einstellung« (Hua VI, 158) erliegt. Diese eigentümlich unverfügbare Subjektivität ist nicht Gegenstandsbereich unter anderen, dem gegenüber ich in eine Einstellung geraten, oder dem ich vermittels der »Reflexion« genannten Bewusstseinsmodifikation nachträglich habhaft werden könnte (Vgl. Hua III, 181 f.) – sie ist, bereits mit Sartre gesprochen, die Seinsweise von Bewusstsein selbst. Im wachen Versuch, das empirisch-objektive Gewand abzustreifen, das ich mir kontinuierlich habituell anlege, muss sich die Einsicht einstellen, dass mein personales Erleben als »ein Motivat im ständigen, lebendig fungierenden Motivationszusammenhang dieser Ursubjektivität« (Hua Mat. VIII, 16) auftritt. Ich bin diese Ursubjektivität und kann sie doch nicht vollumfänglich gelten lassen, ohne einen Moment aufzugeben, was ich »Ich« sagend immer schon in Anspruch zu nehmen meine. Im nächsten Abschnitt gilt es zu zeigen, dass die Strukturmerkmale der Anonymität, Einzigkeit und Ständigkeit, mit denen Husserl zur Charakterisierung dieser Ursubjektivität und ihrer Konkretion als lebendiger Gegenwart aufwartet, als genuine Elemente transzendentaler Selbsterfahrung zu gelten haben. Ihre konstitutionstheroretische Verwertung, die sie als reflexiv entdeckte Strukturmomente von Bewusstsein auszeichnen will, schlägt jedoch gerade deshalb fehl, weil sie der Reflexion verpflichtet bleibt. Lebendige Gegenwart selbst ist nicht reflexiv zu erfahren – man ist eben das »M i l i e u d e s S u b j e k t i v e n « (Hua IX, 148) selbst. Die Radikalisierung der Epoché, die Husserl in den dreißiger Jahren betreibt, kann daher als Anstrengung verstanden werden, dem transzendentalen Perspektivwechsel Rechnung zu tragen, der in der Reduktion auf die lebendige 150 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Vorreflexives Selbstbewusstsein bei Husserl

Selbstgegenwart zum Vorschein kommt und sich in einer Frage wie der folgenden niederschlagen muss: »Bin ich strömendes Gegenwartsleben oder bin ich eben das darin erlebende Ich?« (Hua XXXIV, 175)

Husserl wird diese Frage in den späten Manuskripten zur Zeitkonstitution im Horizont seines ichlichen Pol-Begriffs deutlich beantworten: »Ich bin in meinem strömenden Leben, ich bin […] nicht dieses strömende Leben selbst.« (Hua Mat VIII, 33) Angesichts der konstitutiven »Unsicherheit« seines stets neu beginnenden Philosophierens, wird man diese Aussage allerdings eher für eine philosophische Entscheidung denn für eine Beobachtung halten dürfen. Die Schwierigkeit, einen solchen Perspektivenwechsel anzuerkennen, liegt unter anderem darin, dass er sich genauso wenig intellektuell antizipieren lässt wie Zeiten der Liebe und menschlicher Reife, sondern sich einstellen muss. Seine Widernatürlichkeit zeigt sich in Auseinandersetzung mit der Fraglosigkeit, mit der ich mich in natürlicher Einstellung – in stetigem habituellen Apperzipieren – als ein personales Individuum erfahre. Dieser Umstand macht es zunächst verlockend, ein Mit-sich-vertraut-Sein als irgendwie reflexiv zu erhaschende, aber innerlich vorreflexiv fungierende quasi-substanzielle Einheit aufzufassen. Was zu den angezeigten Unklarheiten rationalistischer Psychologie führt. Husserls Aufweis der lebendigen Gegenwart erlaubt hingegen einen phänomenologischen Begriff impersonaler Subjektivität zu skizzieren, der ein anderes Verständnis unserer ursprünglichen Vertrautheit mit uns selbst verspricht. Er legt nahe, dass das, was ich in natürlicher Einstellung als kontinuierliche personale Vertrautheit durchlebe, die ursprünglich ichliche, doch impersonale Persistenz eines sich stetig verzeitigenden Bewusstseinsstroms widerspiegelt. Ein Strom, der sich als »ein beständiger Wandel und eben darin in Beständigkeit sich konstituierende Gegenwart« (Hua Mat. VIII, 6) gibt, in dem mein personales Leben, in seinem habituellen Apperzipieren, erst fortwährend Gestalt gewinnt. Damit ist nicht über die konstitutionstheoretische Einsicht Zahavis entschieden, dass es keine sinnvolle Annahme darstellt, vorreflexives Selbstbewusstsein als ein reines oder leeres Feld der Selbstmanifestation zu begreifen, »auf dem die konkreten Erlebnisse hernach ihren Auftritt hätten«. (Zahavi 2002, 715) Es spricht an dieser Stelle nichts dagegen, auf die Vorstellung eines absoluten, von allen Erlebnismannigfaltigkeiten prinzipiell unabhängigen Flusses 151 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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zu verzichten und davon auszugehen, dass dieser Fluss einfach »die eigentliche Selbstmanifestation der Erlebnisse« ist (ebd.). Genauso wenig stehen diese Überlegungen im Widerspruch zu den Ergebnissen Szantos (2012). Denn innerhalb einer Konstitutionstheorie kann die lebendige Gegenwart als Modularisierung des Bewusstseins interpretiert werden, d. h. ihr muss keine ontologische oder epistemische Priorität unterstellt werden. Hier geht es zunächst um den Nachdruck darauf, über den Entwurf einer kohärenten Konstitutionstheorie nicht leichtfertig die Kultivierung phänomenologischer Selbsterfahrung aufzugeben.

2.7 Die Erfahrung lebendiger Gegenwart – impersonale Subjektivität 2.7.1 Erlebte und lebendige Gegenwart Wie Klaus Held bereits in den sechziger Jahren in seiner verdienstvollen Arbeit zur »lebendigen Gegenwart« zeigen konnte, versteht Husserl in seiner Spätzeit »alle transzendentale Gegenstandskonstitution als Zeitigung, d. h. als Ermöglichung der intentionalen Bekundung von zeitlich Seiendem verschiedener Stufen im ›Bewußtsein‹«. (Held 1963, 1) Im Zuge der Analysen dieser Form von Gegenstandskonstitution gelangt er mit Husserl an einen bemerkenswerten Punkt phänomenologischer Selbsterfahrung. Es wurde bereits herausgestellt, dass eine Dingwahrnehmung innerhalb phänomenologisch reduzierten Erlebens, etwa bei der Konzentration auf eine Melodie, anschaulich durch die verschachtelten Phasen der Retention, Urimpression und Protention beschrieben werden kann. Die Anschauung durch diese Phasen-Begriffe gibt einen Eindruck von dem eigentümlichen Strömen unseres bewussten Erlebens. Reflektieren wir auf das Wahrnehmungserlebnis eines Tones im Verlauf einer Melodiewahrnehmung, so haben wir je eine aktuelle Phase als »jetzt gegenwärtig«, der sich andere Phasen als »retentionaler Schweif anschließen« (Hua X, 39) und der »ein Gebiet der unmittelbaren Zukunft« zugehört, »der das strömende Wahrnehmen sozusagen zueilt«. (Hua VIII, 50) Helds Untersuchungen machen zum einen deutlich, dass die Phase des »jetzt Gegenwärtigen«, die oben bereits als Urimpression eingeführt wurd, eine nur abstraktiv zu gewinnende Phase eines »zwischen« Retention und Protention ge152 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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legenen Wahrnehmungspunktes ist. Zum anderen stellt er heraus, dass Husserl von dieser nur abstrakten Limes-Vorstellung eines gegenwärtigen Wahrnehmungserlebnisses einen anderen Begriff von Gegenwart abhebt, den der »lebendigen Gegenwart«. (Vgl. Held 1963, 31) 72 Mit diesem Terminus bezeichnet Husserl zunächst die »umfassende konkrete Einheit [der drei Phasen], d. h. also die strömende Gegenwärtigung des originär Wahrgenommenen in seinem Strömen« (ebd.). Beide Formen der Gegenwart, die Urimpression, jene erlebte Gegenwart, die nach Maßgabe unserer Aufmerksamkeit als gestaute oder verflossene gelten kann, ebenso wie die lebendige Gegenwart, von der wir noch keinen Begriff haben, sollen sich anhand phänomenologischer Reflexion als Bewusstseinsphänomene ausweisen lassen, d. h. der reflektierende Blick der Phänomenologin muss sich ihnen gleichermaßen beschreibend zuwenden. Besonders die Problemsphäre der Zeitigung bringt Husserl dabei in Verlegenheit. »Selbst der einzelne Philosoph in der Epoché kann bei sich selbst nichts von diesem unfaßbar strömenden Leben so festhalten, mit stets gleichem Gehalt wiederholen und seiner Diesheit und seines Soseins so gewiß werden, daß er es in festen Aussagen beschreiben und (sei es auch nur für eine Person) sozusagen dokumentieren könnte.« (Hua VI, 181)

Diese begriffliche Unverfügbarkeit des strömenden Lebens wird Husserl bald dazu führen, die Dringlichkei eidetischer Phänomenologie zu betonen, wie sie sich schon in den Ideen I in Form der Frage nach der »Typik von Einzelleistungen und intersubjektiven Leistungen« abzeichnet. Typen bezeichnen dabei solche Begriffe, die ihren Umfang selbst »im Fließenden haben« (Hua III, 171). 73 Entscheidend ist die Beobachtung, auf die Held in diesem Zusammenhang verweist. Damit die eidetischen Verfahren, allen voran die Variation, in Gang kommen, müssen sie ihren Ausgang bei einem Einzelgegenstand nehmen. Im Falle der erlebten Gegenwart ist das jedoch nicht zu leisten. Denn »sinnliche Gegenwärtigung als ein wirkliches, singuläres Vorkommnis im eigenen welterfahrenden Leben, läßt sich nicht ganz ›stellen‹«. (Held 1963, 36) Will sagen: Für jedes »Jetzt« in meinem Held verweist vor allem auf die seinerzeit noch unveröffentlichten C-Manuskripte, die uns inzwischen in edierter Form als Hua Mat. VIII vorliegen. 73 Die weitreichende Problematik der essentialistischen Hinsichten Husserl’scher Phänomenologie können hier nicht entfaltent werden. Siehe dazu Sowa (2008) sowie Lehmann (2011). 72

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lebendigen Vollzug kommt meine Reflexion schon zu spät; wir können ihm nur noch »nachschwimmen, während die zurückliegenden Strecken für die Wahrnehmung verloren sind.« (Hua III, 103) 74 In natürlicher Reflexion erleben wir diese Unverfügbarkeit allerdings nicht als einen Mangel, sondern es zeitigt hier dasjenige Strukturmoment des Zeitbewusstseins seine Wirkung, das Husserl als Retention anspricht, also das »Zurücksinken« einer Urimpression im Bewusstseinsstrom. Für den Bewusstseinsbereich des stetigen Strömens zwischen Urimpressionen und ihrem je retentionalen Schweif, der als eine Einheit erlebt wird, führt Held den Begriff des Präsenzfeldes ein. Ein Präsenzfeld ergibt sich für ihn nach Maßgabe unserer Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand. So variiere die »Breite« eines solchen Feldes, je nachdem, ob ich das Gegebene als Ton, Melodie oder Sonate auffasse. (Vgl. Held 1963, 40) Die Aufmerksamkeit, von der hier die Rede ist, bestimmt Held mit Husserl als Leistung eines »passiven Ich«. Von dieser Passivität, die in Grenzen einer ichlichen Willkür des »Ich kann« unterliegt, ist die Passivität des zeitlichen Strömens selbst zu unterscheiden. Held gebraucht hier den Begriff der Urpassivität und stellt mit einem unklaren Verweis auf Husserl allerdings heraus, dass auch diese Urpassivität noch »ichlich ›vollzogen‹« sei. (Ebd., 41) Der Vollzug des Ich bestehe auf dieser untersten Stufe der Passivität in einem »Entgleitenlassen«. Eine Bestimmung, für deren aktivisches Element Held zwar eine Erklärung schuldig bleibt, von der er aber im Sinne Husserls den Charakter der Lebendigkeit der Gegenwärtigung ableitet. Als das Lebendige an der »strömenden Wahrnehmungsgegenwart« bestimmt er die Ichlichkeit des Wahrnehmungsvollzuges, d. h. auf der einen Seite das aktive »ImGriff-Behalten« des Präsenzfeldes, auf der anderen, das Entgleitenlassen des im Präsenzfeld Gegebenen, eben das »verströmenlassend[e] Zusammennehmen« (ebd., 42). Jede Phase, die sich im kontinuierlichen Strömen meinem reflexiven Blick entzieht, jedes »strömend mitwandernd[e] Jetzt« (ebd., 44) gilt uns als erlebte Gegenwart. Diese erlebten Gegenwarten sind Momente des strömenden Bewusstseins, die, mit dem Index »Jetztstelle« versehen, kontinuierlich in die Vergangenheit verströmen. Lebendige Gegenwart ist dem gegenüber »die stehende Form der stetig sich erneuernden Urimpressionalität, die bleibende Zentriert-

74

Zitiert nach Held (1963), 103.

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heit der Gegenwärtigung in einer ihrem Inhalt nach fließenden Urpräsentation.« (Ebd., 43) Die Frage nach der Ichlichkeit der lebendigen Gegenwart erörtert Held sodann als Frage nach dem »Ich als lebendiges Gegenwartzentrum« (ebd.). Seine Untersuchung ist also nach wie vor am Pol-Begriff orientiert, ohne dass geklärt wäre, warum die »bleibende Zentriertheit der Lebendigen Gegenwart« selbst noch ein ichliches Zentrum haben sollte. Schon in dieser ersten Bestimmung lebendiger Gegenwart dürften aber wenigstens Zweifel bezüglich einer Metaphysik der Präsenz angezeigt sein, die Husserl die bloße Stipulation des transzendentalen Ichs als einer weltentrückten Instanz oder die Orientierung an einer punktartigen Gegenwart eines vulgären Präsentismus unterstellen wollen. Die Rede von einem Zentrum weist vielmehr auf einen wichtigen Punkt für die Analyse lebendiger Gegenwart, nämlich darauf, dass ihr Strömen nicht nur eine eigentümliche Kontinuität aufweist – der innere Zeitfluss wird nicht schneller oder langsamer –, sondern auch als ständig erfahren wird. »Der urphänomenale konkrete Gegenwartsstrom, die transzendentale Subjektivität in der Urgestalt ihres Seins, ist urströmende Gegenwart, […]; ein beständiger Wandel und eben darin in Beständigkeit sich konstituierende Gegenwart.« (Hua Mat. VIII, 6)

Die Charakterisierung dieser beständigen lebendigen Gegenwart als »Urphänomen, auf das alle transzendentale Rückfrage in der Methodik der phänomenologischen Reduktion zurückleitet« (ebd.), legitimiert sich für Husserl schon dadurch, dass ihr Erscheinen eine »Originalität« besitzt, von der er sich sichtlich, wenn auch vergeblich, bemüht, sie nicht vorschnell als reflexive Leistung zu bestimmen. Denn dass sie in ihrer Totalität »im Modus der Originalität bewusst« ist, bekundet einen eigenen transzendentalen Akt gewahrenden Wahrnehmens. »Das heißt nicht: (Sie ist) wahrgenommen in dem Sinn einer primär oder sekundär ›aufmerkenden‹, nur auf das Wahrgenommene gerichteten Aktivität. Wenn ich in transzendentaler Einstellung, also theoretisch interessiert und aktiv, auf dieses mein transzendentales Ur-Ego, auf meine transzendentale Urgegenwart zurückgehe, so entspricht diesem Zurückgehen transzendental reduziert ein transzendental urgegenwärtiger Prozess, und dieser schließt ab mit einem transzendentalen Aktus (in dieser Urgegenwart), in dem, als einem gewahrend wahrnehmenden, Urgegenwart gegenständlich ist.« (Hua Mat. VIII, 7)

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Als ob ihm entginge, dass er auch den abschließenden Akt des Gewahrens als Vergegenständlichung fasst, verteidigt er sich sogleich gegen den Widerspruch, wie sich überhaupt sinnvoll von solch einer »Urgegenwart« sprechen ließe, »die nicht gegenständlich ist, die vorwahrgenommen ist« (ebd.). Husserl begegnet ihm mit einem klaren Hinweis auf das Selbstverständnis seiner Phänomenologie, derzufolge der »Rechtfertigung, der Selbstverständigung der Methode […] die naiv geübte Methode vorangehen« muss. (Ebd.) Die Antizipation der Anstrengung, dass diese nachträglich einsichtig gemacht werden muss, darf also nicht zu einer Abwendung von solchen Erfahrungen führen, die sich nicht ohne weiteres dem schon konstitutionstheoretisch und methodologisch abgesteckten Weg einfügen lassen. Deshalb können wir Helds abschließender Bewertung der lebendigen Gegenwart als einer »unphänomenologischen ›Konstruktion‹«, die von Husserl nur regressiv durch Deduktion erschlossen wird (vgl. Held 1963, 137), nicht zustimmen. Im Lichte seiner gängigen methodologischen Erwägungen, die eine als Reflexion verstandene Form der Introspektion und eine damit verbundene gegenständliche Erkenntnis als einzig gangbaren Weg gelten lassen, dürfte die Erfahrungsdimension der lebendigen Gegenwart in der Tat nicht vorkommen. Von welcher Warte aus sollte man aber entscheiden, ob ihr Status als eines »absoluten Faktums« nicht vielmehr die langjährige Selbstbeschreibung der Husserl’schen Phänomenologie konterkariert? Die lebendige Gegenwart dürfte innerhalb der expliziten methodologischen Bestimmungen der Husserl’schen Phänomenologie nur als unanschauliche Deduktion gelten. Hier wird hingegen die Position eingenommen: Ihr Status als phänomenologisches Faktum zeigt die Dürftigkeit der expliziten methodologischen Bestimmung und den Wert der naiv geübten Methode. Das Gewahren, von dem Husserl in diesem Zusammenhang spricht, haben wir oben bereits als transzendentalen Perspektivwechsel angesprochen. Und diese Lesart kann sowohl die Eigentümlichkeit des Erkennens oder vielmehr Anerkennens lebendiger Gegenwart als auch die noch ungeklärte Subjektivität dieser Urgegenwart erhellen. Denn diese ständige Gegenwart, die sich durch »die Urmethode aller philosophischen Methoden, die transzendentale Reduktion« (Hua Mat. VIII, 16) zu erkennen gibt, ist nicht transzendentale Gegenständlichkeit unter anderen, sondern Seinsweise des Ur-Ich und damit nicht nur »der letzte absolute Boden aller meiner

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Geltungen« (Ms. C 3/25a) 75, sondern »ich selbst und doch nicht im gewöhnlichen Sinne, sofern ich in diesem gewöhnlichen Sinne ich sagend schon über Endgebilde meines letztlich fungierenden Ich spreche, das überhaupt, um sich auszusprechen, schon fungieren muss«. (Hua Mat. VIII, 16) Indem wir im Folgenden für das Ärgernis lebendiger Gegenwart, für die widernatürliche Vertrautheit ihrer Einzigkeit, Anonymität und Ständigkeit sensibilisieren, wird auch dem Begriff impersonaler Subjektivität, der sich aus der Möglichkeit dieses Perspektivwechsels ergibt, dem Husserls späte Überlegungen das Feld eröffnen, weiter Kontur verliehen.

2.7.2 Das Ärgernis lebendiger Gegenwart Seit den Ausführungen Helds sind zunehmend diejenigen Elemente des Husserl’schen Zeitverständnisses in den Fokus der Forschung gerückt, die sich mit den ursprünglichen Dimensionen der Husserl’schen Zeitkonzeption befassen. 76 In seiner Untersuchung zu Husserls Begriff des »Ur-Ich« hat zuletzt Taguchi (2006) zeigen können, dass Ur-Ich und lebendige Gegenwart letztlich auf dasselbe »Urphänomen« verweisen, wie es deutlich an einer Stelle aus den CManuskripten der dreißiger Jahre zum Ausdruck kommt: »So stoßen wir bald vor auf das nie herausgestellte, geschweige denn systematisch ausgelegte ›Urphänomen‹, in dem alles, was sonst Phänomen heißen mag und in welchem Sinne immer, seine Quelle hat. Es ist die stehendströmende Selbstgegenwart bzw. das sich selbst strömend gegenwärtige absolute Ich in seinem stehend-strömenden Leben«. (Hua Mat VIII, 145) 77

Die Charakterisierung dieses Urphänomens als eines absoluten Ich gießt natürlich Öl in das Feuer jener, die immer schon wussten, dass die Husserl’sche Konstitutionsthoerie entweder an dem ihr eingeschriebenen Solipsismus scheitern muss oder sich, wie die Ausführungen Finks in der VI. CM mitunter gelesen werden, in einem vulgär-idealistischen Konzept eines Absoluten, eines überindividuellen Geistes aufhebt. Husserls zunehmend entschiedene Radikalisierung und Rückhaltlosigkeit der phänomenologischen Reduktion, die ihn zur Freilegung lebendiger Gegenwart führt, lässt sich allerdings nur 75 76 77

Zitiert nach Taguchi (2006), 169. Vgl. exemplarisch Taguchi (2006), Micali (2008) und Niel (2011). Zitiert nach Taguchi (2006), 167–168.

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noch umständlich mit einer Emphase der Ursprünglichkeit in seine Konstitutionstheorie einfügen. Obgleich diese Reduktion letztlich nur besagt: »Reduktion auf reine Selbstwahrnehmung, durch sie reduziert sich das Erkenntnisziel des reinen Selbst auf meine reine Selbstgegenwart, meine ursprünglich strömende lebendige Selbstgegenwart.« (Ms. C 7 II, S. 5) 78 Dementsprechend ist diese Reduktion keine entschiedene Meditation zu den letzten, unbedingten Tiefen von Bewusstsein. Im Gegenteil legt sie die, wie Taguchi zu Recht herausstellt, selbstverständlichste »Nähe« des Bewusstseinslebens frei. Aber ist das nicht eine geradezu triviale Beobachtung? Dass ich es bin, der »allen meinen Vorurteilen, allem für-mich-Seienden, v o r a n z u s e t z e n ist, eben als U r b e d i n g u n g f ü r i h r e n S e i n s i n n […]« (C3 III, 10). 79 Was sich wie das Eingeständnis eines baren Solipsismus lesen lässt, ist nach allem, was wir bisher von Husserls Bemühen wissen, eher Ausdruck einer phänomenologischen Konsequenz. Einer Konsequenz, der sich Husserl, wenn man ihm die Benevolenz zugestehen möchte, seine Philosophie vom Prinzip der Prinzipien her zu verstehen, nicht ernstlich entziehen kann. Auch wenn ich konstitutionstheoretische Überlegungen, wie es etwa Merleau-Ponty tut, vom Leib und seiner intersubjektiven Dimension her entwickle, und mir so ein subjektivistisches Fundament versage, werde ich letztlich, das bleibt zu zeigen, an den Punkt einer Urbedingung gelangen. Und betrachte ich mich »eben als U r b e d i n g u n g […], so finde ich mich als strömende Gegenwart«. (Ebd.) Es gehört nur auf einen ersten Blick zu den kontraintuitiven Elementen der Annahme einer strömenden Selbstgegenwart, dass diese »Urbedingung« unseres Erlebens etwas ist, das es erst zu entdecken gilt. 80 Aber es wurde schon mehrfach deutlich, dass phänomenologische Methode einerseits gerade auf die Freilegung der im natürlichen Lebensvollzug verdeckten Schichten von Bewusstsein zielt und dass andererseits gegenständliches bzw. thematisches Bewusstsein stets in ungegenständlichem Bewusstsein fundiert ist.

Zitiert nach Held (1963), 81. Zitiert nach Held (1963), 81. 80 »Ich betone: entdecken. Sein empirisch natürliches Ich, sich als Mensch, braucht niemand erst zu entdecken. Jeder reife und wache Mensch findet sich selbst als Mensch mit Menschen-Ich und menschlichem Seelenleben vor […]. Andererseits die transzendentale Subjektivität mußte allererst entdeckt werden, jeder für sich selbst muß sie, und muß zunächst die seine einmal entdecken.« (Hua VIII, 79) 78 79

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»Das aktuelle Leben und Erleben ist zwar immer bewußt, aber es ist darum nicht schon erfahren und gewußt. Dazu bedarf es eines neuen Pulses aktuellen Lebens, der sogenannten reflexiven oder immanenten Erfahrung.« (Hua XXV, 89)

Da wir uns der Bedingung für diese Art der Reflexion, der Möglichkeit der Ichspaltung bereits versichert haben, können wir nun einigen Eigentümlichkeiten der präreflexiven Selbstgegenwart nachgehen. Zu den Eigenheiten der Reflexion des Ich auf seine strömende Selbstgegenwart gehört eine Art Unverfügbarkeit, ein Immer-schon-zuspät-Sein, oder »Nachgewahren«, wie Held es nennt. Das fungierende Ur-Ich bekommt sich als fungierendes in seiner Seinsweise des Strömens nicht zu fassen, sondern immer nur als schon selbstgezeitigtes, selbstobjektiviertes Ich. Die Unruhe, die der Versuch, der endlosen Iterierbarkeit Herr zu werden, erzeugt, stammen offenkundig aus einer als alternativlos verstandenen Vorstellung objektivierender Erkenntnis und einem Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins. Unter ihrer Voraussetzung wird man mit Blick auf Husserls Ausführungen zur lebendigen Gegenwart leicht zu dem Schluss kommen: »Jeglicher Versuch einer Auslegung der Seinsweise des letztfungierenden Ich muß daher als ›bloße Mystik‹ 81 enden«. (Ebd., 92) Diese von Held ablehnend paraphrasierte Aussage Seebohms findet ihre Begründung in dem Umstand, dass »das Absolute, das nunc stans der cogitationes, […] jeder Objektivation vorgeordnet« (ebd.) ist. Die lebendige Gegenwart unseres Erlebens selbst ist, da es als Form der erlebten Gegenwart, als unbedingte Aktualität, zu gelten hat, als ein »zeitloses Jetzt«, ein nunc stans zu verstehen. Wenn Seebohm dieses nunc stans dann wieder als bloßen »Limesnullpunkt des aktuellen Jetzt« (ebd., 92), also als nur abstraktiv zu gewinnendes Jetzt der Ur-Impression verstehen möchte, dann fragt Held ganz richtig: »mit welchem Recht Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit wird in Erörterungen des Ur-Ich sicherheitshalber herausgestellt, dass es sich bei den phänomenologischen Erfahrungen, die in diesen Erörterungen naßgeblich werden, natürlich nicht um solche handelt, die man als »mystisch« bezeichnen würde. Vgl. etwa Niel (2011), 217, Micali (2012), 100. Das wirft wenigstens die Frage auf, inwiefern man ausnehmend selbstverständlich über einen Begriff mystischer Erfahrung verfügt. Die berechtigte Zurückhaltung, über das Unaussprechliche nicht sprechen zu wollen, sollte darüber hinaus gerade in der Phänomenologie Raum für die Einsicht Wittgensteins lassen, dass es sich dennoch zeigen kann. (Vgl. Tractatus 6.522) Für eine Diskussion mystischer Elemente in den Phänomenologien Husserls und Heideggers siehe Wolz-Gottwald (1999). Eine phänomenologische Perspektive auf die Möglichkeit »mystischer Vernunft« findet sich in Earle (1980).

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dieses ichliche Jetzt überhaupt als ›eines‹ und als ›stehend und bleibend‹ (nunc stans!) bezeichnet werden kann« (ebd., 92 f.). Diese nachlässige Vermengung von erlebter und lebendiger Gegenwart bezeugt die Eigentümlichkeit des intimen Perspektivwechsels, der die beiden gewissermaßen parallelen Erfahrungsdimensionen trennt. Erfahrend auf das kontinuierliche Verströmen meines bewussten Erlebens gerichtet, ist die Forderung eine gegenwärtige Zeitstelle als ein stehendes »Jetzt« auszuzeichnen vergeblich, denn ein punktuelles »Nu« ist uns nur als schon-verströmendes, d. h. retentional modifiziertes, erfahrbar. Vergleichbar der Anstrengung, sich dem Kippen eines Vexierbildes zu überlassen, birgt aber jede gegenständliche Erfahrung die Möglichkeit in sich, der ständigen Gegenwart ihrer Bewusstseinsaktualität, d. h. des Präsenzfeldes selbst innezuwerden. Vermöge eines geradezu natürlich wirkenden Reflexionsreflexes wird dieses Gewahren aber stets Opfer eines vergeblichen Versuchs vergegenständlichender Orientierung. Das Ärgernis lebendiger Gegenwart besteht also zunächst darin, dass sich ihr Status als ein phänomenologisches Faktum erst aus der Bewegung der Reflexion heraus zu erkennen zu geben scheint, dass diese Bewegung an dem von ihr freigelegten Faktum aber stets scheitert. Die Reflexion reicht freilich weit genug, die Unverfügbarkeit der Verhältnisse zu bemerken. Sie reicht weit genug zu bestätigen »daß es ein Urphaenomen der lebendigen Gegenwart gibt, das ich als ›Tatsache‹ hinzunehmen habe«. (Hua Mat. VIII, 40) Sie lässt sowohl die ständige Vorgegebenheit der Ur-Subjektivität erahnen: »Ich gehe mir selbst so vorher und zugleich allem Nicht-Ich« (Hua XIV, 432), als auch – und in eins damit – eine methodische Uneinholbarkeit des »urphänomenalen Lebensstroms«: »Das Leben geht immer vorher der auslegenden Methode […]«. (XXXIV, 175) In dem Maße aber, wie Husserl sich im Rahmen seiner epochalen Praxis zuweilen in dieser Ur-Subjektivität eingerichtet findet, d. h. sie bei- und vorläufig gelten lässt, zeichnen sich die Charakteristika der Einzigkeit, Anonymität und Ständigkeit dieser Erfahrungsdimension ab. a) Einzigkeit Eine entscheidene Charakterisierung der urichlichen Selbsterfahrung haben wir im ersten Paragraphen bereits als Einsamkeit angesprochen und auf die Bestimmung des transzendentalen Ur-Ich als eines Einzigen bezogen. Diese Einzigkeit, die nicht Alleinsein, ja nicht einmal numerische Einzelheit meinen kann, kommt in einer Selbstbeschrei160 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Die Erfahrung lebendiger Gegenwart – impersonale Subjektivität

bung Husserls so zum Ausdruck: »Ich bin einzig, nicht bloß einmal ›vorkommend‹, einmal vorhanden, sondern Voraussetzung aller Vorhandenheiten.« (Ms. B I 14/138a) 82 Wie schon mehrfach herausgestellt wurde, täte man Husserl unrecht, würde man die Charakterisierungen des Ur-Ich und seine Verfassung als lebendige Gegenwart, als Widerschein metaphysischer Hypostasierugen bestimmen wollen. 83 Sie sind Ausdruck einer Erfahrung radikalisierter Reduktion, in der es nichts gibt, das nicht davon abhinge, dass ich bin. In diesem Sinne kann die Einzigkeit, wie Held herausstellt, nicht die eines abzählbaren Ich sein. (Ebd., 181) Gerade weil diese Erfahrung jeder Relativität ermangelt, sich also keine Hinsicht mehr auszeichnen lässt, in der sie mit etwas außer ihrer selbst vergleichbar wäre, ist diese Erfahrung für Husserl eine »absolute Erfahrung«. (Vgl. Held 1963, 82–85) Zahavi ist darum sicher zuzustimmen, wenn er die Einzigkeit des Ur-Ich als eine von »indexikalischer Natur« beschreibt und damit – im nahegelegten Doppelsinn – »›substantielle‹ Mißverständnisse erledigt«. (Vgl. Zahavi 1996, 66) Seine vorrangig am Husserl’schen Primat der Intersubjektivität orientierte Untersuchung will das UrIch aber auf der einen Seite als ein »Grundverhältnis« verstehen, »das letztlich mit dem Problem der Individuation«, also einem konstitutionstheoretischen Problem verbunden ist. Auf der anderen Seite charakterisiert er es mit Husserl als »Urtatsache, der ich standhalten muss und von der ich als Philosoph keinen Augenblick wegsehen darf« (ebd., 67). Ungeachtet des hier angelegten Widerstreits stehen diese beiden Hinsichten, und das zu zeigen ist Zahavis Hauptanliegen, in keinem Widerspruch zu der von ihm herausgearbeiteten intersubjektiven Verfassung der transzendentalen Subjektivität und der konstitutiven Bedingung sozialer Beziehungen und entsprechender Zuschschreibungspraxen für unsere personale Genese und Selbsterfahrung. Es wäre also ein Missverständnis, wollte man das Ur-Ich in seiner Form lebendiger Gegenwart als Ausdruck eines ontologischen oder erkenntnistheoretischen Solipsismus begreifen. Als Dimension reduzierten Erlebens, d. h. als Ergebnis methodisch geleiteter philosophischer Praxis, verweist sie auf eine Selbsterfahrung »in einem solchen absoluten Sinne, der […] Vervielfältigung […] als sinnlos ausschließt«. (Hua XV, 590) Die Urtatsache, die die Phäno82 83

Zitiert nach Taguchi (2006), 145. Vgl. dazu auch Taguchi (2006), 125–131, ferner Niel (2011), 194.

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menologin dabei nicht aus dem Blick verlieren darf, ist die irreduzible impersonale Subjektivität des Bewusstseinslebens. In dieser Dimension erfahre ich mich gerade nicht als Individuum, wenn das bedeutet, mich als dieses Einzelne zu erleben. Denn diese Erfahrung impliziert bereits die Möglichkeit eines Sinns von »Anderen«. Stellen wir daher im wachen Erleben dieser Dimension die Frage »Wer bin ich?«, so lässt sich wenigstens sagen: »[D]ass diese Frage nach dem Wer nicht besagt die Frage nach der menschlichen Person, welche vielmehr ein Motivat im ständigen, lebendig fungierenden Motivationszusammenhang dieser Ursubjektivität ist. Dieser Wer bin ich selbst und doch nicht im gewöhnlichen Sinne […].« (Hua Mat. VIII, 16)

Die eigentümliche Vertrautheit dieser Erfahrung auf der einen und ihr mühsamer wie emphatischer Ausdruck auf der anderen zeigen an, dass man sich für ihr adäquates Verständnis einen Nachvollzug nicht wird ersparen können. In diesem Sinne stellt Taguchi in seiner umfassenden Untersuchung des Ur-Ich abschließend heraus: »Man kann die Frage ›Was ist Ur-Ich?‹ nicht durch eine Definition oder durch eine Angabe seiner Eigenschaften beantworten. […] Es geht vielmehr darum, die Erfahrung der betreffenden Dimension sichtbar zu machen, die sich sonst nur anonym-selbstverständlich vollzieht. Ohne diese Freilegung der betreffenden Erfahrung wäre jede Rede von Ur-Ich phänomenologisch sinnlos.« (Taguchi 2006, 244)

Eine der Schwierigkeiten dieses Nachvollzuges liegt, wie bereits angezeigt, in dem begründet, was Husserl die Anonymität des Ur-Ich zu nennen pflegt. b) Anonymität Etwas nicht beim Namen nennen zu können, bringt uns in Verlegenheit. Weil es uns eine Distanz vermittelt, die die Kontinuität unserer Erfahrung stört und uns zugleich eine Nähe zumutet, der wir nicht entkommen können. Wenn mir der Name für ein Objekt oder einen Mitmenschen abhanden gekommen ist, ich mich der Dringlichkeit einer Identifizierung in einer Situation aber nicht entziehen kann oder will, dann ist mein Unbehagen nicht nur Ausdruck einer Distanz der Unbestimmtheit, einer Unfähigkeit, die Welt um mich oder in mir zu sortieren, sondern ich werde ebenso auf eine Nähe zu dieser Welt verwiesen, die mir in der Selbstverständlichkeit meiner sprachlichen Orientierung verborgen war. Wenn die Grenzen meiner Spra162 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Die Erfahrung lebendiger Gegenwart – impersonale Subjektivität

che wirklich die Grenzen meiner Welt wären, dann fiele uns das gemeinsame Schweigen vielleicht etwas leichter. Die Grenze, die sich in der Stille zeigt, ist die Grenze meiner Verfügbarkeit von Welt, daher mein Unbehagen. So gewinnt auch die Anonymität, die Husserl im Bewusstseinsleben auszeichnet, ihr Unbehagen aus ihrer Unverfügbarkeit. Die Husserl’schen Verfahren kennen keinen anderen Zugang als den der Vergegenständlichung. Im Rahmen der vielfältigen Intentionalanalysen ist der Blick, den die phänomenologische Reflexion gewährt, auch hinreichend. Er genügt auch, das Phänomen lebendiger Gegenwart anzukündigen. Die alternativlose Haltung aber, nur dadurch etwas zur Erkenntnis bringen zu können, dass ich meinen Blick auf es wende, es mir mithin gegenständlich verfügbar mache, lässt dieses Phänomen doch allein zu einem Grenzphänomen phänomenologischer Erfahrung werden. Die Anonymität ist hier aber nicht nur Ausdruck eines Scheiterns gegenständlicher Orientierung, sondern eines Ich, das sich nur in der Seinsweise der Reflexion zu kennen glaubt. Denn es stellt sich die Frage, für wen das Ur-Ich eigentlich anonym ist. Doch wohl für ein Ich, das sich selbst nur im Spiegel entschiedener Vollzüge und so als seinen eigenen Ursprung zu begreifen gelernt hat. Da, wo der phänomenologische Rückgang auf sich selbst diese natürliche Grundsätzlichkeit prekär werden lässt, gibt sich das Ursprüngliche des Bewusstseins nur als schlüpfriger Hintergrund eines Ichs zu erkennen, das sich selbst und die Aufgabe der Reflexion noch stetig im Blick behält. Held weist schon darum zu Recht darauf hin, dass zwei Formen der Anonymität unterschieden werden müssen. Bereits die sinnkonstituierenden Leistungen des transzendentalen Ich gelten Husserl als anonyme Leistungen, d. h. als dem natürlich, vor-transzendental eingestellten Ich verborgene Vollzüge, die sich aber, denn darin besteht der Sinn phänomenologischer Intentionalitätsanalysen, aufklären lassen. (Vgl. Held 1963, 7; 139) Die Anonymität des Ur-Ich ist von grundlegend anderer Art. Sie ist nicht eine nachträgliche Zuschreibung für einen Bereich, der der Phänomenologin nun im Zuge entschiedener Epoché und Reduktion in Grenzen vertraut wäre; es handelt sich um eine prinzipielle Anonymität. Prinzipiell unter der Voraussetzung, dass »die reflexive Ontifikation die einzige phänomenologisch denkbare Erfahrung vom urfungierenden Ich ist«. (Ebd., 141) Denn die reflexive Bewegung erzeugt jene Distanz zu mir selbst, die sie dann überbrücken muss, und deren Überbrückung uns den 163 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

Eindruck einer wesenhaften Nachträglichkeit und die eigentümliche Erfahrung verschafft, dass ich mich »Ich« sagend zwar in schlichter Reflexion erfasse, »aber diese Selbsterfahrung […] wie jede Erfahrung, […] bloss Hin-mich-richten auf etwas ist, das schon für mich da ist, schon bewusst ist und nur nicht thematisch erfahren ist […]«. (Hua XV, 492 f.) Von den oben angezeigten Überlegungen zu einem originär vorreflexiven Gewahren und einem entsprechenden transzendentalen Perspektivwechsel abgesehen, ergibt sich auch die phänomenologische Einsicht, dass uns unsere Funktionsgegenwart unthematisch, anonym und ungegenständlich bleiben muss, für Husserl zumeist vermöge einer weiteren Reflexion. Aber entspricht der fragmentarische Charakter unserer Selbsterfahrung, der durch die Orientierung an der Reflexion nahegelegt wird, wirklich unserem Erfahren lebendiger Gegenwart? 84 Ist da nicht aktuelles Bewusstsein der jeweiligen Reflexion? Erlebe ich nicht die Spannung der Umwendung und ihre Nachträglichkeit? Ist es nicht tatsächlich so, dass »die in der Ichspaltung aufeinander bezogenen Ichsubjekte zu derselben strömenden Gegenwart gehören« (Hua VIII, 89)? Aber es ist dies eben kein Bewusstsein nach Maßgabe des »Ichdenke, Ich-besinne-mich, Ich-identifiziere, Ich-stelle-fest, Ich-übeUrteilsevidenz« (Hua XXXIV, 175). Ich kann der prinzipiellen Unverfügbarkeit dieser Subjektivität nicht dadurch begegnen, dass ich ihr Herr werden will. Die strömende Ständigkeit lebendiger Gegenwart gewahre ich nur dadurch, dass ich sie bin, d. h. sein lasse. 85 »So reflektierend und immer wieder reflektierend finde ich immer wieder Gegenüber-Seiendes und Ich, finde dasselbe Ich in diesen Reflexionen, finde Immer-Wieder des Reflektierens und Reflektieren-Könnens selbst als Gegenüber des Ich, das ein und dasselbe ist, wie es auch immer gegenüber gesetzt sein und zu dem dabei anonymen Ich reflektiert werden mag.« (Hua Mat. VIII, 2) 85 In diesem Sinne charakterisiert auch Held die über Husserl hinausgehende Rückfrage, hinter die Anonymität des »Ich-fungiere« als einen »phänomenologisch motivierte[n] Verzicht auf das Fassen-Wollen«. Held (1963), 164. Husserl muss mit einer so gearteten Anerkennung schon deshalb ringen, weil seine Suche nach apodiktischer Wahrheit in der phänomenologischen Erfahrung und einer entsprechenden Eidetik stets auf gegenständliches Erfassen von Wesenszusammenhängen zielte und das Wagnis der Anerkennung einer ursprünglichen ständig-strömenden Gegenwart zunächst nur bedeuten konnte eine »fruchtlos fließende Anpassung an das fließende Gegenwartsleben. Ja, wirklich fruchtlos, denn eine Frucht ist eben ein bleibend Wertes und nicht im Moment des Erwachsens Seiendes.« (Hua XI, 366) Husserl glaubt, wahres Philosophieren müsse die Früchte vom Bewusstseinsbaum nach eigenem Duktus pflücken. Er hat keinen Sinn für das gelassene Vertrauen in ihre natürliche Reife, die ihren Anfang schon im »Moment des Erwachsens« haben muss. 84

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c) Ständigkeit In den früheren Schriften galt lebendige Gegenwart lediglich als eines der » H i n t e r g r u n d p h ä n o m e n e [ … ] , die doch nicht ichlos im wahren Sinne sind«. (Hua VIII, 412) Die Vorsicht dieser noch verhalten einer statischen Stoßrichtung phänomenologischer Forschung verpflichteten Einschätzung erklärt sich daraus, dass Husserl die Problematik einer Ur-Subjektivität, wie sie sich in den Analysen zum Zeitbewusstsein abzuzeichnen beginnt, noch nicht gelten lassen konnte. Die leitende Orientierung an einem reinen Ich als einem polartigen Ein- und Ausstrahlungszentrum 86 auf der einen und eines empirischen Ich, als eines Menschen mit »›persönlichen Eigenheiten‹ oder Charaktereigenschaften« (Hua IV, 249) auf der anderen Seite, ließ zunächst kaum Raum, die ursprüngliche Subjektivität mehr als eine unterschwellige Ahnung sein zu lassen. Dies umso mehr, als der konstitutionstheoretische Fokus natürlicherweise ein Verständnis von transzendentaler und empirischer Subjektivtität zur Folge hatte, das beide in den Horizont eines evolutionären Verhältnisses stellte, in dem »der Erlebnislauf des reinen Bewusstseins […] notwendig ein Entwicklungslauf [ist], in dem das reine Ich die apperzeptive Gestalt des persönlichen Ich annehmen muß, also zum Kern von allerlei Intentionen werden muss«. (Ebd., 251) Das brachte u. a. mit sich, dass auch noch in den Cartesianischen Meditationen, in denen die »lebendige Selbstgegenwart« als der adäquate Kern transzendentaler Selbsterfahrung thematisiert wird (vgl. CM, 24), das transzendentale Ich als Substrat von Habitualitäten in Anschlag gebracht wird, das vermöge »einer Gesetzmäßigkeit ›transzendentaler Genesis‹ mit jedem der von ihm ausstrahlenden Akte eines neuen gegenständlichen Sinnes eine neue bleibende Eigenheit gewinnt«. (CM, 68) Diese Personalisierung, die sich durch die Idiosynkratisierung des transzendentalen IchFeldes ergibt, wird erst im Rahmen der Beschäftigung mit dem Urprozess zeitkonstituierenden Bewusstseins durch ein Interesse an der transzendentalen Oberfläche des Bewusstseins angereichert, die die lebendige Gegenwart ist. In den transzendentalen Tiefen des Bewusstseinslebens fand sich das reine Ich dagegen als Zentrum selbsteigener Habitualitäten vor, »die im Ausgang von selbsteigenen stif»Das ›Gerichtetsein auf‹, ›Beschäftigtsein mit‹, ›Stellungnehmen zu‹, ›Erfahren, Leiden von‹ birgt notwendig in seinem Wesen dies, daß es eben ein ›von dem Ich dahin‹ oder im umgekehrten Richtungsstrahl ›zum Ich hin‹ ist – und dieses Ich ist das reine, ihm kann keine Reduktion etwas anhaben.« (Hua III, 195)

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tenden Akten sich als bleibende Überzeugungen konstituieren, als solche, in denen ich selbst zu dem bleibend Überzeugten werde und wodurch ich als polares Ich […] spezifisch ichliche Bestimmungen gewinne«. (CM, 106) Dieses personale Ich als Einheit des bleibend Überzeugten ist für Husserl letztlich »ein System des ›Ich kann‹« (Hua IV, 253), das sich aus dem erfahrenden Umgang mit sich selbst kennt (vgl. ebd., 265). Schon die ursprüngliche Identität des personalen Lebens stiftet sich aber nicht allein aus Erfahrung – »im Sinne von assoziativer Apperzeption, in der sich Einheiten von Mannigfaltigkeiten des Zusammenhangs konstituieren, sondern aus Leben«. (Ebd.) D. h. »es ist, was es ist, nicht f ü r sich, sondern selbst das Ich«. (Ebd., 252) Von der einheitsstiftenden passiven Persistenz des entschlossenen personalen Lebensvollzugs, der sich nach Maßgabe der Potentialität des »Ich kann« und »Ich erleide« als ein kontinuierlich verzeitlichendes Selbst entfaltet, beginnt Husserl aber bald die Ständigkeit der Dimension lebendiger Gegenwart zu unterscheiden, deren Erlebnisqualität er als »stehendes und bleibendes Ur-Jetzt« bestimmt. (Vgl. Hua Mat. VIII, 8) 87 Es ist deshalb wenigstens Vorsicht angezeigt, wenn man wie Fasching in seiner konzisen Untersuchung nahelegt, die Ständigkeit der lebendigen Gegenwart entspräche Zahavis Konzept von mineness bzw. first-personal-givenness. (Fasching 2012b, 516) Da, wo Zahavi den Begriff der mineness von Husserl her expliziert, bezieht er sich auf Hua XIV, 429, wo dieser das »ursprünglichst Meine« noch als »mein ›ich tue und leide‹« charakterisiert. Vgl. Zahavi (2008), 124. Zahavis Begriff eines vorreflexiven »first-personal mode of presentation« (ebd.) ist insofern, als er ihn als »invariant« und »abiding »experiential dimension« paraphrasiert und von einem »explicit I-consciousness« abhebt, in der Tat sehr nah am Begriff lebendiger Gegenwart. Für ihn verbürgt die »first-personal-givenness« aber zugleich den konstitutionstheoretisch entscheidenden Zug einer grundlegenden Individuation des Erlebens, wenn auch eines »purely formal kind of individuation« (ebd., 129). Die konstitutionstheoretische Plausibilität ist unleugbar. Um die Frage nach der »Bedingung von Selbstheit« zu beantworten »(what properties must x have in order to count as a self)« (ebd., 130) wird man die Stufen möglicher Konstruktion so interpretieren, dass das Konstituens auch zum Konstitutum passt. Um die höherstufigen Formen der Selbstheit, wie etwa die biographisch-narrative Personalität, »a more concrete kind of individuality« (ebd., 129) verständlich zu machen, ist es sicher sachlich angemessen, bereits das »experiential self« als eine »primitive form of self-givenness or self-referentiality« (ebd.) zu behandeln. (Diese »Lösung« wird uns bei Sartre wieder begegnen.) Husserl verfährt auf der hier maßgeblichen Stufe der Analyse allerdings im Modus seiner naiv geübten reduktiven Methode. Hier geht es eher um die phänomenologische Anerkennung einer Erfahrungsdimension, als darum, eine klare Konstitutionsschicht anzuzeigen. Für Zahavi verbürgt die first-personal-givenness ein Erlebnis als »experienced as my

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Im Horizont der homogenen Kontinuität des Erlebnisflusses lebe ich ein bewegtes Leben, in dem ich mich als Quellpunkt meines personalen, intersubjektiven Engagements, als Akt- und Affektzentrum zeitlich ausgedehnter Vollzüge erfahre. Die Genese ihrer zeitlichen Dimensionen liegt zwar nicht in meiner Macht, aber sehr wohl in meinem Belieben, insofern Erinnerung und Erwartung einen Horizont aufspannen, über den ich insofern verfüge, als ich in ihm und durch ihn zu schalten und walten gewohnt bin. Dieser »Normalfall der Ichbetätigung […] besteht darin, dass das Ich der lebendigen Gegenwart auf das primäre Wahrnehmungsfeld bezogen ist. Auf irgendetwas darin ist es in seiner Aktivität gerichtet, damit beschäftigt«. (Ebd., 48) Erst in diesem Sinne ist das »Ich in seinem ichlich strebenden Leben (das Ich in der ›personalen‹ Selbsterhaltung) […] bezogen auf seine Umwelt als sein Betätigungsfeld, sie ist der beständige intentionale Horizont des natürlichen menschlich-personalen Daseins« (ebd., 38). Neben solchen konstitutionstheoretischen Analysen von Personalität und der entsprechenden »Zeitigung des Ich als des sich beschäftigenden« (ebd., 48) kreisen Husserls späte Analysen zum Zeitbewusstsein aber immer wieder um die beiläufige Einsicht, dass der konsequente phänomenologische Rückgang auf die Subjektivität die wenigstens philosophische Verlegenheit der Unverfügbarkeit ihrer lebendigen Gegenwart offenlegt. Sie entzieht sich gerade in dem Maße, wie das Ich, das sich in ihr entfaltet, sie zu begreifen sucht. Im Rahmen der theoretischen Fasslichkeit, die die Husserl’sche Phänomenologie gewährt, verweist diese Unverfügbarkeit auf die ambivalente Verfassung von Subjektivität, auf ihre vorreflexive Nähe im Erleben, die für das personale System des »Ich kann« aber uneinholbar bleiben muss. Wo Husserl das entsprechende phänomenologische Datum der Ur-Subjektivität gelten lässt und sich an ihre konstituexperience« (ebd., 124), und zwar in dem Sinne, dass »the particular first-personalgivenness of the experience makes it mine and distinguishes it for me from whatever experiences others might have«. (Ebd.) Hier soll nicht bestritten werden, dass diese Dimension ein valides phänomenologisches Datum ist, das man anerkennen muss und sich in Husserls Untersuchungen zur lebendigen Gegenwart findet, sondern dass Husserls tastendes Philosophieren eine Dimension im Blick hat, die noch nicht diese rudimentäre Diskriminierung in »mir ichlich zu eigenes im Gegensatz zum NichtIch« (Hua XIV, 429) meint. Diese Intuition wird auch bei Sartre und Merleau-Ponty nachzuzeichnen sein, deren beiläufige Betonung eines impersonalen Bewusstseins Zahavi auf die Verkennung seiner first-personal-givenness zurückführt. Vgl. Zahavi (2008), 127. In der abschließenden Diskussion um den vedāntischen Begriff des sākṣin wird hierauf zurückzukommen sein.

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tionstheoretische Ausarbeitung macht, gibt sich diese Ambivalenz deutlich zu erkennen. In den entsprechenden Analysen des ursprünglichen Strömens zeigt sich dieses Strömen als »ein beständiger Wandel und eben darin in Beständigkeit sich konstituierende Gegenwart« (Hua Mat. VIII, 6). Aber das »Ich bin« dieser Gegenwart gibt sich zugleich als »Strömend-gegenwärtig-Haben und strömende Gegenwart selbst – eine zunächst schwer zu fassende Zweiseitigkeit«. (Ebd., 41 f.) Im Sosein des Strömend-gegenwärtig-Haben »kann ich dann Gegenwart verfolgen als dieselbe, ›nur‹ im Modus der Zeitstelle Soeben, Vorhin etc. abgewandelt«. (Ebd., 54) Diese intentionale Souveränität über die zeitlichen Phasen meines bewegten Lebens obliegt mir aber nur aufgrund der »kontinuierlich zusammenhängenden Identität mit der unmodifizierten, aktuell strömenden Gegenwart […], die sich selbst kontinuierlich wandelt in ihr Soeben, das nachher zu thematisieren ist, und immerzu mit sich identisch ist und bleibt«. (Ebd.) Die im Rahmen der Konstitutionsanalysen der passiv-synthetischen Struktur des ursprünglichen Strömens einmal mehr freigelegten Phasen retentionaler und protentionaler Konstitution und alle anderen »fraglichen Modifikationen von lebendiger Gegenwart und darin aktuellen Bewusstseinsweisen [sind] selbst mitgehörig in die der lebendigen Gegenwart, die jetzt in der Tat (gegenwärtig) und unmodifiziert ist, die meine jetzige Wachheit ausmacht.« (Hua Mat. VIII, 62) Der Aufdeckung der letzten konstitutionstheoretischen Quelle korreliert damit eine eigentümliche Untiefe. Es scheint, dass gerade der tiefste Prozess transzendentaler Konstitution, das ursprünglich quellende Werden der Verzeitlichung des Bewusstseins, der oberflächlichen Erfahrungsdimension lebendiger Gegenwart entspricht. 88 Husserl ist darum auch angetan, die Kinästhesen, Affektionen und Aktionen des bewegten Ich als Strukturen in lebendiger Gegenwart zu bestimmen. »In der lebendigen Gegenwart gehen die Kinästhesen vorüber, das unwillkürliche ›Ich bewege‹, ebenso die Affektionen. Die Aktionen gehen vorüber und sie haben in der immanenten Zeit gerade keine Identität, sondern sind eben immer wieder andere.« (Ebd., 54) Die lebendigen Vollzüge des verzeitigten, konkreten Ich sind nur die explizierte Struktur des ursprünglichen Strömens. Diesem explizierten Strömen, muss deshalb vorausgehen eine Dem stream of consciousness korrespondiert gewissermaßen ein screen of consciousness.

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ichliche Dimension, die »nicht wie ein Zeitliches dauert, sondern […] stehendes und bleibendes Jetzt im Wandel seiner Vollzüge« (ebd., 201 f.) ist. In dem Maße, wie man die verzeitlichte und zeitlich durchlebte Dimension des konkreten Ich mit Husserl als personale ansprechen muss, kann man diese Subjektivität, die das aktuelle Feld unmodifizierter lebendiger Gegenwart spannt, als impersonale Subjektivität auszeichnen. Das, was dem Bewusstsein Anlass ist, in ichlicher Präsenz zu leben, ist deshalb unter Umständen nicht dasselbe, was das konkrete Ich in Anspruch nimmt, wenn es sich zu meinen glaubt. Auch wenn für Husserl zum »Wesen des Ich ein unterstes Erleben [gehört], daß die Voraussetzung ist für alles reflektierende« (Hua Mat. VIII, 36), so wird man darin keine vorreflexive Selbstgewissheit eines individuellen Subjektes, sondern eine fundamentale Dimension eines Bewusstseins anzunehmen haben, das Ich bin, ohne über es verfügen zu können. Da es zu diesem Bewusstsein gehört, ein System des Ich-kann und einen dazugehörigen Reflexionsreflex auszubilden, entgehe ich mir selbst nach allen Seiten zeitlicher Konstitution und bin so ich, ohne es ganz sein zu können. Dass sich das konkrete Ich nicht ohne weiteres seinem Grund in einer ursprünglichen Subjektivität, im nächsten Selbst, gewiss ist, im Gegenteil, seine personale Selbstgewissheit gerade aus der Unkenntnis dieses impersonalen Grundes gewinnen dürfte, ist dem bis zur Natürlichkeit vertrauten Erleben geschuldet, engagiertes perspektivisches Zentrum eines sich kontinuierlich entfaltenden Lebens zu sein. Als dieses Zentrum kenne ich mich freilich nicht erst insofern, als ich als verzeitlichtes Subjekt im reflektierten Vollzug meiner Lebensgeschichte auf mich selbst Bezug zu nehmen gelernt habe. Meine Verzeitlichung ereignet sich bereits im Strömen der erlebten Gegenwarten, »in der ichlich strömenden Modifikationskontinuität der soeben verströmten Aktphasen in ihren Modis«. (Ebd., 200) In der bruchlosen Kohäsion ständiger Akt-Vollzüge verzeitigt sich das Ich als beschäftigtes Ich im Vollzug seiner personalen Selbsterhaltung. Aber schon der einzelne Akt »ist nicht ein Dauerndes so wie der Ton etwa, mit dem ich hinhörend beschäftigt bin. Und auch ich bin nicht kontinuierlich dauernd wie dieser Ton, kontinuierlich dauernd in diesem dauernden Akterlebnis. Ich, das aktuelle wirkliche Ich, bin jetziges Ich, in dem Hinhören allerdings kontinuierlich bei dem Tonjetzt und im Wandel der Zeitmodalität des Tönens auch kontinuierlich bei dem konstituierten dauernden Ton und in allen Phasen 169 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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der Gewesenheit als Gewesenes dabei. Aber diese Verzeitlichung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich ichlich-kontinuierlich-strömend jetzt und nur jetzt bin«. (Hua Mat. VIII, 200) Nur da, wo Husserl bemüht ist, dieses eigentümlich stehende und bleibende Ich doch wieder als »Vollzugs-Ich« der jeweiligen Akterlebnisse zu bestimmen und somit in den personalen Horizont des »Ich-kann« zu holen, macht er unweigerlich die Entdeckung, dass auch dieses Vollzugs-Ich im Rahmen einer möglichen Wiedererinnerung eines Aktes, als Vergangenes erscheint – »und so verzeitlicht sich selbst das Vollzugs-Ich«. (Ebd., 201) Dabei ermahnt er sich allerdings, auch angesichts dieser Plausibilität nicht zu vergessen: »Mein Aktvollzug und mein vollziehendes Ich ist vergangen, und doch ich bin nicht vergangen, ich bin noch«. (Ebd.) Das Ärgernis dieses immer-schon-und-noch-seienden Ich besteht darin, dass es nicht in gleichem Sinn Dauerndes ist, wie ein Zeitliches dauert, sondern dass es selbst ausdehnungslos ist, ständiges Jetzt im Wandel seiner Vollzüge. Husserls Ausrichtung seiner philosophischen Verfahren an dem Vermögen eines entschlossenen Wissenschaftlers, der Epoché und Reduktion als entschiedene berufsartige Einstellung eines interessiert uninteressierten Betrachters kultiviert, wird es geschuldet sein, dass die existenzielle Struktur dieser Entdeckung stets zu Gunsten ihrer konstitutionstheoretischen Relevanz zurückgestellt wurde. Die Selbsterfahrung phänomenologisch auszuweisen, durch die man sich diesseits seiner stetigen Vollzüge gewahrt, in denen man so fortwährend wie wechselhaft zu seiner Umwelt und sich selbst in Beziehung tritt, ist für Husserl »nicht Sache des Anfangs«. (Hua Mat. VIII, 7) Ihre phänomenologische Rechtfertigung hat er nicht mehr in Angriff genommen. Im Rahmen seiner naiv geübten Methode konnte ihm aber nicht entgehen, dass das »urphänomenale Sein als lebendig strömende Gegenwart […] originaliter bewusst ist, […] ein Feld originaler Gewahrungen«. (Ebd.) Dem entschiedenen, auf Letztbegründung ausgerichteten Philosophen kann die mögliche existenzielle Dimension dieser Einsicht aber nicht relevant werden. Zwar hat sich Husserl schon durch die frühen Ausführungen über seine Methode als »intuitio sine comprehensione« zuweilen selbst »an die Reden der Mystiker erinnert« (Hua II, 62) gefühlt. In den Analysen zur lebendigen Gegenwart zieht er aber nicht in Erwägung, dass die unter Epoché freigelegte Struktur der Ur-Subjektivität jene Einsicht phänomenologischer Einstellung sein könnte, die, wie er in der Krisis schrieb, eine »völlige personale Wandlung zu erwirken berufen ist« (Hua VI, 170 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Die Erfahrung lebendiger Gegenwart – impersonale Subjektivität

140), die zugleich am Ende und am Anfang phänomenologischer Beschreibung stehen muss. Eine solche Wandlung lässt sich nicht sukzessive vollziehen, ihr Vollzug nicht ad libitum beschreiben. Schon der Begriff eines transzendentalen Perspektivwechsels, mit dem weiter oben die intimen Wandlung bestimmt wurde, die mit der Anerkennung lebendiger Gegenwart einhergeht, lässt sich nur unter der Voraussetzung des Widerfahrnischarakters existenzieller Epoché verständlich machen. Für einen fortwährend an einem Ich-Pol orientierten Bewusstseinsbegriff und mit dem philosophischen Selbstverständnis, entschiedener Souverän theoretischer Selbstbetrachtung zu sein, bleibt die impersonale Subjektivität der lebendigen Gegenwart letztlich nur Element der anonymen Sphäre des Bewusstseinslebens, die sich dem VollzugsIch stets als das je nächstliegendste entziehen wird. In diesem Sinne ist Taguchi nur unter einer Einschränkung zuzustimmen, wenn er herausstellt, dass »Husserls evidenztheoretische Feststellung: ›Alles ist für mich‹ […] kein Zeichen eines Solipsismus [ist], demzufolge ich ›triumphierend‹ über allem Seienden stände, sondern […] eine ursprüngliche, ›unumgängliche‹ Offenheit [meint], welche besagt, daß ich allem Erscheinenden in der Weise ›ausgesetzt‹ bin, daß ich dieses Ausgesetztsein überhaupt nicht ›abhalten‹ kann bzw. mich nicht dagegen wehren kann«. (Taguchi 2006, 227) Die fundamentale Offenheit lebendiger Gegenwart konfrontiert nicht mit einer Welt von Erscheinendem, der gegenüber sie in die Haltung einer Abwehr geraten könnte. Lediglich das Vollzugs-Ich und mehr noch seine personale Konkretion können in den Modus der Wehrhaftigkeit geraten. Lebendige Gegenwart ist überhaupt nur unumgängliche Offenheit. Dass die beiläufige Anerkennung einer vorreflexiven Erfahrungsdimension, die hier als impersonale Subjektivität bezeichnet wird, schon bei Husserl nicht nur Ergebnis der self-fulfilling prophecy eines selbstgefälligen Solipsismus ist, lässt sich bereits an den früheren Analysen der ursprünglich-passiven Zeitkonstitution ablesen. Schon dort, wo er von dem »letzten transzendentalen Ereignis, dem endlosen Prozess selbst, der für sich selbst Bewusstsein vom Prozess« (Hua XXXIII, 29) ist, spricht, inszeniert er dieses Ereignis nicht als Genese einer hermetischen Interiorität, sondern als Konstitution von Welt. Die ursprüngliche, vorreflexive Präsenz von Welt, die diesem Ereignis korreliert, ist aber noch nicht der in meinem Belieben liegende zeitliche Horizont meiner Welt, den ich in Grenzen in eine Vergangenheit hineinstauen und auf eine Zukunft hin 171 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung als Probleme des Zeitbewusstseins

öffnen kann, sondern es ist zunächst ein ursprüngliches »Selbst Da« von Welt. 89 Das Feld einer solchen unhintergehbaren Gleichursprünglichkeit von Welt und Bewusstsein wird nun Sartre zum Ausgangspunkt seines frühen phänomenologischen Philosophierens machen und dabei »von einem Nichts an Welt und Bewußtsein ausgehen, um plötzlich als-Bewußtsein-in-die-Welt-zu-zerbersten« (Intent. 35). Das Bewusstsein, das sich dabei Raum schlägt, wird er zunächst als ein transparentes und in seiner Transparenz unpersönliches Bewusstsein bestimmen, das das konkrete Ich, das Ego, nur hervorbringt, um seine »monströse Spontaneität« (TE, 87) vor sich selbst zu verbergen. Sartres phänomenologischer Ansatz wird nicht nur der existenziellen Epoché und dem Begriff eines vorreflexiven und impersonalen Bewusstseins weiter Kontur verleihen. Es wird sich auch verfolgen lassen, wie Sartre seine frühen phänomenologischen Beschreibungen in eine phänomenologische Ontologie und die Intuition eines spontanen unpersönlichen Bewusstseins in die widersprüchliche Konzeption eines präreflexiven Cogito verkehrt.

Vgl. Grohmann (2013), 120–123. Auch eine andere Kritik Henrichs an der Phänomenologie kann demnach eher als Korrektiv denn als Kritik gelesen werden. »So kann die Phänomenologie nicht im Recht sein, wenn sie meint, Vorformen des selbstbewussten Lebens zu reiner Gegebenheit bringen und in ihr beschreiben zu können. Wenn es auch diese Vorformen gibt, so sind sie doch durch das Grundverhältnis unwiederbringlich abgelöst. Unser Leben ist in sich selbst transzendental verfasst.« (Henrich 1982, 110) Nicht nur werden wir diese methodologische Kritik bei Merleau-Ponty explizit antreffen, auch Husserls stetig neu beginnendes und unabschließbares Philosophieren hat im Zuge seiner Konzeption von lebendiger Gegenwart theoretische Kapazität für die entsprechende Einsicht Henrichs: »Das Subjekt ist gleichursprünglich damit, daß es sich zur Welt verhält, selbst auch ein Einzelnes in ihr und insofern, obgleich strukturgebend für das Grundverhältnis, in es auch einbegriffen.« (Ebd.)

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Kapitel II 3. Spuren impersonaler Subjektivität in der phänomenologischen Philosophie Sartres

In den Ausführungen zu Husserls phänomenologischen Betrachtungen zum Selbstbewusstsein und dessen vorreflexiver Struktur hatte sich ein Ärgernis lebendiger Gegenwart abgezeichnet. Es ergab sich aus der Unverfügbarkeit dieser Bewusstseinsdimension für das verzeitigte, durch jeweilige Akterlebnisse hindurch beschäftigte Ich. Die impersonale Subjektivität dieser Ur-Gegenwart konnte von den reflexiven Anstrengungen des personalen Systems »Ich kann« nur als anonymer Hintergrund seines natürlichen menschlich-personalen Daseins erhascht werden. In der Sartre’schen Philosophie wird sich eine Variation dieses Ärgernisses ausweisen lassen, die Gelegenheit gibt, die existenzielle Hinsicht der dadurch angezeigten Problematik zu erörtern. Zum einen findet sich beim frühen Sartre in Die Transzendenz des Ego eine phänomenologische Analyse des innigen Verhältnisses impersonalen Bewusstseins zum personalen Ego, in der die Struktur des Ärgernisses klarer wird. Zum anderen lässt sich verfolgen, wie der dort an phänomenologischer Selbsterfahrung gewonnene Begriff vorreflexiven Selbstbewusstseins in Das Sein und das Nichts in eine phänomenologische Ontologie und eine daraus schöpfende existenzphilosophische Theorie des Selbstbewusstseins entfaltet wird. In Das Sein und das Nichts wird vorreflexives Selbstbewusstsein in der Form eines »präreflexiven Cogitos« einerseits als konkrete phänomenologische Erfahrung ausgewiesen, andererseits als fundamentum inconcussum für die ontologische Spekulation in Anspruch genommen. Die entsprechende Theorie des Selbstbewusstseins schwankt dementsprechend zwischen der Anerkennung und Artikulation bewusstseinsphänomenologischer Selbsterfahrung und den philosophischen Konsequenzen für eine Ontologie, die sich unter den Voraussetzungen, die Sartre ihr einschreibt, als dualistisch erweist. Das Ärgernis lebendiger Gegenwart zeigt sich bei Sartre dadurch in anderer theoretischer Gestalt, als es bei Husserl zu verfolgen war. Einerseits weil 173 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Spuren impersonaler Subjektivität

sein frühes Philosophieren im Gegensatz zu demjenigen Husserls bereits explizit von einem Begriff impersonalen Bewusstseins bestimmt ist. Andererseits konfrontieren die späteren phänomenologischen Untersuchungen Sartres, wie sie in Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis und vor allem dem Opus Magnum Das Sein und das Nichts vorliegen, nicht mit dem Oszillieren zwischen der Dokumentation entschiedener Selbsterfahrung und der fortschreitenden Entwicklung einer Konstitutionstheorie des Bewusstseins. Wir sind hier mit geschlossenen, wenn auch nicht abgeschlossenen begrifflichen Entwicklungen konfrontiert, die nicht in gleicher Weise konsequent der Logik des aus Intuition absolut beginnenden und immer wieder neu beginnenden Philosophen folgen, sondern in einem nicht zu unterschätzenden Maße einem spekulativen Denken verpflichtet sind. In der Entwicklung dieses Denkens werden Sartre seine frühen phänomenologischen Einsichten in die impersonalen Strukturen des Bewusstseinslebens zunehmend fragwürdig. Aus der Korrektur, die er innerhalb seiner phänomenologischen Ontologie an den zuvor gewonnenen bewusstseinsphänomenologischen Differenzierungen vornimmt, ergibt sich eine Theorie von Selbstbewusstsein, die das menschliche Selbst nur noch als fragmentiertes Bewusstsein zu fassen bekommt, das stets vor sich selbst auf der Flucht ist. An dieser Entwicklung lassen sich so aufschlussreiche Einblicke in den prekären phänomenologischen Status impersonaler Subjektivität gewinnen.

3.1 Impersonales Bewusstsein beim frühen Sartre Sartres Frühschrift Die Transzendenz des Ego stellt den wohl einflussreichsten Vorschlag dessen dar, was Gurwitsch an prominenter Stelle als »Non-Egological Conception of Consciousness« (Gurwitsch, 1941) bezeichnet hat. In dem Maße, wie Sartre das empirisch-psychische Ego zu einem dem Bewusstsein transzendenten Gegenstand erklärt und zugleich die Vorstellung eines transzendentalen Ich aufgibt, ergibt sich aus den Untersuchungen in Die Transzendenz des Ego die Konsequenz, »daß das transzendentale Feld unpersönlich wird oder, wenn man lieber will, ›präpersonell‹, es ist ohne Ich […]«, sowie die Aussicht, »daß es erlaubt sein wird, sich zu fragen, […] ob man sich nicht absolut unpersönliche Bewußtseine vorstellen kann«. (TE, 43) Auch wenn Sartre in seiner ersten Schrift mit der Vorstellung absolut unpersönlicher Bewusstseine mehr als nur liebäugelt und 174 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Impersonales Bewusstsein beim frühen Sartre

entlang dieser leitenden Intuition zu bemerkenswerten Differenzierungen gelangt, wird er seine Überlegungen in Das Sein und das Nichts sowie in Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis dahingehend korrigieren, dass aus der Tatsache, dass das Ego dem Bewusstsein als transzendenter Gegenstand gilt, nicht folge, dass »das Für-sich schlicht und einfach eine ›unpersönliche‹ Kontemplation ist. Bloß das Ego ist keineswegs der personalisierende Pol eines Bewußtseins, das ohne es im unpersönlichen Stadium bliebe, sondern im Gegenteil, das Bewußtsein in seiner fundamentalen Selbstheit ermöglicht unter gewissen Bedingungen die Erscheinung des Ego als das transzendente Phänomen dieser Selbstheit.« (SN, 212) 1 Mit Zahavi können wir hier eine Differenzierung von »ego and self« (Zahavi 2008, 115) angesprochen sehen. Die spannungsvolle Konzeption von Subjektivität, die sich durch diese fortschreitende Differenzierung ergibt, gilt es im Folgenden zu untersuchen. Dafür sind zunächst die philosophischen Entscheidungen und Unterscheidungen zu rekonstruieren, die Sartre in seiner ersten Schrift zu der These führen: »[D]as transzendentale Bewußtsein ist eine unpersönliche Spontaneität«. (TE, 86) Den im Zuge der Entfaltung dieser These gewonnenen Begriff eines dem Bewusstsein transzendenten Egos wird Sartre auch in der phänomenologischen Ontologie in Das Sein und das Nichts beibehalten und auf eigentümliche Weise von dem Begriff der Personalität trennen. Wird die reflexive Struktur des personalen Selbst in TE zusammen mit dem Ego als eine abkömmliche Gestalt der unpersönlichen Spontaneität des Bewusstseins bestimmt, so holt Sartre innerhalb seiner ontologischen Bemühungen Personalität und mit ihr eine Geste der Reflexion zurück in das Bewusstsein. Personalität ist dann näherhin Ausdruck jener Struktur des Bewusstseins, die Sartre Selbstheit nennt. Eine Struktur, die ihren Grund in einer »Anwesenheit bei sich« hat, durch die ein »nicht spürbarer Riß« (SN, 170) in das Sein des Bewusstseins einzieht. Dieser Riss ermöglicht für Sartre den entschiedenen reflexiven Selbstbezug personaler Wirklichkeit und die zeitliche Entfaltung des Bewusstseins. Dadurch kann Sartre zwar die dualistische Spekulation

1 In Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis wird es heißen: »Ein ›Ego‹ als Bewohner des Bewußtseins ist etwas Undurchsichtiges im Bewußtsein; tatsächlich ist das Bewußtsein, wenn es auf der Ebene des Unmittelbaren und der Nicht-Reflexivität kein Ego hat, deshalb nicht weniger persönlich. Es ist persönlich, weil es trotz allem Verweis auf sich selbst ist.« (SuS, 288)

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seiner Ontologie in Bewegung halten. Das bewusstseinsphänomenologische Erbe vorreflexiven Selbstbewusstseins und Sartres Redlichkeit, die Prägnanz der entsprechenden Erfahrung gelten zu lassen, konfrontieren seine Ontologie allerdings mit einem Bewusstseinsbegriff, der weder mit dem Begriff eines fragmentierten und flüchtigen noch mit dem Begriff eines bloß instantanen Bewusstseins vereinbar ist. 2 Sartre sieht zwar ganz richtig, dass das vorreflexive und unpersönliche Bewusstsein nicht einfach der subjektlose Deduktionsgrund ist, als den er es am Ende von Die Transzendenz des Ego gelten lassen will. (Vgl. TE, 92 f.) Es ist lebendige Erfahrung und als solche nicht nur apersonale Abstraktion oder vorbewusste Dumpfheit, sondern genuine Dimension von Subjektivität. Insofern kann die Auflockerung des frühen Bewusstseinsbegriffs durch das Konzept der Selbstheit in Das Sein und das Nichts noch als eine phänomenologische Konsequenz gelten. Die ontologischen Intuitionen gestatten ihm aber nicht, das unpersönliche Bewusstsein als impersonale Subjektivität zu begreifen, sondern lassen es lediglich doch wieder als schwache Form von Personalität und Reflexivität erscheinen. Die an der frühen bewusstseinstheoretisch orientierten Phänomenologie gewonnenen Einsichten und ihre ontologische Artikulation treten bei Sartre deshalb in eine bemerkenswerte Diskrepanz zueinander. Sie zeigt sich gleichermaßen an Inkohärenzen innerhalb der Theorie des impersonalen, vorreflexiven Selbstbewusstseins wie der entsprechenden Theorie personalen, reflexiven Selbstbezugs. Bei der Frage nach personalem Selbstbewusstsein besteht die Inkohärenz, wie zuletzt Brauner nachgewiesen hat, in dem Versäumnis, Personalität konsequent als bewusstseinstranszendent und so als situativ und intersubjektiv bedingt zu verstehen. (Vgl. Brauner 2007, 192) Stattdessen kann die oben schon angeführte nachträgliche Personalisierung des vorreflexiven Selbstbewusstseins in Das Sein und das Nichts zu der Konsequenz verleiten, Personalität als abgeschlossene Interiorität innerhalb des Bewusstseins zu verstehen, und so weder den impersonalen noch den intersubjektiven Dimensionen des Wenn im Folgenden von der impersonalen Dimension des Bewusstseins gesprochen wird, so also mit dem Vorbehalt, dass Sartre diese vorreflexive und egolose Dimension in Das Sein und das Nichts terminologisch gerade als personale Dimension fasst. Gerade die verhaltene Personalisierung des Bewusstseins wird im Rahmen seines ontologischen Projektes allerdings problematisch, weil sie den an den frühen phänomenologischen Erfahrungen gewonnenen Begriff von Bewusstsein konterkariert. 2

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Impersonales Bewusstsein beim frühen Sartre

Bewusstseins Raum zu lassen. Hinsichtlich der Frage nach einem ursprünglichen, vorreflexiven Selbstbewusstsein liegt die Inkohärenz, wie Frank behauptet, »zwischen der Skylla der Reflexions-Theorie und der Charybdis des ›Instantaneismus‹ (wonach Bewußtsein nur prä-reflexiv-unartikulierte ›lebendige Gegenwart‹ ist und nie in der Vergangenheit oder Zukunft existiert)«. (Frank 1991, 589) Letztgenannte Inkohärenz entsteht aus der seinen phänomenologischen Beschreibungen entnommenen Auffassung, dass die Seinsweise von Bewusstsein durch eine unmittelbare, impersonale und präreflexive Erfahrung verbürgt ist, und den ontologischen Intuitionen, die ihn dazu bringen, diesem Bewusstsein »einen nicht spürbaren Riß« (SN, 170) einzuschreiben, der die vermeintlich differenzlose Einheit des Bewusstseins entzweit und ihm so reflexiven Selbstbezug ermöglicht und erlaubt sich in eine Vergangenheit hinein zu stauen und auf eine Zukunft hin zu öffnen. Allerdings wird noch zu zeigen sein, dass Sartre entgegen Franks Diagnose eines einfachen Dilemmas durchaus beiläufig einen Begriff vorreflexiven Bewusstseins anerkennt, der nicht den exaltierten Präsentatismus eines unzeitlichen oder den vulgären Instantaneismus eines momentanen Bewusstseins meint. Da Sartre die Konzeptionen des lebendig-gegenwärtigen und zeitlich-ekstatischen Selbst nicht als transzendentale und empirische Erfahrungsdimensionen fassen möchte, sondern innerhalb eines reichen Begriffs menschlicher Subjektivität zu vereinen versucht, geraten ihm einige Facetten des phänomenologischen Datum vorreflexiven Bewusstseins aber immer wieder aus dem Blick. So gelingt ihm nicht, konsequent einen Begriff lebendiger Gegenwart zu entwickeln, der nicht eine abstand- und zeitlose Dichte von Bewusstsein, sondern jene fundamentale Offenheit bezeugt, die noch der personalen Ekstase in Vergangenheit und Zukunft das Feld eröffnet. Ausdrücklich sensibel zeigt sich Sartre hingegen angesichts der Reflexionsproblematik. Schon früh lässt er keinen Zweifel, dass Selbstbewusstsein nicht nach Maßgabe des Primats reflexiv vergegenständlichender Erkenntnis verstanden werden kann, weil schon die duale Struktur, die der Erkenntnisvorgang impliziert, den unabweisbar einheitlichen Vollzug bewussten Erlebens unerklärlich lassen muss. Selbstbewusstsein erweist sich daher als Seinsweise des Bewusstseins, nicht als dessen reflexive Leistung. Noch zu Beginn der Ausführungen in Das Sein und das Nichts kann Sartre das vorreflexive Selbstbewusstsein deshalb als ein nicht-substanzielles Absolutum bestimmen. 177 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Spuren impersonaler Subjektivität

»Aber gerade weil es sich um ein Absolutes an Existenz und nicht an Erkenntnis handelt, entgeht es jenem berühmten Einwand, ein erkanntes Absolutes sei kein Absolutes mehr, weil es relativ zu der Erkenntnis wird, die man von ihm gewinnt. Tatsächlich ist hier das Absolute nicht das Ergebnis einer logischen Konstruktion auf dem Gebiet der Erkenntnis, sondern Subjekt der konkretesten Erfahrung. Und es ist keineswegs relativ zu dieser Erfahrung, denn es ist diese Erfahrung.« (SN, 27)

Im Zuge der Entfaltung seiner phänomenologischen Ontologie pflanzt Sartre diesem Absoluten dann aber jenen nicht spürbaren Riss ein, der das Subjekt der konkretesten Erfahrung zu einem ekstatischen Selbst zu werden zwingt, das stets in der Welt ist, »selbst dahinten, außer Reichweite, in den Fernen seiner Möglichkeiten«. (SN, 213) Die folgenden Rekonstruktionen der frühen Phänomenologie Sartres verstehen sich als der Versuch, seine Konzeption von Selbstbewusstsein als eine Bestimmung der impersonalen Struktur lebendiger Gegenwart zu verstehen, in der nicht einfach implizit einer Metaphysik der Präsenz das Wort geredet wird, in der vielmehr dem Umstand Rechnung getragen wird, dass auch die impersonale Erfahrungsdimension Gegenwart bewegten Lebens ist. Schon weil Sartre den Begriff vorreflexiven Selbstbewusstseins systematisch an konkrete Erfahrung zurückbindet, zeigt sich, dass dieses Datum nicht einfach Atavismus eines Husserl’schen Verständnisses von Subjektivität ist, sondern ein genuines Element einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins, dessen kohärente Einbindung in seine dualistische Ontologie ihm aber nicht gelingt. Vielmehr entwickelt sich so ein existenziell gewendetes Paradox der Subjektivität. Dieses zeitigt sich durch den Widerstreit zwischen der unmittelbaren impersonalen Gegenwart des präreflexiven Cogito und der durch diese Gegenwart vermittelten personalen Ekstase in eine zeitlich entworfene Welt. Sartre wird dieses Paradox durch die Anerkennung eines »dauernd instabilen Gleichgewicht[s]« (SN, 169) des Subjektes zu zerstreuen suchen. Dieses instabile Gleichgewicht eröffnet die Möglichkeit einer existenziellen Dialektik philosophischer Selbsterkenntnis, deren unerreichbare Synthese Sartre sowohl als notwendiges Motiv menschlicher Existenz als auch als »nutzlose Passion« (SN, 1052) bestimmen wird. Die menschliche Realität ist somit nicht nur wie bei Hegel auf ihrer Stufe skeptizistischen Selbstwiderspruchs, sondern als solches zu einem »unglücklichen Bewußtsein« verdammt. Dieser aussichtslose Pessimismus entfaltet seinen 178 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Ein latenter Dualismus

strukturellen Sinn schließlich in Sartres Theorie der Zeitlichkeit, in deren ontologischer Architektur sich eine »Annihilation der Gegenwart« (Theunissen 1991, 150) aufdrängt, die dem Bewusstsein keine lebendige, nur noch geronnene Ruhe und Einheit zugesteht.

3.2 Ein latenter Dualismus Die Anfänge der Sartre’schen Bewusstseinsphänomenologie erhellen sich für unseren Zusammenhang am ehesten, wenn man sie von den Schlussfolgerungen her versteht, die sich aus diesen frühen Bemühungen für ihn ergeben. Eine dieser Schlussfolgerungen ist der Abweis des Solipsismusvorwurfes, den die Verbannung des transzendentalen Ich aus dem Bewusstsein möglich macht. Husserls, in der Lesart Sartres und seiner Zeitgenossen, ausnahmslos idealistisch verstandenes Beharren auf einem einigenden bzw. sammelnden Prinzip des Bewusstseinslebens, das durch Verfahren der Introspektion, der Verinnerlichung, des Rückzugs freigelegt wird, lässt bekanntlich die Frage virulent werden, wie dieses entrückte transzendentale Ich jemals in die Welt finden und in ihr »die reale Existenz anderer Ichs […] akzeptieren« (TE, 90) kann. Dieser Gefahr will Sartre dadurch entgehen, dass er »aus dem ICH ein uneingeschränkt zugleich mit der Welt Existierendes macht, dessen Existenz die gleichen Wesensmerkmale wie die Welt hat«. (TE, 91) 3 Zu diesen Wesensmerkmalen gehöre, Objekt zu sein »für das absolut unpersönliche Bewusstsein, durch das sie sich [Ego und Welt, m. H.] verbunden finden«. (TE, 91 f.) Seine an anderer Stelle artikulierte und das ganz frühe Werk durchziehende Überzeugung, dass es ein ontologisches Gesetz sei, »daß es nur zwei Existenztypen gibt: Existenz als Ding der Welt und Existenz als Bewusstsein« (Imag, 211), findet hier nicht nur Widerhall, sondern wird durch die entschiedene Auffassung ergänzt, dass das Ich nicht »formal oder material im Bewusstsein« verortet zu werden braucht: es ist vielmehr

Das ICH (Moi), von dem Sartre hier spricht, ist der konkrete, psycho-physische Aspekt des Ego, den Sartre vom Ich (Je), als der abstrakteren Einheit der Handlungen unterscheidet. Sie bilden die beiden zu differenzierenden, nicht aber zu trennenden Seiten des Ego. (TE, 59 und 67) Das Je kann in seiner Funktionalität am ehesten mit dem »transzendentalen Ich« Husserls verwechselt werden, ist aber, als Moment des Ego, ebenfalls transzendentes Objekt, nicht reelle Struktur von Bewusstsein.

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»außerhalb, in der Welt; es ist ein Sein der Welt, wie das Ego anderer«. (TE, 39) 4 Welche Merkmale Welt und Ego im Rahmen des angezeigten Dualismus teilen, ergibt sich zunächst negativ aus der doppelten Bestimmung des Bewusstseins als 1. »Bewusstsein von sich [conscience de soi]«, in dem »alles klar und luzide« ist (TE, 45) und für das »Sein und Erkennen […] ein und dasselbe sind« (TE, 76), dass 2. aber nur von sich Bewusstsein gewinnt, »insofern es Bewußtsein von einem transzendenten Objekt ist«. (TE, 45 f.) Diese doppelte Bestimmung des Bewusstseins als zugleich selbstdurchsichtig und intentional verhindert sogleich eine vulgär-dualistische Auffassung, die versucht, das absolut unpersönliche Bewusstsein als eine Welt und Ego vis-àvis entgegengesetzte Instanz zu verstehen, und somit einfach einen Solipsismus höherer Ordnung zu erzeugen. Es handelt sich vielmehr um eine wechselseitige Bestimmung, die sicherstellen soll, dass Bewusstsein und Welt als gleichursprünglich zu gelten haben. Ego und Welt teilen als Objekte lediglich eine »charakteristische Opazität« (TE, 46), d. h., dass ihnen die Luzidität eines Bewusstseins mangelt, das für Sartre nicht nur »erste Bedingung und absolute Quelle für Existenz« (TE, 92) ist, sondern für das nach Maßgabe seiner intentionalen Struktur die Notwendigkeit besteht, »als Bewußtsein von etwas anderem als von sich zu existieren«. (Ebd.) Als Ausgangspunkt seines phänomenologischen Programms kennzeichnet Sartre darum die Dringlichkeit »von einem Nichts an Welt und Bewußtsein auszugehen, um plötzlich in als-Bewußtsein-in-die-Welt-zu-zerbersten«. (Intent., 35) Die Gleichursprünglichkeit von Welt und Bewusstsein kann aber nicht über den Dualismus hinwegtäuschen, der nicht Realismus und nicht Idealismus sein will. Bevor die phänomenologische Ontologie in Das Sein und das Nichts diesen Dualismus zementiert, rückt in den noch entschieden bewusstseinstheoretisch ausgerichteten phänomenologischen Beschreibungen in TE aber das absolut unpersönliche Bewusstsein selbst in den Fokus. Um der Be-

Anders als der Husserl der statischen Phänomenologie, dessen leitende Intuition der Gedanke eines polartig sammelnden Egos gewesen ist und dessen Vorstellung von einem reinen Bewusstsein dementsprechend die eines schwerfälligen, von aufmerksamen Blickstrahlen konstituierten Bewusstseins war, ist die leitende Intuition Sartres die eines klaren, luziden, transparenten Bewusstseins (vgl. SuS, 46), dem gegenüber die transzendenten Gegenstände, zu denen auch das menschliche Ego zu rechnen ist, als opak, schwer und undurchsichtig charakterisiert werden.

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ziehung des unpersönlichen »transzendentalen Feldes« (TE, 43) zum Ego im Folgenden Rechnung tragen zu können, sind zunächst einige der Entscheidungen und Unterscheidungen der frühen Bewusstseinstheorie zu skizzieren.

3.3 Erste Entscheidungen Mit deutlicher Orientierung an den Logischen Untersuchungen Husserls, zielen weite Teile von Die Transzendenz des Ego darauf ab, zu erweisen, dass auch eine Phänomenologie, die sich als Transzendentalphilosophie versteht, weder auf die Präsumtion eines einheitsstiftenden transzendentalen Ichs, noch auf die Vorstellung eines sammelnden Ich-Pols angewiesen ist. Als eine formale Struktur von Bewusstsein ist das transzendentale Ich (Je) eine nicht nur »überflüssige«, sondern zudem »schädliche« (TE, 45) Annahme. Bezugnehmend auf die frühen Untersuchungen zum inneren Zeitbewusstsein erklärt Sartre die Überflüssigkeit eines transzendentalen Ich durch die Leistung der Längsintentionalität, »ein Spiel ›transversaler‹ Intentionalitäten« (ebd.), das, wir zeigten es bereits 5, für Husserl die Selbstgegenwart des Bewusstseins realisiert. Aufgrund dieser Selbstgenügsamkeit der intentionalen Verfassung von Bewusstsein, die aus ihm »ein nicht substanzielles Absolutes« (TE, 46) gemacht habe, sei die Annahme eines transzendentalen Ichs überdies insofern schädlich, als es die Leichtigkeit und Durchsichtigkeit des Bewusstseins unterminiere, eine Verfassung, »die aus ihm kraft Inexistenz das absolut Existierende machte«. (TE, 47) Etwas so Träges, wie ein Ich in das Bewusstsein zu holen, es zudem als eine Polinstanz zu bestimmen, beraube das Bewusstsein seiner grundlegenden Seinsweise, unreflektiertes, nicht positionales »Bewußtsein von sich selbst« zu sein. Es brächte, als eine »opake Klinge« (TE, 45), außerdem schon dadurch einen Widerstand in das unreflektierte Bewusstsein, als es sich so nicht mehr erschöpfend auf einen intentionalen Gegenstand beziehen würde, sondern stets auf eben jenes abstrakte Ich zurückbezogen bliebe. Die einheitsstiftende Funktion dieses Ich ist durch die Leistungen des konstituierenden Zeitbewusstseins aber obsolet, sodass es auf der unreflektierten Ebene keines darüber hinausreichenden Prinzips bedarf. 5

Vgl. Kapitel 2. 2. in dieser Arbeit.

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Entsprechend der doppelten Bestimmung des Bewusstseins als selbstdurchsichtig und intentional ist seine Selbstgegenwart aber nur eine Hinsicht seiner Einheit. In dem Maße, wie Sartre die Intentionalität als Selbsttranszendierung des Bewusstseins versteht, bestimmt sich die Einheit dieses Bewusstseins gerade auch von den Objekten her, auf die es sich exhaustiv bezieht. »De facto bin ich also in die Welt der Objekte versenkt, sie sind es, die die Einheit meiner Bewußtseine konstituieren, die sich mit Werten, attraktiven und repulsiven Qualitäten präsentieren.« (TE, 51) 6 Hier sehen wir nicht nur die realistische Widerständigkeit, die Sartre den transzendenten Objekten lassen will, sondern auch die dialektische Spannung, die dem einheitlichen Bewusstsein eingeschrieben ist. Die unmittelbare, vorreflexive Selbstgegenwart des intentionalen Bewusstseins realisiert sich überhaupt in Form einer gegenständlichen Beziehung, seine »nicht positionale« (TE, 46) Selbstgegebenheit ist aber zugleich Bedingung jeder Intentionalität. Die unmittelbare Einheit des Bewusstseins mit sich selbst soll also keine hermetische Einheit sein, von der zu klären wäre, wie sie eine Beziehung zur Welt zustande bringen kann; sie ist überhaupt nur als intentionale denkbar und daher immer schon bei der Welt. Von dieser basalen, vorreflexiven Einheit des »transzendentalen Feldes« (TE, 43) ist die Einheit zu unterscheiden, die wir in unserem reflexiv-personalen, psychischen und psychisch-physischen Erleben finden. Gegenüber der »immanente[n] Einheit«, d. h. »der sich selbst als Einheit seiner selbst konstituierende Fluß des Bewußtseins«, finden wir »eine transzendente Einheit: die Zustände und Handlungen«. (TE, 59) Dabei lassen sich erneut das Ich (Je) als die Einheit der Handlungen und das ICH (Moi) als Einheit der Zustände und Qualitäten unterscheiden. Was Sartre Ego nennt, ist wiederum Einheit dieser beiden Momente, von denen wir gleich mehr erfahren. Aber es ist eben »eine noematische und keine noetische Einheit« (TE, 79), ein konstituiertes, transzendentes Objekt, dass wie »jede Transzendenz unter die ἐποχή fallen muß«. (TE, 52) Aus der Epoché heraus lassen sich sodann in Grenzen die verschiedenen Verhältnisse betrachten, in denen Sartre verwendet den Begriff Bewusstsein (conscience) recht sorglos. Er meint in TE »zugleich das ganze Bewusstsein, die Monade und jedes Moment dieses Bewusstseins«. (TE, 40 f.) In seiner Pluralform meint es in der Regel Bewusstseinserlebnisse, Akte.

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Ego und unpersönliches Bewusstsein zueinander stehen können. Das Ego wird sich dabei als eine schwankende Gestalt erweisen, als eine letztlich »irrationale Synthese aus Aktivität und Passivität«, »Interiorität und Transzendenz«. (TE, 75 f.) Diese Bestimmung wird das unpersönliche Bewusstsein und die Mühe um einen latenten Dualismus in einem anderen Licht erscheinen lassen. Denn Bewusstsein zeigt sich gegenüber dem Ego nun in einer ursprünglichen Spontaneität als »causa sui« (TE, 75), der gegenüber sich nicht nur die spontanen Vollzüge personaler Subjektivität als abkömmliche, »degradierte BastardSpontaneität« (TE, 74) ankündigen, sondern von der aus auch rätselhaft wird, wie die beschworene Gleichursprünglicheit zur Welt eigentlich aussehen soll. Denn das unpersönliche Bewusstsein muss sich nicht nur als »eine erste Bedingung«, sondern auch als »eine absolute Quelle für Existenz« (TE, 92) erweisen. Die Untersuchungen in TE sind also durchaus einem radikalen Transzendentalismus verpflichtet, wie wir ihn in Husserls Ausführungen gefunden haben. Neben den Versuchen, eine nicht-egologische Konzeption transzendentalen Bewusstseins zu skizzieren, tauchen in TE aber bereits konkrete, längst existenzphilosophischen Intuitionen verpflichtete Überlegungen auf, die die Grundkonzeption von Subjektivität in der späteren dualistischen Ontologie vorbereiten. Hier wie dort unterscheidet Sartre zwei grundlegende Ebenen des Bewusstseins, eine vorreflexive, nicht-setzende und ichlose Ebene ersten Grades und eine reflexive, setzende Ebene zweiten Grades, auf der sich ein explizites Ich-Bewusstsein konstituiert. Sehen wir von den uns inzwischen geläufigen Problemen einer Reflexionstheorie ab, die mit dem bloßen Postulat solcher Ebenen einsetzt, und erinnern uns des phänomenologischen Anspruchs Sartres, dann ist zu fragen, wie man zu einer solchen Differenzierung gelangen kann. Anders gewendet: Wenn diese Differenzierung des Bewusstseins in zwei Ebenen nicht nur ein fragwürdiger Versuch ist, dem Regress-Problem einer Reflexionstheorie zu entgehen, dann muss es sich auch bei dem Bewusstsein ersten Grades um einen intuitiv zu erfassenden Bereich handeln. Diese Anschaulichkeit der ichlosen Bewusstseinsebene leistet für Sartre bereits eine Form unreflektierter Vergegenwärtigung, eine sog. »nicht-thetische Erinnerung«. (TE, 49) 7 Sartre zufolge genügt es hierzu, uns eine Situation wachzurufen, in der wir In Husserl’scher Terminologie entspräche dies somit nicht einer originären Anschauung, wie wir sie in dem Selbstgewahren der Spätschriften angezeigt fanden (vgl.

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»in die Objekte der Welt versenkt« (TE, 51), mithin nicht explizit selbstbewusst waren. »Wenn ich einer Straßenbahn nachlaufe, wenn ich auf die Uhr schaue, wenn ich mich in die Betrachtung eines Porträts vertiefe, gibt es kein Ich.« (Ebd.)

Neben dem berühmten Zigarettenzählen aus der Einleitung zu Das Sein und das Nichts ist Sartres Paradebeispiel für ein solches Versenkt-Sein die Lektüre eines Buches. Zur Bestätigung seiner These der Ichlosigkeit des nicht-reflexiven Bewusstseins rekurriert er nachdrücklich »auf die konkrete Erfahrung« (TE, 49), also die Vergegenwärtigung der Umstände und des Inhaltes einer entsprechenden Lektüre. Im Vollzug einer solchen Erinnerung beleben wir nicht nur die Details der Situation, sondern ebenso die épaisseur des unreflektierten Bewusstseins, seine Tiefe oder Dichte. Die Sensibilität, die Sartre hier dem Selbsterleben abverlangt, soll also einerseits die nicht-originäre Setzung der Objekte leisten, andererseits soll sie das unreflektierte Bewusstsein, durch das diese Objekte erlebt wurden, beiläufig mit-reproduzieren. »Dieses Bewußtsein darf ich nicht als Objekt meiner Reflexion setzen, sondern ich muß im Gegenteil meine Aufmerksamkeit auf die wieder erweckten Objekte richten, ohne es jedoch aus den Augen zu verlieren, indem ich zu ihm eine Art Komplizenschaft behalte und seinen Inhalt in nicht-positionaler Weise inventarisiere.« (TE, 50)

Die Komplizenschaft, die Sartre hier einfordert, verweist bereits auf einen genuin phänomenologischen Aspekt seines Verständnisses von Selbstbewusstsein, auf den wir noch zu sprechen kommen. Ausdrücklich wird er noch in Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis daran festhalten, dass es sich bei dem impersonalen, »nicht-thetischen Bewusstsein« bzw. »präreflexiven Cogito« um eine Erfahrung handelt; und diese »Erfahrung ist nichts anderes als eine Seinsweise« (SuS, 291): »jeder ist es in jedem Augenblick, jeder erfreut sich seiner, wenn man so sagen kann.« (SuS, 287) Für unseren einleitenden Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Sartre dieses vorreflexive Bewusstsein auf der einen Seite als »transzendentales Feld« (TE, 43) anspricht, für dessen anschaulichen Ausweis er auf der anderen Seite aber auf ein Erleben rekurriert, wie es sich in Situationen lebensweltlicher Versenkung zeigt. Damit führt Kapitel 2.71 der vorliegenden Arbeit), sondern einer reproduktiven Anschauung. Vgl. Hua III, 268–273.

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er den Husserl’schen Transzendentalitätsbegriff ad absurdum. Denn dieser ergibt sich in seiner prominenten Bedeutung überhaupt erst als Gegenbegriff zu einer als »natürliche Einstellung« verstandenen Haltung zur Welt, die sich in ihrer prägnantesten Form, gerade in einer »Verlorenheit an die Dinge« zeigt. 8 Diese Verquickung von transzendentaler und lebensweltlicher Sphäre hinsichtlich der Frage nach Subjektivität und Selbstbewusstsein bleibt in TE noch weitestgehend undeutlich. Sie wird an Klarheit gewinnen, wenn wir verfolgen, wie Sartre in SN und SuS versucht, das »transzendentale Feld« in Form eines »präreflexiven Cogito« als konkrete Dimension menschlicher Subjektivität zu installieren. Dadurch wird nicht zuletzt der Eindruck einer paradoxalen Subjektivität vermieden, wie wir sie bei Husserl vorfanden. Diese in TE beginnende Auflösung der paradoxalen Subjektivität eines konstituierenden Bewusstseins bedeutet daber nicht, dass Sartre gänzlich einer phänomenologischen Methode entsagt. Er teilt, wie wir sahen, durchaus die Emphase Husserls, »daß unser psychisches und psychophysisches ICH ein transzendentes Objekt ist, das unter ἐποχή fallen muss«. (TE, 43) Nur kümmert er sich nicht um die langwierigen Anstrengungen der reduktiven Verfahren. Sein früher Fokus auf den Problemkreis des Selbstbewusstseins bringt vielmehr eine leitende Intuition mit sich, die sich bei Husserl erst in den Spätschriften abgezeichnet hat: die impersonale Ebene unseres Bewusstseinslebens ist keine tiefe Schicht eines konstituierenden Bewusstseins, sondern Seinsdimension von Bewusstsein überhaupt. »Das nicht-thetische Bewußtsein erreicht sich selbst, ohne auf das Diskursive und auf Implikationen angewiesen zu sein, denn es ist zwar Bewußtsein, aber man darf es nicht mit Erkenntnis vermengen. Sich selbst erreichen, das ist für sich selbst deutlich sein, aber das ist nichts für sich selbst Nennbares, Ausdrückbares.« (SuS, 287)

Ehe das präreflexive Cogito und die entsprechende ontologische Architektur in Das Sein und das Nichts zur Sprache kommen können, gilt es das Verhältnis dieser Bewusstseinsdimension zum psychophysischen Ego zu klären, wie es Sartre in Die Transzendenz des Ego Schon aufgrund dieses widerständigen Fokus »auf die Sachen selbst«, ihre lebensweltliche und empirische Dimension kann man Brauner sicher zustimmen, wenn er das Sartre’sche Programm entschieden von einer Kantischen Transzendentalphilosophie abhebt. (Vgl. Brauner 2007, 151) Es wäre allerdings vorschnell, wenn man, wie er außerdem nahelegt, darin schon eine Absage Sartres an die Husserl’sche Konzeption von Transzendentalphilosophie sehen wollte.

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entwickelt. Dadurch gewinnen wir ein klareres Verständnis für die eigentümliche Nähe, in der diese Dimension für das personale Ego unverfügbar bleiben muss. Diese Unverfügbarkeit ergibt sich daraus, dass das erkennende Ego zwar selbst nur ephemere Projektion innerhalb des impersonalen Bewusstseins ist, dem natürlichen Erleben nach aber in so unmittelbarer Intimität erscheint, dass sich das natürliche Bewusstseinsleben so entfaltet, »als wenn das Bewußtsein das Ego als eine falsche Vorstellung von sich selbst konstituierte, als wenn es sich ganz an diesem Ego, das es konstituiert, hypnotisierte, darin aufginge«. (TE, 88)

3.4 Das Verhältnis des unpersönlichen Bewusstseins zum Ego 3.4.1 Binnenstruktur des Ego Die bewusstseinstheoretische Phänomenologie, die Sartre in Die Transzendenz des Ego verfolgt, entfaltet sich entlang der titelgebenden Intuition, das menschliche Ego sei nicht immanente Einheit von Bewusstsein, sondern transzendente Einheit der Zustände und Handlungen. Und damit ist schon zu viel gesagt, wie gleich zu zeigen ist. Denn das Ego, »von dem das Ich und das ICH nur zwei Seiten sind« (TE, 59), erscheint eigentlich nur am Horizont der psychischen Zustände und Handlungen und der charakteristischen Dispositionen, die Sartre Qualitäten nennt. Das Ego »ist ein transzendenter Pol synthetischer Einheit […]. Bloß erscheint dieser Pol lediglich in der Welt der Reflexion.« (TE, 60) Die Reflexion ist für Sartre aber nur eine Existenzform des Bewusstseins, auch »das unreflektierte Bewußtsein muß als autonom betrachtet werden«. (TE, 57) Es ist sogar nicht nur autonom, sondern innerhalb der Konstitutionsordnung primordial. Sartre ist deshalb daran gelegen, zu zeigen, dass sich die natürliche Ordnung unseres personalen Erlebens der Phänomenologin anders darbietet: »[W]as realiter primär ist, das sind die Bewußtseine, über die sich die Zustände konstituieren und dann, über diese, das Ego.« (TE, 74) Der phänomenologische Ausweis der Transzendenz des Ego und der Primordialität des unreflektierten Bewusstseins verbürgt sich für Sartre durch die Möglichkeit einer sogenannten reinen Reflexion. In ihrem Vollzug lassen sich die Opazität der Gegenstände gegenüber der Luzidität des Bewusstseins und die Permanenz der Zustände ge186 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Das Verhältnis des unpersönlichen Bewusstseins zum Ego

genüber einer Instantanität des Bewusstseins bestimmen. (Vgl. TE, 61) Auch wenn die radikale Form dieser Reflexion, die die instantane Spontaneität des unreflektierten Bewusstseins selbst freizulegen hätte, »unter den Bedingungen unseres Menschseins, wenigstens extrem selten« (TE, 82) ist, so gibt ihre deskriptive Vorstufe doch genug Spielraum, phänomenologisch zwischen dem Erleben als unpersönlichem, unreflektiertem Bewusstsein und dem Erleben als Ego zu differenzieren. Diese Differenzierung entwickelt Sartre zunächst entlang der Binnendifferenzierung des Ego und der prekären Intimität, mit der sich psychische Zustände, wie Hass, oder innere Handlungen, wie Zweifel, der entschiedenen Selbsterfahrung zeigen. Es zeigt sich, dass das Bewusstsein schon in der Konstitution von Zuständen und Handlungen stets über seine unmittelbare Aktualität hinausweist. Psychische Zustände wie Emotionen übersteigen Sartre zufolge stets die Aktualität unseres bewussten Erlebens. Sie behaupten stets mehr, als die entsprechenden Regungen in einer konkreten Situation präsentieren. Ich kann einer Person gegenüber tiefe Abneigung empfinden und für Sartre ist eine solche Regung Ausdruck eines instantanen, d. h. unreflektierten Bewusstseins. Für die Qualifikation als »Hass« bedarf es hingegegn mehr: »ein Vertrauen in die Vergangenheit und die Zukunft«. (TE, 61) Für Hass bedarf es einer erheblichen Investition in Form einer Anerkennung vergangener Abneigungen und der Antizipation künftiger. Gleichwohl erscheint uns der Hass in Einheit mit dem unmittelbaren Abneigungserlebnis. Er erscheint dennoch »über diese Erfahrung«. (Ebd.) In natürlicher Reflexion, Sartre nennt sie »unrein und komplizenhaft« (TE, 62), erlebe ich über einer aktuellen Abneigung den Hass und übersteige so immer schon das instantane Bewusstsein, indem ich einen transzendenten Gegenstand konstituiere und ihn als Erlebnis gelten lasse. Eine reine Reflexion zeige mir hingegen die Bezweifelbarkeit des Hasses. Sie entwaffne das Bewusstsein, indem sie die aktuelle Regung der Abneigung von dem transzendenten Zustand des Hasses zu unterscheiden erlaube, der eine Permanenz behaupte und eine Trägheit erzeuge, die der Instantanität des Abneigungserlebnisses nicht eigne. Der natürlichen Reflexion unseres psychischen Lebens zeigt sich der Hass als das ursprüngliche Erlebnis. Vor allem unter dem Einfluss unserer Selbstbeschreibungen als psychisch dispositionierte Wesen, »ich bin sehr nachtragend, ich kann stark hassen, ich bin wütend« (TE, 66) – Sartre nennt diese Substrate von Zuständen Qualitäten – erlebe ich eine aktuelle Abneigung in der Regel als »Emanation« des 187 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Hasses, eine »magische Verbindung«, über die Sartre nichts weiter ausführt. (Vgl. TE, 64 f.) Parallel zum Aufweis der Bewusstseinstranszendenz unseres emotionalen Lebens ist Sartre auch bemüht, Handlungen als transzendente Einheiten zu bestimmen. Für Handlungen, die unmittelbar in die Welt der Dinge reichen, wie »Klavier spielen« oder »Autofahren« ist diese Charakterisierung evident. Zur Bestimmung der Transzendenz innerer psychischer Handlungen, wie überlegen, meditieren oder zweifeln, rekurriert Sartre auf die temporale und die mereologische Dimension solcher Handlungen. Sie brauchen einerseits Zeit und differenzieren sich anderseits in diskrete Momente. Den einzelnen artikulierten Momenten einer Handlung korrespondieren in der Tat konkrete aktuelle Bewusstseine. Zu einer einheitlichen Handlung werden diese Momente aber erst durch eine unreine Reflexion, die sie als eine transzendente Einheit erfasst. (Vgl. TE, 65) Dementsprechend lässt sich unterscheiden zwischen einem spontanen Zweifel in Form eines Widerfahrnis, »wenn ich im Halbdunkel ein Objekt bemerke« – dieser Zweifel ist ein Bewusstsein –, und einem Zweifel, als einem Unternehmen. Wenn man sich dieser Ambiguität versichert, enthüllt sich etwa das methodische Ungenügen des Cartesischen »Ich zweifle, also bin ich«. Es nimmt nämlich in Anspruch, als ein spontaner Zweifel »das reflexive Bewusstsein in seiner Instantanität« (TE, 66) zu erfassen. Als eine natürliche Reflexion erreicht es aber lediglich ein transzendentes Objekt und kann damit nicht die basale Bestimmung einlösen, die ihm zukommen soll. Das wird schon dadurch verhindert, dass er »mit der Ambition« antritt, »die Wissenschaft voranzutreiben«. (TE, 82) Durch diesen vorsätzlichen, methodischen Zweifel wird das cartesische Programm zu dem Unternehmen eines Ich, das auch nur erreicht, was es schon gesetzt hat, sich selbst als zweifelndes. Der ambitionierte objektivierende Modus des Cartesischen Zweifels macht ihn zu einer Handlung und damit zu einem transzendenten Objekt des reflexiven Bewusstseins. Das Cogito, das sich in Descartes’ Zweifel zu erkennen gibt, ist für Sartre lediglich self-fulfilling prophecy eines Unternehmens des Zweifels und gerade nicht Ausweis einer ursprünglichen Spontaneität, die Sartre als »transzendentale Sphäre« (TE, 85) exklusiv einer Phänomenologie überantwortet. Deren besondere Verfahrensweise darf, wie noch zu zeigen ist, nicht als entschiedene Selbstbesinnung eines Ich verstanden werden, sondern als stets lauernde Möglichkeit unpersönlichen Bewusstseins, sich 188 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Das Verhältnis des unpersönlichen Bewusstseins zum Ego

selbst zu enthüllen. Ein entschiedener reflexiver Zugriff ist stets mit dem Ärgernis konfrontiert, dass gerade sein Vollzug sein Ziel unerreichbar macht. »Ein reflexives Erfassen des spontanen Bewusstseins als nicht-persönliche Spontaneität müßte ohne irgendeine vorhergehende Motivation durchgeführt werden. Das ist de jure immer möglich, bleibt jedoch recht unwahrscheinlich oder, unter den Bedingungen unseres Menschseins, wenigstens extrem selten.« (TE, 82)

Die scheinbare Unerreichbarkeit der nicht-persönlichen Spontaneität ergibt sich aus der intimen Beziehung des unpersönlichen Bewusstseins mit dem Ego. Das unpersönliche Bewusstsein ist dem Ego so nah, wie das Ego dem unpersönlichen Bewusstsein fern ist. Da das Ego überhaupt nur nach Maßgabe seiner Zustände und Handlungen existiert, kann es nicht reflexiv über sie hinausgelangen. Es stellt sich prima facie »als eine über sich geschlossene Interiorität« (TE, 76) dar, die es nicht selbst transzendieren kann. Das Ego bestimmt Sartre darum nicht als einen Subjekt-Pol, zu dem die eben skizzierten transzendenten Einheiten in einer steten Beziehung stünden. Es gilt ihm auch nicht als umfassend vereinigendes oder ursprünglich tragendes Prinzip. Es ist viel mehr eine unbegrenzte Ganzeit, »die unendliche Totalität der Zustände und Handlungen«. (TE, 69) Das Ego ist ein Gestalt-Ich. So, wie die Gestalt eines Vogelschwarmes ihre Elemente nicht qualitativ anreichert, so wird den Zuständen nichts hinzugefügt, wenn ich sie »der konkreten Totalität des ICH einverleibe«. (TE, 71) Gerade diese ephemere Struktur des Ego ist dem natürlichen Erleben notwendigerweise verborgen. In natürlicher Reflexion erlebe ich mich, erlebe ich das Ego als unmittelbaren Ursprung meiner Zustände und Handlungen. Es erscheint uns darum freilich nicht als Gegenstand, sondern »im Gegenteil immer am Horizont der Zustände«. (TE, 70) Einem direkten reflexiven Blick ist das Ego notwendig entzogen. Wir erhaschen es nur beiläufig, wenn wir aktuelle Erlebnisse reflexiv als Ausdruck eines Zustandes erfassen, dann »erscheint hinter dem Zustand das Ich am Horizont. Es wird also immer nur mit einem Seitenblick erfasst.« (TE, 79) Nichtsdestotrotz gilt uns das Ego als Quelle unseres spontanen Lebens. Ein Eindruck, den Sartre als Schein charakterisiert, weil er die unpersönliche Spontaneität von Bewusstsein mit der »Pseudo-Spontaneität« des Ego verwechselt. Wahrhafte Spontaneität »ist das, was 189 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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sie hervorbringt«. (TE, 73) Ihrem Wesen nach wird sie nicht beeinflusst durch das, was sie erzeugt. Sie übersteigt sich nicht selbst, so als wenn ihre Hervorbringungen sie selbst überragten, sie erschöpft sich gewissermaßen in sich selbst. Das Ego hingegen ist seinen Zuständen und Qualitäten gegenüber niemals indifferent. Die Zustände überschreiten das Ego insofern, als ihnen eine bestimmte Autonomie zukommt, wie sie sich etwa in meinem Erstaunen artikulieren kann, dass ICH es war, der in dieser oder jener Situation in einen Zustand des Hasses geriet. Handlungen und Zustände sedimentieren sich andererseits derart, dass sie das Ego qualifizieren, indem sie ihm charakteristische Qualitäten nahelegen, die seine künftigen spontanen Hervorbringungen prägen und kompromittieren. (Vgl. TE, 75) So wie die emotionalen, volitionalen Zustände und Handlungen erleben wir auch unsere charakteristischen Qualitäten nicht als Elemente, deren bloßes Aggregat das Ego wäre, sondern das Ego gilt uns als das, was die Qualitäten, d. h. unsere idiosynkratischen Dispositionen, »durch eine wahrhafte creatio continua« (TE, 72) aufrecht hält. Diese »bewahrende Spontaneität« des Ego, die es sich vom unpersönlichen Bewusstsein borgen muss, markiert die aktivische Seite seiner synthetischen Form als einer »irrationalen Synthese aus Aktivität und Passivität«. (TE, 75) Für die Bestimmung der Passivität des Ego bedarf es des Nachdrucks auf seinen Status als eines konstituierten Objektes und der Anerkennung der gegenüber dem Ego ursprünglicheren Spontaneität des unpersönlichen Bewusstseins. Das passivische Element des Ego ergibt sich für Sartre aus dessen nur phänomenologisch ausweisbarem Status als einer abkömmlichen Spontaneität. Nur vermöge dieser degradierten Spontaneität und seines Objektcharakters kann das Ego überhaupt den prägenden Rückstoß dessen erleiden, was es im Rahmen natürlicher Reflexion hervorzubringen scheint, seine Zustände und Handlungen. Die reine Reflexion hatte stattdessen das Ego selbst als durch Zustände, Handlungen und Qualitäten konstituierte Gestalt offengelegt und nicht wie die natürliche Reflexion als deren Quelle gelten lassen. Für Sartre bezeugt diese Einsicht in die Struktur des Ego die Verfassung eines unpersönlichen Bewusstseins, das das Ego hervorbringt, um vor sich selbst zu fliehen. »Da aber die Reihenfolge durch ein Bewußtseins umgekehrt wird, das sich in der Welt gefangenhält, um vor sich selbst zu fliehen, sind die Bewußtseine als etwas gegeben, was aus den Zuständen hervorgeht [émanant], und die Zustände als etwas, was durch das Ego produziert wird. Daraus folgt,

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Das Verhältnis des unpersönlichen Bewusstseins zum Ego

daß das Bewußtsein seine eigene Spontaneität in das Ego-Objekt projiziert, um ihm schöpferische Macht zu verleihen […].« (TE, 74)

Durch die Intimität dieser Projektion wird nicht nur das Verhältnis des unpersönlichen Bewusstseins zum Ego näher bestimmt, sondern auch die Hürde angezeigt, die die so natürliche wie ephemere Struktur des Ego dem phänomenologischen Philosophieren in den Weg stellt.

3.4.2 Projektion und Hypnose Der äußeren Beobachtung wie auch der natürlichen Introspektion, wie sie Sartre u. a. als Methoden der Psychologie kennzeichnet (vgl. TE, 85), zeigt sich das menschliche Bewusstseinsleben als die spontane Produktion eines souveränen Ego. Da sich aber schon einem zweiten aufmerksamen Blick Leerstellen dieser personalen Souveränität aufdrängen – ich kenne meine Gedanken nicht, bevor ich sie denke, und weiß auch nicht, was mein nächster Gedanke oder mein nächstes Gefühl sein wird –, hat man angenommen, »daß die spontanen Bewußtseine vom Unbewußten ausgingen, wo sie bereits existierten […]«. (TE, 86) Dieser Präexistenz des Unbewussten, die aus seiner Spontaneität gerade eine passive Existenz machte, setzt Sartre die Idee »einer sich selbst produzierenden Spontaneität« (ebd.) entgegen. Und dieser Bereich »absoluter Existenz, das heißt reiner Spontaneität« ist jene »einzig der Phänomenologie zugänglich[e] transzendental[e] Sphäre«. (TE, 85) Wie schon angezeigt wurde, gibt sich dem das psychophysische Ich einklammernden Phänomenologen eben eine andere Ordnung des Bewusstseinslebens zu erkennen. Sobald man Klarheit darüber gewinnt, dass das Ego nicht nur ein durch die Reflexion erfassbares, sondern durch sie konstituiertes Objekt ist, relativiert sich das natürliche Selbstverständnis, demzufolge das Ego seine Zustände hervorbringt, aus denen wiederum unsere Bewusstseinsakte emanieren. Denn »was realiter primär ist, das sind die Bewußtseine, über die sich die Zustände konstituieren und dann, über diese, das Ego«. (TE, 74) Für Sartre ergibt sich von hier aus die Einsicht in die »grundlegende Irrationalität« des Ego-Begriffs, die ihrem Wesen nach der Freudschen Einsicht in die psychische Kränkung des Menschen nicht gänzlich unähnlich sein dürfte. Auch bei Sartre zeichnet sich dadurch ab, das das Ich nicht Herr in seinem eigenen Haus ist. Aus den phänomenologischen Beschreibungen ergibt sich, dass es das 191 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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unpersönliche Bewusstsein ist, das »seine eigene Spontaneität in das Ego-Objekt projiziert, um ihm die schöpferische Macht zu verleihen, die für es absolut notwendig ist«. (TE, 74) Auch wenn Sartre einen eigentümlichen reflexiven Akt annimmt, »der das Bewusstsein diesem selbst als nicht-persönliche Spontaneität erweisen würde« (TE, 81 f.), so ist klar, dass die transzendentale Sphäre nicht selbst als ein gegenständliches Erleben zugänglich gemacht werden kann. Solche Verfahren wie die »nicht-thetische Erinnerung«, die uns einen vertrauten, aber impersonalen Zug unseres Erlebens erahnen lässt, wie auch die Selbstbeschreibungen unter Epoché legen vielmehr nahe, dass die lebensweltliche Notwendigkeit, uns selbst zu einem Objekt zu machen, eine Sphäre unserer Subjektivität verdeckt, die von der Warte des Ego aus nur als ein unverfügbarer und, wie wir noch sehen werden, erschreckender Bereich gelten kann: »Alles geschieht folglich so, als wenn das Bewußtsein das Ego als eine falsche Vorstellung von sich selbst konstituierte, als wenn es sich ganz an diesem Ego, das es konstituiert hat, hypnotisierte, darin aufginge […].« (TE, 88)

Die eigentümliche autonome Motivation des unpersönlichen Bewusstseins, wie sie in den von Sartre attestierten Leistungen der Projektion und Selbsthypnose zum Ausdruck kommt, bezeugt anschaulich die Beziehung von Ego und Bewusstsein, von der Sartre sagt, dass man nur in »magischen Termini« (TE, 65) über sie sprechen könne. Sie zeigt zum einen die grundlegende Abhängigkeit an, die das Ego im Verhältnis zum unpersönlichen Bewusstsein auszeichnet, sie verweist zum anderen auf die Radikalität, mit der Sartre das unpersönliche Bewusstsein als treibende Kraft unseres bewussten Lebens verstanden wissen will. Für Sartre ergibt sich menschliche Existenz demnach nicht aus einem Sumpf sedimentierter Erfahrungen und angeborener Triebe. Als unpersönliche Spontaneität bestimmt sich das Bewusstsein »jeden Augenklick zur Existenz, ohne daß man sich etwas vor ihm denken könnte. So offenbart uns jeder Augenblick unseres bewußten Lebens eine creation ex nihilo. Kein neues Arrangement, sondern eine neue Existenz«. (TE, 86 f.) 9 Vielleicht ist diese unprätentiöse Spontanität impersonalen Bewusstseins auch die Voraussetzung für die »schwärmerische Plötzlichkeit«, die Nietzsche den vornehmen Naturen zuspricht: »Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es

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Diese unbedingte Spontaneität des Bewusstseins wird durch die Konstitution des Ego gewissermaßen gebändigt und in dem Maße, wie seine unaffizierbare Aktivität in das Ego-Objekt projiziert ist, degradiert sie sich zu einer »repräsentierte[n] und hypostasierte[n] Spontaneität«. (TE, 74) Vermöge dieser degradierten, auf dem Weg von ihrem Ursprung schon geschwächten Spontaneität, gewinnt das Ego zugleich seine Trägheit und Passivität, die es ihm überhaupt erst erlaubt, von jenen Zuständen und Qualitäten affiziert zu werden, die es hervorzubringen scheint. Denn »[j]eder neue, vom Ego hervorgebrachte Zustand färbt und nuanciert das Ego in dem Moment, in dem das Ego ihn hervorbringt«. (TE, 75) Das Ego ist für Sartre aber nicht nur irrationale Synthese aus Aktivität und Passivität, sondern gleichermaßen Synthese aus Interiorität und Transzendenz. Die Selbsthypnose des Bewusstseins ist so umfassend, dass sich das Ego dem Bewusstsein nicht als der transzendente Gegenstand darbietet, der es ist. Es erscheint vielmehr selbst in einer Intimität, die die reflexiven Versuche, ihm auf den Grund zu gehen oder es als Ganzes zu erfassen, stets zerstreuen.

3.4.3 Intimität und Interiorität Wir beginnen das Unternehmen philosophischer Selbstbesinnung als Gewordene. Als psycho-physische Einheiten mit dem soliden Selbstverständnis, in einem entscheidenden Sinne das zu sein, was Sartre als Ego zu bestimmen sucht. Hierin liegt für Sartre ein durchaus phänomenologisches Argument, das cartesianische Cogito nicht als ersten Grund des menschlichen Bewusstseinslebens anzuerkennen: »Mit einem Wort, das Cogito ist unrein; zweifellos ist es ein spontanes Bewußtsein, das jedoch synthetisch mit Zustands- und Handlungsbewußtseinen verbunden bleibt.« (TE, 82) Sartre hält es zwar prinzipiell für möglich, das unpersönliche Bewusstsein durch eine Reflexion zu erfassen, die »ohne irgendeine vorhergehende Motivation durchgeführt werden« (ebd.) müsste.

v e r g i f t e t darum nicht«. Nietzsche (2013b), 29. Am Beispiel Mirabeaus, der »kein Gedächtnis für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm beging, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er – vergass« (ebd.), zeigt sich die Spontanität des unvergifteten Bewusstsein im beiläufigen Scheitern, Nachtragender zu sein.

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Dennoch verhandelt er die phänomenologischen Beschreibungen in TE nicht mit der Konzession desjenigen, der diese Reflexion vollzogen hätte. 10 Die Dringlichkeit, ein absolut spontanes, unpersönliches Bewusstsein anzunehmen, ergibt sich für ihn vielmehr angesichts der prekären Situation, in der sich das Ego der Introspektion darbietet. Neben einer weiter unten zu erörternden, so erschütternden wie alltäglichen Selbsterfahrung, die uns die Unverfügbarkeit unseres spontanen Bewusstseinslebens quasi aufdrängt, zeigt sich in unserem reflexiven Selbstbezug eine uns schon von Husserl her bekannte Unfähigkeit, den selbstgenügsamen Grund unseres Bewusstseinslebens reflexiv zu erfassen. Auf der einen Seite kennt sich das unpersönliche Bewusstsein »nur als absolute Interiorität« (TE, 46) und wir verstehen, was Sartre meint, wenn er sagt, »daß man die Interioriät lebt (daß man ›innerlich existiert‹)«. (TE, 76) Diese Innerlichkeit wird andererseits vom Ego okkupiert; sie zeigt sich dem reflektierenden Bewusstsein, das sich – in Selbsthypnose – als Ego konstituiert, daher nur als eine »degradierte Projektion der Interiorität«. (TE, 77) Das Ego bietet sich dem Bewusstsein somit einerseits als intim dar, d. h.: »Alles geschieht so, als wenn das Ego Bewußtsein wäre […].« (Ebd.) Hierin liegt die Interioriät des Ego. Andererseits zeichnet das Ego gerade aus, dass es nicht selbstursprünglich, spontan und transluzide ist, sondern in der Reflexion stets zum Objekt beschwert wird und daher relativ zum Bewusstsein als eine Opazität erscheint. Hierin liegt seine Transzendenz. Durch seine synthetische Verfassung verführt das Ego, das ja nur »für sich und nicht für das Bewußtsein innerlich« (TE, 76) ist, dazu, sich der eigenen Innerlichkeit reflexiv zu versichern. »Aber die Interiorität sich gegenüber setzen heißt zwangsläufig sie zum Objekt beschweren.« (Ebd.) Der durch das Ego motivierte Versuch, der Interioritiät des eigenen Erlebens habhaft zu werden, muss Sartre zufolge gerade deshalb scheitern, »weil sie selbst jenseits der Kontemplation als deren Bedingung wäre«. (Ebd.) Mit seinem späteren Nachdruck darauf, dass die Existenz des präreflexiven Selbstbewusstseins kein Problem darstelle, weil es jeder in jedem Augenblick sei, bezieht sich Sartre ausdrücklich auf Husserls Einsicht, dass es für »reflektiertes

Im Grunde ist er der Meinung, »daß die phänomenologische Reduktion niemals vollkommen ist« (TE, 82) Der Intuition einer prinzipiellen Unvollständigkeit der phänomenologischen Reduktion werden wir bei Merleau-Ponty nachgehen.

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Bewusstsein charakteristisch ist, sich als schon existiert habend, als schon da seiend zu geben«. (SuS, 288) Zwar ist das unreflektierte, unpersönliche Bewusstsein immer schon mit sich bekannt, denn für diese Art Bewusstsein ist »sein und sich erkennen […] dasselbe« (TE, 76). Da sich ihm das Ego aber als eine intime Transzendenz darbietet, erfasst es sich nicht als die unpersönliche Interiorität, die es ist, sondern es erfasst die Opazität des Ego als Ununterschiedenheit. Das heißt, das unpersönliche Bewusstsein lässt die intime Opazität des Ego irrigerweise als die eigentliche Interiorität gelten. Sartre legt hier mithin nahe, dass der entschiedene Versuch, sich der eigenen Bewusstseinsinteriorität reflexiv zu versichern, nur »die von außen gesehene oder, wenn man lieber will, die degradierte Projektion der Interiorität« (ebd.) des Ego erfassen kann. Sartre unterscheidet zwei Formen, in denen diese erlebte Ununterschiedenheit das Bewusstsein täuschen kann. Je nachdem, ob man sich nachträglich, erinnernd oder vorgreifend, erwartend betrachtet, kann diese diffuse, unbestimmte Interiorität einerseits als »primitive Undifferenziertheit aller Qualitäten« (TE, 77) erfahren werden. Oder sie wird andererseits erfasst als »eine reine Form des Seins, die jeder Qualifikation vorangeht«. (Ebd.) In der eigenen Erwartung zeigt sich das Ego ohne Konkretion, als »reine Potenz, die sich in der Berührung mit den Ereignissen präzisieren und versteifen wird«. (Ebd.) Diese unklare Schwebe der Erwartung ist für Sartre offenbar Ausgangspunkt bestimmter spirituell motivierter Erfahrungen, denn er behauptet, dass man »diese Ununterschiedenheit, die den Spezifikationen der natura naturata vorangeht, auch bei dem Gott zahlreicher Mystiker« (ebd.) findet. Man wird Sartre hier vielleicht so zu verstehen haben, dass er glaubt, manch ein Mystiker – er wird vor allem an Eckhart und Llull denken – habe bei dem Versuch, seine an einer »reinen Form des Seins« gewonnene Erfahrung zu artikulieren, vorschnell die diffuse Offenheit, die das Ego als unrealisierte nackte Potenz ausmacht, als natura naturans begriffen. Sartres skizzenhafte Äußerungen in TE lassen diesbezüglich keine klareren Schlüsse zu. Es wird nicht ersichtlich, warum gerade die Erfahrung der Mystiker ein gutes Beispiel für die irrtümliche Identifizierung der egoischen Interiorität mit der unpersönlichen Interiorität des Bewusstseins abgeben sollte und nicht vielmehr als Beispiel für den gelungenen Versuch jener unmotivierten Reflexion gelten könnte, die Sartre unter den Bedingungen des Menschseins so schwierig dünkt. 195 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Als aufschlussreicheres Beispiel für einen philosophischen Versuch, der die degradierte Interiorität des Ego mit der des Bewusstseins verwechselt hat, wählt er Bergsons Theorie des Bewusstseins als eine »Vielheit wechselseitiger Durchdringungen«. (TE, 77) In Das Sein und das Nichts führt er dazu aus: »Was Bergson hier erfaßt, ist das Psychische, nicht das Für-sich verstandene Bewußtsein. Was bedeutet denn ›wechselseitige Durchdringung‹ ? Nicht das prinzipielle Fehlen jeder Teilbarkeit. Denn zur wechselseitigen Durchdringung muß es Teile geben, die sich wechselseitig durchdringen. Doch diese Teile, die prinzipiell in ihre Isolierung zurückfallen müßten, fließen durch eine magische und völlig ungeklärte Kohäsion ineinander […].« (SN, 314 f.)

Diese magische Kohäsion ist für Sartre nicht Ereignis einer personalen, diachronen Identität, sondern eben die unpersönliche Persistenz des Bewusstseins selbst. Ihr kommt man aber nicht auf den Grund, solange man die psychische und transzendentale Sphäre und die ihnen entsprechenden Formen der Spontaneität und Interiorität nicht differenziert. Die Ununterschiedenheit von Bewusstsein und Ego, als die die synthetische Innerlichkeit des Ego erfahren wird, zeigt sich aber nun mal als eine Undifferenziertheit unserer Zustände und Qualitäten; und entgegen unserer Selbsterfahrung als »nackter Potenz« innerhalb unserer Erwartungshorizonte werden unsere vergangenen Handlungen und Ereignisse diesem diffusen Sumpf wechselseitiger Durchdringungen fortschreitend einverleibt und als »primitive Undifferenziertheit aller Qualitäten« (TE, 77) erlebt. Gemäß seiner Gestalt als Synthese aus Interiorität und Transzendenz, mithin als eines intimen Objektes, entzieht sich das Ego somit stets einem direkten Zugriff: Versucht man, dem Ego »auf den Grund« zu gehen, und stößt dabei auf jene undifferenzierte Vielheit wechselseitiger Durchdringungen, so wird man eine Enttäuschung erfahren, wie sie etwa Hume an populärer Stelle artikuliert: »For my part, when I enter most intimately into what i call myself, I always stumble on some particular perception or other, of heat or cold, light or shade, lave or hatred, pain or pleasure. I never can catch myself at any time without a perception, and never can observe any thing but the perception.« (Treatise, 251) 11

Bei dem Versuch, »in sich zu gehen«, zerstreut sich die Gestalt, die wir – beiläufig – als Ego gelten lassen, und wir stoßen lediglich auf ein 11

Zitiert nach Mohr (1988), 44.

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Das Verhältnis des unpersönlichen Bewusstseins zum Ego

verworrenes Durcheinander von akuten und sedimentierten Zuständen und Qualitäten. Innerhalb dieses nebulösen Raumes der Innerlichkeit habe ich stets nur mit Bruchstücken dessen zu tun, was ich sonst am Horizont meiner Zustände als ein Ganzes wähne. Wenn ich der Interiorität des Ego traute, und versuchte, mich »ganz zu kennen«, führte es mich in die Irre, denn es bliebe nur ein ideales, phantomhaftes Aggregat meiner Zustände, Handlungen und Qualitäten. Vertraue ich mich seinem Objektcharakter an und halte mich so an die »einzige Methode, es zu erkennen, […] die Beobachtung, die Einschätzung, die Erwartung, die Erfahrung« (TE, 78), dann verhindert seine Intimität diesen Zugang, denn das Ego ist »zu gegenwärtig, als daß man ihm gegenüber einen wirklich äußeren Standpunkt einnehmen könnte. Wenn man zurückweicht, um Abstand zu gewinnen, begleitet es uns bei diesem Zurückweichen.« (Ebd.) Der Versuch, mein Ego als ganz und gar innerlich zu erfassen, scheitert an seinem transzendenten Charakter; ein entsprechender Versuch, es als Objekt gelten zu lassen und »auf einmal« als Ganzes zu erfassen, scheitert aber an seiner ausnehmend intimen Struktur, die es mit sich bringt, dass sich das Ego doch als eine über sich geschlossene Interiorität darbietet. »Deshalb ist die Intuition des Ego ein ständig enttäuschendes Trugbild, denn sie offenbart zugleich alles und nichts.« (Ebd.) Das Ego als die bloß ideale Einheit aller Zustände und Handlungen gibt sich also als nur beiläufige Persistenz. Es zeigt sich in unserem alltäglichen Oszillieren zwischen unreflektiertem Vollzug und reflexivem Manövrieren, Ordnen und Bewerten unserer Zustände und Handlungen, stets nur »aus dem Augenwinkel« als vertraute Instanz. Einem direkten Blick kann es aber nicht standhalten.

3.4.4 Autophobie und Epoché Schon in Die Transzendenz des Ego begnügt sich Sartre nicht damit, die Beziehung des Ego zum unpersönlichen Bewusstsein, deren Struktur wir in Grundzügen skizziert haben dürften, als eine phänomenologische Bestandsaufnahme gelten zu lassen, die ohne die Präsumtion einer Egologie auskommt. Der mit »Schlussfolgerungen« überschriebene letzte Teil enthält vielmehr ontologische Hypothesen, die als Vorarbeit zu dem großen Entwurf von Das Sein und das Nichts gelten können. Der nachdrücklich bewusstseinstheoretische Ausgangspunkt von TE erlaubt Sartre noch einem verhaltenen Idea197 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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lismus das Wort zu reden, der der Grundüberzeugung einer restlosen Abhängigkeit von Welt und Bewusstsein zwar nicht ohne weiteres einzuverleiben ist, der aber bereits auf die existenzphilosophisch motivierte Ontologie in SN vorausweist. Die Rede von der Projektionsleistung des Bewusstseins und den entsprechenden sekundären, degradierten Formen des Ego hat bereits in die Richtung seiner abschließend formulierten These gedeutet: »Aber vielleicht ist es die wesentliche Rolle des Ego, dem Bewußtsein dessen eigene Spontaneität zu verbergen.« (TE, 88)

Hier zeigen nicht zuletzt die frühen bewusstseinstheoretischen Ausführungen Sartres ihren existenzphilosophischen Zug. Denn die Konstitution des Ego ist in dieser verbergenden Funktion überhaupt erst die Möglichkeitsbedingung für eine sinnvolle Unterscheidung zwischen aktiv und passiv und einer entsprechenden Konzeption von Freiheit, einer Autonomie des Willens usw., begrifflicher Verhältnisse, die auf einer Ebene absoluter Spontaneität keinen Platz haben. »Diese Begriffe haben nur auf einer Ebene Bedeutung, wo sich jede Aktivität als etwas darbietet, was aus einer Passivität hervorgeht, die von ihr transzendiert wird; kurz, auf einer Ebene, wo sich der Mensch zugleich als Subjekt und Objekt betrachtet.« (Ebd.)

Das ist die Ebene, die wir für gewöhnlich als die Ebene der Person anerkennen. Denn als personale Existenz zeichnet sich der Mensch für die existenziell gewendete Philosophie gerade dadurch aus, dass er sich zu sich selbst verhält, das Lebens nicht als reines Subjekt vollzieht, sondern seiner Existenz fragend begegnet. 12 Die condition humaine, die Sartre in seiner ersten Schrift zu entwickeln sucht, erschöpft sich mithin nicht in dem Aufweis der synthetischen Gestalt des Ego, die wir bisher verfolgt haben. Das Ego erweist sich zwar als eine flüchtige Persistenz und bezeugt daIn TE differenziert Sartre noch zwischen einer Bewusstseinsebene, auf der es keine Unterscheidung zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen, zwischen Schein und Sein gibt, und der Ebene, auf der sich das bewegte Leben abspielt, in dem der Mensch sich bewusst zu sich selbst verhält. Nach dem spekulativen Aufwand in Das Sein und das Nichts wird Sartre die existenzialistische Verfassung des Menschen nicht erst in der transzendenten Welt des Ego finden, sondern bereits als eine Struktur des Bewusstseins selbst anerkennen: »der Mensch, sagt er [Heidegger] (wir sagen: das nicht-thetische Bewußtsein), ist ein Sein, dessen Seinsauszeichnung es ist, daß es ihm in seinem Sein um sein Sein geht«. (SuS, 292)

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Das Verhältnis des unpersönlichen Bewusstseins zum Ego

durch die Vergeblichkeit des Versuchs, es selbst als spontane Subjektivität zu erfassen. In natürlicher, komplizenhafter Reflexion erfahren wir uns aber nicht als Einheiten, die an sich selbst fehlgehen, sondern wir leben diese Synthese von Aktivität und Passivität, Interiorität und Transzendenz. Erst der Vollzug phänomenologischer Introspektion motiviert die Anerkennung der Fragilität des menschlichen Ego und sensibilisiert für seine Bedingtheit in der impersonalen Dimension von Bewusstsein. Der Vollzug von Epoché und Reduktion ist unter den Bedingungen des Sartre’schen Verständnisses von Transzendentalität allerdings keine »gelehrte Operation« (TE, 89) mehr. Die eigentümlich vertraute Unverfügbarkeit dieser Dimension muss dem Ego widerfahren – und zwar als die »monströse Spontaneität« (TE, 87) des Bewusstseins selbst. Ihr vermag das Ego nichts entgegenzusetzen. Die eindringlichsten Beispiele sind die vertrauten Widerspenstigkeiten, denen sich das menschliche Bewusstsein angesichts selbstreferentieller Entschiedenheit ausgesetzt sieht: Die Unruhe, die der nachdrückliche Wille zur Ruhe erzeugt, die Schlaflosigkeit, die der dringliche Einschlafwunsch aufrechterhält, und der rosa Elefant, der gerade dann da ist, wenn ich nicht an ihn denken will. Der Wille wird hierbei »durch das Bewußtsein aufrechterhalten und aufbewahrt […], das demjenigen radikal entgegengesetzt ist, das er hervorbringen wollte (wenn ich einschlafen will, bleibe ich wach, wenn ich nicht an dieses oder jenes Ereignis denken will, denke ich gerade deswegen daran)«. (TE 87) Eine Grundverfassung bewusster Existenz kommt für Sartre daher in dem Satz zum Ausdruck: »Das Bewußtsein erschrickt vor seiner eigenen Spontaneität, weil es sie jenseits der Freiheit fühlt.« (87)

Die Unruhe, ja Angst des Bewusstseins vor der Grenzenlosigkeit und Unbeherrschbarkeit der eigenen Spontaneität ist so Motivation für die Konstitution des Ego, dessen Objektcharakter und entsprechende Passivität den Anschein von Verfügbarkeit erzeugt, während die projizierte Spontaneität den Eindruck von Freiheit aufrechterhält. Bewusstsein konstituiert mithin das Ego als eine falsche Vorstellung von sich selbst, um vor seiner unpersönlichen Spontaneität zu fliehen. Vom Ego her kann dieses Bewusstsein somit nicht reflexiv eingeholt werden. Es kann sich aber »plötzlich« selbst auf rein reflexiver Ebene enthüllen. Es widerfährt dann als etwas, »das dem Ego nach allen Seiten entgeht« (TE, 88). Hier, wo es keine Barrieren gibt, die das Bewusstsein vor sich selbst verbergen könnten, überfällt das Be199 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Spuren impersonaler Subjektivität

wusstsein eine »unheilbare Angst« (ebd.). Die Möglichkeit dieses Widerfahrnisses ist für Sartre denn auch Bedingung solcher Selbsterfahrungen, die ihren Ausdruck in psychastenischen Störungen, d. h. Depersonalisierungs- und Angstpsychosen usw. haben. In der Realität solcher Selbstbewusstseinsweisen sieht Sartre einmal mehr ein Argument für die unpersönliche Struktur des Bewusstseins. »Wenn das Ich des Ich denke die erste Struktur des Bewußtseins ist, ist diese Angst unmöglich.« (89)

Wäre das Bewusstsein grundlegend personal verfasst, ließen sich keine Bewusstseinsweisen denken, in denen die spontane Kraft von Bewusstsein dem Ich widerfährt und es übersteigt. Da Widerfahrnisse dieser Art aber stetig lauernde Möglichkeit des Bewusstseinslebens sind, erblickt Sartre in der existenziellen Tendenz des Bewusstseins, vor sich selbst und seiner absoluten Spontaneität zu fliehen, dementsprechend auch »ein permanentes Motiv, die phänomenologische Reduktion durchzuführen«. (Ebd.) In der Konzeption Husserls wie auch Finks zeichnen sich natürliche Einstellung und korrespondierendes Ich durch eine umfassende Selbstsicherheit aus, die den Eindruck entstehen lässt, Einklammerung und Neutralisierung ihrer Geltung könne nur artifizieller und lebensweltlich unmotivierter Akt sein. Demgegenüber erlaubt die Konzeption eines aus existenzieller Angst zur Selbsthypnose neigenden unpersönlichen Bewusstseins, Epoché nicht nur als eine ferne reale Möglichkeit, sondern als ein stetig lauerndes Widerfahrnis zu denken, die Grenzen der Ego-Projektion ins Wanken zu bringen. »Wenn dagegen die ›natürliche Einstellung‹ ganz als eine Bemühung des Bewußtseins erscheint, sich selbst zu entgehen, indem es sich in das ICH projiziert und darin aufgeht, und wenn diese Bemühung niemals vollständig belohnt wird, wenn ein Akt einfacher Reflexion genügt, damit sich die bewußte Spontaneität plötzlich vom Ich losreißt und sich als unabhängig erweist, dann ist die Epoché kein Wunder, keine intellektuelle Methode, kein gelehrtes Verfahren mehr: sie ist eine Angst, die sich uns aufdrängt und der wir nicht ausweichen können; sie ist zugleich ein reines Ereignis transzendentalen Ursprungs und ein in unserem Alltagsleben immer möglicher Vorfall.« (TE, 89 f.)

Wenn zu der Struktur von Bewusstsein die Disposition gehört, die Fassung zu verlieren, in der es das Ego für sich hervorbringt, ist die so oft beschworene Widernatürlichkeit phänomenologischer Epoché zu relativieren. Die Widernatürlichkeit und Anstrengung, die trans200 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Das Verhältnis des unpersönlichen Bewusstseins zum Ego

zendentale Dimension des eigenen Bewusstseins anzuerkennen, ist dann nicht Ausdruck einer artifiziellen Einstellung, vielmehr zeigt sie das existenzielle Gewicht dieser Entdeckung an. Denn es hat in der Tat »für jeden von uns etwas Beängstigendes, so auf frischer Tat diese unermüdliche Schöpfung von Existenz zu ertappen, deren Schöpfer wir nicht sind«. (TE, 87) Eine auch in Das Sein und das Nichts immer wieder herangezogene Konkretisierung findet diese Tendenz des Bewusstseins für Sartre in der Erfahrung eines »Schwindel[s] der Möglichkeiten« (TE, 87), einer Erfahrung, in der »sich das Bewußtsein plötzlich selbst als etwas erscheint, was in seinen Möglichkeiten unendlich das Ich übersteigt, das ihm für gewöhnlich als Einheit dient«. (TE, 88) Hier kündigt sich die Verquickung von transzendentaler und existenzieller Dimension markant an. Die dem Ego unverfügbare Spontaneität von Bewusstsein, die seine transzendentale Dimension bestimmt, zeigt sich nicht nur in einem ominösen Zustand reduktiver Versenkung, sondern als konkretes Widerfahrnis im aktuellen Lebensvollzug des sich entwerfenden Subjektes. Hier fällt auf, mit welcher Selbstverständlichkeit Sartre dem spontanen, unpersönlichen Bewusstsein etwas zuschreibt, das nach dem bisher Gesagten auf den ersten Blick als ein transzendentes Objekt, nämlich als ein »Zustand« anmuten könnte. Die fundamentale Autophobie des Bewusstseins muss aber von anderer Art sein. Sie weist voraus auf die existenzielle Tendenz phänomenologischer Ontologie, die das Das Sein und das Nichts bestimmt. Dort gilt das transzendentale Bewusstsein als präreflexives Bewusstsein als Strukturmoment menschlicher Subjektivität, also der réalité-humaine, wie Heideggers Daseins-Begriff von Sartre im Anschluss an Corbin sicher zu konkretisierend wiedergeben wird. 13 Anstatt aber einen Begriff menschlicher Subjektivität zu entwickeln, der die phänomenologisch ausgewiesene Dimension impersonalen Bewusstseins zu berücksichtigen erlaubt, bringt die Zusammenführung der transzendentalen und empirischen Dimension in einem reichen Begriff menschlicher Realität die Aufgabe der impersonalen Struktur des präreflexiven Bewusstseins mit sich. Das sogenannte präreflexive Cogito wird von Sartre gerade in dem Maße, wie er es Element der réalité-humaine fasst, als »abstrakte, dem intentional-thetischen Bewusstsein zugrundeliegende Stufe 13

Vgl. dazu auch Seel (1971), 90–95 und Lutz-Müller (1976), 47–50.

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Spuren impersonaler Subjektivität

der Präreflexivität verstanden«. (Lutz-Müller 1976, 49) Da, wo der Begriff präreflexiven Bewusstseins von seiner phänomenologisch-anschaulichen Rechtfertigung gelöst wird, lässt Sartre ihn beiläufig, aber in spekulativer Absicht zurück in einen schwachen Begriff personalen Bewusstseins und einer entsprechenden Subjektivität fallen. Wie im Folgenden zu zeigen ist, führt der Versuch, phänomenologische Erfahrung und spekulative Ontologie als eine philosophische Bewegung zu vollziehen, zu Spannungen innerhalb der Konzeption von Selbstbewusstsein. Die Erfahrung, auf die Sartre für die Plausibilisierung seines Begriffs präreflexiven Selbstbewusstseins immer wieder verweist, konterkariert die Bestimmung von Selbstbewusstsein, die innerhalb seines ontologischen Systems maßgeblich werden muss. Die fragmentarische Natur von Bewusstsein, die durch die personale Struktur des präreflexiven Cogito nahegelegt wird, lässt sich nämlich dann nicht von einer Selbsterfahrung herleiten, wenn diese Erfahrung selbst exemplarischer Garant dieser Natur sein soll. Es mag Erfahrung von Fragmentiertem geben, aber in einem strengen Sinne kann es keine fragmentierte Erfahrung geben. Diesem Umstand trägt Sartre schon dadurch Rechnung, dass er Selbstbewusstsein auf der vorreflexiven Ebene nicht als Selbsterkenntnis verstanden wissen will, sondern auf eine Selbsterfahrung rekurriert, die nicht Reflexion, sondern Seinsweise ist. Dieser Erfahrungsbegriff wird von Sartre allerdings nicht entwickelt, vielmehr zugunsten eines zweistelligen Äquivalents aufgelöst, in dem auch noch vorreflexives Selbstbewusstsein etwas ist, wovon ich Erfahrung habe.

3.5 Erfahrung als Seinsweise Die noch deutlich bewusstseinsphilosophisch angelegte phänomenologische Deskription in Die Transzendenz des Ego wird von Sartre in den nachfolgenden Schriften mehr und mehr durch ein »konstruktives Motiv« 14 ergänzt, das das Husserl’sche Programm von Erfahrung und Beschreibung durch eine ontologische Fundierung und eine entsprechende Aufdeckung von Seinsstrukturen anreichern will. Ein Programm, das letztlich die fundamentalontologische Daseinsanalytik Heideggers und den transzendental-philosophischen Begriff der Intentionalität Husserls mit einer von Hegel motivierten Dialek14

Vgl. Hartmann (1983) 32.

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Erfahrung als Seinsweise

tik zu vermitteln sucht. 15 Es ist hier nicht der Ort, diesen methodischen Hintergrund im Einzelnen zu entfalten. Zu den für unseren Zusammenhang entscheidenden Gründen, die Bewusstseinsphilosophie durch eine phänomenologisch motivierte Ontologie hintanzustellen, ist Sartres Einsicht, dass die in cartesischer Tradition stehende phänomenologische Erkenntnistheorie bei dem Versuch, Selbstbewusstsein zu bestimmen, dieses unweigerlich als eine Form von Erkenntnis, als Reflexion, verstanden hat. Gerade an der Frage nach Selbstbewusstsein zeigt sich aber, dass »Bewußtsein und Erkenntnis zwei radikal unterschiedene Phänomene sind«. (SuS, 286) Selbstbewusstsein als reflexive Selbsterkenntnis zu denken, führe – da Erkenntnis die Unterscheidung von Objekt und Subjekt impliziert – entweder in einen Regress, oder zu dem Ergebnis, »daß wir uns in der synthetischen Einheit nicht halten können«. (Sus, 285) Um die Konsequenz von Regress und Selbstfragmentierung zu vermeiden, verweist Sartre auf jenes vorreflexive, nicht-thetische Bewusstsein, das sich stets selbst erreicht, »ohne auf das Diskursive und auf Implikationen angewiesen zu sein, denn es ist zwar Bewußtsein, aber man darf es nicht mit einer Erkenntnis vermengen«. (SuS, 287) Kann man, so fragt Sartre an dieser Stelle, aber nicht einwenden, dass wir nicht auf der Ebene der Erfahrung bleiben? Übersteigen wir unsere Selbsterfahrung, wenn wir unseren philosophischen Ausgang bei einem präreflexiven und nicht reflexiven Cogito nehmen? Sartre verneint entschieden. Das Problem sei nicht, die Existenz des nichtthetischen Bewusstseins zu erweisen, denn »jeder ist es in jedem Augenblick« (SuS, 287). Das Problem bestehe einerseits darin, an der Erfahrung nicht-thetischen Bewußtseins festzuhalten – was geboten sei, »wenn man die Rückkehr zum Unendlichen« (ebd.), d. h. den Reflexionsregress vermeiden will. Andererseits stelle sich das Problem, »wie wir vom nicht-thetischen Selbstbewusstsein, das das Sein des Bewußtseins ist, zur reflexiven Erkenntnis übergehen können«. (Ebd.) Der Versuch, beiden Schwierigkeiten gerecht zu werden, bedingt die Spannungen innerhalb der Konzeption von Selbstbewusstsein, wie sie sich in Das Sein und das Nichts darbieten werden. Denn, wie zu zeigen ist, scheitert die Erklärung reflexiven Selbstbewusstseins aus dem präreflexiven, nicht-thetischen Bewusstsein daran, dass diese Erklärung gerade in Anspruch nehmen muss,

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Siehe dazu Lutz-Müller (1976), 12 f., ferner auch Schüler (2015), 28–43.

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Spuren impersonaler Subjektivität

was die Erfahrung präreflexiven Bewusstseins nicht ausweisen kann, einen Abstand des Bewusstseins zu sich selbst. Bevor dieses Problem Gewicht gewinnt, versucht Sartre der Einsicht in den prinzipiellen Unterschied von Bewusstsein, in dem es keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt gibt, und Erkenntnis, die diese Unterscheidung impliziert, methodisch dadurch Rechnung zu tragen, dass er den Bereich der Erkenntnis verlässt und sich auf das Sein des Bewusstseins einlässt. Im Rahmen dieser ontologisch motivierten Phänomenologie entfaltet sich für Sartre nicht nur ein Verständnis der Transluzidität des Bewusstseins, sondern ebenso ein Begriff präreflexiven Selbstbewusstseins, der dieses nicht als Erkenntnis von Erkenntnis, sondern einerseits als Seinsweise des Bewusstseins (vgl. SuS, 291), andererseits als »Seinsdimension des Subjektes« (SuS, 268) zu verstehen erlauben soll. Die Transluzidität des Bewusstseins ist im Horizont der Sartre’schen Phänomenologie nicht die Selbstdurchsichtigkeit eines cartesianischen Bewusstseins, d. h. eines personalen, volitionalen Subjekts zu verstehen, das sich in intellektualistischer Manier als ein seiner Handlungen und Zustände fortwährend bewusstes Prinzip zeigt. Vielmehr erweist sie sich als Ausdruck für den Widersinn der psychologischen, letztlich realistischen, Auffassung von der Möglichkeit eines unbewussten Bewusstseins. Ein Widersinn, den Husserl schon in den Logischen Untersuchungen auf die Unachtsamkeit hinsichtlich der Ambivalenz des Vorstellungsbegriffes zurückgeführt hatte. Für Sartre stellt sich dieser Umstand so dar, dass es »keinen Inhalt des Bewusstseins« gibt: »[E]s gibt allein und durchgängig Bewusstsein.« (SuS, 288) Das heißt: Es gibt nicht so etwas wie wenig bewusste Vorstellungen, die durch eine Steigerung der Aufmerksamkeit, passive Sättigung oder »in einem immer schnelleren Flimmern sehr bewußt werden«. (SuS, 289) Was hier abgewiesen wird, ist das Bild eines in sich selbst unsteten Bewusstseins, dass auch »nur schwaches Bewusstsein« einer eigentlich satten Vorstellung sein könnte. »Anders gesagt, es gibt Bewußtsein schwacher oder ganzer oder partieller Freuden; aber es gibt kein partielles Bewußtsein von Freuden.« (SuS, 290) 16

Sartres leitende Intuition lässt sich verdeutlichen, wenn man sich Bewusstseinszustände der Benommenheit oder eine etwa durch eine Synkope induzierte »nahende Ohnmacht« vergegenwärtigt. Auch hier gibt es volles Bewusstsein eines mangelnden Fokus oder eines fortschreitenden Verblassens des gewohnten Horizontes. Sartre

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Erfahrung als Seinsweise

Aus diesem Begriff eines stets vollen und transparenten Bewusstseins folgt für Sartre erneut die vertraute Doppelbestimmung des Bewusstseins als selbstbewusst und intentional verfasst. Es gibt keine bewussten Tatsachen, denen Bewusstsein erst noch als Eigenschaft zukommen müsste, noch gibt es Bewusstsein, das erst nachträglich mit einem Inhalt gefärbt würde, »denn ein Bewusstsein, das nicht in sich selbst Bewusstsein von etwas wäre, hätte keinerlei Bedeutung«. (Ebd.) Hier, wo sich das nicht-thetische und präreflexive Bewusstsein intentionaler Gegenstände als dessen Seinsweise zeigt, ergibt sich für Sartre der Übergang zu einer phänomenologischen Ontologie: »Das nicht-thetische Bewußtsein ist keine Erkenntnis. Hier sind wir jetzt auf der ontologischen Ebene. Wir haben die Erkenntnis verlassen, denn sie erschien uns unfähig, sich selbst zu rechtfertigen. Wir haben Rechtfertigungen der Erkenntnis gesucht, die unmittelbar einer Erfahrung zugänglich wären. Die Erfahrung ist nichts anderes als eine Seinsweise.« (SuS 290 f.)

Die Bestimmung von Erfahrung als Seinsweise soll dabei den Charakter der Unmittelbarkeit in zwei Hinsichten betonen. Einerseits meint die Unmittelbarkeit der Erfahrung als Seinsweise, dass es für ihre Aktualität keines weiteren, reflektierenden Bewusstseins bedarf. Andererseits, dass es auf der Ebene des nicht-thetischen Bewusstseins »kein Subjekt hinter dem Bewußtsein oder etwas wie eine Transzendenz in der Immanenz« (SuS; 288) geben muss. Erfahrung als Seinsweise ist nicht Erfahrung für ein Subjekt, das Subjekt ist Erfahrung selbst. 17 Das nicht-thetische Bewusstsein kennzeichnet somit auf der einen Seite die Seinsweise solcher Vollzüge, »die man Vergnügen, Zorn, Schmerz usw. nennt«, auf der anderen Seite soll es zugleich verstehen helfen, dass Selbstbewusstsein »keine auf sich selbst zurückgewandte Erkenntnis ist, sondern die Seinsdimension des Subjektes« (SuS, 268). Während der Begriff der Seinsweise von Sartre in SuS und SN als Ausdruck der ontologisch fundierten phänomenologischen Einsieht hier aber keinen Anlass mehr, die naheliegende Intuition zu entwickeln, dass gerade die »Fülle« dieses Bewusstseins seine impersonale Dimension impliziert. 17 In diesem Sinne wird das präreflexive Cogito in Das Sein und das Nichts auch nicht mehr, wie das Cogito Descartes’ oder das transzendentale Ich Kants, als »Ergebnis einer logischen Konstruktion auf dem Gebiet der Erkenntnis, sondern [als] das Subjekt der konkretesten Erfahrung« (SN, 27) eingeführt. »Und es ist keineswegs relativ zu dieser Erfahrung, denn es ist diese Erfahrung.« (Ebd.)

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Spuren impersonaler Subjektivität

sicht gebraucht wird, dass das nicht-thetische Bewusstsein sich selbst erreicht, »ohne auf das Diskursive und auf Implikationen angewiesen zu sein« (SuS, 287), zielt Sartre mit dem Begriff der Seinsdimension auf eine ontologische Bestimmung dieses Bewusstseins ab, die vordergründig die existenzielle Struktur der réalité-humaine berücksichtigen, zugleich aber die erkenntnistheoretische Erklärung eines zur Reflexion fähigen Subjektes verbürgen soll. Die Unmittelbarkeit, die Sartre für die Erfahrung qua Seinsweise in Anspruch nimmt, wird hinsichtlich der Seinsdimension des Subjektes da problematisch, wo die Untersuchung des nicht-thetischen Bewusstseins einen bestimmten »Seinstypus der Existenz« (vgl. SuS, 269) enthüllen sollen. Denn Sartre betont an diesem besonderen Seinstypus gerade nicht die Unmittelbarkeit seines ontisch-existenziellen Vollzugs, wie sie sich bei Heidegger im »besorgenden Umgang« zeigen mag, sondern seine ontologisch-existenziale Fraglichkeit. Da Sartre aber die réalité-humaine als nicht-thetisches Bewusstsein versteht, müssen schon einzelne Bewusstseinsvollzüge diese Fragestellung leisten. Die Seinsweise einer Freude ist das nicht-thetische Bewusstsein ihrer selbst. Dieses nicht-thetische Bewusstsein ist aber zugleich die Seinsdimension des existenziellen Subjektes und insofern »immer eine Freude, die eine Frage an sich selbst stellt, eine in Frage stehende Freude«. (SuS, 292) Der Selbstbezug des je fraglichen Bewusstseins bringt es deshalb mit sich, dass man nicht sagen könne, »das Selbstbewusstsein habe als Seinsmerkmal einfach, selbst zu sein«. (SuS, 293) Auch das nicht-thetische Bewusstsein steht gerade als Seinsdimension des Subjektes in einem Abstand zu sich selbst, den Sartre »Anwesenheit bei sich« nennt. Und es ist diese Anwesenheit bei sich, die dem vorreflexiven Bewusstsein für Sartre nun personale Struktur verleiht: »Es ist persönlich, weil es trotz allem Verweis auf sich selbst ist«. (SuS, 288) Diese vorreflexive Verweisstruktur versteht Sartre entgegen seiner erklärten Absicht somit doch als eine wenn auch schwache Form gegenständlicher Bezugnahme. Dementsprechend wandelt sich auch der dem nicht-thetischen Bewusstsein korrelierende Erfahrungsbegriff. Als immer schon fragliche Dimension des konkreten Subjektes entpuppt sich das nichtthetische Bewusstsein als eine eigentümlich verfügbare Struktur, der das Bewusstsein nicht inne, sondern habhaft ist. Bei der präreflexiven Ebene handelt es sich für Sartre zwar auch hier um den »Standpunkt einer reinen und einfachen Entdeckung, die wir dann interpretieren müssen«. (SuS, 322) Zwei Dinge stehen vor 206 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Erfahrung als Seinsweise

dieser Interpretation allerdings fest: »Einerseits kann ich es in jedem Augenblick durch die Reflexion aufstöbern, und andererseits ist es nicht schon deshalb ein Unbewusstes, weil es keine Erkenntnis ist.« Es ist eben »etwas, das man nicht in Erkenntnisbegriffen ausdrücken muß, das aber trotzdem mein voller Besitz ist. Es ist also etwas, wovon [m. H.] ich Erfahrung habe.« (Ebd.) Zwar wird hier eine Selbsterfahrung in Anspruch genommen, deren dyadische Struktur schwächer als eine reflexive Erfahrung gedacht wird, und wir werden später sehen, dass Sartre zwei Formen der Reflexion zu unterscheiden weiß. Die Unmittelbarkeit einer Erfahrung als Seinsweise wird durch die Setzung eines nicht-thetischen Bewusstseins, in dem stets »eine Andeutung von Dualität vorliegt« (SuS, 294), aber obsolet und zu der Erfahrung einer Seinsweise degradiert. Sartre will die Einheit von Bewusstsein allerdings weiter betont wissen, indem er behauptet, dass der Abstand des präreflexiven Cogito zu sich selbst »eine Art Spiel reflektierender Reflexion« sei und »daß sich all das trotzdem in einer Einheit vollzieht, in der das Reflektierte selbst das Reflektierende ist und das Reflektierende das Reflektierte«. (SuS, 294) Der erkenntnistheoretische Vorteil ist unübersehbar. Denn sobald Sartre das vorreflexive Selbstbewusstsein ontologisch als Zirkel bestimmt, wird das Problem einer Erklärung des reflexiven Selbstbewusstseins zu einer Frage, die sich durch den Seinstypus der Existenz beantworten lässt. Das Reflexionsspiel der noch verholenen Distanz der Anwesenheit bei sich entfaltet sich im konkreten Vollzug menschlicher Realität in die reiche Reflexivität eines um sich selbst wissenden Subjektes. Wie im Weiteren zu verfolgen ist, führt der unmerkliche Riss, den Sartre durch diese Bestimmung in das Bewusstsein holt, innerhalb der dualistischen Ontologie, wie sie in Das Sein und das Nichts entworfen wird, allerdings zu einer Konzeption von Selbstbewusstsein, die die Einheit von Bewusstsein kaum überzeugend zu bewahren vermag. Die Einheit von Bewusstsein, die er im Modus phänomenologischer Anerkennung und Analyse der präreflexiven und zeitlichen Verfassung des Bewusstseins in Anspruch nimmt, wird im Rahmen ihrer ontologischen Fassung da prekär, wo er glaubt, es genüge »in aller Naivität jene Totalität zu befragen, die der Mensch-inder-Welt ist«. (SN, 50) Die Naivität, mit der diese Frage anhebt, ist aber weder konsequent eine epochal gewendete Selbsterfahrung, wie es Husserls Programm fordert, noch ist es ein phänomenologisch re207 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Spuren impersonaler Subjektivität

flektiertes »Durchsichtigmachen eines Seienden – des fragenden – in seinem Sein« (SZ, 7), wie es Sartres epigonale Aneignung Heideggers verlangen würde. Die zu befragende Totalität muss sich daher als eine immer nur ausstehende Ganzheit und unter den Voraussetzungen, die Sartre ihr einschreibt, letztlich als unerreichbares Ideal erweisen.

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4. Selbstbewusstsein in Das Sein und das Nichts

4.1 Entschiedenes Scheitern – der ontologische und der metaphysische Horizont von Das Sein und das Nichts Sartre gesteht Husserl zu, »eine forschreitende Erhellung und eine bemerkenswerte Beschreibung der Wesensstruktur des Bewußtseins« geleistet zu haben, wirft ihm aber zugleich vor, »nie die Erörterung des metaphysischen Problems im eigentlichen Sinne oder besser des ontologischen Problems, was das Sein des Bewusstseins ist«, in Angriff genommen zu haben. (SuS, 276) Die Ontologie, die Sartre in Das Sein und das Nichts entfaltet, schickt sich an, dieses Versäumnis als eine phänomenologische Ontologie aufzuarbeiten. Wie der frühe Heidegger ist Sartre der Meinung: »Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich.« (SuZ, 35) Im Gegensatz zu Heidegger führt diese Einsicht allerdings nicht zu einem radikalen Überstieg der bewusstseinstheoretisch motivierten Phänomenologie zu einer existenzialen Analytik des Daseins. Sartre teilt zwar die allgemeine Intuition von einer Bewusstseinsphänomenologie zu einer Existenzphänomenologie überzugehen, er hält Heidegger allerdings vor, dass dieser im Vollzug dieses Übergangs die Bewusstseinsdimension, d. h. das Cogito, vorschnell aus den Augen verloren habe. (Vgl. SN, 161) Die phänomenologische Ontologie Sartres sucht ihren Ausgangspunkt demgegenüber weiterhin beim Bewusstsein. In der Dringlichkeit der phänomenologischen Seinsfrage erblickt Sartre allerdings die Möglichkeit, Bewusstsein nicht in subjektphilosophischer Façon als selbstbewusstes und selbstdurchsichtiges Cogito zu verstehen. Vielmehr fragt er nach dem »transphänomenalen Sein« des Bewusstseins, als dem Grund seines Erscheinens, als der »Bedingung jeder Enthüllung« (SN, 16). Dieses transphänomenale Sein findet er erneut in einem vorreflexiven Bewusstsein, dem präreflexiven Cogito. Um der mitunter verworrenen Konzeption von Selbstbewusstsein auf die Spur zu kommen, die die209 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein in Das Sein und das Nichts

ser Begriff birgt, sind zunächst einige Grundzüge des ontologischen und metaphysischen Horizontes von Das Sein und das Nichts zu skizzieren. Daraufhin ist die Krux des Begriffs eines präreflexiven Cogito in einem ersten Anlauf zu entfalten.

4.1.1 Sein, Erscheinen, Bewusstsein Zu den entscheidenden Fortschritten des modernen Denkens rechnet Sartre die Reduktion des Seienden auf die »Reihe der Erscheinungen, die es manifestieren« (SN, 9). Eine Reduktion, die zwar dazu beigetragen habe, solche überkommenen Dualismen wie Außen/Innen, Akt/Potenz und Sein/Schein zu überwinden, für die aber auch in ihrer nachkantischen Ausprägung gelte, dass sie das Problem des Seins des Erscheinens nicht in den Blick genommen habe. Ausgehend von einer Kritik am tradierten, d.h zunächst Kantischen Phänomenbegriff, der mit dem Ding an sich »über seine Schulter hinweg ein wahres Sein« (SN, 11) anzeige, gelangt Sartre zu den entsprechenden phänomenologischen Überlegungen Husserls und Heideggers. Sie hätten im Gegensatz zu Kant 18 die Verfassung des Phänomens als eines »Relativen-Absoluten« gesehen, d. h. sie hätten die Relativität respektive eines Subjektes, zugleich aber auch den erschöpfenden Charakter der Erscheinung anerkannt, der eben darin bestehe, dass sich das Phänomen so enthülle, wie es ist, dass es »absolut sich selbst anzeigend« (ebd.) sei. Dadurch entledige sich der Erscheinungsbegriff seiner Beziehung zu einem unerreichbaren Sein, das sich die »Hinterwelter« noch als Stütze der Erscheinungen zu postulieren genötigt sahen. Die phänomenologische Tradition habe diese Befreiung aber nur um den Preis eines neuen Dualismus erringen können. Die Reduktion des Existierenden auf seine Erscheinungen brachte für Husserl bekanntlich die Einsicht hervor, dass sich die Gegenstände – wenigstens die sinnlichen – stets nur in einer Reihe von Abschattungen zeigen, die schon durch die kinästhetischen Ver-

Sartres ontologische Interpretation der »doppelten Relativität der Kantischen Erscheinung« (SN, 10), also seiner Beziehung zum Subjekt, dem etwas erscheine und einem Ding, von dem es Erscheinung ist, darf als eine durchaus mutwillige Verkennung der methodischen Absicht verstanden werden, die Kant zu dieser Unterscheidung veranlasst hat. Vgl. Brauner (2007), 90 auch Recki (2014), 2. 18

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Entschiedenes Scheitern

mögen des Subjektes eine prinzipiell unendliche Reihe bilden. Ich kann nicht nur kontinuierlich meinen Standpunkt ändern, indem ich ein Objekt etwa umschreite und so stetig neue Abschattungen erscheinen lasse, ich kann mich auch abwenden und in der erneuten Zuwendung eine Abschattung wieder erscheinen lassen. Sartre schließt daraus, dass das Existierende sich nicht auf eine endliche Reihe von Erscheinungen reduzieren lassen kann, da diese stets auf einen unendlichen Zusammenhang von Erscheinungen verweist, einen Zusammenhang, der nicht selbst zur Erscheinung kommt. (Vgl. SN, 12 f.) 19 Unbesehen dieses neuen Dualismus von Endlichkeit und Unendlichkeit entnimmt Sartre dem phänomenologischen Begriff der Erscheinung die Einsicht, dass Erscheinungen nicht auf eine ihnen selbst äußerliche Realität verweisen. Es gibt nichts hinter den Erscheinungen, das sie tragen müsste. Sie erschöpfen sich für Sartre aber auch nicht in ihrem Erscheinen für ein Subjekt, so als ob sie in ihrem aktuellen Erkanntsein aufgingen. Sie verweisen in ihrem Erscheinen auf einen geregelten Zusammenhang, als den Grund ihres Erscheinens. Die Husserl’sche Phänomenologie sieht hierbei die prinzipielle Möglichkeit vor, die aktuelle Erscheinung stets auf diesen Seinsgrund, das Wesen, hin zu übersteigen. Etwa wenn wir uns durch einen ideativen Typ kategorialer Anschauung, Husserls Ideation oder »Wesensschau«, die Spezies Rot in einer Reihe aktueller Rotwahrnehmungen vergegenwärtigen. Sartre ist aber nicht an einer Eidetik und dem Essentialismus des frühen Husserl interessiert, sondern er möchte nach dem Sein des Existierenden fragen. Deshalb fragt er rhetorisch: »Heißt das Existierende zum Seinsphänomen hin zu überschreiten, es auf sein Sein hin überschreiten, wie man das einzelne Rot auf sein Wesen hin überschreitet?« (SN, 15) Das Wesen, so möchte Sartre den frühen Husserl verstehen, ist »der Sinn des Objektes, die Regel der Reihe von Erscheinungen, die es enthüllen«. (Ebd.) Das Sein, das Sartre sucht, ist aber »weder eine erfaßbare Qualität des Objektes unter anderen, noch ein Sinn des Objektes«. (Ebd.) Er fasst es vielmehr als Grund des Erscheinens, als die Bedingung jeder Enthüllung. Sartre sieht hier keinen Anlass darauf hinzuweisen, dass der Phänomenbegriff Husserls und mit ihm der der Abschattung ein transzendental-phänomenologischer Begriff ist, der sich auf die reduzierte Erfahrung unter Epoché bezieht und nicht die quasi-realistische Massivität der Gegenstände verbürgen kann, die Sartre im Sinn hat.

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Selbstbewusstsein in Das Sein und das Nichts

Auf der Suche nach dem Sein ist es daher zwar notwendig, aber nur bedingt hilfreich, das Phänomen-Sein der Erscheinungen zu befragen. Das Sein, das ich in den Blick nehme, wenn ich etwa einen Tisch auf sein Tisch-Sein hin untersuche, mag ein Seinsphänomen sein, aber es ist dadurch auch seinerseits etwas Enthülltes, Erscheinendes, das seine Grundlage in dem Sein des Phänomens hat. Das Sein, nach dem Sartre Ausschau hält, bestimmt er daher einleitend als die »Transphänomenalität des Seins«. (Ebd.) »Transphänomenalität« meint dabei zunächst nur, dass das Sein sich nicht in der Erkenntnis erschöpft, die wir von ihm haben. So könnte man einwenden, sind wir aber wieder am Anfang: Wenn wir, wie es der phänomenologische Erscheinungsbegriff nahelegt, nicht ein Sein hinter den Erscheinungen annehmen wollen, von dem wir keine Erkenntnis haben, dann verweist die Transphänomenalität schlicht auf einen ontologischen Realismus. Sartre erträgt diesen Einwand und nutzt ihn, um das transphänomenale Sein zu differenzieren und Platz für jenen Dualismus zu machen, dem wir bereits in Die Transzendenz des Ego begegnet sind: Gegen den Vorwurf eines ontologischen Realismus führt er dazu im Versuchssinn einen Sensualismus ins Feld, um zu zeigen, dass dessen erkenntnistheoretische Wendung sich der ontologischen Nachfrage nicht entziehen kann. Denn wenn man wie Berkeley alles Sein auf sein Erkanntsein reduziere – Husserl habe letztlich genau dasselbe getan (SN, 17) – erspare man sich noch nicht, auf die Frage zu antworten, wie denn die Beziehung von percipere (Erkennen) und percipi (Erkanntsein) zu verstehen sei. Das Sein dieser Beziehung könnte ja nur um den Preis eines Regresses selbst wieder in einer Erkenntnistheorie erfasst werden. Den Umweg über Berkeley nutzt Sartre, um das transphänomenale Sein des percipi von dem transphänomenalen Sein des percipere zu unterscheiden. Das percipi verweist nicht nur auf ein es begründendes transphänomenales Sein, sondern zugleich auf das Erkennen, indem es erkannt wird, sein percipiens (Erkenntnis). Dadurch steht es zu jenem percipere in Beziehung, das traditionell als Subjekt dieser Erkenntnis zu gelten hat. Sartre will daraus freilich nicht den idealistischen Schluss ziehen, dass das transphänomenale Sein des Phänomens eben das Sein des Subjektes ist. (Vgl. SN, 28–33) Wie das Phänomen, bedarf auch das Subjekt selbst einer Seinsgrundlegung, die nicht wieder ein Erkennen sein kann. Das Sein des Subjektes muss dementsprechend ein Bewusstsein sein, das nicht mehr dadurch ausgezeichnet ist, dass es ein »besonderer Erkenntnismodus, genannt innerster Sinn 212 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Entschiedenes Scheitern

oder Erkenntnis von sich« ist, sondern »transphänomenale Seinsdimension des Subjektes«. (SN, 19) Der phänomenologische Zug seiner Ontologie besteht nun darin, dass sie diese Seinsdimension, das präreflexive Cogito, nicht länger als bloß logische Konstruktion, sondern als Erfahrung und zwar die »konkreteste Erfahrung« (SN, 27) in Anspruch nimmt. Als vorreflexives Bewusstsein geht es nicht im klassischen subjektphilosophischen Konzept selbstreflexiven Wissens auf – es ist keine »zu sich zurückgewandte Erkenntnis«. (SN, 19) Es ist wie zuvor in TE sowohl »unmittelbarer und nicht kognitiver Bezug von sich zu sich« (SN, 21), als auch grundlegend intentional verfasstes Bewusstsein. Damit hat Sartre zum Zweck der ontologischen Begründung zwei Typen von transphänomenalem Sein unterschieden, das Sein des Phänomens und das präreflexive Cogito. Und da das »transphänomenale Sein des Bewußtseins […] nicht das transphänomenale Sein des Phänomens begründen [kann]« (SN, 33), weil sonst ein solipsistischer Idealismus drohe, werden die weiteren Ausführungen in Das Sein und das Nichts von einem soliden Dualismus getragen, der in die massive, opake Identität des An-sich-Sein und das leichte, luzide Nichts des Für-sich-Sein zerfällt. 20

4.1.2 An-sich und Für-sich Sartres Entschiedenheit, gegen einen phänomenologischen Idealismus Stellung zu beziehen, zeigt sich spätestens da, wo er beginnt, das An-sich-sein, Sartres Titel für das Sein des Phänomens, vom Für-sich-sein, der Titel für den Seinstyp des Bewusstseins, abzuheben. War für Husserl noch die Originarität, die Selbstgegebenheit der Gegenstände, Maß ihres Seins, so ist für Sartre »das Merkmal des Seins eines Existierenden, sich dem Bewusstsein nicht selbst, leibhaftig, zu enthüllen; man kann ein Existierendes nicht seines Seins berauben, das Sein ist die immer anwesende Grundlage des Existierenden, es ist überall in ihm und nirgendwo«. (SN, 37) Diese immer anwesende Grundlage des Existierenden, sein An-sich-Sein, wird von Sartre als eine beziehungslose Massivität gedacht, in die das Bewusst»Die vorangegangenen Überlegungen haben es insbesondere ermöglicht, zwei absolut voneinander getrennte Seinsbereiche zu unterscheiden: das Sein des präreflexiven Cogito und das Sein des Phänomens.« (SN, 39)

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sein mit einem Befreiungsschlag »nichtend« einbricht. Das An-sichsein bestimmt Sartre auf dreierlei Weise. »Das Sein ist. Das Sein ist an sich. Das Sein ist das, was es ist.« (SN, 44) Das An-sich-sein ist. Diese Bestimmung meint für Sartre nicht, dass das An-sich als Modus von Wirklichkeit zu gelten habe. Es steht in keiner sinnhaften Beziehung zum Möglichen oder Notwendigen, d. h. es lässt sich von keinem von beiden ableiten. Das Notwendige sei eine Kategorie ideeller Aussagen. Das Mögliche gehöre seiner Struktur nach exklusiv in die Seinsregion des Bewusstseins. (SN, 44) Den Umstand der modalen Unableitbarkeit nennt Sartre die Kontingenz des An-sich und nimmt so Abstand von den überkommenen Versuchen, ein einheitliches Prinzip des Seins auszuzeichnen, das als notwendiger Grund gelten könnte (vgl. Janssen 2003, 40). 21 Die Unableitbarkeit des An-sich ist nicht zuletzt Garant einer erlebten Opazität: Dem Bewusstsein ist das An-sich in seiner grundlosen Selbstgenügsamkeit immer zu viel [de trop]. So, wie uns ein Existierendes als unbedingt und beziehungslos gegeben ist, erscheint es in einer beliebigen Überfülle. Das An-sich-sein ist an sich. Die tautologische Emphase dieser Bestimmung ist Programm. Das An-sich ist beziehungslos und ungeschaffen. (SN, 40) Gegen die Vorstellung eines Kreationismus betont Sartre hier, dass das Sein der Dinge völlig mit ihrer Existenz zusammenfällt, »[es] ist unbestimmt es selbst, und es erschöpft sich darin, es zu sein.« (SN, 43) Das An-sich-sein ist das, was es ist. Dass sich das Sein des An-sich in sich selbst erschöpft, besagt auch, dass es in keiner Beziehung zu sich selbst steht, es verweist genauso wenig auf sich, wie es auf anderes verweist. »Tatsächlich ist das Sein sich selbst opak, eben weil es von sich selbst erfüllt ist.« (SN, 42) Es ist unfragmentierte Identität, ohne den kleinsten Raum für Reibung oder Risse, reine Positivität. Deshalb hat es kein Geheimnis: »es ist massiv.« (SN, 43)

Wildenburg (2003, 82) versucht demgegenüber gerade aus der Kontingenz des Ansich-Sein den transzendentalen Grundlegungscharakter der Sartre’schen Ontologie abzuleiten. Dieser Charakter besagt zunächst aber nicht mehr, als dass das An-sich dem Für-sich logisch vorgeordnet ist. Was sich aus der Bestimmung des Für-sich-Sein als »Nichtung« ergibt. Im Rahmen seiner Hegelkritik wird sich Sartre dann in der Tat so äußern, dass »es das Sein ist, von dem das Nichts konkret seine Wirksamkeit herleitet« (SN, 70). Diese Bestimmung ist aber nirgends auf den Kontingenz-Aspekt des An-sich bezogen.

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»[D]as Sein ist kein Bezug zu sich, es ist Sich. Es ist eine Immanenz, die sich nicht realisieren kann, eine Affirmation, die sich nicht affirmieren kann, eine Aktivität, die nicht handeln kann, weil es sich mit sich selbst verfestigt hat. Alles geschieht so, als ob eine Seinsdekompression erforderlich wäre [m. H.], um die Affirmation von sich aus dem Sein heraus zu befreien.« (SN, 41 f.)

Im Rahmen dieser dramatisch artikulierten Verdichtung des Seins, taucht dann auch der Ort auf, den das menschliche Bewusstsein, das Für-sich-Sein, in Sartres Ontologie einnimmt. Denn das Für-sich ist – mit der ganzen Emphase der Befreiung – diese »Nichtende Dekompression des Seins«. (SN, 1060) Durch das Bewusstsein kommt etwas in das Sein, das die reine Positiviät des An-sich fragwürdig werden lässt. Die bezugslose Massigkeit des An-sich wird durch das Für-sich zur Ordnung gerufen, d. h. sie wird differenziert, sortiert und verfügbar gemacht. »Damit die Totalität des Seins sich um uns herum als Utensilien anordnet, damit sie sich in differenzierte Gesamtheiten aufteilt, die aufeinander verweisen und verwendbar sein können, muß die Negation auftauchen, nicht als ein Ding unter anderen Dingen, sondern als eine kategoriale Rubrik, die die Anordnung und Aufteilung der großen Seinsmassen in Dinge leitet.« (SN, 83)

Die Möglichkeit zu dieser ordnungstiftenden Negation eröffnet sich für Sartre im fragenden Bewusstsein. Es gehört zur Struktur dieses Bewusstseins, dass es immer schon mit dem Nichts des Existierenden rechnet. Ohne eine Ahnung davon, dass das uns umgebende Sein auch anders sein könnte, nicht so, wie es erscheint, gäbe es keine Motivation für Fragen. So impliziert die Möglichkeit des Fragenkönnens bereits ein Vorverständnis von Negation. In einer typischen, behavioristischen Wendung seiner Untersuchung schließt Sartre daher, aus dem tatsächlichen fragenden Verhalten bewusster Wesen folge, dass Negation existiere. (Vgl. SN, 79 f.) Welche Verfassung ermöglicht Bewusstsein aber, zu einem fragenden Bewusstsein zu werden? Das An-sich kann innerhalb der Sartre’schen Phänomenologie von sich aus keinen Anlass zu einer Störung des Weltbezuges liefern, die dem Bewusstsein eine Frage aufdrängen könnte. Es ist das Für-sich, das in sich den Keim der Negation tragen muss: »Das Sein, durch das das Nichts zur Welt kommt, muß sein eigenes Nichts sein.« (SN, 81) Der fragende Bezug zur Welt hat somit zwei Bedingungen: Das Vorverständnis von Negation impliziert, dass Bewusstsein sich von der bloßen Massivität des An-sich 215 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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distanzieren kann. Wenn »man damit rechnet, daß ein Existierendes sich immer als nichts enthüllen kann, setzt jede Frage ein nichtendes Abrücken vom Gegebenen voraus«. (Ebd.) Damit mir die Welt fragwürdig wird, muss ich mich aus ihren verfestigten Strukturen lösen können. Das heißt, »daß das menschliche Sein mitten im Sein ruht und sich dann durch ein nichtendes Abrücken von ihm loßreißt«. (SN, 85) Die Bedingung für diese Loslösung, aus »der Kausalordnung der Welt« ist für Sartre, dass das Für-sich-Sein sich auch von sich selbst lösen kann. »Was zunächst evident erscheint, ist, daß die menschliche Realität sich nur dann von der Welt loßreißen kann – in der Frage, im methodischen Zweifel, im skeptischen Zweifel in der Epochè usw. –, wenn sie von Natur aus ein Losreißen von sich selbst ist.« (SN, 85)

Das menschliche Bewusstsein befindet sich mithin in einem nichtenden Losreißen vom es umschließenden Sein und bietet sich somit als das Sein dar, »das das Nichts in der Welt aufbrechen läßt« (SN, 82). Zu dieser entscheidenden Konstitution kann es aber nur kommen, »insofern es sich selbst zu diesem Zweck mit Nicht-sein affiziert«. (Ebd.) Seine dekomprimierende, befreiende Kraft bezahlt das Bewusstsein mit einem stetig ruhelosen Abstand von sich selbst. Während das An-sich ist, was es ist, lässt sich das Für-sich definieren als »das seiend, was es nicht ist, und als nicht das seiend, was es ist«. (SN, 42) In dem Maße, wie Sartre dieses konstante Außer-sich-Sein – noch nicht die eigene Zukunft sein, die das Für-sich aber zu sein hat, und die eigene Vergangenheit schon nicht mehr sein können – als Freiheit bestimmt, wird Angst zu einer Grundkategorie menschlichen Daseins. (Vgl. SN, 84–100) Die Tendenz des Bewusstseins zur Nichtung impliziert seine prinzipielle Abhängigkeit vom An-sich. »Das bedeutet, daß es sich selbst nur vom An-sich her und gegen das An-sich bestimmen kann.« (SN, 183) Die Massivität des An-sich, von der wir bisher gehandelt haben, sollte aber nicht zu der Annahme verleiten, es handle sich bei diesem Seinstypus lediglich um dingliche Existenz. Der Charakter der Massivität entspricht vielmehr der Opazität transzendenter Gegenstände, wie sie Sartre in TE eingeführt hat und zu denen auch die psychophysische Dimension des Bewusstseins, das Ego, gehört. Das An-sich, zu dem sich das Für-sich nichtend ins Verhältnis setzt, ist also nicht nur dingliche Massivität, sondern auch eigene Faktizität. 216 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Die fortschreitende Nichtung der eigenen kontingenten Faktizität, wie sie in der Erwartung, im Plan oder in der Reue zum Ausdruck kommt, kann das Für-sich aber nicht aufrechterhalten, »ohne sich selbst als Seinsmangel zu bestimmen«. (SN, 183) Dass die menschliche Realität Mangel ist, zeigt sich für Sartre bereits am menschlichen Faktum der Begierde, die sich gerade nicht als ein psychischer Zustand, also An-sich, bestimmen lässt. Denn als Element des Ansich wäre sie stets, was sie ist. Ein Sein, das ist, was es ist, wäre aber nicht bedürftig. Die Begierde, die Mangel anzeigt, gehört in die Struktur des Für-sich. Die Bestimmung des Für-sich als Seinsmangel meint ein Doppeltes: Auf der einen Seite ist das Für-sich absolut, es nichtet sich aus eigenem Grund. Es hat keinen positiven Ursprung, sondern ist sein eigenes Nichts. Auf der anderen Seite ist es restlos abhängig von der Positivität des An-sich, das es nichtet. »So ist das Für-sich ein ›unselbstständiges‹ Absolutes, das, was wir ein nicht-substanzielles Absolutes genannt haben.« (SN, 1058) An der Struktur des Mangels zeichnen sich nun drei Elemente ab, die für die ontologische Bestimmung des Für-sich und für den metaphysischen Horizont von Das Sein und das Nichts entscheidend sind: Damit etwas als mangelhaft angesprochen werden kann, braucht es eine Hinsicht, auf die hin es als unvollständig zu gelten hat. Wir haben also neben dem aktuell Existierenden und dem, was ihm fehlt, dem Mangelnden, noch die ermangelte Totalität anzuerkennen, die der Grund der Mangelerscheinung ist. Um die Erscheinung eines Mondes etwa als Halbmond oder Sichel gelten zu lassen, muss ich diese Aktualität bereits »auf den Entwurf der realisierten Totalität hin überschreiten – hier die Scheibe des Vollmondes«. (SN, 184) Diese Struktur hat ihre Entsprechung in der menschlichen Realität – die Rolle des Existierenden spielt dabei das Für-sich. (Vgl. SN, 187) Die sich dann aufdrängende Frage, was die existentielle Entsprechung des Vollmondes sei, führt zwanglos zu der ambivalenten Konzeption von Totalität als höchsten Wert und tangiert damit den metaphysischen Horizont der Sartre’schen Phänomenologie.

4.1.3 An-sich-für-sich Bisher haben wir das An-sich und das Für-sich mit Sartre als einseitig abhängige Seinsdimensionen verstanden. Die Mangelnatur des Für217 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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sich ist – als Nichtendes – (intentional) abhängig von der selbstgenügsamen Massivität des An-sich. Das Für-sich kann »sich selbst nur vom An-sich her und gegen das An-sich begründen«. (SN, 183) Als das Sein, das nicht nur ist, was es ist, sondern das in seiner Kontingenz auch immer anders sein könnte, als es ist, gilt das An-sich dem Für-sich aber nicht nur als unverfügbare Materialität, sondern auch als seine eigene Faktizität, d. h. als dasjenige, was es an sich selbst als reine Kontingenz erlebt, Name, Herkunft, Situation usw. (Vgl. SN, 173 f.) Da das Für-sich – in seiner personalen Konkretion – »in eine Welt geworfen ist, einer ›Situation‹ ausgeliefert ist« (SN, 173), erfasst es sich als ein Sein, dass nicht sein eigener Grund ist. Es erfasst sich zwar als Ursprung der Nichtung, d. h. als spontane Freiheit, stetig das zu nichten, was es ist, um sich auf etwas hin zu entwerfen, das es noch nicht ist; aber es erfasst auch, dass es nicht Ursprung seines Seins ist. Darin ist Sartre zufolge aber die Antizipation dessen angelegt, was autonome Selbstbegründung bedeuten würde: Vollkommenheit. In diesem Sinne sei es Ausgangspunkt des zweiten Gottesbeweises Descartes’: »Läßt man die scholastische Terminologie weg, bleibt von diesem Beweis der ganz deutliche Sinn, daß das Sein, das an ihm die Idee von Vollkommenheit besitzt, nicht sein eigener Grund sein kann, sonst hätte es sich dieser Idee entsprechend hervorgebracht.« (SN, 173)

In diesem »Auseinanderklaffen« zwischen dem unvollkommenen Sein, das es ist, und der Vollkommenheit, von der es eine Idee besitzt, erscheint das Für-sich als »Seinsmangel«. Durch die Faktiziät, »die das Für-sich heimsucht und es an das An-sich bindet« (SN, 178), erfasst sich das Für-sich als eine für es selbst »nicht zu rechtfertigende Anwesenheit bei der Welt«. (SN, 181) Eine Anwesenheit, deren Bedingungen – etwa Franzose oder Jude zu sein – es nicht selbst gewählt hat. Gerade weil sich die menschliche Realität nicht in ihrer Faktizität, in ihrem An-sich, erschöpft, sondern eben Für-sich ist, verhält sie sich in steter Spannung zu der eigenen Geworfenheit und in diesem Sinne »bestimmt sich das Für-sich fortwährend dazu, das An-sich nicht zu sein«. (SN, 183) An der Untersuchung des Mangels hatte sich aber eine dreigliedrige Struktur angezeigt. So ist das Für-sich als ständig außer-sich-seiendes Mängelwesen nicht hinreichend bestimmt, solange nicht angegeben wird, auf welche Totalität, auf welche Vollkommenheit hin es – für sich – als unvollständig gelten muss. 218 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Ein naheliegender Gedanke wäre, dass das unvollständige Fürsich seine Vollkommenheit in der reinen Identität und Dichte des An-sich vermuten würde. Dies käme aber einer Auflösung in der Anwesenheit bei der Welt gleich und wäre damit der grundlegenden Tendenz des Für-sich, sich vom An-sich loszureißen nicht nur entgegengesetzt, es würde auch »mit der Vernichtung des Bewusstseins zusammenfallen«. (SN, 190) »Aber das Bewusstsein überschreitet sich keineswegs auf seine Vernichtung hin, es will sich nicht an der Grenze seiner Überschreitung im IdentitätsAn-sich verlieren. Für das Für-sich als solches beansprucht das Für-sich das An-sich-sein.« (Ebd.)

Das Für-sich tendiert nicht dazu, im An-sich aufzugehen, strebt aber Sartre zufolge dem zu, was das An-sich auszeichnet: reine Identität. Dieses Streben ist aber ein »dauerndes Überschreiten auf eine Koinzidenz mit sich hin, die niemals gegeben ist«. (SN, 189) Für Sartre ist dieses Streben nach dem Sich notwendig unabschließbar, denn seine Realisierung brächte die »unmögliche Synthese des Für-sich und des An-sich« (ebd.) hervor. Diese Synthese wäre die Befreiung des Fürsich von seiner eigenen Faktizität, die aber als das, wovon sich das Für-sich nichtend abstößt, als dessen Seinsbedingung zu gelten hat. Als substanzielles Sein wäre das An-sich-für-Sich, das für Sartre »nur als ständig schwindender Bezug existieren kann« (ebd.), eine distanzlose Präsenz des Bewusstseins, sie »behielte die notwendige Transluzidität des Bewußtseins in sich und gleichzeitig die Koinzidenz des Seins an sich mit sich.« (SN, 190) Für Sartre ist die so verstandene Totalität aber kein zufälliges Konstrukt, das dem Für-sich nachträglich als Mangel erschiene, sondern als Mangelwesen ist es stets auf diese Totalität bezogen. »Die menschliche Realität ist nicht etwas, was zunächst existierte und dem es dann an diesem und jenem mangelte: sie existiert zunächst als Mangel und in unmittelbarer synthetischer Verbundenheit mit dem, was sie verfehlt.« (SN, 189)

Weil das Für-sich als gleichursprünglich zu seinem unerreichbaren Ideal gefasst wird, als eine menschliche Realität, die dauernd von einer Totalität heimgesucht wird, »die sie ist, ohne sie sein zu können«, ist es hoffnungslos »unglückliches Bewusstsein ohne mögliche Überschreitung des Unglückszustandes«. (SN, 191)

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An dieser Figur der Aussichtslosigkeit, die Sartre der Hegel’schen Kritik skeptizistischer Gewissheit entnimmt, wird bereits deutlich, wie der existenzphänomenologische Ansatz den bewusstseinsphänomenologischen Zugang und vor allem die frühen Einsichten in Die Transzendenz des Ego konterkariert. In dem Maße, wie die Vorstellung eines impersonalen Bewusstseins aufgegeben wird, das der menschlichen Realität des Ego zwar entzogen ist, aber stets dessen intimen Grund bildet, wird nicht nur das Ego, sondern Bewusstsein selbst zu einem abkömmlichen Sein. Sartre diskutiert aber nicht, von welcher phänomenologischen Warte aus man entscheiden sollte, ob das Für-sich seine Totalität nicht vielmehr in seinem impersonalen Ursprung ahnt, ihm entgegenstrebt und das Ziel dieses Strebens notwendig als unerreichbaren Zustand begreift. Der gerade deshalb unerreichbar ist, weil er selbst Quelle dieses Strebens ist. Im Totalitätsverständnis Sartres findet sich eine dementsprechende Antinomie. Einerseits bedeutet die Vervollständigung des Mangelwesens seine vulgäre Auflösung in der Identität des An-sich. Andererseits stellt Sartre eine dialektische Aufhebung, d. h. Vollendung in Aussicht. Totalität in der Figur der Vollendung kann Sartre innerhalb seiner Ontologie aber gar nicht denken. Die Synthese von Für-sich und An-sich bedeutet noch stets substanzielle Koinzidenz, nämlich »Koinzidenz des Seins an sich mit sich« (SN, 190), und dieser Zusammenfall würde erneut auf die leblose Verdichtung des An-sich hinauslaufen. Einen Begriff lebendigen, d. h. spontanen und transluziden Selbstseins hat Sartre nicht einmal als Ideal zu bieten. Er wird mit dem Begriff impersonalen Bewusstseins verabschiedet. Dessen Auflösung in das Für-sich als Konzeption der realité-humaine bringt Sartre allerdings einen Vorteil: Die Begründung menschlicher Existenz als einer unaufhebbaren Struktur des Mangels führt die Diskussion in eine moralphilosophische Dimension und von dort zwanglos in die Metaphysik, von der Sartre sich die Vereinigung der Gegebenheiten seiner Ontologie verspricht. Die Totalität, auf die hin sich das Für-sich stets vergeblich übersteigt, wird von Sartre als Wert bestimmt, als ein Sein also, das als Wert zwar ist, das aber als nur normativ seiend gerade keine Realität hat. »Sein Sein ist, Wert zu sein, das heißt, nicht Sein zu sein.« (SN, 195) Als das Sich des Für-sich ist der Wert konsubstantiell mit dem Bewusstsein. Er ist bereits mit dem nicht-thetischen Selbst-Bewusstsein gegeben und das heißt, er ist »einfach erlebt als der konkrete Sinn des Mangels, der mein gegenwärtiges Sein ausmacht.« (SN, 198) 220 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Der höchste Wert wird präreflexiv als unbestimmter Mangel erlebt; erst im Vollzug reflexiven Selbstbewussteins erweist sich der Mangel als unerreichbarer Wert selbstgenügsamer Fülle. »Der höchste Wert, auf den hin das Bewußtsein sich in jedem Augenblick durch sein Sein selbst überschreitet, ist das absolute Sein des Sich mit seinen Eigenschaften von Identität, Reinheit, Permanenz usw. und insofern es Grund von sich ist.« (SN, 196)

Moralische Werte dürfen als Merkmale dieses höchsten Wertes gelten (vgl. Renaut 2003, 97). In diesem Sinn »kann das reflexive Bewusstsein eigentlich moralisches Bewusstsein genannt werden, da es nicht auftauchen kann, ohne zugleich die Werte zu enthüllen«. (SN, 199) Mit der Konzeption dieses Wertbegriffs kündigt sich aber nicht nur die moralphilosphische Dimension von Das Sein und das Nichts an, sondern sie verweist auch schon auf die abschließenden metaphysischen Überlegungen Sartres, in denen die Totalität eines An-sichfür-sich als Synthese der beiden Seinsdimensionen noch einmal in Betracht gezogen wird. Eine der beiden Fragen, die sich Sartre in seinen Metaphysischen Aperçus, die das Ende von Das Sein und das Nichts bilden, etwas beiläufig stellt, ist: »Warum taucht das Für-sich vom Sein her auf?« (Ebd.) Sartre versucht nicht, diese Frage zu beantworten. Ihr Sinn kann schon angesichts ihrer sentenzartigen Stellung am Ende des Werkes, aber auch auf Grund der allgemeinen Haltung Sartres zur Metaphysik 22 lediglich darin bestehen, »die Gegebenheiten der Ontologie zu vereinigen«. (SN, 1061) Sartres Anzeige der Grenzen seiner phänomenologischen Ontologie gibt uns an dieser Stelle aber die Möglichkeit, den theoretischen Horizont zu schärfen, in dem wir die Überlegungen zum Selbstbewusstsein in Das Sein und das Nichts vorfinden. Und nicht nur das: Die Inkohärenz, die wir in der Konzeption des Selbstbewussteins finden werden, kündigt sich in der unterschiedlichen Gewichtung der ontologischen und der metaphysischen Fassung von Totalität bereits an. Ontologisch erscheint Totalität als jener unverfügbare Wert, dem das ständig außer-sich-seiende Fürsich vergeblich zustrebt. Metaphysisch erscheint Totalität als Totalität einer Existenz, in der ich einerseits stets aneignend engagiert bin, Vgl. Seel (1971), 217–263. »Pointiert könnte man sagen, daß die Metaphysik die Probleme der Ontologie nur löst, indem sie diese in verschärfter Form in ihrem eigenen Bereich reproduziert, und daß die Auflösung dieser metaphysischen Probleme wieder in die Ontologie zurückführt.« Seel (1971), 262.

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von der ich aber andererseits erschöpfendes Bewusstsein sein kann. (Vgl. SN, 1067) Die Ontologie hatte Sartre mit zwei unvereinbaren Seinsbereichen zurückgelassen, von denen sich das Für-sich als einseitig abhängig vom An-sich, jenes sich daher als ontologisch primordial erwiesen hatte. (Vgl. SN, 1058) Für Sartre stellen sich so zwei Probleme, die in seiner Ontologie nicht mehr zu bewältigen sind: 23 1. die Schwierigkeit, den Ursprung des Für-sich zu bestimmen, 2. die Schwierigkeit, die Einheit des Seins zu bestimmen oder den Abgrund anzuerkennen, der sich innerhalb der Seinsidee zwischen An-sich und Für-sich zu eröffnen droht. Der Frage nach dem Ursprung des Für-sich ist durch die ontologischen Untersuchungen eine klare Richtung vorgegeben. Als entschiedener Mangel ist es grundlegend abhängig vom ontologischen Primat des An-sich. Im Modus der Vermutung kann die Ontologie daher wenigstens sagen: Alles geschieht so, »als wenn sich das An-sich in einem Entwurf, sich selbst zu begründen, die Modifikation des Fürsich gäbe«. (SN, 1061) Die ontologische Vermutung zu plausibilisieren, das Für-sich sei letztlich das »individuelle Abenteuer« des Ansich, wäre Aufgabe einer Metaphysik. Zugleich wäre eine Metaphysik mit der Auflösung eines ontologischen Widerspruches betraut, den diese Vermutung erzeugt. Dieser Widerspruch ist strukturell äquivalent zu der Antinomie der Totalität, die eben zur Sprache kam. Wenn zur Struktur des An-sich bereits die Tendenz gehörte, sich durch das Abstoßen des Für-sichs seinen eigenen Grund zu stiften, könnte es sich nicht durch die absolute beziehungslose Dichte und Identität auszeichnen, die Sartre diesem Seinstypus zugedacht hatte. »Wäre das An-sich Entwurf, sich zu begründen, müßte es ursprünglich Anwesenheit bei sich, das heißt bereits Bewußtsein sein.« (Ebd.) Sartre lässt es mit der Anerkennung dieses Widerspruchs allerdings bewenden. Das zweite Problem, dem sich eine Sartre’sche Metaphysik gegenübersieht, betrifft nicht weniger als die Vollendung der Ontologie und rückt schon insofern weit näher an ein klassisches Verständnis von Metaphysik, als es hier um die Frage nach dem Sein des Ganzen, der Totalität geht. Es steht nämlich in Frage, ob das Sein grundsätzlich dual verfasst ist, wie es seine Ontologie nahe gelegt hat, oder ob es Da die Metaphysik die Möglichkeit bietet, »Einheit in die Ontologie zu bringen« (SN, 1061), gilt sie für Sartre als Weg der Selbstbegründung seiner Theorie. Vgl. Seel (1971), 216.

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etwas »Gemeinsames zwischen dem Sein, das das ist, was es ist, und dem Sein, das das ist, was es nicht ist, und das nicht ist, was es ist«. (SN, 1062) Die Frage, die nicht zuletzt durch Sartres einleitende Differenzierung zwischen Phänomensein und Sein des Phänomens motiviert sein dürfte, lautet mithin: Welcher Totalität kommt letztendlich Sein zu? Mit einem Verweis auf »die Griechen« gibt Sartre zur Beantwortung dieser Frage zwei Totalitätsbegriffe vor: to pan und to holon. Als to pan gilt Sartre das in reiner Positivität verharrende An-sich. Das Ganze des holon kann für Sartre nur durch die eben unmögliche Synthese von An-sich und Für-sich konstituiert werden, die als reine Ursache-von-sich-Sein zugleich Seinsfülle und Anwesenheit bei sich wäre; eine Synthese, deren Sein in der Sartre’schen Ontologie nur Gott als dem höchsten Wert zukommen kann. Da diese ens causa sui in der menschlichen Realität unmöglich ist, ihr ontologischer Begriff einen Widerspruch enthält, gilt sie Sartre nur als eine ideale Vorstellung, die aber einen heuristischen Wert für das Verständnis der »totalen Realität« (SN, 1064) in sich birgt. Denn die Frage nach der idealen Verknüpfung von An-sich und Fürsich und die Frage nach der realen Totalität können wir überhaupt nur stellen, weil wir uns, als réalité-humaine und das heißt als Mangelwesen, »a priori durch ein vorontologisches Verständnis des ens causa sui definieren«. (SN, 1063) Die Frage nach dem Sein des Ganzen müssen wir – unserem vorontologischen Verständnis entsprechend, von dem Sartre völlig ungeklärt lässt, woher es stammt – »vom Gesichtspunkt des ens causa sui aus stellen«. (SN, 1064) »Aber eben weil wir den Gesichtspunkt dieses idealen Seins einnehmen, um das reale Sein, das wir ὅλον [holon] nennen, beurteilen zu können, müssen wir feststellen, daß das Reale eine mißlungene Bemühung ist, den Rang einer Ursache-von-sich zu erreichen. Alles geschieht so, als wenn die Welt, der Mensch und der Mensch-in-der-Welt nur einen ermangelten Gott realisieren könnten.« (Ebd.)

Aus der Perspektive der ens causa sui – auch hier bleibt Sartre eine Auskunft über die Möglichkeit dieses Perspektivwechsels schuldig – zeigt sich erneut nur die endlose Dialektik des An-sich und Für-sich. Beide Momente bringen sich als eine kontinuierliche Desintegration zur Darstellung. Nicht als Auflösung einer realisierten Integration, sondern als stets ausstehende Erfüllung, als realiter »detotalisierte Totalität«. (SN, 1065) 223 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Doch Sartre lässt es nicht darauf bewenden, das Ganze als eine desintegrierte Gesamtheit zu bestimmen, die sich eben derart in einer Doppeldeutigkeit darbietet, dass »man ad libitum auf der Abhängigkeit oder auf der Unabhängigkeit der betreffenden Seinsweisen insistieren« kann. (Ebd.) Detotalisierte Totalität offenbart sich dem fragenden Bewusstsein nicht einfach als homonome, wechselseitige Beziehung der Momente. Denn in diesem Fall »bin ich sowohl eines der Glieder der Beziehung als auch die Beziehung selbst. Ich erfasse das Sein, ich bin Erfassen des Seins, ich bin nur Erfassen des Seins; und das Sein, das ich erfasse, stellt sich nicht gegen mich, um mich meinerseits zu erfassen; es ist das, was erfaßt wird«. (SN, 1066 f.) Wenn das Sein nicht mit seinem Erfasstwerden zusammenfällt, so kann das Für-sich, als der »bewegliche«, bewusste, ja selbstbewusste Teil der Beziehung, diese selbst überblicken. Im Rahmen einer bewusstseinstheoretischen Einsicht, die leicht als ein neuer Idealismus missverstanden werden könnte, lässt sich die Frage nach der »totalen Realität« daher durchaus sinnvoll stellen: »Zwar existiere ich hier als in diese Totalität engagiert, aber ich kann erschöpfendes Bewußtseins von ihr sein, denn ich bin gleichzeitig Bewußtsein von dem Sein und Bewußtsein (von) mir. Nur gehört diese Frage nach der Totalität nicht in das Gebiet der Ontologie.« (SN, 1067)

Es ist kaum zu übersehen, dass Sartre am Ende seiner phänomenologischen Ontologie einen Bewusstseinsbegriff beschwört, der am Anfang seiner frühen bewusstseinsphänomenologischen Arbeit stand, um »Einheit in die Ontologie zu bringen«. (SN, 1061) Mit der Anerkennung eines Bewusstseins, das uns die Totalität der ens causa sui zu befragen erlaubte, weil es die Beziehung (zu) dieser Totalität selbst ist, müsste sich eigentlich die Frage aufdrängen, ob es sich dabei nicht selbst um eine Art der Totalität zu handeln hätte. Eine Totalität, für die Sartres früher Begriff unpersönlicher Spontaneität ein probater Vorschlag gewesen wäre. Mit der Grenze der Ontologie ist aber auch das Ende von Das Sein und das Nichts erreicht. So steht der Leser mit einem außerordentlich reichen, um nicht zu sagen stark mehrdeutigen Begriff von Totalität da. Es kann nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein, diese Mehrdeutigkeit in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. 24 Im Folgenden sind vielmehr die Binnendifferenzierungen des Für-sich und damit Sartres Verständnis von Selbstbewusstsein zu 24

Siehe dazu Lutz-Müller (1976), 203–239, auch Seel (1971), 229–263.

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erörtern, in dem sich die ontologische Figur detotalisierter Totalität in der widersprüchlichen Konzeption einer fragmentierten Präsenz von Bewusstsein fortschreibt.

4.2 Die Binnenstruktur des Für-sich 4.2.1 Fragmentierte Präsenz – die Krux der Theorie des präreflexiven Cogito Vier Jahre nach dem Erscheinen von Das Sein und das Nichts hält Sartre vor der Société française de philosophie einen Vortrag, der unter dem Titel Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis erscheint. Der titelgebenden Differenzierung hatte Sartre bereits in der Einleitung zu seinem Hauptwerk große Bedeutung zugewiesen. Das tradierte philosophische Primat der Erkenntnis, das zugleich Primat einer Dualität von Subjekt und Objekt sei, führe bei der Frage nach Selbstbewusstsein in die Irre. Wird die duale Struktur, die der Erkenntnisvorgang impliziert, in der gleichen Weise für das Selbstbewusstsein wie für das Gegenstandsbewusstsein in Anspruch genommen, Selbstbewusstsein also exklusiv als Selbsterkenntnis, das heißt als Reflexion, verstanden, dann drohen, wir haben es bei Husserl verfolgen können, Zirkel oder Regress. »Das Bewusstsein von sich ist nicht paarig. Wenn wir den infiniten Regreß vermeiden wollen, muß es unmittelbarer und nicht kognitiver Bezug von sich zu sich sein.« (SN, 21)

»Selbstbewusstsein« wird als ein Terminus für den unmittelbaren Selbstbezug des Bewusstseins und damit als Bedingung möglichen Gegenstandbewusstseins sowie reflexiver Selbstversicherung eingeführt. Sartre hält mithin an der bereits in Die Transzendenz des Ego entwickelten Auffassung fest, das »jedes objektsetzende Bewußtsein […] gleichzeitig nicht-setzendes Bewusstsein von sich selbst ist«. (Ebd.) 25 Denn ein Bewusstsein, das Bewusstsein von einem Gegenstand ist, dabei aber »von sich selbst nichts wüßte«, wäre ein »unbeSartre artikuliert hier sogar eine Identität von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, wenn er den Grund dafür angibt, dass »das erste Bewußtsein von Bewußtsein nicht setzend ist: es ist ja eins mit dem Bewußtsein, von dem es Bewußtsein ist.« (SN, 23) Das erlaubt die Sartre’sche Doppelbestimmung von Bewusstsein. So, wie Gegenstandsbewusstsein nur als Selbstbewusstsein denkbar ist, so stellt sich Selbstbewusst-

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wußtes Bewußtsein« (SN, 20), eine in der Sartre’schen Philosophie absurde Konsequenz. 26 Wenn das nicht-setzende Bewusstsein nicht als eine auf sich selbst zurückgewendete Erkenntnis, sondern als »präreflexives Cogito« (SN, 22) verstanden wird, darf es Sartre zufolge keine Spur von Dualität enthalten. Diese Einsicht kennzeichnet Sartre auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks damit, dass er da, wo das »nicht-setzende Bewußtsein von sich« zur Sprache kommt, das »von« [de] in Klammern setzt. Er ist sich also der Anrüchigkeit des Reflexivpronomens für eine Theorie des Selbstbewusstseins bewusst, die eine Reflexionstheorie und die ihr eingeschriebene dyadische Struktur vermeiden möchte. Sartre lässt somit keinen Zweifel daran, dass er den reflexionstheoretischen Fallen durch einen basalen Begriff von Selbstbewusstsein entgehen möchte. Die Spannung eines Selbstbezuges, die das Reflexivpronomen im Ausdruck des »unmittelbaren Bewusstseins (von) sich« bezeugt, ist aber nicht nur sprachliches, sondern auch systematisches Ärgernis. Schon im zweiten Teil von Das Sein und das Nichts, der die »unmittelbaren Strukturen des Für-sich« behandelt, sieht sich Sartre gezwungen, die absolute Unmittelbarkeit, durch die er einleitend das präreflexive Cogito bestimmte, zu relativieren. Zum einen kann die

sein nur nach Maßgabe aktuellen Gegenstandsbewussteins ein. (Vgl. SN, 35 f.) In diesem Sinne ist es die Natur des Bewusstseins, »daß es ›als Zirkel‹ existiert.« (SN, 23) 26 Aus der These der Identität von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, die Sartre hier nahe legt, zieht Brauner den Schluss, dass damit »eine erhebliche Einschränkung der Phänomenologie des Bewusstseins« einhergehe, »da hierdurch Phänomene ›bewusstlosen Verhaltens‹, wie etwa der in der Hirnforschung diskutierte Absence-Automatismus oder auch Phänomene der religiös-philosophischen Ekstatik, etwa die als ›Ichlosigkeit‹, ›Selbstauslöschung‹, versunkenes ›Schweigen‹ oder ›Einsfühlung‹ beschriebenen Bewusstseinszustände, wie sie in verschiedenen Traditionen zu finden sind, bei Sartre nicht mehr in den Blick geraten.« (Brauner 2007, 114) Da, wo die Ausführungen Brauners auf die weiter unten zu verfolgende Tendenz Sartres abzielen, der vorreflexiven Ebene des Bewusstseins eine wenn auch nicht egoische, so doch personale Identität zuzuordnen, treffen sie durchaus einen blinden Fleck der Sartre’schen Selbstbewusstseinstheorie. Und es ist korrekt, dass diese Phänomene keinen Ort in der Philosophie Sartres haben; seine Differenzierung zwischen einem vorreflexiven, (noch) egofreien Selbstbewusstsein und einem entsprechend egoisch verfassten Bewusstsein, lässt aber unter Umständen die Möglichkeit offen, die genannten Phänomene als solche gelten zu lassen. Das Selbstbewusstsein, das Sartre mit dem Gegenstandsbewusstsein korrelieren lässt, ist ja nicht schon selbst weltliches, konkretes Ich, dessen Auflösung die kontemplativen und ekstatischen Praktiken menschlicher Kulturen zustreben, sondern die Struktur von Bewusstsein überhaupt, die uns erlaubt, auch von diesen Phänomenen, als Erfahrung, das heißt hier als Seinsweise zu sprechen.

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dabei nahegelegte selbstgenügsame Identität innerhalb der Sartre’schen Ontologie nur dem An-sich und dem idealen Wert der Ansich-für-sich, nicht dem Bewusstsein zukommen. Zum anderen ließe ein so instantanes wie geschlossenes präreflexives Selbstbewusstsein zu wenig Spielraum, um die Genese reflexiven Selbstbewusstseins zu erklären. Da Sartre seine bewusstseinstheoretischen Überlegungen überdies lose an Heideggers Bestimmung des Daseins knüpft, das Sein des Bewusstseins also als das Sein bestimmt, »dem es ›in seinem Sein um dieses Sein selbst geht‹« (SN, 164), kann Bewusstsein kein Sein sein, dass »mit sich selbst in einer vollständigen Adäquation koinzidiert.« (Ebd.) Sartre muss mithin dem Umstand Rechnung tragen, dass das präreflexive Bewusstsein Bewusstsein (von) sich ist. »Und eben diesen Begriff Sich muß man untersuchen, denn er definiert das Sein des Bewußtseins selbst.« (SN, 168) Ein Sein, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es ihm in seinem Sein um dieses Sein selbst geht, das heißt, dem das Vermögen reflexiver Sorge eignet. Daher kann das Sich des Bewusstseins nicht selbstgenügsame und bezugslose Seinsfülle sein. »Das Sich verweist, doch es verweist eben auf das Subjekt.« (Ebd.) Diese Verweisstruktur des präreflexiven Bewusstseins birgt nun offenbar eine Dualität. Aber Sartre will sie nicht in dem Sinne verstanden wissen, dass es eine Einheit gibt, »die eine Dualität enthält […], sondern eine Dualität, die Einheit ist, eine Spiegelung, die ihr eigenes Reflektieren ist. Wenn wir nämlich das totale Phänomen zu erreichen suchen, das heißt die Einheit dieser Dualität […] verweist es uns sogleich auf eines der Glieder, und dieses Glied verweist uns seinerseits auf die vereinigende Organisation der Immanenz.« (SN, 168)

Zu dieser vereinigenden Organisation der Immanenz macht Sartre allerdings keine weitergehenden Angaben. Man sieht sich in diesem Zusammenhang aber auf die Bestimmungen des unpersönlichen Bewusstseins in Die Transzendenz des Ego verwiesen, von dem es dort hieß: »Es selbst kennt sich nur als absolute Interiorität« (TE, 46), und wir sahen, dass Sartre die Unmittelbarkeit der Koinzidenz von Sein und Erkennen dadurch kennzeichnete, »daß man die Interioriät lebt«. (TE, 76) Auch wenn Sartre sich eines exaltierten Begriffs von Leben in Das Sein und das Nichts weitestgehend enthält, so lässt sich die Inkonsistenz seiner Theorie des präreflexiven Cogito doch zu einem guten Teil darauf zurückführen, dass er die unfragmentierte Kohäsion, die den aktuellen Vollzug unseres Erlebens auszeichnet, nicht auf Kosten höherstufiger Strukturen personaler Selbsterfahrung 227 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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preisgeben wollte. Nur ist sie als präreflexives Cogito sowohl Ausgangspunkt phänomenologischer Beschreibung wie Element der daraus schöpfenden Ontologie und letztlich, als Explikat des höchsten Wertes, auch noch aussichtsloses Ziel bewussten Lebens. 27 Klammern wir Sartres Postulat ein, die menschliche Realität sei notwendig »nutzlose Passion« (SN, 1052), weil ihr das Ideal der Selbstvervollkommnung auf ewig verschlossen ist. Es ist bloßer Ausdruck einer atheistischen Präsumtion. So wird die Bestimmung des präreflexiven Cogito als eines unmittelbaren Bezugs zu sich erst dann problematisch, wenn die Ebene phänomenologischer Selbsterfahrung nicht vom ontologisch-erklärenden Bemühen um Selbstbewusstsein unterschieden wird. Im aktuellen Erleben, auch jeder Form reflexiver Selbstversicherung und der Einsicht in ihren notwendig dyadischen Charakter, ist der mediale Vollzug von Bewusstsein unfragmentiertes Bewusstsein. 28 Sartres phänomenologische Ontologie bietet aber keine Möglichkeit, diese beiden Ebenen auseinanderzuhalten. Sie gehören gleichermaßen zur konkreten Verfassung menschlicher Subjektivität und müssen dementsprechend gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Das bringt zwar eine reiche Theorie des Selbstbewusstseins hervor, führt aber zugleich dazu, dass sich das Regressproblem, das einem an den dyadischen Strukturen einer Reflexionstheorie orientierten Verständnis von Subjektivität eingeschrieben ist, auf der Ebene des präreflexiven Cogito zu wiederholen droht. Am Ende seiner Ausführungen vor der Société française de philosophie wird Sartre von Jean Hyppolite auf diese Spannung seiner Philosophie des präreflexiven Cogito hin befragt. In ihr sehe er die Doppeldeutigkeit einer Position, »die nicht die Unmittelbarkeit des Lebens ist, die dennoch unmittelbar ist und die außerdem den ZuWie Frank historisch pointiert hervorhebt (1991, 590): »Es ist charakteristisch, daß Sartre Hegels An-und-Für-sich-Sein für das Ideal des Bewußtseins (›la Valeur‹) erklärt: Es wäre ein Zustand, in dem dem Bewußtsein seine präreflexiv-unartikulierte Vertrautheit zugleich als eine Weise der Selbstunterschiedenheit und diese wiederum als vereinigt mit dem Sein des An-sich einleuchtete. Aber diesen höchsten Wert, nach dem alle Entwürfe des Pour-soi trachten, kann er nur als Utopie – als Idee im Kantischen Sinne – faßlich machen.« 28 Auf der Folie eines Begriffs intellektueller Anschauung, den sie der transzendentalphilosophie Fichtes entnimmt, kommt Wildenburg zu einem vergleichbaren Ergebnis: »Im unmittelbaren Vollziehen des Sichwissens ›gibt‹ es keine Spaltung, das präreflexive Cogito ist selbst nicht-gespaltenes Gewahrwerden seiner Selbst im Wissen um ein Objekt. Es bezeichnet das Gewahrwerden der Differenz, das in sich selbst nicht als gespaltenes verstanden werden kann.« Wildenburg (2003), 329. 27

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stand des Bewußtwerdens vorbereitet, der die Reflexion ist«. (SuS, 321) Die Inkohärenz in Sartres Position bringt Hyppolite eindrücklich auf den Punkt: »Und Sie haben diese Zwischenstufe eingeführt, die die menschliche Realität charakterisiert; diese präreflexive Zwischenstufe wird manchmal als Unmittelbarkeit formuliert (seit dem Anfang von Das Sein und das Nichts); aber dann wieder beschreiben Sie sie als einen Zustand der Vermittlung, weil sie in sich die Anwesenheit bei sich ebenso wie die Abwesenheit von sich einschließt.« (SuS, 322)

Sartre antwortet, wie man es von einem Phänomenologen gegenüber einem Hegelianer erwarten kann, mit dem Hinweis darauf, dass das Unverständnis dafür, das solch eine ambivalente »Zwischenstufe« Zentrum der theoretischen Bemühungen um das Selbstbewusstsein ist, daher rührt, dass man sich auf den Standpunkt kategorialer Bestimmungen stellt »und nicht auf den Standpunkt einer reinen und einfachen Entdeckung, die wir interpretieren müssen, die des nichtthetischen Bewußtseins«. (Ebd., 322) »[I]ndem ich jetzt mit Ihnen spreche und darin aufgehe, mit Ihnen zu sprechen, bin ich dennoch nicht-thetisch meiner bewußt; das ist etwas, das man nicht in Erkenntnisbegriffen ausdrücken muß, das aber trotzdem mein voller Besitz ist. Es ist also etwas, wovon ich Erfahrung habe.« (Ebd.)

So unspektakulär und naheliegend diese Einsicht auch zunächst scheinen mag, war Husserl doch der Erste, »der von einer eigenen Dimension des Bewusstseins gesprochen hat« (SuS, 323) und sie theoretisch anerkannte. Diese Dimension erschöpft sich aber nicht – und kann sich für Sartre nicht erschöpfen – in einem reinen, positiven, das hieße letztlich weltlosen Selbstbezug. Nach Maßgabe der existenziellen Bestimmung von Bewusstsein, ist es immer auch durch die Negativität gekennzeichnet, die es ihm erlaubt, sich die Welt, die es umgibt, und die personale Einheit seines Lebens anzueignen, zu sortieren und planvoll zu gestalten. »[E]s ist dieses Nichts, das durch das Bewußtsein erreicht wird, das aber bewirkt, daß die Unmittelbarkeit des Bewusstseins ein Unmittelbares ist, das nicht ganz und gar Unmittelbares ist, obwohl es es dennoch ist. Genau das ist es.« (Ebd., 323)

Als »gelebten dialektischen Widerspruch« apostrophiert Hyppolite diese Antwort – durchaus mit Sartres Zustimmung. Im Zuge aktueller Anerkennung präreflexiven Bewusstseins, d. h. seiner lebendigen 229 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Erfahrung, zeichnet sich aber nicht nur seine Identität und Stetigkeit ab – »jeder ist es in jedem Augenblick« (SuS, 287) –, Sartre stellt überdies fest, »daß das, wovon ich Erfahrung habe, auch Notwendigkeit ist als Bedingung der Möglichkeit, wegen jeder Theorie des Bewusstseins und wegen der Reflexion«. (SN, 322 f.) Diese Konstellation ist aus anderen Kontexten bekannt. Auch in der Husserl-Lektüre Franks begegneten wir einem Mit-sich-vertraut-Sein als »alltäglicher« Erfahrung, die zugleich als Möglichkeitsbedingung reflexiven Selbstbezugs herhalten sollte. Versteht man diese Erfahrung als Selbstvertrautheit eines individuierten, personalen Bewusstseins, dann ist die Einsicht in die Möglichkeitsbedingung dieser Erfahrung, wie wir mit Mohr sahen, nur zu dem Preis einer substantialistischen Inkohärenz zu haben. Die Intuition, die Sartre in Die Transzendenz des Ego leitete, legt zwar nahe, dass er diesem Fehler entgehen kann. Gerade diese frühe Einsicht wird in Das Sein und das Nichts aber entscheidend modifiziert. 29 Als Sartre das nicht-thetische Selbstbewusstsein, das jedes aktuelle Gegenstandsbewusstsein auszeichnet, auf den ersten Seiten von Das Sein und das Nichts einführte, tat er dies bereits auf der Grundlage der Einsicht, dass die hinreichende Bedingung dafür, dass ein erkennendes Bewusstsein Erkenntnis von seinem Gegenstand, etwa einem Tisch, ist, eben die sei, dass ich Bewusstsein davon habe, Bewusstsein von diesem Tisch zu haben. »Das reicht zwar nicht aus zu behaupten, daß dieser Tisch an sich existiert – wohl aber, daß er für mich existiert.« (SN, 20) Und dieses für mich war hier bereits der erlebte Ausdruck des nicht-thetischen Selbstbewusstseins. Jenes ist nämlich nicht, wie es die frühen Ausführungen noch evoziert hatten Sartre gibt mit der Vorstellung eines spontanen, unpersönlichen Bewusstseins auch die bewusstseinstheoretische Vorsicht phänomenologischer Verfahren auf, um »in aller Naivität jene Totalität zu befragen, die der Mensch-in-der-Welt ist.« (SN, 50) Zwar ist auch Heideggers Existenzialanalyse in Sein und Zeit an einem »alltäglichen Dasein« orientiert und wie bei Sartre führt dieser Fokus zu einer gewissen Abwertung lebendiger Gegenwart. Es ist aber zu bezweifeln, dass Sartre Heideggers Verzicht auf die Epoché zu Recht als Möglichkeit betrachtet, naiv die Totalität »Mensch« in ihrem konkreten Gegebensein zu befragen. Heideggers Gewinn des »In-der-Welt-seins« wird eher als schon vollzogene Radikalisierung, denn als Aufgabe der Epoché zu verstehen sein. (Vgl. Tugendhat 1970, 262 f.) Dem gegenüber werden wir bei MerleauPonty einen vorsichtigeren Umgang mit den überkommenden phänomenologischen Verfahren verfolgen können. Er erkennt z. B. an, dass letztlich auch Heideggers »Inder-Welt-sein« nur mit Vollzug phänomenologischer Reduktion als Thema auftauchen kann. (Vgl. PhW, VIII)

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»schlicht und einfach eine ›unpersönliche‹ Kontemplation« (SN, 212), sondern »das Bewußtsein in seiner fundamentalen Selbstheit«. (Ebd.) Und es ist diese Struktur des Bewusstseins, deren problematischer Ambivalenz wir uns noch widmen müssen, die »unter gewissen Bedingungen die Erscheinung des Ego als das transzendente Phänomen dieser Selbstheit« (ebd.) ermöglicht. Erst vermöge dieser egoischen Transzendierung 30 ist das Bewusstsein, als Für-sich, ein konkretes Individuum in der Welt und kann sich als solches objektivieren. Die empirisch-personale Einheit konstituiert sich in SN nun auf einer zwar nicht-egoischen, deshalb aber nicht minder personalen Ebene des Bewusstseins. Zu den wenigen systematischen Angaben, die Sartre zu der personalen Struktur dieser Ebene macht, gehört, dass diese eine fundamentale »Ichheit [moiité] der Welt« (SN, 214), mithin eine Art individuelle Präfiguration des An-sich ermöglicht. Das präreflexive Cogito gilt somit einerseits als unmittelbare Kohäsion des Bewusstseins, die seinen aktuellen Vollzug bestimmt, als auch als fundamentale Ichheit dieses Bewusstseins. Andererseits ist es aber unter der folgenden Bedingung Grund unseres reflexiven Selbstbezuges: Das Bewusstsein, das sich in seiner fundamentalen Erfahrungsdimension als unfragmentierte Ichheit gegenwärtig ist, darf nicht als hermetisch dichte Struktur gelten, seine Binnenstruktur enthält bereits den Keim einer Dyade. Diese basale Selbstspaltung des Bewusstseins hat bei Sartre gewissermaßen zwei Stufen der Distanzierung. Die – logisch wie genetisch – erste Distanz zeigt sich in jenem »nicht spürbaren Riß« (SN, 170), der das Bewusstsein eben nicht als bewegungslose Identität, sondern als Anwesenheit bei sich, das heißt als eine »erste reflexive Bewegung« (SN, 213), konstituiert. Die zweite Distanz und damit eine zweite reflexive Bewegung besorgt demgegenüber die Abwesenheit von sich. Und Abwesenheit heißt hier bei der Welt sein können und darin Entwurf sein müssen. In dem Maße, wie diese Selbstüberschreitung des Bewusstseins hin auf das, was es nicht ist – seine Möglichkeiten – für Sartre, wie für Heidegger, nur »in der Zeit« möglich ist, erfasst sich die menschliche Realität für Sartre als zeitlich, den Sinn ihrer Transzendenz als Zeitlichkeit. (Vgl. SN, 214) Im Rahmen der Analyse der zeitlichen Struktur von Bewusstsein verschärft sich die interne Spannung des Cogito Anders als in Die Transzendenz des Ego meint »transzendent« nicht einfach den Komplementärbegriff zu immanent, sondern bezeichnet zumeist eine aktive Tendenz des Bewusstseins zur Selbstüberschreitung. Vgl. Fretz (2003), 117–122.

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als einer fragmentierten Präsenz. Zugleich zeigt sich aber Sartres Verlegenheit, dass auch die zweistufige Konstitution des personalen ekstatischen Selbst stets einem gegenwärtigen Selbst gegenüber steht – das die Spannung hält.

4.2.2 Das ekstatische und das gegenwärtige Selbst So wie Merleau-Ponty zwei Jahre später im Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung dem Idealismus Descartes’ und Kants vorhalten wird, »Subjekt und Bewusstsein von ihrem Weltbezug loszulösen« und allein dadurch das »Bewußtsein als die absolute Selbstgewißheit« (PhW, 5) gelten zu lassen, so ist auch Sartres erklärte Absicht in Das Sein und das Nichts, sich »der Instantaneität zur Seinstotalität hin zu entziehen« (SN, 164), d. h. »aus dem Augenblickhaften, dem Idealismus und dem Solipsismus herauszukommen«. (SuS, 268) 31 Da sich auch Husserl letztlich »im Cogito eingeschlossen« (SN, 163) habe, sieht Sartre in diesem Zusammenhang die existenzial gewendete Phänomenologie Heideggers als einen vielversprechenden Ausgangspunkt. Heidegger statte das Dasein von vornherein »mit einem Selbstverständnis aus, das er als einen ›ekstatischen Ent-wurf‹ seiner eigenen Möglichkeiten definiert«. (SN, 164) Aber auch wenn dieser ekstatische Charakter der menschlichen Realität den Ausbruch aus einem hermetischen Cogito bedeute, so gelinge das Heidegger nur, weil bei ihm »dem Dasein von Anfang an die Bewußtseinsdimension entzogen wurde«. (Ebd.) Da dieses innerhalb der Existenzialanalysen irreversible Versäumnis dazu führe, dass der »ek-statische Charakter der menschlichen-Realität […] in ein verdinglichtes und blindes An-sich« (ebd.) zurückfalle, müsse man sehr wohl beim Cogito, das heißt beim Bewusstsein beginnen. Nur dürfe dieser neue Das impliziert derweil nicht, dass es keine Instantaneität des Bewusstseins gibt; an mehreren Stellen wird das präreflexive Cogito vielmehr durch diesen Terminus gekennzeichnet. Vgl. etwa SN, 118. Ferner ist der Gegenstand der ontologischen Untersuchungen des Für-sich gerade »nicht die Totalität des Seins […], sondern der instantane Kern dieses Seins.« (SN, 160). Sartre verliert aber zunehmend aus den Augen, dass er diesen Kern als Erfahrungsdimension in Anspruch nimmt, die nicht mit den vulgären Konzepten eines augenblickhaften Jetzt oder einer zeitlosen Präsenz zu fassen ist; er also längst ein phänomenologisches Datum anerkennt, dass er expressis verbis leugnet.

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Anfang nicht bei dem schon phänomenalen, reflektierten Bewusstsein, sondern bei dessen transphänomenalem Sein, dem präreflexiven Bewusstsein liegen. Für Sartre hatte sich das menschliche Bewusstsein aber als Seinsmangel, als seinsdekomprimierende Nichtung des An-sich gezeigt, als ein Sein, das das zu sein hat, was es nicht ist, und nicht das ist, was es ist. Und da Bewusstsein für Sartre als ein Sein gilt, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht, muss die unmittelbare Instantanität seiner präreflexiven Verfassung einerseits brüchig werden, andererseits muss diese Brüchigkeit auf der Ebene existenzieller Dialektik aufgehoben werden können. So stößt Sartre beiläufig auf die aufhebende Eigenschaft von Bewusstsein, stets für einen gegenwärtigen Zeugen zu existieren, der es selbst ist. 4.2.2.1 Anwesenheit bei sich – zwei Spiegel, die Welt und ein Zeuge Die Zwischenstufe des präreflexiven Cogito, die prekäre Unmittelbarkeit seines Selbstbezuges, kommt bei Sartre auf verschiedene Weisen zum Ausdruck. Im ersten Kapitel des zweiten Teils von Das Sein und das Nichts, das mit »Die unmittelbaren Strukturen des Für-sich« überschrieben ist, macht Sartre deutlich, warum die zuvor installierte differenzlose Instantanität zu lösen ist. Als das »Seinsgesetz des Fürsich« zeigt sich nämlich, dass es nur in der Form von »Anwesenheit bei sich« es selbst sein kann. Und jede »Anwesenheit impliziert ja Dualität. Also zumindest virtuelle Trennung.« (SN, 169) Das vorherrschende Bild, das Sartre dieser virtuellen Trennung beilegt, ist das vis-à-vis zweier Spiegel, oder vielmehr das des »Spiegelung-Spiegelnde« (SN, 168); mithin eine schon überbrückte Dyade reflektierender Flächen, die ineinander auf die Unendlichkeit zu verweisen scheinen. Auch wenn Sartre sichtlich Gefallen an der Reichhaltigkeit dieses Bildes hat, will er das Bewusstsein aber nicht als eine Mise en abyme gelten lassen und dabei Gefahr laufen, »wie Hegel die Rückkehr zu sich als das wahrhaft Unendliche« (SN, 167) zu definieren. Zunächst ist dieses Bild jedoch insofern pünktlich, als sich das Sich, bei dem das Bewusstsein anwesend ist, stets als Unerreichbares gibt. Wäre die Anwesenheit als reine Koinzidenz zu denken, löste sich die dyadische Struktur wieder auf, das Für-sich hätte keinen Spielraum für einen Selbstbezug mehr und verdichtete sich zu einem An-sich.

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Darum kann das Sich »[…] tatsächlich nicht als ein reales Existierendes erfaßt werden: Das Subjekt kann nicht Sich sein, denn die Koinzidenz mit sich läßt, wie wir sahen, das Sich verschwinden. Aber ebensowenig kann es Sich nicht sein, da das Sich Anzeige des Subjekts selbst ist. Das Sich stellt somit eine ideale Distanz in der Immanenz des Subjekts zu sich selbst dar, eine Weise, nicht seine eigene Koinzidenz zu sein, der Identität zu entgehen, gerade indem es sie als Einheit setzt, kurz, in einem dauernd instabilen Gleichgewicht zu sein zwischen der Identität als absoluter Kohäsion ohne die geringste Verschiedenheit und der Einheit als Synthese einer Vielfalt. Das nennen wir die Anwesenheit bei sich.« (SN, 169)

Das dauernd instabile Gleichgewicht, das sich in der fragilen Konstruktion des »Spiegelung-Spiegelnden« anzeigt, kann seine Balance und Stetigkeit aber nicht allein der infiniten Spiegelung selbst verdanken. Auch wenn Sartre die wechselseitige Abhängigkeit seiner phantomhaften Dyade fordert, also betont, dass das Spiegelnde nur insofern ist, als es eine Spiegelung spiegelt und die Spiegelung nur Spiegelung sein kann, insofern sie auf das Spiegelnde verweist, so würde sich dieses monadische Hin und Her nach Sartre nicht nur selbst aufheben, es würde auch jede Möglichkeit zur Überschreitung des Bewusstseins als »Grundlage des Erkennens und Handelns im allgemeinen« (SN, 323) fragwürdig machen. »[W]enn das Spiegelnde nichts anderes als Spiegelndes dieser Spiegelung ist und wenn die Spiegelung nur charakterisiert werden kann durch ihr ›Sein-um sich in diesem Spiegelnden zu spiegeln‹, vernichten sich die beiden Glieder der Quasi-Dyade gemeinsam, indem sie ihre beiden Nichtse aneinander stützen. Das Spiegelnde muß irgendeine Sache spiegeln, damit sich die Gesamtheit nicht im nichts auflöst.« (SN, 325 f.)

Hier ist die grundlegende Doppelbestimmung des Bewusstseins erneut eingeholt. Es ist nur in soweit vorreflexives Bewusstsein von sich, wie es seine intentionale Struktur aktualisiert, das heißt es ist nur Selbstbewusstsein als Bewusstsein von Welt. Die Spiegel-Dyade braucht stets einen Fremdkörper, der die Selbstspiegelung des Bewusstseins anregt. Die dyadische Struktur des vorreflexiven Bewusstseins verbürgt aber nicht nur seinen Weltbezug, sondern auch seine Eigentümlichkeit, sich selbst gegenwärtig sein zu können. Das präreflexive Cogito ist zwar noch kein thetischer objektivierender Selbstbezug: »Aber es ist dem reflexiven Cogito nichtsdestoweniger homolog, insofern es als die erste Notwendigkeit für das unreflektierte Bewußtsein erscheint,

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daß dieses von ihm selbst gesehen wird; es enthält also ursprünglich diese aufhebende Eigenschaft, für einen Zeugen zu existieren, obwohl dieser Zeuge, für den das Bewußtsein existiert, es selbst ist.« (SN, 165)

Es ist nicht sogleich einsichtig, in welcher Verbindung die Zeugenschaft des präreflexiven Bewusstseins zu seiner Spiegelstruktur steht. Auf der Ebene des präreflexiven Selbstbewusstseins schweigt sich Sartre über diese »aufhebende Eigenschaft« des Bewusstseins aus. Er lässt offen, ob es sich bei dieser Zeugenschaft um die Bestimmung des »Spiegelung-Spiegelnden« handelt, die jene »Seinsverbindung« zwischen Reflexion und Reflektiertem gewährleistet, die sowohl den infiniten Regress, als auch die Vorstellung zweier »selbstständiger« Bewusstseine vermeiden kann. (Vgl. SN, 289 f.) Die allgemeine Tendenz der Sartre’schen Ausführungen spricht jedenfalls für eine Lesart, die eine erschöpfende Reziprozität zwischen Spiegel und Spiegelung nahe legt und diese nicht als eine Dyade verstehen möchte, die einem Zeugen erscheinen müsste. Der Zeuge markiert lediglich die Verfassung des vorreflexiven Bewusstseins, die Spiegelflächen so aufgespannt zu lassen, dass die Welt erscheinen kann. Sartre hat mithin durchaus die Mittel zur Bestimmung dieser Zeugenschaft vor Augen, die auf den medialen Vollzug von Bewusstsein, nicht auf eine Instanz hinter diesem Bewusstsein abzielen. Auf der Ebene des reflexiven Bewusstseins wird sich die Zeugenschaft des präreflexiven Bewusstseins dementsprechend wiederholen, sie sind einander eben homolog. Expliziert wird sie dort als eine wechselseitige Leistung des reflektierten und des reflexiven Bewusstseins: »[D]as Reflektierte ist für das Reflexive Erscheinung, ohne daß es deshalb aufhörte, Zeuge (von) sich zu sein, und das Reflexive ist Zeuge des Reflektierten, ohne daß es deshalb aufhörte, sich selbst Erscheinung zu sein.« (SN, 291) Diese wenig hilfreiche Explikation betrifft erneut lediglich die Frage nach Selbstbewusstsein als einer Leistung von Bewusstsein, anders gesagt, die Aufgabe, einen reflektierten Akt und einen Reflexionsakt als Elemente desselben Bewusstseinsstromes zu identifizieren. In der Analyse des expliziten Selbstbezugs will Sartre die Zeugenschaft von Bewusstsein denn auch nachdrücklich von jeder Vorstellung eines überzeitlichen Homunkulus befreit wissen. »Wer auf mich reflektiert, ist nicht ein reiner zeitloser Blick, ich bin es selbst, ich, der dauert, verstrickt im Zirkel meiner Selbstheit, in Gefahr in der Welt, mit meiner Geschichtlichkeit. Nur, das Für-sich, das ich bin, lebt

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diese Geschichtlichkeit und dieses Sein in der Welt und diesen Selbstheitszirkel hier nach dem Modus der reflexiven Aufspaltung.« (SN, 292)

Es ist nicht zuletzt Sartres existenziellen Intutionen geschuldet, dass er die Zeugenschaft auf der Ebene reflexiven Selbstbewusstseins nicht als ein Prinzip lebendiger Seinsverbindung disparater Bewusstseine verstehen kann. Das Sartre’sche Subjekt kann da, wo es als ein so freies wie geängstigtes Mangelwesen gilt, keinen festen Stand, keine Ruhe haben, nicht wirklich bei sich sein. Die Seinsverbindung zeigt sich lediglich als Ausblick auf den hehren Wert des An-sichfür-sich-Seins, der »im Inneren des nichtenden Bezugs ›Spiegelungspiegelnd‹, anwesend und unerreichbar« (SN, 198) bleibt und auch das Für-sich selbst bleibt stets »dahinten, außer Reichweite, in den Fernen seiner Möglichkeiten«. (SN, 213) Da Sartre letztlich fordert, dass »Bewusstsein von uns selbst haben und uns wählen eins sind« (SN, 801), verlieren die Einsichten in den unmittelbaren, präreflexiven Grund dieser Subjektivität an Gewicht. Neben der theoretischen Dringlichkeit, einen solchen Grund zu postulieren, und der phänomenologischen Redlichkeit, einen solchen anzuerkennen, wiegen die existentialphilosophischen Hinsichten schwerer. Nur im Entwurf und der Wahl seines Möglichkeitshorizontes soll das Subjekt, als ein ekstatisches, stetig projektierendes Selbst, zur Geltung kommen. 4.2.2.2 Abwesenheit von sich – Personalität und Ego Diese existenzphilosophische Intuition ist es auch, die Sartres Ausführungen zur Personalität an einigen Stellen undurchsichtig, seinen Versuch, die Probleme der Reflexionstheorie zu vermeiden, mehrfach fragwürdig werden lässt. Die unfragmentierte Selbstgegenwart von Bewusstsein mag eine irreduzible Erfahrung sein. Die entsprechende Emphase der Unmittelbarkeit wird aber genau dort prekär, wo sie nicht mehr bloßer Ausdruck eines Erlebens, sondern transzendentales Element einer Ontologie der Freiheit zu sein beansprucht. Im Rahmen dieser verhalten realistischen Ontologie hat sich das An-sich allerdings als dasjenige Sein erwiesen, das sich in unfragmentierter Dichte darbietet. Das Bild einer massiven Selbstständigkeit des Bewusstseins ist also, selbst wenn es nicht völlig unangemessen wäre, bereits an das andere Element der ontischen Dualität vergeben. Die Kosten dieser Disposition sind erheblich. Nach Maßgabe der grundlegenden Sphären, einer massiven und einer des Mangels, ist eben das 236 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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einzig verbleibende Bild für Unmittelbarkeit das eines massiven Bewusstseins, dem in seiner Erstarrung lebendiges Selbstsein fehlen muss. So wird verständlich, dass Sartres ursprüngliche Bestimmung unmittelbaren Selbstbewusstseins sich im begrifflichen Fortschritt seiner Ontologie aufzulösen scheint. Eine Selbstgenügsamkeit menschlichen Bewusstseins, die sich bereits durch die Grundstruktur von Anwesenheit bei sich als eines stets ausstehenden und versetzten Zustands angezeigt hatte, rückt angesichts der Aufgabe, Personalität zu bestimmen und einem »fortgeschritteneren Nichtungsgrad« (SN, 213) Rechnung zu tragen, den Sartre Selbstheit nennt, in weitere Ferne. Je unversöhnlicher die Diskrepanz im Inneren des Subjektes, umso näher kann die Welt rücken. Ein ursprüngliches Zur-Welt-Sein hatte sich bereits an dem Erfordernis abgezeichnet, dass sich das Spiegelspiel der Anwesenheit bei sich nur bezüglich einer Welt realisieren kann. Diese wechselseitige Abhängigkeit wird respektive der Struktur von Personalität umso nachdrücklicher artikuliert. »Ohne Welt keine Selbstheit, keine Person; ohne die Selbstheit, ohne die Person keine Welt.« (SN, 214) Abstand von sich selbst soll dem Bewusstsein Freiheit und Beweglichkeit sichern und das klaustrophobe Gespenst eines weltentrückten Solipsismus verjagen. Der vorreflexiven Vertrautheit des Bewusstseins mit sich selbst musste daher eine zwiespältige Anwesenheit eingeschrieben werden, deren trennende Bewegung durch die Reflexion bis hin zur Selbstheit vorangetrieben wird. Die reflexive Bewegung, die Sartre zunächst vorschwebt, ist keine hermetische Selbstversicherung, sondern Erfassen des eigenen Subjektes in seiner Welt, das heißt in dem durch den Horizont individueller Möglichkeiten präfigurierten An-sich. Sartres Entschiedenheit, Bewusstsein als gleichursprünglich mit Welt zu verstehen, also der existenzphilosophischen Emphase eines présence au monde wider jeden Solipsismus gerecht zu werden, offenbart erneut sein Schwanken hinsichtlich der Beziehungen zwischen vorreflexiven und dezidiert reflexiven Dimensionen von Bewusstsein. Es wird zunehmend unklar, auf welcher Bewusstseinsebene sich personale Strukturen ausbilden und wie sie selbst und ihre für Sartre nun offenbar semiotische Beziehung zu einem Ego zu verstehen ist, das in Das Sein und das Nichts nur noch »das Zeichen der Persönlichkeit ist«. (SN, 213) Überhaupt ließe sich nur mit einigem konstruktiven und spekulativen Aufwand klären, auf welche phänomenologisch ausweisbaren Erlebnisformen oder tradierten Begrifflichkeiten die 237 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Ausdrücke Person und Persönlichkeit Bezug nehmen sollen. Sicher zeigen lässt sich, dass Selbstbewusstsein in seiner psychischen und vor allem psychologisch maßgeblichen Realität auch in SN einem Ego zugeordnet wird, das sich auf der Grundlage eines vorreflexiven Cogito erst im Vollzug stetiger, entschiedener Reflexionen konstituiert. Da die personalen Strukturen in SN aber vom Ego unterschieden und der Bewusstseinsimmanenz einverleibt werden, ergibt sich jener eigentümliche Zwischenbereich, den etwa Zahavi als Differenzierung von »ego and self« (Zahavi 2008, 115) verstanden wissen will. 32 Wiederholt hatte Sartre nahe gelegt, das präreflexive Selbstbewusstsein sei ein vorpersonales, allenfalls vermöge der virtuellen Dyade der Anwesenheit bei sich strukturiertes Bewusstsein, und erst die reflexive Bewegung der Selbstheit ermögliche »unter gewissen Bedingungen das Erscheinen des Ego als das transzendente Phänomen dieser Selbstheit«. (SN, 212) Die Rigorosität, mit der Sartre in Die Transzendenz des Ego noch die personalen Formen des Selbstbewusstseins als Elemente der opaken Welt inszeniert wissen wollte, findet in Das Sein und das Nichts aber keine Entsprechung mehr. Zwar ist er nach wie vor der Auffassung, dass »das Ego nicht in den Bereich des Für-sich gehört« (ebd.), er räumt aber nun ein, dass es nicht das transzendente, weltliche Ego ist, das dem Bewusstsein eine personale Existenz verleiht, »sondern das Faktum, für sich als Anwesenheit bei sich zu existieren«. (SN, 213) Sartre will nun offenbar bereits die reflexive Bewegung des noch phantomhaften Spiegelspiels der Anwesenheit bei sich als Garant personaler Individuation verstehen. Damit etabliert er Personalität als wenigstens durch zwei Momente bestimmte Dimension von Bewusstsein: Als erstes Moment muss der virtuelle Abstand der Anwesenheit bei sich gelten, der es erlaubt, die intentionale Verfasstheit, das Zur-Welt-Sein des Bewusstseins, bereits auf der nicht-thetischen, vorreflexiven Ebene des Dieser Zwischenbereich ergibt sich um den Preis eines inkohärenten Verständnisses von Reflexion, das hier für Sartres Theorie des Selbstbewusstseins aufgezeigt wurde. Brauner spricht in dieser Hinsicht von »unpersönlicher Personalität« und meint damit den Umstand der zwar personal, aber nicht egologisch verfassten Struktur des vorreflexiven Bewusstseins. Dass Sartre nun nicht mehr, wie noch in Die Transzendenz des Ego, darauf beharrt, ein unpersönliches Bewusstsein anzunehmen, nimmt er zum Anlass, Sartre die Konsequenz nahezulegen, »dass Personalität als in der Interiorität des unmittelbaren Bewusssteins entstehendes Phänomen gedacht wird, d. h. als ein nicht intersubjektiv bedingtes Geschehen angesehen wird«. Brauner (2000), 192.

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Bewusstseins zu artikulieren. Die freiheitliche erste Nichtung dieses »unmerklichen Rißes« gewährleistet dann jene zweite reflexive Bewegung des Bewusstseins, in der es sich in seiner faktischen Geworfenheit als Mangel erfasst. Das konkrete Mangelnde, also das, »was genau diesem Für-sich und keinem anderen mangelt« – das also eine individualisierende Funktion gewinnt – bestimmt er als »das Mögliche des Für-sich« (SN, 201). Auf dieses Mögliche hin, das sich für Sartre nicht auf eine subjektive Realität reduzieren lässt, »vielmehr eine konkrete Eigenschaft schon existierender Realitäten« (SN, 204) ist, findet sich das Bewusstsein stets bezogen. »Und diese freie Notwendigkeit, dahinten zu sein, was man in Form von Mangel ist, konstituiert die Selbstheit oder den zweiten wesentlichen Aspekt der Person.« (SN, 213)

Damit ist die Natur des Für-sich als eines Mangelwesens, als dasjenige Sein, dem eine Koinzidenz mit sich stets versagt bleibt, in seiner Binnenstruktur aufgezeigt und die personale Struktur erweist sich in ihrem zweiten Aspekt als »abwesende-Anwesenheit« (ebd.). 33 Die Tendenz des Bewusstseins, sich auf das Mögliche hin zu transzendieren, das seine Welt ihm zeigt, spannt den unmerklichen Riß im Inneren des Bewusstseins weiter auf und gewährleistet für Sartre, dass es »nicht in den substantialistischen Grenzen der Instantaneität des kartesianischen Cogito« (SN, 215) gefangen bleibt. Das Verhältnis von Personalität und Ego sowie die ihnen entsprechenden Leistungen der Reflexion werden aber verdunkelt, wenn man wie Sartre nun animmt, dass das Mögliche, auf das hin sich das Bewusstsein überschreitet, gerade »nicht als Gegenstand eines setzendes Bewusstseins anwesend« sein kann, »sonst wäre es reflektiert«. (SN, 214) Es sei vielmehr »nicht-thetisch abwesend-anwesend«. (Ebd.) Sartre verlegt damit sowohl den phantomhaften Abstand der Anwesenheit bei sich, als auch die reflexive Distanz, die die Selbstheit fordert, in die vorreflexive Ebene des Bewusstseins. Damit ist nicht nur dem Gehalt seiner vormaligen These von der Unmittelbarkeit des vorreflexiven Selbstbewusstseins widersprochen; indem er die beiden wesentlichen In SuS wird Sartre Anwesenheit und Abwesenheit insofern deutlicher aufeinander beziehen, als dort schon die Anwesenheit Abwesenheit impliziert: »Nun setzt die Anwesenheit bei sich eine leichte Distanz, eine leichte Abwesenheit von sich voraus, ein ständiges Spiel von Abwesenheit und Anwesenheit, dessen Existieren als schwierig erscheint, das wir aber ständig volllziehen, und das die Seinsweise des Bewußtseins ist.« (SuS, 296)

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Momente der Personlität von der Leistung der Reflexion befreit, kann sich noch nicht konstituieren, was als eine konkrete personale Subjektivität zu gelten hätte. Was sich hingegen konstituiert, ist eine grundlegende Beziehung auf und Okkupation von Welt, im Sinne einer Perspektive der ersten Person. Denn es gibt hier zwar noch kein thetisches Bewusstsein der reflexiven Versicherung eines Subjektes in der Welt, wohl aber eine Art »Ichheit«, durch die mir die Welt gegeben ist. Zwar wäre es »absurd zu sagen, daß die Welt, insofern sie erkannt ist, als meine erkannt ist. Und trotzdem ist diese ›Ichheit‹ der Welt eine flüchtige und doch immer anwesende Struktur, die ich lebe«. (SN, 214) Es zeichnet sich somit ab, dass Personalität auf der einen Seite eine grundlegende Welt- und Selbstvertrautheit meint, wie sie sich an einem etwas exaltierten Lebensbegriff zeigen kann. Auf der anderen Seite konstituiert sich Personalität für Sartre nur vermöge des ekstatischen Entwurfes eines Bewusstseins auf das Mögliche seiner Welt hin. Für die erste Hinsicht kippen die Ausführungen stets zu Gunsten eines vorreflexiven Bewusstseins, dessen phantomhafte Binnendifferenzen seine ursprüngliche Einheit nicht gefährden können. Der zweiten Hinsicht eignet die Dringlichkeit eines Aufbruchs. Und da es sich um einen entschiedenen Aufbruch handelt, ist eine reichhaltige Reflexion hier immer schon mitgedacht. Denn »wie wäre auch die Person zu definieren, wenn nicht als freier Bezug zu sich?« (SN, 213) Folgt man Sartre bis hierher, so wird man sich nur schwer der Einschätzung Franks34 entziehen können, dass Sartre hinsichtlich der Frage nach Selbstbewusstsein und seiner strukturellen Verfassung wenigstens mehrdeutig, eigentlich aber widersprüchlich verfährt und das Problem der Theorie des Selbstbewusstseins innerhalb seiner phänomenologischen Ontologie weder löst noch selbst für eine radikalere phänomenologische Fragestellung fruchtbar macht. Die gegenläufigen Tendenzen innerhalb dieser Phänomenologie des Selbstbewusstseins haben aber nicht nur eine präreflexive Ichheit des Bewusstseins zum Vorschein gebracht. Bei aller Entschiedenheit, die »Grenzen der Instantaneität des kartesianischen Cogito« (SN, 215) hinter sich zu lassen, ließ sich die eigentümliche Ständigkeit des bewussten Erlebens nicht gänzlich eliminieren. Im Problemhorizont des bereits ausgewiesenen Zeugenbewusstseins, tritt diese Dimension an 34

Vgl. Frank (1991), 588 f.

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der Theorie der Zeitlichkeit deutlich hervor und verweist erneut auf das Ärgernis lebendiger Gegenwart. 4.2.2.3 Einen Augenblick, bitte! – Zeitlichkeit, Reflexion und Ego Die konzeptuelle Spannung, die Sartre seiner Bestimmung von Selbstbewusstsein einschreibt, erreicht in den Analysen zur Temporalität ihren Höhepunkt. Die komplementären Ansätze eines unmittelbaren, instantanen und eines ekstatischen Selbstbewusstseins gewinnen ihre Divergenz augenscheinlich aus den ihnen zugeordneten Modi von Gegenwart auf der einen, von Zukunft und Vergangenheit auf der anderen Seite. Neben der von Heidegger überkommenen Konzeption der Zeitmodi als Ekstasen, zeigt sich an Sartres ambivalentem Begriff des Augenblicks ein einheitsstiftender Vorrang der Gegenwart. Die Gegenwärtigkeit des Augenblicks wird aber als phänomenologischer Ausgangspunkt einer »reinen Subjektivität des instantanen Cogito« (SN, 117) und zugleich als jene limesartige »instantane Gegenwart« in Anspruch genommen, von der jeder weiß, »daß sie überhaupt nicht ist, […] nur die Grenze einer unendlichen Teilung wie der Punkt einer Ausdehnung«. (SN, 216) 35 Die Ekstasen Leitende Heuristik auch der »vorontologischen phänomenologischen Beschreibung« von Zeitlichkeit ist die Vorstellung einer »zeitlichen Totalität« (SN, 216). Damit soll ein vulgäres Verständnis zeitlicher Sukzession unterbunden werden, dem zufolge ihre drei Dimensionen sich in einer Reihe von »jetzt« erschöpfen, von denen die einen noch nicht und die anderen nicht mehr sind, und das, was wir Gegenwart nennen, nur der Limes des Vergehens ist. Auf solch ein Missverständnis von Gegenwart als eines »infinitesimalen Augenblicks« stoMan kann diesen Doppelsinn, wie Theunissen es tut, auch auf die oft anzutreffende Metapher der Innen- und Außenseite abbilden. Die Instantanität der Nichtung des Für-sich wäre dann seine Inwendigkeit, die »Struktur der Zeitlichkeit […] – und dies begründet ihre Gegenposition gegenüber der Struktur des präreflexiven Cogito – die nach außen gewendete Seite dieses Seins«. (Theunissen 1991, 147) In diesem Sinne setzt sich Sartre gegen einen Vorrang der Gegenwart ab, der diese Gegenwart als »inner-weltlichen Augenblick« (ebd., 221) verstehen möchte. Es gelingt ihm aber nicht, die Gegenwart, die er für die Instantanität des präreflexiven Cogito in Anspruch nimmt, gegen das vulgäre Verständnis eines inner-weltlichen Augenblicks abzusetzen, ohne dabei ein exaltiertes Verständnis eines unzeitlichen Augenblicks zu evozieren.

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ße man, wenn man versuche, sie »von allem, was nicht sie ist, das heißt von der Vergangenheit und von der unmittelbaren Zukunft, abzulösen«. (SN, 239) Von solch einem abstraktiv gewonnenen Grenzbegriff von Gegenwart, der der erlebten Gegenwart Husserls entspricht, hebt Sartre einen zunächst reicheren Gegenwartsbegriff ab, indem er ihn durch seinen »Anwesenheitscharakter« expliziert. Gegenwart sei »Anwesenheit bei …«. Es kann wenig überraschen, dass die Zweistelligkeit dieses Ausdrucks mit den beiden einzig zur Verfügung stehenden Seinsformen aufgefüllt werden muss, dem Fürsich und dem An-sich: »Gegenwart kann daher nur Anwesenheit des Für-sich beim An-sich sein.« (SN, 240) Und auch wenn die Gegenwart als besondere Seinsweise des Für-sich eingeführt wird, ist Sartres Intention doch offenbar die, dass alle drei Zeitmodi Seinsweisen einer »ursprünglichen Synthese« (SN, 216) sind, die das Für-sich ist. Das zeigt sich etwa daran, dass auch Vergangenheit und Zukunft dem Für-sich nicht im Modus eines Possessiv, sondern der Identität zukommen. (Vgl. SN, 229) Die Beziehung der »Anwesenheit bei …« kann in der Architektur der vorliegenden Ontologie aber nicht Positivität im Sinne einer »Koexistenz zweier Existierender« (SN, 241) sein. Vielmehr muss die Anwesenheit als eine negative Beziehung gedacht werden, andernfall würde sie sich »in bloße Identifizierung auflösen«. (SN, 242) Zu dieser negativen Beziehung ist das Für-sich auf zweierlei Weisen berufen: Durch seine Binnenstruktur des »Spiegelung-Spiegelnden«, also eines Seins, das auf steter Distanz zu sich bei der Welt ist und durch die Kraft der das An-sich dekomprimierenden Nichtung. Aber anders, als es die Ausführungen zur »Anwesenheit bei sich« nahe gelegt haben, ist die Spiegelstruktur des Für-sich, in der ihm Welt begegnet, keine sich in ihrem virtuellen Abstand wechselseitig genügende Spiegelung von Welt. Für die Anwesenheit als Gegenwart wird jene Zeugenschaft konstitutiv, die bei der Frage nach Anwesenheit als Selbstbewusstsein unterbestimmt blieb. Da die Nichtung, die durch das Für-sich in die Welt kommt und Anwesenheit bei der Welt konstituiert, diese Beziehung nicht selbst im Modus des An-sich hervorbringen kann, sondern eben nur als Nichtung von bereits Seiendem, bedarf es zu ihrer Realisierung eines Zeugen. »Das bedeutet, daß ursprünglich das Für-sich Anwesenheit beim Sein ist, insofern es sein eigener Koexistenzzeuge ist. Wie ist das zu verstehen? Wir

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wissen, daß das Für-sich das Sein ist, das in Form eines Zeugen seines Seins existiert. […]: es ist sich selbst Zeuge als dieses Sein nicht seiend.« (SN, 242)

Sartre legt über den Status dieses Zeugen keine weitere Rechenschaft ab. Die freie Ruhelosigkeit des Für-sich ist ihm genug; und muss ihm genug sein, denn es selbst »hat kein Sein, weil sein Sein stets auf Distanz ist«. (SN, 243) »Gegenwart ist genau die Negation des Seins, dieses Entweichen aus dem Sein.« (Ebd.) Jeder Versuch, Gegenwart als augenblickhaftes Jetzt, als erlebte Gegenwart, zu bestimmen, verwechsele Gegenwart mit dem Sein, bei dem Gegenwart anwesend ist. Und da Gegenwart und Für-sich ihr gleiches Nichts sind, gilt dann auch: »Das Für-sich ist in Form von Flucht beim Sein anwesend.« (Ebd.) Die ständig nur »anwesend-abwesende« Struktur des Für-sich ermöglicht ihm also immer nur, auf dem Sprung anwesend zu sein und zeitigt sich als ein Gegenwärtiges nur insoweit, als es, bei der Welt aufgehend, sich bereits auf eine Zukunft hin entwirft, die es noch nicht ist. Dabei ist es nicht nur Flucht in dem Sinne, dass es sich seinen flüchtigen Ort in einem massiven An-sich ernichtet, sondern es ist vor allem auch Flucht vor einer besonderen Seinsweise dieses An-sich, der Vergangenheit – der Vergangenheit als geronnenem Für-sich. Nicht nur kommen Zukunft und Vergangenheit, wie das Nichts selbst, nur durch das Für-sich in die Welt, als zeitliche Ekstase ist Vergangenheit nichts weiter als erstarrtes Für-sich: »[E]s ist Ansich geworden und erscheint uns daher in seiner reinen Kontingenz.« (SN, 238) Von der eigenen Kontingenz, und also Grundlosigkeit, reißt sich das Für-sich stetig los und flieht vergeblich seinem immer ausstehenden Sinn entgegen, der Zukunft ist. So, wie ich als Gegenwart nur auf der Flucht vor dem Sein des An-sich sein kann, ist meine Vergangenheit »das An-sich, das ich bin als überschritten«. (SN, 235) Als solches habe ich stets meine Vergangenheit zu sein, im Modus sie nicht (mehr) zu sein. Denn im Überschreiten wird mit dem An-sich eine Faktizität erzeugt, deren Kontingenz sich, wie es heißt, als Schwere sedimentiert. Eine Schwere, die das Für-sich stets heimsucht. So kommt die Vergangenheit zwar nur durch das Für-sich zur Welt, dieses steht nun aber unter dem Zwang, jenes Sein zu übernehmen, das seine Vergangenheit geworden ist. Vergangenheit ist in diesem Sinne »diese ontologische Struktur, die mich zwingt, das zu sein, was ich von hinten her bin«. (SN, 234) In gleicher Weise, wie die Vergangenheit nur das ist, was ich hinterher zu sein gezwungen bin, hebt sich eine Zukunft nur insofern 243 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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von der Welt ab, wie es ein Sein gibt, »das für sich selbst zu-künftig [á-venir] ist, dessen Sein durch ein Zu-sich-kommen seines Seins konstituiert wird«. (SN, 245) Als Mangel ist das Für-sich stets außer-sich, dahinten, bei seiner Möglichkeit. Zukunft ist für Sartre eben dieser Mangel, der dem Für-sich als das Mögliche zu-kommt und das immer ausstehende Sich als den Sinn zukünftiger Anwesenheit bei der Welt anzeigt. Nicht nur, weil das Für-sich und sein Mangel als gleichursprünglich zu gelten haben, ist die Zukunft als Nichtungsdimension an das Für-sich als Gegenwart gebunden. Da es das Fürsich auszeichnet, stets erwartend einem Anwesenden entgegenzuflüchten, »dessen synthetische Hinzufügung zu meiner Gegenwart bewirken würde, dass ich das bin, was ich bin«, ich als Gegenwart aber nur »ein stets zukünftiges Hohles« sein kann, ist die Zukunft »der ideale Punkt, wo die plötzliche und unendliche Kompression der Faktizität (Vergangenheit), des Für-sich (Gegenwart) und seines Möglichen (Zukunft) endlich das Sich auftauchen ließe, als Existenz an sich des Für-sich«. (SN, 251) Weil das gegenwärtige Für-sich nur die Hohlform seines Nicht-seins sein kann, fällt seine Zukunft, wie es selbst, stets in die Vergangenheit und deshalb »wird es in der Gegenwart nie geworden sein, was es in der Zukunft zu sein hatte«. (Ebd.) Als solch ein stets vergeblich Außer-sich-Seiendes existiert das Für-sich aber zugleich in den drei Dimensionen der Zeitlichkeit und für Sartre ist ein »Bewußtsein, das nicht nach diesen drei Dimensionen existiert, […] undenkbar«. (SN, 267) Diese Bestimmung zeitlicher Ordnung, die das Für-sich endlich als das Sein bestimmt, »das sein Sein in der diasporischen Form der Zeitlichkeit zu sein hat« (SN, 275), lässt aber die Frage nach Einheit erneut hervortreten. Einheit und Zeitlichkeit Die sich aufdrängende Frage danach, was der ekstatischen Zeitlichkeit des Für-sich Einheit gibt und die drei Dimensionen vor völliger Beziehungslosigkeit bewahrt, wird für Sartre in einer statischen und einer dynamischen Hinsicht gestellt. Allerdings steht für Sartre außer Zweifel, dass »in der zeitlichen Dynamik das Geheimnis der statischen Konstitution zu suchen« (SN, 255) ist. Die Orientierung an statischer Temporalität und einer ihr entsprechenden Ordnung des »Vorher-Nachher« lasse leicht eine Auffassung von Zeit hervortreten, die sie als das Trennende einander unverbundener Momente, selbst unzeitlicher Augenblicke, verstehe, die im Modus eines An-sich-sein gedacht werden. Dem Augenblick kom244 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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me so eine einheitsstiftende Funktion zu, als er als »das zeitliche Atom […] vor bestimmten und nach anderen Augenblicken seinen Platz hat, ohne innerhalb seiner eigenen Form ein Vorher oder Nachher zu enthalten«. (SN, 256) Betrachte man die Struktur von Zeitlichkeit im Horizont eines solchen Atomismus von Augenblicken, ließe sich aus der Tatsache, in einem bestimmten Augenblick existiert zu haben, kein Recht konstituieren, im folgenden Augenblick zu existieren. (SN, 257) Eine Welt der Veränderung und Permanenz bliebe ein Rätsel. Das bleibt sie auch noch, wenn man wie Hume zwar die Zeitmomente durch Gesetze empirischer Assoziation aneinander zu binden versucht, doch lediglich externe Beziehungen berücksichtigen kann, sofern diesen Momenten die massige Identität eines An-sich zugedacht wird. Die Lösung Descartes’ und Kants liefe Sartre zufolge darauf hinaus, die Einheitsstiftung durch eine zeitlose Instanz zu realisieren: »Gott und seine creatio continua bei Descartes, das ›Ich denke‹ und seine Formen synthetischer Einheit bei Kant.« (SN, 259 f.) Diese Konstruktion scheitere, weil es nicht gelingen könne, von der Zeitlosigkeit zur Zeitlichkeit überzugehen. Entweder müsse das Zeitlose dabei implizit verzeitlicht werden, oder Zeit müsse als eine bloß menschliche Illusion gelten (vgl. SN, 260). So lässt sich Zeitlichkeit für Sartre weder von dem An-sich-sein zeitlicher Momente noch von Zeitlosem her adäquat verständlich machen. Als nicht minder unzureichend erweist sich in diesem Zusammenhang der Versuch Bergsons, die Zeit nicht von möglichen Elementen, sondern von ihrem Kontinuum her verstehen zu wollen. Der Versuch Bergsons kranke daran, die zeitlichen Momente als von wechselseitiger Durchdringung organisierte Einheiten zu verstehen, die sich untereinander synthetisieren. Eine »gegebene Synthese« sei aber ein Unding und ihr Begriff verkenne, »daß eine Organisation von Vielheiten einen Organisationsakt voraussetzt«. (SN, 264) Tradierte Auffassungen von Zeit scheitern nach Sartre somit an ihrer Orientierung an derjenigen Seinsregion, die Sartre als An-sich bezeichnet hat. Geht man dazu über, Zeitlichkeit als eine Struktur des Für-sich zu verstehen, ist man Sartre zufolge nicht gezwungen, den zeitlichen Elementen gegenüber ihrer Einheit oder der Einheit gegenüber ihren Elementen einen Vorrang einzuräumen. Wenn man also weder mit den Momenten beginnt, um ihnen dann eine äußere Beziehung anzudichten, noch eine zeitliche Einheit betont, deren differenzlose Dichte die Rede von Einheit sinnlos werden ließe, so wird 245 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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man nach Sartre zu der Schlussfolgerung kommen: »Zeitlichkeit ist eine auflösende Kraft, aber innerhalb eines vereinigenden Aktes«. (Ebd.) Es besagt für Sartre das gleiche wie: »Zeitlichkeit ist als eine Einheit aufzufassen, die sich vervielfältigt, das heißt, daß die Zeitlichkeit nur ein Seinsbezug innerhalb desselben Seins sein kann«. (SN, 265) Von einer solchen sich selbst vervielfältigenden zeitlichen Einheit, in der Vorher und Nachher als interne Beziehungen gelten, lässt sich nur sprechen, wenn es ein Sein gibt, das sich selbst vorher sein kann; denn das Vorher lässt sich erst dort hinten, im Nachher als Vorher bestimmen und umgekehrt. Zeitlichkeit ist somit als Seinsmodus eines Seins zu verstehen, das nur als ek-statisches überhaupt ist, das stets außer sich sein muss. Da dieses Seiende – schon weil der ganze Abschnitt eine einzige petition principii artikuliert – nur das Für-sich sein kann, gilt: »Zeitlichkeit ist nicht, sondern das Für-sich verzeitlicht sich, indem es existiert«. (Ebd.) Die ekstatische Struktur des Für-sich soll somit selbst die Einheit ihrer Ausbrüche stiften. Für Sartre gilt es, nach dem Ausweis der Zeitlichkeit des Für-sich darum zu zeigen, ob die so verstandene ekstatische Einheit des Für-sich auch dem Phänomen der Dauer angemessen sein kann. An der Dynamik der Temporalität wiederhole sich zunächst der traditionelle Kardinalfehler, das menschliche Sein als ein An-sich auffassen zu wollen. Das verführe dazu, Dauer erneut als durch eine selbst zeitlose Persistenz konstituiert zu denken, »die durch die Zeit hindurch bleibt«. (SN, 276) Da Veränderung und Permanenz somit als zwei Seinsweisen verstanden werden müssten, könnte ihre Einheit wiederum nur durch einen als äußere Verbindung disparater Elemente verstandenen Zeugen gewährleistet werden: »Erstens kann die Subsistenz eines permanenten Elements neben dem, was sich verändert, der Veränderung nicht erlauben, sich als solche zu konstituieren, außer in den Augen eines Zeugen, der selbst Einheit dessen wäre, was sich ändert und dessen, was bleibt. Mit einem Wort, die Einheit der Veränderung und des Permanenten ist für die Konstitution der Veränderung als solcher notwendig.« (SN, 276)

Sowie das Für-sich selbst als Zeitlichkeit verstanden wird, als ekstatisches Sein, das nicht nur sein eigener Zeuge ist, sondern auch als Vergangenheit und als Zukunft existiert, eröffnet sich demgegenüber die Möglichkeit nicht von bloßer Dauer, die durch die zeitliche Sukzession persistiert, sondern von einer Seinseinheit auszugehen. Eine 246 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Einheit, die das ist, was sich verändert. So verschwinde die tradierte »Pseudonotwendigkeit der Permanenz« (SN, 277) dadurch, dass man eine absolute Veränderung annimmt, die das, was sich ändert, als Vergangenes, im »Modus des ›war‹« aufhebt. Die Gegenwart vergeht, indem sie das Vorher eines Für-sich wird, das dadurch sein eigenes Nachher werden kann. Nun muss Sartre erklären, wie diese Einheit zu verstehen ist. Das »einzige Phänomen«, das diese umfassende Metamorphose des Für-sich generiert, ist das stetige »Auftauchen einer neuen Gegenwart, die die Gegenwart, die sie war, vergangen macht, und Vergangenmachen einer Gegenwart, die das Erscheinen eines Für-sich nach sich zieht, für das diese Gegenwart Vergangenheit werden wird.« (SN, 278) Sartre scheint hier letztlich nicht mehr zu beschreiben als die Leistung der Retention, in Form einer »Modifikation von Gegenwart«. (SN, 279) Allerdings ist das bewahrende Herabsinken der Retentionen hier keine Bewusstseinsleistung, sondern ein Wechsel der Seinsweise. Eine neue Gegenwart verwandelt eine andere Gegenwart in Vergangenheit und damit in ein An-sich, von dem sich die neue Gegenwart nichtend abrücken kann. Und auch für die protentionale Leistung bringt die existenzielle Bestimmung zeitlicher Struktur eine dialektische Bewegung mit sich. Eine unmittelbare Zukunft ist stets Zukunft der Vergangenheit und zeigt sich in der Gegenwart zwar als vollendete Zukunft dieser Vergangenheit an. Da die Gegenwart als Für-sich aber stets verneint, dass sie diese Zukunft ist, bleibt die ursprüngliche Zukunft immer nur die Zukunft der Vergangenheit und als solche unrealisiert, eine bloße Idealität. (Vgl. SN, 280) Für eine ferne Zukunft bedeutet dies, dass sie zunächst durchaus Zukunft einer neuen Gegenwart ist, sie tritt aber nur als ein »indifferentes Mögliches« auf, das nicht mehr als Vermöglichung oder Realisierung eines Für-sich maßgeblich werden kann, sondern im stetigen Überschreiten der neuen Gegenwart zu einem bloß gegebenen Möglichen, für das nun schon An-sich gewordene Für-sich. Die letzte Konsequenz dieser Tendenz des Für-sich, als sein vergangenes An-sich »mitten in die Welt zu fallen«, ist die vollkommene Überwucherung des Für-sich durch das An-sich, sein Vergehen in Vergangenheit und Tod. Die eigentümliche autopoietische Leistung des Auftauchens neuer Gegenwarten wird Sartre am Ende des Kapitels mit einem Verweis auf den Spontaneitätscharakter des Bewusstseins ein wenig unmotiviert einzuholen versuchen. (Vgl. SN, 286 f.) Soll dieses »Phäno247 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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men« die umfassende Metamorphose der Seinseinheit des ekstatischen Für-sich gewährleisten, so wird man eingestehen müssen, dass schon die Rede vom »Auftauchen einer neuen Gegenwart« ein Verständnis von Zeitlichkeit längst voraussetzt und so die Vorstellung einer Einheit nicht klärt, sondern erneut fragwürdig werden lässt. Denn so wie Sartre den Begriff eines ekstatischen Seins zunächst entwickelt, führt es ihn zu der Konsequenz einer ausstehenden Ganzheit, einer Einheit, die sich selbst stets entgeht. Sie entgeht sich, weil das implizit leitende Bild von Einheit letztlich doch das vulgäre Bild augenblicklicher Koinzidenz mit sich selbst ist. Im Bann dieses Bildes legen Sartres Ausführungen verständlicherweise nahe: »Es gibt nie einen Augenblick, in dem man behaupten könnte, daß das Für-sich ist, eben weil das Für-sich nie ist. Die Zeitlichkeit dagegen verzeitlicht sich ganz und gar als Zurückweisung des Augenblicks.« (SN, 287) Die ekstatische Verzeitlichung des Für-sich scheint so, wie Theunissen meint, jede mögliche Ganzheit von innen zu zersetzen. (Theunissen 2003, 106) Diesen Eindruck kann auch Sartres Versuch nicht zerstreuen, die hier noch vorausgesetzte Konzeption »ursprünglicher Zeitlichkeit« und die zugehörigen Begriffe der Kontinuität und Einheit ein weiteres Mal auf die Binnenstruktur des fliehenden Für-sich zu beziehen, auf das präreflexive Cogito. Die wiederholt artikulierte Bestimmung dieser vorreflexiven Bewusstseinsebene als instantan hat einige Autoren veranlasst, sie entgegen der expliziten Kritik Sartres an einem zeitlosen Zeugen als »unzeitliche« Vorstufe der verzeitlichten Strukturen zu interpretieren und Sartre damit eine seiner disparaten Konzeption von Selbstbewusstsein entsprechend widersprüchliche Theorie der Zeitlichkeit zu attestieren. 36 Brauner versucht hingegen im Anschluss an Cramer dafür zu argumentieren, dass es sich auch bei dem präreflexiven Cogito um eine schon zeitlich verfasste Bewusstseinsebene handelt. Zu diesem Zweck rekurriert er auf die existenzialistischen Konzepte des Augenblicks seitens Kierkegaard und Heidegger. Beiden gelte der Augenblick zwar als zeitliches Geschehen, aber als eines, das von einer als zeitlichem »Jetzt« verstandenen Gegenwart grundsätzlich verschieden sei. (Vgl. Brauner 2007, 200) 37 Nach Maßgabe dieser Vgl. etwa Seel (1971), 104–106 und Hartmann (1963), 58 f. Es mag fruchtbar sein zu versuchen, das präreflexive Cogito als »Augenblick« im Sinne »einer ekstatischen Einheit der drei Zeitmodi« (Brauner 2007, 200) zu verstehen. Aber abgesehen davon, dass sich solch ein Begriff von Einheit in der

36 37

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Differenzierung des Gegenwartsbegriffes und den Andeutungen Seels, Sartres Theorie des präreflexiven Cogito sei letztlich »Weiterführung und Vertiefung« von Husserls Begriffs lebendiger Gegenwart, lässt sich Brauner auf einen kurzen Vergleich zwischen Sartre und Husserl ein. Da sich sowohl die Ausführungen Seels als auch die Brauners hinsichtlich des Begriffs »lebendiger Gegenwart« ausschließlich auf die Monographie Helds beziehen, geht Brauners Vergleich über das Attest einer jeweils »spezifischen Form von Zeitlichkeit« (ebd., 204) und den von Held entliehenen Verdacht »unphänomenologischer ›Konstruktion‹« bei Husserl nicht hinaus. Ihre Bemühungen zeigen aber, dass sich Sartres problematische Konzeptionen von Selbstbewusstsein in der Theorie der Zeitlichkeit insofern zuspitzen, als die beiden Bewusstseinsebenen nun expressis verbis unvereinbar werden. Die Konzeption des ekstatischen Selbst führt zur Zurückweisung der Gegenwart. Das instantane, präreflexive Cogito macht unverständlich, wie auf einem gegenwärtigen Selbstbezug ein Bewusstsein zeitlicher Ekstasen aufruhen soll. Diese Diskrepanz entsteht dadurch, dass sowohl die zurückgewiesene Gegenwart, im Sinne augenblicklicher Koinzidenz, als auch die in Anspruch genommene Instantanität des präreflexiven Cogito als punktuelle, letztlich abstrakte Größe gedacht werden, als erlebte nicht lebendige Gegenwart. Somit hält Sartre zwar an einem bewusstseinsphänomenologisch motivierten Vorrang von Gegenwart fest, ohne aber eine überzeugende Alternative zu einer unzeitlichen oder bloß innerzeitlichen Gegenwart bieten zu können. Zugleich führt seine an der existenzphänomenologisch motivierten Vorstellung ekstatischen Daseins entwickelte Auffassung der Zeitlichkeit des Selbst zu einer nur fragmentierten Präsenz und stets ausstehenden Ganzheit. Im Zuge der phänomenologischen Bemühung um die Differenzierung zwischen ursprünglicher und psychischer Zeitlichkeit kün-

Sartre’schen Ontologie nicht denken lässt, ist schon Vorsicht angebracht, Heidegger einen solchen Begriff zu unterstellen. Zwar entwickelt Heidegger den Begriff von »Augenblick« gegen das Verständnis eines vulgären innerzeitlichen ›Jetzt‹, er meint aber auch nicht die ursprünglich strömende Einheit von Gewesenem und Zukünftigen. Der Augenblick Heideggers ist selbst Ekstase und »meint die entschlossene, aber in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet.« (SZ, 338) Das besagt: »[D]er Augenblick [zeitigt sich] aus der eigentlichen Zukunft.« (Ebd.)

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digt sich aber beiläufig ein Begriff von Gegenwart an, der nicht in die unglückliche Alternative zwischen dem vulgären Begriff eines innerzeitlichen Jetzt, dem exaltierten Begriff eines unzeitlichen Augenblicks und der komplementären Vorstellung eines immer schon flüchtigen bzw. zeitlosen Subjektes führt. Dieser Begriff zeigt sich im Vollzug dessen, was Sartre als »reine Reflexion« bestimmt, als »eine blitzartige Intuition und ohne Relief, ohne Ausgangs- und Anfangspunkt. Alles ist mit einem Schlag in einer Art absoluter Nähe gegeben.« (SN, 296) Die Einheit von Bewusstsein wird hier allerdings nicht erklärt, sondern exemplifiziert. Zwei Reflexionen Als das Sein, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, findet sich das Für-sich immer schon als Gespaltenes vor. Die Grundstruktur des »Spiegelung-Spiegelnden« soll dieser existenziellen Einsicht Rechnung tragen. Es kann daher nicht verwundern, dass in dem Bemühen, die Verfassung der réalité-humaine als zeitlich zu verstehen, das Problem der Reflexion erneut in den Blick gerät. Ist es doch die schon prekäre Leistung, »mich selbst als Sukzessionseinheit« (SN, 288) zu erfassen, die die Frage nach Einheit überhaupt hervortreten lässt. Sobald man sich auf den Eindruck einlässt, dass das reflektierende Bewusstsein ein auf das reflektierte Bewusstsein plötzlich gerichteter Blick eines neuen Bewusstseins ist, ist Einheit nur noch um den Preis eines Regresses zu gewinnen. Sartres, seinem bewusstseinstheoretischen Fundament entsprechende Lösung, dem reflexiven Bewusstsein von Dauer ein vorreflexives Bewusstsein (von) Dauer vorhergehen zu lassen, korreliert da, wo die zeitliche Einheit des Bewusstseins in Frage steht, mit der Differenzierung zweier Formen reflexiver Selbsterfahrung, die bereits in Die Transzendenz des Ego kursorisch zur Sprache kamen: einer reinen und einer komplizenhaften Reflexion. Sobald wir Reflexion für einen Akt von Erkenntnis halten, gestehen wir ihr einen setzenden und vergegenständlichenden Charakter zu. Diesem Charakter verdankt sich der prekäre Status von Selbsterkenntnis; offenbart er doch die Spaltung, die in der Vorstellung eines Selbstverhältnisses immer schon mitgedacht wird. »Die Reflexion ist eine Erkenntnis, das ist nicht zu bezweifeln, sie hat einen Setzungscharakter; sie affimiert das reflektierte Bewusstsein. Aber wie wir gleich sehen werden, ist jede Affirmation durch eine Negation bedingt: die-

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ses Objekt affirmieren heißt gleichzeitig negieren, das ich dieses Objekt bin. Erkennen heißt zu anderem sich machen.« (SN, 296)

Die beiläufige Selbstentfremdung, die der Begriff der Reflexion uns aufzwingt, gewinnt ihren natürlichen Zug letztlich aus der intersubjektiven Verfassung unserer Existenz. Die Leistung, uns selbst gegenüber »einen Gesichtspunkt einnehmen« zu können, das reflektierte Bewusstsein »von außen« sehen zu können, »diese Spaltung wird nur in der Existenz für Andere realisiert«. (SN, 296) Was Sartre komplizenhafte Reflexion nennt, wird sich als jene reiche Reflexion zeigen, die immer schon mehr prätendiert, als dem Bewusstsein gegeben ist, und die es insofern auf eine geteilte Welt hin transzendiert. In dieser Welt, in der das Bewusstsein nicht nur sein eigenes »Spiegelung-Spiegelndes« ist, sondern es sich auch an den anderen nichten kann, kommt es zu jener so kontinuierlichen, wie flüchtigen Selbstobjektivierung, die das Ego hervorbringt. Von dieser immer schon prätentiösen Reflexion, die mehr erzeugend als entdeckend ist, unterscheidet Sartre eine Reflexion, die »mehr Wiedererkennen als Erkennen« (SN, 297) ist und die längst ein vorreflexives Verständnis dessen impliziert, was sie zurückgewinnen will. »Aber die Reflexion, die uns das Reflektierte nicht als Gegebenes darbietet, sondern als das Sein, das wir zu sein haben, in einer Ununterschiedenheit ohne Gesichtspunkt, ist eine durch sich selbst überflutete Erkenntnis ohne Erklärung.« (Ebd.)

In der Unmittelbarkeit dieser reflexiven Leistung erfasst sich das Fürsich gewissermaßen in der ganzen Fülle seines Nichtseins in dem Sinne, dass seine zeitlichen Ekstasen »in ihrer ursprünglichen Nicht-Substanzialität« zur Geltung kommen. Die fernen Möglichkeiten zählen noch als Möglichkeiten unter anderen und »wenn die Vergangenheit als An-sich erscheint, so auf dem Grund der Gegenwart«. (Ebd.) Damit enthülle die Reflexion zum einen jenes nichtthetische Bewusstsein (von) Dauer, auf der die »psychologische Dauer, die wir kennen und mit der wir täglich arbeiten, als Sukzession von organisierten zeitlichen Formen« (SN, 301) aufruht. Zum anderen erfasse sich das Für-sich »in seiner detotalisierten Totalität als die unvergleichbare Individualität, die sie selbst ist nach dem Modus, daß sie sie zu sein hat«. (Ebd.) Das meint für Sartre den Einblick in die stets zerstreute Ganzheit, die das Für-sich ist, ein Sein, das zwar nur als Sich ist, das zu diesem Sich aber immer schon auf Distanz ist, »in der Zukunft, in der Vergangenheit, in der Welt«. (Ebd.) Zwar 251 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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wird die reine Reflexion bald von der Totalität überschwemmt, wenn sie sie zu erfassen sucht, sie dehnt aber ihre »Apodiktizitätsgeltungen auf diese Totalität selbst« in dem Maße aus, wie sie diese eben selbst ist. Implizit erkennt Sartre durchaus an, dass die Gegenwart, auf deren Grundlage sich die Totalität der Seinsweise des Für-sich als Erfahrung ausweist, nicht selbst jene fluchtartige Initiative des Für-sich sein kann, die sein zeitliches In-Welt-sein bestimmt. Zugleich kann sie nicht auf den infinitesimalen Augenblick Descartes beschränkt sein. Als detotalisierte Totalität gilt sie ihm aber nicht als offene Einheit, sondern als strukturierte Ganzheit, »als der einzigartige und unvergleichbare Seinsmodus seiner Selbstheit […], das heißt als Geschichtlichkeit«. (SN, 301) Auch wenn Sartre weiterhin das Pathos der Distanz betont, er die reine Reflexion, nicht etwa vorreflexives Bewusstsein (von) Dauer, als das kohärente Substrat entdeckt, das die Einheit der zerrissenen Zeitlichkeit des Subjektes gewährt, so zeigt sich an diesem »diasporischen Phänomen« der Reflexion doch, dass das Für-sich als Anwesenheit bei sich eben »bei allen seinen ek-statischen Dimensionen anwesend ist«. (SN, 299) Die Totalität des Für-sich mag sich als die in die drei Ekstasen fragmentierte Geschichtlichkeit zeigen. Der Vollzug der reinen Reflexion aber ist selbst »totalitär, es ist eine blitzartige Intuition und ohne Relief, ohne Ausgangs- und Anfangspunkt. Alles ist mit einem Schlag in einer Art absoluter Nähe gegeben.« (SN, 296) Der verdächtige Eindruck, dass die reine Reflexion für eine Theorie der Zeitlichkeit und Subjektivität nur einen Zirkel beisteuern kann, der das Phänomen der Einheit nicht erklärt, sondern ihm lediglich Nachdruck verleiht, liegt in diesem Vollzug selbst beschlossen: Die reine Reflexion wird »nie durch sich selbst überrascht, sie lehrt uns nichts«. (SN, 297) Das Problem der Bewusstseinseinheit wird hier nicht gelöst, sondern exemplifiziert. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass reine Reflexion erst »durch eine Art Katharsis gewonnen werden« (SN, 295) kann, denn »was sich zuerst im täglichen Leben darbietet, ist die unreine oder komplizenhafte Reflexion«. (SN, 303) Motivation und Struktur dieser Katharsis und eine entsprechende Phänomenologie ursprünglicher Zeitlichkeit will Sartre allerdings nicht detailliert bestimmen. Schon in Die Transzendenz des Ego hatte er reine Reflexion in die Nähe von Epoché und phänomenologische Reduktion gerückt und betont, dass sie sich nicht in den von Husserl als Verfahren identifizierten Leistungen erschöpfen müsse. Da diese 252 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Die Binnenstruktur des Für-sich

Reflexion aber »ohne irgendeine vorhergehende Motivation durchgeführt werden« müsse, sie also »unter den Bedingungen unseres Menschseins, wenigstens extrem selten« ist (TE, 82), könne sich eine vertiefende Betrachtung offenbar erübrigen. Anders als in TE kommt in SN auch der Widerfahrnischarakter der reinen Reflexion nicht mehr zum Tragen. Der konstitutionstheoretischen Motivation entsprechend, gelte es vielmehr, jener psychologischen Zeitlichkeit nachzugehen, die vermöge der komplizenhaften Reflexion das Ego, den transzendenten Schatten des Bewusstseins hervorbringt. Während reine Reflexion das reflektierte Für-sich als das immer schon vorreflexive Bewusstsein seiner selbst entdeckt, ist »die unreine Reflexion, die die erste, spontane (aber nicht ursprüngliche) reflexive Bewegung ist, ist-um [sic!] das Reflektierte als an-sich zu sein«. (SN, 304) Durch die komplizenhafte Reflexion entsteht ein instrumentelles Selbstverhältnis. Das Für-sich wird nun sein eigener Gegenstand, um sich als An-sich zu setzen und erfassen zu können. Die Selbstobjektivierung, die durch unreine Reflexion statt hat, realisiert fortschreitend jene reflexive Aufspaltung, die dem Für-sich durch die Anwesenheit bei sich virtuell immer schon eingeschrieben war. Dabei, so Sartre, verfällt das Bewusstsein aber der Unaufrichtigkeit (mauvaise foi). Die Selbsttäuschung liegt darin, dass die Reflexion sich im Vollzug der Vergegenständlichung als Bewusstsein davon inszeniert, das Reflektierte nicht zu sein. Es geschieht aber nur, »um danach die Identitätsbehauptung zu übernehmen und von diesem An-sich zu behaupten, daß ›ich es bin‹. In einem Wort, die Reflexion ist unaufrichtig, insofern sie sich konstituiert als Enthüllung des Gegenstands, der ich mir bin.« (SN, 306) Erst durch die prinzipielle Möglichkeit reiner Reflexion, die den Titel »Re-flexion« mit Blick auf die Verweigerung gegenständlicher Orientierung im Grunde nicht verdient, erweist sich die komplizenhafte Reflexion und die ihr nachfolgende Selbstspaltung als eine der réalité-humaine eingeschriebene Flucht vor sich selbst. Das Korrelat dieser so flüchtigen wie flüchtenden Konstitution ist, was die Psychologen unter dem Namen »psychisches Faktum« untersuchen und was sich dem Bewusstsein in Form einer »Substantialität organisierter Ablaufformen« (SN, 307) darbietet, die ihrerseits die psychische Zeitlichkeit konstituieren. Sartre erörtert deshalb den illusionären Charakter dieser abgeleiteten, psychischen Zeitlichkeit, nimmt von dieser Bestimmung aber schon darum Abstand, weil die psychische Dauer, die sich durch die Sukzession unserer psychischen Zustände 253 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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und Qualitäten ergibt, das gemeinsame psychische Leben generiert, das uns durch die Psychologie als erkennbare und gestaltbare Wirklichkeit nahe gelegt wird. »Diese psychische Dauer, die durch den konkreten Ablauf autonomer Organisationen konstituiert wird, das heißt im Grunde durch die Sukzession psychischer Fakten, Bewusstseinsfakten, können wir nicht als Illusion bezeichnen: ihre Realität ist es ja, die den Gegenstand der Psychologie ausmacht.« (SN, 302)

Aber wenngleich sich »die konkreten Bezüge zwischen den Menschen […] auf der Ebene des psychischen Faktums« herstellen, sei es doch »undenkbar, daß das unreflektierte Für-sich, das sich in seinem Auftauchen vergeschichtlicht, diese Qualitäten, Zustände und Handlungen selbst ist«. (Ebd.) Das zeigt sich insofern insbesondere an der Zeitlichkeit des Für-sich, als an ihr auffällig werden kann, dass das Ego und die psychischen Qualitäten, die es konstituieren, eine gewisse Trägheit besitzen, die sich aus einem Primat der Vergangenheit erklärt. Zwar gibt sich auch die Psyche als die sich durch die drei zeitlichen Ekstasen erstreckende Dimension. Allerdings zeigt sie sich dem Bewusstsein als »bereits fertig«. Die unreine Reflexion gaukelt eine lebendige Kohäsion des Bewusstseins nur vor, indem sie die zeitlichen Ekstasen und ihre Einheit als schon abgeschlossene Gestalt gelten lässt, in die sich das Für-sich projiziert, »nach dem Modus ›ist gewesen‹«. (SN, 313) Die Gegenwart einer Freude ist nicht die flüchtende Gegenwart der Ekstase, sondern »ist schon ganz und gar konstituiert und von Kopf bis Fuß ausgerüstet, sie ist ein ›Jetzt‹, das der Augenblick bringt«. (SN, 312) Als psychische Qualität ist die jetzt gegenwärtige Freude ein massives, kein flüchtiges Da-Sein, ein Ansich und insofern immer schon »als Da-gewesen-sein konstituiert«. (Ebd.) Auch die unmittelbare Zukunft einer Qualität kommt nach Sartre nur als ein »Jetzt« zu Geltung, das einfach noch nicht gegeben, noch nicht enthüllt ist, dessen Sinn aber schon vorgezeichnet ist. Die Zukunft einer Freude zeigt sich gewissermaßen teleologisch an, als das, »was sie in der Zukunft schon ›gewesen ist‹«. (SN, 313) Was wir als »innere Kohäsion des Psychischen« erleben, ist demnach »nichts anderes als die ins An-sich hypostasierte Seinseinheit des Für-sich«. (Ebd.) Einheit und Kohäsion des psychischen Lebens erweisen sich dadurch als der handhabbare Schatten einer Einheit, die in ihrer Ursprünglichkeit sich selbst entgehen muss. Zu dieser Einsicht gelangt 254 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Die Binnenstruktur des Für-sich

Sartre aber nur über die Anerkennung reiner Reflexion, die auf der einen Seite eine extraordinäre Anstrengung meint, auf der anderen Seite von der natürlichen, unsere psychische Realität erzeugenden, Reflexion als ihre ursprüngliche Struktur vorausgesetzt wird. Ein Selbstbewusstsein, in dem alles »mit einem Schlag in einer Art absoluter Nähe gegeben« (SN, 296) ist, erweist sich einmal mehr als eigentümliche Ambivalenz eines ursprünglichen und zugleich unerreichbaren Bewusstseins. Angesichts ihrer dualistischen Voraussetzungen, ließe sich eine unfragmentierte Nähe und Einheit vorreflexiven Bewusstseins innerhalb der Sartre’schen Ontologie entweder nur als starre, abstandslose Dichte eines An-sich denken, oder es kommt als jene ekstatische Seinseinheit zur Geltung, die das Für-sich beansprucht, ohne sie je sein zu können. In seinem Bemühen, die klaustrophoben Verhältnisse des Cartesischen Cogito hinter sich zu lassen, der egologischen Tendenz und einem vulgären Präsentismus die ekstatischen Strukturen der Zeitlichkeit entgegenzusetzen, entledigt sich Sartre der Möglichkeit, dem Selbst einen Weg in eine lebendige Ruhe zu gewähren, in der es nicht vor sich selbst auf der Flucht ist. Selbst der eigentümliche, stets unerreichbare Wert, der dem An-sich-für-sich innerhalb seiner Ontologie zukommt, ist für Sartre deshalb: »von Natur aus die Ruhe an sich, die Zeitlosigkeit!« (SN, 274) Obwohl es seine bewusstseinsphänomenologischen Einsichten nahelegen, erkennt er nicht konsequent an, dass Einheit und Ruhe von Bewusstsein nicht zeitlose Präsenz bedeuten, die der zeitlichen Entfaltung des Lebens enthoben wäre, vielmehr die strömende Gegenwart des Entfaltens selbst auszeichnen und als solche die Seinsweise präreflexiven Bewusstseins bestimmen. Eine Seinsweise, die sich dadurch manifestiert, dass Bewusstsein stets über die »aufhebende Eigenschaft verfügt, für einen Zeugen zu existieren, obwohl dieser Zeuge, für den das Bewußtsein existiert, es selbst ist«. (SN, 165) Dementsprechend kann die Zeugenschaft des präreflexiven Cogito selbst nicht ewiger Homunkulus sein, sondern muss als jene impersonale Struktur von Subjektivität gelten, die Bewusstsein in seiner strömenden Entfaltung ist, die dem wachen Erleben reiner Reflexion aber als ständig und in diesem Sinne als instantan widerfahren mag. Es muss auffallen, wie wenig Sartre über diese aufhebende Eigenschaft zu sagen hat. Sein impliziter Fokus auf einer Zeitlichkeit von Bewusstsein, die diesem vermöge engagierter Ekstasen zukommt, lässt ihn lediglich eine Art ambitionierter Zeitlichkeit des Für-sich 255 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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anerkennen. So können Ruhe und Einheit von Bewusstsein auch nur als exaltierte Zeitlosigkeit zur Geltung kommen. In seinem Exkurs zur V. Rêverie Rousseaus zeigt Sartre, dass er dem Für-sich auch keine unprätentiöse Ruhe zugestehen kann, in der die Zeit gewissermaßen nicht zählte.

4.3 Die Faszination Rousseaus Es war nicht Anliegen dieses Kapitels, die konzeptuellen Inkohärenzen innerhalb der Sartre’schen Konzeption von Selbstbewusstsein zu lösen. Vielmehr wurde versucht, sie als Anzeichen für eine phänomenologische Verlegenheit angesichts der irreduziblen Erfahrungsdimension impersonaler Subjektivität zu verstehen. Abschließend wird sich an einer Fehllektüre der V. Rêverie Rousseaus zeigen, wie es Sartre sogar gelingt, den Gehalt dieser Erfahrungsdimension als einen vulgären Pantheismus misszuverstehen. In dem mit Transzendenz überschriebenen dritten Kapitel des zweiten Teils von Das Sein und das Nichts widmet sich Sartre demjenigen Beziehungstypus, der berufen ist, den Gegensatz zwischen An-sich und Für-sich zu überwinden, dem Beziehungstypus der Erkenntnis. Ein besonders aufschlussreicher Modus dieses Typus liegt für Sartre im »unmittelbare[n] Faktum des Erkennens«. (SN, 332) Die Unmittelbarkeit, d. h. die reine Anwesenheit des Erkannten bei dem Nichts, das das Bewusstsein ist, findet ihren psychologischen Ausdruck in dem Phänomen der Faszination. Einem Objekt ganz hingegeben, ist die einzige Qualifikation des Erkennenden, dass es nicht das faszinierende Objekt ist, dem es sich ergegeben findet. Dass es sich hierbei nicht einfach um eine Verschmelzeung mit dem Objekt handeln kann, begründet Sartre damit, dass die Bedingung für Faszination gerade ist, dass sich das Objekt »auf dem Hintergrund einer Leere abhebt« (ebd.), das Für-sich also gerade unmittelbare Negation dieses Objektes sei. Eine solche reine Negation sei auch Basis einer pantheistischen Intuition, die Rousseau zum Ausdruck bringe: »Er erklärt uns dann, daß er mit dem Universum ›verschmelze‹, daß plötzlich die Welt allein anwesend war als absolute Anwesenheit und unbedingte Totalität. Gewiß können wir diese totale verlassene Anwesenheit der Welt, ihr reines ›Da-sein‹ verstehen, gewiß nehmen wir durchaus an, daß es in

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diesem privilegierten Moment nichts anderes gegeben hat als die Welt. Aber das bedeutet nicht, wie Rousseau es annehmen will, daß es Verschmelzung des Bewußtseins mit der Welt gebe. Diese Verschmelzung würde Erstarrung des Für-sich in An-sich bedeuten und damit Verschwinden der Welt und des An-sich als Anwesenheit.« (SN, 333)

Unbesehen der Möglichkeit, dass wir eine solche ›pantheistische Auflösung‹ verstehen, an einer entsprechenden Beschreibung ein vages Gefühl ihrer Grenzenlosigkeit entwickeln könnten, lässt sich eine solche Beschreibung in der V. Rêverie, auf die Sartre hier Bezug nimmt, nicht finden. Diesen Umstand könnte man mit einem Hinweis auf Sartres im Allgemeinen eher freien und instrumentellen Umgang mit herangezogener Literatur auf sich beruhen lassen, wenn sich in den Beschreibungen Rousseaus nicht eine den Intuitionen Sartres geradezu gegenläufige Bewegung abzeichnete. Der Zustand, den Rousseau hier nämlich zu beschreiben sucht, ist keine absolute Ekstase, die in einem Verschmelzen des Erkennenden mit dem Erkannten mündete, sondern ein so konzentriertes wie gelassenes Selbstsein. Was wir in einem solchen Zustand erlebten, wäre nicht Anwesenheit bei einem reinen Da-sein der Welt, sondern wir selbst »und unser eigenes Dasein, nichts jedenfalls, das außerhalb von uns wäre«. (Rousseau 2003, 93) »Angenommen aber, unsere Seele erreichte eine solide Ruhelage, in der sie, ihr gesamtes Wesen konzentrierend, ganz zu sich käme: dann müsste sie Vergangenheit und Zukunft gar nicht bemühen; Zeit zählte für sie nicht, denn dauernd wäre Gegenwart, ohne dass sich diese Dauer freilich bemerkbar machte, ohne dass irgendwo sich ein Vorher und ein Nachher abzeichnete, und ohne dass Gefühle entstünden wie Entbehrung oder Genuss, Freude oder Kummer, Verlangen oder Furcht. Wir hätten einzig das Gefühl zu existieren, dieses aber würde unsere Seele ganz erfüllen.« (Ebd., 92)

Freilich könnte Sartre einwenden, resultativ sei es einerlei, ob da eine Auflösung der (Geltung der) Gegenstände oder eine Auflösung in die Gegenstände beschrieben wird, wenn der zentrale Begriff, den es dabei zu explizieren gälte, der der Unmittelbarkeit ist. Und in der Tat ist der Punkt der Indifferenz der beiden Beschreibungshinsichten für Sartre offenbar dort erreicht, wo das Problem der Unmittelbarkeit zum Vorschein kommt. Die pantheistische Auflösung des Für-sich im An-sich sowie die entsprechende »Erstarrung des Für-sich« und die radikale Subjektivierung Rousseaus zählen mit Blick auf den Erkenntnisvorgang insofern gleich, als in beiden Fällen die dualistische 257 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Struktur schwindet, die Sartre für diesen Vorgang immer schon in Anspruch nimmt. Erkenntnis ist für Sartre in ihrer absoluten Form »reine Einsamkeit des Erkannten«. (SN, 335) Und jede »Enthüllung eines positiven Charakters des Seins« muss unter den dualistischen Voraussetzungen in der Tat »das Gegenstück einer ontologischen Bestimmung des Fürsich in seinem Sein als reine Negativität« (ebd.) mit sich bringen. Unmittelbarkeit, die mit der Möglichkeit einer pantheistischen Intuition auftaucht, ist in diesem Fall nur Widerhall der dualistischen Präsumtion, die unmittelbare Erkenntnis, d. h. die Anwesenheit des Fürsich beim An-sich, als »reine verneinte Identität« (ebd.) verstehen muss. Zur Plausibilisierung dieses Gedankens bedient sich Sartre hier des Bildes zweier konvergierender Kurven: Da wo sie einander berühren, artikulieren sie den Seinstypus unmittelbarer Anwesenheit. »Daher erfaßt das Auge nur eine einzige Linie auf der ganzen Länge ihrer Berührung.« (SN, 334) Verdeckte man die Kurven, so dass nur dieser Bereich der Berührung sichtbar bliebe, gäbe es keine Hinsicht, unter der man sie unterscheiden könnte. Es bliebe reine Identität. Entdeckte man die Kurven erneut, würde ihre eigentliche Natur nicht als Ergebnis einer »schroffen tatsächlichen Trennung« zur Geltung kommen, »sondern daher, daß die beiden Bewegungen, durch die wir die beiden Kurven ziehen, um sie wahrnehmen zu können, je eine Negation als konstituierenden Akt einschließen«. (Ebd.) Es trennt somit keine reale Distanz, sondern eine »reine Negativität als Gegenstück einer konstituierenden Synthese«. (Ebd.) Es ist nun leicht zu sehen, dass die Unmittelbarkeit, die Sartre als Brücke zweier Seinsweisen verstehen muss, nicht die Unmittelbarkeit sein kann, die in den Beschreibungen Rousseaus evoziert wird. Während die Intuition Sartres vermöge einer aus der Dritten-PersonenPerspektive in Anspruch genommenen Syntheseleistung eines konstituierenden Vollzuges plausibilisiert werden kann, speist sich die Intuition Rousseaus aus der Unmittelbarkeit eines solchen Vollzuges selbst. Die spiritualistische Tendenz der Rousseau’schen Ausführungen, gegen die sich Sartre abzusetzen wünscht, kommt noch entschiedener in der II. Rêverie zur Geltung, wo die Ortlosigkeit des eben wieder zur Besinnung kommenden Wanderers auf die Spitze getrieben wird. Als sich, nachdem er von einer übermütigen Dänischen Dogge überraschend zu Boden geworfen war, seine Sinne wieder seiner zu bemächtigen beginnen, ergibt sich folgender Eindruck:

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»Ich spürte zunächst nur durch sie, dass ich überhaupt existierte. Ich gelangte in diesem Augenblick zum Leben, und mir schien, als erfüllte ich alle Dinge um mich herum mit meiner zarten Daseinskraft. Weil ich nur das Gegenwärtige wahrnahm, erinnerte ich mich an nichts. Ich hatte keine Vorstellung über meine Person und keinerlei Ahnung, welches Missgeschick mich da getroffen hatte; ich wusste nicht mehr, wer ich war und wo ich war […].« (Rousseau 2003, 25)

Die Ortlosigkeit, die hier zum Ausdruck kommt, ist kein Mangel an Orientierung und es kann kaum gelingen, sie schlicht als Grenzerfahrung innerhalb einer menschlichen Existenz zu bestimmen, wenn diese Existenz, wie Sartre es vorsieht, letztlich als personales und situatives Engagement verstanden wird. Als solchem begegnet die menschliche-Realität »überall Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die menschliche-Realität ist«. (SN, 845) Eine konkrete Situation liegt in der Erfahrung Rousseaus somit gar nicht vor. Weder Widerstand noch Hindernisse zeichnen sich ab. Wenn sich die Faktizität, die die réalité-humaine für Sartre ausmacht, wenn sich das, was sie in ihrem flüchtigen Entwurf erhellt, als »mein Platz, mein Körper, meine Vergangenheit, meine Position« (SN, 846) manifestiert, dann ist Rousseaus Wanderer – für einen Augenblick – aus der Existenz gefallen. Für Sartre ist die noch scheinbar subjektive Seinsfülle, die so in den Träumereien aufscheint, schon deshalb schwer fasslich, weil die mit dem Gestus einer gewissen Natürlichkeit vorgetragene Selbstgenügsamkeit eine Erfahrung nahe legt, die räumlicher und zeitlicher Orientierung enthoben und damit einem Diktum zu widersprechen scheint, das Sartre für die Faktizität des Für-sich in Anspruch nimmt: »Das Für-sich-sein muß ganz Körper und ganz Bewußtsein sein: es kann nicht mit einem Körper vereinigt sein.« (SN, 543)

Die exhaustive Verkörperung des Bewusstseins, die seine Endlichkeit, Individualität und sein Engagement in die Welt zeitigt und die treffend in der transitiven Verwendung von »existieren« zum Ausdruck kommt – das Bewusstssein existiert seinen Körper (vgl. SN, 585) – löst ein weiteres Mal die Gleichursprünglichkeit von Bewusstsein und Welt ein. Letztlich ist es einerlei, »ob ich sage […], daß es eine Welt gibt, oder daß ich einen Körper habe«. (SN, 564) Im Vollzug engagierter Existenz mag der Körper das »Unbedachte« sein, das ›mit Stillschweigen Übergangene‹, und doch ist er das, was das Bewußt259 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbstbewusstsein in Das Sein und das Nichts

sein ist; es ist sogar nichts anderes als Körper, der Rest ist nicht Nichts und Schweigen«. (SN, 583) Wie sich dieser Rest auch philosophisch geben mag, in der Subjektivitätskonzeption Sartres hat er keinen Raum. Im nächsten Kapitel wird daher zu verfolgen sein, wie die Phänomenologie Merleau-Pontys einerseits die Ambivalenz des Körper, seine objektive Beziehung zu den Dingen und die existenzielle Beziehung, die das Bewusstsein zu ihm unterhält (vgl. SN, 583) zum Ausgangspunkt einer Leibphänomenologie des Selbstbewusstseins macht – wie er sich andererseits aber gezwungen sieht, Raum für das Schweigen zu lassen, das das konkrete Engagement in die Welt stets umgibt.

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Kapitel III 5. Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

Das Changieren zwischen bewusstseinsphänomenologischer und existenzphänomenologischer Intuition, das uns bei Sartre begegnete, prägt auch das frühe Philosophieren Merleau-Pontys. Entschlossener noch als Sartre scheint Merleau-Ponty dabei an einem radikalen Transzendentalismus festzuhalten, wenn er gegen die naiven Setzungen wissenschaftlicher Betrachtung den Ausgangspunkt phänomenologischen Philosophierens betont: »[I]ch bin vielmehr absoluter Ursprung, und meine Existenz geht nicht, als aus ihren Antezedentien, hervor aus meiner physischen und sozialen Umwelt, sie geht vielmehr auf diese hin zu und gibt ihr den Seinsgrund erst«. (PhW, 5) Hierbei versteht er diese Ursprünglichkeit aber nicht als idealistischen Rückgang auf die konstituierenden Leistungen eines souveränen überzeitlichen Subjektes, dem »die Gewißheit der Welt, zur Gewißheit der Weltvorstellung« (PhW, 10) gerät, sondern als Gleichursprünglichkeit eines fundamentalen Zur-Welt-seins, das sich in der mittelbaren Unmittelbarkeit des Leibes artikuliert. Dieser philosophischen Konstellation erwächst ein Projekt, das einerseits der existenzphilosophischen Emphase eines immer schon weltlich engagierten Bewusstseins Rechnung trägt, das sich andererseits aber mit den Selbsterfahrungen einer Bewusstseinsphilosophie konfrontiert sieht, die »reflektierend dem unreflektierten Bewusstseinsleben nahekommen« (PhW, 13) will. Merleau-Pontys Analysen zu Subjektivität und Selbstbewusstsein geraten somit dort in eine Spannung, wo er Subjektivität einerseits als eine »offen unbestimmte Einheit« gelten lassen will – »Ich bin ein Feld, ich bin eine Erfahrung« (PhW, 462 f.) –, wo er diese anderseits aber als eine engagierte Ekstase bestimmt, als »Projektion eines ungeteilten Vermögens auf ein ihm gegenwärtiges Ziel hin«. (PhW, 484) Als grundlegendes Problem erweist sich für ihn die Frage, »wie die mich selbst bestimmende und jede Fremdgegenwart bedingende Urpräsenz bei mir selbst in eins mich aus mir hinaus werfende Entgegenwärtigung zu sein vermag«. 261 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

(PhW, 416) Merleau-Ponty lässt sich also von dem tradierten Rätsel leiten, dass ich mich ständig in einer geteilten Welt voller intersubjektiver und objektiver Verbindlichkeiten und Gegenstände bewege, ich in diese Welt geworfen, ihr ausgesetzt und mit ihr verwoben bin, es aber zugleich in einem ernsten Sinne nichts davon gäbe, wenn es nicht mich gäbe, der bewusst in diesen Verbindlichkeiten steht und lebt. Obgleich er Bewusstsein also in einer vorreflexiven Dimension als Ursprung ausweist, legen seine existenzphilosophischen Intuitionen da einen anderen Ursprung nahe, wo er letztlich in »der natürlichen und der sozialen Welt […] das wahre Transzendentale entdeckt« (PhW, 417) zu haben glaubt. In diesem Kapitel gilt es zu verfolgen, welche Dimension von Bewusstsein sich zwischen diesen beiden Ursprüngen beiläufig zu erkennen gibt und welchen theoretischen Ort Merleau-Ponty dieser impersonalen Subjektivität innerhalb seines frühen Philosophierens zuweisen kann.

5.1 Das klaustrophobe, das allmächtige und das offene Selbst – Intellektualismus und Epoché Für die folgende Analyse einiger zentraler Aspekte der Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty ist es zuvor angezeigt, ein Verständnis der Weise phänomenologischen Philosophierens zu gewinnen, das sein frühes Denken bestimmt. Neben der Dekonstruktion einer empiristischen Tradition entwickelt sich dieses Philosophieren vor allem entlang einer Auseinandersetzung mit dem, was er »Intellektualismus« zu nennen pflegt. Darunter subsumiert er neben den betont cartesianisch orientierten Lesarten der Husserl’schen Phänomenologie, jene zum Teil cartesianisch, zum Teil neukantianisch orientierten Philosophen wie Jules Lagneau, Alain und Lachièze-Rey. Man darf also annehmen, dass sich die methodischen und systematischen Ausführungen Merleau-Pontys gegen eine bestimmte Menge idealistischer Präsuppositionen, Annahmen und Konsequenzen richten. Weite Teile der entsprechenden Diskussion um eine Bewusstseinsphilosophie im Allgemeinen und das Problem des Selbstbewusstseins im Besonderen sind eigentlich nur mit Rücksicht auf dieses »Feindbild« zu verstehen. Das gilt insbesondere auch für die auf einen ersten Blick nahe liegende Absage MerleauPontys an die Verfahren transzendental gewendeter Phänomenologie. 262 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Das klaustrophobe, das allmächtige und das offene Selbst

Mit Blick auf die Andeutungen im Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung und vor allem im Fahrwasser der populären Einschätzung Gurwitschs 1, Merleau-Ponty habe sich ob seiner existentialistischen Intuitionen nicht für eine transzendental gewendete Phänomenologie interessiert und dementsprechend auch keinen Wert auf ihre methodischen Verfahren gelegt, gehört es zu den Allgemeinplätzen der jüngeren Phänomenologie, Merleau-Ponty stünde dem Husserl’schen Verfahren der Epoché und den entsprechenden phänomenologischen Reduktionen ablehnend gegenüber. Stellvertretend für diese Ablehnung wird dabei auf jene uns schon von Sartre her bekannte Auffassung verwiesen, die phänomenologische Reduktion sei prinzipiell unvollständig, oder richtiger: eine vollständige Reduktion sei prinzipiell unmöglich. Dabei darf man allerdings nicht übersehen, dass uns diese Lektion letztlich nur durch den Vollzug eben dieser Reduktion selbst ermöglicht wird. »Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion.« (PhW, 11) 2 Nur wenige Zeilen vor diesen Ausführungen findet sich zudem die Einschätzung, dass Eugen Fink den Gedanken der Reduktion da am treffendsten formuliert habe, wo er von ihr als dem »›Erstaunen‹ angesichts der Welt« (PhW, 10) sprach. Wie Heinämaa zeigen konnte, lässt sich die Rede von der Unvollständigkeit der Reduktion mit Rücksicht auf seine Fink-Rezeption und die Emphase des Erstaunens nicht als eine Absage an die Reduktion als einer unvollständigen und deshalb unbrauchbaren Methode verstehen. Vielmehr rückt so dessen positive Charakterisierung als eines Verfahrens in den Vordergrund, das vom Philosophen nicht vollständig durchschritten werden kann, sondern das ihm in einem maßgeblichen Sinne widerfahren muss. (Vgl. Heinämaa 2002, 142–146) 3 Die Reduktion ist nicht Freilegung oder Installation eines abgeschlossenen Residuums transzendentaler Konstitution, sondern allenfalls Öffnung eines Bereichs transzendentalen Geschehens (vgl., PhW, 463), für die »ein Bruch in unserem Vertrautsein mit der Welt notwendig ist«. (PhW, 11)

Gurwitsch (1964), 171. Zuletzt hat Smyth (2014) die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, von einem methodischen Verfahren zu verlangen, dass es seine eigene Grenze preisgibt, zum Ausgangspunkt einer bemerkenswerte Relektüre der Phänomenologie der Wahrnehmung gemacht, (Für eine Skizze dieses Versuches vgl. ebd., xii) 3 Dazu auch Smyth (2014), XIV–XXX. 1 2

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Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

Auch wenn Merleau-Ponty solchen transzendentalen Verfahren, deren gelungener Vollzug eine »unverletzliche Subjektivität« (PhW, 6) versprechen, attestiert, dass sie insofern unvollständig seien, als sie das Bewusstsein ihres eigenen Anfangs verlören, verwirft er damit nicht das Programm einer transzendentalen Phänomenologie als solcher. Er nimmt lediglich von der Interpretation eines transzendentalen Ichs Abstand, die es als eine souverän-solipsistisch konstituierende Instanz fassen möchte. Der übersehene Anfang dieser Verfahren ist die unreflektierte leiblich-situative Existenz des être au monde, des Zur-Welt-seins; und wie schon bei Sartre, ist der existenzielle Gestus eines immer schon hingegebenen Subjektes nicht zuletzt der Versuch, den Menschen aus seiner cartesianischen Innerlichkeit zu holen. »Die Wahrheit bewohnt nicht bloß den ›inneren Menschen‹, vielmehr es gibt keinen inneren Menschen: der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt.« (PhW, 7) 4 Die Absage an Innerlichkeit ist zugleich Fortführung der schon in Die Struktur des Verhaltens begonnenen Aufhebung des neuzeitlichen Dualismus: »Innen und außen sind überhaupt nicht von einander zu trennen. Die Welt ist ganz innen in mir und ich bin ganz außen von mir.« (SV, 1976, 41) Mit dieser Schwächung der solipsistischen Tendenzen reflexiver Bewusstseinsphilosophie geht zudem eine Skepsis gegenüber essentialistischen Vorstellungen einher, die Wesen als bloßen Bedeutungskern glauben freilegen zu können und sich etwa daran machen, das Wesen des Bewusstseins dadurch zu klären, die »Wortbedeutung Bewusstsein« auszulegen. Das Wesen des Bewusstseins aufzuklären hieße aber, »die Gegenwart meiner selbst bei mir selbst, das Faktum meines Bewusstseins wiederzufinden, das letztlich doch Wort und Begriff des Bewusstseins besagen sollen«. (PhW, 12) Da, wo Merleau-Ponty explizit phänomenologische Reduktion anficht, hat er neben den intellektualistischen Interpretationen dieser Verfahren vor allem die von Husserl an mancher Stelle geforderte Verquickung phänomenologischer und eidetischer Reduktion vor Der offenbare Anklang an Augustins »in interiore homine« erscheint insofern seltsam, als es zwischen einem »inneren Menschen« und dem »Inneren des Menschen« schon dann einen Unterschied gibt, wenn diese Wendung – bei Augustin wie auch bei Husserl – einen methodologischen, weniger resultativen Sinn bekommt. Was Merleau-Ponty kritisiert, ist nicht das Augustinische Programm, sondern den Versuch, durch »reflexive Analyse«, Reduktion und Versenkung etwas über die Welt zu erfahren. Noetische Analyse kann noematische nicht ersetzen. Das Gleiche gilt aber auch vice versa – insbesondere wenn nach Selbstbewusstsein zu fragen ist. 4

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Das klaustrophobe, das allmächtige und das offene Selbst

Augen. (Vgl. etwa PhW, 11) Abgesehen davon, dass transzendental und essentialistisch ausgerichtete Phänomenologie einander keineswegs bedingen müssen 5, kann man einen transzendentalen Idealismus und einen phänomenologischen Essentialismus für völlig verfehlte Positionen halten und trotzdem mit Husserl der Meinung sein, die phänomenologische Epoché sei das »Eingangstor des nie betretenen Reiches der ›Mütter der Erkenntnis‹« (Hua VI, 156). Denn der phänomenologische Zug des Erstaunens und der von Fink eingeforderte Bruch in unserem Vertrautsein mit der Welt ist klarer in der Wende der Epoché als in den Bewegungen der Reduktion eingelöst. 6 Im Folgenden wird zunächst zu zeigen sein, dass Merleau-Pontys phänomenologisches Philosophieren ein bestimmtes existenzialistisches Verständnis von Epoché voraussetzt. Dabei werden sich auch die Konsequenzen aufweisen lassen, die sich für ihn aus den intellektualistischen bzw. idealistischen Interpretationen der phänomenologischen Verfahren ergeben. So gewinnen wir nicht nur ein reicheres Bild der grundlegenden Intuition, die sein Philosophieren leitet, sondern sensibilisieren zugleich auch für eine Besonderheit, die seine Phänomenologie des Selbstbewusstseins auszeichnet. Obwohl Merleau-Ponty die transzendentalphilosophischen Erzeugnisse formaler oder konstituierender Iche und ihre solipsistischen Tendenzen ablehnt, gelangt er zu einer Dimension menschlicher Subjektivität, die sich gegenüber der engagierten und situierten Person und ihrem ausdrücklichen Selbstbewussten als ursprünglich erweist. Ein Verständnis für diese impersonale Dimension und ihre philosophische Artikulation zu gewinnen, ist Aufgabe dieses Kapitels. Die existenzielle Epoché Merleau-Pontys Wenn Merleau-Ponty als »die wichtigste Lehre der Reduktion« die Einsicht in die »Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion« (PhW, 11) herausstellt, begründet er diese Einsicht mit dem allgemeineren methodischen Verweis darauf, dass »Reflexion radikal nur ist als Bewußtsein der Abhängigkeit ihrer selbst von dem unreflektierten Leben, in dem sie erstlich, ständig und letztlich sich situiert«. (Ebd.) Vgl. die entsprechende Diskussion bei Mohanty (1985), 191 und Ströker (1987), 81. Smith (2005) etwa argumentiert dafür, dass Merleau-Ponty auf der einen Seite lediglich einer bestimmten idealistischen Interpretation der Reduktionen widersprechen, nicht ihrem phänomenologischen Sinn abschwören und auf der anderen Seite, dem Verfahren der Epoché, verstanden als Inhibierung und Außer-Geltung-Setzung einer ›naiven‹ Generalthesis, methodischen Raum geben wollte.

5 6

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Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

Dieses unreflektierte Leben, dessen Stellenwert in der Phänomenologie Merleau-Pontys man nur unterschätzen kann – nicht nur die Begriffe der Wahrnehmung und des Leibes, auch die späten Bemühungen um die Begriffe des »Fleisches« und des »wilden Seins« sind dieser grundlegenden Intuition verpflichtet –, ist Name für jene Dimension bewusster Existenz, in der eine etwaige Differenzierung von Welt und Subjekt weder gültig noch artikulierbar ist. Dem Abgrund zwischen Subjekt und Objekt, den diese Differenzierung evoziert, sowie den Versuchen der neuzeitlichen Erkenntnistheorien, diesen zu schließen, zu überbrücken oder zu untergraben, gilt ein Hauptaugenmerk der phänomenologischen Philosophie Merleau-Pontys. Zwar ließen auch der Rationalismus Descartes’ und der formale Transzendentalismus Kants, bzw. die Schattenschnitte, die Merleau-Ponty von ihnen zeichnet, eine Gleichursprünglichkeit von Subjekt und Welt gelten, bei beiden aber bleibt das Subjekt von seiner Welterfahrung verschieden, um bei jenen Neukantianern, die er als Vertreter »reflexiver Analyse« auftreten lässt, den Blick auf die Konstitutionsbedingungen und synthetischen Aktivitäten des Subjekts freizugeben, ohne die Welt letztlich nicht wäre. Diesem Fokus transzendentaler Forschung auf der noetischen Leistung des Bewusstseins stellt er mit Husserl zunächst die »noematische Reflexion« entgegen, »die beim Gegenstand selbst verbleibt und dessen ursprüngliche Einheit auslegen, nicht erzeugen will«. (PhW, 6) Der Phänomenologe ist demnach angehalten, sich in seinem Wunsch, die Wirklichkeit als sinnvolles Ganzes zu erklären, nicht sogleich der überzeitlichen Konstitutionsgesetze »in seinem Inneren« zu versichern. Stattdessen gilt es, sich in der Wahrnehmung, der Welterfahrung selbst einzurichten, um von hier die überreiche Situation seines Zur-Welt-seins zu beschreiben. Die Pointe phänomenologischer Praxis liegt insofern weniger in einer möglichen Lösung des Rätsels »Welt«, als vielmehr im Versuch, »von neuem zu lernen, die Welt zu sehen«. (PhW, 18) In diesem philosophischen und letztlich ästhetischen Sensibilisierungsprojekt haben die von Husserl überkommenen phänomenologischen Verfahren durchaus ihren methodischen Ort. Die entsprechenden reduktiven Anstrengungen, das Bewusstsein als reine Instanz zu gewinnen und zu halten, von der her sich der Konstitutionsprozess fortschreitend freilegen und beschreiben ließe, entpuppen sich für Merleau-Ponty allerdings als eben jenes Versäumnis gegenüber ihrem eigenen Anfang. Denn auch wenn es gelänge, sich als meditierendes Cogito jenseits der Welt als der »Ge266 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Das klaustrophobe, das allmächtige und das offene Selbst

samtheit durch Kausalbezüge verknüpfter Dinge oder Prozesse« (PhW, 10) zu entdecken, müsste sich diese Welt doch als ständiger Horizont der cogitationes zeigen, als ein Bereich, den ich zwar als von mir verschieden erleben kann und dessen Konstitutionsregeln ich in Grenzen anzugeben im Stande bin, auf den ich mich aber unaufhörlich bezogen, in dem ich mich ständig denkend und handelnd situiert finde. Dieses kontinuierliche, so bruchlose wie dunkle »Verhältnis« zur Welt als Thema phänomenologischer Philosophie gelten zu lassen, verlangt jedoch gerade jene Leistung der »Enthaltung«, die Husserl als Epoché wieder in der abendländischen Philosophie wachgerufen und radikalisiert hatte. Merleau-Ponty sieht nun gerade die Fink’sche Explikation der Epoché als »Erstaunen« angesichts der Welt als eine Möglichkeit, diese Epoché nicht einfach als Rückgang »auf die Bewusstseinseinheit als Weltgrund« zu verstehen, sondern zunächst als Geste einer heuristischen Distanz gelten zu lassen, um das »ZurWelt-sein« »zu wachem Erleben und zur Erscheinung zu bringen«. (Ebd.) Da, wo die Reduktion aufhört, einer idealistischen Intuition zu gehorchen, wird sie somit zur Formel einer Existenzphilosophie, die der entsprechenden Emphase einer Anerkennung der Endlichkeit und Kontingenz des der Welt immer schon zugeeigneten Subjektes Rechnung trägt. Intellektualistische Begriffe von Ich und Bewusstsein kranken demgegenüber an ihrer Affinität zu rationalistischen oder vulgären transzendental-idealistischen Vorstellungen. Die einem Rationalismus verpflichteten Alternativen versuchen Merleau-Ponty zufolge, im Innern des Menschen die konstitutiven Seelenvermögen einer res cogitans freizulegen und dieses Cogito so aussichtslos einer äußeren Welt gegenüberzustellen, dass die Beklemmungen dieses Subjektes einen anhaltenden Sturm auf die Festung des Dualismus motiviert haben. Eine Festung, von der niemand so richtig weiß, ob sie jemals wirklich bewohnt war. Noch schwerer als die Konsequenz, dieses verinnerlichte und klaustrophobe Ich vorauszusetzen, das in den Tiefen seines sicheren Denkens einer vermeintlich äußeren Welt und der Subjekte in ihr entrückt bleibt, wiegt für Merleau-Ponty aber die Konsequenz des transzendentalen Idealismus. Diesem macht er zum Vorwurf, dass er einerseits »die Welt aller Undurchdringlichkeit und Transzendenz« (PhW, 8) entledige und seine Bemühungen andererseits eine Existenzweise des Cogito implizieren, die letztlich dazu zwingt, den Geist »uneingeschränkt mit Gott gleichzusetzen« (PhW, 425). Die Entzeitlichung und Entweltlichung des Bewusstseins, die 267 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

der Intellektualismus Merleau-Ponty zufolge in Form dieser beiden Konsequenzen nahelegt, zeigen sich für ihn so paradigmatisch wie traditionell an der Unmöglichkeit, der intersubjektiven Dimension des menschlichen Erlebens gerecht zu werden. Entweder bleibt das Ich im Kerker seiner Innerlichkeit eingesperrt und der Andere wird zu einem unzugänglichen Phantom, oder es bläht sich zu jenem universell konstituierenden Ich auf, dem der Andere »eher als ›geltend‹ denn als ›existierend‹« (PhW, 9) erscheint. Es geht also nicht darum, Epoché oder eine entsprechende Reduktion auf das Bewusstseinsleben aufzugeben – letztlich trete auch Heideggers »In-der-Welt-sein« nur auf dem Grunde der phänomenologischen Reduktion auf (vgl. PhW, 11) –, sondern lediglich darum, für die Gefahr zu sensibilisieren, den unhintergehbaren Grund dieser Reduktion aus dem Blick zu verlieren. Einen Grund, der sich zwar überhaupt erst durch die Mühe einer Wende, wie sie die Epoché erlaubt, als solcher zu erkennen gibt, der sich aber nicht als eine konstruierende Allmacht ausnimmt, sondern als immer schon geteiltes und vorreflexives Zwischenreich bewusster wie endlicher Existenz zur Geltung kommt. Dieser geteilte Grund – hier beginnt auch die Argumentation Gurwitschs – wird von Merleau-Ponty also als existenzieller Grund inszeniert und nicht sogleich als transzendentaler Grund in Anspruch genommen. Das bedeutet jedoch nicht, wie Gurwitsch meint, dass Merleau-Ponty die umfassende Inhibierungsleistung der Epoché nicht gelten lasse oder gar ablehne. Die Prävalenz der Wahrnehmung, die Merleau-Pontys frühes Philosophieren leitet und das être au monde, das diesen besonderen Status explizieren soll, stünden, wie auch Smith argumentiert 7, nur dann in einem Widerspruch zur Epoché, wenn man ihr unterstellte, dass sie eine transzendentale Reduktion auf ein transzendentales Subjekt methodologisch implizieren würde. Dann wäre in der Tat fragwürdig, wie die Emphase der existenziellen Interdependenz zwischen dem leiblichen Subjekt und der Welt mit einer Reduktion auf eine weltkonstituierende Instanz zu vereinbaren wäre. Merleau-Pontys Versuch, einem ursprünglicheren lebendigen Verhältnis zwischen Bewusstsein und Welt nachzuspüren, das unsere gegenständliche Orientierung an und in der Welt voraussetzt, ist in der Tat mit einer Interpretation transzendentaler Phänomenologie 7

Vgl. Smith (2005), 560–561.

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Das klaustrophobe, das allmächtige und das offene Selbst

unvereinbar, die der Versuchung erliegt, dieses Verhältnis von der Warte eines vermeintlich unbeteiligten Beobachters transzendentaler oder empirischer Natur aus beschreiben zu wollen. Ein engagierter view from nowhere ist in der Bewusstseinsphilosophie so wenig wie in den empirischen Wissenschaften zulässig. Im nächsten Abschnitt werden wir sogar sehen, dass Merleau-Ponty auch den transzendentalen Zuschauer Husserls und Finks nur für einen Atavismus neuzeitlicher Verwissenschaftlichung und eines vulgären Objektivismus hält. Wie ist nun aber eine Epoché zu verstehen, die uns nicht die Konsequenz eines klaustrophoben oder eines allmächtigen Ichs zu ziehen zwingt und uns das Zur-Welt-sein zu wachem Erleben zu bringen erlaubt? Zunächst ist sie eben prinzipiell unvollständig. Das aber ist kein Mangel, sondern konstitutives Moment eines Verfahrens, das anerkennt, dass es den umfassenden Verhältnissen, die es freizulegen erlauben will, selbst angehört. Eine solche Epoché strebt nicht einem Residuum zu, dem, einmal eingerichtet, sich die Welt in einer transparenten Totalität darbietet, d. h. gegenständlich wird. Die existenzielle Epoché Merleau-Pontys zielt auch nicht auf ein transzendentales Schlaraffenland, in dem einem die Tauben der Konstitutionstheorie schon gebraten in den Mund fliegen. Nichtsdestotrotz teilt sein Verständnis von Epoché die Intuition Husserls und Finks, dass »ein Bruch in unserem Vertrautsein mit der Welt notwendig ist, soll die Welt erblickt und ihr Paradox erfasst werden«. (PhW, 11) Nur ist weder der Blick auf die Welt noch das Erfassen ihrer Abhängigkeit und gleichzeitigen Unabhängigkeit von meinem Blick etwas, dass ein dieser Welt prinzipiell entrückter, umfassender Denk-Akt leisten könnte, wie es intellektualistische Interpretationen transzendentaler Philosophie mitunter vorgaukeln. Weil letztlich alle Reflexion dem Zur-Welt-sein verhaftet bleibt, »gibt es kein Denken, das all unser Denken umfaßte«. (Ebd.) Der Bruch in unserem Vertrautsein mit der Welt und das Erstaunen, das diese Entfremdung hervorbringen kann, zielt also nicht auf eine auch nur intellektuelle Verfügbarkeit von Welt, sondern auf die erlebte Einsicht meiner immer schon bruchlosen Einheit mit ihr. Das Ich wird sich hiernach als eine offene Einheit erweisen, wie es auch die Welt ist, in die es sich immer schon engagiert findet. Obgleich sich die Möglichkeit einer umfassenden Reflexion als Akt reinen Denkens angesichts des Zur-Welt-seins als widersinnig erweist, bedeutet das nicht, dass sich kein Bewusstsein aufweisen 269 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

lässt, das dem engagierten Weltbezugs vorgeordnet und in diesem Sinne ein letztes Bewusstsein ist. Nur ist es dies nicht als natürliche oder artifizielle Instanz, die, von der Welt geschieden, diese Kraft eines souveränen Blicks als Ganze erfassen würde. Ein solches Bewusstsein zeigt sich nur in Form einer Anerkennung der fundamentalen Offenheit des eigenen Selbst, die der Offenheit einer stets unabgeschlossenen, expandierenden Welt korreliert. Der »offenen Einheit der Welt muß eine offen unbestimmte Einheit der Subjektivität entsprechen«. (PhW, 462) Da, wo sich die Welt als »Feld all unserer Erfahrung« zeigt, kann Merleau-Ponty auf die Frage »was bin ich letzten Endes, insofern ich unabhängig von jedem besonderen Akt von mir selbst noch etwas erraten kann?« antworten: »Ich bin ein Feld, ich bin eine Erfahrung.« (Ebd.) Mit diesem eigentümlichen Begriff von Selbsterfahrung trägt Merleau-Ponty einem »erlebten Solipsismus« (ebd., 409) Rechnung, den wir in den späten Bemühungen Husserls um den Begriff der lebendigen Gegenwart gefunden haben. Hier wie dort besagt dieser Solipsismus lediglich: »[J]ede Bejahung, jedes Engagement, sogar jede Negation und jeder Zweifel findet in einem vorgängig eröffneten Felde statt und bekundet ein Selbst, das an sich selbst rührt, ehe es mit jenen partikulären Akten in Berührung tritt, in denen es die Berührung mit sich selbst verliert.« (PhW, 409)

Und auch wenn die lebendige Selbstgegenwart nicht abtrennbar von jener engagierten Offenheit sein kann, die als personale Existenz die Gegenwart bei der Welt bestimmt, so zeigt sie sich doch als ein stillschweigendes Cogito, das »sich aber nur zu verstehen [gibt] in Grenzsituationen, in denen es bedroht ist«. (PhW, 460) 8 Nur da, wo die Selbstsicherheit des Cogito als eines sich scheinbar selbst überragenden und vergegenständlichenden Denkens gestört wird, zeigt sich, was »man für das Denken des Denkens hält, [als] ein reines Selbstgefühl, das noch nicht sich selber denkt und erst noch der Enthüllung bedarf«. (Ebd.)

An den beiden Beispielen einer solchen Bedrohung lässt sich bereits die Ambivalenz dieses stillschweigenden Cogito anzeigen: dieses ist bedroht »in der Todesangst oder Angst vor dem Blick des Anderen« (PhW, 460). Auch das stillschweigende Cogito ist nicht letzte Bastion von Innerlichkeit, sondern Dimension einer Selbsterfahrung, von der Merleau-Ponty bemüht ist, sie als eine intersubjektive Erfahrung zu verstehen. Siehe dazu die Analyse von Smyth (2014), 85–88.

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Engagierter Leib, uninteressierter Zuschauer und ein notwendiger Zeuge

Bevor wir uns den Schwierigkeiten widmen, die sich aus dem »erlebten Solipsismus, der unüberwindbar scheint« (PhW, 409) einerseits und der letztlich einem Intersubjektivismus verpflichteten Intuition des Zur-Welt-seins andererseits ergeben, gilt es dem Unbehagen gegenüber einem intellektualistischen Idealismus weiter Kontur zu geben, das Merleau-Pontys Denken von Subjektivität prägt. So wird deutlich, dass sich die Phänomenologie des Leibes, die er dem Intellektualismus entgegenstellt, nicht einer bewusstseinsphilosophischen Intuition als solcher entledigt. Sie lehnt lediglich die dieser Intuititon eingeschriebene Auffassung ab, eine solche Philosophie könne sich durch den Rückgang auf einen uninteressierten Zuschauer den Verlauf von Welt- und Selbstgenese umfassend verfügbar machen.

5.2 Engagierter Leib, uninteressierter Zuschauer und ein notwendiger Zeuge Merleau-Pontys frühes Philosophieren entfaltet sich zum einen entlang seiner Kritik an den Verkürzungen eines empiristischen Atomismus, der den lebendigen Wahrnehmungsvollzug auf eine kausale Beziehung zwischen einem physiologisch hinreichend beschreibbaren Subjekt und einer Menge von Qualitäten reduziert, die etwa durch Regeln der Assoziation zu einem Ganzen verwoben werden. Zum anderen zielt es auf die Aufweichung einer intellektualistischen Philosophie kantischer und cartesianischer Prägung und einer entsprechenden Psychologie, die die Subjektvergessenheit des Empirismus zugunsten eines aufmerksamen, körperliche Sinnesreize oder hyletische Daten auffassenden und interpretierenden Bewusstseins zu korrigieren versucht. »Für beide gilt, daß sie nicht das zu erfahren im Begriff befindliche Bewusstsein zu erfassen vermögen«. (PhW, 49) Die Phänomenologie des Leibes entwickelt sich aus dem erkenntnistheoretischen Versuch, den Bemühungen, das menschliche Erkennen durch einen Vorrang sinnlicher Reize oder begrifflicher Vermögen zu erklären, den lebendigen Wahrnehmungsvollzug selbst entgegenzustellen. Sie versucht die Dichotomie von Subjekt und Objekt, die Empirismus und Intellektualismus prägt, zu untergraben. Dabei soll nicht einfach eine Seite der Dichotomie derart betont werden, dass sie die andere aufzuheben gestattet. Vielmehr wird jenes begriffliche Scharnier zur Geltung gebracht, das aufgrund einer we271 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

sentlichen Ambiguität, der Anlage nach sowohl Subjekt als auch Objekt sein zu können, diese Dichotomie als eine späte Abstraktion erscheinen lässt, die sich erst auf der Grundlage einer noch ungeschiedenen Dimension leiblicher Existenz herausbilden kann. Diese leibliche Existenz, die nichts anderes als die Weise unseres ZurWelt-seins meint, ist sowohl den »objektiven« Reizen vorgeordnet, die uns aus einer vermeintlich äußeren Welt heraus affizieren, als auch den kategorialen Akten des Bewusstseins gegenüber ursprünglich, die uns eine solche Welt auffassend konstituieren mögen. »Es gibt also eine gewisse von allen Reizen relativ unabhängige Konsistenz unserer ›Welt‹, die eine Reduktion des Zur-Welt-seins auf eine Summe von Reflexen ausschließt; es gibt eine gewisse von allem weltlichen Denken relativ unabhängige Kraft des Pulsschlages der Existenz, die ebenso eine Reduktion des Zur-Welt-seins auf einen Akt des Bewusstseins ausschließt.« (PhW, 104)

Die ambige Struktur dieses Zwischenreichs leiblicher Existenz, ihre uneinholbare Lebendigkeit, die sich weder im Bewusstsein noch in der Welt erschöpfen lässt, wird von Merleau-Ponty oft durch eine Emphase des Engagements zum Ausdruck gebracht. Dem Reduktionismus idealistischer und empiristischer Couleur wird damit die Vorstellung eines mit der Welt immer schon situativ verwobenen Organismus entgegengestellt. »Der Leib ist das Vehikel des Zur-Welt-seins, und einen Leib zu haben heißt für den Lebenden, sich einem bestimmten Milieu zugesellen, sich mit bestimmten Vorhaben identifizieren und darin beständig sich engagieren.« (PhW, 106)

Der Leib ist somit nicht Ding unter Dingen, dem einfach die Besonderheit eignet, auch noch Nullpunkt perspektivischer Orientierung in der Welt zu sein, sondern er ist überhaupt nur jene Offenheit eines Engagements in die Welt, auf der alle gegenständliche Orientierung aufruht. Dem Verstümmelten, dem der Arm durch Amputation genommen wurde, erscheint jener Arm nicht erst derart als Mangel, dass ihm bei bestimmten Gelegenheiten auffiele, »dass ein Arm fehlt«. Der Mangel – und eine entsprechende Pathologie, wie das Phantomglied – zeigt sich für Merleau-Ponty nicht etwa erst an dem Scheitern, einen Gegenstand »wie üblich« zu manipulieren, sondern vielmehr als umfassender Ausdruck eines »in einer physischen und zwischenmenschlichen Welt engagierte[n] Ich, das sich allen Män-

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Engagierter Leib, uninteressierter Zuschauer und ein notwendiger Zeuge

geln oder der Amputation zum Trotz weiterhin auf die Welt hin spannt« (ebd., 106) Die intentionalen Verflechtungen, die das ZurWelt-sein des »habituellen Leibes« prägten, durchziehen den »aktuellen Leib« 9 auf eine Weise, dass in seinem Welt-Horizont noch stets Gegenstände vorkommen, die sich als »beidhändig hantierbar« zeigen – es ist eben noch die Welt eines Zweiarmigen. Die Enttäuschung in einer Situation, in der der Verstümmelte, seines neuen Zustandes nicht gewahr, im Begriff ist, einen Gegenstand vom Boden zu heben, ist nicht Ergebnis des einfachen Scheiterns seines Unterfangens, sondern eine Erschütterung und ggf. Konfiguration seiner Welt. Diese fundamentale Ebene intentionaler Spannung, die Merleau-Ponty in den Analysen zum Zeitbewusstsein mit Husserl als »fungierende Intentionalität« von der Aktintentionalität abhebt 10, gewährleistet die unhintergehbare Verflechtung des leiblichen Engagements in die Welt und ist für Merleau-Ponty so auch Garant der prinzipiellen Unvollständigkeit derjenigen methodischen Verfahren, die »von unserem Engagement zurücktreten, um es selbst als Schauspiel erscheinen zu lassen«. (PhW, 11) 11 Nicht, dass diese Enthaltung keinen methodischen Wert hätte, auch das Zur-Welt-sein kann nur nach Vollzug solcher Anstrengung thematisch werden; die hier angelegte Idee eines uninteressierten Zuschauers ist aber selbst nur besondere Form des Engagements und deshalb auch als abstrahierende Leistung nicht berufen, das Bewusstseinsleben in seinem Zur-Weltsein transparent und in toto zu beschauen. 12 Keine bewusste Anstrengung kann uns dem fundamentalen Engagement in die Welt und der intersubjektiven Ordnung in ihr entheben; kein Verfahren kann sie Zu dieser Differenzierung vgl. PhW, 107. PhW, 478/475. 11 Der Begriff des Engagements wird von Merleau-Ponty offenbar als ein operationaler Begriff im Sinne Finks gebraucht. Er schwankt zwischen der Konnotation eines grundlegenden intentionalen Bogens, der sich in die Welt spannt, und einem entschiedeneren Tun, dass diese Intentionalität längst impliziert. In losem Anschluss an Gillison (2008) können wir von einem Engagement in der Welt und einem Engagement in die Welt sprechen, das von der intentionalen Verflechtungen des Zur-Weltseins nicht verschieden ist. 12 Schon bei Husserls methodischer Ichspaltung kommt der uninteressierte Zuschauer zunächst als zu etablierende Instanz vor: »Nennen wir das natürliche in die Welt hineinerfahrende und sonstwie hineinlebende Ich an der Welt ›interessiert‹, so besteht die phänomenologisch geänderte und beständig so festgehaltene Einstellung darin, daß sich eine Ichspaltung vollzieht, indem sich über dem naiv interessierten Ich das phänomenologische als ›uninteressierter Zuschauer‹ etabliert« (CM, 37) 9

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Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

mir als solche denkend verfügbar machen, denn die »Welt ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe, ich bin offen zur Welt, unzweifelhaft kommuniziere ich mit ihr«. (PhW, 14) Diesem stetigen kommunikativen Verhältnis mit und in der Welt kann ich mich nicht durch ein Engagement entziehen, dass dieses längst voraussetzt. Wie aber bereits angedeutet wurde, erreicht die Phänomenologie Merleau-Pontys eine Dimension bewussten Erlebens, die sich der ansonsten unübersteigbaren intersubjektiven Verbindlichkeit des »inkarnierten Subjekts« in Richtung eines transzendentalen Feldes entzieht: »[J]edes Engagement […] findet in einem vorgängig eröffneten Felde statt und bekundet ein Selbst, das an sich selbst rührt, ehe es mit jenen partikulären Akten in Berührung tritt, in denen es die Berührung mit sich selbst verliert. Dieses Selbst, notwendiger Zeuge aller wirklichen Kommunikation, ohne den diese sich selbst nicht wüßte und somit nicht Kommunikation wäre, scheint jederlei mögliche Lösung des Problems des Anderes zunichte zu machen.« (PhW, 409)

Was wir anhand der noch folgenden Erörterung des Cogito bei Merleau-Ponty kritisch im Blick behalten wollen, ist deshalb nicht die existentialistische Emphase des notwendig inkarnierten Bewusstseins, sondern die Vorstellung des vollständig inkarnierten Selbstbewusstseins. Wir wollen mit Merleau-Ponty also nach Bewusstsein fragen, das nicht im situierten, engagierten Leben auf, sondern diesem vielmehr in einem bestimmten Sinne vorausgeht. 13 Hiermit ist also keine ontologische oder im weiteren Sinne metaphysische Präsumtion verbunden. Es steht hier nicht in Frage, ob Bewusstsein in all seinen Ausprägungen einer letztlich nur materialistisch bzw. physikalistisch zu fassenden Grundlage bedarf oder auf eine solche reduziert werden kann. Für jüngere Überlegungen zu diesem Thema, die einige Schwierigkeiten berücksichtigen, die entstehen, wenn wir die irreduzible Subjektivtät unseres Erlebens dadurch eliminieren, über Bewusstsein exklusiv in Begriffen physikalisch-chemischer Ereignisse zu sprechen siehe Nagel (2013). Im Folgenden geht es lediglich um solches bewusste Erleben, das nicht sogleich als Ausdruck eines konkret engagierten Selbstbewusstseins und einer entsprechenden erst-personalen Subjektivität beschrieben werden kann. Es ist aber eine reizvolle und hier freilich nicht behandelbare Frage, ob die Unterscheidung zwischen personaler und impersonaler Dimension die Irreduziblität unseres subjektiven Erlebens von der »Cartesian gravity« befreien kann, ohne sie dazu, wie Dennett es tut, einer behavioristischen Dritte-Person-Perspektive zu überantworten. Die personale Wirklichkeit unseres Erlebens und der ihr eigene scheinbar exklusive Zugang zum mentalen Haushalt mag eine »User-Illusion« sein, die impersonale strömend-ständige Gegenwart von Bewusstsein ist es unter Umständen nicht – dafür ist sie gewissermaßen zu »bedeutungslos«. Für eine Elaboration der beiden Metaphern »Cartesian gravity« und »User-Illusion« siehe Dennett (2017) Kapitel XIV.

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Engagierter Leib, uninteressierter Zuschauer und ein notwendiger Zeuge

Dieses kann sich schon nach dem bisher Gesagten nicht mehr als ein souverän konstituierendes Bewusstsein ausnehmen, noch in irgendeinem Sinne als eine Instanz zur Geltung kommen, die die lebendige Erfahrung bzw. deren Konstitution explizit zu einem Gegenstand machte. Der Zeuge, von dem Merleau-Ponty hier spricht, muss von anderer Art sein. Wehrt er sich doch entschieden gegen die Vorstellung eines »universalen konstituierenden Subjekts« (PhW, 79), das für ihn lediglich die spiritualistische Kehrseite eines Naturalismus ist, der als »einzig eigentliches Für-sich […] nur das Vorstellen der Wissenschaft, das dieses ganze System erfaßt« (ebd.), übrig hatte. »Wie also der lebendige Leib zu einem Äußerlichen ohne Innerlichkeit wurde, so die Subjektivität zu einem Innerlichen ohne Äußerlichkeit, zum unbeteiligten Zuschauer.« (Ebd.)

Der Begriff des notwendigen Zeugen ermöglicht anders, als es der Begriff eines uninteressierten Zuschauers als Atavismus objektiven Denkens könnte, die impersonale Struktur jenes eigentümlich selbstgenügsamen Bewusstseinfeldes anzuerkennen. Diese Struktur kündigt sich zum einen als eine grundlegende Allgemeinheit des Man an; zum anderen kommt sie für Merleau-Ponty in einem umfassenderen Sinne »als vorpersönliche Zugehörigkeit zu einer Form von Welt überhaupt« (vgl. PhW, 107 f.) zur Geltung. Am Beispiel des Einarmigen legt Merleau-Ponty nahe, wie die Verdrängung der eigenen Situation die Welt der hantierbaren Gegenstände zu einer unterbestimmten Welt macht; die Gegenstände sind nicht länger hantierbar für mich, sondern nunmehr hantierbar an sich. Das pathologische Engagement, das das Phantomglied zum Ausdruck bringt, ist nicht mehr lebendiges Erfahren, sondern nur noch Fortleben eines »Stil[s] des Seins« (PhW, 108), in dem die Welt nicht mehr spontan erschlossen wird, sondern nur noch in einer Allgemeinheit zur Geltung kommt, der die aktuelle Leiblichkeit nicht mehr entsprechen kann. An der entsprechenden Pathologie der Verdrängung und der ihr eigenen Entäußerung in einen allgemeinen und darum unpersönlichen Stil leiblicher Existenz entdeckt Merleau-Ponty den »Einbruch des Unpersönlichen« sodann als »universales Phänomen«. (Ebd.) Diesseits des leiblichen Engagements »zeigt sich am Rande unserer personalen Existenz ein Umkreis beinahe unpersönlichen Daseins, das gleichsam ganz von selbst ist, wie es ist, und dem ich es überlasse, mich am Leben zu halten«. (Ebd.) Dieses vorpersönliche Zugehören 275 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

zu einer Form von Welt überhaupt wird zunächst als organische, mithin biologische Bedingung der je spezifisch leiblichen und geschichtlichen Situation des Menschen verstanden. Dieses Verständnis geht jedoch Hand in Hand mit dem Bemühen, die menschliche Existenz dadurch in letzter Instanz nicht doch einem Dualismus zu überantworten, der den Leib am Ende einfach eine »natürliche« Welt berühren lässt. Vielmehr umfasst der Begriff leiblicher Existenz selbst sowohl ein personales, d. h. geschichtlich und situativ individualisiertes, als auch »anonymes und allgemeines Dasein«. (Ebd.) Es ist diese grundlegende Ambivalenz menschlicher Existenz, die Merleau-Ponty zur Aufgabe einer Phänomenologie transzendentaler Konstitution bzw. ihrer intellektualistischen Auswüchse veranlasst. Sie können dem Phänomen lebendiger Wahrnehmung nicht genügen. Ihre Versuche, einer etwaigen Spannung ambivalenter Strukturen im Erleben durch vorgreifende Vergegenständlichung und ggf. nachträgliche Synthetisierung habhaft zu werden, bleibt stets dem Ideal objektivierenden Denkens verhaftetet. Der Einbruch des Unpersönlichen, das Entgleiten der persönlichen Existenz, wie auch die konstitutive Zweideutigkeit des Leibes lassen sich weder objektivieren und von der Warte eines uninteressierten Zuschauers beschreiben, noch lassen sie sich durch ein souverän konstituierendes Ich erklären. Im Vollzug lebendiger Wahrnehmung müssen sie sich vielmehr in einer Widerfahrnis abzeichnen – die ich mir widerfahren lasse. Bedingung dafür ist jene Offenheit des Erstaunens angesichts der Welt, das für Merleau-Ponty die phänomenologische Epoché auszeichnet. Eine so verstandene Epoché legt nicht ein Refugium konstituierender Subjektivität, sondern ein transzendentales Feld frei. Die impersonale Struktur dieses Feldes kann Merleau-Ponty dabei nicht entgehen, droht seinem Pathos des Engagements aber unbefragt einverleibt zu werden.

5.3 Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen 5.3.1 Das transzendentale als ein impersonales Feld Wie im Ansatz deutlich geworden sein sollte, versagt sich die Phänomenologie Merleau-Pontys, Bewusstein als welterzeugende Instanz gelten zu lassen. Das sinnvolle Ganze »Welt« sowie die einzelnen Sinnbildungsprozesse sind hier nicht einfach Ergebnis einer Konsti276 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

tution oder kategorial strukturierenden Auffassung einer ansonsten ungeordneten Mannigfaltigkeit, sondern sind gleichursprüngliches Korrelat einer immer schon geteilten leiblichen Existenz. Jede philosophische Bemühung, die für sich in Anspruch nimmt, über eine auch nur theoretische Instanz zu verfügen, die diesem Zur-Welt-sein enthoben zu sein glaubt, macht sich für ihn einer unlauteren Abstraktion schuldig, die den leiblich-situativen Ausgangs- und Ankerpunkt jeder abstrahierenden und reflexiven Bewegung vergisst. Die neuzeitlich-abendländische Philosophie hat mit dem »Cogito« des Descartes eine vielgestaltige Instanz dieser Art hervorgebracht. Vor allem in der Gestalt des neukantianischen Spiritualismus Lachièze-Reys findet es Eingang in die phänomenologische Arbeit Merleau-Pontys, und es kann hier nur bemerkt werden, dass es für ihn offenbar keinen Anlass gibt, cartesianisches und kantianisches auseinanderzuhalten; wie es auch müßig wäre, bei ihm nach einer gründlichen Differenzierung Kantischer und phänomenologischer Transzendentalität zu suchen. Hier wie dort ist der maßgebliche Punkt der Kritik die Vorstellung einer »universalen Vernunft« und die ihr eingeschriebene szientistische Hybris einer vollständigen Auslegung von Welt und Subjektivität. (Vgl. PhW, 84–87) Die Intuition transzendentaler Philosophie läuft für ihn letztlich auf einen Idealismus hinaus, den das menschliche Erleben nicht einlösen kann. »Wären wir nichts als Bewusstsein, so müßten die Welt, unsere Geschichte und die Wahrnehmungsgegenstände in ihrer Einzigartigkeit sich vor uns ausbreiten in einem System durchsichtiger Bezüge.« (PhW, 87)

Keine reflexive Bewegung kann aber den view from nowhere erzeugen, der diese absolute Transparenz leisten würde. Zudem kann die bloße Präsumtion eines universal konstituierenden Bewusstseins der »Faktizität des Unreflektierten« und dem sie begleitenden »Widerstand der Passivität« theoretisch nicht gerecht werden. Darum spricht Merleau-Ponty zufolge »die Phänomenologie als einzige Philosophie von einem transzendentalen Feld«. (PhW, 85) Der Feldbegriff, den Merleau-Ponty von seinem Lehrer Gurwitsch 14 übernommen haben dürfte, zeigt in seinen vielfältigen Erscheinungen als »Feld der Phänomene«, als »Präsenzfeld« oder eben Für eine Darstellung der Rezeption des physikalischen Feldbegriffs durch die Phänomenologie, Gurwitschs entsprechende Radikalisierung einer Phänomenologie vorprädikativer Erfahrung und Merleau-Pontys Verhältis zum Feldbegriff Gurwitschs siehe Choi (1997) und Bermes (2006).

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Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

als »transzendentales Feld« an, dass es sich um einen Bereich handelt, den wir zwar begrenzt finden, der also nur einen »Ausschnitt« gewährt, der aber, wie unser Gesichtsfeld, deshalb keine Grenzen hat. Das Feld der Phänomene zeigt sich für Merleau-Ponty zunächst als jener durch die Gesetzmäßigkeiten der Gestalt strukturierte Bereich unmittelbaren Erlebens, in dem die empiristischen und intellektualistischen Bemühungen, Wahrnehmung als Ergebnis reiner Empfindung bzw. souveränen Urteilens zu verstehen, ihren Boden verloren. Und auch die psychologische Deskription dieses Bereiches greift zu kurz, wenn sie ihn, wie die Gestaltpsychologie, zuweilen einfach als empirisch ausweisbaren Mechanismus gelten lässt. Um diesen Bereich philosophisch fruchtbar zu machen, bedarf es eines erneuten Rückgangs auf das wahrzunehmen im Begriff befindliche Bewusstsein, dessen ephemere Struktur dem »objektiven Denken« der Psychologie verschlossen bleibt. (Vgl. PhW, 69–79) Dieser erneute Rückgang ist für Merleau-Ponty eine Reflexion auf das »transzendentale Feld«. Die transzendentale Wendung, die diese Reflexion motiviert, kann aber nicht zu einer universalen Vernunft in Form eines Cogito und seiner Innerlichkeit führen. Denn schon die Gestalt, die das phänomenale Feld strukturiert, ist nicht »die äußere Entfaltung einer präexistenten Vernunft, […] nicht Bedingung der Möglichkeit der Welt, sondern Erscheinung der Welt selbst, nicht Erfüllung, sondern Entstehung einer Norm, nicht Projektion eines Inneren ins Äußere, sondern Identität des Inneren und Äußeren«. (PhW, 85) Dementsprechend kann auch die Reflexion, die dieses transzendentale Feld freilegt, nicht einfach Rückgang auf eine präexistente Instanz sein, »sondern muss sich selbst als ein schöpferisches Tun verstehen«. (Ebd.) Sie ist dann nicht souveräner Akt eines panoptischen Ichs, sondern »Wandlung der Struktur unserer Existenz«. (PhW, 87) Als das Transzendentale wird sich somit nicht die »Gesamtheit konstitutiver Leistungen« zeigen, »kraft derer eine transparente, schattenlose und aller Undurchdringlichkeit entledigte Welt sich vor dem Blick eines unbeteiligten Zuschauers ausbreitete, sondern das zweideutige Leben, in dem der Ursprung der Transzendenzen geschieht«. (PhW, 417) Als Philosoph bin ich somit angehalten, mich in den Bereich transzendentalen Geschehens selbst zu begeben, in dem sich Welt und Selbst spontan entfalten, nicht diesem Geschehen vermöge einer artifiziellen Abschottung lediglich beiwohnen zu wollen. Der phänomenologische Weg in dieses vorreflexive Zwischenreich muss für Merleau-Ponty dabei über ein ästheti278 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

sches, nicht ein intellektuelles Vermögen führen. Wir müssen sehen, nicht denken lernen. Die Schwierigkeit, dieses ästhetische Programm zu realisieren, zeigt sich für Merleau-Ponty schon daran, sinnliches und intellektuelles Bewusstsein auseinanderzuhalten. Denn die folgenschwere Einsicht des cartesianischen Dualismus speist sich nicht zuletzt aus einem hypertrophen Begriff von Denken, so dass dieser Ausdruck nicht nur Zweifeln, Verstehen, Behaupten, Bestreiten, Wollen, Nichtwollen, Vorstellen und Fühlen meint, sondern dass selbst, wenn ich etwa träumte, ich sähe Licht, »dies es ist, was im eigentlichen Sinne an mir Empfinden genannt wird, und dies, genau so verstanden, nichts anderes ist als Denken«. (Principia Philosophiae AT VII, 29) 15 Zum anderen vermittelt die sinnliche Erfahrung etwas, das dem objektiven Denken zunächst zu mangeln scheint: die Disposition zu einer »Entpersönlichung« der Erfahrung. Der Intellektualismus hatte in der Gefolgschaft Descartes die »Sinne« einer äußeren Welt als dem An-sich zugeschlagen und einem weltlosen Subjekt gegenübergestellt, dem als selbstsicheren Für-sich etwa die Empfindung einer Farbe letztlich nur als Erkenntnis »eines durch alle Erfahrung seiner hindurch identifizierbaren quale« (PhW, 251) gelten konnte. Der Vorstellung dieses distanzierten Empfindenden stellt sich der Leib der lebendigen Wahrnehmungserfahrung entgegen, in dem sich die Wahrnehmung nicht als Setzung von Qualitäten oder als Synthese hyletischer Daten bestimmt, sondern in der der Blick, von den Farben umschmeichelt, sich mit ihnen paart. (Vgl. ebd.) Die reiche Metaphorik der Vereinigung, die Merleau-Ponty bemüht, um Empfindenden und Empfundenes nicht als Teile eines vis-á-vis, sondern als Momente einer Bewegung anschaulich zu machen, führt ihn zu Ausdrücken, die auf eine maßgeblich impersonale Struktur von Erleben verweisen. »Ich, der ich das Blau des Himmels betrachte, stehe nicht ihm gegenüber als ein weltloses Subjekt, ich bin nicht gedanklich in seinem Besitz, entfalte nicht ihm zuvor eine Idee von Blau, die sein Geheimnis mir entschlüsselte; ich überlasse mich ihm, ich versenke mich in dieses Geheimnis, es ›denkt sich in mir‹ […].« (PhW, 252)

Hier wird nicht nur eine Hauptkritik Merleau-Pontys an der Vorstellung eines transzendental-konstituierenden Subjektes deutlich: Es

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Zitiert nach Rorty (1981, 61).

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Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

impliziert stets ein possessives Verhältnis zu seinen konstituierten Gegenständen. Es zeigt sich auch, dass sich der adäquate Ausdruck für unser sinnliches Erleben nicht einfach in einem möglichen Schwanken aktiver und passiver Leistungen erschöpft, sondern es der Anerkennung einer impersonalen Erfahrungsdimension bedarf, die nicht die Unhintergehbarkeit unserer biologischen oder geschichtlichen Dispositionen meint, sondern das objektive Denken mit einer existenziellen Unverfügbarkeit konfrontiert. Der Vollzug lebendiger Wahrnehmung selbst kann sich nur »an der Peripherie meines Seins« (PhW, 253) abzeichnen. »Wollte ich infolgedessen die Wahrnehmungserfahrung in aller Strenge zum Ausdruck bringen, so müßte ich sagen, daß man in mir wahrnimmt, nicht das ich wahrnehme [m. H.]. Jede Empfindung trägt in sich den Keim eines Traumes und einer Entpersönlichung […].« (Ebd.)

So, wie ich mich nur als »schon geboren« und »noch lebend« zu erfassen vermag, meine Geburt und meinen Tod nicht umfassend, d. h. gegenständlich erfahren kann, so kann es auch nicht gelingen, mich als personales Subjekt einer aktuellen Empfindung zu erfassen. Überlasse ich mich aber dem Fluss meiner sinnlichen Empfindung, verfalle also nicht dem Reflexionsreflex eines objektivierenden Denkens, zeigt sich – beiläufig – jenes präreflexive Leben, von dem ich nur weiß, weil ich letztlich von ihm ungeschieden bin. Das Feld der Phänomene ist selbst nicht phänomenal. »Durch die Empfindung erfasse ich am Rand meines personales Lebens und meiner eigentlichen Akte ein gegebenes Bewußtseinsleben, aus dem jene erst auftauchen, das Leben meiner Augen, meiner Hände, meiner Ohren, die ebensoviele natürliche Ich sind.« (PhW, 253)

In dem Maße, wie sich bereits im Feld sinnlichen Erlebens eine impersonale Struktur zu erkennen gibt, muss sich auch im transzendentalen Feld als ursprünglichem transzendentalen Geschehen eine solche Struktur finden lassen; und sie findet sich dort als jene »offen unbestimmte Einheit der Subjektivität« (PhW, 462), in der sich das Subjekt als eine »von sich selber untrennbare Erfahrung, ein einziger ›Zusammenhang des Lebens‹, von ihrer Geburt her sich explizierende und in jeder Gegenwart sich bestätigende Zeitlichkeit« (PhW, 463) erfährt. Und letztlich ist es auch »dieses Ereignis oder dieses transzendentale Geschehen […], welches sich im Cogito wiederfindet«. (Ebd.) 280 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

Wir müssen nun also zum einen verstehen, in welchem Verhältnis Zeitlichkeit als transzendentales Geschehen zu dem Selbstbewusstsein steht, das das Cogito zum Ausdruck bringt. Zum anderen wird danach zu fragen sein, in welcher Weise die neuzeitliche Selbstsicherheit des Cogito modifiziert werden muss, wenn der impersonalen Struktur des transzendentalen Feldes Rechnung getragen werden soll. Denn nicht nur die sinnliche Erfahrung trägt für Merleau-Ponty je schon den Keim der Entpersönlichung und Unverfügbarkeit in sich, auch das Denken konfrontiert sich stets mit der Ambivalenz beiläufiger Unverfügbarkeit. Während das Vermögen des Denkens selbst fragloses Element lebendiger Subjektivität ist, unterliegen dessen vielgestaltige Inhalte keineswegs einem umfassenden Zugriff, wie es die intellektualistische Tradition einer transparenten und souveränen Subjektivität nahe legt. Ich weiß nicht, was ich denke, bevor ich es denke. 16 Gedanken sind nicht sogleich Resultat umfassender Konstitution, deren geglückte Verknüpfungen nicht Ausdruck einer in meinem Belieben liegenden strukturellen Anlage. »Dies zu verstehen, ist das Problem: wie ich für mein Denken überhaupt konstitutiv zu sein vermag – wäre ich es nicht, so wäre dies Denken niemandes Denken, ginge es unbemerkt vorüber und wäre somit gar kein Denken –, ohne doch je für irgendeinen meiner besonderen Gedanken konstitutiv zu sein, da ich diese nie in voller Klarheit entspringen zu sehen vermag und mich selbst nur im Durchgang durch sie hindurch kenne.« (PhW, 455)

Mich erst im Durchgang durch mein Denken kennend, bin ich doch schon da, bevor ich mich im Einzelnen begreife. Das, was sich nur im Durchgang durch die Gedanken und seine »sedimentierte ›Geschichte‹« (PhW, 450) kennt, ist keineswegs konstitutiv für das Denken überhaupt, sondern wird überhaupt nur durch das Denken hervorgebracht und durch Reflexionen entfaltet. Das cartesianische Cogito bringt deshalb lediglich zum Ausdruck: »Man denkt, man ist.« (PhW, 456) Die folgenden zwei Abschnitte dienen dazu, die Form von Subjektivität anzuzeigen, die diesem sekundären und eigentlich stets hyNietzsches berühmte Vertiefung des Lichtenberg’schen Credos bringt diese Verlegenheit auf den Punkt: »[E]in Gedanke kommt, wenn ›er‹ will, und nicht wenn ›ich‹ will; so dass es eine F ä l s c h u n g des Tatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ›ich‹ ist die Bedingung des Prädikats ›denke‹. Es denkt: aber dass dies ›es‹ gerade jenes alte berühmte ›Ich‹ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine ›unmittelbare Gewissheit‹.« Nietzsche (2013a), 23.

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pothetischen Selbstbezug vorausgeht. Dabei müssen wir besonderes Augenmerk auf die Darstellung einer Erklärung von Selbstbewusstsein auf der einen und dem Diktat phänomenologischer Selbsterfahrung auf der anderen Seite richten. Die Spannung, die es zu verfolgen gilt, speist sich nämlich ein weiteres Mal aus einem in Grenzen theoretischen Bedürfnis, überkommene Vorstellungen zu korrigieren, und dem Bemühen, dem konkreten Vollzug phänomenologischer Beschreibung treu zu bleiben, der eine Vorsicht einfordert, die einer vorschnellen Kohärenz begrifflicher Erwägungen mitunter ein Schnippchen schlägt.

5.3.2 Das stillschweigende Cogito und das letzte Bewusstsein als Gegenwart bei der Welt In der Auseinandersetzung mit dem Cartesischen bzw. cartesianischen Cogito sowie dem daraus resultierenden Versuch, Zeit und Subjektivität als eine Einheit zu denken, tritt die schon bis dahin unübersehbare Absicht Merleau-Pontys, das bewusstseinstheoretische Erbe und die diesem eingeschriebenen Konsequenzen eines klaustrophoben bzw. allmächtigen Ich auszuschlagen, so deutlich wie prekär zu Tage. Hier gilt es nämlich, die mit dem Leibbegriff angekündigte Dimension bewussten Erlebens zu entfalten, die die menschliche Subjektivität als eine grundlegend ambivalente Struktur hervortreten lässt. Eine Struktur, von der er später sagen kann, dass die frühen Analysen der Wahrnehmung sie nur als eine »schlechte Ambiguität« zum Vorschein bringen konnten, als »eine Mischung von Endlichkeit und Universalität, von Innerlichkeit und Äußerlichkeit« (MerleauPonty 1973, 11). In der Problemsphäre der Subjektivität zeigt sich diese schlechte Ambiguität, die im Grunde noch Dualität ist, an dem uns schon vertrauten Unbehagen angesichts der so natürlichen wie unverständlichen Erfahrung, dass es in einem gewissen geheimnisvollen Sinne nichts gäbe, wenn es nicht für mich wäre, dass aber zugleich schon die einfachste sinnliche Erfahrung einen Zug von Transzendenz birgt und etwas in mir übersteigt. Auf die Frage nach Selbstbewusstsein in einem engeren Sinne gewendet, erinnern die Formulierungen Merleau-Pontys dabei an die Krux des vorreflexiven Selbstbewusstseins bei Sartre, insofern sie gerade im Versuch, ein substantialistisches Verständnis von Selbstbewusstsein zu vermeiden, diesem eigentlich erst verhaftet bleiben, weil die fundamentale 282 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

Selbstgegenwart des Bewussteins mitunter als etwas erscheint, das wie ein Gegenstand abhanden kommen könnte. »[S]tets ist die Frage die eine und selbe, wie ich Phänomenen eröffnet zu sein vermag, die mich übersteigen und gleichwohl nur existieren, sofern ich sie erfasse und erlebe, wie die mich selbst bestimmende und jede Fremdgegenwart bedingende Urpräsenz bei mir selbst in eins mich aus mir hinaus werfende Entgegenwärtigung zu sein vermag.« (PhW, 416)

Das philosophische Motiv Merleau-Pontys, sich dieser Spannung auszusetzen, ist hierbei erneut die theoretische Alternative des Intellektualismus. In diesem Fall in Form des neukantianischen Spiritualismus Lachièze-Reys. In diesem findet er »ein unmittelbar sich selbst erkennendes Sein, das nichts anderes ist als ein Wissen von sich und von allen Dingen und seine Existenz nicht erst durch ihre Feststellung als vorhandene Tatsache oder schließend aus einer Idee seiner selbst kennt, sondern durch die unmittelbare Berührung mit ihr«. (PhW, 423 f.) 17 Dieses Bild eines sich völlig selbstgenügsam koinzidierenden Bewusstseins scheint für Merleau-Ponty zunächst die fundamentale Erfahrung der Entgegenwärtigung zu konterkarieren, die von der intersubjektiven Verfassung unserer leiblichen Existenz vorausgesetzt wird. Aber es ist nicht die Vorstellung eines vorreflexiven, nicht-thetischen Selbstbewusstseins, die er ablehnt, vielmehr schüttet er lediglich das Kind mit dem Bade aus, wenn er dieser Konzeption ohne weiteres unterstellt, dass sie dem Subjekt damit zugleich das Vermögen attestiert, »in einer einzigen Intention das zeitlich sich Entfaltende zu umfassen und vorwegzunehmen«. (PhW, 424) Seine Kritik trifft nicht die Dimension einer Urpräsenz, sondern ihr phänomenologisches Verständnis als einer abgeschlossenen Omnipräsenz, die von bloßer Omnipotenz nicht zu unterscheiden ist. Die intellektualistische Tradition konnte eine Ursubjektivität nur als »reines Denken« verstehen, als einen umfassenden Akt restloser Transparenz. Das entsprechende Cogito wäre in letzter Instanz ein sich von Ewigkeit zu Ewigkeit erstreckender Geist, dem als universale Vernunft nichts verborgen oder fremdartig zu erscheinen vermag und dem, weil es reiner »Selbstbesitz« ist, keinerlei Offenheit eignet, noch die Merleau-Pontys Ausführungen lassen erst spät erkennen, dass er diese Position zwar ausführlich, aber in nachdrücklich kritischer Absicht rekonstruiert. Hungs (2011) Paraphrase legt deshalb fälschlicherweise nahe, hierbei handele es sich um eine Einsicht, die Merleau-Ponty teilen würde und die ein Explikat des ›tacit cogito‹ wäre.

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Möglichkeit, sich einem anderen wirklich zuzuwenden. (Vgl. PhW, 425) Die Emphase der Kritik ist somit auf die Vorstellung eines Subjektes gerichtet, für das es weder Unverfügbarkeiten noch Widerfahrnisse geben kann, weil es das Weltgeschehen in seiner zeitlichen Ausdehnung, als universaliter konstituierende Instanz immer schon umfasst und vorwegnimmt. Das leiblich-situative Subjekt, zu dem Merleau-Pontys Analysen hinführen sollen, zeichnet sich demgegenüber gerade dadurch aus, dass es den existenziellen Grunderfahrungen des Fremden und der Endlichkeit Rechnung zu tragen vermag und schon dadurch mit der ewigzeitlichen Interpretation des Cogito unvereinbar ist, in der das menschliche Denken zuletzt mit einer allmächtigen Instanz koinzidieren muss. Die phänomenologischen Beschreibungen des Bewusstseinslebens führen Merleau-Ponty gleichwohl zu der Einsicht, dass ein reines umfassendes Denken und ein »letztes« bzw. »primäres« Bewusstsein nicht dasselbe sind, auch wenn sie mit der nötigen Verkürzung ununterscheidbar erscheinen mögen. Während die Hypostase reiner Vernunft über dem empirischen Ich ein absolut souveränes Subjekt beschwört, das die Welt in Ewigkeit umschließt, laufen die Intuitionen Merleau-Pontys auf eine Subjektivität hinaus, die weder in einem endlichen noch in einem ewigen Cogito gänzlich aufgeht, sondern die nur zu verstehen ist als eine »gleichursprüngliche Berührung mit meinem Sein und mit dem Sein der Welt« (PhW, 430). Diese Berührung ist für ihn nichts anderes als die »ursprüngliche Bewegung des Transzendierens« (ebd.) selbst, also jene Entgegenwärtigung, die man, mit Vorsicht, als Intentionalität ansprechen kann. Gegen ein klaustrophobes und allmächtiges Subjekt wird somit eine immer schon im Aufbruch, stets in zeitlichen und intentionalen Ekstasen verfasste Subjektivität ins Feld geführt, die sich schon lange einer Welt geöffnet hat, bevor sie es eigentlich merkt, in ihr Gestalt annimmt und in Grenzen für sich selbst verfügbar wird. In der Phänomenologie der Wahrnehmung kommen wenigstens zwei Hinsichten dieser ursprünglichen Subjektivität zum Ausdruck: Eine Hinsicht expliziert die Erfahrung einer unhintergehbaren situativen und perspektivischen Verankerung in der Welt, die andere trägt einer eigentümlichen Permanenz in unserer Selbsterfahrung Rechnung. Die erste Form, die den Weltbezug explizieren soll, meint eine Art vorpersonaler perspektivischer Präfiguration der Lebenswelt, eine situative Prägung aller möglichen Erfahrungen in der Welt, eine Art vagen Lebensstil des Leibes. »Es gibt also, mir zugrunde liegend, 284 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

ein anderes Subjekt, für das eine Welt schon existiert, ehe ich da bin, und das in ihr meinen Platz schon markiert hat.« (PhW, 294/296) Als zweite Form kommt eine Hinsicht von Subjektivität zum Tragen, die nicht die Lebensweltwurzel des Subjektes meint, sondern die Dimension der Selbstgegenwart des Bewusstseins. Diese letzte Hinsicht bereitet auch Merleau-Ponty die größten Schwierigkeiten. Denn nachdem jede Möglichkeit, sich das Bewusstsein in irgendeinem Sinne als »immanente Sphäre« (PhW, 429), als endliche oder unendliche Intimität vorzustellen, verabschiedet wurde, bleibt als dessen positive Bestimmung nur noch, »durch und durch Transzendenz« (ebd.) zu sein, mithin eine vielleicht schon hypertrophe Vorstellung von Intentionalität zu verteidigen. Die Möglichkeit von Selbstbewusstsein wird hier auf eine Weise fragwürdig, die es erneut erlaubt, nach einer impersonalen Subjektivität zu fragen, insofern das Cogito nun nicht mehr den »Selbstbesitz des klaren Denkens« (PhW, 429 f.) bezeichnen, sondern nur noch als etwas gelten kann, das ein je schon bewegtes Leben selbst zu spontanem Ausdruck bringt. Es ist nicht mehr Bastion einer selbstsicheren, weil innerlich-adäquaten Wahrnehmung; Akte des Liebens, Hassens, Wollens sind mir nicht erst dadurch gewiss, dass ich mich ihnen denkend versichere, sondern sie sind es, »weil ich sie vollziehe«. (PhW, 436) Da Merleau-Ponty die Vorstellung einer inneren Wahrnehmung aber nicht gänzlich aufzugeben bereit ist, sondern sie nur ihrer Selbstsicherheit entledigt, ergibt sich die Konsequenz, dass »ich niemals mit meinem sich selbst entfliehenden Leben zu koinzidieren vermag«. (PhW, 437) Ich kann mich aus demselben Grund nicht adäquat erfassen, der eine vollständige Epoché verhindert: Ich bin mir selbst nicht restlos Gegenstand. Und doch eignet mir jener Reflexionsreflex, der mich zu einem je handhabbaren Objekt beschwert, das ein Leben vollzieht. Erst unter dieser Voraussetzung wird ein Akt des Bewusstseins »seinem Wesen nach der gewaltsame Übergang von dem, was ich habe, zu dem, worauf ich abziele, von dem, was ich bin, zu dem, was ich zu sein intendiere«. (PhW, 435) Etwas kann nur dann entfliehen, wenn es zuvor festgehalten wurde. Diese Spannung zwischen Vollzug und Zugriff wird von Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung zwar nicht eingeholt, markiert aber gleichwohl sein Unbehagen angesichts der Evidenz des Cartesischen »cogito sum«: »Nicht enthält das Ich-denke auf eminente Weise das Ich-bin, nicht reduziert sich mein Dasein auf das Bewußtsein, das ich von ihm besitze; viel-

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Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

mehr findet umgekehrt das Ich-denke, das Bewußtsein, sich der Bewegung der Transzendenz des Ich-bin, seiner Existenz integriert.« (PhW, 437)

Wenn sich Selbstbewusstsein somit nicht mehr exklusiv als reflexiver Selbstbesitz eines reinen Denkens verstehen lässt, das, in ewiger distanzierter Ruhe verharrend, sich selbst in lückenloser Transparenz erfasst; ein sich nach allen Seiten entfliehendes, zeitlich fragmentiertes Bewusstsein aber weder einen Rückhalt in der primitivsten menschlichen Selbsterfahrung hat, noch eigentlich konsistent gedacht werden kann, braucht es einen »dritten Weg« und »eine erneute Interpretation des Cogito und der Zeitlichkeit«. (PhW, 426) Dieser dritte Weg führt Merleau-Ponty weg von der so virulenten wie vulgären Dichotomie zwischen einem zeitlichen leiblichen Dasein und einer dieser Zeitlichkeit enthobenen Dimension reiner Vernunft. Die Kohärenz des zeitlichen Flusses des Bewusstseins gibt sich nicht erst einem Zuschauer an einem trockenen zeitlosen Ufer zu verstehen. Wie die skulpturale Präsenz einer Fontäne, bleibt er sich stets derselbe, »durch den ständigen Andrang des Wassers«. (PhW, 481) Das tradierte bewusstseinsphilosophische Gleichnis des Flusses gewinnt seinen anschaulichen Sinn für Merleau-Ponty nicht im Bild »eines Flusses, der sich verfließt, doch als des Stromes, der gänzlich mit sich selber eins ist«. (PhW, 479) Ehe Merleau-Ponty diese bewegte Ruhe der Zeit als eine grundlegende Form von Subjektivität anzeigt, wendet er sich noch einmal entschieden gegen die reflexionstheoretische Konsequenz des verzweifelten »cogito sum«. Für das Denken verbietet sich auf seinem dritten Weg nämlich auch die traditionelle Vorstellung eines umfassenden Zweifels, der schließlich an seinem eigenen Vollzug zerbricht und so erst die Evidenz des sum hervorbringt. Denn der cartesische Schluss besagt bekanntlich gerade nicht »Ich zweifle, ich bin«, »sondern ›Ich denke, ich bin‹, und das bedeutet, daß der Zweifel selbst gewiß ist nicht als tatsächlicher Zweifel, sondern als bloßes Denken-zu-zweifeln, und da dasselbe von diesem Denken seinerseits zu sagen wäre, ist die einzige absolut gewisse Aussage, der gegenüber der Zweifel zum Stehen kommt, da er selbst sie impliziert: ›Ich denke‹ oder auch: ›Etwas erscheint mir‹.« (PhW, 455)

Es gibt keinen ausgezeichneten Gedanken, keinen Denkakt besonderer Art, der so fraglos wäre, dass das ganze Denken an ihm seinen Anhalt hätte und so zur Gewissheit der Existenz übergehen könnte, und wenn es ihn gäbe, wäre er »nicht vorstellbar ohne einen noch 286 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

möglichen anderen Gedanken, der zu jenes Gedanken Zeuge würde«. (Ebd.) Der Reflexionsregress, zu dem uns die alternativlose Orientierung an einem denkenden Selbstbezug zwingt, motiviert auch Merleau-Ponty zur Anerkennung eines vorreflexiven Selbstbewusstseins, das nicht in den medialen Strukturen des Denkens aufgeht: »Soll es vielmehr überhaupt Bewußtsein geben, soll irgend etwas irgend jemand erscheinen, so muß notwendig im Untergrund all unserer besonderen Gedanken ein Abgrund von Nicht-sein, ein Selbst sich öffnen.« (PhW, 455)

So, wie sich die Struktur des reflexiven Cogito an seiner sprachlichen Verfassung abzeichnet, muss sich dieses abgründige Selbst für Merleau-Ponty als ein »stillschweigendes Cogito« (cogito silencieux) (PhW, 458) zeigen. Mit Blick auf das ausgesprochene Cogito, jenem Bewusstsein meiner selbst, das sich der Sprache bedient, meint es zum einen das Bewusstsein, »das die sprechende Welt umfaßt und in dem die Worte erst Konfiguration und Sinn gewinnen«, zum anderen meint es »eine Erfahrung meiner selbst durch mich selbst« (PhW, 459), die sich jenseits des ausgesprochenen Cogito findet. Es nimmt nach dem bisher Ausgeführten nicht wunder, dass es sich hierbei nicht um eine stille Instanz vorsprachlicher Vernunft handelt, der nun doch eine stumme Konstitution von Welt obliegt. Die »undeklinierbare Subjektivität« (ebd.), zu der Merleau-Pontys Phänomenologie in Die Phänomenologie der Wahrnehmung 18 hinführt, gibt sich In den nachgelassenen Schriften, die unter dem von Merleau-Ponty angedachten Titel Das Sichtbare und das Unsichtbare publiziert wurden, findet sich in den Arbeitsnotizen vom Beginn des Jahres 1959 eine knappe Rückschau auf das stillschweigende Cogito. Im Horizont einer nun entschieden ontologischen Herangehensweise erachtet er das, was er das »schweigende Cogito« nannte als »unmöglich« (SuU, 225). Er sieht sich rückblickend im Sog der »Mythologie eines Selbstbewusstseins, auf die das Wort ›Bewusstsein‹ zurückverweist«. (Ebd.) Um Reduktion zu üben, um zu einer »Immanenz und zum Bewußtsein von … zurückzugelangen, bedarf es notwendigerweise der Worte«. (Ebd.) Aber diese Worte verweisen weder auf eine ›positive Bedeutung‹, noch »am Ende auf den Fluß der Erlebnisse als das Selbstgegebene«. (Ebd.) Da wir der umfassenden Anlage der späten Philosophie hier nicht gerecht werden können, müssen wir uns mit einer Anerkennung dieser Einsicht begnügen. Es gilt aber zu betonen, dass Merleau-Pontys frühe Ausführungen zum einen weitaus vorsichtiger wirken, als es seine späte Relektüre mitunter nahelegt. Zum anderen leugnet er auch hier nicht ein »schweigendes Cogito« als solches, sondern nur jenes, das als ›Gegenteil‹ der Sprache erscheinen musste, weil es sich zunächst nur als psychologische Rückseite der Beschreibungen des Leibes zeigte. »Es bedürfte eines Schweigens, das die Rede erneut umfaßt, nachdem man gemerkt hat, daß die Rede das vorgebliche

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Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

nicht als geheime Steuerzentrale eines selbstsicheren Ichs zu verstehen, vielmehr hat sie »bei sich selbst und bei der Welt nur einen gleitenden Anhalt«. (Ebd.) Wenn diese Subjektivität aber nicht unerschütterlicher Selbstbesitz ist, was ist sie dann? Das Problem ist doch dies: sobald man das ausdrückliche Cogito befragt, ist man ihm schon ins Wort gefallen; befragt man aber das schweigende Cogito, spricht man längst mit dem ausdrücklichen Cogito. Das stillschweigende Cogito erreicht sich nicht selbst, es weiß nicht um sich, in einem noch so schwachen epistemischen Modus, es ist eben der stille Sinn bloßer Existenz und es wird nur zu einem Cogito, »wenn es sich selbst zum Ausdruck gebracht hat«. (PhW, 460) So ist es auch nicht von der Reflexion zu erreichen, die stets ein schöpfender Akt ist und somit je schon eine Wandlung der Struktur unserer Existenz bedeutet. »Insofern das stillschweigende Cogito, die Selbstgegenwart bei sich selbst, die Existenz selber ist, geht es jeder Philosophie voran, gibt sich aber nur zu verstehen in den Grenzsituationen, in denen es bedroht ist: z. B. in der Todesangst oder der Angst vor dem Blick der Anderen auf mich.« (PhW, 460)

Was das stillschweigende Cogito ist, lässt sich nicht von der Weise trennen, wie es zum Vorschein kommt. Das mag auf den ersten Blick eine phänomenologische Selbstverständlichkeit sein und bleibt es auch auf einen zweiten. In diesem Fall kann man sich dieser phänomenologischen Grundeinsicht aber nicht durch Abstraktion oder eine Phänomenologie des Als-Ob entziehen, ohne sein Phänomen ganz und gar unzugänglich zu finden. Es gibt eine Erfahrung meiner selbst, die mir nach allen Seiten entgeht und etwas freilegt, das schon da ist, wenn ich mir selbst gegenüber die Fassung verliere. So muss sie sich auf besondere Weise auch einem begrifflichen Zugang entziehen, weil es eine Dimension von Bewusstsein bezeugt, in der Ich mich Schweigen der psychologischen Koinzidenz umfaßte. Was ist dieses Schweigen denn? Wie die Reduktion für Husserl schließlich nicht transzendentale Immanenz, sondern Enthüllung der Weltthesis ist, so wird dieses Schweigen nicht das Gegenteil der Sprache sein.« (SuU, 233) Die Entwicklung einer Methodologie, die diese ›Entdeckung‹ zu leisten im Stande wäre, war Merleau-Ponty nicht mehr vergönnt. Sein Ausblick weist jedoch auf das Ungenügen einer ›direkten Ontologie‹ : »Meine ›indirekte‹ Methode (das Sein in den Seienden) ist die einzige dem Sein gemäße – ›negative φ‹ so wie ›negative Theologie‹.« (Ebd.) Als Motivation dafür, letztlich nach diesem umfassenden Schweigen zu fragen, bleibt aber auch hier die Frage: »Wird diese Zerrissenheit der Reflexion (die aus sich herausgeht, um zu sich zurückzukehren) jemals aufhören?« (Ebd.)

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Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

eben nicht im Griff habe. Als existenzielle Epoché hatten wir diese Erfahrung in der Diskussion um Husserls Ur-Ich angesprochen, und wie bei Fink und Sartre gibt sie sich auch bei Merleau-Ponty nur als Grenze einer Situation zu verstehen, die mir widerfährt. Und weil sie sich offenbar vor allem in den fragilen Modi der Angst und Unbehaglichkeit ankündigt, gibt es keinen guten Grund, ihre Nähe zu suchen. Auch Merleau-Ponty entwickelt kein genuines Interesse daran, das stillschweigende Cogito in seiner eigentümlich unverfügbaren Vertrautheit gelten zulassen. Es erscheint immer nur als Gegenüber, nie konsequent als Form des Sprechenden. Wie er rückblickend sagen wird, sollte es lediglich ein Problem anzeigen, zu dessen Lösung es selbst aber noch nicht beitragen konnte. 19 Und doch schreitet er in der Explikation jener Intuition fort, die ihn zum schweigenden Cogito führte. Nur entkleidet er sie der Altlasten, die stets aufs Neue dazu führen, diese undeklinierbare Subjektivität als eine Dimension zu verstehen, von der aus sich erst ein wirklicher, d. h. sprachlicher, Selbst- und vor allem Weltbezug entfaltet. Der Gewinn dieser Subjektivität aus dem Cartesischen Cogito hat insofern nur heuristischen Wert, dient nur einer ersten Anzeige des Problems. Denn als mögliche Lösung des Reflexionsregresses bleibt es stets einer Diskussion verhaftet, in der sie nur in Gestalt einer eigentümlich negativen Instanz zu Geltung kommt, die der Welt, mehr noch als es ein schon ausdrückliches Cogito sein konnte, entrückt bliebe. Merleau-Ponty sieht darum im Folgenden ab von der Dimension eines denkenden oder schweigenden Bewusstseins, das sich eine Welt und die anderen in ihr erst noch zugänglich zu machen hätte, und nimmt erneut die Dimension eines transzendentalen Feldes in den Blick, auf dem Welt und Selbst gemeinsam Gestalt gewinnen. Sein Bemühen um die Auflösung cartesianischer Dualismen kommt dabei nirgends klarer zum Ausdruck als in der Analyse zur Zeitlichkeit, in der die Strukturen dieses Feldes explizit werden. Denn dort soll sich zuletzt die ambivalente Verfassung des Leibes erhellen, insofern diese Analyse »Subjekt und Objekt als zwei abstrakte Momente einer einzigen Struktur zur Erscheinung bringt: der Gegenwart«. (PhW, 489) »Das schweigende Cogito soll verständlich machen, weshalb die Sprache nicht unmöglich ist, es kann jedoch nicht verständlich machen, wie sie möglich ist.« (SuU, 229)

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Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

Das Ärgernis eines phänomenologischen Begriffs von Gegenwart ist in den entsprechenden Diskussionen bei Husserl und Sartre bereits hinreichend diskutiert worden, sodass es hier nicht noch einmal ausführlich rekapituliert werden muss. Es genügt, die beiden Formen von Gegenwart zu kennzeichnen, von denen Merleau-Ponty sich abheben möchte: Zum einen wendet er sich gegen eine vulgäre Gegenwart, die sich an der Vorstellung eines letztlich dinglich gedachten Zeitflusses abzeichnet, in dem Gegenwart jenen limesartigen Jetztpunkt bewusster Präsenz bezeichnet, in dem Vergangenheit in Zukunft übergeht. Zeitliche Ordnung wird dabei selbst als Sukzession solcher Jetztpunkte aufgefasst. Zum anderen verwahrt er sich gegen eine hypertrophe Gegenwart, die sich als Vorstellung einer unzeitlichen Präsenz artikuliert und damit zugleich »ein thetisches Bewusstsein der Zeit [behauptet], das alle Zeit beherrschte und überschaute« (PhW, 472), mithin seine Entsprechung in einem transzendentalen Subjekt intellektualistischer Couleur hätte. Beide Begriffe von Gegenwart und ihre subjekttheoretischen Äquivalente eines flüchtigen bzw. zeitlosen Subjektes sind Resultate des Versuchs, Zeitlichkeit und Subjektivität allein einem objektivierenden Denken zu überantwortenden und damit der »sicherste Weg, ihr Wahres zu verkennen«. (PhW, 479) Im Horizont der Bemühungen, eine Erneuerung der Idee des Subjektes aus einer Analyse der Zeitlichkeit zu gewinnen, gilt es demgegenüber, eine Zeit »zur Auslegung zu bringen […], die nicht Gegenstand unseres Wissens, sondern eine Dimension unseres Seins ist«. (PhW, 472) Die philosophische Herausforderung besteht zunächst erneut darin, die Spannung einer Ambivalenz anzuerkennen und sich ihr auszusetzen. Und diese Spannung ist hier eine dezidiert epochale in dem Sinne, dass sie sich nur als solche zu verstehen gibt, wenn die Präsumtion einer objektiven, unabhängigen Welt ihre Geltung verloren hat. Nur dann wird sich Zeit als eine Dimension erweisen, die eine »Gegenwärtiges und Vergegenwärtigtes in eins scheidende und verknüpfende Bewegung« (PhW, 383) ist. Die objektivierende Seinsauffassung nimmt ihren natürlichen Ausgang bei einer vulgären sinnlichen Gegenwart, einem aktuellen Gesichtsfeld mit wohlumgrenzten Gegenständen, von dem aus sich »jede Vergangenheit und jede Zukunft als einstige oder künftige Gegenwart gibt«. (PhW, 384) Das Bild einer Sukzession von diskreten Momenten, das sich dabei aufdrängt, zeichnet nicht nur einen engen Bereich möglicher Vorstellungen zeitlicher Einheit vor, von denen 290 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

eine besonders wirkmächtige diejenige eines diese zeitliche Bewegung konstituierenden Subjektes ist, sondern es bedingt auch eine eigentümliche Grenze des Denkens von Zeit überhaupt, wie sie so dramatisch in Platons Parmenides zum Ausdruck kommt: »Daß das zuvor Ruhende hernach bewegt werde und das zuvor Bewegte hernach ruhe, dies kann ihm einesteils ohne Übergang (μεταβολή) unmöglich begegnen. – Wie auch? – Eine Zeit aber gibt es andernteils nicht, in der etwas zugleich weder bewegt sein noch ruhen könnte. – Das gibt es wohl nicht. Aber es kann doch nicht übergegangen sein, ohne überzugehen? – Nicht glaublich. – Wann also geht es über? Denn weder während der Ruhe noch während der Bewegung kann es übergehen noch während es in der Zeit ist. – Freilich nicht. Ist also etwa jenes Wunderbare das, worin es ist, wenn es übergeht? – Welches denn? – Der Augenblick (Έξαίπνας).« (Parmenides: 156c) 20

Wenn das objektive Denken seinen Ausgang in einer Welt der Veränderung nimmt, von dort aus nach den Bedingungen von Veränderung fragt und dabei das Ideal einer »expliziten Erkenntnis« bemüht, wird es notwendig an jenen Bereich gelangen, an dem das Entweder/ Oder möglicher Zustände fragwürdig wird. Für Merleau-Ponty ist die Inanspruchnahme einer transzendentalen Subjektivität, die die ideale Einheit der Zeit und des Erlebens verbürgen soll, nur die bewusstseinstheoretische Kehrseite dieser überkommenen Verlegenheit. Und doch muss auch das phänomenologische Projekt an diesen Punkt gelangen: »Wir kommen nicht umhin, ein ›primäres Bewusstsein zu fassen, das hinter sich kein Bewußtsein mehr hat, in dem es bewußt wäre‹, das folglich keine Ausbreitung in der Zeit mehr hat.« (PhW, 480) 21 Diese Grundeinsicht der genetischen Phänomenologie darf nun aber nicht so verstanden werden, dass sich erneut ein zeitlos abgeschottetes Refugium darbietet, sondern muss als Anzeige einer Bewegung eigener Güte gelten, die sich in ihrer sprachlichen Artikulation selbst oft nur noch in kursiver Emphase zeigen kann: »die Bewegung eines sich entfaltenden Lebens«, das »auf keine Weise zu vollziehen [ist] denn durch das Leben dieses Lebens«. (PhW, 481) Und dieses bewegte Leben hat seine Entsprechung im Vergehen von Zeit selbst, nicht erst in einer zeitlichen Ordnung.

Übersetzung nach Schleiermacher in Eigler (1990), Band V, 289. Das Zitat entstammt hier Husserls Analysen zum Zeitbewusstsein, Hua XXXIII, 442.

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Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

»Die konstituierte Zeit, die Reihe möglicher Beziehungen des Zuvor und Hernach, ist nicht die Zeit selbst, sondern bloß ihre schlichte Registrierung, das Ergebnis ihres Vergehens, das das objektive Denken beständig voraussetzt und das zu fassen ihm nicht gelingt.« (PhW, 471)

Die »eigentliche Zeit«, nach der es nun zu fragen gilt und von der her sich eine neue Idee des Subjektes ergeben soll, muss selbst eine »konstituierende Zeit« (PhW, 480) sein, eine Zeit in statu nascendi. Zeit und Subjekt teilen in diesem Horizont den Charakter einer stets spontan drängenden Ausdehnung. Nicht umfasst ein letztes konstituierendes Subjekt die Zeit von der Warte einer zeitlosen Präsenz aus, noch kommt es eigentlich in der Zeit vor. Der Zusammenhang der Zeit gründet sich, wie auch die Permanenz des subjektiven Erlebens, im Zeitvergehen selbst. Das Bewusstsein ist dementsprechend weder als gänzlich »ungeteiltes Vermögen«, noch als dessen »distinkte Bekundungen« zu bestimmen, sondern »ist selber die Bewegung der Zeitigung«. (PhW, 483) Die entsprechenden konstitutionstheoretischen Analysen zu den retentionalen Verschränkungen und der längsintentionalen Selbstgegenwart des Zeitbewusstsein entnimmt Merleau-Ponty weitestgehend den entsprechenden Ausführungen Husserls. Wir müssen sie hier nicht wiederholen. 22 Durch die Anerkennung einer grundlegenden Zweideutigkeit des Bewusstseins und der ihm eigenen Selbstaffektion der Zeitlichkeit kann sich Merleau-Ponty jedoch das Pathos einer hehren unzeitlichen Präsenz des Bewusstseins versagen und trotzdem dem drohenden Regress reflexiven Selbstbewusstseins entgehen. Die Dimensionen zeitlicher Ordnung nehmen demnach ihren Lauf durch den lebendigen Andrang einer Subjektivität, die sich stets auf eine Zukunft hin entwirft und deren Vergangenheit sich als eine kontinuierliche retentionale Verkettung Anhalt gibt. Dieses von Sartre her vertraute Bild einer Subjektivität zeitlicher Ekstasen bleibt aber unbefriedigend, solange es den Eindruck hinterlässt, gewissermaßen nur eine von außen gesehene Identität von Subjektivität und Zeitlichkeit anzukündigen. Im phänomenologischen Ausweis dieser Identität selbst drängt sich nämlich erneut ein eigentümlicher Primat der Gegenwart auf. Im Horizont der beiden Hinsichten ursprünglicher Subjektivität, die weiter oben zur Sprache kamen, einer perspektivischen Präfiguration der Lebenswelt und dem abgründigen Selbst des stillschweigenden Cogito, kann es 22

Vgl. Kapitel I, 2.6 dieser Arbeit.

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Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

kaum überraschen, dass Merleau-Ponty diesen Primat mehr als Ausdruck jener vor-personalen Präfiguration von Welt, die die leibliche Perspektive des Subjektes erzeugt, gelten lässt, denn als Möglichkeit wahrnimmt, der Selbstgegenwart von Bewusstsein weiterhin nachzufragen. Das hat seinen systematischen Grund freilich in der leitenden Intuition des Zur-Welt-seins, deren philosophische Pointe ja gerade die Artikulation einer restlosen Reziprozität von Welt und Subjekt ist: »Die Welt ist unabtrennbar vom Subjekt, von einem Subjekt jedoch, das selbst nichts anderes ist als Entwurf der Welt, und das Subjekt ist untrennbar von der Welt, doch von einer Welt, die es selbst entwirft.« (PhW, 489)

In diesem Rahmen genügt es anzuerkennen, dass wir »selber uns selbst gegenwärtig [sind], weil wir bei der Welt gegenwärtig sind« (PhW, 482). Und so ist nun auch die »lebendige Gegenwart […] zerrissen in die Vergangenheit, die sie übernimmt, und die Zukunft, die sie entwirft« (PhW, 382). Die zunächst nur in Epoché ausweisbare Dimension lebendiger Gegenwart ist somit nicht nur schon von retentionalen und protentionalen Fäden durchzogen, sondern gilt nun auch als stets engagierte Gegenwart einer personalen Subjektivität in seine Welt. Es bleibt jene für eine Existenzphilosophie erträgliche Konsequenz, dass »ich niemals mit meinem sich selbst entfliehenden Leben zu koinzidieren vermag«. (PhW, 437) Das ist der scheinbare Preis für die Aufgabe der Vorstellung von Subjektivität als einer zuletzt »unbeweglichen Identität«. (PhW, 485) Anderseits ließe sich allerdings fragen, ob die hier angezeigten Schwierigkeiten nicht vielmehr aus einer nur halbherzigen Aufgabe einer »unbeweglichen Identität« herrühren. Welche Elemente blieben denn noch für eine Koinzidenz übrig? Was wäre ich jenseits des entfliehenden, drängenden Lebens? Welches Ich könnte hier noch eine Koinzidenz anstreben oder sie auch nur als Mangel erleben? Obgleich ein vulgäres Verständnis unbeweglicher Identität mit der Auffassung eines durch und durch verzeitlichten Subjektes unvereinbar ist, muss Merleau-Ponty im Fortgang seiner Zeitphänomenologie aber gleichwohl einen »privilegierten Vorrang« der Gegenwart einräumen, »insofern sie die Zone umgrenzt, in der Sein und Bewusstsein koinzidieren«. (PhW, 482) Nur bezeichnet diese Dimension bewussten Erlebens nicht länger »ein in sich selber ruhendes Sein«, sondern ein Sein, »dessen ganzes Wesen, wie das des Lichtes, darin aufgeht, sehen zu lassen«. (PhW, 484) In der Gelassenheit ak293 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

tuellen Wahrnehmens gibt es keinen Anhaltspunkt, Sein und Bewusstsein, Welt und Selbst zu unterscheiden. Hiermit ist nicht die je momentane Erstarrung eines Weltausschnitts angezeigt – ein nur durch Abstraktion zu gewinnender »Eindruck« –, sondern die gleichzeitige Unabgeschlossenheit von Selbst und Welt, die sich an der Ständigkeit lebendiger Gegenwart kundtut. In lebendiger Gegenwart mögen die Ekstasen in Vergangenheit und Zukunft walten, in der Bewegung zeitlicher Entfaltung eine Subjektivität sich aufspannen und in eine Welt sich engagieren lassen, als diese Gegenwart ist da aber kein fragmentiertes Erleben, sind dort keine miteinander streitenden Dimensionen der Zeit, »gegenwärtig sein heißt je schon sein, und für immer sein«. (PhW, 480) 23 Die Intuitionen, die die philosophische Emphase eines unzeitlichen Ichs hervorgebracht haben mögen, finden hier eine gewisse Legitimation. Auch wenn der alte Philosophentraum »eines ›ewigen Lebens‹ jenseits aller Beständigkeit wie alles Wandels« (PhW, 475) nur einen weiteren vergeblichen Ausdruck in einem zeitlosen Subjekt transzendentaler Natur gefunden hatte, so besagt das zunächst nur, dass wir, wenn »wir überhaupt einer Art von Ewigkeit zu begegnen vermögen, so nur im Innersten unserer Zeiterfahrung selbst«. (Ebd.) Die Vorstellung einer Gegenwart ohne Zukunft oder einer unendlichen Gegenwart ist in der Tat nichts anderes als »die Definition des Todes« (PhW, 384), daraus folgt jedoch nicht, dass eine lebendige Gegenwart nicht eine expansive Offenheit sein kann, ohne dass in ihr sogleich eine pro-jizierende Ekstase waltet, mithin ein entschiedenes Ich sich Ausdruck verschafft. Der Verlauf der Zeit mag durch den Andrang einer Subjektivität sich entfalten, übereilt wäre es aber, diesen Drang für mehr als etwa einen Appetit im Sinne Leibniz’ oder für weniger als den Willen Schopenhauers halten zu wollen. Merleau-Pontys Analysen zu Subjektivität und Zeitlichkeit geraten da in eine erneute Spannung, wo er Subjektivität als eine »offen unbestimmte Einheit« gelten lassen will – »Ich bin ein Feld, ich bin eine Erfahrung« (PhW, 462 f.) –, sie zugleich aber als eine engagierte Ekstase bestimmt, als »Projektion eines ungeteilten Vermögens auf ein ihm gegenwärtiges Ziel hin«. (PhW,

Diesen phänomenologischen Witz der unprätentiösen Grenzenlosigkeit lebendiger Gegenwart kennt auch Wittgenstein (Tractatus 6.4311): »Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.«

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Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

484) Diese Spannung ist nicht identisch mit der konstitutiven Ambivalenz der Zeitlichkeit, die besagt, dass Zeitlichkeit – wie auch Subjektivität – verstanden werden muss als immer schon differenzierte Einheit. Hier stehen vielmehr erneut die Struktur impersonaler Subjektivität und das Engagement personaler Subjektivität in Spannung zueinander. Unter welcher Voraussetzung können wir denn sagen, dass der Andrang von Subjektivität, die Bewegung der Zeitigung, mithin die Bewegung eines sich entfaltenden Lebens, Ausdruck meines Lebens ist? Werden die zeitlichen Ekstasen, die das Bewusstsein zur Welt hin aufgespannt sein lassen, nicht erst dann Ausdruck eines engagierten Subjektes, wenn ein Ich sie besetzt, d. h. eine Vergangenheit übernimmt und eine Zukunft wählt? Der Andrang von Subjektivität entfaltet sich nicht erst als mögliche Projektion eines ambitionierten Ichs, sondern kommt längst als impersonales Geschehen von Zeitigung selbst zum Tragen. Selbst wenn wir anerkennen, dass Subjektivität sich nur als stets ambitioniert projizierende im Bogen der Zeitigung konstituiert, so bliebe weiterhin jener nicht-eliminierbare Primat der Gegenwart, der zunächst wenigstens die Frage motiviert, »wie ein Sein, das künftig und vergangen ist, auch eine Gegenwart zu haben vermag«. (PhW, 490) Solange wir die strukturelle Äquivalenz von Zeit und Subjektivität im Horizont einer Ontologie verhandeln, verschwindet in der Tat das Problem, »da Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden sind in der Bewegung der Zeitigung«. (Ebd.) Wer aber bin ich dann in der rohen Gegenwart einer aktuellen Wahrnehmung? Wer bin ich in der Gelassenheit einer sinnlichen Erfahrung, die mir die Übernahme und Projektion meiner zeitlichen Verfassung versagt und die Entfaltung des Lebens, das in ihr statthat, als einen Zug bloßer Existenz gelten lässt, nicht als Ausdruck meiner Geschichte in Anspruch nimmt? Die Analysen des Cogito wie auch der Zeitlichkeit haben gleichermaßen eine ambivalente Struktur der Subjektivität freigelegt. In beiden Hinsichten kam ein engagiertes, reflexives, entfaltetes Selbst zum Vorschein, das ein gewisses Fundament in einem vorreflexiven, einfältigen Selbst zu haben scheint, das einem Zugriff zwar entzogen ist – wer sollte es auch begreifen? –, dessen Geschehen sich aber als lebendige Subjektivität ankündigt. Schon nach Maßgabe der rigorosen antiidealistischen Intuition, die das phänomenologische Projekt MerleauPontys anleitet, kann diese vorreflexive Subjektivität, wie wir sahen, nicht einfach als ein besonderes Residuum reiner Vernunft oder selbstbewusster Innerlichkeit gelten. Das stillschweigende Cogito, 295 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

wie auch jene lebendige Gegenwart, in der Sein und Bewusstsein koinzidieren, sind nicht Phänomene, in denen sich einfach ein Rest von Bewusstsein bewahren ließe, sondern sie sind Ausdruck einer Erfahrung, deren Interpretation in besonderem Maße von den philosophischen Präsuppositionen abhängt, in denen sie freigelegt und zur Kenntnis genommen wird. Bei Merleau-Ponty kann eine dieser Voraussetzungen als Intersubjektivismus angesprochen werden. Unter der unbefragten Voraussetzung eines Intersubjektivismus mögen wir »in der Dichtigkeit der vorobjektiven Gegenwart […] unsere Leiblichkeit, unsere Sozialität und die Präexistenz der Welt« (PhW, 492) finden: »In dem Augenblick aber, in dem ich mich mir selbst zuwende, um mich zu beschreiben, erblicke ich einen anonymen Fluß, einen umfassenden Entwurf, in dem es noch keinerlei ›Bewußtseinszustände‹ und erst recht keinerlei Qualitäten gibt.« (493)

Auch die Anonymität dieses Flusses will Merleau-Ponty als eine ambivalente Anonymität verstanden wissen; sie ist »anonym im Sinne absoluter Individualität und anonym im Sinne absoluter Generalität […]«. (PhW, 509) Diese erneute Ambivalenz verbürgt freilich auf einen ersten Blick jene existenzielle Dynamik, die Merleau-Pontys Verständnis von Subjektivität leitet, die Möglichkeit, »mich ursprünglich als zu mir selbst exzentrisches Sein [zu] erfassen«. (Ebd.) Da Merleau-Ponty keinen Zweifel lässt, dass es sich bei der absoluten Generalität um die Allgemeinheit der Natur, der Sozialität und der Kulturwelt handelt, ist es schwierig, eine absolute Individualität hier anders zu verstehen denn als personale, psycho-soziale Identität. Die Anonymität einer Individualität des Bewusstseinsflusses wird somit in die Fahrwasser einer sozialen Kategorie gelenkt, in denen diese stets nur die Kehrseite jener Generalität einer sozialen Welt sein kann, ohne die sie sich nicht selbst als Identität erfassen könnte. Wenn sich aber ein anonymes Selbstbewusstsein jenseits von »Bewusstseinszuständen« und »Qualitäten« ankündigt, kann es sich nicht um eine absolute Individualität handeln, die sich überhaupt nur auf der Folie einer schon intersubjektiven Allgemeinheit abzeichnen lässt, mithin längst eine reiche Qualifizierung und eine geteilte Welt voraussetzt. Im Zuge intersubjektivistischer Präsuppositionen bemüht er so zum Ausweis einer eigentlich impersonalen Struktur von Subjektivität unterschwellig eine Kategorie des sozialen Lebens und eine entsprechend personale Struktur. 296 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

Merleau-Ponty kann schon darum die Selbstgegenwart des Bewusstseinsflusses nicht »als absolute Selbstberührung, als absolute, völlig bruchlose Dichtigkeit« gelten lassen, »sondern im Gegenteil als ein Sein, das sich außerhalb seiner selbst vollbringt«. (PhW, 512) Versteht man die Selbstgegenwart von Bewusstsein nämlich als Leistung eines je schon individuierten Subjektes, mithin als auch nur rudimentäre personale Einheit, wird es sich ansonsten als unmöglich erweisen, von hier je die Erfahrung des Anderen und das Engagement in die Welt zu motivieren. Somit muss Selbstgegenwart stets ausdrückliche Gegenwart bei der Welt sein. »Unzweifelhaft kommunizieren wir mit uns selbst nur in der Kommunikation mit der Welt. Wir halten die Zeit im Ganzen im Griff und sind uns selbst gegenwärtig, weil wir bei der Welt gegenwärtig sind.« (PhW, 482) Wollen wir hingegen versuchen, die Eigentümlichkeit impersonaler Subjektivität ernst zu nehmen, wie sie sich als so offenenes wie selbstgenügsames Bewusstseinsfeld und als das abgründige Selbst des stillschweigenden Cogito zu verstehen gegeben hat, wird zu fragen sein, ob sich eine Dimension von Bewusstsein ausweisen lässt, die weder in die Selbstbemächtigung eines konstituierenden Ichs abgleitet, noch in der Ruhelosigkeit eines je schon engagierten Subjektes aufgeht. Ohne also den systematischen Sinn oder gar philosophischen Gehalt derjenigen Intuition, die wir hier als Intersubjektivismus kennzeichnen und die ihren prägnanten Sinn im letzten Satz der Phänomenologie der Wahrnehmung 24 artikuliert, in Frage zu stellen, gilt es schon mit Blick auf die Philosophie des Vedānta für einen mitunter lästigen Zug einer Phänomenologie des Selbst zu sensibilisieren: »Die bleibende Wahrheit des Solipsismus«. (PhW, 407) Eine Wahrheit, die sich nicht erst am Ausgang eines idealistischen Gebäudes als solche erweist, sondern die ein »Grundbestand gegebener Existenz ist […], den das Cogito konstatiert: jede Bejahung, jedes Engagement, sogar jede Negation und jeder Zweifel findet in einem vorgängig eröffneten Felde statt und bekundet ein Selbst, das an sich selbst rührt, ehe es mit jenen partikulären Akten in Berührung tritt, in denen es die Berührung mit sich selbst verliert. Dieses Selbst, notwendiger Zeuge aller wirklichen Kommunikation, ohne den diese sich selbst nicht wüßte und somit nicht Kommunikation wäre, scheint jederlei mögliche Das Werk endet bekanntlich mit einem Zitat Saint-Exupérys: »Der Mensch ist nichts als die Verknüpfung von Verhältnissen, und sie nur sind es, die für den Menschen zählen.« (PhW, 518)

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297 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Lösung des Problems des Anderen zunichte zu machen. Es gibt hier einen erlebten Solipsismus, der unüberwindlich bleibt.« (PhW, 409)

5.3.3 Notwendiger Zeuge – ein unüberwindlicher Solipsismus und Gott als der Andere I have lived on the lip of insanity, wanting to know reasons, knocking on a door. It opens. I’ve been knocking from the inside. Rumi/C. Barks

Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten menschlichen Lebens, dass wir von vielem wissen, das wir nie kennengelernt haben. Ich weiß, dass ich in einer brandenburgischen Kleinstadt geboren wurde, weiß, dass die Nacht stürmisch und die Entbindung schwierig war, weiß um die Umstände, die mich entfernt von dem Ort meiner Kindheit haben zur Welt kommen lassen, und ich habe allen Anlass zu glauben, dass die frühsten Jahre eine sehr behütete Zeit waren. So unzugänglich mir dieses frühe Leben ist, so beiläufig lasse ich es gelten. Noch entschiedener, nicht weniger unzugänglich aber, gilt mir die Zukunft dieses Lebens und es wäre müßig im Einzelnen ermitteln zu wollen, was ich alles über morgen weiß, wenn doch noch niemand jemals morgen gesehen hat. »Die Rationalität meiner Geschichte ist in der Transzendenz der Zeitmomente in eins gegründet und in Frage gestellt: gegründet, da jene Transzendenz mir eine völlig neue Zukunft eröffnet, die mir Reflexion auf die Dunkelheit meiner Gegenwart gestattet; in Frage gestellt: da ich nie die in apodiktischer Gewißheit erlebte Gegenwart dieser Zukunft werde erfassen können und also das Erlebte nie völlig verständlich wird, das Verstandene sich nie gänzlich mit meinem Leben deckt, ich also nie ganz mit mir selbst eins sein kann. Das ist das Geschick eines Wesens, das geboren wurde, d. h. ein für allemal sich selbst gegeben als etwas, das des Verstehens bedarf.« (PhW, 397 f.)

Das prinzipielle Unvermögen und die natürliche Tendenz, die Dimensionen meines biographischen Selbst adäquat zu erfassen, motiviert zum einen das nachträgliche Bemühen, meine Geschichte in einen für mich und andere kohärenten Zusammenhang zu bringen, eine Einordnung, der stets etwas Künstliches anhaftet (vgl. PhW, 387). Zum 298 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

anderen öffnet es den Blick für jenen anonymen Bereich, den Merleau-Ponty als »Natur« anspricht und vermöge einer offenbar dialektisch gedachten Sedimentation personaler Akte von einer »Kulturwelt« abhebt. »So wie die Natur mein personales Leben bis in sein Zentrum durchdringt und mit ihm sich verflicht, so steigen meine Verhaltungen in die Natur wieder herab und schlagen in ihr sich nieder in Gestalt einer Kulturwelt.« (PhW, 398)

Die Frage nach der Möglichkeit, Natur im Horizont jener menschlichen Atmosphäre zu erleben, die die Kulturwelt ist, führt MerleauPonty zu dem Phänomen des Anderen, auf den schon die Stimmungen der Artefakte einer Zivilisation stetig verweisen. Von hier stellt sich sodann das klassische Problem jeder Bewusstseinsphilosophie: »Wie vermag das Bewusstsein, das als Selbsterkenntnis grundsätzlich stets in der Weise des Ich ist, im Modus des Du und sodann in der Welt zur Erfassung zu kommen?« (PhW, 400 f.) Dem Ich in den klaustrophoben Tiefen seiner Innerlichkeit muss der Andere genauso zum Skandal werden, wie er für ein universales konstituierendes Ich zu einer bloßen Trivialität gerät. In den Analysen des Wahrnehmungsbewusstseins und den entsprechenden Bemühungen um das »unmittelbare Medium« des phänomenalen Leibes entdeckt Merleau-Ponty seinen Ansatz zur Lösung des Problems. Diese Analysen hatten nicht nur einen Bereich freigelegt, in dem Bewusstsein und Welt sich in einer gleichursprünglichen Berührung als zugleich unabgeschlossene Dimensionen zeitlicher Ausdehnung geben, sondern auch nahegelegt, dass sinnliche Erfahrung selbst bereits den Zug der Impersonalität birgt. Insofern nämlich, als sie ein fertiges Ich nicht mit Qualitäten, zu synthetisierenden Daten oder gar Gegenständen konfrontiert, sondern den Leib zu einer Welt hin öffnet, die mich weder einschließt noch von mir überragt wird, sondern die mir in der begrenzten Grenzenlosigkeit des phänomenalen Feldes einen perspektivischen Ausblick gewährt. Lässt man diesen Ausblick nur als Fenster einer privaten sich selbst transparenten Innerlichkeit gelten, kommt der Andere lediglich als eigentümliches Ding unter anderen vor, dem ich vermöge einer Analogisierung ebensolche Innerlichkeit zuerkenne. »Doch wenn ich reflektierend in mir selbst mit dem Wahrnehmungssubjekt ein sich selbst gegebenes vorpersonales Subjekt vorfinde, wenn das Verhältnis all meines Wahrnehmens zu mir als Initiativ- und Urteilszentrum ein

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exzentrisches bleibt, wenn die wahrgenommene Welt ihrerseits in einem Schwebezustand zwischen verifiziertem Objekt und als solchem erkannten Traum verbleibt, dann ist keineswegs alles, was je in der Welt mir erscheint, ein in eins vor meinem Blicke Ausgebreitetes und kann somit ein Verhalten von Anderen darin erscheinen.« (PhW,404)

Wenn ich mir in der Verwobenheit des Leibes mit der Welt selbst nur »als Vermögen gewisser Verhaltensweisen« (PhW, 405) begegne, die Allgemeinheit der Welt sich mir als eine offene Menge von vertrauten und befremdlichen Umgangsweisen zeigt, erscheint auch der Andere nicht als bloße abgeschlossene Interiorität, sondern als je schon leibliches Verhalten, in dem sich meine Vertrautheit in Grenzen enttäuscht und bestätigt, letztlich vollendet und doch offen bleiben muss. Hier befinden sich nicht zwei Bewusstseine in einem vis-á-vis, sondern sind Teil eines »einzigen Ganze[n], zwei Seiten eines einzigen Phänomens, und die anonyme Existenz, deren Spur mein Leib in jedem Augenblick ist, bewohnt nunmehr die beiden Leiber in eins«. (Ebd.) Als existentialistischen Entwurf eines so allgemeinen wie anonymen Grundes intersubjektiver Erfahrung könnte man es bei dieser Stufe der Beschreibung bewenden lassen. Die immer schon ineinandergreifenden Strukturen des phänomenalen Feldes erlauben es, eine Pluralität von Bewusstseinen als eine unabschließbare Offenheit von perspektivischen Ausblicken aufzufassen, die stets gemeinsam an der Welt »als anonyme Subjekte des Wahrnehmens teilhaben«. (PhW, 404) Erst auf diesem gemeinsamen Boden »friedlicher Koexistenz« gewinnen personale Einheiten fortschreitend ihre Gestalt und geben sich in der Welt einander wechselseitig zu erkennen. In wenigstens zwei Hinsichten bleibt dieser Entwurf aber ungenügend. Auf der einen Seite konterkariert er einen existenziellen Vorrang des Intersubjektiven, indem er durch die Angabe einer vorreflexiven Einheit die Dringlichkeit moralischen Engagements zu nivellieren scheint. »Das Problem des Anderen entsteht nicht erst aus dem Versuch, den Anderen zu denken, und kommt nicht zum Verschwinden, wenn nur das Denken einem vortheoretischen Bewußtsein und präreflexiven Leben einverleibt wird: er ist schon da, wenn ich für den Anderen zu leben suche, etwa in der Blindheit des Opfers […].« (PhW, 408)

Auf der anderen Seite unterschlägt dieser Entwurf, gerade weil er vorreflexives Leben und Bewusstsein als eine immer schon geteilte 300 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

Einheit versteht, die sich bruchlos in eine soziale Welt entfaltet, dass sich im wachen Erleben der Phänomenologin jene nicht-eliminierbare Dimension aufdrängt, die durch das schweigende Cogito angezeigt wurde: eine Anonymität absoluter Individualität, die nicht die Individualität eines abzählbaren Subjektes unter anderen sein kann, sondern die jenes stets vorgängig eröffnete Feld bewussten Erlebens meint. Da, wo Merleau-Ponty den »Solipsismus«, den dieser »notwendige Zeuge« (PhW, 409) evoziert, als eine für seinen Intersubjektivismus zunächst grundlegende Schwierigkeit anerkennt, gibt er eine mögliche »Lösung« an, die uns einen phänomenologischen horror vacui vor Augen führt. Er ergibt sich aus der unmöglichen Antizipation, dass Selbsterkenntnis die Realisation einer grundlegenden Täuschung bedeuten könnte. Grundlegend in dem Sinne, dass ich mich nicht über mich täusche, eigentlich anders bin, sondern, dass ich mich täusche, eigentlich Anderer bin. Hier finden wir uns bereits für einen maßgeblichen Punkt in der Diskussion der philosophischen Tradition sensibilisiert, die der indische Vedānta birgt. Merleau-Ponty beginnt seinen Versuch, den Solipsismus »von innen her [zu] überwinden« (PhW, 410) mit der Anzeige des längst als unhaltbar abgewiesenen Idealismus intellektualistischer Couleur, in dem sich das Ich qua Selbstbemächtigung eines universell konstituierenden Subjektes als unbeteiligter Zuschauer etabliert. »Ich mag nur ein einziges ego anzuerkennen vermögen, aber als das universale Subjekt bin ich nicht mehr nur ein endliches Ich, erhebe mich vielmehr zum Standpunkt eines unbeteiligten Zuschauers, demgegenüber der Andere gleichwie ich selbst als empirisches Sein auf gleicher Ebene stehen, ohne daß mir irgendein Vorzug zukäme.« (Ebd., m. H.)

Im Modus einer Explikation lässt er diese Apotheose des Ich als gleichwertig erscheinen mit der reflexiven Entdeckung jener Dimension bewussten Erlebens, dem das bewegte Leben des engagierten Ichs immer schon zum Gegenstand werden kann. In dem Maße, wie er dieses erhebende Erscheinen als Konstitution versteht, der er an früheren Stellen die Implikation absoluter Transparenz und vollständiger Auslegbarkeit beigelegt hatte, wird dieses Bewusstsein lediglich die Kehrseite eines allmächtigen Ichs. »Von meinem Bewusstsein, das mir die Reflexion entdeckt und demgegenüber alles zum Gegenstand wird, kann man nicht sagen, es sei Ich: mein Ich ist selbst vor ihm ausgebreitet wie alle anderen Dinge, ist konstituiert in

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jenem Bewußtsein, das sich nicht darin einschließt und somit ebensogut andere Ich konstituieren kann.« (Ebd., m. H.)

Im Weiteren wird deutlich, warum Merleau-Ponty hier den zuvor zertreuten Eindruck der Äquivalenz von e r z e u g t e m Z u s c h a u e r und e n t d e c k t e n Z e u g e n erwecken möchte. Die Hybris des zu etablierenden Zuschauers ist von der Katharsis des zu entdeckenden Zeugen dann nicht zu unterscheiden, wenn die Instanz, als die sich das Ich gewinnen müsste, einer Instanz entspricht, deren Begriff schon die Unmöglichkeit dieser Entdeckung garantiert. »In Gott vermag ich Bewußtsein von Anderen so wie von mir selbst zu haben, Andere zu lieben wie mich selbst. – Doch jene Subjektivität, auf die wir uns zurückgeführt sahen, kann ich nicht Gott nennen.« (Ebd.)

Das Problem ist im Folgenden nicht mehr die Frage, was sich im Horizont dieser eigentümlichen Subjektivität abspielen mag, sondern hier findet ein Übergang statt zu der Frage, in welchem Begriff die antizipierten Elemente der Selbsterfahrung innerhalb dieses Horizontes am besten aufgehoben sind. Da Merleau-Ponty nicht explizit über den Begriff impersonaler Subjektivität verfügt, er die Qualität des notwendigen Zeugen mit einem starken Begriff von transparenter Konstitution verknüpft und hier letztlich implizit gegen die tradierten Spiritualismen seiner Zeit anschreibt, ist das so nahe liegende wie konventionelle Konzept die Vorstellung Gottes. Hier enden die Möglichkeiten redlicher Phänomenologie vielleicht schon deshalb, weil die Vorstellung Gottes zu jenen Vorstellungen gehört, die die ansonsten so fraglose Implikation moderner Philosophie, dass wir nicht erkennen können, wovon wir keinen Begriff haben, wenigstens fragwürdig werden lässt. Denn welcher Gott, der den Namen verdient, wäre schon so kleinlich einem Begriff zu genügen. Was Merleau-Ponty meint, wenn er Gott sagt, lässt sich aus den wenigen Stellen in Die Phänomenologie der Wahrnehmung nicht im Einzelnen ermitteln. Die folgende Argumentation dafür, warum wir die letzte Subjektivität nicht Gott nennen können, gibt aber zumindest einen Anhaltspunkt. Zunächst müssen wir die uninteressante, weil lediglich einen moralistischen Fehlschluss evozierende Lesart der obigen Zeilen in Erwägung ziehen. Sie besagt, dass wir eine letzte Subjektivität nicht Gott nennen können, einfach weil Gott in der abrahamitischen Tradition zumeist eine absolut transzendente Instanz bezeichnet, deren

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Subjektivität sich ewiglich entzieht. Das Gedankenspiel, das MerleauPonty anleitet, trägt dieser tradierten Intuition zwar schlussendlich Rechnung, nicht aber ohne zuvor im Modus des Versuchs zu ermitteln, ob es einen Grund geben mag, der nicht allein im Begriff Gottes, sondern schon in der Beziehung des Ich zu jener Subjektivität liegt, die wir nicht Gott nennen können. Der vermeintlich logische Grund, der sich dabei zu erkennen gibt, zeigt aber kein prinzipielles, sondern lediglich ein empirisches Unvermögen an: Die Unmöglichkeit, einen grundlegenden Wandel in der Selbsterfahrung zu antizipieren. In der Figur, gegen die sich Merleau-Ponty dabei sträubt, entdeckt sich das Ich als eine notwendige Redundanz. »Entdeckt mir die Reflexion mich selbst als unendliches Subjekt, so bin ich genötigt, zumindest den Schein der Unwissenheit anzuerkennen, in der ich mich dieser Entdeckung zuvor bezüglich dieses Ich befand, das mehr noch Ich ist als ich selbst. Doch wußte ich davon, wird man sagen, sofern ich den Anderen wie mich selbst schon wahrnahm und diese Wahrnehmung eben nur möglich ist auf Grund jenes Subjektes. Doch wußte ich schon davon, so waren und sind alle philosophischen Werke überflüssig.« (PhW, 410)

Hier ist zunächst ein grundlegendes Ärgernis des reflexiven Denkens angezeigt, das sich seines eigenen Ursprungs versichern will. Ahnte das reflektierende Ich auch seine Bedingtheit, jede Anstrengung käme immer schon zu spät, um auch nur einen Schatten seines Ursprungs zu erhaschen. Ahnte das bewegte Ich, dass es stets schon Abglanz einer umfassenden Anmut ist, jede Reflexion machte schon die Aussicht zunichte, an ihr teilzuhaben. Erst wenn sich die Reflexion an sich selbst aufheben würde, könnte die Vergeblichkeit jener unerreichbaren Natürlichkeit weichen. Und so findet sich erst, lässt Kleist Herrn C. im Marionettentheater schließen, »wenn die Erkenntniß gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am Reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.« (Kleist 1993, 345) Die bloße Vorstellung einer existenziellen Dialektik, in der sich das bewegte, personale Ich als Abschattung einer ursprünglichen Subjektivität entdeckte, in der es, wie das Du, nur als intimer Gegenstand auftritt, der sich, mit Sartre gesprochen, seine Spontaneität lediglich von einem unpersönlichen Bewusstsein leiht, in dem es sich immer schon vollzieht, ist letztlich nicht möglich. Ihr scheinbarer 303 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

Vollzug ist nur Ausdruck der Spannung, die sich aus der logischen Dringlichkeit ihres Scheiterns ergibt. Versagt mir die Selbstreferenzialität doch die Möglichkeit, mir darüber Rechenschaft abzulegen, dass ich mich aktuell als etwas anderes als mich selbst erfahren könnte. Die Antizipation dieser widersprüchlichen Möglichkeit müsste bereits mit der Antizipation einer grundlegenden Selbsttäuschung einhergehen und damit bereits die Realisierung jener Wandlung bedeuten. Denn die Entdeckung jener Täuschung leitete schon ihre Auflösung ein. Behauptete man überdies, diese Selbsttäuschung bestehe in dem Verkennen der eigenen allmächtigen Natur, so hätte die Phänomenologie nichts mehr beizutragen. Die Frage, ob Gott sich in jedem Ich selbst vergessen könne, bleibt Gegenstand einer Theologie. Aber auch wenn eine Spekulation darüber, ob Gott sein eigenes Wesen wirklich vergessen könnte, keine phänomenologische Aufgabe sein kann – zumindest keine, die hier zu rechtfertigen wäre –, so ist aber sehr wohl die Frage, welche Struktur des Erlebens die Antizipation der großen Enthüllung des Ich verunmöglicht. »In der Tat aber bedarf die Wahrheit der Enthüllung. So war es denn dieses endliche und unwissende Ich, das in sich selber Gott erkannte, indessen Gott, auf der anderen Seite der Phänomene, immer schon sich selbst dachte. Jener Schatten also vollbrachte es, daß dieses eitle Licht dazu kam, erst wirklich etwas zu erhellen; und so wird es endgültig unmöglich, den Schatten im Licht aufgehoben zu denken, ich kann nicht mich erkennen als Gott, ohne in der Hypothese zu negieren, was ich in der These behaupte.« (PhW, 410 f.)

In der These »Ich entdecke mich als Gott« ist es die Hypothese der Identität des Ich, die im Vollzug der These selbst prekär wird. Im Modus des Vollzugs bliebe nur die Wahl, die Vorstellung Gottes, die Vorstellung meines Selbst oder beide abzulegen. In der Dialektik des Selbst, die sich hier abzeichnet, inszeniert sich das Ich als »Wittgensteins Leiter«: Entdeckte sich das reflektierende Ich als Inszenierung innerhalb der Subjektivtität Gottes, so durchschaute es sich zugleich als die Leiter, die es wegzuwerfen gilt, wenn man auf ihr hinaufgestiegen ist. 25 Die Aussicht, dass ich bei der phänomenologischen »Meine Sätze erläutern sich dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.« (Tractatus 6.54) Nicht nur das Bild der Leiter, auch die paradoxe Dringlichkeit der Aufgabe verweist auf Johannes Climacus, für den sich der Zugang zur Wahrheit Got-

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Erforschung von Subjektivität etwas Neues entdecke, ist insofern singulär, als die Entdeckung selbst eben alles änderte. Wenn man an den Punkt gelangt, an dem das zu Erforschende distanzlos wird, kann sich ein Fortschritt der Forschung nur noch aus der eigenen Wandlung und deren Kultivierung ergeben. 26 Merleau-Pontys Versuch, den Solipsismus in Gott zu überwinden, scheitert gleichermaßen an seinem Begriff von Subjektivität, wie an dem Begriff Gottes, insofern das eine von vornherein das ganz andere des Anderen ist. Während sich die menschliche Subjektivität perspektivisch auf die Phänomene hin aufgespannt findet, verharrt Gott in seinem umfassenden, objektiven Denken jenseits von ihnen. Gottes Perspektivlosigkeit macht es unmöglich, meine Subjektivität in seiner aufgehoben zu denken. Für Merleau-Ponty mag es Menschen mit Gotteserfahrungen geben, aber es gibt keinen Gott mit Menscherfahrungen. Die umfassende Objektivität Gottes zwingt mich letztlich stets in ein fernes vis-á-vis. Dabei ist es kaum zu entscheiden, ob Merleau-Ponty hier Gott bewahren oder seine Einsamkeit verhindern möchte. »In Gott vermöchte ich den Anderen wie mich selbst zu lieben, doch nur, wenn meine Liebe zu Gott nicht mir selbst entstammt, vielmehr in Wahrheit, mit Spinoza zu reden, die Liebe Gottes selber ist, mit der er durch mich hindurch sich selber liebt. So gäbe es endlich nirgends Liebe zum Anderen, noch den Anderen selbst, sondern nur eine einzige Selbstliebe, die über

tes nicht in Form einer Veränderung, sondern einer Wiedergeburt ergibt. Vgl. Kierkegaard (1988), 21 f. Gleichwohl ist das Motiv der Wandlung zentrales Element des menschlichen Verhältnisses zu Gott: »Er soll nicht den Ort finden, an dem das Gesuchte ist, denn dieses ist nahe bei ihm, er soll nicht den Ort finden, wo Gott ist, er soll nicht dahin streben, denn Gott ist nahe bei ihm, ganz nahe, überall nahe, in jedem Augenblick allenthalben gegenwärtig, sondern er soll verändert werden, auf daß er selbst der Ort werde, wo Gott in Wahrheit ist.« Kierkegaard (1991), 189. Vgl auch Meister Eckharts Variation auf Augustinus: »got ist der sêle nœher dan si ir selber sî.« Meister Eckhart (1993), 119. 26 Hierin lässt sich ein starkes Argument für die Entwicklung einer »transformativen Phänomenologie« sehen, wie sie von Rolf Elberfeld ins Spiel gebracht wurde. Vgl. Elberfeld (2004), 381–383 und (2017). Wenn Phänomenologie zu betreiben bedeutet, »in einer gewissen Parallelität zur Kunst, Wirklichkeitsvollzüge zu entdecken, zu gestalten und zu realisieren und nicht nur zu objektivieren« Elberfeld (2004), 382, kann die Frage nach Selbstbewusstsein nicht ohne das Wagnis kultiviert werden, das eigene Selbst je aufs Spiel zu setzen. Die phänomenologische Auseinandersetzung mit der wundersamen Impersonalität ursubjektiven Erlebens kann sich nicht in der behaglichen Geste fortschreitender Annäherung erschöpfen.

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unser Leben hinaus sich mit sich selbst vereinigte, uns somit in keiner Weise beträfe und uns letztlich unzugänglich bliebe.« (PhW, 411)

Von woher sich letztlich die Dringlichkeit ergibt, dass sich die Liebe Gottes über unser Leben hinaus und eben nicht auch, mit Spinoza zu reden, durch dieses hindurch mit sich selbst vereinigt, lässt MerleauPonty hier offen. Die auch für Gott unantastbare Individualität des einzelnen Lebens, die sich an der Perspektivität des wahrnehmenden Leibes abzeichnet, scheint aber eigentümlicherweise einer dezidiert atheistischen Intuition Rechnung zu tragen, wie sie etwa Ronald de Sousa formuliert: »For God’s objectivity precludes God’s omniscience: if there are perspectival truths, then each of us knows something that God cannot know. In my case the piece of esotery which thus disproves the existence of an omniscient God is that I am Ronnie.« (de Sousa 1990, 147)

Wenn ich mich stets schon in Gott kennen würde, müsste Gott sich stets schon als mich kennen. Die Intimität eigener Individualität konterkarierte aber die Allmacht Gottes, die sich die Innigkeit eines personalen Selbstbewusstseins nicht zugestehen kann. So bleibt Merleau-Ponty auf den Solipsismus des notwendigen Zeugen zurückgeworfen, der auch in Gott nicht aufzuheben ist. Auf dem kurzen Weg von dem Feld des notwendigen Zeugen zu Gott und wieder zurück verwischt Merleau-Ponty allerdings das eigentliche Problem. Dass sich das phänomenologische Datum des notwendigen Zeugen nicht in der Allmacht eines Gottes überwinden lässt, macht das Problem dieses eigentümlichen Solipsismus nicht obsolet, sondern konturiert es vielmehr. Im Folgenden wird es Merleau-Ponty aber nicht mehr gelten lassen, sondern zugunsten eines behaglicheren Problems übergehen, das besagt: Wie muss das Subjekt verfasst sein, damit mir der Andere wirklich gegeben sein kann? »Das zentrale Phänomen, in dem in eins meine Subjektivität und meine Transzendenz auf den Anderen hin ihre Gründung finden, ist dies, daß ich mir selbst gegeben bin. Ich bin gegeben – das besagt, je schon finde ich mich situiert und engagiert in einer physischen und sozialen Welt […].« (PhW, 412)

Die stete Ambivalenz von Einsamkeit und Kommunikation, die die menschliche Existenz bestimmt (vgl. PhW, § 49), ergibt sich dadurch, dass »ich mir selbst gegeben bin«, d. h. mich immer schon am Werk befinde. Diese Verdopplung des Selbst ist in eins Bedingung und Re306 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

sultat der engagierten Stellungnahme, in die mich der Reflexionsreflex in der Welt zwingt. Aber diese Leistung stand nie eigentlich in Frage. Ebenso wenig wie die Leistung intentionaler Gegenstandskonstitution. Es war ihr vorreflexiver Grund, nach dem Merleau-Ponty zu fragen begann und dessen eigentümliche Unverfügbarkeit keine Antwort, sondern die Aufgabe des Fragens motivierte. Jenseits dieses Grundes lassen sich Selbst- und Gegenstandskonstitution nur bestimmen als notwendig nützliche Verkürzungen einer »Erfahrungsentfaltung […] die ins Unendliche ginge«. (PhW, 416) Der Preis gegenständlicher Orientierung ist dann ein exklusives Verständnis von Wahrnehmung als einer stets gewaltsamen Vollendung, nicht einer Öffnung von Welt. »Um diesen Preis nur gibt es für uns Dinge und Andere, nicht auf Grund einer Illusion, sondern auf Grund eines gewaltsamen Aktes, der eben die Wahrnehmung ist.« (PhW, 414)

Dies ist ein Verständnis, das die Einsichten in die fundamentale Offenheit des phänomenalen und transzendentalen Feldes und der impersonalen Subjektivität, die sich dort ankündigte, konterkariert. Letztlich möchte Merleau-Ponty das Feld des notwendigen Zeugen als erzwungenes Derivat des engagierten Subjektes missverstehen, das von diesem aber längst vorausgesetzt ist. Dieses Feld zeigt sich nämlich gerade nicht als uninteressierter Beobachter, dem das eigene und das andere Ich zu einem Gegenstand werden, so dass sich das eine oder andere »beobachtet fühlt wie ein Insekt«. (PhW, 414) Es ist lediglich die unhintergehbare Dimension des transzendentalen Feldes, das in so vorreflexiver wie impersonaler Persistenz jedem Engagement und seiner intersubjektiven Entfaltung vorgängig geöffnet ist. So liegt Merleau-Ponty ganz richtig, wenn er sagt, dass kein Engagement diese Dimension erreichen kann. »Strenge Wahrheit könnte dem Solipsismus nur eignen, wenn es jemand gelänge, stillschweigend seine eigene Existenz zu konstatieren, ohne irgendetwas zu sein oder irgendetwas zu tun; doch das ist unmöglich, denn Existieren heißt Zur-Welt-sein. (PhW, 413)

Aber wer würde auch erwarten, dass das Feld, auf dem sich das ekstatische Selbst entfaltet, von diesem Selbst entdeckt werden könnte? Die eigene Existenz kennt keine stillschweigende Konstatierung. Sie ist überhaupt nur meine Existenz, weil ich und der andere sie stets ausdrücklich in Bewegung halten. So verlangt Merlau-Ponty zu307 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Aspekte einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Merleau-Ponty

gleich zuviel und zuwenig. Er verlangt von dem Selbst, das er wesentlich als ekstatisches Engagement bestimmt, den Ursprung seines Engagements dadurch zu entdecken, dass es das Engagiert-sein lässt. Zugleich versäumt er aber, der dialektisch anmutenden Selbstaufgabe, die in dieser Anforderung liegt, einen positiven Sinn zu geben. Am »Ur-sprung der Transzendenzen« (PhW, 417), im ambivalenten Feld zeitlicher Entfaltung selbst, das Merleau-Ponty beiläufig, aber wohl nicht zufällig, als »transzendentales Geschehen« (PhW, 463) angesprochen hatte, bleibt jenes Bewusst-sein, »dessen ganzes Wesen, wie das des Lichtes, darin aufgeht, sehen zu lassen.« (PhW, 484) Die impersonale Subjektivität dieses Lichtes, die sich stets schon stillschweigend bekundet, muss aber durch die kategorialen Raster einer Philosophie fallen, für die letztlich das Soziale die Dimension meines Seins ist (vgl. PhW, 414) und die in »der natürlichen und der sozialen Welt […] das wahre Transzendentale entdeckt«. (PhW, 417) So sieht Merleau-Ponty hier nur einen Solipsismus am Werk, der auch in Gott nicht aufzuheben ist, und das impersonale Selbst, notwendiger Zeuge aller wahren Kommunikation, wird zum Derivat einer Existenz, die stets schon »eine Gemeinschaft sprechender Menschen« voraussetzt. (PhW, 412) Die bewusstseinsphilosophische Intuition reicht somit nicht zu einem tieferen Verständnis oder der Lösung des Rätsels dieses »erlebten Solipsismus«, sondern schlägt in die Frage um, wie die offenkundige Situation zu verstehen sei, dass die Bewusstseine »die Komödie eines Solipsismus zu vielen« (ebd.) aufführen. Der Vorhang zu dieser Komödie hebt sich für Merleau-Ponty zwar in dem Augenblick, »in dem sich mir mein transzendentales Feld eröffnete, in dem ich geboren wurde als Sehen und Wissen, in dem ich in die Welt geworfen wurde«. (Ebd.) Aber auch wenn seine sensiblen Analysen zur Zeitlichkeit von Subjektivität es zu berücksichtigen erlaubten, hält er den impersonalen Schwung des Wurfes und die personale Struktur des Geworfenen nicht auseinander. Sobald die Subjektivität des phänomenalen und transzendentalen Feldes als Öffnung zu und Geworfenheit in eine Welt aufgefasst wird, die mit der Geburt entsteht, liegt am Grunde dieser Vorstellung die vage Idee einer creatio ex nihilo, die stets den resultativen und somit finiten Sinn von Subjektivität betont lassen muss. Mit der Wendung zur indischen Philosophie öffnen wir uns nicht nur einer Kultur, der diese Idee völlig fremd ist 27, sondern die 27

Vgl. Mall (2012), 51.

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Transzendentales Feld und transzendentales Geschehen

überdies eine so grundlegende Skepsis gegenüber einem Ideal personaler Identität und den entsprechenden Formen personaler Subjektivität ausgebildet hat, dass es fruchtbar sein wird zu sehen, zu welchen Differenzierungen eine entsprechende Philosophie Anlass gibt. Es wird dabei eine Vorstellung menschlichen Bewusstseins begegnen, die kaum pünktlicher bestimmt werden kann als durch MerleauPontys beiläufige Charakterisierung des nächsten Selbst: Sein ganzes Wesen geht, wie das des Lichtes, darin auf, sehen zu lassen. Die Unverfügbarkeit dieses Bewusstseins, das Ärgernis seiner stillschweigenden Konstatierung ist der indischen Philosophie aber nicht Anlass, die Suche nach diesem Selbst aufzugeben und sich mit dem gegebenen Selbst und seiner Kultivierung zu begnügen. Vielmehr ist diese intime Unverfügbarkeit sowohl anerkannte Voraussetzung, als auch soteriologisches Motiv dafür, das Eigenwesen (svarūpa) von Bewusstsein (caitanya) nicht nur begrifflich als selbstleuchtend (svayaṃprakāśa) zu bestimmen, sondern als solches zur Erfahrung zu bringen.

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Kapitel IV 6. Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

And now for something completely different. M. Python

Nicht alles kann jedem zu jeder Zeit fragwürdig werden. Entsprechende Räume müssen erst geschaffen und kultiviert sein. Die leitende Hinsicht, unter der Elemente indischer Philosophie im Folgenden maßgeblich werden sollen, ist ihre Kultivierung entschiedener Selbsterfahrung, die auf einer radikalen Fragwürdigkeit des menschlichen Selbst beruht. Während etwa das gnō´thi seautón des delphischen Tempels auf rationale Selbstbesinnung und eine entsprechende Einsichtsfähigkeit des Menschen in die unvollkommene und endliche Verfassung des Gattungswesen »Mensch« abzielt 1, verbinden die Upaniṣaden mit dem ›Erlangen des Selbst‹ (ātmalābha, vgl. BĀU, I,4,7) neben der Anerkennung zugleich die Fragwürdigkeit dieser Verfassung und eine entsprechend Einsichtsfähigkeit in das Eigenwesen (svarūpa) des Selbst (ātman). Bereits in den Upaniṣaden ist dieser Fragwürdigkeit eine klare Richtung gegeben: Einerseits wird das lebendige Selbst (jīva bzw. jīvātman) von einem höchsten Selbst (ātman bzw. paramātman) unterschieden und so Raum dafür geschaffen, die Fragwürdigkeit zu einem Infragestellen zu machen. Andererseits zeigt sich dieses Selbst als das sine qua non von Erkenntnis und Erfahrung überhaupt und so als Höchstes und Nächstes zugleich. »Ein Weiser wohl inwendig sah den Ātman In sich gesenkt den Blick, das Ew’ge suchend. […] Durch den man sieht, schmeckt, riecht, hört und Berührungen gegenseitig fühlt. Durch ihn allein erkennt einer, – Vgl. Tränkle (1985), Arapura (1986), 109 f. Für eine andere Lesart siehe etwa Wyller (2003), 177–181.

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

was fragt ihr nach dem übrigen! […] Wer ihn, dem alles ist Honig, als Selbst, als Seele nah sich weiß, Herrn des Vergangenen und Künft’gen Der ängstigt sich vor keinem mehr.« (KU, II.4.1–5) 2

Die Ambivalenz dieser (transzendentalen) Nähe des Selbst gewinnt hiernach methodischen Gehalt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich das sine qua non von Erkenntnis nicht nach Maßgabe der Erkenntnisformen wird erkennen lassen, die es ermöglicht. »Nicht sehen kannst du den Seher des Sehens, nicht hören kannst du den Hörer des Hörens, nicht verstehen kannst du den Versteher des Verstehens, nicht erkennen kannst du den Erkenner des Erkennens.« (BĀU, III.4.2)

Es bedarf anderer philosophischer Anstrengung, des Selbst inne zu werden. Einer so intimen Anstrengung, dass sie ihren Ausdruck nur in der paradoxen Wendung einer Erkenntnis gewinnt, deren Bedingung das Nicht-Erkennen ist. »Nur wer es nicht erkennt, kennt es. Wer es erkennt, der weiß es nicht, – Nicht erkannt vom Erkennenden, Erkannt vom Nicht-Erkennenden!« (KeU, II.3)

Der geglückten Realisation dieses nächsten Selbst schreiben schon die Upaniṣaden eine derart befreiende Kraft zu, dass die religiös motivierten Soteriologien dagegen wie bloßer Trost wirken müssen. Dem Advaita-Vedānta Śaṅkaras gilt diese Befreiung (mokṣa) als Vollzug eines Wissens (jñāna bzw. vidyā), das sich mit der Erfahrung des Selbst (ātmānubhava) und der damit einhergehenden Einsicht in den spielerisch-illusionären Charakter der personalen und weltlichen Wirklichkeit einstellt. Dieser Charakter zeigt sich auf individueller Ich werde in der Regel aus der etwas in die Jahre gekommenen Übersetzung der Upaniṣaden durch Deussen zitieren und da, wo kantianische Philosopheme oder ein schopenhauerischer Duktus das Verständnis trüben, alternative Übersetzungen heranziehen. Slaje (2009) übersetzt diese Stelle etwa so: »Da war ein Weiser, der – Unsterblichkeit ersehnend – seinen / Blick umwandte / Und innerlich sich selbst für sich selbst (pratyagātman) erschaute. / […] Derselbe ist’s, der Formen und Geschmack, / Geruch und Töne und das Wohlgefühl des Liebesakts / Erfährt. Wär’ hier denn jemand zu ergänzen? / […] Wer diesen Honigschlemmer aus der Nähe kennt, / Sich selbst (ātman) als das lebendige Subjekt (jīva), / Der Herr ist über das, was war und sein wird, / Vor dem zieht es sich nicht zurück.«

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Historisch-systematische Orientierung

Ebene als ein Unwissen (avidyā), das sich in der Manifestation des jīva, des bewegten personalen Selbst artikuliert. Im Zuge dieses Unwissens ist ātman natürlicherweise durch Beilegungen (upādhis) kognitiver, volitionaler und emotionaler Art überlagert. Ein Zustand, der unausgesetzt Garant für das vertraute Selbstverständnis ist, genießende, handelnde und erkennende Entität zu sein, die sich erinnernd und erwartend in einer objektiven Welt einrichtet. Die Selbsterfahrung des ātman verlangt dementsprechend eine fortschreitende Reduktion (neti neti, ›nicht dies, nicht dies‹) dieser Überlagerungen, die den begrifflichen Aufwand ihrer systematischen Identifikation voraussetzt. Ziel dieser Anstrengung ist die Einsicht, dass das Selbst je schon stiller Zeuge (sākṣin) des bewegten und unbeständigen Lebens ist und eine Dimension bildet, die dem Vedānta als höchster Frieden (śanti) gilt. Die Fragwürdigkeit des bewegten Selbst, die sich in dieser negierenden Reduktion Ausdruck verschafft, gewinnt ihre philosophische Prägnanz mithin dadurch, dass sie im Rahmen einer Kultur offenkundig wird, in der sie mit der Aussicht auf Befreiung verbunden ist. Soteriologie ist hier nicht Surrogat philosophischer Selbstbesinnung, sondern ihr Komplement, die entscheidende Kategorie die der Erfahrung, nicht die der Erbauung. Die mitunter bedrohliche Intimität, die das Infragestellen unserer vertrauten Selbstgewissheit begleiten dürfte, wird durch eine solche Soteriologie erst erträglich. Sie entlastet den fragenden Blick. Ein Blick, der sich im weiteren als ein phänomenologischer Blick erweisen wird und eine aufschlussreiche Variation auf die unverfügbare Nähe des Selbst und die Verfassung seiner impersonalen Subjektivität ermöglicht.

6.1 Historisch-systematische Orientierung Die Eigentümlichkeit dieses Blicks philosophisch anerkennen zu können, verlangt den Horizont abzustecken, in dem er sich bewegt. Es ist daher geboten, vorsichtig in medias res zu gehen und den Problemhorizont von Selbstbewusstsein und Selbsterfahrung innerhalb der orthodoxen indischen Philosophie des Advaita-Vedānta allmählich vorzubereiten. Zu diesem Zweck ist der strukturellen Erörterung eine historisch-systematische und eine methodische Orientierung voranzustellen.

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

6.1.1 Die Quellen des Advaita-Vedānta Als eines der sechs orthodoxen Darśanas (›Anschauungen‹, ›Ansichten‹) speist sich der Advaita-Vedānta Śaṅkaras aus einem Kanon von drei Schriften (prasthānatrayī), den Upaniṣaden, der Bhagavadgītā und den pffi Brahma-Sūtras. Die Upaniṣaden (upa, ›nahe‹/›bei‹ ; ni, ›nieder‹ ; sad, ›setzen‹) 3 bilden den jüngsten Teil des Veda (›Wissen‹). Auch wenn die genaue Bestimmung der einzelnen Schichten des Veda zuweilen ausgesprochen schwierig ist – handelt es sich doch um Kodifizierungen einer langen mündlichen Tradition –, lässt man sie traditionell den Samhitās, Brāhmanas und Āraṇyakas folgen. Sie bilden in einem zweifachen Sinne das Ende des Veda (vedānta; ānta, ›Ende‹). Sie gelten als Abschluss und Vollendung der vedischen Schriften. 4 Zu den zentralen Begriffen der upaniṣadischen Literatur gehört das Begriffspaar ātman und brahman. Wenn in den Texten der hymnischen Saṃhitās und in den Ritualenpund ffi Liedern der Brāhmanas und Āraṇyakas der Begriff brahman ( bṛh, ›wachsen‹, ›groß‹) auftaucht, so meint er zumeist die heiligen Hymnen und Opfergesänge selbst bzw. die göttliche Kraft, die ihnen ihre Wirkung verleiht. (Vgl. Campbell 1991, 240) 5 Zwar lässt sich bereits in den Hymnen- und Opfertexten ein Bestreben erkennen, die vielfältigen durch Opfer zu beeinflussenden Erscheinungen der Welt auf eine einzige Quelle zurückzuführen 6, allerdings vollzieht sich doch erst in den Upaniṣaden ein tief greifender Wandel dieser funktionalen Auffassung. Auch Diese Übersetzung, die in der Regel die Nähe zu einem Weisen anzeigen soll, in die sich ein Schüler beim Hören der Lehre begibt, ist ein später Konsens westlicher Gelehrter. Vgl. etwa Thieme (2005), 83. Śaṅkara versteht die Verbalwurzel sad hingegen im Sinne von ›zerstören‹ bzw. ›vermindern‹ und sieht in den Upaniṣaden das Mittel zur Tilgung des Unwissens, das die Illusion von Geburt und Tod erzeugt. vgl. Upad, I.1.26. Slaje schlägt im Anschluss an Falk, Vacek und Olivelle vor, Upaniṣad (ved. Upaniṣád) im Sinne von »(verborgener) Zusammenhang« zu verstehen – »stets geht es um die Erkenntnis von Zusammenhängen bzw. Übereinstimmungen zwischen (mikrokosmischen) Lebenskonstituenten des Menschen (adhyātman) und den (makrokosmischen) Mächten (adhidaivatam) außerhalb des menschlichen Einflussbereiches. Da die Entsprechungen nicht direkt zutage treten, gelten sie als »verborgen« und müssen bei einem Lehrer in Erfahrung gebracht werden.« Slaje (2009), 385. 4 Eine gute Zusammenfassung zu Begriff und Bedeutung der Upaniṣaden gibt Slaje (2009), 383–403. 5 Eine frühe Ausnahme ist vielleicht das Taittirīya-Brāhmaṇa, in dem brahman bereits als ein Urgrund auftaucht, in dem ātman ruht. 6 Vgl. Glasenapp (1948), 33 f. 3

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Historisch-systematische Orientierung

wenn es müßig wäre, aus den überreichen, zum Teil dunklen und heterogenen, oft in lebendigen Zwiegesprächen vorgetragenen Gedanken der Upaniṣaden ein einheitliches System philosophischer oder weltanschaulicher Natur ableiten zu wollen, so besteht eine tradierte, wenn auch gleichwohl nicht unbestrittene Einigkeit 7 darüber, dass ein gemeinsames Bestreben darin zu sehen ist, eine höchste absolute Wirklichkeit nicht nur spekulativ einzuholen, sondern einen Weg zu ihrer lebendigen Erfahrung zu weisen. Im Rahmen dieser Bemühungen wird »brahman« Name für jenen unpersönlichen, unwandelbaren Ur-Grund des Seins. Eine für den Vedānta entscheidende Wesensbestimmung (svarūpalakṣaṇa, ›Bestimmung der Eigengestalt‹) brahmans lautet sat-cit-ānanda. 8 Nach Maßgabe der drei darin enthaltenen Modi sat (›Sein‹), cit (›Bewusstsein‹) und ānanda (›Wonne‹, ›Seligkeit‹), die dabei als wesentlicher Ausdruck Brahmans, nicht als dessen additive Bestimmung gelten müssen 9, wird sich vor allem im Advaita-Vedānta eine ontologische und eine bewusstseinstheoretische Hinsicht in der Auseinandersetzung mit brahman erkennen lassen, die beide im Kontext einer umgreifenden soteriologischen Praxis stehen. Bereits in der Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad kommt im Zusammenhang mit der Bestimmung brahmans eine für den Advaita-Vedānta entscheidende Einsicht zum Ausdruck: Als im Zuge eines Opferfestes der König Janaka demjenigen der versammelten Brahmanen tausend mit Gold verzierte Kühe verspricht, der unter ihnen der Weiseste sei, weist Yājñavalkya unter lautstarkem Protest der übrigen Brahmanen seinen Schüler an, die Kühe sogleich aus dem Palast zu führen. In dem Wechselgespräch mit der Königstochter Gārgī über brahman, das darauf folgt, bestimmt Yājñavalkya das Unvergängliche (akṣaram) als das Sehende, das nicht gesehen werden kann, das Hörende, das nicht zu hören ist, das Denkende, das nicht gedacht werden kann, das Erkennende, das nicht erkannt wird (BĀU, III.8.11). Beeindruckt von dem spirituellen Disput, wünscht König Janaka den Weisen selbst zu befragen und fragt ihn nach diesem »Licht des Menschen«. Wenn die materiellen Lichtquellen ihrer Unbeständigkeit erliegen, die SonSlaje (2010) gibt etwa zu bedenken, dass die einflussreiche Übersetzung und Kommentierung der Upaniṣaden durch Deussen einem von Śaṅkara und seinem Vedānta inspirierten Verständnis einer den mannigfaltigen und vielschichtigen Ausführungen der Upaniṣaden zugrunde liegenden einheitlichen Lehre verpflichtet ist. 8 Vgl. BĀU, III.9.28. Ferner DdV, § 20–21. 9 Vgl. Deutsch (1973), 9 f., ferner Gupta (2012), 213. 7

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

ne untergegangen, das Feuer erloschen und die Sprache verstummt ist, »dann«, antwortet Yājñavalkya, »dient er sich selbst (ātman) als Licht« 10 (BĀU, IV.3.6). Auf die Frage: »Was ist das für ein Selbst?« antwortet er: »Es ist unter den Lebensorganen der aus Erkenntnis bestehende, in dem Herzen innerlich leuchtende Geist.« (BĀU, IV.3.7) 11 Gegen Ende des Gespräches, in dessen Verlauf er die Möglichkeit und Dringlichkeit der Erkenntnis des unvergänglichen brahman bespricht, begegnet zum ersten Mal in aller Deutlichkeit eine Einsicht, die in den großen Upaniṣaden in vielfältigen Variationen wiederholt werden wird und die die Grunddoktrin des AdvaitaVedānta darstellt, die Identität von ātman mit brahman. »Wahrlich dieses Selbst (ātman) ist Brahman, bestehend aus Erkenntnis, aus Manas, aus Leben, aus Auge, aus Ohr, bestehend aus Erde, aus Wasser, aus Wind, aus Äther, bestehend aus Feuer und nicht aus Feuer, aus Lust und nicht aus Lust, aus Zorn und nicht aus Zorn, aus Gerechtigkeit und nicht aus Gerechtigkeit, bestehend aus allem.« (BĀU, IV.4.5)

Etymologisch wird »ātman« klassischerweise auf atman (›Atem‹) zurückgeführt, dass sich eine Wurzel mit dem griechischen atmòs (›Dampf‹/›Atem‹) teilt und sich im altdeutschen ›Odem‹ wiederfindet. Darüber hinaus hat ātman im Sanskrit vorrangig selbstreferentielle Bedeutung: ›man selbst, selbst‹. Wohl nicht zuletzt die zentrale Stellung dieses Ausdrucks in den Upaniṣaden und dem ihnen nachfolgenden Vedānta hat dazu geführt, das Reflexivpronomen ›selbst‹ substantivierend zu übersetzen. Abgesehen davon, dass die »internationale Indologie […] in Imitierung des Sanskrit […] so ohne Not ein nominales ›Selbst‹ geschaffen« (Slaje 2009, 409) hat, gibt die unreflektierte Übersetzung als ›das Selbst‹ 12 oder ›die Seele‹ zu vielDer Sanskritausdruck für ›sein eigenes Licht‹ lautet hier svayaṃjyotis. Von dieser Stelle leiten sich die vedāntischen Auffassungen ab, Bewusstsein (cit, caitanya) als Selbstleuchten (svaprakāśatā) bzw. als selbstleuchtend (svayaṃprakāśa) zu bestimmen. Timalsina weist darauf hin, dass diese Stelle allein nicht hinreichend ist für die Vorstellung eines sich selbst manifestierenden Bewusstseins, denn hier wird allein der ›ātman‹, noch nicht ›cit‹ als selbstleuchtend aufgefasst. Diese Vorstellung entwickelt sich erst im Horizont der fortschreitenden Identifikation ātmans und brahmans und der Bestimmung brahmans als ›Bewusstsein‹ (cit, prajñāna, jñāna).Vgl. Timalsina (2009), 18. 11 Slaje (2009) übersetzt vorsichtiger: »Wer ist ›er selbst‹ ? – Er ist unter den Lebenskräften das erkennende (vijñānamaya) Subjekt (puruṣa), das innere Licht im Herzen.« 12 Ein Problem dieser Übersetzung ist bereits, dass das Sanskrit, auch wenn ein de10

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Historisch-systematische Orientierung

fältigen, vor allem substanzialististischen Missverständnisses Anlass. Die Einzigkeitspräsupposition der Kennzeichnung kann zwar auch in einem absoluten Sinne verstanden werden, wird aber oft als Hinweis auf die Vorstellung einer unsterblichen Einzelseele angesehen. Diese Bedeutung findet sich vor allem dort, wo ātman als Synonym zu prāṇa (›Atem‹, ›Hauch‹) gebraucht wird und im Sinne von Lebensund Individuationsprinzip auftritt. Insbesondere an dem Begriff des Selbst im Advaita-Vedānta geht diese Bestimmung, wie noch zu zeigen sein wird, jedoch fehl. Wie sich das Verhältnis zwischen dem wahren Selbst des Menschen und dem unbedingten Urgrund im Einzelnen bestimmen lässt, wird im Laufe der indischen Geistesgeschichte Gegenstand ungezählter Überlegungen werden. Der radikale Monismus 13 der Einheit von ātman und brahman wird sich spätestens ab seiner ersten zusammenhängenden, wenn auch im Prinzip unlesbarer Kodifizierung in den Brahma-Sūtras des Bādarāyaņa aus dem 2. oder 3. Jh. n. Chr. als eine maßgebliche Auffassung etablieren, die von Śaṅkara in seinem ausnehmend einflussreichen Kommentar (bhāṣya) zu einem eigenständigen System entwickelt wird. Zwischen 300 und 100 v. Chr. entstehen aber zunächst die großen Epen der indischen Kultur, das Mahābhārata und das Rāmāyaṇa. Innerhalb des Mahābhārata findet sich vor dem dramatischen Hintergrund des Kampfes zwischen den zwei verwandten und verfeindemonstrativer Charakter durch Betonung ausgedrückt werden kann, im Prinzip eine artikellose Sprache ist. Die scheinbare Natürlichkeit der Hypostasierung von Personalpronomina in der Moderne, wird etwa von Taylor in Bezug auf die griechische Philosophie kritisiert. »The Greeks were notoriously capable of formulating the injunction ›gnothi seauton‹ – ›knowing thyself‹ – but they didn’t normally speak of the human agent as ›ho autos‹.« Taylor (1989), 113. Während sich, wie Stanzel (1968, 216 f.) zeigt, ein erster philosophischer Ich-Begriff, etwa als ho ego, spätestens bei Plotin findet, ist diese Form der Hypostasierung in der Grammatik des Sanskrit ausgeschlossen. Schon für Überlegungen, wie sie Snell (1968, 22 f.) hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung im Griechischen anstellt, an deren Möglichkeit der bestimmte Artikel und die entsprechende Abstraktion von Adjektiven und Verbalen auf Allgemeines eine maßgebliche Rolle spielen, muss diese Eigenheit berücksichtigt werden. Auch für unsere Frage nach Selbstbewusstsein müssen wir die durch die klassischen Übersetzungen oft nahegelegte Hypostasierung des ātman kritisch im Blick behalten. In Ermanglung glücklicher Alternativen werde ich mich der Übersetzung mit »Selbst« aber anschließend, den Ausdruck ātman, wo es ohne Schaden des Stils möglich ist, unübersetzt lassen. 13 Die übliche Paraphrasierung des Advaita (›Nicht-Zweiheit‹) als Monismus lässt sich erst im Fortgang der Arbeit relativieren.

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

ten Königsfamilien Kauravas und Pandavas ein 700 Strophen umfassendes philosophisches Gedicht, das zu den wichtigsten und gewichtigsten Texten der indischen Philosophie zu zählen ist, die Bhagavadgītā. 14 Das Wechselgespräch zwischen dem großen Helden des Pāṇḍava-Geschlechts Arjuna und dem Gott Kṛṣṇa entwickelt sich inmitten des Feldes (kṣetre) 15, auf dem sich die feindlichen Armeen für eine Schlacht gegenübertreten, aus deren Verlauf beide Seiten mit großen Verlusten und die Pandavas siegreich hervorgehen werden. Arjuna ist, da er im Heer des Feindes Verwandte und Freunde erblickt, in so großen Zwiespalt geraten, dass er den Kampf verweigern will. Diesen Moment tiefer innerer Zerrüttung nutzt Kṛṣṇa, um ihm die Unterscheidung zwischen dem Vergänglichen und dem Unvergänglichen, sowie die Wege zur Realisation der ewigen Wirklichkeit und der damit verbundenen Befreiung darzulegen. Die Gītā, die klassischerweise nicht zur Offenbarung (śruti), sondern zur kanonischen Tradition (smṛti, ›Erinnerung‹) gezählt wird, gilt als dasjenige Werk, in dem die drei maßgeblichen Wege philosophischer Orientierung ihren ersten Ausdruck finden: der Weg der Erkenntnis (jñānamārga), der Weg der liebenden Hingabe (bhaktimārga) und der Weg der selbstlosen Tat (karmamārga). Auch wenn vor allem das letzte Kapitel (BhG, XVIII, 54; 55; 62; 65) hinsichtlich der Betonung der bhakti eine deutliche Sprache spricht, so bedeutet dies nicht, das damit eine Herabsetzung des jñāna- und karmamārga einhergeht. 16 Śaṅkaras Kommentar zur Gītā etwa lässt keinen Zweifel, dass man in ihr auch Auch wenn einige Autoren wie Bharati (1970) der Auffassung sind, dass die heutige Popularität der Gītā ein Produkt des »pizza effects« sei, also erst nach der emphatischen Aneignung durch westliche Autoren, als zentrales Werk reimportiert wurde, so besagt das nichts über ihre Bedeutung für die Entwicklung der indischen Philosophie im Allgemeinen und des Vedānta im Besonderen. Schon die umfassenden Kommentare Śaṅkaras und Rāmānujas sind Beweis für ihre zentrale Stellung. Vgl. Gupta (2012), 277. 15 Der Begriff kṣetre spielt eine eigentümliche Rolle in der Gītā. Während er im ersten Kapitel das eigentliche Schlachtfeld bzw. das Schlachtfeld des Rechtes oder der Tugend (dharmakṣetre) meint, wird er im 13. Kapitel zur maßgeblichen Differenzierung zwischen den unbeständigen Objekten der Erfahrung und dem beständigen, nicht objektivierbaren Subjekt herangezogen. Kṣetre bezeichnet den Körper (BhG, XIII.2) sowie den Ich-Sinn, Verstand und Vernunft (BhG, XIII.5), die unsteten Objekte der inneren Wahrnehmung, Affekte, Geistestätigkeit usw. (BhG, XIII.6) und ist zu unterscheiden vom kṣetrejña, dem Kenner des Feldes, der unwandelbar das Feld erleuchtet. (BhG, XIII.1.33) 16 Vgl. Guptas (2012, 145) Vorschlag die drei Wege als komplementäre, nicht ausschließende Alternativen zu verstehen. 14

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Historisch-systematische Orientierung

einen entschiedenen Vorrang des jñānamārga lesen kann, wie ihn die Vedānta-Schule seit Bādarāyaṇa vertritt. Die Brahma-Sūtras, auch Vedānta-Sūtras 17 genannt, widmen sich dem Versuch einer systematischen Interpretation der Upaniṣaden. Im Mittelpunkt dieser vier Kapitel umfassenden Bemühung steht dabei zum einen die Erforschung brahmans sowie das Verhältnis des Absoluten zur Erscheinungswelt (jagat) und den Einzelseelen (jīva). Zum anderen finden sich Verteidigungen gegen konkurrierende orthodoxe und heterodoxe Systeme, wie das Sāṅkhya und den Vijñānavāda, sowie Ausführungen zu den Mitteln und Früchten der unmittelbaren Realisation des Absoluten. Das philosophische Gewicht und die historische Bedeutsamkeit der Brahma-Sūtras ergibt sich aber nicht nur aus einer systematischen Pionierleistung, sondern auch aus dem Umstand, das seine Systematik eine ausgesprochen flexible Form hat. Die einzelnen Sūtras sind ihrer grammatischen Form nach Fragment, eine entsprechende Lektüre nur im Zusammenhang mündlicher Unterweisung oder am Leitfaden eines Kommentars eigentlich fruchtbar. 18 Die Zahl solcher Kommentare ist Legion und es ist hinsichtlich der meisten Fragen müßig, entscheiden zu wollen, welche Kommentare einen ursprünglichen Sinn der Sūtras treffen. Dass ein solcher Sinn in einer als kohärent gedachten Systematik überhaupt zu gewinnen ist, darf schon deshalb bezweifelt werden, Vgl. Gambhirananda (1983). Neben dieser Ausgabe orientiere ich mich vor allem an der Übertragung des Brahmasūtrabhāṣya (BSBh) von Thibaut (1992 u. 1992b). Zitiert wird im Folgenden aus der deutschen Übersetzung von Deussen. Wird ein sūtra der Brahmasūtras zitiert, erscheinen BS und die Stellenangabe, für Zitate aus dem entsprechenden Kommentar Śaṅkaras erscheinen BSBh und die Seitenzahl bei Deussen (1887). 18 Die Sūtras (›Kette‹, ›Faden‹) dienten der Unterstützung der Aneignung und Verinnerlichung der durch den Lehrer mündlich vermittelten Zusammenhänge. Da sie ohne einen Lehrer zumeist nur äußerst mühselig, in einigen Fällen überhaupt nicht zugänglich sind und es offenbar Bedarf an einer systematischen Interpretation ihrer Inhalte gab, entstand die reiche Kultur einer Kommentarliteratur (bhāṣya od. kārikā). Diese Kommentare erschöpfen sich jedoch nicht in Erklärungsversuchen des ursprünglichen Textes. Wie die klassischen Kommentare der chinesischen Literatur sind auch die bhāṣya »nicht Texte, die einen nachgeordneten Rang besitzen und bloß epigonenhaft den Ausgangstext nachvollziehen.« Elberfeld (2006), 26. Im Rahmen ihrer strengen äußeren und inneren Form, die eine mitunter lebendige dialogische Situation zwischen Proponent und Opponent evoziert, entwickelt sich die hermeneutische Kraft einzelner Kommentare nicht selten in eine eigenständige Tradition und von dort in Sub- und Subtrakommentare. Zu den strukturellen Merkmalen von SanskritKommentaren siehe Slaje (2007). 17

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

weil für Bādarāyaṇa, wie für alle orthodoxen Philosophen, der Veda eine unumstößliche, ewige Wahrheit kodifiziert und damit alle – widersprüchlichen – Aussagen der Śruti gleichermaßen Geltung haben. So ist die erste Einsicht, die im Zuge der Brahmanforschung (brahmajijñāsā) zum Ausdruck kommt, dass brahman als Ursprung (janmādi) der Welt zu gelten hat (BS, I.1.2), zugleich aber mit ihr identisch ist (ananyatvam, »Nicht-Unterschied«, BS, II.1.14). Dem dann wenigsten fragwürdigen, durch die Upaniṣaden vielfach zum Ausdruck gebrachten Umstand, dass brahman unveränderlich (avikārin) ist, die Welt hingegen stetem Wandel unterliegt, tragen die metaphysischen Ausführungen Bādarāyaṇas kaum Rechnung. Es finden sich aber Ansätze zu einer Erklärung, die wir weiter unten bei Śaṅkara als satkāryavāda bzw. vivartavāda antreffen werden. Die leitende Vorstellung ist hier, dass die Wirkung stets in ihrer Ursache enthalten und mit dieser wesensgleich ist. An der Weise, wie das Verhältnis der Ungeschiedenheit von Ursache und Wirkung, brahman und jagat gedacht wird, beginnt das Element an Kontur zu gewinnen, das den Vedānta zum Advaita-Vedānta werden lässt. Solche Kommentatoren, die sich auf der dualistischen Grundlage des Sāṅkhya oder entlang einer theistischen Intuition bewegen, wie etwa Rāmānuja, bestimmen das Verhältnis von brahman zur Welt als eine reale Entfaltung (pariṇāma) brahmans. Das vielfach bemühte Bild ist hier das Verhältnis einer materiellen Substanz, etwa Ton oder Gold, zu den entsprechenden aus ihm gefertigten Artefakten, wie einem Krug oder Armreif. Schon im Kommentar Śaṅkaras zu den Brahma-Sūtras wird das Verhältnis von brahman und Welt, von Einheit und Mannigfaltigkeit, hingegen als ein Verhältnis der Täuschung gefasst. Das entsprechende Bild ist hier nicht das einer Substanz und ihrer materiellen Gestalt, sondern einer Sinnestäuschung. So, wie man das Perlmutt einer Muschel fälschlicherweise für Silber, einen Stock auf schwach belichtetem Weg für eine Schlange halten mag, so ist die Welt und das ständige Engagement in sie eine falsche Auffassung, die von Śaṅkara auf ein eigentümliches Unwissen (avidyā) zurückgeführt wird, das dazu führt, brahman derart zu verdinglichen, dass es zu einer falschen Übertragung (adhyāsa bzw. adhyāropa) kommt. In metaphysischer Hinsicht wird diese Täuschung als māyā angesprochen und für das Trugbild verantwortlich gemacht, das man »Welt« (jagat od. prapañca) nennt. Brahman ist nach dieser Auffassung keinerlei Veränderung unterworfen. Aufgrund einer letztlich als spielerischen Geste (līlā, BS, II.1.33) gedachten Bewegung er320 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Historisch-systematische Orientierung

scheint sich brahman als vielfältige Gestalt von Einzelseelen, die einer Welt angehören. Es bleibt sich dabei aber auf eine Weise gleich, dass auch die Einzelseelen in keiner Hinsicht von ihm verschieden sind, sondern nur aufgrund von avidyā/māyā als jīva, d. h. individuelles Bewusstsein erscheinen. Im jīva ist sich brahman stets als ātman gegenwärtig und die großen Worte (mahāvākyāni) der Upaniṣaden, wie tat tvam asi (›so bist du‹, ChU, VI.8.7), sind dann nicht Ausdruck einer besonderen Erfahrung des jīva, sondern Selbstentäußerung eines unleugbaren Zustandes: ekam evādvitīyam (›eines ohne ein zweites‹, ChU, VI.2.1) Als Hauptdoktrin des Advaita-Vedānta gilt demnach die Identität bzw. vielmehr die Nicht-Verschiedenheit (ananyatvam, abheda) 19 von ātman und brahman. Das philosophische System dieser Nicht-Zweiheit (advaita) findet in den Kommentaren und selbstständigen Schriften Śaṅkaras zwar seine populärste und wirkmächtigste Ausprägung, ein maßgeblicher Vorläufer, Gauḍapāda, soll hier aber zuvor Erwähnung finden. Dadurch gewinnen wir nicht nur einen weiteren geistesgeschichtlichen Rahmen, sondern auch die Möglichkeit zum einen auf die Nähe des frühen Vedānta zu buddhistischen Strömungen hinzuweisen, 20 die sich besonders in dem Kommentar Gauḍapādas zur Māṇḍūkya-Upaniṣad abzeichnen lassen. Zum anderen kommen sowohl erste Differenzierungen als auch die Kühnheit der Metaphysik der Nicht-Zweiheit bei Gauḍapāda bereits klar zum Ausdruck.

6.1.2 Gauḍapāda Traditionell wird Gauḍapāda als Lehrer des Lehrers Śaṅkaras, Govindapada, angesehen. Sein Wirken wird mithin etwas vor dem 8. Jh. zu datieren sein. 21 Die in vier Kapitel gefassten 215 Verse seiner Auf die philosophische Bedeutung des Alpha privativum wird noch zurückzukommen sein. 20 Die mitunter virulente historische und philologische Diskussion, ob und in welcher Weise Gauḍapāda von den buddhistischen Strömungen seiner Zeit beeinflusst war, bzw. ob nicht der frühe Buddhismus vielmehr nur eine Weiterentwicklung der Vedāntalehre der Upaniṣaden ist, wird uns an dieser Stelle nicht beschäftigen. Für letztere Fragestellung und ihren klaren Abweis siehe Glasenapp (1950). Den möglichen Einfluss des Mahāyāna, insbesondere der Madhyamaka-Schule auf Gauḍapāda entwickeln etwa King (1995) und (1998), ferner Comans (2000), 88–124 und Timalsina (2009), 125–143. 21 Vgl. King (1995),15–20. 19

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

Māṇḍūkyaupaniṣadkārikā 22 (Kommentar zur Māṇḍūkya-Upaniṣad) können als erster systematischer Ausdruck des Advaita-Vedānta gelten. Das erste Kapitel »Über den kanonischen Text«, āgamaprakaraṇa, befasst sich mit dem überlieferten Text der Upaniṣad und versucht, vorbereitend zu erweisen, dass die darin ausgeführte Differenzierung der drei relativen Bewussteinszustände (avasthātraya) Wachen (viśva), Traum (taijasa), Tiefschlaf (prājña) und vor allem die Bestimmung des vierten, unbedingten Zustandes, turīya, in letzter Konsequenz zu seiner als ajātivāda (›Lehre der Nicht-Erzeugung‹) 23 bezeichneten Lehre führen. Diese wird im zweiten Kapitel »Über die Täuschung«, vaitathyaprakaraṇa, 24 und im dritten Kapitel »Über den Advaita«, advaitaprakaraṇa, 25 entfaltet. Das dritte Kapitel schärft den Gedanken der radikalen Nicht-Zweiheit und entwickelt zum einen ontologische Argumente für die Auffassung, dass brahman als einzige Wirklichkeit unwandelbar und daher ohne Entstehen, Vergehen und Schöpfung ist. Zum anderen wird mit dem asparśayoga (ManU, III.39), dem ›Yoga der Kontaktlosigkeit‹, ein Weg zur Realisierung der Einsicht in das Nicht-Entstandene genannt, der schließlich im vierten Kapitel »Über das Erlöschen des Feuerbrandes«, alātaśāntiprakaraṇa 26, im Rahmen erkenntnistheoretischer Betrachtungen Kontur gewinnt. Bereits im ersten Kapitel kommt eine Grunddoktrin des Advaita zum Ausdruck, die später vor allem der Schule Śaṅkaras zugeschrieben wird:

Ich lege hier die Ausgabe von Swāmī Nikhilānanda (2000) zugrunde und bediene mich da, wo nicht anders angegeben, seiner Übertragung ins Englische. Die deutsche Übersetzung wird mit Rücksicht auf den Originaltext vorgenommen. 23 Zur Doktrin der Nichterzeugung siehe King (1989). 24 »There is no dissolution, no birth, none in bondage, none aspiring for wisdom, no seeker of liberation and none liberated. This is the absolute truth.« (ManU, II.32) 25 »No jīva is ever born, There does not exist any cause which can produce it. This is the highest Truth that nothin is ever born.« (ManU, III.48) 26 Diese häufig anzutreffende Übersetzung ist ein wenig irreführend. Treffender wäre pffi vielleicht: ›Die Beruhigung der Fackel‹ (śānti von śam, ›ruhig werden‹). Das Bild, auf das dieser Titel abhebt, findet sich in der Mitte des Kapitels in den Kārikā 47–49. Hier vergleicht Gauḍapāda das Bewusstsein (vijñāna) mit einer brennenden Fackel, die bei Nacht bewegt, Linien und Kreise zeichnet, die aber, sobald sie zur Ruhe gekommen ist, nichts Kreis- oder Linienhaftes an sich hat. In gleicher Weise verschwinde etwa die scheinbare Trennung von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen, wenn das bewegte Bewusstsein zu seiner Ruhe findet. 22

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Historisch-systematische Orientierung

»Diese Dualität (dvaita, Zweiheit) ist nur Illusion (māyā). Nicht-Dualität (advaita) ist die höchste Wirklichkeit.« 27

Diese Auffassung muss Gauḍapāda vor allem gegen die Einwände dreier wirkmächtiger Schulen seiner Zeit verteidigen: Den ersten Teil gegen den orthodoxen Dualismus des Sāṅkya, den zweiten Teil gegen die beiden dominierenden Schulen buddhistischer Couleur, der Schule des Mittleren Weges (mādhyamaka) Nāgārjunas und der Bewusstseinslehre (vijñānavāda) der Brüder Vasubandhu und Asaṅga. 28 Insbesondere ein kurzer Vergleich mit den buddhistischen Schulen lässt das Profil und den leitenden Bewusstseinsbegriff des frühen AdvaitaVedānta deutlicher hervortreten. Vedānta und Buddhismus teilen die Annahme des illusionären und leidvollen Charakters der Erscheinungswelt. Während der Vedānta die illusionäre Welt aber in ātman/brahman als einem nichtdualen Substrat letzter Wirklichkeit fundiert, leugnen Mādhyamaka und Vijñānavāda solch ein persistentes Substrat. Als buddhistische Schulen ruhen ihre Philosophien auf der Doktrin des bedingten Entstehens (pratītyasamutpāda, ›Entstehen in Abhängigkeit‹). Diese besagt, dass alle dharmas 29 im unbedingten Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zueinander stehen und keines ewigen Grundes bedürfen, aus dem sie hervor oder auf dem sie in Erscheinung treten. 30 In einigen Schulen des Theravada entwickelte sich auf dieser Grundlage eine Art realistischer Pluralismus, der den einzelnen flüchtigen dharma ein intrinsisches Wesen zuzusprechen begann. 31 māyāmātram idaṃ dvaitam advaitam paramārthataḥ (ManU, I.17). In einer verkürzenden Differenzierung lässt sich der Vijñānavāda als die erkenntnistheoretische Vertiefung des vorrangig ontologisch orientierten Mādhyamaka betrachten. 29 Ein hochgradig mehrdeutiger Terminus der buddhistischen Philosophie. In unserem Zusammenhang wird er in der Regel mit »nicht mehr reduzierbare Daseinsfaktoren« wiedergegeben. Vgl. Glasenapp (1985), 305. Nach Glasenapp umfassen sie »die psychischen Kräfte, mit denen wir die Welt zu erfassen und meistern suchen, sowie die sinnlichen Wahrnehmungen und mentalen Daten, die in unser Bewusstsein treten […].« (Ebd. 302) Auch wenn diese Bestimmung philosophisch klärungsbedürftig ist, so ist sie dem ansonsten anzutreffenden Missverständnis, bei den Dharmas handle es sich um empirische Dinge, vorzuziehen und für unsere Zwecke ausreichend. 30 In Nāgārjunas Widmungsvers zur Mūlamadhyamakakārikā (MMK) findet sich folgende Bestimmung der pratītyasamutpāda: »Nichtvergehen, Nichtentstehen, Nichtabbrechen, Nichtandauern, Nichteinheit, Nichtvielheit, Nicht-zur-Erscheinung-Kommen, Nicht-aus-ihr-Verschwinden.« Vgl. Weber-Brosamer/Back (2005). 31 Vgl. Glasenapp (1985), 341. 27 28

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

Mit Nāgārjuna trat im 2. Jh. ein Philosoph auf, der auf die Inkonsistenz dieser Entwicklung hinwies und stattdessen eine Lehre der Leere (śunyavāda) als letzte Konsequenz des mittleren Weges wies. Zu sagen, die dharmas besäßen ein substanzielles Sein (dravya) 32, hieße ihnen eine eigenständige Existenz (svabhāva) zuzubilligen. Das aber stünde im Gegensatz zur Doktrin des bedingten Entstehens. »To be dependently originated is to have no essential nature; and since everything is dependently originated, everything is without an essential nature (nissvabhāva), i. e., everything is empty of an essential nature (svabhāvaśūnya). Therefore everything is empty (śūnya).« (Comans 2000, 89) 33

Während Nāgārjunas Position zum Abweis jedwedes Eigenseins führt, weil es der Doktrin der stets wechselseitig bedingten dharma widerspricht, gibt es Gauḍapāda zufolge genau eines, dem es zukommt, Eigensein (svabhāva, ›selbstständiges/eigenes Sein‹) zu haben: brahman. In ontologischer Hinsicht wird man Gauḍapāda und: Nāgārjuna diametrale Positionen zuschreiben müssen. Die erkenntnistheoretischen Differenzierungen des Vijñānavāda erlauben hingegen eine etwas vorsichtigere Einschätzung. Diese buddhistische Schule, deren erste Ausprägungen im 4. und 5. nachchristlichen Jahrhundert liegen, wird oft als subjektiver Idealismus gekennzeichnet 34 und ist auch als Nur-Bewussteinslehre (cit-

Der naheliegende Versuch dravya zu einem artistotelischen Substanzbegriff in Beziehung zu setzen, wird etwa von Mohanty (2000, 44) als unzweckmäßig zurückgewiesen. Hinsichtlich seiner ursprünglichen Bedeutung im Vaiśeṣika ließe sich aber durchaus eine Nähe zum hypokeimenon anzeigen. 33 Nāgārjunas Argument gegen die ›substanzielle‹ Auffassung der dharmas ist letztlich ein soteriologisches: Wie der Vedānta hebt auch der Buddhismus mit der Einsicht an, dass die leidhafte Wirklichkeit der Welt Konsequenz einer umfassenden Unkenntnis der Wirklichkeit des Leidens ist. Da diese Unkenntnis eine Gegebenheit, d. h. ein dharma. ist, würde aus der Auffassung, die den dharmas svabhāva zuschreibt, folgen, dass Leid und Unkenntnis unentstanden und unvergänglich wären. Ein untragbarer Widerspruch zu der dritten und vierten Edlen Wahrheit. Vgl. MMK, 24.21–24.25., Weber-Brosamer/Back (2005), 93, Fnt, 124. 34 Für diese Diskussion siehe Garfield (2002), 156–173. King argumentiert vor allem hinsichtlich der Nähe zu Gauḍapāda, dass der Vijñānavāda als »›phenomenological‹ rather than ›idealistic‹« zu bezeichnen sei, »since ontological assertions (samāropa) and negations (apavāda) of an independently existing external world are avoided (›bracketed out‹ ?) in the Yogācāra’s quest to avoid extremes and remain true to the experiential event.« King (1995), 168. 32

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tamātravāda) und Yoga-Praxis (yogācāra) bekannt. 35 Einige der maßgeblichen Begriffe dieser Schule vijñāna, citta und manas, die sich im Bedeutungsfeld Bewusstein/Geist/Verstand verorten lassen, werden von Gauḍapāda vor allem im vierten Kapitel seiner Kārikā in systematischer Hinsicht gebraucht und wie im Vijñānavāda weitestgehend synonym verwendet. 36 Die bemerkenswerte Nähe des frühen Vedānta zum Mahāyāna-Buddhismus zeichnet sich dementsprechend vorrangig an den geteilten bewusstseinsphilosophischen Differenzierungen ab, in denen die rigorose orthodoxe Ontologie des Vedānta durch eine Phänomenologie angereichert und gestützt wird, die die ontologische Präsumtion eingeklammert lässt. Die leitende Hinsicht Gauḍapādas bleibt aber auch hier die Unwandelbarkeit der höchsten Wirklichkeit. Im Einklang mit der überkommenen Bestimmung brahmans als saccidānanda (sat, ›Sein‹ ; cit, ›Bewusstsein‹ ; ānanda, ›Glückseligkeit‹) gilt sie nicht nur im Rahmen ontologischer, sondern auch bewusstseinstheoretischer Erörterung. »Consciousness (vijñāna) is calm and non-dual, it is unborn, motionless, and is not an object. It has the appearance (ābhāsa) of birth, the appearance of moving and the appearance of being an object.« (ManU, IV.45) »Thus Consciousness (citta) is not born. So too, things (dharmas) are considered to be unborn. Those who knowing this way do not fall into error.« (ManU, IV.46) 37

Für unseren Zusammenhang ist vor allem aufschlussreich, wie sich Gauḍapādas Bewusstseinsbegriff von den idealistischen Präsumtionen des Vijñānavāda abheben lässt. Das Label »Idealismus« wird dem Vijñānavāda mit Rücksicht auf die starke Betonung des Bewusstseins als maßgeblichem Daseinsfaktor beigelegt. Unter den fünf Daseinsfaktoren (skandhas) 38 galt das vijñāna zwar stets als zentrales Vgl. Glasenapp (1989, 347 f.) Wie King (1995) herausstellt, ist der genauere Ausdruck für die frühe Form dieser Philosophie vijñāptimātratā (›Nur-Bewusstseins-Repräsentation‹). Er bezeichnet die Doktrin, dass alle Wahrnehmungsobjekte nur als Repräsentationen des Bewusstseins gelten dürfen. Die maßgebliche Argumentation läuft dabei über die Ununterscheidbarkeit von Traum- und Wachzustand. 36 Vgl. Comans (2000), 99. 37 Hier Zitiert nach Comans (2000), 99. 38 Nach dieser Auffassung ergibt sich der illusionäre Charakter eines persistenten personalen Erlebens aus den fünf Skandhas rūpa (Körper, Sinnesorgane), vedanā (›Wert‹-Empfinden), saṃjñā (Wahrnehmung, Konzeptualisierung), saṃskāra (geistige Impulse und Tendenzen) und vijñāna als unterscheidende Bewusstheit. Vgl. Glasenapp, (1989), 348 f. 35

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Prinzip für die »Kontinuität der (scheinbaren) Persönlichkeit« (Glasenapp 1985, 347), in seinen dezidiert erkenntnistheoretischen Bemühungen konzentriert sich der Vijñānavāda aber so nachdrücklich auf das Bewusstsein, dass sich als Bezeichnung für dessen Grunddoktrin der Ausdruck cittamātra (›Nur/Reines-Bewussstein‹) durchsetzte. Eine Doktrin, die erst in der späteren Entwicklung dieser Schule einen ontologischen Sinn bekommen sollte. 39 Das epistemologische Hauptargument – und hier liegt eine Nähe zu Gauḍapāda und der Māṇḍūkya-Upaniṣad – speist sich aus dem steten Verweis auf die Struktur von Traumerfahrungen. Gegen eine naive realistische Auffassung, der zufolge die Sinnesorgane ihren spezifischen Vermögen nach mit äußeren Objekten in Kontakt treten, argumentiert der Vijñānavāda, dass es mit Blick auf die perzeptiven und kognitiven Leistungen in unseren Traumerfahrungen keinen Grund gibt, für die entsprechenden Leistungen im sog. Wachzustand von einer anderen Struktur auszugehen. So, wie Wahrnehmung und Evidenzerfahrung den Traum prägen können, uns darin Belebtes und Unbelebtes im Horizont einer sinnhaften Welt erfahrbar werden, ohne dabei von einer vermeintlich äußeren Welt abhängig zu sein, so ist auch die Wahrnehmung im Wachzustand nicht eigentlich Resultat einer Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern nur besonderer Ausdruck des Bewusstseins selbst, dessen maßgebliche Bestimmung advaya lautet, d. h. ›nicht-zwei‹. 40 Auch Gauḍapāda hält Wachzustand und Traumzustand hinsichtlich ihrer epistemischen Qualität insofern für ununterscheidbar, als in beiden Zuständen die erlebte Differenzierung zwischen Wahrnehmendem (grāhaka) und Wahrzunehmendem (grāhya) nur eine scheinbare (ābhāsa) ist. Große Teile der Kārikā dienen dem Aufweis, dass beide Zustände strukturäquivalent sind und die Wirklichkeit des Wachzustandes und mit ihr der leidvolle Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt eine Täuschung ist 41, die sich, sobald ihre Ursache beseitigt ist, auflöst. Das Hauptkriterium für den Aufweis des Täuschungscharakters von Wach- und Traumzustand ist ihre Impermanenz. Vgl. King (1995), 154. Vgl. King (1995), 155 f. Die Tatsache, dass der Ausdruck advaya in der Kārikā Gauḍapādas in systematischem Zusammenhang und zudem häufiger auftaucht als der sinnverwandte Ausdruck advaita, ist für King Beweis des Einflusses des Yogācāra auf den frühen Advaita-Vedānta. 41 Vgl. vor allem den II. prakaraṇa (ManU, II.6–11). 39 40

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»Das, was am Anfang und am Ende nicht-wirklich ist, muss auch in der Mitte nicht-wirklich sein. Die Objekte [des Wachzustandes] sind wie Illusionen 42, die dennoch für wirklich gehalten werden.« 43

Hier kommt eine Grundeinsicht des Vedānta zum Ausdruck, die auch für die phänomenologische Heuristik seiner bewusstseinstheoretischen Differenzierungen leitend sein wird: Das absolute Sein (sat) wie auch das absolute Bewusstsein (cit) sind unvergänglich. Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die Welt der bewegten und unbewegten Dinge, ist hingegen eine Leistung des Bewusstseins in seiner dynamischen und ephemeren Gestalt des Verstandes (manas, citta oder vijñāna). »Diese Dualität, was auch immer beweglich und unbeweglich ist, wird vom Verstand (manas) wahrgenommen. Denn im Zustand der Inaktivität (amanībhāva) nimmt der Verstand keine Dualität mehr wahr.« 44 »Wenn [der Verstand] durch die Erfahrung der Wahrheit des ātman nicht mehr vorstellt/denkt, hört er auf Verstand zu sein und mit den Objekten verschwindet auch die Wahrnehmung.« 45

Für Gauḍapāda ist die Vorstellungskraft des Verstandes (kalpanā) für die Strukturäquivalenz von Träumen und Wachen verantwortlich. 46 So, wie es uns nach dem Erwachen einsichtig ist, dass die Gegenstände der Traumwelt nicht eigentlich getrennte Entitäten sein konnten, so sieht der durch den Asparśayoga zur Ruhe gebrachte Verstand Gleiches für den Wachzustand ein. In beiden Fällen ist die verhüllende Kraft der Vorstellung jene täuschende Vibration (spandate, ›zittern‹, ›vibrieren‹, ›flackern‹) des Verstandes, die mit der māyā 47 assoziiert wird. Śaṅkaras Kommentar nennt hier etwa das Beispiel einer Fata Morgana. ādāv ante ca yan nāsti vartamāne ʾ pi tat tathā / vitathaiḥ sadṛśāḥ santo ʾ vitathā iva lakṣitāḥ (ManU, II, 6). King (1995, 170) zufolge ist der erste Teil dieser Aussage die am häufigsten wiederholte Phrase der gesamten Kārikā Gauḍapādas. 44 manodṛśyam idam dvaitam yat kiñcit sacarācaram / manaso hy amanībhāve dvaitam naivopalabhyate (ManU, III, 31). 45 ātmasatyānubodhena na saṅkalpyate yadā / amanastāṃ tadā yāti grāhyābhāve tadagrahām (ManU, III, 32) Hier ist nicht das Ende bewussten Erlebens überhaupt angesprochen. Wahrnehmung ist hier im Sinne von »Wahrnehmung von etwas durch jemanden« zu verstehen. Wir kommen den für den Vedānta maßgeblichen Begriff von Bewusstsein näher, wenn wir verstehen, was eine Wahnehmung ist, die diese Differenzierung nicht impliziert. 46 Vgl. dazu Timalsina (2013). 47 Dieser für den Advaita-Vedānta zentrale Ausdruck wird von Gauḍapāda nicht ge42 43

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

»Wie der Verstand im Traumzustand durch die Vibration der māyā die Erscheinung von Subjekt/Objekt 48 erzeugt, so bringt die Vibration der māyā die Erscheinung von Subjekt/Objekt im Wachzustand hervor.« 49

Bis hierher können die Ausführungen Gauḍapādas so verstanden werden, dass sie einem radikalen Idealismus subjektivistischer Couleur das Wort reden, dem zufolge die Welt der Erscheinungen Produkt des menschlichen Verstandes sei. Die Kārikā erschöpft sich aber nicht in der Erklärung eines solchen Idealismus, sondern betrachtet ihn als eine Art intellektuelle Propädeutik für eine umfassendere Einsicht. An die eingangs zitierte Prämisse der Kārikā schließt sich ein Hinweis an, der auf ihre eigentlich soteriologische und pädagogische Anlage schließen lässt. »Diese Dualität ist nur Illusion. Nicht-Dualität ist die höchste Wirklichkeit.« 50 »Diese Erklärung dient nur der Lehre. Die Dualität verschwindet mit der Erkenntnis.« 51

pffi Die hier maßgebliche Form der Erkenntnis ist jñāna ( jñā, ›kennen‹, ›erfahren‹). 52 King verweist darum zu Recht auf die implizite Unterscheidung Gauḍapādas zwischen vijñāna, »the state of an active and diversifying consciousness, and ›jñāna‹ a state of gnostic realization beyond the range of mundane consciousness. Jñāna as such is the quiescence of all conscious activity.« (King 1995, 151) Mit Blick auf sondert bedacht, sondern operational gebraucht. Er bezeichnet vorrangig die eigentümliche Kraft des ātman/brahman zur selbsttäuschenden Hervorbringung der Erscheinungswelt. Für andere Verwendungsweisen bei Gauḍapāda siehe King (1995), 175–177. 48 Nikhilānanda (2000, 186) übersetzt dvayābhāsaṃ zu Recht wörtlich mit »appearance of duality«. Wie Nakamura (2004, 232) zeigt, ist dies aber ein Terminus technicus des vijñānavāda und bezeichnet dort »Objekt und Subjekt der Erkenntnis«. Siehe ferner Comans (2000, 156), der mit »the image of two« übersetzt. Vgl. ManU, III. 30, das diesen Gedanken durch den Ausdruck advaya variiert: advayaṃ ca dvayābhāsaṃ manaḥ svapne na saṃśayaḥ / advayaṃ ca dvayābhāsaṃ tathā jāgran na saṃśayaḥ 49 yathā svapne dvayābhāsaṃ spandate māyayā manaḥ / tathā jāgrad dvayābhāsaṃ spandate māyayā manaḥ (ManU, III. 29). 50 māyāmātram idaṃ dvaitam advaitaṃ paramārthataḥ (ManU, I.17). 51 upadeśād ayaṃ vādo jñāte dvaitaṃ na vidyate (ManU, I.18). 52 Der Ausdruck jñāna wird im Nyāya für die Erkenntnis externer Objekte gebraucht. Sein Gebrauch im Vedānta ist nicht eindeutig. Wenn er, wie hier, synonym zum nicht-dualen prajñāna gebraucht wird, bezeichnet er das Bewusstsein in seinem absoluten Selbstleuchten, svaprakāsatā. Vgl. Timalsina (2009), 17.

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die klassische, aus der Bhagavadgītā überkommene Dreiteilung der zur Erlösung führenden Bemühungen bezeichnet jñāna die Einsicht in die wahre Natur des Selbst. Als Selbsterfahrung verweist dieser Ausdruck deshalb auf eine Frage, die die erkenntnistheoretischen Erörterungen und ihre idealistischen Tendenzen zunächst unberührt gelassen haben: Wenn sowohl Traum- als auch Wachzustand, sowie die darin erscheinende Struktur des einer Außenwelt gegenüberstehenden Subjektes gleichermaßen illusionär sind, wer macht dann diese eigentümliche Entdeckung? »Wenn also die Objekte der beiden Zustände nicht-wirklich sind, wer erkennt dann diese Objekte und wer nur ist Schöpfer der Vorstellungen?« 53

In der folgenden Antwort wird der ātman durch eine Selbstgenügsamkeit charakterisiert, die das bewegte Bewusstsein nur noch als täuschende Kraft der māyā in Anspruch nimmt. »Der (selbst)leuchtende ātman stellt vermöge seiner māyā sich selbst in sich selbst [als Objekt] vor. Er allein kennt die Objekte/Unterscheidungen. Das ist die Schlussfolgerung des Vedānta.« 54

Dass damit nicht einfach einem Idealismus Nachdruck verliehen wird, zeigt ManU II.34: ātman darf nicht als Konstitutionsprinzip missverstanden werden, dessen theoretische Relevanz etwa in einer einheitstiftenden Funktion zu suchen wäre. »Diese Vielfalt ist nicht identisch mit ātman. Sie ist aber auch nicht selbstständig. Die Vielheit ist weder getrennt noch nicht-getrennt [vom ātman]. So verstehen es die Kenner der Wahrheit.« 55

Paradoxe Formulierungen, wie diese, verweisen auf die Grenzen solcher Versuche, den bewusstseinstheoretischen Bemühungen eine kohärente Systematik abringen zu wollen. Da die maßgebliche Einsicht des Advaita-Vedānta nicht diskursiv, sondern transformativ ist, 56 führt Gauḍapāda eine methodische Differenzierung ein, die uns bei ubhayor api vaitathyaṃ bhedānāṃ sthānayor yadi ka etān budhyate bhedān ko vai teṣāṃ vikalpakaḥ (ManU, II.11). 54 kalpayaty ātmanātmānam ātmā devaḥ svamāyayā sa eva buddhyate bhedān iti vedāntaniścayaḥ (ManU, II.12). 55 nātmabhāvena nānedaṃ na svenāpi kathañcana na pṛthaṅ nāpṛthak kiñcid iti tattvavido viduḥ (ManU, II.34). 56 Vgl. ManU, III.37. »(This Ātman is) beyond all expressions by words, beyond all acts of mind; (it is) all peace, eternal effulgence, free from activity and fear and attainable by concentrated understanding (of the jīva).« 53

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Śaṅkara beschäftigen wird, und die auch den buddhistischen Texten nicht fremd ist. »Aus gewöhnlicher/empirischer Erfahrung spricht man [vom ātman] als dem Ungeborenen/Unentstandenen. Andere Schulen sprechen aus dieser Erfahrung [vom ātman] als geboren/entstanden. Aus der Erfahrung höchster Wirklichkeit/Wahrheit ist er aber nicht einmal ungeboren/unentstanden.« 57

Entsprechend der Einteilung in zwei Erfahrungsweisen, einer herkömmlichen (saṃvṛtyā) und einer von höchster Wahrheit/Wirklichkeit (paramārthika) ist die Rede von Bewusstsein schon bei Gauḍapāda eine doppeldeutige. Im Geiste einer pädagogischen Vorläufigkeit ist es einerlei, ob das bewegte Bewusstsein durch manas, citta oder vijñāna bezeichnet wird. Es meint hier die lebendige Wahrnehmung einer äußeren wie inneren Welt relativ unbeständiger Erscheinungen. Bewusstsein in diesem Sinne ist aber nicht das Bewusstsein (cit), das durch den ātman bezeichnet wird. In ManU, II.25 kritisiert Gauḍapāda jene, die den ātman fälschlicherweise mit manas, buddhi oder citta identifizieren. Zu Recht sieht King diese Passage als »a blow to all who wish to read subjective idealism into the Gauḍapādīya-kārikā«. (King 1995, 149) Ein Verständnis der entsprechenden Position ergibt sich dann freilich erst, wenn bewegtes und unbewegtes Bewusstsein ausdrücklich unterschieden werden. Und in dem Maße, wie das unbewegte Bewusstsein seine Charakterisierung im Rahmen einer negativen Bestimmung erhält, muss ihr eine Bestimmug des bewegten Bewusstseins vorangehen. Zwar verweisen bereits die Passagen der Kārikā, in denen manas, buddhi und citta in Aufzählungen auftreten, auf eine Binnendifferenzierung, wir werden aber noch verfolgen, dass Śaṅkara diese drei Elemente systematisch auseinanderhält. Sie gehören zu den vier Bestandteilen des inneren Organs (antaḥkaraṇa), das zum einen die Gesamtheit kognitiver Leistungen repräsentiert, zum anderen jene Dimension des Bewussteins charakterisiert, die für das Unwissen (avidyā) verantwortlich zeichnet, die der Advaita-Vedānta, als jñānamārga, zu überwinden sucht. Ein Teil dieses inneren Organs 58, der Ich-Macher ajaḥ kalpitasaṃvṛtyā paramārthena nāpy ajaḥ paratantrādiniṣpattyā saṃvṛtyā jāyate tu saḥ (ManU, IV.74). 58 Śaṅkaras Schüler Padmapāda wird den ahaṃkāra als das dem antaḥkaraṇa übergeordentes und umfassendes Prinzip verstehen, das dem sākṣin genannten ›Zeugenbewusstsein‹ gegenübersteht. (Pañcapādikā, II.11, Vgl. Hacker 1951, 26). 57

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(ahaṃkāra), ist als Individuationsprinzip äquivalent zu jener Bewusstseinsstruktur ist, die schon bei Gauḍapāda die primordiale Sphäre illusionärer Konstitution bildet, das individuelle Selbst (jīva). »Zuerst wird das individuelle Selbst vorgestellt, dann die unterschiedlichen inneren und äußeren Objekte der Wahrnehmung. Die Erinnerungen entsprechen dem Wissen.« 59

Dieses Selbst erlebt sich nicht nur als handelnden und strebenden, leiblich, sprachlich und emotional verfassten Repräsentanten einer Art, sondern als weithin souveränes Individuum, dessen Bestand zwar zeitlich begrenzt, dessen Identität aber diachron bestimmbar scheint. Der methodische Imperativ des Advaita-Vedānta besteht, wie fortschreitend klarer werden wird, in einer radikalen Fragwürdigkeit dieser diachronen Identität. Im Gegensatz zu einem Großteil buddhistischer Philosophie, zielt diese Fragwürdigkeit aber nicht darauf ab, zu erweisen, dass die erlebte Beständigkeit des Ich als solche eine Illusion sei. Sie zielt nicht allein auf die Hume’sche Verlegenheit, dass sich einem wachen Blick nach innen, bei Licht besehen, nur ein endloses Konglomerat unbeständiger Eindrücke und Zustande zeigt. Der Advaita-Vedānta leugnet nicht eine Persistenz von Bewusstsein, er gibt zu bedenken, dass es sich bei der subjektiven Kohäsion von Bewusstsein gerade nicht um eine personale, sondern um eine impersonale Präsenz handelt. Diese impersonale Präsenz ist der ātman, das Selbst des Menschen.

6.1.3 [Selbst] Es gehört zur Faszination des Advaita-Vedānta, dass sich seine philosophische Maxime in der leicht paradox anmutenden Auffassung ausdrückt, dass die höchste Form der Erkenntnis darin besteht, absolut selbst zu sein. Der zentrale Ausdruck dafür ist ātman. 60 Die Konnotationen dieses Begriffs erstrecken sich von grammatikalischen, jīvaṃ kalpayate pūrvaṃ vaco bhāvān pṛthagvidhān bāhyān ādhyātmikāṃś caiva yathāvidyas tathāsmṛtiḥ (ManU, II, 16). 60 Bzw. vielmehr ātmānubhava, ›Erfahrung des Selbst‹. Vgl. BG, VII, 10. oder ātmalābha, ›Erlangen des Selbst‹. BĀU, I,4,7. »The attainment of the Self (ātmalābha) cannot be, as in the case of things other than It, the obtaining of something not obtained before, for here there is no difference between the person attaining and the object attained.« BĀUBh, I,4,7., 78. 59

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

kosmologischen und metaphysischen über psychologische und epistemologische bis hin zu anthropologischen und soteriologischen. 61 Für unseren einleitenden Zusammenhang ist es zunächst hinreichend, wenn wir den historischen Ausdruck »ātman« wie Sellmer im Anschluss an Hacker als »ausgezeichnet[es] Instrument des philosophischen Nachdenkens« betrachten, »insofern er abstrakt ›das Wesentliche im Menschen‹ zu bezeichnen vermochte, ohne von sich aus inhaltliche Bestimmungen mitzubringen«. (Sellmer 2005, 178) Eine Schwierigkeit des philosophischen Gebrauchs dieses Ausdrucks und seiner Übersetzungen kam weiter oben bereits zur Sprache. Schon die Nominalisierung des Reflexivpronomens ātman, die durch die Übersetzung als ›das Selbst‹ oder ›die Seele‹ zum Ausdruck kommt, verengt die Bedeutung zumal im Horizont des Advaita empfindlich. Auf der einen Seite wird die metaphysische Konnotation dadurch auf eine Weise betont, die die philosophische Beschäftigung mit ātman leicht auf eine spekulative Auseinandersetzung beschränkt. Auf der anderen Seite legt eine unkritische Übersetzung als ›das Selbst‹ eine Bestimmung nahe, die wie selbstverständlich die Konnotationen individuell und reflexiv aufruft. Die von Deussen gegebene Charakterisierung von ātman als »das Selbst im Gegensatz zum dem, was nicht das Selbst ist«, wird dann ohne weiteres verstanden als »die eigene Person, der eigene Leib, im Gegensatze zur Außenwelt« (Deussen 1920, 286) 62. Während die dabei intendierte Lesart eines substanziellen Selbst etwa in der Mīmāṃsā 63 und im NyāyaVaiśeṣika 64 zu finden ist, ist sie dem Advaita-Vedānta Śaṅkaras und seiner Schüler nicht angemessen. Auch die Vorstellung eines Lebensund Individuationsprinzips, die dort aufscheint, wo ātman synonym zu prāṇa, dem Lebenshauch, gebraucht wird, kann dem Advaita nicht gerecht werden. Die systematisch maßgebliche und im Rahmen der phänomenologischen Perspektive dieser Arbeit fruchtbare Bestimmung ist jene, in der ātman nicht als abstraktes Prinzip oder ontisch hypostasierte

Für eine Analyse des Ātman-Begriffs in den Saṃhitās und Brāhmanas siehe Ramanathan (1997). Einen differenzierten Überblick über die Konzeptionen des ›Selbst‹ in den Darśanas und den Unterschulen des Vedānta und Shivaismus gibt Sinha (1991). 62 Zitiert nach Sellmer (2005), 178. 63 Vgl. Sinha (1991), 33–40. 64 Vgl. ebd. 42–48. 61

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Entität auftritt, sondern als Kernbegriff einer Bewusstseinsphilosophie zur Geltung gebracht wird. Mit Yājñavalkjas Bestimmung des ātman als »Licht des Menschen« (BĀU, IV.III, 6) in der Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad hebt die bei Śaṅkara systematisierte Vorstellung an, wonach dem Selbst nicht etwa zukommt, Bewusstsein zu haben, sondern selbst Bewusstein (cit od. caitanya) 65 zu sein. Ein Bewusstsein »which pervades all, is all, abides in the hearts of all beings, and is beyond all objects [of knowledge]«. (Upad, I.1.1) 66 Dieser Begriff von ātman führt zu einem anderen Verständnis der Bestimmung Deussens: Demnach ist alles das Nicht-Selbst, das dem Bewusstsein gegenständlich werden kann. So ist der ātman »das Subjektive im wahrsten Sinne, und es kann nie zum Objekt werden. Von dem, was schlechthin als das Selbst angenommen wird, mag vieles zum Objekt werden, aber was immer zum Objekt wird, gehört zum Nicht-Selbst«. (Radhakrishnan 1956, 130) In diesem Sinne ist ātman, wie Śaṅkara in einem geradezu protocartesianischen Verständnis immer wieder betont, dasjenige, das weder bezweifelt noch bewiesen werden kann. »Eben weil es das Selbst ist, deswegen geht es nicht an, das Selbst zu bezweifeln. Denn das Selbst kann man niemandem [durch Beweise] erbringen, weil es an sich schon bekannt ist. Denn das Selbst wird nicht durch einen Beweis seiner selbst erwiesen. Denn es ist das, welche alle Beweismittel, wie Wahrnehmung usw., in Anwendung bringt […]. Und weil es so beschaffen ist, deshalb geht es nicht an, dasselbe in Abrede zu stellen.« (BSBh, II.3.7, 389) 67

65 Hacker übersetzt cit und caitanya in der Regel noch mit ›Intelligenz‹ oder ›Geist‹ Vgl. Hacker 1978b, 301–303. Inzwischen ist die Übersetzung mit ›consciousness‹ bzw. ›Bewusstsein‹ üblich, der hier gefolgt wird. Vgl. Gupta (2003). 66 Hier und im Folgenden Zitiert nach Mayeda (1992). 67 Im Horizont der Kategorien zeitlichen Erlebens begegnet uns in diesem Zusammenhang eine vertraute Äquivalenz von Selbstbewusstsein und Gegenwart: »Und weiter, wenn man sagt: ›ich bin es, der jetzt das gegenwärtige Sein erkennt, ich bin es, der das vergangene und vorvergangene erkannte, und ich, der das künftige und überkünftige erkennen wird‹, so liegt in diesen Worten, dass, wenn auch das Objekt der Erkenntnis sich ändert, der Erkennende, weil er in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart ist, nicht sich ändert; d e n n s e i n We s e n i s t e w i g e G e g e n w a r t (sarvadā vartamāna svabhāvatvād) pffi […].« (BSBh, II.3.7; 389.) Vgl. Deussen (1906, 138). Der Ausdruck vartamāna ( vṛt) bezeichnet u. a. die grammatikalische Kategorie des Präsens. Es meint daher nicht das momentane, augenblickhafte Jetzt, sondern, zumal mit dem Zusatz sarvadā (›immer‹), wohl ›immerwährende Gegenwart‹ bzw. das Aktuale schlechthin.

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

Diese Auffassung spiegelt nicht vorrangig die Mühe ontologischer oder anthropologischer Spekulation, sondern eine Kultur entschiedener Selbsterfahrung wider, die sich in Selbstbeschreibungen Ausdruck verschafft, in denen das Selbst nicht ohne weiteres in den Kategorien geistiger Vermögen oder personaler Individuation zu bestimmen ist. »I am the Beholder of modification (vṛtti) of the mind and also of the mind [itself], in the waking state as in the dreaming state; since neither [the mind] nor [its modification exists] in the state of deep sleep, [I am] Pure Consciousness only, all-pervading and non-dual.« (Upad, I.11.4)

Eine philosophische Eigentümlichkeit solcher Selbstbeschreibungen ist ihre augenscheinliche Widernatürlichkeit. Es gehört auf den ersten Blick nicht zu den intersubjektiv verbindlichen Erfahrungsformen, sich selbst als Zeuge mentaler Prozesse oder als alleserfüllendes Bewusstsein zu erleben. Wenn man darum lediglich einen exaltierten spiritualistischen Bewusstseinsbegriff oder erkenntnistheoretischen Solipsismus am Werk sieht, wird man sich damit begnügen, diesen Bewusstseinsbegriff auf seine ontologischen Implikationen und Konsequenzen hin zu befragen. Die bewusstseinstheoretischen Binnendifferenzierungen legen darüber hinaus aber einen phänomenologischen Zugriff nahe, der diesen Begriff von Bewusstsein als unprätentiösen Ausdruck für die Erfahrungsdimension impersonaler Subjektivität in Anspruch nimmt. Der erste terminologische Hinweis auf eine Differenzierung zwischen personalem und impersonalem Selbst ist die etwa in der Chāndogya-Upanishad vollzogene Differenzierung von ›lebendigem Selbst‹ (jīvātmān) und ›höchstem Selbst‹ (paramātman). Die vitalistische Tendenz des Ausdrucks jīvātmān (jīva, ›das Lebendige‹) ging, wie Hacker (1978b, 297) zu berichten weiß, verloren. So wird jīva im Vedānta Ausdruck für das individuelle Selbst im Unterschied zu jenem höheren Selbst, das als selbstleuchtendes (svayaṃprakāśa ātman) nicht nur den geistigen Vermögen der Vernunft (buddhi), der Erinnerung (citta) und des Verstandes (manas) sein Licht leiht (Hacker 1970, 244). Auch der Ich-Sinn (ahaṃkāra, ›Ich-Macher‹) ist Widerschein eines Bewusstseins (cit), für das die Begrenzungen (upādhi) des inneren Organs (antaḥkaraṇa) nur vermöge einer Identifikation (tādātmyam) Geltung haben, die auf einer umfassenden Täuschung (māyā) bzw. Unwissenheit (avidyā) beruht. (DdV, §§ 6–9)

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»Auch ist diese individuelle Seele (jīvātmān) anzusehen als ein bloßes Scheinbild (ābhāsah) der höchsten Seele (pārātman), vergleichbar dem Sonnenbild im Wasser; sie ist nicht geradezu jene selbst, und ist doch auch nicht ein von ihr verschiedenes Ding.« (BSBh, II.3.50, 439)

In besonderer Weise tradiert die Vorstellung eines selbstleuchtenden Bewusstseins eine philosophische Position, die Mohanty (2000, 62) als eine der beiden grundlegenden bewusstseinstheoretischen Vorstellungen kennzeichnet, die der Advaita-Vedānta mit dem Yoga und dem Yogācāra-Buddhismus 68 teilt. Die kontrastierende Position, die vom Nyāya-Vaiśeṣika vertreten wird, entwickelt einen Begriff von Bewusstsein, dessen maßgeblicher Sinn Intentionalität und Reflexivität ist. In dem Maße, wie Bewusstsein (jñāna) dadurch bestimmt ist, ein Objekt zu haben (saviṣayaka), ist auch jeder Erkenntnisakt nur dann bewusst, wenn er Objekt eines anderen Erkenntnisaktes wird. Dem Bewusstseinsbegriff des Vedānta ist diese Betonung intentionaler und reflexiver Struktur fremd. Bewusstsein (cit oder caitanya) ist seinem Wesen nach selbstleuchtend (svayaṃprakāśa) und selbsterwiesen (svatassidhatva). Die Bestimmung von Bewusstsein als svayaṃprakāśa ist dabei für die gesamte Tradition des AdvaitaVedānta zentral. In ontologischer Hinsicht gewährleistet sie die Annahme eines als brahman bezeichneten absolut einzigen kosmischen Bewusstseins, in dem sich die Welt mannigfaltiger Erscheinungen nur vermöge eines umfassenden Trugbildes manifestiert. Im Horizont der leitenden bewusstseinsphänomenologischen Hinsichten ist die Doktrin eines selbstleuchtenden Bewusstseins aus zwei Gründen bedeutend: Einerseits legt sie die Eigentümlichkeit philosophischer Praxis des Advaita frei, indem sie die Frage aufwirft, wieso ein selbstleuchtendes und je schon selbsterwiesenes Bewusstsein für die Realisation seiner eigenen Verfassung der philosophischen Anstrengung bedarf. Andererseits verweist sie auf den Kern des vedāntischen Bewusstseinsbegriff, sobald man die Unterscheidung zwischen Bewusstsein als prajñāna (›höchstes Bewusstsein‹) und Bewusstsein als vijñāna (›anderes Bewusstsein‹) berücksichtigt. (Vgl. Timalsina 2009, 17–19) Vijñāna bezeichnet in diesem Zusammenhang bewegtes Bewusstsein (vṛtticaitanya), d. h. Bewusstsein, das die bewusstseinsphänomenologische Tradition als intentionale Akte, Wahrnehmung,

Für einen Vergleich der entsprechenden Bewusstseinsbegriffe im Advaita-Vedānta und Yogācāra siehe Timalsina (2009), 125–143.

68

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

Erinnerung, Phantasie usw. und die zeitgenössische Philosophie des Geistes als mentale Zustände ansprechen würde, wie Wünsche, Überzeugungen, Gedanken, Schmerz usw. Die Doktrin des selbstleuchtenden Bewusstseins meint nun keine bloße Gegenposition zu der Auffassung des Nyāya-Vaiśeṣika. Sie besagt nicht, dass diese mentalen Zustände bzw. ihre intentionalen Korrelate selbsterscheinend sind und keiner weiteren Bewusstseinsbewegung bedürfen, um erfasst (jñapti) zu werden. Bewegtes Bewusstsein manifestiert sich Śaṅkara zufolge überhaupt nur, wenn es im Licht ātmans steht und dieser als sākṣin (›Zeuge‹) fungiert. Die Bestimmung »selbstleuchtend« gilt somit nicht dem vijñāna, sondern dem prajñāna, d. h. Bewusstsein, das von »seinen« Bewegungen (vṛtti) ungetrübt bleibt und in diesem Sinne frei von Inhalten (nirviṣayaka) ist. (Vgl. ebd., 16) Den entsprechenden Konsequenzen für eine Theorie von Erkenntnis soll an dieser Stelle aber nicht vorgegriffen werden. An ihnen wird weiter unten Śaṅkaras Verständnis von Selbst und Selbstbewusstsein zu entfalten sein. Für eine erste Orientierung soll es genügen, gezeigt zu haben, dass das Selbst im Advaita-Vedānta mit einem Bewusstsein identifiziert wird, für das die Mannigfaltigkeit des bewegten Bewusstseins nur vermöge einer bestimmten Art von Nichtwissen (avidyā) Realität hat und das seiner Natur nach »the light of the never-collapsing consciousness (nityāluptavijñānasvarūpajyotir)« ist. (Ebd., 20) In diesem Sinne wird Bewusstsein von Śaṅkara so nachdrücklich von den kognitiven, voluntativen und psychischen Vermögen und einem entsprechenden Verständnis von Subjektivität unterschieden, »wie es in Europa wohl nie vorgekommen ist«. (Hacker 1978b, 300). Zwar ließe sich eine solche Unterscheidung Hacker zufolge etwa auf die Thomistische Differenzierung zwischen lumen intellectuale und anima intellective prinzipiell abbilden, die Radikalität des »Vedantischen Monismus« bliebe aber unerreicht. (ebd. 306) Das hat einen Grund freilich schon darin, dass eine Charakterisierung der Position Śaṅkaras als Monismus bereits zu kurz greift. Das negative Element in der Kennzeichnung a-dvaita (›Nicht-Zweiheit‹) lässt sich nur auf Kosten philosophischer Ungenauigkeit in die affirmative Position monistischer Philosophie verkehren. Denn der Raum der Negation, der durch das Alpha Privativum aufgespannt wird, ist auch ein Arbeitsraum. Innerhalb dieses Raumes gilt es, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass man die Suche nach Erkenntnis notwendigerweise als jīva, d. h. als gewordenes, bewegtes und weltliches Selbst beginnt. Ein ontologischer Monismus entledigt sich allzu schnell der Verlegenheit, 336 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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dass er nicht darstellen kann, dass das »eigene« Selbst in der Darstellung unverfügbar ist und den Monismus – phänomenologisch gesprochen – erst vollbringt. Insofern ist der Ausdruck advaita Beleg für eine phänomenologische Redlichkeit. Sie berücksichtigt, dass theoretische Darstellung notwendig im Zustand der Dualität anhebt und es eines Vollzugs bedarf, um in einen Monismus zu geraten – dessen metaphysisches Prinzip eben nicht ›Einheit‹ (ekatva), sondern ›Nicht-Zweiheit‹ (advaya) lautet. Die Bewegung der Privation ist jene Schwebe, in der sich ein Monismus in aktueller Selbsterfahrung ausdrückt, nicht lediglich zur Darstellung kommt und eine Vielheit längst voraussetzen müsste. Der Vedānta Śaṅkaras erschöpft sich nicht in dem leicht idealistisch anmutenden Versuch, die bewegte Welt auf ein brahman genanntes Prinzip zurückzuführen. Zwar lassen sich solche Bemühungen finden, die entsprechenden Differenzierungen haben aber eine eigentümlich vorläufige Funktion. Ihre Dringlichkeit ergibt sich nicht vordergründig aus einem dogmatischtheologischen oder ontologischen Interesse, sondern entwickelt sich als bewusstseinsphänomenologische Orientierung im Rahmen soteriologischer sowie pädagogischer Bemühungen. 69 Der originäre Witz des Advaita-Vedānta besagt, dass der einzige Weg, die singuläre Wirklichkeit brahmans erkennen zu können, darin besteht, anzuerkennen, dass man seinem Wesen nach selbst brahman ist. Eine solche Selbsterkenntnis kann sich nicht dadurch organisieren, dass ich etwas über mich erfahre. Das Ziel solcher Einsicht muss der Vollzug einer Transformation, nicht bloßer Bezug von Information sein.

6.1.4 Śaṅkaras Vedānta Noch 1979 beginnt Vetter seine »Studien zur Lehre und Entwicklung Śaṅkaras« mit der einfachen Bemerkung: »Ś muß zwischen 650 und 800 n. Chr. gelebt haben. Genaueres läßt sich m. E. beim heutigen Stand der Forschung nicht sagen.« (Vetter 1979, 11) Die spärlichen gesicherten Angaben zur historischen Gestalt Śaṅkaras stehen in einer eigentümlichen Spannung zu dem singulären Charakter, der Śaṅkara als Philosoph, Dichter, Heiliger, Mystiker und religiöser Re-

69

Vgl. Hirst (2005), ferner Vetter (1979), 17–19.

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former in der Regel zugesprochen wird. 70 Diese Spannung ist für unseren Zusammenhang aber nur insofern von Bedeutung, als von den vielen hundert Schriften, die Śaṅkara in mitunter hagiographischen Zusammenhängen zugeschrieben werden, nur wenige zweifelsfrei aus seiner Zeit und Feder stammen. Zu den allgemein anerkannten Schriften Śaṅkaras gehören in erster Linie seine Kommentare (bhāṣya) zum Brahmasūtra (BSBh), zu einzelnen Upaniṣaden, von denen jene zur Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad (BĀUBh) und Chāndogya-Upaniṣad (ChUBh) 71 als die einflussreichsten gelten können, und der Kommentar zur Bhagavadgītā (BhGBh). Neben diesen Kommentaren zum Kanon des Vedānta (prasthānatrayī) sticht sein Kommentar zur Māṇḍūkya-Upaniṣad und der entsprechenden Kārikā des Gauḍapāda heraus, die, wie Vetter (1979, 27) gezeigt hat, von Śaṅkara als einheitlicher Text angesehen werden, der nicht zur Offenbarung (śruti) gehört. Von besonderem Interesse werden im Folgenden darüber hinaus jene Werke sein, die als eigenständige Abhandlungen (prakaraṇa grantha) Śaṅkaras gelten. In ihnen kommt der pädagogische Impetus noch entschiedener zum Ausdruck. Unter diesen sind die Upadeśasāhasrī (›Tausend Lehren‹) die einzige nach derzeitigem Stand unzweifelhaft als ein Werk Śaṅkaras geltende Schrift. Nicht zuletzt aufgrund ihrer konzisen systematischen Qualität werden Śaṅkara aber immer wieder zwei Werke zugeschrieben, bei denen diese Zuschreibung im Falle des Vivekacūḍāmaṇi (›Das Juwel der Unterscheidung‹) wenigstens umstritten, 72 im Falle des Dṛgdṛśya Viveka (›Unterscheidung von Seher und Gesehenem‹) ziemlich sicher falsch ist. 73 Auch wenn der systematische Grundgehalt dessen, was hier als Advaita-Vedānta untersucht werden soll, aus den Schriften Śaṅkaras, allen voran dem Brahmasūtrabhāṣya und der Upadeśasāhasrī entnommen ist, wird im Folgenden mit einer gewissen philologischen Unbedarftheit auch von den Differenzierungen der beiden großen ›Unterscheidungsschriften‹ Gebrauch gemacht, die, auch wenn sie

Radhakrishnan (1956), 354. Für einen umfassenden historischen Zugriff auf das Leben Śaṅkaras siehe Pande (1998). 71 In der neueren Forschung werden Śaṅkara in der Regel Kommentare zu insgesamt zehn Upaniṣaden zugeschrieben. Vgl. Hirst (2005), 20. 72 Vgl. Hirst (2005), 23 f. 73 Vgl. etwa Nikhilananda (2006, xiv), der dieses Werk dem Vedānti Bhārati Tirtha zuschreibt, der zwischen 1328 und 1380 gelebt haben soll. 70

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nicht von Śaṅkara selbst stammen mögen, nicht nur dem Geiste seines Vedānta der Nicht-Zweiheit, sondern auch seinen in der Upadeśasāhasrī entfalteten sowohl terminologischen als auch erkenntnistheoretischen und soteriologischen Differenzierungen verpflichtet sind. 6.1.4.1 Standpunkte und Stufen der Realität Schon bei Gauḍapāda begegnete uns eine methodologische Differenzierung, die mitunter anstößig wirkt: eine Unterscheidung zweier Stufen von Wirklichkeit und zweier korrespondierender Formen von Erkenntnis. Sobald man sie als hierarchisch betrachtet, wird man leicht in die Verlegenheit geraten, zwei disjunkte Sphären zu stipulieren, von der eine gegenüber der anderen als exklusiv auszuzeichnen sei. Nicht nur die kritische Emphase gegenüber solchen Texten, die sich als mystisch kennzeichnen lassen müssen, auch die Skepsis, der sich etwa transzendentalphänomenologische Differenzierungen eines Einstellungswechsels gegenübersehen, hat ihren Ursprung zuweilen in der vorschnellen Antizipation dieser Verlegenheit. Wissenschaftlich bedenklich ist diese Differenzierung aber nur da, wo sie angesichts eines gegnerischen Einwandes lediglich auf den mangelnden Mitvollzug der notwendigen Erfahrung, nicht auf die strukturelle Verfassung ihrer Möglichkeit verweist. Auch wenn sich weder Phänomenologie noch Vedānta je mit der Selbstgefälligkeit eines solchen methodischen Imperativs begnügen, so ist der redlichen Auseinandersetzung mit beiden Philosophien doch gemein, dass man die Möglichkeit ihrer methodischen Widernatürlichkeit wenigstens anerkennen muss. Im Gegensatz zur phänomenologischen Unterscheidung zwischen empirisch-natürlicher und transzendental-widernatürlicher Einstellung ist die im Vedānta maßgebliche Motivation aber nicht vorrangig der Wunsch nach systematischem Verständnis der jeweiligen Erlebnisstrukturen und ihrer korrespondierenden Gegenständlichkeiten, sondern die bewusste Einübung in eine Erfahrung (anubhūti od. anubhava), die die lebendige Realisation der als höher bzw. ursprünglicher verstandenen Wirklichkeit zur Folge hat. Neben einer solchen soteriologischen Hinsicht hat diese methodologische Unterscheidung für Śaṅkara zunächst aber einen dogmatischen Sinn. Die dogmatische Dimension dieser Differenzierung speist sich nach Glasenapp (1948, 63 f.) aus der Einsicht, dass die einzelnen 339 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

Schriften der überkommenden Offenbarung des Veda hinsichtlich der Charakterisierung brahmans und ātmans sehr heterogen sind. Einmal wird brahman als unveränderliches eigenschaftsloses Substrat oder unpersönlicher Urgrund bestimmt, dann wieder wird es als Ursache der Erscheinungen und persönlicher Weltenherr (iśvara) in Anspruch genommen. Da eine Inkonsistenz des Veda ausgeschlossen ist, erklärt Śaṅkara, »in den Werken der Offenbarung und Überlieferung werde gar nicht ein einheitliches System verkündet, sondern eine Doppelheit von solchen, indem nämlich bald ein Standpunkt höherer, bald ein solcher niederer philosophischer Erkenntnis eingenommen würde«. (Ebd., 64) Eine tradierte Vorlage dieser Differenzierung findet Śaṅkara in der Muṇḍaka-Upaniṣad. Dort unterscheidet der Weise Aṅgiras zwei Formen von Wissen(schaft): niedere (aparāvidyā) und höhere (parāvidyā). Erstere hat die Theologie der Saṃhitās, die aus ihnen erwachsenden Einzelwissenschaften und Erkenntnisformen und damit das Wissen um die Mannigfaltigkeit weltlicher Erfahrung zum Gegenstand. Letztere zielt auf die Einsicht in »das Unsichtbare, Unbegreifliche, was ohne Stammbaum und Farbe ist, ohne Auge und Ohr, ohne Hände und Füße, das Ewige, Alldurchdringende, Allgegenwärtige, ganz Feine, jenes Unwandelbare, was die Weisen als die Ursprungsstätte aller Wesen ansehen.« (MU, I.1.4, zitiert nach Glasenapp 1948, 65) Bei Śaṅkara verbinde sich nun diese überkommende Vorstellung höherer und niederer Wissenschaft und die bei Gauḍapāda auszumachende Unterscheidung zwischen gewöhnlicher und absoluter Wahrheit zur Lehre von zwei Standpunkten (avasthā, ›Zustand‹) der Welterklärung. Es gibt nach ihm einen ›Standpunkt des Welttreibens‹ (vyavahāraavasthā) und einen ›Standpunkt er höchsten Realität‹ (paramārthaavasthā). (Vgl. ebd., 66) Die philosophischen Bemühungen, die auf dieser Unterscheidung aufruhen, dienen aber nicht allein dem Zweck, die vedische Dogmatik kohärent zu artikulieren, sondern Glasenapp zufolge »dem Versuch, die Kluft, die zwischen der gewöhnlichen und der mystischen Erfahrung steht, rational zu überbrücken und die Berechtigung und den höheren Wert der mystischen Erfahrung aufzuzeigen«. (Ebd., 68) Auch wenn man die Textpragmatik der Schriften Śaṅkaras nicht in dieser Überbrückung erschöpfen lassen darf, so ist die hierbei angezeigte soteriologische Tendenz für ein Verständnis des AdvaitaVedānta doch unabdingbar. Für die philosophischen Verfahren des Advaita und ihre Rezeption birgt die hier skizzierte Unterscheidung aber gewisse Schwierig340 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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keiten. Das erklärte Ziel besteht darin, in Übereinstimmung mit den monistischen Motiven der Upaniṣaden, zu erweisen, dass die gewöhnliche Erfahrung des Welttreibens und die Unbeständigkeit der menschlichen Verhältnisse, so wie das aus dieser Unbeständigkeit resultierende Leid, aus einer bestimmten Form von Unwissenheit (avidyā) über die wahre Verfassung von Selbst und Wirklichkeit entsteht. Für Śaṅkara hat diese Unwissenheit ihren Ursprung in einer natürlichen Bewusstseinsleistung der Übertragung (adhyāsa). Sie sorgt dafür, dass das unveränderliche brahman, das seiner Natur nach Sein-Bewusstsein-Glückseligkeit (sat-cit-ānanda) ist, einerseits als individuelles Selbst (jīva), anderseits als Welttreiben (jagat) erscheint. Wenn diese Unwissenheit durch die rechte Unterscheidung (viveka) zwischen Beständigem und Unbeständigem sowie die unmittelbare Erfahrung (anubhūti) brahmans als des eigenen Selbst beseitigt ist, verschwindet in einem Sinne, der fortschreitend zu bestimmen ist, auch die gewöhnliche Erfahrung des Welttreibens. Nun ist es nicht schwer zu sehen, dass auch die philosophischen Bemühungen des Vedānta diesem Welttreiben zugehören. »Diese, ›Nichtwissen‹ (avidyā) genannte, das Selbst und das Nicht-Selbst miteinander verwechselnde Übertragung (adhyāsa) bildet nun die Voraussetzung, unter welcher alle Beschäftigung mit Beweisen oder zu Beweisendem, und zwar auf weltlichem wie auf vedischem Gebiete, stattfindet; und ebenso beruhen auf ihr alle Lehrbücher, mögen sie nun Gebote und Verbote oder auch die Erlösung betreffen.« (ABh, 4)

Die Verschriftlichung einer so radikalen Metaphysik wie der des Advaita ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, unablässig auf eine Wirklichkeit Bezug zu nehmen, die im Rahmen ihrer philosophischen Ordnung augenscheinlich nicht als solche anerkannt wird. »Brahman ist wirklich, die (phänomenale) Welt ist falsch.« 74

Schon der wiederholte Nachdruck auf diese Einsicht aber zeigt, dass das Erleben von »Welt« darum noch längst kein Fehler ist. Die lebendige Wirklichkeit der natürlichen Erfahrung mit all ihren Unbeständigkeiten und Spannungen gilt den Vedantis nicht als Nicht-seiend, asat, eine Bestimmung, deren praktisches Äquivalent die Leugnung wäre, sondern als falsch, mithyā, eine Bestimmung, deren praktisches Äquivalent die Aufklärung sein kann. Da, wo diese Aufklärung in 74

brahma satyaṁ jagan mithyā (VC, § 20).

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kosmologischen und ontologischen Bahnen verläuft, wird die Welt, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, als illusionäre und unbeständige Erscheinung dem realen und beständigen brahman gegenübergestellt. Weitaus häufiger wird diese Aufklärung in den Schriften Śaṅkaras aber in einem erkenntnis- bzw. bewusstseinstheoretischen Horizont betrieben. Die kosmische Täuschung einer bewegten Welt hat ihre Entsprechung in der psychischen Täuschung eines bewegten Lebens. Hier ist die Ursache der Täuschung nicht nur eine umfassende kosmische māyā genannte Kraft. Im erkenntnistheoretischen Horizont hat die falsche Erkenntnis (mithyājñāna) ihren Ursprung in der angeborenen, aber nicht irreversiblen Tendenz des menschlichen Bewusstseins, einmal vertraute Qualitäten eines Objektes auf ein anderes zu übertragen. In gleicher Weise, wie man etwa die Qualität von Silber auf Perlmutt überträgt (vgl. Upad, II.2.53), überträgt man auch Eigenschäften äußerer und innerer Gegenstände auf ātman und verkennt so sein wahres Wesen, das caitanya ist, reines Bewusstein und als solches mit brahman identisch. Wenn aber die kosmologische und epistemologische Kodifizierung des Advaita-Vedānta und natürlicherweise die Dualität von Lehrer und Schüler selbst zur Sphäre des Nicht-Wissens gehören, so lautet ein fingierter Einwand in Śaṅkaras berühmten Kommentar zu BS II.1.14, so fragt sich, wie dann die von ihm gelehrte Einheit des ātman wahr sein kann? »[A]lles Welttreiben bleibt solange wahr, wie das Brahman-sein noch nicht erkannt ist, ähnlich wie das Treiben im Traume wahr bleibt, so lange noch kein Erwachen erfolgt ist. So lange nämlich von jemandem die Einheit mit dem allein realen Ātman noch nicht erkannt ist, so lange kommt er gar nicht zu dem Bewusstsein, dass das Welttreiben in Erkenntnismittel, Erkenntnisobjekten und Zwecken unwahr sei; vielmehr hält jede Kreatur das, was bloß Umwandlung [des allein realen Brahman] ist, infolge der irrigen Vorstellung eines ›Ich‹ und eines ›Mein‹ für die Seele und das der Seele angehörige und ermangelt der Erkenntnis ihres ursprünglichen Brahman-seins; und daher kommt es, daß vor dem Erwachen zum Brahman-sein das gesamte weltliche und vedische Treiben zu Rechte besteht«. (BSBh, II.1, 284)

Die Hierarchisierung von parā- und aparāvidyā ist also nicht im strengen Sinne eine Werthierarchie, sondern Ausdruck einer Anschauung, die selbst überhaupt erst im Zustand des parāvidyā Geltung bekommt. Das Wissen des Welttreibens, dessen valide Formen für den Vedāntin in sinnlicher Wahrnehmung, Schluss, Schrift, Vergleich, Behauptung und Nicht-Verstehen bestehen, gilt, wie 342 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Deutsch (1963, 83) betont, nur deshalb als aparā, weil es nicht dem abschließenden Ziel individueller Befreiung (mokṣa) dient. Vom Standpunkt des Welttreibens, im Zustand des Unwissens, haben sie ihren Ort und Wert. So, wie der Durst im Traum durch das Traumwasser gestillt wird, obgleich man mit trockenem Mund erwachen mag, so sind Mittel und Mühen der Erkenntnis im natürlichen Welttreiben solange richtig und angemessen, bis sie durch die Erfahrung (anubhūti) des ātmans solche Früchte tragen, die alle Erkenntnisanstrengung obsolet werden lassen. Wie Hacker (1978c) ausführt, hat sich das »radikalmonistische Philosophieren […] nie damit begnügt, den Inhalt der Erfahrung, das Viele, Werdende und Ungeistige in paradoxer Zuspitzung einfach als nichtexistent abzutun«. (Ebd., 121) Die Differenzierung in wahrhaftes und nicht-wahrhaftes Sein ist im frühen Vedānta Gauḍapādas und Śaṅkaras »sozusagen ein Trost für den nach Erlösung Strebenden: wenn sich nachweisen läßt, dass die Welt kein echtes Sein hat, so ist es sinnvoll und aussichtsreich, die Erlösung in der vom Monismus verstandenen Weise zu suchen.« (Ebd.) Erst die späteren Vedāntins, »getrieben von der Notwendigkeit polemischer Auseinandersetzung und Verteidigung, untersuchen den besonderen Seinsgrad der Welt in ausgedehnten Diskussionen«. (Ebd., 122) 75 Auch wenn die Betonung zweier Stufen des Seins 76 für Śaṅkara also nicht so sehr ontologische Herausforderung als vielmehr Anlass für eine Reihe bewusstseinsphilosophischer Differenzierungen ist, so können wir doch nicht jenen kosmologisch-ontologischen Begriff übergehen, der zuweilen als pars pro toto für die Grundauffassung des Advaita-Vedānta überhaupt angesehen wird: māyā, die kosmische Täuschung.

Für einen Überblick über die dabei gewonnenen Differenzierungen siehe Hacker (1978c), 122–128. 76 Neben der dualistischen Perspektive zweier Stufen von Wirklichkeit, die nur vorläufigen Charakter hat, und der monistischen bzw. nicht-dualen Perspektive, die in ihrer Darstellung stets auf die dualistische Perspektive zurückbezogen bleiben muss, lässt sich in der Tradition des Advaita-Vedānta auch eine holistische bzw. integrative Perspektive finden. Hier verschafft sich die Erfahrung der Nicht-Dualität einen Ausdruck, der keine Rücksicht auf die Grenzen von Kohärenz und Konsistenz rationaler Argumentation nimmt, sondern entfaltet sich im ästhetischen Rahmen philosophischer Lehrgedichte. Vgl. z. B. Ribhu-Gītā (Ramamoorthy & Nome 2000), AvadhūtaGītā (Ashokananda 1988), Aśtavakra-Gītā (Byrom 2001). 75

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6.1.4.2 Die große Täuschung und der Deus ludens Insbesondere der Vedānta Śaṅkaras und seiner Schüler wird schon bald nach seiner Kodifizierung als māyāvāda angesprochen. Ein Ausdruck, der in der westlichen Indologie in der Regel und mit durchaus pejorativer Absicht als Illusionismus wiedergegeben wird. Für eine Philosophie, deren Ausgangs- und Endpunkt die unerschütterliche Einsicht ist, dass brahman die eine unveränderliche Wirklichkeit ist, besteht ein nicht unerheblicher Erklärungsbedarf hinsichtlich der Mannigfaltigkeit und relativen Beständigkeit der psychischen und physischen Erscheinungen. Diese Erklärung soll māyā (›Illusion‹, ›Trugbild‹, ›Zauber‹) liefern. Auch wenn, wie Hacker (1978d, 93) gezeigt hat, der Ausdruck māyā bei Śaṅkara selbst eine nur untergeordnete Rolle spielt und erst bei seinen Schülern eine dezidiert philosophische Auseinandersetzung und Entfaltung erfährt, ist die metaphysische Intuition, die durch die Charakterisierung als Illusionismus zum Ausdruck gebracht werden soll, auch bei Śaṅkara wirksam und ein Blick auf sein Verständnis von māyā daher aufschlussreich. Sein Interesse liegt aber weniger bei einer Theorie der großen Täuschung, als bei der Entwicklung solcher Unterscheidungen, deren Anerkennung ihre Enttäuschung zur Folge haben. Zu den epistemologischen Fundamenten des Advaita-Vedānta gehört die Vorstellung, dass menschliches Bewusstsein aufgrund von Unwissen (avidyā) eine falsche Vorstellung von sich selbst und der Welt, in der es sich separat zu entfalten scheint, gewinnen kann, ja natürlicherweise gewinnen muss. Metaphysisch gewendet entspricht dies der Frage, in welchem Verhältnis brahman zur Welt materieller Erscheinung (jagat) bzw. zur Sphäre der ›Namen und Formen‹ (nāmarūpa) 77 steht; eine Frage, deren traditionelle und ungenaue Antwort »māyā« lautet: Die Welt der Erscheinungen ist ein Trugbild, das durch das kosmische Wirken der māyā, das ewig unveränderliche brahman überlagert bzw. aus diesem hervorgeht. 78 Epistemologische und metaphysische Elemente sind im Advaita Śaṅkaras so eng aufeinander bezogen, dass avidyā und māyā zuweilen nicht nur substituierbar sind, (vgl. Hacker 1978d, 96) 79 sondern, dass auch die Hacker (1978d) zeigt, dass nāmarūpa Śaṅkaras vorrangiger Ausdruck ist. Der Ausdruck māyā kann sowohl die ephemere Erscheinungswelt selbst, als auch jene kostmische Kraft meinen, die diese Welt erzeugt und erhält. 79 Es lassen sich auch Stellen finden, in denen māyā lediglich als Effekt der avidyā 77 78

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metaphysischen Fragen im Grunde an einem epistemologischen Begriff geklärt werden können, dem Begriff der Übertragung (adhyāsa). Charakteristisch für den Begriff der māyā bei Śaṅkara ist aber noch eine andere Doppeldeutigkeit. Neben dem entschieden absolutistischen Sinn, demzufolge māyā die Illusion ist, die dem Individuum die wahre (Selbst-)Erkenntnis verbirgt (vgl. Glasenapp 1948, 69), findet sich auch eine theistische Bedeutung. Hier bezeichnet māyā eine göttliche Kraft (śakti). Der höchste, überkonfessionelle Gott, īśvara, erschafft und erhält die Welt der Erscheinungen vermöge seiner māyā genannten śakti. Mit Hacker (1978d, 100) muss darauf hingewiesen werden, dass auch īśvara nicht eine bestimmte Gottesgestalt meint, sondern synonym mit brahman gebraucht wird. Die Doppeldeutigkeit von māyā spiegelt somit zwei Modi brahmans wider: Streng genommen gehen alle qualitativen und quantitativen Bestimmungen brahmans fehl, es ist nirguṇa (›ohne Eigenschaften‹). In uneigentlicher Rede, »zum Zweck der Belehrung und Verehrung« (Glasenapp 1948, 77), erscheint brahman aber auch als saguṇa (›mit Eigenschaften versehen‹). Im absolutistisch-illusionistischen Sinne gilt brahman zwar als aktuales Substratum der Erscheingungswelt, es lässt sich aber nicht sagen, dass sie ein Erzeugnis brahmans ist. Diese Lesart zielt demnach nicht auf eine kohärente Kosmologie, sondern auf das entsprechende soteriologische Gewicht, d. h. auf den Weg zur Überwindung der Täuschung, nicht ihrer müßigen Erklärung. Im Rahmen der theistisch-kosmologischen Lesart ist māyā hingegen die Kraft brahmans, die die Welt der Erscheinungen hervorbringt und erhält. Die Bestimmung brahmans als einzig, unveränderlich und eigenschaftlos wird hier prekär, insofern man es nun als erzeugende göttliche Instanz missverstehen könnte, die die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen vermöge eines bestimmten Willens als von sich verschieden hervorbringen würde. Diesem Umstand begegnet Śaṅkara sowohl auf ontologischem als auch theologischem Wege. Ontologisch wendet er sich gegen zwei Theorien von Kausalität. Diesen kausaltheoretischen Bemühungen liegen dabei die Begriffe der causa efficiens (nimittakāraṇa) und der causa materialis (upādānakāraṇa) zugrunde (vgl. Hacker 1953, 6). Die Schulen des Nyāya-Vaiśeṣika vertreten eine Auffassung mit kreationistischen verstanden wird. Vgl. etwa Śaṅkaras Kommentar zur Māṇḍūkyaupaniṣadkārikā I. 6. 6. Vgl. Nikhilananda (2000).

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Zügen, derzufolge die Wirkursache von der Materialursache wesensverschieden ist und so auch die aus dem Material erzeugte Wirkung von seiner Ursache. 80 Diese asatkāryavāda genannte Auffassung entwickelt sich in Abhebung gegen die vom Sāṅkhya gelehrte Vorstellung (satkāryavāda), derzufolge Wirkursache und Materialursache identisch sind, bzw. die Wirkung bereits stets der Potenz nach in ihrer Ursache enthalten sein muss. Auf dieser Grundlage gelangt das dualistisch inspirierte Sāṅkhya zu einer Kosmologie, die die Manifestation der Wirkung, obgleich von der Ursache ungeschieden, als Veränderung, d. h. als Vollzug einer aktuellen Transformation der Ursache betrachtet. Sowohl kreationistische als auch transformatorische Kausalität (pariṇāmavāda) werden vom illusionistischen Advaita-Vedānta abgelehnt. Zwar teilt er die grundlegende Vorstellung des satkāryavāda, dass Wirk- und Materialursache ungeschieden und mit ihrer Wirkung wesensgleich sind, den Prozess der Manifestation lässt er aber nicht als faktisches transformatorisches Entstehen, sondern lediglich als scheinbare Entwicklung gelten. Für diesen vivartavāda ist der Kerngedanke jeder Kosmogonie von vornherein prekär. Denn das einzig wirklich Seiende, brahman oder ātman, ist ohne Veränderung und Werden, reines Sein. Alle Verhältnisse des Entstehens und der Entwicklung sind von dem Standpunkt des wahrhaft Seienden (satya) nichtwahrhaftseiend (asatya) oder vielmehr falsch (mithya). Denn zugleich gilt dem Vedāntin auch die sinnliche Wahrnehmung (pratyakṣa) als – wenn auch vorläufiges – Erkenntnismittel. Da die Welt sinnlicher Erscheinung aufgrund der Wahrnehmung nicht zu leugnen ist, kann sie nicht im eigentlichen Sinn als nichtwirklich (asat) gelten. Vivarta bezeichnet in kosmologischer Hinsicht darum den »Übergang zum weder als seiend noch als nichtseiend Bestimmbaren«. (Hacker 1953, 191) 81 Auf dieser Auffassung ruht die als ārambhavāda bezeichnete und von Mayeda (1992) als »theory of atomic agglomaration« (19) charakterisierte Vorstellung, dass die Wirkung einer Veränderung »etwas wesenhaft anderes [ist] als der Urstoff oder die materielle Ursache. Das Musterbeispiel hierfür ist ein Gewebe, das im Vergleich zu den Fäden, die es konstituieren, etwas völlig Neues darstellt.« Hacker (1953), 5. Bemerkenswerterweise verwendet Śaṅkara dasselbe Beispiel zum Beleg der gegenläufigen Position. Gerade die Wahrnehmung eines Stoffes zeige, dass wir die Wirkung nie ohne ihre Materialursache erfassen. Vgl. BSBh, II.1.15, 265 f. 81 Für eine detaillierte philosophische Analyse der entsprechenden Ontologie am Beispiel des Vedāntin Vimuktātman siehe Schmücker (2001), insbesondere 83–87. 80

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Diese Vorstellung ist bereits bei Śaṅkara anzutreffen. Auch wenn er über den Ausdruck vivarta noch nicht verfügt, so ist auch sein Illusionismus darum nicht, wie etwa einige der ontologischen Bestimmungen Gauḍapādas, als »idealistisch« zu kennzeichnen: »obschon die Welt, wie Śaṅkara […] nicht müde wird zu beteuern, S c h e i n ist, existiert sie ›draußen‹ ; das heißt aber: sie ist o b j e k t i v e r S c h e i n .« (Ebd. 213) Die ontologischen Raffinessen dieses Illusionismus und seiner späteren Variation müssen uns hier nicht weiter interessieren. 82 Seine anschauliche Entsprechung findet die eigentümliche Bestimmung der Welt als ›weder-seiend-noch-nichtseiend‹ bei Śaṅkara in einem überkommenen Beispiel sinnlicher Täuschung. Ein Wanderer, der im nächtlichen Wald plötzlich etwas unter seinen Füßen spürt, das er im Halbdunkel des Waldes für eine Schlange hält, wird sich durch das Licht der Fackel des durch seinen Aufschrei herbeigerufenen Freundes versichern können, dass das, was er für eine Schlange gehalten hat, in Wirklichkeit ein Stock war. Für Śaṅkara erweist diese Enttäuschung aber nicht die Unwirklichkeit der Schlange, sondern die Wirkung einer Bewusstseinsstruktur, die er adhyāsa nennt, eine Übertragung, d. h. »das auf Erinnerung beruhende Erscheinen eines früher Gesehenen an einem anderen« (Abh, 25). Die Welt der Erscheinungen wie auch das Erleben als personale Gestalt werden als Ergebnis dieser angeborenen (naisargika) Struktur, nicht etwa in solipsistischer Manier als Resultat einer subjektiven Konstruktion oder Halluzination verstanden. Neben dieser illusionistischen Hinsicht, deren erkenntnistheoretische und genuin phänomenologische Dimension uns schon deshalb noch beschäftigen muss, weil sie die Grundlage der Selbstbewusstseinstheorien des Vedānta bildet, kommt der entschiedene Monismus des Advaita-Vedānta auch in theologischer Hinsicht zum Tragen. Die untrübliche Einheit und Unveränderbarkeit brahmans wird vom Vedānta theologisch durch eine für das abendländische Gottesverständnis wenigstens ungewöhnliche Charakterisierung göttlicher Schöpferkraft geklärt. Im Brahmasūtra wird brahman zunächst abgesprochen, als Für eine historische und systematische Analyse des vivartavāda, dessen vollständige Ausbildung erst nach Śaṅkara einsetzt, siehe Hacker (1953). Ferner Deutsch (1969), 34–40. Einen allgemeinen Überblick über die kausaltheoretischen Erwägungen der einzelnen Darśanas gibt Mohanty (2000), 73–79.

82

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Schöpfer der Erscheinungswelt in Frage zu kommen, wenn das bedeuten würde, dass es als Handelndes aus einem Beweggrund einen Zweck verfolgte (BS, II.I.32). Das würde, so Śaṅkara, entweder der absoluten Selbstgenügsamkeit oder der Allmacht brahmans widersprechen, die die Veden lehren. Eine Handlung, die durch einen noch zu realisierenden Beweggrund getrieben ist, würde einen bestimmten Mangel brahmans anzeigen. Aber zu sagen, brahman handle wie »ein geistiger Mensch sinnlos aus Mangel an Verstand und ohne Beweggrund« (BSBh, 310), ist aus naheliegenden Gründen schwierig zu vertreten. In seinem Kommentar zum nächsten sūtra (BS, II.I.33) widerspricht Śaṅkara sodann der impliziten Annahme, dass alles Tun einen Zweck verfolge. Wie ein König, wunschlos, »sich zum bloßen Spiele mit Scherz oder Lustwandel beschäftigt, – und wie das Ausatmen und Einatmen auch ohne ein weiteres, äußeres Motiv von selbst vor sich gehen, so mag auch die Thätigkeit Gottes ohne irgendein anderes Motiv von selbst und nur zum Spiele (līla) statthaben.« (BSBh, 310) 83 Die theistische Dimension brahmans impliziert demnach keine intentionale oder teleologische Struktur der Schöpfung, die stets die Fragen nach der Vollkommenheit brahmans aufkommen lassen würde. Die Geste der Schöpfung ist spielerisch. Obgleich die theologische Dringlichkeit der Theodizee bereits im nächsten sūtra verhandelt und mit Rücksicht auf die Vorstellung des Karma 84 gelöst wird (vgl. BS, II.I.34), bleibt die theistische Dimension brahmans doch impersonal. So wie sich im Rahmen des vedāntischen Illusionismus nicht sagen lässt, dass die Welt sei oder nicht sei, so lässt sich im Rahmen des vedāntischen Theismus von ihr nicht sagen, sie sei absichtlich oder unabsichtlich entstanden. 85 Śaṅkara gibt überdies zu bedenken, dass die Rede von Schöpfung nur vorläufig sei und nicht als Rede über Entstehen und Erhalt einer natürlichen Realität missverstanden werden dürfe. Sie betrifft »das Der Vergleich mit dem wunschlosen König lässt an die Metapher des Überflusses denken, die Plotins Begriff der Emanation trägt. Zum Verhältnis Plotins und des Neuplatonismus zur indischen Philosophie im Allgemeinen und zum AdvaitaVedānta im Besonderen siehe Staal (1961) sowie Elberfeld (2017), 37–47. 84 Der Begriff des karman kam bisher noch nicht zur Sprache. Auch wenn er als zentraler Terminus indischer Philosophie angesehen werden muss, so ist sein systematischer Stellenwert für die weiteren Zusammenhänge zu vernachlässigen. Für eine gründliche Untersuchung siehe Halbfass (2000). 85 Es ist daher offenkundig, dass die Idee eines Deus ludens nicht mit noch so ausgefeilten Vorstellungen eines intelligenten Designers vereinbar ist. 83

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Welttreiben in Namen und Gestalten (nāmarūpa) […], welche nur auf Nichtwissen (avidyā) beruhen, und […] nur den Zweck hat zu lehren, dass die Welt ihrem Wesen nach Brahman ist«. (BSBh, 311) Die Erklärung, die līla 86 bietet, kann nur für jene Wert haben, die die Welt fälschlicherweise als von brahman verschieden betrachten. Sie ist selbst spielerische Erklärung, die es erlaubt, die dualistischen Schwierigkeiten eines Theismus zu umgehen, entweder einen begrenzten Gott oder eine unbegrenzte Welt annehmen zu müssen. (Vgl. Deutsch 1973, 44) Die theistisch-kosmologischen Hinsichten der līla sind dem illusionistischen Verständnis der māyā darum nachgeordnet. 87 Das gilt nicht nur hinsichtlich der erzeugenden, sondern auch der erhaltenen Kraft Īśvaras. In letzter Konsequenz des nichtdualen Vedānta kann brahman nicht Puppenspieler eines karmisch organisierten saṃsāras sein, aus dem sich die Einzelseelen zu befreien suchen. Brahman »spielt« alle Rollen selbst. Der Versuch konsistenter Systematisierung eines solch radikalen »Monismus« gerät stets da an eine Grenze, wo die essentielle Unvollständigkeit begrifflicher Ordnung offenkundig wird, die sich nicht selbst darstellen, allenfalls ausdrücken lässt und so den methodischen Ort einer Selbsterfahrung anzeigt, an dem eine monistische Ontologie in eine nicht-duale Soteriologie umschlägt. Wie līla ist auch māyā für den Advaita-Vedānta eigentlich Ausdruck jenes Unwissens (avidyā), zu dessen Tilgung ihre systematische Darstellung beitragen soll. Zuletzt ist auch die Illusion nur Illusion. Es ist darum zu beobachten, dass Śaṅkara die Versuche, māyā und das Verhältnis brahmans zur Welt der Erscheinungen in philosophischen Kategorien zu klären, im Grunde für aussichtslos und unbefriedigend hält. Es ist jeder Art von Beschreibung unzugänglich (anirvacanīya). (Vgl. VC, § 109) Die diversen, sich augenscheinlich widersprechenden Ausführungen zur māyā sind daher nur mit Rücksicht auf die verschiedenen Stufen der Realität bzw. der höheren und niederen Wissenschaft und den ihnen korrespondierenden Erfahrungen zu verstehen. Und da diese Erfahrungen im Advaita-Vedānta als Selbsterfahrungen in einem strengen Sinne zu verstehen sind, werden uns die hier skizzierten Differenzierungen wieder begegnen. Für den weiEine historische und etymologische Analyse dieses Ausdrucks gibt Coomaraswamy (1941). 87 Für eine ontologische Diskussion der Doktrin spielerischer Illusion siehe Frost (1998), sowie die dort angegebene Literatur. 86

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teren Gang der Untersuchung können wir uns daher der Auffassung Glasenapps anschließen: »Nach der hier vertretenen Meinung ist die Māyā im Sinne von Śaṅkaras voll entwickeltem System losgelöst von allen ihren früheren Bedeutungen und historischen Beziehungen nichts anderes als das unbegreifliche große Unbekannte, welches zwischen der Erfahrung der All-Einheit und der vielheitlichen Erscheinungswelt steht und nicht weiter erklärbar ist. Die Māyā läßt sich nicht erkennen, sondern nur aus ihren Wirkungen erschließen. Sie hat kein Sein, denn sonst müßte außer dem Brahman noch etwas anderes existieren, dieses wäre nicht das All-Eine, das allein alle Realität besitzt.« (Glasenapp 1948, 70 f.)

Die eigentümliche Vorläufigkeit philosophischer Bestimmungen und die zugleich sensible Entwicklung ihrer begrifflichen Gehalte lässt aber die Frage dringlich erscheinen, welche Mittel und Methoden der Advaita-Vedānta für die Sphäre des Welttreibens auf der einen Seite und für die schließliche Entdeckung des illusionären Charakters dieser Welt auf der anderen in Anspruch nimmt. 6.1.4.3 Mittel und Methoden Nach Maßgabe der leitenden methodologischen Unterscheidung zwischen einem »Standpunkt des Welttreibens« (vyavahāraavasthā) und einem zu realisierenden »Standpunkt höchster Realität« (paramārthaavasthā) werden sich auch die erkenntnistheoretischen Bestimmungen entlang dieser Unterscheidung ordnen lassen. Die Sortierung der dem Advaita-Vedānta zufolge gültigen Erkenntnismittel innerhalb des natürlichen Welttreibens und seiner Erkenntnisinteressen ergibt sich mit Blick auf die vom Nyāya-Vaiśeṣika entwickelte Aufstellung, auf die sich alle Darśanas ergänzend oder beschränkend beziehen. Der Vedānta erkennt die vier vom Nyāya postulierten pramāṇas (›das, was zu wahrer Erkenntnis führt‹) an, Wahrnehmung (pratyakṣa), Schlussfolgerung (anumāna), Vergleich (upamāna) und sprachliche Überlieferung (śabda). Darüber hinaus werden Annahme bzw. Behauptung (arthāpatti) und Nicht-Wahrnehmung bzw. die Wahrnehmung eines Mangels (anupalabdhi) als Mittel zu validem Erkenntnisgewinn angeführt. 88

88

Vgl. Mohanty (2000), 16 f.

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Die Wahrnehmungstheorie des Advaita-Vedānta ist im Vergleich zu denen der restlichen Darśanas – allen sechs gilt sinnliche Wahrnehmung als valides Mittel der Erkenntnis – von besonderer Art. Sinnliche Wahrnehmung ist ihr zufolge einerseits eine Form mentaler Modifikation (vṛtti), andererseits nimmt der AdvaitaVedānta im Allgemeinen und Śaṅkara im Besonderen ein der vṛtti zugrunde liegendes Zeugen-Bewusstsein (sāksīpratyakṣa) an. 89 Da Letzteres in unmittelbarer Verbindung zu den Begriffen von Selbst und Selbstbewusstsein steht, werden wir dieser Differenzierung weiter unten besondere Aufmerksamkeit schenken. Unter den verbleibenden pramāṇas können Schlussfolgerung und sprachliche Überlieferung als die philosophisch entscheidenden gelten. Auch wenn Śaṅkara keine Mühen auf die Entwicklung einer Theorie der Schlussfolgerung verwendet – diese findet sich im Rahmen orthodoxer Traditionen vor allem im Nyāya und NavyaNyāya –, ist der Begriff gültigen Schließens schon deshalb von Interesse, weil sich dem an westlicher Philosophie geschulten Blick eine eigentümliche Verschiebung der Valenz formaler Struktur zeigt. Die erkämpfte und zuweilen bis zur Selbstverständlichkeit vertraute Auffassung, die logische Struktur gültiger Schlüsse sei letztlich äquivalent zu den Gesetzen eines reinen Denkens, die im Rahmen logischer Kalküle zur Anschauung gebracht werden können, findet in der indischen Philosophie keine Entsprechung. Fragen logischer Bewegung des Denkens haben ihren Ort innerhalb einer auf sinnlicher Wahrnehmung gegründeten Theorie der Erkenntnis, deren maßgeblicher Schlussmodus die Induktion ist. 90 Der aus dem NyāyaSūtra (I.I.32) überkommene fünfgliedrige Syllogismus ist, wie das tradierte Beispiel des rauchenden Berges zeigt, mehr Rekonstruktion bzw. Demonstration eines Erkenntnisprozesses, als Applikation einer deduktiven Struktur. (i) (ii) (iii) (iv) (v)

89 90

These: Begründung: Beispiel: Anwendung: Schlussfolgerung:

Auf dem Berg ist Feuer. Weil dort Rauch zu sehen ist. Wo Rauch ist, ist Feuer (wie in der Küche). Es ist Rauch auf dem Berg zu sehen. Also ist auf dem Berg Feuer.

Ebd., 20. Vgl. Mohanty (2000), 22 f., ferner Deutsch (1973), 92 f.

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Für die Erkenntnis phänomenaler Zusammenhänge und der entsprechenden Bildung wahrer Urteile erkennt Śaṅkara den Schluss als valides Erkenntnismittel an, lässt eine aus dem Geiste des Induktionsproblems gespeiste Kritik aber unentwickelt. 91 Das zentrale Element der Schlussstruktur ist, wie Hirst (2005) gezeigt hat, für Śaṅkara vor allem im Rahmen der Auseinandersetzung mit der schriftlichen Überlieferung von Relevanz. Die autoritative Mitteilung (śabda), und d. h. vor allem der Vedānta der Upaniṣaden ist Hirst zufolge das pramāṇa mit der höchsten Valenz, weil es das einzige der sechs Erkenntnismittel ist, das über den »Standpunkt des Welttreibens« hinzuweisen vermag. Der Grund für diese besondere Leistung ist letztlich ein ästhetischer. 92 Die in den Schriften kodifizierten Bilder und Erklärungen pffi dienen als Beispiel (dṛṣṭānta, ›mit einer Anschauung endend‹ ; dṛś, ›sehen‹, ›betrachten‹). Sie vermitteln und ermöglichen jene Anschauungen, die die begrifflichen Differenzierungen so kontextualisieren, dass sie Anlass für einen Nachvollzug werden können, in der sich die Emphase auf die Wirklichkeit brahmans und seine Identität mit dem ātman als lebendige Erfahrung (anubhava) realisiert 93. Das Ziel des Vedānta ist nicht die erkenntnistheoretische Kritik eines möglichst umfassenden und lückenlosen Wissens von den natürlichen Zusammenhängen der phänomenalen Welt, sondern eine Realisation des Vermögens, das solch ein Wissen obsolet macht. »Was ist das, durch dessen Wissen alles gewußt wird?« (MU, I.1.3) 94 Hirst (2005, 50) verweist darauf, dass Śaṅkara etwa das Beispiel einer von Ziegenhirten gebrauchten Rauch-Schachtel anbringt, die feuerlos rauchend, die Grenze der Gültigkeit beispielhafter Allaussage anzeigt. 92 Eine solche funktionale Interpretation der śruti muss in einer historischen Perspektive natürlich ergänzt werden durch den Hinweis, dass Veda und Vedānta heilige Schriften (āgama) sind und für Śaṅkara nicht nur aufgrund besonderer Eigenschaften, sondern schon traditionell deshalb den höchsten Rang unter den pramānas einnehmen, weil sie unmittelbarer und darum unfehlbarer Aushauch brahmans sind. Vgl. Glasenapp (1948), 59–62. 93 Vgl. BSBh, I.1.2, 12 »In diesen Worten weist die Schrift sich selbst zur Gefährtin die menschliche Erkenntnis. Auch sind nicht so wie bei der Pflichterforschung die Schriftworte die alleinige Autorität auch bei der Brahmanforschung; vielmehr haben hier die Schriftargumente und, je nachdem es kommt, auch die aus der Wahrnehmung (pratyakṣa) usw. geschöpften Argumente ihre Beweiskraft, und zwar weil die Brahmanforschung in der unmittelbaren Erfahrung (anubhava) ihr Endziel findet […].« 94 Zitiert nach Mall (1984), 267. In Śaṅkaras Kommentar zu diesem Śloka gibt er die folgende durch ein Gleichnis angereicherte Reformulierung dieser Frage: »There are in the World varities of pieces of gold etc. which are known by ordinary people from 91

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Diese eigentümliche transzendental anmutende Wendung 95, die von Śaṅkara nicht selbst methodologisch eingeholt, sondern gewissermaßen operativ gelassen wird, kennzeichnet den typischen Taumel zwischen erkenntnistheoretischen und soteriologischen Bemühungen. Denn da sich die Beantwortung dieser Frage nur mit der direkten Erfahrung des absoluten brahman (brahmānubhava) einstellt, fällt sie nicht mehr in den Bereich des natürlichen Welttreibens. Vielmehr entfaltet sich der Weg zu ihrer Beantwortung im Rahmen einer entschiedenen Negation äußerer wie innerer Phänomene weltlichen Erlebens, die in einer im Weiteren näher zu bestimmenden Selbsterfahrung kulminiert. Die offenkundige Widernatürlichkeit dieser Erfahrung wird dadurch begründet, dass brahman weder der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich, noch erschließbar oder auch nur in einem vertrauten Sinne gegenständlich erkennbar ist. »Nicht sehen kannst du den Seher des Sehens, nicht hören kannst du den Hörer des Hörens, nicht verstehen kannst du den Versteher des Verstehens, nicht erkennen kannst du den Erkenner des Erkennens.« (BĀU, III.4.2)

Die Kena-Upaniṣad gibt dieser Bestimmung brahmans einen paradoxalen und geradezu methodischen Sinn, wenn sie das Nicht-Erkennen (avijñātam) brahmans zur Möglichkeitsbedingung seines Erkennens (vijñātam) macht. »Nur wer es nicht erkennt, kennt es. Wer es erkennt, der weiß es nicht, – Nicht erkannt vom Erkennenden, Erkannt vom Nicht-Erkennenden!« (KeU, II.3)

In dem entsprechenden Kommentar legt Śaṅkara dar, dass die Überzeugung, brahman könne Gegenstand von Erkenntnis sein, auf einem mangelnden Unterscheidungsvermögen beruht. Sie kann nur dem plausibel bleiben, der den propositionalen Gehalt »ich kenne the recognised fact of the substantial oneness of gold etc. Similarly does there exist a single (substance that is the) cause of the whole Universe of diversity, by knowing which one (substance) all things become known?« (MUBh, 78) 95 Die Kennzeichnung dieser Fragerichtung als transzendental ist wenigstens unvorsichtig. Ein Kantischer Formalismus in Gestalt der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis liegt hier freilich nicht vor. Was die Rede von Transzendentalität in diesem Zusammenhang in einer phänomenologischen Hinsicht legitimiert, ist die Bestimmung brahmans als Quelle (bhūtayonim, vgl. MUBh, I.1.6, 84), die hier sowohl ontologischen als auch erkenntnistheoretischen Sinn haben kann.

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brahman« selbst schon für die Kenntnis brahmans halten möchte, oder brahman mit einem Element bewegten Bewusstseins identifiziert, also glaubt, brahman vermittels sinnlicher Wahrnehmung, der Vernunft, der Erinnerung oder des Verstandes und ihren vergegenständlichenden Leistungen habhaft werden zu können. »The error involved in the idea, ›Brahman is known to us‹, is possible for those, however, who, bye reason of nondiscrimination between Brahman and the limiting adjuncts (upādhi), and because of their familiarity with the adjuncts such as the intellect, consider the senses, the mind (manas) and the intellect (buddhi) as the Self (ātman).« (KeUBh, 65)

Wenn sich brahman aber jeder gegenständlichen Erkenntnis entzieht, und nicht im propositionalen Sinne eines ›wissen, dass …‹ zugänglich sein kann, wie ist dann die Rede zu verstehen, dass brahman jenen unbekannt ist, die es wirklich kennen? Śaṅkara zufolge findet sich die Antwort in dem folgenden Stanza, die in der Übersetzung Deussens aber unklar bleibt. »In wem es aufwacht, der weiß es Und findet die Unsterblichkeit; Daß er es selbst ist, gibt Kraft ihm, daß er dies weiß, Unsterblichkeit.« 96

Gambhīrānanda übersetzt: »It (i. e. Brahman) is really known when It is known with (i. e. as the Self of) each state of consciousness, because thereby one gets immortality. (Since) through one’s own Self is acquired strength, (therefore) through knowledge is attained immortality.« (Gambhīrānanda 2012, 66)

Zum Vergleich auch Sastri: »(The Brahman) is known, when it is known well as the witness of every state of consciousness; for (by such knowledge) one attains immortality. By his Self he attains strength and by knowledge, immortality.« (Sastri 1898, 62)

Deussens Übersetzung gibt dem für Śaṅkaras Kommentar zentralen Ausdruck prātibodha-viditam die vermeintlich passive aber zugleich emphatische Wendung des Erwachens. 97 Śaṅkara liest hingegen nicht pratibodha-viditam matam amṛtatvam hi vindate ātmana vindate vīryam vidyayā vindate amrtam (KeU, II.4). 97 Das Sanskrit verfügt wie das Griechische auf der Ebene der Verbflexionen nicht nur über Aktiv und Passiv, sondern auch über das Medium (ātmanepadam, ›Wortform in Bezug auf sich selbst‹). Mit Elberfeld sei deshalb darauf hingewiesen, dass das Span96

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nur pratibodha (›Erwachen‹), sondern zugleich: prāti (›angesichts‹, ›hinsichtlich‹); bodha (›Erkenntnis(inhalte)‹); vidita (›verstehen‹) – ›das, was angesichts der Erkenntnis(inhalte) verstanden wird‹. »Pratibodha-viditam, known with reference to each state of intelligence. By the word bodha are meant the cognitions acquired through the intellect. The Self, that encompasses all ideas as its objects, is known in relation to all these ideas. Being the witness of all cognitions, and by nature nothing but the power of consciousness, the Self is indicated (lakṣyate) by the cognitions themselves, in the midst of cognition, as pervading (all of) them. There is no other door to Its awareness.« (KeUBh, 67 f.)

Brahman ist das, was allen Bewusstseinsbewegungen zugrunde liegt, und als solches ist es das Selbst, das bleibt, wenn alle Bewegungen des Bewusstseins zu Grunde gegangen sind. Es lässt sich entlang, aber nicht vermittels der geistigen Vermögen erkennen. So wie sich die Präsenz des Windes an den sich bewegenden Bäumen zeigt, so zeigt sich das Selbst an den Bewegungen (vṛtti) des Geistes. (Vgl. KeUBh, 67) Im Rahmen sinnlicher Wahrnehmung, begrifflicher Vermittlung und ihrer rationalen sowie reflexiven Organisation kann ich in diesem Horizont nur erkennen, was ich nicht bin. In erkenntnistheoretischer, noch nicht methodischer Hinsicht, sind es die Bewusstseinsbewegungen, die ihren Grund im Selbst anzeigen. Und so, wie ātman als selbstleuchtendes Bewusstsein an allen Akten gegenwärtig sein muss, kann es in einem entscheidenden Sinne niemandem unbekannt sein. »In fact, without determining the Self – I am I – none seeks to determine the knowable objects. Indeed the Self is unknown (aprasiddha) to nobody.« (BhGBh, II. 18, 32)

Die Weise, in der das Selbst niemandem unbekannt sein kann, ist aber grundlegend verschieden von einem entschiedenen Wissen um das nungsfeld von Aktiv und Passiv sowie die selbstverständliche Subjektzentriertheit, die uns die deutsche Sprache nahelegt, schon mit Blick auf die indoeuropäische Sprachfamilie nicht ohne Alternative ist. »In der Wendung ›in Bezug auf sich selbst‹ ist nicht danach unterschieden, ob ein einzelnes Subjekt sich auf sich selbst bezieht, oder ein Geschehen sich insgesamt auf sich selbst bezieht. Es wird vielmehr der Selbstbezug insgesamt in den Mittelpunkt der Auslegungen gerückt. Das Medium wäre somit die Aktionsform der Selbstbezüglichkeit, wobei weder ein eindeutiges Subjekt noch Objekt vorausgesetzt werden muss. In dieser Perspektive kann das ›Erwachen‹ […] als ein medialer Vorgang interpretiert werden, in dem das Subjekt der Tätigkeit aus der Selbstbezüglichkeit des Geschehens erst hervortritt.« Elberfeld (2013), 237.

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eigene Selbst, das man als reflexives Wissen ansprechen kann und das an der Natur des ātman notwendigerweise fehlgeht, weil sie keinem pramāṇa verfügbar ist. 98 Darum kann selbst die heilige Überlieferung da, wo sie von ātman handelt, nicht zu seiner Erkenntnis, sondern nur zur Dezimierung der Überlagerungen beitragen, die das NichtSelbst bilden. »And the scripture (śāstra) which is the final authority obtains its authoritativeness regarding the Self, as serving only to eliminate the adhyaropana or superimposition (on the Self) of the attributes alien to him, but not as revealing what has been altogether unknown.« (Ebd.)

Die eigentümliche Selbstverständlichkeit des ātmans, die so, wie sie auffällig wird, schon prekär ist, wird durch die Betonung einer umfassenden Unverfügbarkeit konterkariert und die Möglichkeit, in eine bewusste Vertrautheit mit sich Selbst zu geraten, so zu einer singulären Anstrengung, die selbst die heiligen Schriften nur unterstützend begleiten können. Für Śaṅkara realisiert sich diese Vertrautheit in dem Vermögen, die zerstreuende Verdinglichung und die falsche Übertragung (adhyāsa) auf das Selbst als solche zu identifizieren und so die natürliche Tendenz kontinuierlicher Selbstverdinglichung zu tilgen. Die Erkenntnis des Selbst ist als Selbsterkenntnis deshalb nicht eigentlich Erkenntnis, sondern Anerkenntnis. Es gilt anzuerkennen, dass das selbstleuchtende Selbst das einzige ist, dass ich nicht nicht sein kann. Es ist demnach die Dimension von Bewusstsein, der gegenüber alle Vollzüge und Gegenstände unserer geistigen Vermögen phänomenalen Charakter haben und das darum nicht selbst gegenständlich erfasst, sondern nur in Beziehung zu diesen Leistungen bzw. vielmehr im Absehen von ihnen zu gewinnen ist. Die deutlichste methodische Entsprechung dieser Bestimmung des Selbst ist das aus der Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad überkommene und von Śaṅkara mitunter exaltiert in methodischer Absicht verwen-

Vgl. BhGBh II.18, 32. Dass das Erkennen durch Nicht-Erkennen auch nicht einfach im Falle einer natürlichen Einfalt, etwa durch einen angeborenen Mangel an kognitiven und reflexiven Fähigkeiten, realisiert ist, betont Śaṅkara in KUBh, 65. Hier zeigt sich die vertraute Spannung philosophischer Selbsterkenntnis, dass sie ihre Bedingung in einem entschiedenen Streben hat, sie sich in diesem Streben aber zugleich selbst zerstreut und sich die Reflexion so als etwas zeigt, das sich erst im Durchgang durch ein Unendliches erschöpfen muss, um seiner natürlichen Verfassung inne zu werden.

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dete neti neti. 99 Der Ausdruck neti neti (›nicht dies, nicht dies‹) erscheint in der Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad (II.3,6) als einzig angemessene Bezeichnung (ādeśa) brahmans. In seinem Kommentar zu dieser Stelle sowie in der entsprechenden Erörterung in BSBh III.2.22 gibt Śaṅkara diesem Ausdruck hingegen nicht nur einen referenztheoretischen, sondern einen methodischen Sinn. Motivation dieser Wendung ist Śaṅkaras erklärte Absicht, die Upaniṣaden als Texte zu verstehen, in denen die Identität von ātman und brahman durch Lehre und Beispiel realisierbar wird und sich der Ausdruck neti neti nicht nur auf brahman bezieht, sondern auf das Selbst selbst. »Because, instructed in this way, the student knows himself to be Brahman, thoroughly understands the import of the scriptures, and is afraid of nothing. If, on the other hand, the individual self be one, and what is described as ›Not this, Not this‹ be something else, then the student would understand just the reverse truth, viz that Brahman is something, and that he is something else.« (BĀUBh, 237 f.)

Als Ausdruck einer negativen Theologie des absoluten brahman, ist das neti neti in seiner referenztheoretischen Funktion hinreichend, insofern es dem Umstand Rechnung trägt, dass brahman keine Bestimmungen »as name, or form, or action, or heterogeneity, or species, or qualities« (ebd., 239) zukommen können. Wenn man aber anerkennt, dass das Selbst nichts anderes als brahman ist, bekommt das Referenzproblem einen performativen Sinn. Das neti neti der negativen Theologie charakterisiert brahman als das unbestimmbare andere, das in seiner absoluten Transzendenz, dort drüben, unverfügbar bleiben muss. Im Rahmen einer Vorstellung des Absoluten, in der Transzendenz und Immanenz da ununterscheidbar werden, wo das Selbst seine Identität mit dem Absoluten realisiert, ist der Sog der via negativa nicht nur Ausdruck der Unverfügbarkeit eines transzendenten Objektes, sondern auch Verweis auf eine äquivalente Unverfügbarkeit des Subjekts. Letztere findet mit der Angabe einer negativen Bezeichnung keinen befriedigenden Abschluss mehr. Denn Zuletzt hat Slaje (2010) in einem umfassenden Artikel den Umstand in Erinnerung gerufen, zu welchem Grad die westliche Interpretationen der Upaniṣaden im Fahrwasser der Auslegungen Śaṅkaras verlaufen und mit welcher Selbstverständlichkeit etwa seine Interpretation der neti neti Phrase zur Standardinterpretation avanciert ist. Sie stehe bei Śaṅkara aber im Dienste seiner Theorie der Überlagerung (adhyāropita) und könne deshalb nicht uneingeschränkt als Quelle eines philologisch redlichen Verständnisses der Upaniṣaden gelten.

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während die Annäherung ex negativo an ein transzendentes Objekt die Antizipation einer Leerstelle motiviert, die durch eine negative Bezeichnung überbrückt wird, lässt eine entsprechende Anstrengung im Horizont lebendiger Subjektivität eine Spannung entstehen, die die Antizipation einer Wandlung motiviert. Der Punkt, an dem Selbstnegation doppelte Negation wird, in die absolute Selbstaffirmation umschlägt und in ihr zur Ruhe kommt, lässt sich selbst nicht positiv ausdrücken. Unter den Voraussetzungen, dass der Grund der Auseinandersetzung mit brahman das Verlangen ist, es zu kennen und der Weg zu dieser Kenntnis über eine Form von Selbsterkenntnis führt 100, kann das neti neti neben der negativ bezeichnenden Funktion 101 somit auch ein Verfahren der Reduktion anzeigen. (Vgl. Hacker 1995, 155) »Denn bei einer auf eine bestimmte Anzahl beschränkten Negation könnte, wenn Brahman dieses oder jenes nicht ist, ein Weiterfragen, was denn Brahman sonst sei, sich behaupten, bei einer Allmöglichkeitsbezeichnung (vīpsā) aber wird durch Verneinung alles möglichen Seins das Brahman als die nie Objekt seiende innere Seele festgehalten, und das Weiterfragen hört auf.« (BSBh, III.2.22, 468)

Die bloße negative Annäherung an ein transzendentes Objekt führt bei vollständiger Negation entweder in einen voreiligen Nihilismus 102 oder motiviert bei partieller Negation ein stetiges Weiterfragen. »So that description of Brahman would be useless, for it would not satisfy one’s desire to know It. […] But when through the elimination of all limiting adjuncts the desire to know about space, time and everything else (that is not Brahman) is removed, one realise one’s identity with Brahman, the Truth of truth, which is homogeneous like a lump of salt, and which is Pure

100 Siehe Śaṅkaras Zitatsammlung in der Einleitung zu BĀU, II.Iv,: »›The Self alone is to be meditated upon‹ (I.IV.7); ›of all these, this Self alone should be realised‹ (ibid), for ›It is dearer than a son‹ etc. (I.IV.8). In the course of explanation of the above passage already introduced, the aim of knowledge and its realisation to that aim have been stated in the sentence, ›It knew only Itself as, ›I am Braham.‹ Therefore It became all‹ (I.IV.10). Thus it has been mentioned that the inner Self is the domain of knowledge.« (BĀUBh, 241) 101 Hirst (2005, 144) weist darauf hin, dass Śaṅkara den Ausdruck ādeśa (Bezeichnung) pffi wiederholt als nirdeśa paraphrasiert und so »purposely exploits the literal sense of diś, ›to point out‹, strenghened by the prefix, nis.« 102 Vgl. BSBh, 466. »Denn auf irgendetwas Realem muss man fußen, wenn man etwas als nicht real negieren will.«

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Intelligence without interior or exterior; his desire to know is completeley satisfied, and his intellect is centred in the Self alone.« (BĀUBh, 239 f.)

Der methodische Sinn des neti neti ergibt sich mithin im Horizont von Śaṅkaras vielleicht originellstem philosophischen Begriff, dem der Übertragung (adhyāsa oder adhyaropa). Insbesondere in den entsprechenden Passagen der Upadeśasāhasrī wird deutlich, dass neti neti für Śaṅkara ein reduktives Verfahren repräsentiert, dessen Zweck in der fortschreitenden und letztlich faktischen Tilgung aller (begrifflichen) Beilegungen (upādhi) besteht, vermöge derer sich das Selbst aufgrund einer natürlichen Tendenz zur Selbstobjektivierung als jīva, d. h. körperlich, handelnd und ichlich individuiert begreift (vgl. Upad, I.1.17; I.2.1; I.14.11; I.18.25). Dieses Verfahren negierender Reduktion, das sich im Rahmen einer umfassenden diskriminierenden Leistung der Unterscheidung zwischen Selbst und NichtSelbst (Vgl. VC, § 71; tavedānīmātmānātmavivecanam) vollzieht, erschöpft sich, wie Colmans (2000, 289 f.) gezeigt hat, strukturell aber nicht in Identifikation und Negation der Überlagerungen. Es verwirklicht sich in einem fast protocartesischen 103 Sinne in dem indirekten Aufweis (lakṣanā) dessen, was keiner Negation anheimfallen kann. 104 Die negative Theologie des absoluten Selbst, die in den entsprechenden Erörterungen Śaṅkaras zum Ausdruck kommt, findet eine positive aber vorläufige Auflösung in dem Verweis auf jene Bestimmung, die brahman als das sine qua non von Wahrnehmung überhaupt auszeichnet. »Das höchste Brahman, welches von der Weltausbreitung, die negiert wurde, verschieden ist, warum wird dieses Brahman, wenn es wirklich ist, nicht erkannt? Darauf dient zur Antwort: ›dasselbe ist das Unoffenbare‹, d. h. es ist nicht durch Sinneswahrnehmung erkennbar, weil es bei aller Wahrnehmung der Zuschauer ist.« (BSBh, III.2.23, 536)

103 Ein in methodischer Hinsicht zentraler Unterschied dieses reduktiven Programms zu Descartes Zweifelmethode ist, dass Śaṅkara nicht an einem fundamentum inconcussum für den irrtumsfreien Gang philosophischer Analyse interessiert ist, sondern wenn man so will ein »fundamentum impassibilitatis« vor Augen hat, das das unsichere weltliche Streben zur Ruhe kommen lässt. Im Unterschied zu epikureischen und stoischen Formen der ataraxía handelt es sich aber auch nicht in erster Linie um eine kultivierte Gestalt, sondern um eine gewonnene Dimension von Subjektivität. 104 Siehe in diesem Zusammenhang Hintikkas Interpretation des cogito sum als einer performativen Form des Philosophierens. Vgl. Hintikka (1962).

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Der Begriff des Zuschauers bzw. Zeugen (sākṣin), der am Ende steter Reduktion auf brahman/ātman als gegenüber dem bewegten Leben beständiges Bewusstsein verweist, zeigt sich nicht nur als der Nukleus der Erkenntnistheorie Śaṅkaras, sondern an ihm konturiert sich auch die Bestimmung des Selbst als selbsterscheinend (svataḥsiddha) und selbstleuchtendes (svayaṃprakāśa) Bewusstsein. Das letztlich auch methodologische Ärgernis dieses Bewusstseinsbegriffs ist offenkundig. Es besteht in der Emphase darauf, dass er auf der einen Seite erst infolge einer singulären Anstrengung um den Gewinn eines Zustands höchster Wahrheit (paramārthaavasthā) einleuchtet. Auf der anderen Seite dient er als Bestimmung des ureigenen Selbst, das grundlegend vertraut ist (prasiddha, vgl. BSBh, I.1.2, 32). Das philosophische Streben ist darum in einem methodischen, nicht aber soteriologischen Sinne redundant. »The attainment of the Self cannot be, as in the case of things other than It, the obtaining of something not obtained before, for here there is no difference between the person attaining and the object attained. Where the Self has to attain something other than Itself, the Self is the attainer and the non-Self is the object attained. This, not being already attained, is separated by acts such as producing, and is to be attained by the initiation of a particular action with the help of particular auxiliaries. […] But this Self is the very oposit of that. By the very fact of Its being the Self, It is not seperated by acts such as producing. But although It is always attained, It is separated by ignorancy (avidyā) only.« (BĀUBh, I.4.7, 78)

Man könnte geneigt sein, es als einen philosophischen Treppenwitz abzutun, wäre das gelungene Streben nach dem Absoluten mit der Verwunderung und Entzückung darüber zu vergleichen, dass die Brille, die man so dringlich sucht, die ganze Zeit auf der eigenen Nase saß. Diese Figur, die an die Kantische Unbequemlichkeit, wie auch das phänomenologische Ärgernis gegenständlicher Erkenntnis und nicht zuletzt an das Motiv der platonischen Anamnesis-Lehre denken lässt 105, verweist uns aber auf einen maßgeblichen Punkt der philosophischen Praxis Śaṅkaras, den zuletzt Taber systematisch herausgearbeitet hat. Śaṅkaras Philosophieren lässt sich nur eigentlich mit Wie Platon im Menon sieht Śaṅkara im Brahmasūtrabhāṣya den dialektischen Witz, dass ein Mensch nicht suchen kann, was er weiß, da er es weiß, und er nicht suchen kann, was er nicht weiß, denn er weiß nicht, was er suchen soll. Bei Śaṅkara gibt es aber nur ein Finden, an dem sich diese paradoxe Spannung wirkungsvoll entfaltet – das Finden des Selbst selbst.

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Rücksicht auf ein Verständnis philosophischer Praxis verstehen, deren Ziel in der Transformation des Philosophierenden liegt. (Vgl. Taber, 1983, 54–64) Wie oben gezeigt, ist das neti neti für Śaṅkara nicht nur nach Maßgabe möglichen Bezugs auf das Absolute, sondern als Vollzug entschiedener Konfrontation und Negation der täuschenden Überlagerungen des Selbst relevant. Nur so lässt sich fortschreitend in die Anerkennung von Bewusstsein einüben, das unbedingt (svatantratva) und selbstleuchtend (svayaṃprakāśa) ist. Keine Anstrengung kann es wieder beleuchten und gegenständlich verfügbar machen. Im Zustand des Nichtwissens (avidyā), in dem Bewusstsein als jīva verdinglicht scheint, entsteht die Selbsttäuschung dieser ephemeren Gestalt des personalen Selbst, nicht zuletzt aus der natürlichen Tendenz, es dennoch unablässig zu versuchen. Die methodische Nicht-Zweiheit legitimiert sich gerade dadurch, dass der Bezug auf das wahre Selbst und der Vollzug entschiedener Negation Elemente einer einzigen Bewegung sind. Die Philosophie Śaṅkaras ist im Wesentlichen eine Enttäuschung. 6.1.4.4 Śaṅkaras Schüler Zur Perspektivierung und Anreicherung der Position Śaṅkaras im Allgemeinen und der Vorstellungen von Selbstbewusstsein im Besonderen soll hier nicht darauf verzichtet werden, kurz auf die Denker zu verweisen, die sowohl historisch als auch systematisch in unmittelbarer Nähe zu Śaṅkaras Advaita-Vedānta stehen, Sureśvara, Padmapāda und Vācaspati Miśra. 106 Sureśvara, eine historisch schwer zu fassende Gestalt, hat mit seinem Werk Naiṣkarmyasiddhi (›Vollendung der Werklosigkeit‹) 107 einen methodisch wie inhaltlich höchst eigenständigen Zugriff auf

106 Auch wenn es für eine systematische Fokussierung sinnvoll sein kann, ist es an dieser Stelle nicht notwendig, auf die Vertreter des Viśiṣtādvaita-Vedānta, DvaitaVedānta oder des Dvaitādvaita-Vedānta der Bhedābheda-Schule einzugehen. Die Vorstellung bei der Vedānta-Tradition handle es sich um eine in ihrem Kern irgendwie homogene Philosophie, die in verschiedenen Facetten zum Ausdruck kommt oder sich auf einen klar identifizierbaren Schriftkanon bezieht ist, wie Krishna (1991e) gezeigt hat, so falsch wie philosophisch unbrauchbar. Wenn im Verlauf der Arbeit verkürzt vom Vedānta gesprochen wird, so ist damit der Advaita-Vedānta Śaṅkaras gemeint. 107 Vgl. Übertragung und Kommentar in Grimes (1992). Siehe ferner die detaillierten Erörterungen in Hacker (1951).

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

eine Reihe von Elementen des Advaita-Vedānta geschaffen, der, wie auch die mit schulbildender Wirkung entwickelten Positionen Padmapādas und Vācaspati Miśras, vor allem für die Frage nach dem Verhältnis des ātman zum jīva und der philosophischen Anstrengung zur Zerstreuung der entsprechenden Täuschung herangezogen werden kann. Padmapāda, wie Sureśvara unmittelbarer Schüler Śaṅkaras, hat sich durch einen kurzen, Pañcapādikā genannten Kommentar zu Śaṅkaras Brahmasūtrabhāṣya eine Stellung in den vordersten Reihen der Vedānta-Tradition gesichert. Vor allem durch Vermittlung des Subkommentars (vivaraṇa) seines Schülers Prakāśātman tradiert die Position Padmapādas eine als Vivaraṇaprasthāna geläufige Interpretationslinie des Advaita-Vedānta. Einer der zentralen und viel diskutierten Punkte dieser Schule, zu der auch Sureśvara gezählt werden kann, 108 betrifft dabei die Frage nach Basis (āśraya) und Objekt (viṣaya) des Unwissens (avidyā). Padmapāda und Sureśvara machen beide geltend, dass die avidyā jene Kraft ist, die das selbstleuchtende Bewusstsein verschleiert und so den jīva und die Welt (jagat) hervorbringt. Das Objekt der avidyā ist also brahman/ātman. Vor dem Hintergrund der Doktrin des Advaita, dass brahman die einzige Wirklichkeit und Substrat aller Erkenntnis ist, gilt es der Vivaraṇa-Schule zufolge darüber hinaus als Subjekt der Täuschung. Brahman selbst ist es, das einer umfassenden Selbsttäuschung unterliegt. Gegen die Interpretation, brahman sei zugleich Objekt und Subjekt des Unwissens, hat vor allem eine Schule Einspruch erhoben, deren Tradition mit einem dem Gelehrten Vācaspati Miśra zugeschriebenen Kommentar zu Śaṅkaras Brahmasūtrabhāṣya anhebt. Vācaspati Miśra ist eine schillernde Figur der indischen Geistesgeschichte und einer ihrer Universalgelehrten. Er zählt zu den wenigen Philosophen, der allen Darśanas zum Teil maßgebliche Kommentare hat angedeihen lassen und so zu ihrer Verbreitung, im Falle des Nyāya sogar zur Wiederbelebung beigetragen hat. 109 Sein Bhāmatī genannter Kommentar zum Brahmasūtrabhāṣya ist Gründungsschrift und Namensgeber der als Bhāmatī prasthāna bekannt gewordenen Tradition des Advaita-Vedānta. Als spezifische Differenz dieser Schule muss die Auffassung gelten, dass das Substrat, auf dem die

108 109

Vgl. Grimes (1992), 150. Vgl. Roodurmun (2010), 34.

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Historisch-systematische Orientierung

avidyā ihre täuschende Wirkung entfaltet, nicht brahman sein kann, sondern der individuelle jīva sein muss. Während brahman als selbstgenügsames und selbstleuchtendes Bewusstsein auch von der Bhāmatī-Schule als einziger Kandidat für das Objekt in Frage kommt, das von der verbergenden, überlagernden Kraft der avidyā betroffen sein kann, so kann es schon deshalb nicht zugleich der Ort der avidyā sein, weil das bedeuten würde, dass das reine unwandelbare brahman einer irgendwie gearteten Einschränkung unterliege. Stattdessen gilt der individuelle jīva, das bewegte personale Selbst, als Subjekt von Täuschung und Ignoranz. Dem Einwand, der jīva sei überhaupt nur Wirkung von avidyā, begegnet die Bhāmatī-Schule mit der Doktrin von der gemeinsamen Anfangslosigkeit der jīvas und der avidyā und der Vorstellung einer je individuellen Form der Täuschung. 110 Beide Schulen, die erkenntnistheoretisch orientierten Vivaranaprasthāna und die zu ontologischen Differenzierungen neigende Richtung der Bhāmatī bieten je eigene Facettierungen des Verhältnisses von jīva und ātman, das Śaṅkara im Brahmasūtrabhāṣya als ein Verhältnis nach Art einer Spiegelung (ābhāsa, ›Aussehen‹, ›Schein‹) angegeben hatte. Das empirische Selbst ist demnach zwar illusionäre Erscheinung, vermöge seiner Quelle im ātman aber gleichwohl real. »Auch ist diese individuelle Seele (jīvātmān) anzusehen als ein bloßes Scheinbild (ābhāsaḥ) der höchsten Seele (paramātman), vergleichbar dem Sonnenbild im Wasser; sie ist nicht geradezu jene selbst, und ist doch auch nicht ein von ihr verschiedenes Ding.« (BSBh, II.3.50, 391) 111

Die pratibimbavāda genannte Theorie der Vivarana-Schule begreift die strukturelle Verfassung des empirischen Selbst ebenfalls als Spiegelung (pratibimba; prati, ›gegen‹, ›nach‹ ; bimba, ›Bild‹) 112 brahmans. Diese Spiegelung ist, Roodurmun zufolge, aber nicht abkömmliche Erscheinung, sondern »prototype« und als solcher identisch, mit brahman und gleichermaßen real. Die Unwirklichkeit des empirischen Selbst und der entsprechende Anlass zu philosophischem Fragen, entsteht lediglich aus der Unkenntnis der Quelle des jīva und der

Vgl. ebd., 36. Dazu auch Grimes (1992), 149–155. Vgl. VC, § 218. »The ignorant, on seeing the reflection of the sun in the water in a jar, considers it to be the sun intself. So too, the ignorant through delusion, identifies himself with the reflection of the consciousness (cidābhāsam) appearing in the intellect and consider it to be ›I‹ – his own Self.« 112 Für eine Diskussion der Spiegelungkonzepte siehe Timalsina (2015). 110 111

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

damit einhergehenden Selbsterfahrung, von dem selbstleuchtenden (svayaṃprakāśa) Bewusstsein getrennt zu sein, das brahman ist. 113 Für die Bhāmatī-Schule gilt das empirische Selbst im Rahmen ihrer als avacchedavāda (avaccheda, ›Abschnitt‹, ›Limitierung‹) bekannt gewordenen Theorie hingegen als eine Art Begrenzung bzw. Limitierung des brahman. Auch für diese Auffassung hat Śaṅkara den Weg geebnet. In BSBh II.3.29–32, 414–421 erklärt er, wie noch vertiefend zu zeigen ist, das Selbstverständnis Handelnder und Genießender zu sein, sich in der Welt erkennend und wertend bewegen und sich dessen erinnern zu können, entstehe durch bestimmte Formen der Überlagerung (upādhi, ›Beilegung‹). Vācaspati Miśra entwickelt in seiner Bhāmatī im Anschluss daran ein Verständnis des Verhältnisses des jīvas zum ātman, das den jīva als durch upādhis begrenzte Erscheinung des ātman bestimmt 114. Das für diese Auffassung zentrale und auch bei Śaṅkara viel gebrauchte Bild ist das eines Kruges, dessen Innen- und Außenraum unterscheidbar, aber nicht trennbar sind. So wie der Raum im »Inneren« von der Integrität des Kruges abhängt, so auch der jīva von der Integrität der upādhis. Wenn der Krug zerbricht, bleibt nichts als Raum, wenn die upādhis »durchschaut« sind, bleibt nichts als das Selbst. 115

6.2 Methodische Orientierung 6.2.1 Disziplinäre Verquickungen Bevor wir uns tiefer in Darstellung und Diskussion einiger Elemente des Advaita-Vedānta und seines Begriffs von Selbstbewusstsein begeben, muss das Verständnis philosophischer Disziplinarität zur Sprache kommen, mit dem wir uns der indischen Philosophie im Allgemeinen und dem Advaita-Vedānta im Besonderen zu nähern haben. Es sollte breits hinreichend deutlich geworden sein, dass das leidlichen Klichee, westliches Philosophieren vollziehe sich als IntellekVgl. Roodurmun (2010), 137 f. Vgl. ebd., 139. 115 Seinen kodifizierten Ursprung dürfte dieses Bild in der Brahmabindu-Upaniṣad haben. »Wie der Raum, den der Krug einschließt | Denn wenn der Krug zerbrochen wird, | Bricht nur der Krug, der Raum bricht nicht, | Das Leben ist dem Krug gleich.« (Vers. 13, zitiert nach Deussen 2006, 784). 113 114

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Methodische Orientierung

tuelle Leistung exklusiv in logischen, diskursiven Formen, östliches hingegen nehme als »spirituelles« Unterfangen lediglich intuitive, mystischen Formen von Erkenntnis in Anspruch, nur haltlos genannt werden kann. 116 Gleichwohl speisen sich die systematischen Gehalte der Philosophie Śaṅkaras aus einem Philosophieverständnis, dem die neuzeitliche Konzentration auf rein epistemologische Fragestellungen fern liegt. Zwar werden Fragen nach den Mitteln, Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis in allen Systemen indischer Philosophie gestellt und ausgesprochen differenziert beantwortet 117, besonders im Vedānta aber kaum ohne sich im Rahmen eines soteriologischen Horizontes zu bewegen. Die Ausbildung von Wissenschaftlichkeit, die selbstgenügsam eine idealisierende und kritische Disziplin kultiviert, ist in Indien zwar sehr wohl anzutreffen. In den großen Schulen und so auch im Advaita-Vedānta, sind die logischen, erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen, metaphysischen sowie ethischen Fragen aber einer grundlegenden Tendenz verpflichtet, die sich in dem soteriologischen Ideal von mokṣa (›Befreiung‹ bzw. ›[Er]lösung‹) artikuliert. 118 Für den Advaita-Vedānta Śaṅkaras ist mokṣa Ausdruck einer 116 Für eine kenntnisreiche Destruktion dieses Klischees siehe Mohanty (1993), 313– 330. 117 Für eine einführende Darstellung erkenntnistheoretischer und wissenschaftstheoretischer Vorstellungen der Darśanas siehe Mohanty (2000), sowie Gupta (2012). Einige wohlgehütete Mythen über indische Philosophie entzaubert Krishna (1991a) und (1991b). 118 Eine andere, erfrischende Form von Befreiung stößt Daya Krishna an, wenn er die so fraglose Auffassung, die differentia specifica indischer Philosophie bestehe in ihrem Ideal von mokṣa zur Disposition stellt. Zwar geben auch die um logische, erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch Fragen bemühten Sūtras des Nyāya und Vaiśeṣika mokṣa als Ziel ihrer Bemühungen aus, aber: »It is inconceivable that anyone genuinely desirous of seeking mokṣa ever attemted the Nyāya or Vaiśeṣika way.« Krishna (1991c), 30. Das Ideal spiritueller Befreiung genießt Krishna zufolge innerhalb indischer Kultur so umfassende Anerkennung, dass es nicht nur als Ziel von Malerei, Dichtung, Musik und Tanz, sondern auch aller klassichen systematischen Felder angesehen wird, seien sie mit Sex, Wirtschaft, Medizin, Grammatik oder Politik befasst. Demnach lässt sich das Streben nach mokṣa schwerlich als besondere Auszeichnung der Darśanas ansehen. Hinsichtlich des Advaita-Vedānta ließe sich dann argumentieren, dass es deshalb die wohl bekannteste und lebendigste Schule indischer Philosphie ist, weil sie – zumindest in ihrer klassischen Form bei Śaṅkara – nicht nur wie andere Darśanas und später auch die Post-Śaṅkara-Schulen (vgl. ebd., 32) die Anerkennung und Lösung systemtischer Probleme in Auseinandersetzug mit mokṣa entwickelt, sondern diesen Bereich menschlicher Erfahrung auch ins Zentrum ihrer Philosophie stellt. Daraus lässt sich zwar so wenig, wie bei allen anderen Darśanas ein Argument dafür ziehen, dass wir es hier nicht mit »proper philosophical problems«

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

entschiedenen Suche nach Befreiung aus dem als unbeständig und darum leidvoll erlebten Kreislauf von Geburt und Tod (saṃsāra). Ihre Realisation wird zu Lebzeiten angestrebt. Das Ideal des AdvaitaVedānta ist dabei der jīvanmukta, der ›lebendig Befreite‹ 119, der zu Lebzeiten seine Identität mit brahman erkannt hat. »Wer durch Erkenntnis (prajñayā) keinen Unterschied zwischen dem Selbst und brahman, noch zwischen brahman und dem Universum sieht, hat die Kennzeichen eines jīvanmukta.« 120

Im engeren Sinne zielt die Befreiung auf die oben skizzierte und im Weiteren zu entwickelnde Form der enttäuschenden Identifikation der Überlagerungen des Selbst durch Ich-Sinn (ahaṃkāra) und die entsprechenden Bindungen an die ephemeren Strukturen weltlichen Erkennens. Es wäre somit verfehlt, wollte man diese Tendenz mit einer religiösen Orientierung in eins setzen. Die spirituelle Dimension menschlichen Strebens, die sich in dieser Tendenz Ausdruck verschafft, lässt sich im Falle des Advaita-Vedānta (es gilt aber auch für den theistisch orientierten Vedānta Rāmānujas) nicht ohne weiteres als Versuch verstehen, einer religiösen Offenbarung mit den Mitteln rationaler Argumentation beizukommen und sie im Rahmen einer natürlichen Theologie zugänglich und gerechtfertigt zu halten. Gegen eine solche Parallelisierung mit Elementen einer thomistischen Scholastik spricht etwa das genuin praktische Moment der Einübung, in eine Selbsterfahrung, für deren Vollzug auch die heiligen Schriften nur Anlass, nicht aber Ersatz sein können. Das Ziel der soteriologischen Bemühungen im Advaita-Vedānta ist nicht eine Rechtfertigung einer bestimmten Menge von Glaubenssätzen, auch nicht die Einübung in einen hingebungsvollen Glauben (bhakti), sondern Wissen/Erkenntnis (jñāna). Im Advaita-Vedānta ist jñāna auf das Engste mit mokṣa verknüpft. Befreiung heißt hier Aufhebung von NichtWissen (ajñāna bzw. avidyā) und der entsprechenden Zerstreuung (ebd.) zu tun haben. Es könnte aber umgekehrt bedeuten, dass der Advaita-Vedānta deshalb die bekannteste Schule indischen Denkens ist, weil sie der überkommenen Auffassung eben am deutlichsten entspricht. 119 Für weitere systematische und historische Diskussionen zu den Formen der Befreiung zu Lebzeiten (jīvanmukti) und der Befreiung nach dem Tode (videhamukti) siehe die Beiträge in Bigger (2010). 120 VC, § 440. na pratyagbrahmaṇorbhedam kadāpi brahmasargayoḥ prajñayā yo vijānāti sa jīvanmuktalakṣaṇaḥ. Ich orientiere mich im Folgenden an der englischen Übersetzung von Chaitanya (2012). Die deutsche Übertragung erfolgt mit Rücksicht auf den Originaltext.

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täuschender Übertragung (adhyāsa). Diese Tendenz befreiender Erkenntnis hat zum einen dazu geführt, das Verhältnis zwischen einer westlichen und einer indischen Philosophie in vulgären Begriffen binärer Opposition zu bestimmen: intellektuell-intuitiv, diskursiv-spirituell, theoretisch-praktisch usw. Zum anderen hat sie dazu geführt, dass gerade von Seiten solcher Philosophen, die sowohl durch eine westliche als auch indische Schule der Philosophie gegangen sind, ein auffälliger Versuch zu verzeichnen ist, den mitunter pejorativen Einschätzungen westlicher Philosophen dadurch zu begegnen, die logische und analytische Seite der orthodoxen indischen Philosophie in einem mitunter bedenklichen Maße zu betonen. 121 Diese intellektuelle Überkompensation ist angesichts eines tief verwurzelten Generalverdachts der Gefahr romantischer Schwärmerei verständlich. Sie zersetzt jedoch die Aussicht auf eine unprätentiöse Auseinandersetzung mit denjenigen ästhetischen und begrifflichen Differenzierungen, die im Rahmen einer für den westlichen Leser zunächst unsachlich erscheinenden soteriologischen Präsumtion gewonnen wurden. Entgegen einer verbreiteten Auffassung erschöpft sich die soteriologische Tendenz der Darśanas nicht in der Pflege körperlicher oder meditativer Übungen, auch wenn diese maßgebliches Element der die intellektuellen Anstrengungen fundierenden transformativen Praxis sein mögen. Insbesondere im Vedānta spielt das denkerische Element aber eine entscheidende Rolle in der Kultivierung solcher Praxis. Das hat seinen Grund schon darin, dass die Kantische Einsicht in die Blindheit begriffloser Anschauung eine gewisse wenigstens methodische Entsprechung in der soteriologischen Propädeutik des Advaita-Vedānta hat. Die begrifflichen Differenzierungen erkenntnistheoretischer und bewusstseinsphilosophischer Art dienen hier eben nicht allein der Entwicklung einer Theorie der Wahrnehmung und Erkenntnis, sondern sie sind zugleich Voraussetzung für den sicheren Gang spiritueller Praxis. Eine der vier Voraussetzungen, die ein Advaitin mitbringen muss, ist der viveka 122, das Vermögen zwiVgl. Gupta (2012), 24 f. und Mohanty (1993), 321. Diese postkoloniale Tendenz hat erhebliche Folgen für das Selbstverständnis zeitgenössischer indischer Philosophie: »It is too Anglophone and ›modern‹ to be interesting for scholars of the Sanskrit and indigenous South Asia, but remains too ›alien‹ and non-mainstream for Anglophone philosophers outside India.« Coquereau-Saouma/Freschi (2018), 357. Für einige fruchtbare Versuche, sich der Herausforderung zeitgenössischer indischer Philosophie zu stellen, siehe die entsprechenden Aufsätze in SOPHIA 57 (2018). 122 Vgl. Vivekacūḍāmaṇi, § 19–20. Die anderen drei sind 1. ein brennendes Streben 121

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schen Wirklichem, d. h. Beständigem, und Unwirklichem, d. h. Ephemerem (nityānityavastuvivekaḥ) unterscheiden zu können. Dieses Vermögen kann als eine Funktion der buddhi (vgl. Upad, I.12.14) und damit in einem gewissen Sinne als propädeutisches, weil rationales Unterscheidungsvermögen gelten 123. Sein methodisch reflektierter Gebrauch ist einer heuristischen Haltung verpflichtet: Uns kann nur das als Gegenständlichkeit gelten, wovon wir einen Begriff haben. Im Horizont der Orientierung vedāntischer Philosophie an einem Ideal von Selbsterkenntnis zeigt sich die propädeutische Dringlichkeit begrifflicher Differenzierung in dem Umstand, dass der Weg zu solcher Selbsterkenntnis in einer Art negativen Phänomenologie gesehen wird. Sie findet ihren methodischen Ausdruck, wie schon gezeigt wurde, in dem neti neti der Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad. 124 Die Frage »Wer bin ich?« führt den Advaitin auf einen Weg beständiger Reduktion, ›nicht dies, nicht das‹. 125 »Only the method of reduction identifies the authentic core, i. e. the self.« (Hacker 1995, 155) Eine solche reduktive Leistung setzt nicht nur in den subtilen Bereichen des inneren Erlebens eine klare Identifikation jener Elemente voraus, die als ephemere Phänomene von der permanenten Dimension des Bewusstseins zu unterscheiden sind. In diesem Sinne lassen sich weite Teile des Advaita-Vedānta, wie im nächsten Abnach Befreiung (mumukṣālinaḥ), 2. Anhaftungslosigkeit (virāga) und 3. eine Reihe von sechs (Charakter)Eigenschaften: Selbstbeherrschung (dama), Vertrauen, Glaube (śraddhā), Verstandesruhe (śama), Sammlung (uparati), Geduld, Mut (titikṣā), Fokus (samādhana). Vgl. dazu auch Deussen (1906), 83–86. Ferner Glasenapp (1948), 128– 130. Taber sieht in Śaṅkaras Betonung dieser Voraussetzungen zu Recht einen Beleg dafür, dass mokṣa sich nicht ausschließlich im Sinne eines plötzlichen Erleuchtungserlebnisses einstellt, sondern schon bei Śaṅkaras der Kultivierung einer propädeutischen transformativen Praxis bedarf, die sich in einem allmählichen Schwinden des Nichtwissens niederschlägt. Vgl. Taber (1983), 22–25. 123 Ich spreche hier von einer Propädeutik der Unterscheidung weil sie letztlich vorbereitenden Charakter hat und in einer unmittelbaren Erfahrung kulminiert, die die unterscheidenden Vermögen des Bewusstsein und seine akzidentellen Überlagerungen transzendiert. Vgl. VC, § 357. 124 Vgl. Upad, I.1.17. »[The Śruti passage] ›Not thus! Not so!‹ excluding the body and the like, leaves Atman unexcluded so that [one] may know Atman free from distinction. Thereby nescience is removed.« 125 Vgl. Upad, I.2.1. »As [Atman] cannot be negated, [It] is left unnegated [by the Śruti] ›Not thus! Not so!‹. One attains [It] in such way as ›I am not this. I am not this.‹« Auch Upad, I.18.25. »[The Śruti] ›Not thus! Not thus!‹ negates all things, including the notion of agency which is superimposed upon Atman, Pure Consciousness, by the bearer of the ›I‹-notion, and it negates also the bearer of the ›I‹-notion.«

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schnitt zu zeigen ist, als eine Phänomenologie des Bewusstseins verstehen, deren anschauliche Aufdeckung der Bewusstseinsdimensionen und ihres Fungierens zugleich eine Einübung in diejenige Dimension ist, die auch diesem Fungieren gegenüber primordial ist. Im Rahmen einer solchen Lesart kommt die Problematik disziplinärer Verquickung deutlich schwächer zur Geltung. Ob am Anfang des phänomenologischen Projektes eine Metaphysik der Befreiung oder eine Metaphysik strenger Wissenschaft steht, darf zunächst vernachlässigt werden. Ihre Implikationen müssen sich da rechtfertigen, wo sie den Gang phänomenologischer Erfahrung in einer Weise beeinflussen, die sich nicht selbst phänomenologisch, d. h. an einer »originär gebenden Anschauung« (Hua III, 51) ausweisen lassen.

6.2.2 Phänomenologie und Advaita-Vedānta Zu den rechtfertigungswürdigen Aspekten dieser Arbeit gehört dennoch ihr offenkundiges Anliegen, das Rätsel des Selbstbewusstseins sowohl aus einer jungen abendländische Schule philosophischer Denkungsart als auch einer überkommenen Tradition indischer Philosophie heraus anzugehen. Auch wenn sie nicht auf einen Vergleich hin angelegt ist, so ist der hier unternommene Durchgang doch von der Überzeugung getragen, dass sich diesseits der Unterschiede in Ansatz, Zielsetzung und Durchführung der philosophischen Bemühungen um ein Verständnis von Selbstbewusstsein, Elemente bestimmter Selbsterfahrungen angeben lassen, die eine eigentümliche Grenze menschlicher Subjektiviät anzeigen, die ich mit dem Begriff impersonaler Subjektivität anzeige. Es wäre ein sicher nahe liegender, aber unfruchtbarer Versuch, eine Auseinandersetzung zwischen Phänomenologie und einer Tradition indischen Denkens wie dem Vedānta dadurch zu plausibilisieren, von verbreiteten Vorurteilen Gebrauch zu machen. Die Phänomenologie ließe sich dann einerseits auf eine philosophische Methode mit stark idealistischen Präsumtionen reduzieren, die sich im Wesentlichen undurchsichtigen Verfahren der Epoché, Reduktion und Introspektion bedient; das indische Denken andererseits als eine grundlegend praktisch-religiöse Beschäftigung begreifen, deren philosophischer Gehalt sich aus noch viel undurchsichtigeren Verfahren der Meditation und Versenkung speist. Mit einem Rückgriff auf philosophiehistorische Erwägungen wie zum Beispiel der Betonung lebens369 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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praktischer Formen der periagogê in der platonischen und platonistischen Philosophie würde sich dabei das Bild einer bestimmten, auf individuelle Befreiung ausgerichteten philosophia perennis ergeben, die dann als Bezugsrahmen einer begrifflichen Auseinandersetzung mit den beiden Traditionen herzuhalten hätte. Eine Argumentation in dieser Richtung könnte aber, wo sie nicht in bloße Emphase verfällt, allenthalben eine kulturhistorische Plausibilität, nicht aber philosophische Sensibilität für die Möglichkeiten und Grenzen der transformativen Tendenz erzeugen, die solch ein Bezugsrahmen einfordern würde. Die Betonung transformativer Kraft philosophischer Praxis kann sich zwar aus philosophiehistorischer Besinnung speisen, muss deshalb aber nicht an die Vorstellung einer philosophia perennis zurückgebunden bleiben. Es wird vielmehr darauf ankommen, die Offenheit transformativer Bewegung in der Auseinandersetzung mit den Traditionen selbst lebendig zu halten. Eine andere Hinsicht Vedānta und Phänomenologie zueinander ins Verhältnis zu setzen, bestünde darin, den phänomenologischen Transzendentalismus zu betonen und die Differenzierung zwischen empirischem und transzendentalem Ego mit der nicht nur im Vedānta leitenden Differenzierung von personal individualisiertem Selbst (jīva) und dem höchsten Selbst (ātman oder paramātman) zu parallelisieren. Diese hin und wieder nahegelegte Hinsicht 126 führt zuweilen zu der Aussicht auf eine nicht-duale Teleologie transzendentaler Phänomenologie: »The rigoros pursuit of transcendental phenomenology to its logical end consummates in the metaphysics of non-dualism to which Advaita is commited.« (Balasubramanian 1992, 92)

Bina Gupta gibt hingegen zu Recht zu bedenken, dass die transzendentale Phänomenologie Husserl’scher Provenienz vorrangig an der Beschreibung sinnlicher und wissenschaftlicher Erfahrung interessiert sei, und damit keine Entsprechung zu einer letztlich »transformative phenomenology« (Gupta 2012, 155) haben könne. Im Yoga 126 Vgl. Mall (2012) 52. Auch bei Mohanty finden sich Bemerkungen in diese Richtung. Mohanty (1993), 252 f. Gupta (1998, 11) weißt eine solche Entsprechung entschieden zurück. Bereits Deussen hatte in seinem einflussreichen System des Advaita-Vedānta eine am transzendentalen Ich Kants orientierte Interpretation des ātman vertreten. Vgl. Deussen (1906). Deussens vom formalen Transzendentalismus Kants beeinflusstes Verständnis des ātman wird etwa von Hacker als unzutreffend verworfen. Vgl. Hacker (1995), 172.

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und Vedānta ist das erklärte Ziel des philosophischen Aufwandes die Realisierung einer Erfahrungsdimension, die man vielleicht als transzendentale Disposition ansprechen könnte. Aber selbst da, wo Husserl sich zu den lebenspraktischen Ausmaßen seiner Phänomenologie äußert und sie in die Nähe religiöser Umkehr rückt 127, ist von einem solchen trans-szientistischen Motiv kaum etwas zu spüren. Dass die maßgeblichen Intentionen am Ausgang philosophischer Praxis einander nicht entsprechen, kann allerdings kein hinreichendes Argument für ihre Beziehungslosigkeit oder gar Inkommensurabilität sein. Selbst wenn die antizipierten Ziele der philosophischen Beschäftigung divergieren, sich eine entsprechende begriffliche Architektur auszuschließen scheint, können die Mittel philosophischer Praxis konvergieren. Schon eine Philosophiegeschichte, die sich als in-, nach- und gegeneinander begrifflicher Systeme begreift, wäre ansonsten nur zum Preis erheblicher Inkohärenz zu haben. Ein vielleicht nicht weniger unbedarfter, dafür aber sachlich angemessener Versuch einer Rechtfertigung könnte demnach in einem weiteren Verständnis phänomenologischer Praxis bestehen. Zu den praktischen Idealen phänomenologischer Philosophie wird man mit einigem Recht eine vorurteils- und vorbehaltlose Kultivierung und Beschreibung bewussten Erlebens zählen, die sich etwa in der transzendental gewendeten Philosophie Husserls zu einer Analyse der immanenten und invarianten Strukturen des Bewusstseins, bei Sartre zu einer phänomenologischen Ontologie oder zu einer Phänomenologie des leiblichen Zur-Welt-sein bei Merleau-Ponty entwickeln können. Gemeinsam ist diesen Phänomenologien, dass sie auf einem radikalen Wechsel der Haltung beruhen, der durch eine epochale Wende und einen entsprechenden Bruch mit der natürlichen Vertrautheit im Welt- und Selbstbezug motiviert ist. Die Philosophie des Advaita-Vedānta kann schon in dem Maße als eine Phänomenologie des Bewusstseins verstanden werden, wie sie aus einer philosophischen Kultur ausgesprochen differenzierter Selbsterfahrung heraus entsteht. Ihr soteriologisches Motiv fordert, wie zu sehen war, außerdem einen entschiedenen Bruch mit dem natürlichen Selbstund Weltverständnis. Aber nicht nur die Radikalität und existentielle Dringlichkeit dieses Bruches rückt ihn in die Nähe existenzieller Epoché: Sowohl Weckung des anfänglichen Strebens nach Befreiung (mumukṣālinaḥ) und die dadurch ermöglichte Unterscheidungs127

Vgl. Hua VI, 140.

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haltung zwischen Beständigem und Unbeständigem (nityānityavastuvivekaḥ), als auch die befreiende Erweckung selbst sind nicht Ereignisse, die allein als Ergebnis entschiedenen Forschens gelten könnten. Neben der spannenden Redundanz des Forschens selbst – das zu Erkennende ist zugleich das nächste Selbst – öffnet sich die befreiende Einsicht durch Widerfahrnis. Es ist Einsicht, die durch ›Gunst‹ (prasada) gewonnen wird (jñānaprasādaavagamya). 128 Die dezidiert phänomenologische Qualität einzelner Darśanas ist in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. immer wieder bemerkt worden. 129 Besonders zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Schriften J. N. Mohantys und seiner Schülerin Bina Gupta. Mohanty darf als einer der prominenten Vertreter einer interkulturell orientierten Philosophie gelten, der in kleineren Aufsätzen systematisch Parallelen und Unterschiede zwischen der indischen Philosophie und der phänomenologischen Tradition aufgezeigt hat. 130 In diesem Zusammenhang hat er auf einen für das globale Anliegen dieser Arbeit einschlägigen Aspekt hingewiesen. »Thus Indian philosophical literature abounds in a descriptive phenomenology of consciousness (recall […] the Vedānta theory of the various (real or apparent) modalities of consciousness); but these do not […] amount to transcendental-constitutive phenomenology. They oscillate between descriptive psychology and metaphysics of consciousness.« (Mohanty 1993, 265)

Ein erster Vergleich zwischen Vedānta und transzendentaler Phänomenologie wird in der Tat zu der Einsicht führen, dass ein konstitutionstheoretisches Programm Kantischer und nach-kantischer Art keine Entsprechung in dem philosophischen System des Vedānta im Allgemeinen oder in seinem Begriff reinen Bewusstseins im Besonderen hat. Brahman selbst muss im Rahmen des Advaita-Vedānta zwar als Substrat (sarvādhāram) aller Erscheinungen, nicht aber als ein konstituierendes Bewusstsein gelten, das die umfassende Gegenstandskonstitution und Sinnstiftung der phänomenalen Welt hervor-

Vgl. Deussen (1906), 90–92. Siehe auch die Angaben im Abschnitt Interkultureller Horizont. 130 Vgl. etwa Mohanty (1995). Im deutschsprachigen Raum hat sich Paul Hacker in einem luziden Artikel The Idea of the Person in the Thinking of Vedanta Philosophy, des Personbegriffes Max Schelers bedient. Vgl. Hacker (1995). Ihm wird sich im Abschnitt Selbst und Person zu widmen sein. 7.2.1 128 129



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bringt. 131 Das liegt nicht zuletzt daran, dass Gegenstands- und Sinnkonstitution nicht als zu erklärende Leistungen des Bewusstseins, sondern eigentlich als dessen Trübung bzw. Verzerrung angesehen wird, die es aufzuheben gilt. »The domain of objects – real or ideal, the mundane order, that is to say, is neither created by a Godhead nor an emanation of brahman, but unreal other for which avidyā or ignorance (or Māyā) in standard usage, cosmic irgnorance) is held responsible.« (Ebd., 264)

Daraus folgt aber nicht sogleich, dass die bewusstseinsphänomenologischen Beschreibungen des Vedānta lediglich einer Psychologie oder Metaphysik verpflichtet wären, mithin keine phänomenologischen Qualitäten haben können. Eine lückenlose Verquickung von Transzendentalphänomenologie und Konstitutionstheorie mag von Husserl an vielen Stellen nahe gelegt worden sein, wie wir aber zeigen konnten, ist es nicht genug, auf das zu schauen, was Husserl über seine Phänomenologie gesagt hat, sondern vor allem auf das zu achten, was er getan hat. Im Horizont eines solchen Blickes hat sich gezeigt, dass seine transzendentale Selbstbesinnung nicht bedingungslos den leitenden methodologischen Bestimmungen eines konstituierenden Bewusstseins folgt, sondern dass der »Rechtfertigung, der Selbstverständigung der Methode […] die naiv geübte Methode vorangehen« muss. (Hua Mat. VIII, 7) Phänomenologische Beschreibung wird auch bei Husserl nicht erst dadurch transzendentale Phänomenologie, dass sie sich einer Konstitutionstheorie verschreibt, sondern dadurch, dass sie den radikalen Einstellungswechsel und reduktiven Gang der Epoché vollzieht. Darüber hinaus haben die phänomenologischen Intuitionen Sartres und Merleau-Pontys nahe gelegt, dass eine transzendentale Fragerichtung keineswegs an eine Konstitutionstheorie, sondern lediglich an eine bewusstseinsphilosophische Orientierung gebunden sind. Dementsprechend kann sich eine solche Fragerichtung zwanglos in eine ontologische oder soteriologische Richtung entfalten. Es ergibt sich also nicht zwingend, dass

Die Auffassung von brahman als Substratum, auf dem māyā die phänomenale Welt erscheinen lässt, kann wenigstens in kosmologischer Hinsicht nicht als Auffassung des traditionellen Advaita gelten. Im Brahmasūtrabhāṣya I.i.2 und 3 wird brahman als Ursache der Welt definiert. In BSBh I.iv. 23 wird brahman gegen den Dualismus des Sāṅkhya sowohl als materielle Ursache (prakṛiti) als auch bewirkende Ursache (nimittam) bestimmt. Vgl. Rao (2012), 3 f. sowie Deussen (1906), 240 f.

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sich der Vedānta in »descriptive psychology and metaphysics of consciousness« erschöpft, nur weil er keinen methodischen und systematischen Begriff eines konstituierenden Bewusstseins hat. Balslev argumentiert außerdem, dass sich der klassische Vedānta unbesehen der offenkundigen Unterschiede sehr wohl einer dem Konzept einer Konstitutionstheorie wenigstens verwandten Intuition bedient. Der zentrale Begriff der Übertragung (adhyāsa), wie er in der erkenntnistheoretischen Diskussion des Vedānta zur Erklärung sinnlicher Täuschung herangezogen wird, müsse in der entsprechenden Phänomenologie des Bewusstseins demnach nicht als ein psychologischempirisches, sondern transzendentales Konzept verstanden werden. (Vgl. Balslev 1992, 137–139) In einer für unsere weitere Auseinandersetzung mit dem Vedānta wegweisenden Form hat Gupta (1998) in ihrem Fragment of Advaita Vedānta Phenomenology eine pünktliche Kennzeichnung der phänomenologischen Methode vorgelegt, die wir im AdvaitaVedānta finden. In diesem Zusammenhang sieht sie die Differenz zwischen der Phänomenologie Husserls und derjenigen der Vedāntis darin, dass die Husserl’sche Phänomenologie letztlich an der Affirmation des Status quo einer natürlichen Einstellung und an der Grundlegung der aus dieser Einstellung erwachsenen Wissenschaften interessiert ist und deshalb über die konstitutionstheoretischen Erörterungen eines transzendental-philosophischen Systems zum methodengeleiteten Verstehen menschlicher Erfahrung und ihrer Letztbegründung nicht hinausgelangt. Der phänomenologische Impetus der Vedāntins ziele demgegenüber zwar auch auf tiefere, vielleicht transzendental zu nennende Dimensionen des Bewusstseins. Dies jedoch nicht zu dem Zweck einer Grundlegung, der Introspektion selbst äußerlichen Beschäftigungen des menschlichen Lebens, wie den Wissenschaften, sondern zur Freilegung und Realisierung dieser Dimensionen selbst. Die Freilegung der Schichten und Fundierungsverhältnisse bewussten Erlebens gewinnt ihre Geltung demnach nicht durch eine systematische Sortierung und Begründung bestimmter valider Formen prädikativer und vorprädikativer Erfahrung und ihrer Gegenständlichkeiten, sondern letztlich in dem Ausweis ihrer jeweiligen Abhängigkeit von einem Prinzip universellen Bewusstseins, das sich im Bewusstseinsvollzug als unleugbare Ständigkeit des Selbst kundtut. Ihm gegenüber gelten alle Leistungen und Gegenstände des Bewusstseins als relativ, unbeständig und damit unwirklich.

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»However, paradoxical as it may sound, the task of laying the fundation is to demonstrate that all species of knowledge are species of ignorance.« (Gupta 1998, 11)

Eine leitende Intuition des Advaita-Vedānta speist sich aus der Erfahrung phänomenaler Unbeständigkeit im Allgemeinen und der Erfahrung möglicher Täuschung im Besonderen, sowie der daraus resultierenden Unterscheidung zwischen wirklich und unwirklich. 132 Dabei ist die Vorsicht ontologischer und phänomenologischer Differenzierung zu beachten. Wenn die Advaitins etwa die phänomenale Welt als »nichtwirklich« (mithyā, wörtl. ›das Falsche‹ ; im Gegensatz zu satya, ›das Wahre‹) ansprechen 133, so ist damit keine ontologische Qualifikation bezüglich die Realität angestellt, sondern eine epistemische Bestimmung vorgenommen. Mithyā ist nicht asat 134 (das ›Nichtexistierende‹, ›Nicht-Sein‹ im Gegensatz zu sat, dem ›Real-existierenden‹, ›Sein‹). Die bewegte Welt (jagat) ist weder sat noch asat, sie ist eine Ansammlung bloßer Erscheinung auf dem Substrat von brahman (sarvādhāram) und darum lediglich mithyā. Die Welt der Erscheinungen wird darum in einem geradezu programmatischen Beispiel der Advaitins mit einer Schlange verglichen, die sich als ein Seil entpuppt. Die wahrnehmungsphänomenologischen Differenzierungen dienen den Vedantins allerdings als eine Heuristik für eine Phänomenologie des Bewusstseins, die die eigentümliche Leistung der Projektion (vikṣepa) bzw. der Übertragung (adhyāsa) bis in die innere Wahrnehmung hinein verfolgt und für eine Phänomenologie des Selbstbewusstseins fruchtbar macht. Hier kommt die weiter oben bereits erwähnte Methode der Reduktion, wohl eher im Sinne eines Zurückziehens, denn des Zurückführens, erneut zur Geltung. Als Phänomenales und damit Unbestän132 In seinem Kommentar zur Bhagavadgītā (II, 16) bestimmt Śaṅkara das Wirkliche (sat) und das Nichtwirkliche (asat) mit Rücksicht, auf die Struktur bewussten Erlebens: »For, every fact of experience involves twofold consciousness (buddhi), the consciousness of the real (sat) and the consciousness of the unreal (asat). Now that is (said to be) real, of which our consciousness never fails; and that to be unreal, of which our consciousness fails. Thus the distinction of reality and unreality depends on our consciousness. Now, in all our experience, twofold consciousness arises with reference to and the same substratum (samānādhikarana) […]. Of the two, the consciousness of pot etc., is temporary as was already pointed out, but not the consciousness of existence.« (BhGBh, 28) 133 Vgl. Śaṅkara Einleitung zum BSBh, in der er etwa die mithyājñānanimitta (›auf falscher Erkenntnis beruhende‹) Tendenz der Überlagerung als angeboren bezeichnet. 134 Vgl. Mohanty (2000), 86.

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diges gilt den Vedāntins alles das, ›was erfahrbar/sichtbar ist‹ (dṛśyam). 135 Dazu zählen nicht nur die Gegenstände der äußeren, sondern auch die der inneren Wahrnehmung, Gedanken, Wünsche, Narrative, Überzeugungen, Erinnerungen, Vorstellungen usw. Der reduktive Gang basiert auf der Überzeugung, dass »nur brahman wirklich ist (brahma satyam) und dass das phänomenale Universum nichtwirklich (jaganmithyā) ist.« (VC, § 20) Diese Überzeugung motiviert einerseits das entschiedene Streben nach der Befreiung von der Unwirklichkeit. Anderseits impliziert sie eine radikale Wendung der Haltung gegenüber der natürlichen Auffassung von Welt. Diese Wende führt in die Kultivierung einer Wachsamkeit, die Erfahrung einer permanenter Veränderung unterliegenden psychophysischen Welt von der beständigen, nicht-phänomenalen Dimension des Bewusstseins zu unterscheiden. Diese Dimension ist ātman und sie gibt sich am Ende standhafter Reduktion als sāksin, als Zeugen-Bewusstsein, zu erkennen. 136 Gupta gibt dabei zu bedenken, dass dieses Verfahren der Reduktion nicht als Denkoperation missverstanden werden darf, sondern als faktische Beseitigung einer (angeborenen) Unwissenheit bzw. Ignoranz (ajñāna oder avidyā) gelten muss. 137 »What thus arrives last in order of knowing is first in the order of being; it has been present and functioning from the very start.« (Gupta 1998, 10)

Hinsichtlich der klaren Parallelen zu den reduktiven Verfahren der Transzendentalphänomenologie Husserl’scher Couleur, die ihrerseits zur Aufdeckung der anonym funktionierenden Leistungen von Bewusstsein führen und der entsprechenden Freilegung transzendentaler Subjektivitität gibt Gupta folgende Einschätzung: »Husserl’s transcendental subjectivity is not beyond experience; it is the essence of the purified regio of experience. From a functional point of view, it is the principle on which all possible forms of knowing and experience are grounded. However, it cannot be used to describe the notion of witnessconsciousness or the self (ātman) of Vedānta.« (Ebd., 11)

Auch wenn dem in weiten Teilen zuzustimmen ist, bietet sich mit Blick auf unsere bisherigen Ausführungen eine Einschränkungen Vgl. Gupta (1998), 10. Eine besonders konzise Darstellung dieses reduktiven Weges findet sich im Śaṅkara zugeschriebenen Dṛgdṛśya Viveka, der »Unterscheidung zwischen Seher und Gesehenem«. 137 Vgl. Gupta (1998), 10. 135 136

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an. Auch Husserl konnte der Zug einer eigentümlich unverfügbaren Dimension von Bewusstsein nicht entgehen. In den späten Analysen zum Zeitbewusstsein ringt er, wie zu sehen war, mit der Einsicht in eine reflexiv nicht einholbare Dimension von Bewusstsein und entwickelt erste Sensibilität für die subtile Ungegenständlichkeit strömender Gegenwart. Zwar reicht sein Begriff transzendentaler Subjektivität in der Tat nicht hin, um ātman zu bestimmen, auf seiner Suche nach der »Urquelle« bewussten Erlebens genügen seine funktionalen Begriffe aber auch nicht, seine eigenen Entdeckungen zu beschreiben. Zudem hat er wenigstens Raum für die Einsicht, dass auch das, was er als »urphaenomenale Gegenwart« in Anspruch nimmt, »gerade dadurch, daß es für uns ›Phaenomen‹ ist, nicht das Letzte« ist. (Hua Mat. VIII, 7) Das muss nicht heißen, dass Husserl gewissermaßen über ātman gestolpert ist, es zwingt aber wenigstens zu einer behutsameren Haltung bezüglich der Bedeutung des Ausdrucks »beyond experience«. Schon das Ärgernis lebendiger Gegenwart hatte sich als Resultat einer Phänomenolgie zu erkennen gegeben, der sich die ständig-strömende Gegenwart von Bewusstsein in dem Maße entzieht, wie sie sich einerseits dem Selbstverständnis eines souveränen Forschers, andererseits einem Erfahrungsbegriff verpflichtet sieht, der sich in gegenständlicher Erkenntnis und der entsprechenden Leistung der Reflexion erschöpft. Versteht man ātman als metaphysisches oder formal-transzendentales Prinzip, so ist seine Bestimmung als »beyond experience« trivial. Versucht man ihn hingegen als Begriff innerhalb einer Bewusstseinsphänomenologie zu verstehen, so verweist diese Bestimmung auf das Ärgernis, an dem sich die philosophische Enttäuschung des Advaita-Vedānta entzündet: ātman ist einerseits in seiner unmittelbareren Nähe allgemein bekannt (prasiddha) und schon in diesem Sinne (nur) ›von sich abhängig‹ (svatantratva), andererseits ist die Realisation dieser Vertrautheit Ergebnis einer Praxis, die gerade in der Erfahrung (ātmānumbhava) dieser unmittelbaren Nähe kulminiert. Als selbstleuchtendes (svayaṃprakāśa) Bewusstsein, in dem sich nicht nur die bewegte Welt, sondern auch das je bewegte Leben des personalen Selbst ereignet, kann ātman sich nur nach Maßgabe einer phänomenologischen Sensibilität ausweisen lassen, die berücksichtigt, dass sich seine Bestimmung nicht unabhängig von der Weise ergeben kann, wie er selbst offenkundig wird.

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

Advaita Phänomenologie. Selbst, wahres Selbst und das Absolute – Worum es nicht gehen kann Mohantys Einschätzung der vedāntischen Phänomenologie als eines Oszillierens zwischen beschreibender Psychologie und einer Metaphysik des Bewusstseins und Guptas Differenzierung der transzendentalen und vedāntischen Phänomenologie verweisen deshalb auf einen methodischen Punkt, der hier nicht unbedacht bleiben darf. Zu den erstaunlichsten Ausdrücken indischen Denkens gehören die großen Worte des Vedānta, die mahāvākyani. Das dem Wortlaut nach bekannteste unter ihnen ist das tat tvam asi – ›so bist du‹. 138 In ihm wird die Einsicht eines Jīvanmukti oder Avadhuta, also eines Menschen zum Ausdruck gebracht, dem zu Lebzeiten die (Selbst)Erfahrung ātmans (ātmānubhava) geglückt ist: Die Realisation der Identität seines wahren Selbst mit brahman. Da wir an den phänomenologischen Aspekten des Vedānta im Allgemeinen und seinen Ausführungen zu Selbstbewusstein und den korrespondierenden Formen von Selbsterfahrung im Besonderen interessiert sind, ist an dieser Stelle zunächst eine Einschränkung vorzunehmen. Eine Phänomenologie brahmans als eines absoluten Urgrundes wäre ein unter den hier entwickelten bewusstseinsphänomenologischen Voraussetzungen nicht zu leistendes Unterfangen. Die Fragerichtung dieser Arbeit erlaubt es z. B. nicht, das genuin ontologische Moment brahmans zu berücksichtigen. Der Fokus liegt auf dem Begriff von Bewusstsein (cit), nicht auf dem des Seins (sat). Gegen diese Einschränkung spricht freilich erstens der Umstand, dass die Bestimmung brahmans als saccidānanda nicht nur Epitheton ist, sondern als sein wesentlicher Ausdruck gilt und zweitens die metaphysische Basis des Advaita-Vedānta gerade die Identität des ātman mit brahman bildet. Dieses Vorgehen lässt sich aber in zwei Hinsichten rechtfertigen: Erstens durch den einfachen Umstand, dass eine Realisation der Identität von ātman und brahman nicht als Ergebnis einer Reihe von Anstrengungen dargestellt würde, wenn sich ihre Differenz nicht zuerst zeigen würde. 139 Zweitens durch die Stufenfolge innerhalb der 138 Traditionell gibt es vier mahāvākya. Die anderen drei sind: ayam ātmā brahma – ›Dieser ātman ist brahman‹ ; aham brahmāsmi – ›Ich bin brahman‹ ; prajñānam brahma – ›Das (höchste) Bewusstsein ist brahman‹. 139 Auch wenn die Äußerungen zahlreich sind, die so verstanden werden können, dass alle Anstrengungen in Richtung spiritueller Befreiung redundant sind, wie etwa in Gauḍapādas Kārikā zur Māṇḍūkya Upaniṣad: »There is no dissolution, no birth, none in bondage, none aspiring for wisdom, no seeker of liberation and none liberated. This

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Methodische Orientierung

philosophischen und soteriologischen Verfahren, wie sie von Śaṅkara etwa in den Upadeśasāhasrī und im Vivekacūḍāmaṇi nahegelegt werden. Desweiteren ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass sich strenggenommen zwei Modi von brahman unterscheiden lassen, nirguṇa (›ohne Eigenschaft‹) brahman und saguṇa (›mit Eigenschaft‹) 140 brahman. 141 Nirguṇa brahman bezeichnet das vollkommen unqualifizierte und absolute, nicht-phänomenale Sein (sat) und Bewusstsein (cit). Saguṇa brahman bezeichnet, in der Interpretation Deutschs, der wir uns hier anschließen, eine noch objektivierbare Erfahrungsdimension von brahman, die auf der einen Seite seine hingebungsvolle Verehrung ermöglicht 142, auf der anderen Seite eng mit der Selbsterfahrung des ātman verbunden ist. 143 Im Rahmen einer Phänomenologie der Selbsterfahrung entsprechen die beiden Modi brahmans zwei traditionellen Formen meditativer Versenkung (samādhi), savikalpa samādhi und nirvikalpa samādhi. Während im savikalpa eine Verbindung zu den relativen Dimensionen des Bewusstsein bestehen bleibt, bezeichnet nirvikalpa einen Zustand, der der westlichen Vorstellung einer vollständigen und irreversiblen unio mystica wohl am nächsten kommt. Die Phänomenologie eines unbedingt nicht-phänomenalen Bewusstseins ließe sich nur mittels einer zunächst negativen Phänomenologie realisieren, von der wir uns hier genauso wenig einen Begriff machen können, wie von einer phänois the absolute truth.« (ManU, II.32); so sind solche Äußerungen doch Ausdruck einer Erfahrung, die nicht am Anfang, sondern am Ende eines Weges steht, dessen letzte Schritte nicht Gegenstand einer vorrangig bewusstseinsphänomenologisch orientierten Arbeit sein können: prajalpamātraḥ pariśiṣyate yataḥ – »hier hören alle Diskussionen auf« (VC, § 398). 140 Den Begriff guṇa, den ich hier mit ›Eigenschaft‹ wiedergebe, ist ein zentraler Terminus des Sāṅkhya. Eine besondere Bedeutung hat er auch in der Bhagavadgītā. Er meint im engeren Sinne die drei Qualitäten der natürlichen Erscheinungsformen (prakriti): die dynamische Qualität (rajas), die träge Qualität (tamas) und die lichte Qualität (sattva). In der Gītā empfiehlt Kṛṣṇa Arjuna zu verstehen, dass die Handlungen in der Welt nur Ergebnis der aufeinander wirkenden guṇas sind und das sich der Mensch nur durch die Verblendung des Ich-Sinns (ahamkāra) für den Handelnden hält. (Vgl. BhG, II.27–30) 141 Vgl. dazu Deutsch (1969), 12. 142 Das Neutrum ›brahman‹ ist besonders hier nicht zu verwechseln mit dem Maskulinum ›brahman‹ (nom. brahmā), das innerhalb der hinduistischen Überlieferung den Gott Brahmā als personifizierten Schöpfungsaspekt der trimūrti bezeichnet. 143 Vgl. Deutsch (1969), 13–14. Auf diesen zentralen Aspekt wird in Zusammenhang mit Śaṅkaras Begriff der Übertragung zurückzukommen sein.

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Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta

menologischen Ontologie, die es erlauben würde, das nicht-duale Sein und das entsprechende Verhältnis ātmans und brahmans zu fassen. Der bewusstseinsphänomenologische Ansatz hat demgegenüber jedoch den entscheidenden Vorteil, dass er die soteriologische Anspannung der vedāntischen Philosophie gelten lassen kann und nicht sogleich der Tendenz einer konsistenten Systematisierung nachgibt. Er ermöglicht den mimetischen Mitvollzug der entsprechenden Differenzierungen und erliegt nicht der Täuschung, das Verhältnis von ātman und brahman vorschnell zur Darstellung bringen zu können, sondern berücksichtigt den methodischen Ort einer entsprechenden Selbsterfahrung (ātmānubhava), in dem sich die soteriologische Spannung zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus steht im Zentrum der Fragestellung der vorliegenden Arbeit nicht das Verhältnis ātman zu brahman, sondern das Verhältnis des ātmans zum jīva. 144 Zu den Schwierigkeiten einer Phänomenologie im Allgemeinen und einer Advaita-Phänomenologie im Besonderen gehört in diesem Zusammenhang auch der Nachdruck auf bestimmte Formen von Erfahrung, die sich durch eine ausdrückliche Unnatürlichkeit qualifizieren. Die Selbstbeschreibungen von Autoren, die in Anspruch nehmen, dass sie sich aus solchen Zuständen heraus äußern, legen zuweilen nahe, dass es es sich um einen im Verhältnis zu einer phänomenalen Orientierung ganz anderen Zustand handelt. Da sich eine Phänomenologie des ganz Anderen einem diskursiven Unterfangen entziehen muss, bzw. in einem solchen lediglich als Kennzeichnung einer Grenze gegenständlich zu werden erlaubt, ist es geboten, die Elemente innerhalb der Theorie des Selbstbewusstseins und der entsprechenden Selbsterfahrungen in den Fokus zu rücken, die sich als Dimensionen des Zwischen charakterisieren lassen. Es bietet sich deshalb an, eine Phänomenologie des Selbstbewusstseins bei Śaṅkara 144 Auch wenn in weiten Teilen der Interpretation des Vedānta Śaṅkaras eine entschiedene Differenz von jīva und ātman bzw. brahman betont wird, so findet sich ein berühmter Ausspruch, der als Quintessenz der gesamten Philosophie Śaṅkara angesehen wird: ›brahman ist wirklich, die Welt ist falsch, jīva ist nichts anderes als brahman.‹ (brahma satyam jaganmithyā jīvo brahmaiva nāparaḥ) In der Regel wird dieses Zitat, auch bei Gupta (2012), ohne Quellenangabe zitiert, oder fälschlicherweise als Śloka 20 des Vivekacūḍāmaṇi angegeben, in dem sich aber nur der erste Satzteil findet. Das komplette Zitat stammt aus Śloka 20 eines Lehrgedichtes Namens brahmajñānāvalīmālā (›Kette des Brahmawissens‹), das traditionell Śaṅkara zugeschrieben wird.

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Methodische Orientierung

von den erkenntnistheoretischen Differenzierungen her zu entwickeln, in denen die Bewusstseinsstrukturen, die den ātman als jīva erscheinen lassen, zunächst nach Maßgabe ihrer Funktionalität zur Geltung kommen können. So wird fortschreitend ein Verständnis dafür gewonnen, was der ātman n i c h t ist. Auf diese Weise werden wir nicht nur solchen Äußerungen gerecht werden, die ein Zwischen selbst artikulieren. »Though I have the highest ātman as my true nature and am nondual, I am nevertheless covered with wrong knowledge, which is nescience.« (Upad, I.10.8) Wir verringern außerdem den Spielraum dafür, in die Verlegenheit einer spekulativen Phänomenologie des Absoluten zu geraten, die leicht Gefahr läuft, sich in einer Emphase des Nichtsagbaren zu verlieren. So wie an den Rändern der Phänomenologien des Selbstbewusstseins einer impersonalen Subjektivität nachzudenken war, so gilt es den Advaita-Vedānta als eine Phänomenologie zu betrachten, deren Radikalität in Fragen der Selbsterfahrung sich aus der Auffassung speist, dass das bewegte Leben des personalen Selbst ein intimeres Selbst überlagert. So wird die Antizipation impersonaler Subjektivität nicht zu einem theoretischen Ärgernis, sondern zu einer praktischen Voraussetzung, die allererst Anlass zu philosophischer Differenzierung und Sensibilisierung ist.

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7. Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

7.1 Erkenntnistheoretische Grundzüge 7.1.1 Śaṅkaras phänomenologische Redlichkeit Eine Darstellung der erkenntnistheoretischen Grundzüge des Advaita-Vedānta, die der Erörterung von Selbstbewusstsein voranzustellen ist, muss mit einer Differenzierung anheben, deren Äquivalent sich in methodischer und ontologischer Hinsicht bereits abgezeichnet hat. Philosophische Antworten auf Fragen nach den Mitteln, Möglichkeiten und Grenzen objektiver Erkenntnis gelten im Vedānta bei aller theoretischen Raffinesse, die sie motivieren, als solchen Bemühungen nachgeordnet, die ein Wissen von brahman (brahmavidyā) anstreben. Denn die Bedingung solchen Fragens, wie überhaupt aller wissenschaftlichen und theologischen Auseinandersetzung, ist für Śaṅkara, wie wir schon sahen, selbst das Nichtwissen (avidyā). »Diese, ›Nichtwissen‹ (avidyā) genannte, das Selbst und das Nicht-Selbst miteinander verwechselnde Übertragung (adhyāsa) bildet nun die Voraussetzung, unter welcher alle Beschäftigung mit Beweisen oder zu Beweisendem, und zwar auf weltlichem wie auf vedischem Gebiete, stattfindet.« (ABh, 4)

Gleichwohl führt die Anerkennung dieser Voraussetzung nicht zu einer voreiligen philosophischen Apathie, sondern motiviert im Gegenteil eine begriffliche und ästhetische Sensibilität, die uns in loser Entsprechung zu der Differenzierung in höheres und niederes Wissen (para- und aparavidyā) zunächst zu einer Unterscheidung in reine Erkenntnis (svarūpajñāna) und empirische bzw. modale Erkenntnis (vṛttijñāna) führt. 145 Die heuristische Ordnung der sechs pramāṇas, 145 Vgl. Gupta (1998), 58., ferner Grimes (1991), 239. Viele Darstellungen der Erkenntnistheorie des Advaita-Vedānta erheben nicht den Anspruch einer exakten historischen Zuordnung. Gupta und Mohanty (2000) sowie Deutsch (1969), Grimes

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Erkenntnistheoretische Grundzüge

die der Vedānta anerkennt, gehört der Sphäre des vṛttijñāna an. Erkenntnis, die durch Wahrnehmung, Schluss usw. zu erlangen ist, impliziert im Vedānta eine Bewegung bzw. Modifikation (vṛtti) und so eine Diskriminierung von Bewusstsein, die ihm seinem Eigenwesen (svarūpa) nach nicht zugehört. Bewusstsein ist seinem Wesen nach unqualifizierte (nirviśeṣa) Bewusstheit, in der sich eine Struktur von Erkennendem (pramātā), Erkanntem (prameya) und Erkenntnis (pramiti) nur unter der Voraussetzung zu entfalten scheint, dass avidyā bzw. māyā als verhüllende (āvaraṇa) bzw. projizierende (vikṣepa) Leistung wirksam ist. 146 Für den an westlicher Metaphysik geschulten Leser kann sich angesichts einer solchen Auffassung der Eindruck aufdrängen, mit einer philosophischen Intuition konfrontiert zu sein, die einem subjektiven oder doch wenigstens objektiven Idealismus entspricht. Dieser Eindruck gewinnt seine Plausibilität nicht zuletzt aus der natürlichen Grenze sukzessiver Darstellbarkeit nicht-dualer Philosophie. Er speist sich nämlich aus der diskursiven Vermengung und Nivellierung der beiden Formen von Erkenntnis im Rahmen möglicher theoretischer Vollständigkeit. Insofern svarūpajñāna und vṛttijñāna und die entsprechenden Bewusstseinsbegriffe als Elemente einer kohärenten Erkenntnistheorie gelten, können avidyā bzw. māyā als Leistungen eines reinen Bewusstseins angesehen werden, die die vṛtti und mit ihnen die Dualität von Subjekt und Objekt und in eins die Welt der Erscheinungen hervorbringen. Wie etwa Deutsch gezeigt hat, verwahrt sich Śaṅkara entschieden gegen eine solche idealistische Lesart. Der Begriff eines nicht-dualen Bewusstseins referiert auf eine zu realisierende Dimension bewussten Erlebens – »and must never be confounded with the world of mulitplicity (the world of nāma-rūpa – names and forms). Any confusion between the two is precisely the (1991) und Devajara (1972) verfolgen einen betont systematischen Ansatz, d. h. es wird beispielsweise nicht zwischen den Differenzierungen einzelner Philosophen bzw. ihren Schulen unterschieden. Vielmehr werden Śaṅkara und seine näheren und ferneren Schüler als ›Advaita-Vedānta‹ behandelt. Die Differenzierung zwischen svarūpajñana und vṛttijñana etwa stammt nicht von Śaṅkara, sondern findet sich erst im Vedāntaparibhāṣā, einer dem Vedānti Dharmarājādhvarīndra zugeschriebenen Schrift aus dem 17. Jh. Sie entspricht aber der Unterscheidung von parā- und aparavidyā bzw. der weiter oben eingeführten Unterscheidung zwischen prajñāna und vijñāna und ist gebräuchliche Terminologie in zeitgenössischen Diskussionen über den Vedānta geworden. Ich werde mich im Folgenden mit den Aspekten begnügen, die den entsprechenden Ausführungen Śaṅkaras zu entnehmen sind. 146 Vgl. Gupta (1998), 58 f.

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

basic characteristic of false superimposition (adhyāsa), which ist ignorance (avidyā).« (Deutsch 1969, 95) Die entsprechenden Differenzierungen wollen also nicht nur begrifflich entwickelt, sondern mitvollzogen werden. Der AdvaitaVedānta Śaṅkaras versagt sich an entscheidender Stelle die theoretische Behaglichkeit, einen metaphysischen Begriff zu setzen, um an ihm die erkenntnistheoretische Rechtfertigung seiner soteriologischen Intuitionen zu entwickeln. Stattdessen wird der Begriff reinen Bewusstseins in dem Maße als phänomenologischer Begriff gebraucht, als innerhalb der erkenntnistheoretischen Erörterungen die duale Struktur sinnlichen und überhaupt weltlichen Erlebens unbedingte Anerkennung findet und nicht hinsichtlich eines dieser Struktur enthobenen Bewusstseins unterminiert, sondern zunächst nur hinsichtlich einer irreduziblen Ständigkeit subjektiven Erlebens relativiert wird. Das führt dazu, dass die Erkenntnistheorie des AdvaitaVedānta gegen den Idealismus des buddhistischen Vijñānavāda einen verhaltenen Realismus vertritt (vgl. BSBh, II.2.28, 357–362). Er zielt darauf ab, zu erweisen, dass im Rahmen des vṛttijñāna erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt unleugbare Erscheinungen sind. Dass sie nach Maßgabe eines svarūpajñāna keine letzte Wirklichkeit besitzen und das erkennende Subjekt nicht mit der Struktur und den Erlebnisweisen des inneren Organs (antaḥkaraṇa) verwechselt werden sollte, darf nicht dazu verleiten, eine Erkenntnistheorie zu konstruieren, in der ihre phänomenale Realität verkannt wird. Man muss die Dualität vollständig anerkennen, um die soteriologisch maßgebliche Unterscheidung zwischen der Beständigkeit des Selbst und dem ephemeren Modus der Objekte zu begreifen und letztlich zu überwinden. So argumentiert Śaṅkara im Brahmasūtrabhāṣya gegen die Auffassung, derzufolge nur die subjektiven Vorstellungen (vijñānam) von der Welt als wirklich gelten, weil diese Auffassung im Rahmen seiner Rekonstruktion nicht nur zu der Nivellierung äußerer Objekte, sondern zugleich zu der – vorschnellen – Nivellierung des erkennenden Subjektes führt. (Vgl. BSBh, 361 f.) Und es lässt sich mit Blick auf die soteriologische Emphase, die Śaṅkara etwa in Upadeśasāhasrī II.2 auf die Spannung zwischen der Erfahrung sinnlicher Subjektivität und der Erfahrung reinen Bewusstseins legt, annehmen, dass es gerade die Realisierung ständiger Subjektivität ist, die zu svarūpajñāna hinführt. In den Sphären des vṛttijñāna zeigt sie sich als die selbstgewisse und darum unleugbare Ständigkeit eigener 384 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Erkenntnistheoretische Grundzüge

Gegenwart 147. Gegen den Einwand der Buddhisten, die Annahme eines die äußeren Gegenstände der Wahrnehmung erleuchtendes bzw. erkennendes Subjektes führe zu einem infiniten Regress, weil für die Kenntnis dieses Subjektes ein weiteres Subjekt angenommen werden müsste und so ad infinitum, betont Śaṅkara, dass Wahrnehmung und Subjekt zum einen wesensverschieden sind, »das Subjekt (sākṣin) aber […] an sich selbst gewiss (svayaṃprakāśa) [ist] und […] daher nicht geleugnet werden« kann. ( Ebd., 325) Diese Ausführungen stehen freilich in einem zunächst offenkundigen Widerspruch zu denjenigen soteriologischen Erörterungen, in denen Śaṅkara nicht nur die Differenzierung von Wahrnehmung und Wahrnehmendem für falsch, sondern darüber hinaus auch erklärt, dass der Wahrnehmende überhaupt nichts als reine Wahrnehmung sei. (Vgl. Upad, II.2.79) Die Tatsache, dass seine Erkenntnistheorie diese die Natur des svarūpajñāna kennzeichnende Bestimmung nicht einfach stipuliert, beruht nicht auf Wandel oder Inkonsistenz seiner philosophischen Auffassung oder einer willkürlichen Anerkennung der Differenzierung der Naiyāyikas, sondern auf einer geradezu phänomenologischen Redlichkeit. Die phänomenologische Qualität von Śaṅkaras Erkenntnistheorie zeigt sich eindrücklich an seiner Erwiderung auf die vom Vijñānavāda vertretene idealistische Auffassung. 148 Diese sieht in 147 »Und weiter, wenn man sagt: ›ich bin es, der jetzt das gegenwärtige Sein erkennt, ich bin es, der das vergangene und vorvergangene erkannte, und ich, der das künftige und überkünftige erkennen wird‹, so liegt in diesen Worten, dass, wenn auch das Objekt der Erkenntnis sich ändert, der Erkennende, weil er in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart ist, nicht sich ändert; d e n n s e i n W e s e n i s t e w i g e G e g e n w a r t (sarvadā vartamāna svabhāvatvād)«. (BSBh, II.3.7, 389) 148 Die oft anzutreffende Auffassung, Gauḍapāda vertrete wie der Vijñānavāda einen Idealismus, da auch er die epistemische Gleichrangigkeit von Wach- und Traumzustand hervorhebt, ist, wie ich weiter oben schon zu zeigen versucht habe, dahingehend zu relativieren, dass diese Gleichsetzung für Gauḍapāda nur aus der beständigen Position höchster Einsicht (paramārthika) Geltung beansprucht, von der aus Gegenstände sinnlicher und traumhafter Wahrnehmung als gleichermaßen ephemer und darum unwirklich gelten. Innerhalb seiner Ausführungen stellt er sich nicht, wie Śaṅkara es hier tut, auf einen nur aus heuristischen Gründen valenten Standpunkt praktischer empirischer Realität (vyāvahārika). Zu der Differenzierung in praktisches Sein (vyāvahārikasat), fiktionales Sein (prātibhāsikasat) und absolutes Sein (paramārthasat) siehe Hacker (1995), 144 f. Ram-Prasad bestimmt Śaṅkaras Position deshalb zutreffend als non-realistic: it »may be characterised as being realist from an idealist point of view, idealist from a realist point of view and sceptical about both the point of view.« Ram-Prasad (2002), 91.

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

der Tatsache, dass im Traumzustand Gegenstände ohne Bezug auf einen äußeren Gegenstand erscheinen, ein Beleg dafür, dass auch für die Wahrnehmung im Wachzustand keine äußeren Gegenstände angenommen werden müssten. Śaṅkara argumentiert, dass die strukturelle Gleichsetzung beider Zustände deshalb unhaltbar sei, weil sich ihr Unterschied »von selbst fühlbar« (svataḥsiddhā) 149 (BSBh, II.2.29, 363) mache. Während sich eine im Traum wahrgenommene Säule nach dem Aufwachen oder eine entsprechende durch Sinnestäuschung induzierte Wahrnehmung infolge einer Enttäuschung als eine Form des Irrtums herausstellen könne, gäbe »es keinen Zustand, in dem ein im Wachen appercipiertes Objekt, z. B. eine Säule, widerlegt würde«. (Ebd., 362) Zur weiteren bewusstseinstheoretischen Differenzierung zwischen wachender und träumender Wahrnehmung führt Śaṅkara im Rahmen einer Analogisierung von Traum und Erinnerung ein Kriterium an, bei dem man versucht sein könnte, es mit Husserls Begriff der Leibhaftigkeit bzw. Originarität eines Gegenstandes zu explizieren. »Dazu kommt, dass das Traumgesicht, eine [bloße] Erinnerung ist, das Sehen im Wachen hingegen eine Apperception. 150 Der Unterschied zwischen Erinnerung und Apperception aber liegt vor Augen und macht sich von selbst fühlbar: denn er besteht darin, dass man von einem Gegenstande getrennt oder nicht getrennt ist; und wenn man sich z. B. eines geliebten Sohnes erinnert, so appercipiert man ihn nicht, sondern wünscht ihn zu appercipieren.« (Ebd. 362 f.)

Unter der Voraussetzung, dass man die Analogisierung von Traumund Erinnerungsobjekt akzeptiert, ist Śaṅkaras strukturelles Kriterium triftig. Der Gegenstand einer sinnlichen Wahrnehmung lässt sich gegenüber dem Gegenstand einer Erinnerung dadurch auszeichnen, dass mir Ersterer unmittelbar teilhaftig ist, Letzteres mir nur vermittelt, ggf. sogar als Mangel erscheint. Die noetische Qualität des Erlebens ist für Śaṅkara so und solange sie sich zeigt, d. h. so-



149 Deussens Übersetzung ist etwas schwach. Genauer wäre: ›selbstvollendet‹, ›selbsterscheinend‹. Hacker übersetzt mit ›selbstgegeben‹. Vgl. Hacker (1978), 280. 150 Der Umgang mit Kantischer Terminologie ist in den Übersetzungen Deussens zuweilen unglücklich. Der Ausdruck upalambha, den Deussen hier mit ›Apperception‹ übersetzt, kann auch mit ›leibhafter Wahrnehmung‹ wiedergegeben werden. Siehe auch die Anmerkungen in 7.2.1.

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Erkenntnistheoretische Grundzüge

lange sie nicht durch die lebendige Realisation des svarūpajñana transzendiert wurde, unbedingt anzuerkennen. Der Erkenntnistheorie des Vijñānavāda macht er zum Vorwurf, dass ihr Versuch, die evidente Struktur sinnlichen Erlebens durch Vergleich mir der traumhaften Wahrnehmung zu eliminieren, aus der Unfähigkeit resultiert, die Unwirklichkeit der dualen Struktur sinnlichen Erlebens an diesem Erleben selbst auszuweisen. »Denn der Unterschied zwischen beiden macht sich von selbst fühlbar. Was sie aber fühlen, das dürfen die vermeintlichen Weisen nicht abstreiten. Aber eben, weil ihr Gefühl Protest einlegt, und sie die Grundlosigkeit der Perception im Wachen an ihnen selbst nicht darthun können, darum möchten sie dieselbe aus der Verwandtschaft mit den Traumperceptionen erweisen.« (Ebd., 363.)

Für Śaṅkara hat ein solcher Ausweis keine theoretische Dringlichkeit. Die Verhaftung im praktischen Sein (vyāvahārikasat), dessen Realität solange Geltung hat, wie sie dem Philosophen seine lebendige Orientierung aufdiktiert, verlangt vielmehr eine Erkenntnistheorie, die der anscheinend realistischen Ordnung sinnlicher Erfahrung Rechnung trägt. In anderen Teilen des Brahmasūtrabhāṣya (Vgl. II.3.29–32, 370–375) und vor allem in der Upadeśasāhasrī I, 5–4 u. a. und dem Vivekacūḍāmaṇi § 93, 103 f. stellt er dem ernstlich nach Befreiung suchenden Schüler aber in Aussicht, dass sich diese Ordnung im Zuge seiner fortschreitenden Anstrengung in der Entfernung der das Bewusstsein trübenden Überlagerungen (upādhi) als eine Ordnung zeigt, die auf einer falschen Erscheinung (ābhāsa) beruht. Diese entsteht dadurch, dass der ātman, seiner Natur nach selbstleuchtendes (svayaṃprakāśa) Bewusstsein, in identifizierenden Kontakt mit den geistigen Vermögen des antaḥkaraṇa (›inneres Organ‹ bzw. ›Instrument‹) steht. Um auf die phänomenologische Spur von Selbst und Selbstbewusstsein im Advaita-Vedānta zu geraten, sind die Elemente dieses inneren Organs so darzustellen, dass sie als Struktur jener Überlagerung erkennbar werden, die den ātman als jīva erscheinen lässt. Hierzu bietet es sich an, sie zunächst im Rahmen der Theorie sinnlicher Erkenntnis anzuzeigen. Aus Śaṅkaras Schriften sind zwar allenfalls Rudimente einer solchen Theorie zu gewinnen, mit Rücksicht auf den hier leitenden Horizont verzichte ich aber darauf, sie durch die syste-

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

matischen Entwicklungen aus späteren Advaita-Texten wie der Vedāntaparibhāṣā 151 oder der Bhāmatī anzureichern.

7.1.2 Rudimente einer Theorie sinnlicher Erkenntnis Die von der Tradition als vṛttijñāna apostrophierte Sphäre des Erkennens erhält ihre Bezeichnung mit Rücksicht auf den für die Erkenntnistheorie im Allgemeinen und die Theorie sinnlicher Erkenntnis im Besonderen zentralen Begriff der Bewegung bzw. Modifikation (vṛtti). Im Rahmen der oben skizzierten protorealistischen Maxime der entsprechenden Erkenntnistheorie bezieht sich dieser Ausdruck, genau so wie der von Śaṅkara bevorzugte Terminus pratyaya (›Vorstellung‹, ›Begriff‹) 152 auf jene funktionale Bewegung des Erkenntnisapparates (antaḥkaraṇa), die etwa einen sinnlichen Gegenstand als solchen erkennbar macht. »Sound and other [external objects] are not self-etablished (svataḥsiddhasaṃbhava), since they are not conscious. But they [are established] through the rise of notions (pratyayas) which take the forms of sound and other [external objects].« (Upad, II.2.74)

Śaṅkaras Ausführungen lassen zwar nicht zu, den hylemorphistischen Anklang im Einzelnen zu entwickeln, die Funktionaliät der Form (rūpa bzw. ākāra) kommt in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen aber immer wieder vor. In den einschlägigien Stellen (Upad. I, 14, 3–4) vergleicht Śaṅkara den das äußere Objekt erreichenden bzw. durchdringenden (vyāpin) Verstand (citta) zum einen mit Kupfer, das die Form (rūpa) der jeweiligen Schalung annimmt, in die es gegossen wird. Zum anderen stellt er in Anlehnung an die vertraute Lichtmetaphorik heraus, dass der Verstand bzw. ein Gedanke (dhī) in dem Maße die Form (ākāra) 153 seines Gegenstandes annimmt, wie Licht die Form der Objekte annimmt, die es erleuchtet und so erscheinen (siddhi) lässt. Inwiefern diese beiden inversen Bilder möglicher Formung philosophisch relevant sind, lässt sich den Schriften Śaṅkaras nicht entnehmen. Entscheidend ist zunächst die 151 Für eine umfassende Studie zu der Erkenntnistheorie des Advaita-Vedānta mit besonderer Berücksichtigung der Vedāntaparibhāṣā siehe Gupta (1998). 152 Vgl. Mayeda (1992), 35. 153 Der Terminus ākāra ist gegenüber rūpa ein sehr viel technischerer Terminus, der hier den abstrakten Gebrauch des Formbegriffs zum Ausdruck bringen dürfte.

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Erkenntnistheoretische Grundzüge

Einsicht in den vermittelnden Charakter der vṛtti bzw. pratyaya als Modifikationen einer Bewusstseinsstruktur, die als inneres Organ (antaḥkaraṇa) bezeichnet wird. »Dieses Innenorgan nun, welches der Seele (ātman) als Upadhi (Überlagerung) dient, wird hin und wieder in verschiedener Weise, bald als Manas bezeichnet, bald als Buddhi oder auch als Erkenntnis (vijñāna) oder Bewusstsein (citta). Manche unterscheiden auch nach den Verrichtungen und schreiben die Verrichtung des Zweifels usw. dem Manas, hingegen die Verrichtung des Entscheidens usw. der Buddhi zu.« (BSBh II.3.32, 420)

Die lose Aufzählung zeigt schon an, dass Śaṅkara an einer detaillierten Analyse der einzelnen Funktionen des kognitiven Apparates nicht eigentlich interessiert ist. Auch terminologisch lässt sich nur schwerlich eine kohärente Zuordnung der einzelnen Vermögen vornehmen. Klar ist aber, dass Śaṅkara den antaḥkaraṇa, den er zuweilen einfach mit manas identifiziert, 154 neben den fünf Sinnen (indriya) zu den notwendigen Elementen einer Theorie sinnlicher Erkenntnis zählt. 155 »[Es] gibt fünf Unterarten des Erkennens, das Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken und Riechen; auf diese beziehen sich die fünf Sinnesorgane. […] Endlich ist da noch das auf alle Zwecke bezügliche, die Dreiheit der Zeiten umspannende Manas, welches eines ist, jedoch verschiedene Funktionen (anekavṛtti) hat, daher es wegen der Vielheit seiner Funktionen zuweilen, wie ein Vielheitliches, nämlich als Manas, Buddhi, Ahamkara und Cittam aufgefasst wird.« (BSB, II.4.6, 450)

Die hier vorgenommene Einteilung des antaḥkaraṇa in manas, buddhi, ahaṃkāra und cittam findet sich mit einer Variation auch in den systematischen Ausführungen des Vivekacūḍāmaṇi. In §§ 93–94 gibt Śaṅkara folgende Bestimmung der entsprechenden Vermögen: »Der antaḥkaraṇa wird gemäß seiner Modifikationen manas, buddhi, ahaṁkritiḥ und citta genannt. Manas heißt er, wenn er entschieden oder zweifelnd ist, buddhi, wenn er die Richtigkeit eines Dinges bestimmt.« 156

Vgl. Mayeda (1979), 30 im Anschluss an Deussen. Die für die späteren Vedāntins virulente Frage, ob manas selbst zu den Sinnen zu rechnen ist, lässt sich von Śaṅkaras Schriften her nicht entscheiden. »It is not important at all for Śaṅkara whether or not the manas is an indriya: what he wishes to emphasize is that neither manas nor indriyas are Ātman.« Mayeda (1979), 33. 156 nigadyatentaḥkaraṇaṁ manodhīḥ ahaṃkṛtiś cittam iti svavṛttibhiḥ manas tu saṁkalpavikalpanādibhiḥ buddhiḥ padārthādhyavasāyadharmataḥ. (VC, § 93) 154 155

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

»Ahaṃkṛtiḥ [wird er genannt], wenn er sich ›Ich‹ einbildet. Citta vermöge der Eigenschaft, sich Objekten der Begierde zu erinnern.« 157

Diese Differenzierungen des antaḥkaraṇa werden im Vivekacūḍāmaṇi aber nicht für eine Theorie der Erkenntnis, sondern als Bestimmung derjenigen Elemente entwickelt, die der an der Realisierung von svarūpajñāna interessierte Schüler, als Überlagerungen (upādhi) seiner Selbst fortschreitend zu identifizieren angehalten ist. Innerhalb erkenntnistheoretischer Erörterungen zeigt sich die dabei maßgebliche Intuition an einer Hierarchisierung der Struktur des antaḥkaraṇa. In seinem Kommentar zu BĀU, IV.III.7 betont Śaṅkara, dass die geistigen Vermögen ihre Funktion nur durch ihre Nähe zu der Erkenntnisleistung des ātman haben, die sich gemäß der leitenden Lichtmetaphorik wie folgt staffelt: »The intellect (buddhi), being transparent and next to the self (ātman), easily catches the reflection (ābhāsa) of the intelligence of the self. Therefore even wise men happen to identify themselves with it first: next comes the Manas, which catches the reflection of the self through the intellect: then the organs (indriya), through the contact with the Manas; and lastly the body, through the organs.« (BĀU, IV.III.7, 428) 158

Die fünf Sinne ermöglichen dem antaḥkaraṇa in Gestalt des manas ihrer jeweiligen Anlage nach den Zugang zu äußeren Objekten. 159 Diese werden aber nicht vermöge dieses inneren Organs als solche erkannt, sondern erzeugen in ihm eine entsprechende Modifikation (vṛtti), bringen es derart in Form, dass buddhi, ausgestattet mit dem Licht des ātman, diese vṛtti nach Maßgabe ihrer aktuellen Form erkennt (vgl. Upad, I.17.34–36). Dieser Struktur äquivalent sind solche Ausführungen, in denen äußere Objekte so ›in der buddhi‹ (buddhyārūḍha) erscheinen, wie ein Gegenstand ›in der Sonne‹ erscheint. (Ebd., I.18,56) 160 Auch diese Leistung bedarf der enthüllenden Leistung des ātman. (Ebd., I.18.157) Das Licht des Verstandes ist mithin atrābhimānād aham ity ahaṃkṛtiḥ svārthānusandhānaguṇena cittam. (VC, § 94) Diese Hierarchisierung entspricht BhG, III, 42. 159 Dem genauen Mechanismus des »Kontaktes« mit äußeren Objekten und entsprechenden Modifikationen werden sich erst Vedāntis späterer Generationen widmen. Vgl. Gupta (1998), 167–219. Für eine kritische Analyse siehe Dvaraja (1972) und die Erwiderung von Grimes (1991). Insbesondere die Frage, ob der antaḥkaraṇa als inneres Organ den äußeren Objekten »entgegen« kommt, lässt sich mit Śaṅkara noch nicht eindeutig beantworten. Siehe auch Mayeda (1992), 36. 160 Vgl. Mayeda (1992), 36. 157 158

390 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Erkenntnistheoretische Grundzüge

ein geborgtes Licht, lediglich Abglanz (ābhāsa) des ständig strahlenden ātman. 161 Wenn oben von dem dhīḥ gesagt wurde, dass er gleich dem Licht die Form der Gegenstände annimmt und sie so erscheinen lässt, war damit nicht gemeint, dass der Verstand der Vollzug des Erscheinens ist, sondern dass der Verstand in Form der pratyayas Erscheinendes (grāhya) ist, das dem ātman als von diesen Modifikationen verschiedene Perzeption (grāhaka) erscheint. (Vgl. Upad, II.2.74) Mayeda hat darauf aufmerksam gemacht, dass Śaṅkara den Ausdruck ābhāsa, der je nach Kontext als ›Spiegelung‹ oder im wertenden Modus als ›falsche Überlagerung‹ wiederzugeben ist (Mayeda 1992, 37), als Lösung für das Problem eingeführt habe, dass die Auffassung, derzufolge das Licht des ātman die buddhi, die in Form äußerer Objekte erscheint, durchdringt (vyāpnuvat) und sie dadurch erkennen lässt, zu der Konsequenz verleiten kann, dass ātman nicht länger als wandelloses (kūṭastha) und konstantes (nitya) Bewusstsein gelten könne, sondern vermittelt durch den Kontakt mit der buddhi Veränderungen bzw. Modifikationen unterliege. In der Upaseśasāhasrī I.18.31–39 macht Śaṅkara deutlich, dass diese Konsequenz nicht gezogen werden kann, wenn man anerkennt, dass die buddhi lediglich eine Reflexion des ātman ist, der wie das Gesicht im Spiegel von der Reflexion verschieden ist. Um die Grenze dieser Analogie, die in dem Umstand liegen dürfte, dass sich die Reflexion nur verändert, wenn sich das Gesicht verändert, kümmert sich Śaṅkara nicht. Die kausale Disposition dieses Bildes scheint auch irreführend, denn es geht Śaṅkara hier nicht darum, den Erkenntnisprozess zu erklären, sondern die Ständigkeit ātmans im Verhältnis zu den mentalen Modifikationen anzuzeigen. Gegenüber dem fingierten Schüler, der in II.2.74 das Bedenken des wandelbaren ātman in Form einer Selbstbeschreibung artikuliert 162, bringt Śaṅkara mit Bezug auf I.18.156– 158 dann auch ein anderes, phänomenologisches Argument vor. Während das vermittels der buddhi bewirkte Wahrnehmen der vṛtti schon deswegen ein sequenzielles, sukzessives Wahrnehmen ist, weil es stets Objekte gibt, die nicht aktuell oder unvollständig wahrgenommen werden, so erscheinen die Bewegungen des Verstandes stets auf einem Grund, der selbst ohne Sukzession ist. Diese ständig Vgl. Devaraja (1972), 96 f. »Nevertheless, I am a perceiver of notions which have the forms [of external objects] such as blue and yellow [and] so I am indeed subject to change. [For the above reason, I am] in doubt as to how [I am] transcendentally changeless.« Upad, II.2.74. 161 162

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

selbstgenügsame Dimension bewussten Erlebens wird durch die Überlagerung der buddhi so verzerrt, dass auch der seinem Wesen nach ständige und unveränderliche ātman als engagierter Wahrnehmender erscheint (Upad, I.18.64–69). 163 Auch wenn die vṛtti nur aufgrund der Gegenwart des ātman erscheint, so hat er an ihrem Erscheinen doch keinen aktiven Anteil (ebd., I.18.75). Auch als Zeuge (sākṣin) ist der ātman nicht eigentlich Wahrnehmender, sondern ›nichts als ständige Wahrnehmung‹ (nityopalabdhimātra) (ebd., II.2.79). 164 Unter den funktionalen Variationen des antaḥkaraṇa sind es aber nicht nur buddhi und manas, die Anlass für diese virtuelle Verzerrung des ātman sind, die in kosmologischer Hinsicht für Genese und Erhalt der karmischen Struktur des Individuums verantwortlich ist. Ihre Wurzel (bījam) findet sich vielmehr in der Ich-Vorstellung (ahampratyaya) (Upad, I.4.1). Ein Verständnis dafür zu gewinnen, was es bedeutet, dass das Selbst in seiner impersonalen Verfassung durch eine Ich-Vorstellung bzw. einen Ich-Macher (ahaṃkāra) überlagert wird, ist Aufgabe des abschließenden Paragraphen.

7.2 Phänomenologische Grundzüge 7.2.1 Person und Selbst Um den strukturellen Aspekt der Übertragung (adhyāsa) und des Zeugen (sākṣin) zur Geltung bringen zu können, ist eine begriffliche Sensibilisierung vorzunehmen, die den überreichen Hinsichten der Selbstbewusstseinsproblematik an dieser Stelle eine weitere Fasslichkeit gibt. An den behandelten Phänomenologien hat sich gezeigt, dass es eine große Anstrengung bedeutet, Selbstbewusstsein und Subjektivität, wo sie nicht einfach als leere oder formale Begriffe gebraucht werden, außerhalb der Kategorien personaler Selbstreferenz zu verVgl. dazu Mayeda (1972), 38. Es kann daher nur als grobes Missverständnis gelten, wollte man den ātman als Seelenentität oder den sākṣin als Subsystem oder als transzendentale Leistung von Bewusstseins verstehen. Beide Ausdrücke sind Inbegriff eines Bewusstseins (caitanya), das sich im Kontext des vṛttijñana als Manifestation der Erscheinungen, nicht als eine dieser Manifestation enthobene Instanz kenntlich macht. Wie sich die Präsenz des Windes an den sich bewegenden Bäumen zeigt, so zeigt sich das Selbst an den Bewegungen (vṛtti) des Geistes. (Vgl. KBH, 67) 163 164

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Phänomenologische Grundzüge

stehen. Für ein vertiefendes Verständnis des vedāntischen Begriffs von Selbst ist es deshalb und mit Blick auf den weiteren Aufweis impersonaler Subjektivität angezeigt, die entsprechende Kritik an einem Personbegriff zu konturieren. Eine solche Konturierung ist heikel, weil sie wie kaum eine andere dazu verleitet, ein philosophisches Selbstverständnis, wie es in dem europäischen Personbegriff zum Ausdruck kommt, für unhintergehbar zu halten. Paul Hacker hat solch eine Konturierung im Horizont einer Konfrontation des vedāntischen Ātmanbegriffs mit dem Begriff der Person in Angriff genommen, wie ihn Scheler im Rahmen seines Personalismus entwickelt hat. Diese Konfrontation ist für unseren Zusammenhang deshalb aufschlussreich, weil die phänomenologische Intuition, die Schelers Personbegriff prägt, dem, was den Ātmanbegriff im Vedānta auszeichnet, in einer wesentlichen Hinsicht entspricht. Die Weise, wie Hacker diesen Begriff zum ātman ins Verhältnis setzt, lässt zugleich aber einen markanten Unterschied offenkundig werden. Für den phänomenologischen Begriff des ātman, wie er hier in Frage steht, ist es zentral, ihn weder als bloße Ableitung eines Begriffs absoluten Bewusstseins noch sogleich als Ausdruck für ein Einheits- bzw. Individuationsprinzip, sondern als Bestimmung eines konkreten Erlebens bzw. einer Dimension von Erfahrung zu verstehen. Hacker gelingt es zwar, die phänomenologischen Intuitionen, die Schelers Personbegriff leiten, an den Bestimmungen des ātman nachzuzeichnen und ihm so Kontur zu verleihen. Dies tut er aber in expliziter Ausklammerung der von ihm als monistisch und illusionistisch gekennzeichneten Momente, die er für eine überkommende ontologische Verhärtung hält. Man tut Śaṅkara aber Unrecht, wenn man die philosophischen Differenzierungen seines nicht-dualen Vedānta, als bloße Zugeständnisse an eine dogmatische Tradition liest. 165 Hackers Versuch, den ātman als personale Einheit zu fassen, ist deshalb, wie er selbst sieht, wenigstens unvollständig. Was weiter oben als phänomenologische Redlichkeit charakterisiert wurde, erlaubt es freilich, Śaṅkara so zu lesen, dass »his monistic and illusionistic dogma […] not paralyze his philosophical attention to reality«. 165 Mit dieser Einschätzung steht Hacker nicht allein. Nietzsche hat an populärer Stelle die Weichen gestellt: »Es scheint, daß alle großen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in das Herz einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinflößende Fratzen über die Erde hinwandeln müssen: eine solche Fratze war die dogmatische Philosophie, zum Beispiel die Vedanta-Lehre in Asien, der Platonismus in Europa.« Nietzsche (2013a), 4/IV.

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

(Hacker 1995, 184) Mit gleichem Recht lässt sich dann aber auch davon sprechen, dass seine Aufmerksamkeit auf die »Realität« – und hier kann nur das vyāvahārikasat gemeint sein – seine nicht-dualistischen Intuitionen keineswegs zerstreuen konnte. Intuitionen, die eine Aufmerksamkeit auf eine Erfahrungdimension motivieren, die auch mit dem Essentialismus einer vor-ichlichen personalen Einheit aller möglichen vollzogenen Akte (Vgl. Scheler 2014, 471) nicht zufriedenstellend erfasst wird. Das Unternehmen einer Konfrontation des vedāntischen Ātmanbegriffs mit dem frühen Personbegriffs Schelers motiviert sich für Hacker aus dessen entschiedener Ablehnung einer überkommenen Subjektmetaphysik einerseits und eines substanzialistischen Personbegriffs andererseits. In Schelers vorbereitenden Bestimmungen zur Kritik des formalistischen Verständnisses von Person wird deutlich, dass für ihn »Person niemals als ein Ding oder eine Substanz gedacht werden darf, die irgendwelche Vermögen oder Kräfte hätte […]. Person ist vielmehr die unmittelbar miterlebte Einheit des Erlebens – nicht nur ein erdachtes Ding hinter und außer dem unmittelbar Erlebten.« (Scheler 2014, 457) Gegenüber den formalen Bestimmungen Kants, für den Person als bloß logisches Subjekt im Grunde »das X irgendwelcher Vernunftbetätigung« (ebd.) sei, entwickelt Scheler einen Begriff von Person, deren phänomenologische Bestimmung lautet: »Das Sein der Person ›fundiert‹ alle wesenhaft verschiedenen Akte.« (Ebd., 472) Diese Fundierungsleistung ist für Hackers Versuch deshalb wesentlich, weil sich ihr Begriff aus der vorgängigen phänomenologischen Analyse von »Ich« und »Ichlichkeit« speist. Hier arbeitet Scheler heraus, dass das Ich »in keinem möglichen Sinne des Wortes Bedingung des Gegenstandes sein kann. Vielmehr ist es selbst nur Gegenstand unter Gegenständen.« (Ebd., 462) Und eben dieser Umstand, dass die Einheitsform der Person »mit der Einheitsform des ›Bewußtseins‹-Gegenstandes der inneren Wahrnehmung und darum auch mit dem ›Ich‹ (und zwar weder mit jenem, dem das ›Du‹ entgegensteht, noch mit dem Ich, dem die ›Außenwelt‹ gegenübersteht) nichts zu tun hat« (ebd., 480), ist Anlass für die begriffliche Konfrontation, die Hacker unternimmt. (Vgl. Hacker 1978e, 274 f.) Denn die entschiedene Differenzierung zwischen Selbst und Ich ist für ihn zu Recht entscheidendes Kennzeichen des AdvaitaVedānta. Hacker lässt sich in diesem Zusammenhang zu der Einschätzung verleiten, die folgende Bestimmung der Person klinge »wortwörtlich« 394 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Phänomenologische Grundzüge

wie eine Darlegung des vedāntischen Ātmanbegriffs: »Vielmehr steckt in jedem voll konkreten Akt die ganze Person und ›variiert‹ in und durch den Akt auch die ganze Person – ohne daß ihr Sein doch in irgendeinem ihrer Akte aufginge, oder wie ein Ding in der Zeit veränderte.« (Scheler 2014, 474) Er räumt freilich ein, dass innerhalb des Advaita-Vedānta eine solche personale Variation des ātman allenfalls illusionistisch als upādhi, d. h. Überlagerung interpretiert würde und er sieht überdies, dass sich im Begriff des Aktes ein gewichtiger Unterschied zwischen dem Ātmanbegriff und dem Schelerschen Begriff der Person auftut. Er führt diesen Unterschied allerdings auf ein Versäumnis der Vedantins zurück, deren Ursache er in dem Dogma einer monistischen Ontologie vermutet. (Vgl. Hacker 1978e, 276) Zwar verfüge der Advaita-Vedānta auch über einen Begriff psychischer »Funktionen«, die vṛtti, er habe aber die Tiefe des Scheler’schen Aktbegriffs nicht erreicht. »Der Advaita-Vedānta kennt den Begriff der ›Funktion‹ (vṛtti) auch, und er weiß, daß sie Gegenstände des Selbst sind. Aber daß sie Gegenstände von Akten sind, durfte er nicht explizit werden lassen, weil ein solcher Satz die den Monismus tragende herkömmliche Ontologie gefährdete.« (Ebd., 276)

In dem Maße, wie es erlaubt ist, die phänomenologische Qualität und damit eine gewisse ontologische Indifferenz des Advaita-Vedānta zu betonen, lässt sich mit Blick auf die weiter oben gewonnenen Differenzierungen ein vorsichtigeres Bild des sicher markanten Unterschiedes von Selbst und Person gewinnen. Er liegt dann nicht in einem einseitigen philosophischen Versäumnis, sondern in einer vielleicht nur graduell verschiedenen Aufmerksamkeit auf einen Phänomenbestand. Für Hacker besteht der unübersehbare Fortschritt des modernen Personbegriffs in seiner Dynamik, die er von der Starre und Statik des Ātmanbegriffs abhebt. Anstatt diese Charakterisierung als Kennzeichnung philosophischer Vermögen zu verstehen, lässt sie sich freilich auch als Bestimmung des fraglichen Phänomens auffassen. 166 Scheler und Śaṅkara sehen vielleicht nur auf zwei Seiten derselben Medaille.

166 Aber auch als Kennzeichnung eines phänomenologischen Gusto lässt sich diese sicher zutreffende Charakterisierung unprätentiöser verstehen, als es Hacker nahe legt. Für Husserl liegt der Unterschied bekanntlich darin, dass die statische eine beschreibende, die genetische oder dynamische eine erklärende Methode ist. Vgl. Hua XI. 340.

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

Die auffallende Gemeinsamkeit von ātman und Person im Sinne Schelers ist zum ersten ihre Differenzierung von einem psychischen Ich und seinen Funktionen, zum zweiten der Verweis auf eine grundlegende Ungegenständlichkeit des in Frage stehenden Phänomens: »Das ›Ich‹ […] ist in jedem Sinne des Wortes noch ein Gegenstand: die Ichheit noch ein Gegenstand formloser Anschauung, das individuelle Ich ein Gegenstand innerer Wahrnehmung. Dagegen ist ein Akt niemals Gegenstand. […] Ist aber schon ein Akt niemals Gegenstand, so ist erst recht niemals Gegenstand die in ihrem Aktvollzug lebende Person.« (Scheler 2014, 476 f.)

Ein gewichtiger Unterschied macht sich nun an dem Begriff des Aktes offenkundig, der einen bewusstseinsphänomenologischen Bereich kennzeichnet, von dem Hacker meint, er wäre in den vedāntischen Differenzierungen nicht zu finden. Zwar ist ein am Intentionalitätsbegriff ausgerichtetes Verständnis einer Mannigfaltigkeit von Akten, die sich nach Aktarten, -formen, -richtungen und -gegenständen sortieren ließen und sich gegenüber den psychischen Funktionen dadurch auszeichnen, dass sie untereinander in einem Sinnzusammenhang stehen und in ihnen etwas »gemeint« ist (vgl. Scheler 2014, 478), in der Tat nicht zu finden – erst recht nicht unter einer konstitutionstheoretischen Hinsicht, wie der Frage möglicher apriorischer Aufbauverhältnisse solcher Akte. In unserem Zusammenhang ist es aber dennoch eine allzu verkürzende Redeweise, wie Hacker davon zu sprechen, dass die vṛtti, die in der Scheler’schen Terminologie den »psychischen Funktionen« des Ich entsprächen und damit von den Akten kategorial verschieden seien, einfach dem Selbst gegenständlich werden würden. Man wird vielmehr die weiter oben angezeigten Elemente des antaḥkaraṇa also manas, buddhi, cittam und ahaṃkāra zu berücksichtigen haben. Sie sind es schließlich, vermöge derer der ātman die Leistungen des Urteilens, Vorstellens, Erinnerns, Fühlens usw. zeitigt. Und es ist zunächst buddhi und manas, nicht der ātman selbst, dem die vṛtti gegenständlich werden. In einem tieferen Sinne, den wir hier verstehen wollen, sind dem Selbst als sākṣin freilich alle Bewegungen und auch aller Mangel an Bewegungen des Bewusstseins gegenständlich, allerdings in einer Weise, von der wir noch keinen Begriff haben. Zieht man diese Differenzierung in Erwägung, ergibt sich Raum für ein etwas anderes Bild: Denn der Unterschied zeigt sich dann nicht in dem vordergründigen Mangel einer Differenzierung, sondern in ihrer strukturellen Interpretation und Gewich396 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Phänomenologische Grundzüge

tung. Das eröffnet die Möglichkeit, den Ātmanbegriff nicht als einen durch eine überkommene Metaphysik verkümmerten Personbegriff zu begreifen, sondern als Anzeige für eine Dimension bewussten Erlebens gelten zu lassen, die etwa in einer nachdrücklich an den personalen und ethischen Verhältnissen menschlichen Lebens orientierten Differenzierung des Bewusstseins nicht in den Blick geraten kann. Von welcher voraussetzungsreichen und außerphänomenologischen Warte aus wollte man denn entscheiden, dass »Sätze […] in denen sich eine Einsicht in das Wesen der Person oder das Gottesverhältnis natürlicher Religion ausspricht« von gänzlich anderer Art sind, als Sätze, in denen sich »die Erfahrung einer bestimmten Art von mystischem Erleben, nämlich der Versenkung des Selbst in sich selbst« (Hacker 1978e, 289) Ausdruck verschaffen. Die Sphäre der Aktintentionalität, die man mit einigem Recht als Struktur der Person wird ansprechen können, konnte solche an dem Verhältnis zu einem Absoluten orientierten Differenzierungen des Bewusstseins kaum beschäftigen. Dafür geriet hier etwas in den philosophischen Blick, das sich vielleicht nur in der rückhaltlosen Besinnung des Selbst auf sich selbst kundgibt. Nicht weil es besonders tief liegt, sondern weil es sich den flüchtigen meinenden Akten der Philosophen als etwas entziehen muss, das sie stets voraussetzen. Akt und Person sind für Scheler von gleicher Art. Auch wenn die Person als fundierende auftritt, so gibt sie sich doch überhaupt nur durch bzw. in den Akten. »D. h. zum Wesen der Person gehört, daß sie nur existiert und lebt im Vollzug intentionaler Akte.« (Scheler 2014, 481) Zur philosophischen Anschaulichkeit »dieses verborgenste[n] aller Phänomene« (ebd., 475) vertraut er auf die transitive Emphase des Vollzugs. »Die Person lebt wohl in die Zeit hinein, sie vollzieht anderswerdend ihre Akte in die Zeit hinein.« (Ebd.) Dieses Anderswerden expliziert Scheler mit dem von Hacker so deutlich zum Ātmanbegriff ins Verhältnis gesetzten Begriff der Variation: »Vielmehr steckt in jedem voll konkreten Akt die ganze Person und ›variiert‹ in und durch den Akt auch die ganze Person – ohne daß ihr Sein doch in irgendeinem ihrer Akte aufginge, oder wie ein Ding in der Zeit ›veränderte‹.« (Ebd., 474)

Dass diese Form der Veränderung nicht in die Sphäre der Sukzession, des Nacheinander, schon gar nicht der dinglichen Veränderung gehört, wird von Scheler nicht eigens begründet. Dieser Umstand trägt allerdings die antisubstantialistische Intuition, dass es »keines dau397 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

ernden Seins [bedarf], das sich in diesem Nacheinander erhielte, um die ›Identität der individuellen Person‹ sicherzustellen. Die Identität liegt allein in der qualitativen Richtung dieses puren Anderswerdens selbst.« (Ebd., 474 f.) Personale Identität zeitigt sich somit zwar allein durch den je meinenden Vollzug konkreter Akte. Zugleich aber »enthält […] jeder konkrete Akt […] alle Aktwesen«, und »es ist die Person selbst, die in jedem ihrer Akte lebend auch jeden voll mit ihrer Eigenart durchdringt«. (Ebd., 475 f.) Hackers richtige Einsicht, dass man »die Idee der Durchgängigkeit des Selbst in allen geistigen Akten, sein totales Darinsein in jedem solcher Akte, seine wesenhafte Nichtobjektivität, sein Selbstgegebensein, seine Geistigkeit und – als Folge derselben – sein Sichselbst-genügen«, auch in den Bestimmungen des Ātmanbegriffs der Vedantins findet, besagt nun aber nicht, »daß mit dem, was sie bestimmen, die Person im Sinne Schelers gemeint ist«. (Hacker 1978e, 277 f.) Hier muss nämlich darauf aufmerksam gemacht werden, dass Hacker in seinem konfrontativen Bemühen um den Begriff der Person, den Begriff des jīva unterschlägt, der als eine Art »Mischung« aus ātman und antaḥkaraṇa 167 jene Elemente verbürgen könnte, auf die Hacker eigentlich abheben möchte. Für Hacker geht es letztlich um den Personbegriff, »wie ihn aus christlichen Voraussetzungen Max Scheler dargestellt hat«. (Ebd., 271) Und der von vornherein unstrittige Vorteil dieses Begriffs ist für ihn, dass sich an ihm keine Gefahr abzeichnet, die Vorstellung eines handelnden, idiosynkratischen und autonomen Individuums prekär werden zu lassen, wie sie sich mit Blick auf die an einem all-einen Selbst orientierten Differenzierungen der Vedāntins ankündigen kann. Die Person nach Scheler ist zwar – und hier liegt in der Tat eine Äquivalenz – etwas, »was gegenüber dem Gegensatz ›Ich-Du‹, ›Psychisch-Physisch‹, ›Ich-Äußenwelt‹ völlig indifferent ist«. (Scheler 2014, 480) Sie ist aber zugleich eine menschliche Totalität, die handelt. Sie ist zugleich, wie das personale Ich Husserls, ein System des »Ich-kann«. Schelers Person geht spazieren, der ātman hat sich nie bewegt. Aber das Nicht-Handeln ist weder unreflektierter Atavismus einer monistischen Ontologie noch Ausdruck ethischer Kurzsichtigkeit oder eine Geste religiöser Lebensfeindlichkeit, sondern, wie noch zu zeigen ist, Struktur lebendiger Subjektivität. 168 Der personale Holismus Schelers gehört 167 168

Vgl. VC, § 185–188. Dass die wirkmächtige Unterscheidung von karma (Tat) und akarma (Nicht-Tat)

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Phänomenologische Grundzüge

in eine sehr viel höherstufige Stoßrichtung philosophischer Bewusstseinsanalyse. Für das Personsein ist reflexives Selbstbewusstsein noch nicht einmal hinreichend 169, für das Ātmansein ist es, wie bereits gezeigt wurde, schon zu viel. Den »eigentümlichste[n] und tiefgreifendste[n] Unterschied des vedāntischen Ātmanbegriffs zum modernen Personbegriff« sieht Hacker dann auch darin, dass dieser »die Nichtgegenständlichkeit, die Geistigkeit, die Selbstgegebenheit (svataḥsiddhatva) und das Beisichsein (svatantratva) des Selbst nur dann gewährleistet sieht, wenn kategorisch abgestritten wird, daß das Selbst in irgendwelchen Relationen vorkomme«. (Hacker 1978e, 280) Und auch hier legitimiere sich der philosophische Gehalt lediglich daraus, dass der AdvaitaVedānta »meint, diese These seiner außerordentlich statischen, das monistische Dogma einschließenden Ontologie schuldig zu sein«. (Ebd.) Es ist unstrittig, dass sich überall in den Kodifizierungen des Advaita eine rigide Ontologie finden lässt. Aber abgesehen davon, dass die Kritik, die in der Anzeige dieses Unterschieds impliziert wird, nur dann triftig wäre, wenn man die vedāntische Ebene personaler Individuation, d. h. die Struktur des jīva, nicht die des ātman berücksichtigt, 170 verkennt man die intrasubjektive Emphase und den phänomenologischen Solipsismus des Vedānta Śaṅkaras, wenn man den entsprechenden Bewusstseinsbegriff als bloße Anbiederung an diese Ontologie verstünde. in der Bhagavadgītā als so schwer zu verstehen (gahanā) bezeichnet wird, dass es selbst die Weisen verwirrt (Vgl. BhG, IV.16–17), hat einen Grund nicht zuletzt darin, dass sie vorschnell als Äquivalent zu der Unterscheidung von Bewegung und Ruhe aufgefasst werden kann. Nun ist akarma aber nicht durch ein noch so entschiedenes Unterlassen zu gewinnen. Deshalb lautet Kṛṣṇas Erklärung der Natur dieser Unterscheidung in BhG, IV,18: karmaṇi karma yaḥ paśyed akarmaṇi ca karma – »in der Tat soll er die Nicht-Tat sehen und in der Nicht-Tat die Tat.« Vgl. dazu Śaṅkaras Kommentar zu dieser Stelle, in dem er das Streben nach Ruhe und einer entsprechenden Seligkeit lediglich als falsche Zuschreibung körperlicher und sinnlicher Vermögen auf das Selbst fasst, das stets ohne Bewegung und Veränderung ist. (BhGBh, 115 f.) Diese Erklärung findet ihre Konkretion außerdem in BhG, V.8 u. 9, wo vom »Kenner der Dasheit« (tattvavit) gesagt wird, dass er trotz Vollzug aller möglichen Handlungen der festen Überzeugung sei: nāiva kiñcit karimīti – ›nicht einmal ein bisschen tue ich.‹ 169 »›Selbstbewußtsein‹ ist noch nicht Person, wenn nicht in dem Bewußtsein ›von‹ sich selbst alle möglichen Bewußtseinsarten (z. B. wissende, willentliche, fühlende, liebender und hassender Art), sich selbst zu erfassen, vereinigt sind.« Scheler (2014), 471. 170 Es muss nicht mehr erläutert werden, dass es einem Kategorienfehler gleichkäme,

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

Auf der Folie des Scheler’schen Bewusstseinsbegriffs, der entweder »alles in innerer Wahrnehmung in Erscheinung tretende« (Scheler 2014, 482) oder in klassischer aktphänomenologischer Façon »jegliches Bewusstsein von etwas« (ebd., 483) meint, müssen Śaṅkaras Differenzierungen um den Begriff eines ständigen nichtintentionalen Bewusstseins in der Tat artifiziell wirken. 171 Sie kommen aber keineswegs lediglich als Ableitungen einer monistischen Ontologie zum Tragen, sondern, wie Hacker selbst einräumt, als strukturelle Gehalte möglicher Selbsterfahrung. Auf der Ebene philosophischer Selbsterfahrung nimmt sich der Unterschied dann auch weniger gravierend aus. Ein phänomenologisches Interesse an einem Ursprung des Erlebens ist beiden Philosophien gemein und beide anerkennen den methodischen Sinn, dass »Ursprung eines Erlebens aus einer Person und Entstehung eines Erlebnisses in einer Person […] grundverschiedene Dinge« (ebd., 482) sind. Anlage und Architektur des ethischen Personalismus Schelers wird natürlicherweise das engagierte Erleben in den Fokus rücken lassen, seine an der Kritik des transzendentalen Formalismus entwickelte Ablehnung eines »Bewusstseins überhaupt« oder eines »überindividuellen Ich« konturiert aber eher den Begriff des ātman, als dass sie ihn trifft. Schon seine Vertiefung der Kantischen Kritik an der Seelenlehre der Rationalisten ist für den Vedānta völlig unproblematisch. Nicht nur teilt dieser die Auffassung, dass, wenn Ichheit und individuelles Ich Gegenstände sind, dass dann auch eine als Substanz aufgefasste »dem individellen Erlebnisich als ›reale Grundlage‹ supponierte ›Seele‹ natürlich erst recht ein Gegenstand« (Scheler 2014, 464) wäre. Er hat auch Raum für die von Scheler so feinsinnig angebahnte Unterscheidung:

wollte man die Irrelationalität des ātman für eine Form personaler Isolation begreifen. Auf einer Verkennung dieses möglichen Fehlers mag auch eine klassische buddhistische Kritik des ātman beruhen. Nārgājuna etwa sieht in dem berühmten Ātman-Kapitel seiner Kārikā (18.2) den ātman in allzu großer Nähe zum ahaṃkara und spricht von einem Zur-Ruhe-Kommen des ātman (śamād ātman) als Bedingung der Auflösung des ahaṃkāra. Die Rede von einer Bewegung des Zur-Ruhe-Kommens wäre hinsichtlich des vedāntischen Ātmanbegriffs wenigstens ein Pleonasmus. 171 Scheler macht sehr deutlich, dass er der Rede von »einem ›Bewußtsein überhaupt‹« nicht zugeneigt ist. Das liegt allerdings vor allem daran, dass er die nachkantische und letztlich intellektualistische Rede von »einem ›transzendentalen Ich‹ mit besonderen gesetzmäßigen Verfahrungsweisen in allen Menschen evident widersinnig« (Scheler 2014, 466) findet.

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Phänomenologische Grundzüge

»Haben wir nämlich alle Aktarten, Aktrichtungen unter strengster Absehung von den realen Trägern dieser Akte und ihrer Naturorganisation gesondert, […] so entsteht als eine letzte Frage, was es denn sei, was noch ganz unabhängig von der Naturorganisation ihrer Träger (z. B. Mensch) […] diese verschiedenen Aktwesen selbst […] zur Einheit zusammenbinde.« (Ebd., 468 f.)

Für Scheler – wie auch für Śaṅkara – darf diese Frage nicht einfach reformuliert werden in die Frage: »[V]on wem oder von welchem realen Wesen werden die Akte vollzogen?« (Ebd., 469) Scheler fragt stattdessen: »Welcher Vollzieher ›gehört‹ wesenhaft zum Vollzuge von Akten so verschiedener Wesen überhaupt?« (Ebd.) Wie dieses possessive Verhältnis genau zu verstehen ist, wird nicht weiter ausgeführt. Es ist dies aber der theoretische Ort, an dem der Begriff der Persönlichkeit ins Spiel gebracht wird und sich die philosophischen Wege auf fruchtbare Weise trennen. Denn die Differenzierungen des Vedānta verlaufen von hieraus quer zu denen Schelers. 172 Während für Scheler die Emphase des bewegten Vollzugs, des Hineinlebens in Zeit und Welt die maßgebliche Hinsicht wird, liegt die Rücksicht Śaṅkaras auf einem vordergründigen Zur-Ruhe-Kommen (uparamaṇa) dieses Hineinlebens mit dem Ziel, eine Dimension bewussten Erlebens auszuzeichnen, zu der weder Vollzug noch Vollzieher »gehören«. Es sind die kognitiven »Organe« buddhi und manas, die »bei ihren Funktionen notwendigerweise Thäter [sind]; aber das Thätersein dieser Organe erfordert noch die Apperception (upalabdhi), und diese kommt der Seele (ātman) zu; damit ist aber kein Thätersein derselben gesetzt, weil ihr Wesen eine ewige Apperception ist. Das Selbstbewusstseins (ahaṃkāra) aber geht zwar dem Thätersein, nicht aber der Apperception voraus, indem auch das Selbstbewusstsein ein Gegenstand der Apperception ist.« (BSBh, II.III.40, 428 f.) Der Ausdruck upalabdhi, den Deussen in seinem neukantischen Duktus als Apperzeption übersetzt, um dadurch den Unterschied zu den verwandten Ausdrücken vijñana (Vorstellung), anubhava (Erfahrung), pratyaya (Perzeption), grahaṇa (Auffassung), avagamana (Apprehendieren) und pratyakṣam (Wahrnehmung) anzuzeigen (vgl. 172 Auf anthropologischer Ebene wäre es aber sicher fruchtbar, die platonische Bewegung der Selbsttranzendierung, die Scheler später zur Grundbewegung seines Philosophieverständnisses erklärt, zu den soteriologischen Motiven des Advaita ins Verhältnis zu setzen, da »die Idee eines (unendlichen) konkreten personalen Aktzentrums als Korrelat aller möglichen Wesenheiten mit der Idee Gottes […] identisch ist« (Scheler 1968, 86)

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Deussen 1906, 261 f.) 173, meint hier jenes undifferenzierte Bewusstsein, das die Natur des Selbst bestimmt. (Vgl. Timalsina 2009, 7) Diese offenkundig verborgene Dimension bewussten Erlebens wird durch eine natürliche überlagernde Konstitution der upādhis verdeckt, die man mit Hacker wohl als eine rudimentäre illusionistische Variante aktphänomenologischer Variation verstehen könnte. 174 Auf ihnen beruht das aktive und passive Drängen in die Welt und die Selbsterfahrung, autonomes Zentrum von Erfahrung und Engagement zu sein. »Folglich beruht das Thätersein der Seele nur darauf, dass ihr die Qualitäten der Upādhis übergeworfen sind (upādhi-dharma-adhyāscna), und nicht ihrer eigenen Natur. Und so lehrt die Schrift, wenn sie sagt: ›es ist als ob sie sänne, es ist als ob sie schwankend sich bewegte‹ (Brih. 4,3,7); und wenn sie in der Stelle (Kath. 3,4): ›Den Atman, mit den Sinnen und dem Manas verbunden, nennt der Weise den Genießer‹ aussagt, dass die Seele nur durch Verbindung mit den Upādhis in den spezifischen Zustand des Genießerseins und Thäterseins übergeht.« (BSBh, II.III.40, 425)

Da es zu den zentralen Annahmen des Vedānta Śaṅkaras gehört, dass nur »auf dem Standpunkte des Nichtwissens (avidyā) ein durch upādhis bedingtes Thätersein der individuellen Seele (jīva) statthat« (BSBh, II.III.41, 429), ist zu klären, was es mit dieser eigentümlichen Form des Nichtwissens und der entsprechenden Leistung der Übertragung (adhyāsa od. adhyāropa) auf sich hat. 175

173 Deussen sieht, dass die klassische Kantische Bestimmung der Apperzeption als »Bewußtsein seiner selbst als die einfache Vorstellung des Ich« die Bestimmung von upalabdhi nicht treffen kann, ja ihr sogar entgegengesetzt ist. Die Bedeutung dieser Termini sind deshalb »nicht aus den […] dafür gewählten modernen Ausdrücken, sondern aus dem Zusammenhang zu entnehmen.« Deussen (1906), 261 f. 174 Es wird sich daher auch zeigen, dass der Versuch den Begriff des Zeugen (sākṣin), den Śaṅkara und seine Nachfolger zur Bestimmung von ātman heranziehen, nicht mit einer noch so ursprünglichen first-personal givenness gleichzusetzen ist 175 In seiner detaillierten Studie über die terminologischen Besonderheiten in den Schriften Śaṅkaras legt Hacker (1978d) dar, dass die einzige explizite Bestimmung von avidyā diese als adhyāsa definiere. (58) Seine Ausführungen beziehen sich jedoch lediglich auf das Brahmasūtrabhāṣya. Im Vivekacūḍāmaṇi etwa kommt eine sehr viel differenziertere Auffassung zum Ausdruck. Vgl. VC, § 108–115. Auch Mohanty argumentiert, dass avidyā in wenigstens einer Hinsicht nicht einfach Äquivalent zu adhyāsa verstanden wird. Die Überlagerung ist notwendige, nicht hinreichende Bedingung für die Unwissenheit, die ātman als jīva erscheinen lässt. Vgl. Mohanty (1993), 72.

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7.2.2 Reflexion und Übertragung Schlange und Seil, Silber und Perlmutt – die Stellen sind Legion, an denen Śaṅkara den Kerngedanken seiner Philosophie mit dem Bild einer vertrauten Sinnestäuschung anschaulich macht. Für den hier verfolgten phänomenologischen Zusammenhang wird es vor allem aufschlussreich sein, auf die Grenze dieses Bildes aufmerksam zu machen. 176 Anders als die in der späteren Advaita-Tradition verstärkt anzutreffenden Bilder, die das Verhältnis nicht-dualer Realität zu der Welt der Erscheinungen anschaulich machen sollen 177, konfrontiert das Bild der überlagernden Sinnestäuschung dort mit einem bemerkenswerten Problem, wo es wie in der Adhyāsabhāṣyam genannten Einleitung zum Brahmasūtrabhāṣya als Ausdruck für die scheinbare Selbsttäusuchung des ātman herangezogen wird. Die bekannte Täuschung des als Silber erscheinenden Perlmutts exemplifiziert dabei die folgende Grundstruktur von adhyāsa: Ein Objekt (viṣaye), bzw. seine Qualitäten werden auf ein anderes vorliegendes Objekt (purovasthite viṣaye viṣayāntaramadhyasati) übertragen. Die Applikation dieser Struktur auf das Verhältnis von ātman und jīva, bzw. allgemeiner, von Selbst und Nicht-Selbst, ist nun problematisch. Denn Śaṅkara lässt kaum eine Gelegenheit aus, zu betonen, dass das Selbst sich gerade dadurch auszeichnet, kein Objekt bzw. Nicht-Objekt (aviṣaya) zu sein. Wenn aber jede Übertragung eines vorliegenden Objektes bedarf, dann muss das Selbst entweder Objekt werden können, oder die Struktur der Übertragung lässt sich in diesem Fall nicht applizieren. So oder ähnlich lässt sich ein Grundproblem artikulieren, das die Diskussionen innerhalb des AdvaitaVedānta seit Śaṅkara durchzieht. Und es wurde schon angedeutet, dass zwei der großen Post-Śaṅkara Schulen, Vivaraṇa und Bhāmatī, ihre spezifische Kontur nicht zuletzt aus ihrer theoretischen Haltung 176 Für eine Erörterung der allgemeinen metaphysischen Hinsichten von avidyā und adhyāsa siehe Mahadevan (1985). 177 Timalsina (2009, 70) unterscheidet vier Kategorien von Bildern. 1. das Bild von Welle und Ozean, das ein zu differenzierendes aber nicht zu trennendes Verhältnis anzeigt. 2. das Bild von Schlange und Seil, das vor allem die Irreversibilität der entsprechenden Enttäuschung anzeigt. 3. eine von ihm mit »hair-bundle« überschriebene Sorte von Täuschung, wie sie etwa bei Augenkrankheiten wie dem Grünen Starr zu beobachten ist. Sie verweisen auf solche Täuschungen, die auch nach Realisation ihres Status phänomenal erhalten bleiben. 4. Träume, durch die die Erlebnisevidenz sinnlicher Erfahrung ohne ontische Entitäten exemplifiziert werden soll.

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zu diesem Problem gewinnen, das Śaṅkara selbst mit einer Antwort bedenkt, die man mit Mohanty für »most enigmatic« (Mohanty 1993, 68) halten kann: »Aber wie ist es möglich, auf das innere Selbst (ātman), da es doch nicht Objekt ist, die Qualitäten von Objekten zu übertragen? […] – Wir antworten: dasselbe ist doch nicht in jedem Sinne Nicht-Objekt; denn es ist das Objekt der Vorstellung des Ich; und nur darum nimmt man ja auch allgemein ein inneres Selbst an, weil es der Wahrnehmung nicht unzugänglich ist.« (ABh, 4) 178

Buchstabiert man die möglichen begrifflichen Lösungen aus, die die Advaita-Tradition hervorgebracht hat, um die hier angelegte Problematik zu entschärfen, 179 kann sich der schale Eindruck einstellen, es handele sich lediglich um einen scholastischen Austausch philosophischer Positionen, der der phänomenologischen Redlichkeit und existentiellen Dringlichkeit, die sich in der Upadeśasāhasrī oder dem Vivekacūḍāmaṇi ausdrücken, nicht immer gerecht wird. Es ist aber schon deshalb keine philosophische Trivialität, diese Geste Śaṅkaras Philosophierens zu berücksichtigen, weil die Differenziertheit zentraler Aussagen ansonsten unverständlich bleiben muss. Das gilt insbesondere für die hier in Frage stehende Bestimmung: ātman sei, obgleich aviṣaya, doch nicht in jeder Hinsicht aviṣaya ist, weil er zugleich als asmat-pratyaya gelten muss – als das ›Objekt der Vorstellung des Ich‹. Die Schwierigkeit besteht ja nicht lediglich darin, dass ein Widerspruch entsteht, wenn man, was als aviṣaya definiert ist, als viṣaya bestimmt, sondern darin, dass das Selbst Objekt des Ich sein 178 Die Distanz, die Deussen durch die doppelte Verneinung in der letzten Zeile evoziert, ist Ergebnis einer sehr buchstäblichen Übersetzung. Man nimmt den ātman an, weil er a-parokṣa (›nicht außer Sicht‹) ist, d. h. gegenwärtig bzw. unmittelbar wahrnehmbar. 179 Vgl. etwa die Sammlung einschlägiger Kritiken bei Mahadevan (1985) 8–17. Ferner referiert Mohanty (1993, 69–71) eine Reihe von Lösungsvorschlägen, die er mit Verweis auf ihre zirkuläre Struktur zurückweist. Sein eigener Lösungsvorschlag besteht darin, die Leistung von avidyā nicht auf die überlagernde Konstitution von adhyāsa zu beschränken, sondern zu sagen: Die Leistung von adhyāsa präsupponiert bereits eine ›verhüllende‹ (concealing) Leistung. Diese Verhüllung (āvaraṇa) besteht in einer Objektivierung des Selbst, auf deren Grundlage die überlagernde Leistung von adhyāsa erst ihre Wirkung zeitigt. (72) Ohne dass er auf diese Stelle aufmerksam machen würde, stützt śloka 113 des Vivekacūḍāmaṇi diese Interpretation. Hier spricht Śaṅkara von der verhüllenden Kraft (āvṛtirnāmaśakti) des guṇa tamas, die erst die Projektionskraft (vikṣepaśakti) des guṇa rajas ermöglicht.

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soll, das Selbst aber gerade als das bestimmt ist, dem das Ich als Objekt gilt. Man wird also eine eigentümliche Form von Selbstreferentialität zu berücksichtigen haben. 180 Ein Hindernis auf dem Weg zu einer solchen Lesart liegt in der Analogie der sinnlichen Täuschung. Sie kann stets so präsentiert werden, dass der Modus von Täuschung und Enttäuschung bereits aufgehoben ist. Wir sprechen dann von einer Situation, in der das Perlmutt einer Muschel als Silber erscheint und nehmen dabei immer schon in Anspruch, über das mögliche Vexierbild der Erscheinungen zu verfügen. Täuschung und Enttäuschung sind hier zwei Seiten einer Medaille, die wir in gut ausgeleuchteter, mit Spiegel versehener Vitrine zur Kenntnis nehmen. In die phänomenologische Verlegenheit, wie ein Silber-Erlebnis im Vollzug kontinuierlicher Erfahrung einem Perlmutt-Erlebnis weicht, müssen wir dabei nicht geraten. 181 Die Situation, zu der uns die Lektüre des Adhyāsabhāṣya Anlass gibt, ist von anderer Art. Hier soll nicht eine Täuschung besprochen werden, deren auflösende Identifikation uns aus unserem Lebensvollzug vertraut ist und deren Erlebnismodus wir uns verlustlos durch Abstraktion entheben können. Śaṅkara ist es schon in seiner Einleitung und vielmehr noch in den dezidiert pädagogischen Schriften, darum zu tun, zu sagen: »Freund, du lebst in einer umfassenden Silber-Erfahrung! Erst wenn wir uns der Struktur dieser Täuschung versichern, bist du einen Schritt zu ihrer Enttäuschung gegangen.« Denn positiv gewendet sind avidyā und adhyāsa natürlich Bedingung der Möglichkeit von Welt- und Selbsterfahrung überhaupt, und auch nur im spiegelnden Horizont fortschreitender Übertragung ist Erfahrung von ātman möglich. 182 Einen Begriff von ihrer Funktion zu haben, ist aber nur erster Schritt der Anstrengung, sich ihrer ephemeren Struktur zu versichern. Im Vivekacūḍāmaṇi (§§ 108–115)

180 Diesen Aspekt scheint auch Lorenz vor Augen zu haben: »Śaṅkaras auf den ersten Blick überraschende und bei genauerem Hinsehen geniale Antwort lautet: Jeder ist doch mit dem Selbst als dem Objekt der Vorstellung des Ich (asmat-pratyaya-viṣyaya) vertraut, und zwar dadurch, daß man umgekehrt über einen Widerschein des Selbst verfügt.« Lorenz (1998), 186. 181 Vgl. Schelers Theorie der Täuschung, derzufolge Täuschung eine spezifische Form der Sphärenvermengung ist (siehe etwa Scheler 1972, 223–226). Mit Scheler wird z. B. deutlich, dass eine Enttäuschung nicht der Tilgung der Silber-Erfahrung bedarf, sondern nur ihrer Überführung aus der Sphäre realer Dinge in ihre korrekte Sphäre, die Sphäre »Sehding«. 182 Vgl. dazu Krishna (1991d).

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spricht er darum der avidyā drei Funktionen zu 183, die anzeigen, dass ihm nicht vorrangig an begrifflicher Entwicklung gelegen ist, sondern an der Identifikation subtiler motorischer, sensorischer und mentaler Modi, die wir selbstverständlich als konstitutive Elemente unseres Selbst erfahren und gelten lassen. Solange man die begriffliche Spannung in Śaṅkaras Ausführungen zum adhyāsa allein nach Maßgabe ihrer möglichen begrifflichen Auflösung begreift, entgeht man ihrem phänomenologischen Zug, der in dem Umstand zu sehen ist, dass sie selbst der umfassenden (täuschenden) Ordnung zugehört, aus denen zu befreien sie verfasst sind. Das ist schon deshalb von Bedeutung, weil der Gegenstand der philosophischen Diskussion nicht ein Gegenstand unter anderen ist, sondern Ich selbst. Śaṅkaras »most enigmatic statement« kann deshalb als Ausdruck für diejenige Vorstellung des Bewusstseins gelten, die Hofstadter als »strange loop« bezeichnet, »an interaction between levels in which the top level reaches back down towards the bottom level and influance it, while at the same time being itself determined by the bottom level«. (Hofstadter 1979, 709) Mit anderen Worten konfrontiert Śaṅkara hier mit der vertrauten Funktion reflexiven Selbstbewusstseins und nimmt im Weiteren die Position ein, die Hofstadter etwas abfällig als »soulist« bezeichnet und der er die Worte in den Mund legt: »These symbols may trigger each other all they want, but unless someone perceives the whole thing, there’s no consciousness.« (Ebd., 384) Diese Intuition hält Hofstadter für verfehlt. »For we would than be compelled to look for an explanation of the mechanism which does the perceiving of all the active symbols, if it is not coverd by what we have described so far. Of course, a ›soulist‹ would not have to look any further – he would merely assert that the perceiver of all this neural action is the soul, which cannot be described in physical terms, and that is that.« (Ebd., 385) Śaṅkara ist aber nicht daran gelegen, einfach den metaphysischen Begriff einer Seele zu entwickeln, deren Mechanismus die Perzeption aktiver Symbole, d. h. etwa des Subsystems »Ich« gewährleisten soll. Vielmehr lässt er zugleich Raum für die von Hofstadter als »modern myth« gekennzeich-

183 Śaṅkara führt hier aus, dass avidyā so beseitigt werden kann, wie man die Illusion der Schlange beseitigt, wenn man sie vom Seil unterscheiden (vikeka) gelernt hat. Das gelinge durch Kenntnis der Funktionen der drei guṅaḥ rajas, tamas und sattva, wobei sattva (›das Wahre‹) nur durch Vermischung mit der verhüllenden und projizierenden Kraft von rajas und tamas Täuschung verursache.

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nete Intuition der »Self-Transcendence« (ebd., 477). Hofstadters physikalischer Funktionalismus macht überzeugend deutlich, dass kein System, Computerprogramme oder menschliches Bewusstsein in einen Zustand geraten können, der sich wirklich als »step outside of itself« beschreiben ließe. Denn es liegt in der Logik (formaler) Systeme, dass eine solche Leistung bereits als mögliche Modifikation im Programm des Systems angelegt sein müsste und damit virtueller Teil des Systems wäre, aus dem es zu springen gälte. Zwischen »perceiving one-self« und »transcending one-self« (ebd., 478) sei deshalb vorsichtig zu unterscheiden. Unbesehen der wissenschaftlichen Spannkraft von Hofstadters Einsichten, ist die theoretische Mächtigkeit, die es benötigt, um solch eine Unterscheidung zu etablieren, für ein phänomenologisches Projekt, wie wir es hier skizzieren, weder erreichbar noch erstrebenswert. Diese Unterscheidung hinsichtlich des Bewusstseins treffen zu können, hieße, sie längst getroffen zu haben. Śaṅkaras Differenzierungen unterwandern die leitende Intuition Hofstadters aber noch in einer anderen Hinsicht: Sie lassen die intrasystemische Spannung der Selbstreferenz, die die Intuition eines »jumping out of the system« motivieren mag, gar nicht erst vollumfänglich gelten. Denn alles Springen wäre, wie die Rekursion selbst, nur Leistung höherstufiger Vermögen der buddhi und damit Symptom einer ursprünglichen Identifikation mit dem ahaṃkāra. Die Emphase des Springens ist wenigstens Ausdruck einer irreführenden Metapher. 184 Auf einer theoretischen Ebene, auf der eine Unterscheidung von »perceiving one-self« und »transcending oneself« nicht zu treffen ist, weil sich im Vollzug bewussten Erlebens weder Anlass noch Raum dafür findet, ist die Spannung, die durch eine Top-Down-Analyse von Bewusstseinsstrukturen, wie sie Hofstadter entfaltet, insofern fruchtbar, als sie in einer entsprechenden phänomenologischen Bottom-Up-Analyse an Zugkraft gewinnt. Die Genese der Spannung kann so anschaulich gehalten werden, dass sich das Springen aus dem System zwar nur als Springen im System offenbart, die zu transzendierende Grenze aber auch nicht vom System,

184 Eine Metapher, die Hofstadter in einem Exkurs zu den Anstrengungen zenbuddhistischer Praxis dann auch umkehrt: »In any case (as I see it), the hope is that by gradually deepening one’s self-awareness, by gradually widening the scope of ›the system‹, one will in the end come to a feeling of being one with the entire universe.« Hofstadter (1979), 479.

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sondern dem Springer gezogen wird. Nicht der gelungene Sprung wäre für Śaṅkara Ausdruck möglicher Selbsttranszendenz, sondern ein Kollaps des vermeintlichen Springers. So wird man ein entscheidendes Moment von Bewusstsein berücksichtigen, das es ein und für alle Mal von allen anderen Systemen unterscheidet: Es hat nicht nur Ich, sondern ist Selbst. Dass es zu der Struktur dieses Systems gehört, einen Reflexionsreflex auszubilden, der sich – rückblickend – in der dyadischen Struktur von »Reflexion« (ahampratyayin) und »Reflektiertem« (asmad bzw. aham) kundgibt, ist für Śaṅkara unstrittig. 185 Er legt lediglich nahe, genauer auf das zu sehen, was wir da als Ich erleben – ahaṃpadārthas tv ahamādisākṣi – »aber das wahre Ich ist der Zeuge des Ich«. (VC, § 294) 186 Der Modus dieses Sehens ist der reduktive Gang des neti neti und die fortschreitende Anstrengung der Diskriminierung (viveka) zwischen der ephemeren und beständigen Struktur bewussten Erlebens. Die ephemeren Strukturen des antaḥkaraṇa, in denen sich ātman natürlicherweise als »Ich« identifiziert, generieren jenes Schlangen-Erlebnis, von dem uns Śaṅkara, die Fackel des Vedānta reichend, überzeugen will, dass das Substrat dieses Erlebnisses 187 das ständige Bewusst-Sein des ātman ist, das »ich bin«. 188 Ich erlebe »Ich« innerhalb des natürlichen Lebensvollzugs eben nicht in seiner lichten Schlichtheit, sondern in aller Regel im Zuge entschiedener Reflexion und im Kosmos natürlicher und konventioneller Fremd- und Selbstzuschreibungen. 189 Auf dieser Ebene bin ich 185 Er ist angeboren (naisargika) (vgl. ABh, 25) und in diesem Sinne natürlich (sahaya) (vgl. DdV, § 9). 186 Hier soll nur darauf hingewiesen sein, dass Hofstadter seine Position da als »nondualistic view of the world« paraphrasiert, wo er in I am a Strange Loop abschließend die Hürde zum Verständnis seiner philosophischen Bemühungen angibt: Manche seiner Leser könnten sich nicht damit abfinden, dass ihre so vertraute Erste-Person-Perspektive für einen »shimmering, elusive rainbow« erklärt wird, der sich aus einer komplexen Struktur selbstreferenzieller Muster ergibt, die ihrerseits eine Selbstrepräsentation erzeugen – »a story told by the entity to itself – in which the entity’s »I« plays the starring role« Hofstadter (2007), 360. 187 Dass das Substratum einer Übertragung nicht notwendigerweise sichtbar oder dinglich sein muss, macht Śaṅkara an der Übertragung des Blau-Erlebnisses auf die Verfassung des Himmels deutlich. 188 Die transformative Figur, die sich in Śaṅkaras Philosophieren abzeichnet, aktualisiert sich also nicht nur, wie es Taber (1983) herausarbeitet hat, nach Maßgabe eines Vorsatzes soteriologischer Praxis, sondern ergibt sich aus der Struktur des Problems von Selbstbewusstsein. 189 Vgl. ABh, 6. Das sind etwa Zuschreibungen des Körpers als solchem, »Ich bin

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mir selbst als »Ich« nur in den Grenzen der Funktionen des antaḥkaraṇa verfügbar, d. h. als eines Individuums bewusst, das vermöge kognitiver und voluntativer Kräfte in einem Welt- und Selbstbezug steht. Die natürliche Verfassung des menschlichen Bewusstseins, sich selbst als finite und individuierte, handelnde und genießende Einheit, d. h. als jīva, zu erfassen, beruht Śaṅkara zufolge aber auf einer Verzerrung des Selbst, auf einem durch den antaḥkaraṇa gebrochenen ›Widerschein der Kraft des Bewusstseins‹ (cit pratibimbaśaktiḥ). 190 Die täuschende Übertragung realisiert sich dementsprechend in der virtuellen und wechselseitigen Stabilisierung der Spiegelung zwischen Ich und Ichvorsteller, also der dialektischen Manifestation des aham und den objektivierenden Projektionen des antaḥkaraṇa und seiner upādhis. 191 Eine Spiegelung, die, so Śaṅkara, ihren Grund aber in der ungestörten Natur des Selbst hat, diesem Spiegelspiel wechselseitiger Übertragung als Zeuge (sākṣin) beizuwohnen.

7.2.3 sākṣin – Stiller Zeuge Es mag gute Gründe geben, »Bewusstsein« für einen antiquierten Begriff zu halten. Etwa den, dass er ohnehin nur noch als »Reservebegriff« für Intentionalität gebraucht wird. (Vgl. Hofstadter/Dennett 1981, 390) Doch auch unbesehen aller theoretischen Raffinessen, den Begriff der Intentionalität innerhalb und außerhalb der phänomenologischen Tradition zu bestimmen, dürfte deutlich geworden sein, dass der Ausdruck Bewusstsein, der bisher für die Ausdrücke cit,

dieser Körper«, »Ich bin weiblich«; seiner möglichen Eigenschaften, »Ich bin fett«, »Ich bin mager«, »Ich stehe, gehe, springe«; der Qualitäten der Sinnesorgane, »Ich bin stumm, taub, blind«, oder der Qualitäten des inneren Organs, »Ich bin zweifelnd, traurig, glücklich, entschlossen usw. Siehe dazu auch die Differenzierung der Stufen möglicher Überlagerungen in VC, §§ 71–107. 190 Vgl. VC, § 185–186. Vgl. auch BSBh, II. 3. 50, 439 f. 191 Vgl. ABh, 6: »– so also überträgt er den Vorsteller des Ich (ahaṃpratyayin) auf die seinen Verrichtungen lediglich als Zuschauer (sākṣin) gegenüberstehende innere Seele (ātman), und umgekehrt die allem als Zuschauer beiwohnende innere Seele auf das Innenorgan (antaḥkaraṇa) usw. So steht es mit dieser anfanglosen, endlosen, angeborenen Übertragung, welche ihrem Wesen nach eine falsche Annahme ist, alle Zustände des Thuns und Genießens hervorbringt und die Sinneswahrnehmung aller Menschen befasst. Sie, welche die Ursache des Unheils ist, zu beseitigen und das Wissen von der Einheit der Seele zu lehren, – das ist der Zweck aller Vedāntatexte.«

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caitanya, brahman und ātman gebraucht wurde 192, weder die Eigenschaft mentaler Zustände, in besonderer Weise gerichtet zu sein, noch den Akt-Haushalt bewussten Erlebens meint. Als selbstleuchtendes (svayaṃprakāśa) und selbsterscheinendes (svayaṃsiddhā) Bewusstsein konfrontiert Śaṅkara uns mit einem Begriff, der zunächst wie eine metaphysische Setzung anmuten muss. Denn dass das Selbst reines Bewusstsein ist, begründet sich für ihn dadurch, dass es nicht entstanden sein kann, »sondern das höchste unerschaffene brahman selbst es ist, welches durch die Beimengung mit den Upadhi’s als individuelle Seele (jīva) besteht«. (BSBh, II.3.18, 407) Dieses brahman aber ist eben ewiges, reines Bewusstsein und für dieses »gibt es keine Unterbrechung des Erkennens«. (BĀU, 4.3.30) Auf eine Spur dieses Bewusstseinsbegriffes bringt uns der naheliegende Einwand, dass der Begriff eines reinen und bruchlosen Bewusstseins schon deshalb kontraintuitiv sei, weil er keinen Widerhall in der natürlichen Erfahrung finde. Die homogene Kontinuität unseres bewussten Erlebens öffnet regelmäßig einen Raum, den wir dem lebendigen Bewusstseinsvollzug aber erst nachträglich einzuverleiben scheinen: den Tiefschlaf. Als Erwiderung auf den Einwand, der Tiefschlaf markiere eine bewusstlose Dimension, verweist Śaṅkara ein weiteres Mal auf die Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad: »Wenn er dann nicht sieht, so ist er doch sehend, obschon er nicht sieht; denn für den Sehenden (draṣṭṛ) ist keine Unterbrechung des Sehens, weil er unvergänglich ist; aber es ist kein Zweites ausser ihm, kein anderes, von ihm verschiedenes, das er sehen könnte.« (BĀU, 4.3.23) Śaṅkara erklärt, dass die vermeintliche Bewusstlosigkeit des traumlosen Schlafes nicht einen Mangel an Bewusstheit, sondern lediglich den Mangel eines Objektes anzeige, »ähnlich wie das Licht, so lange es nur den [leeren] Raum durchstrahlt, nur darum nicht offenbar wird, weil kein zu Beleuchtendes da ist, nicht aber, weil es der Leuchtnatur ermangelt«. (BSBh, II.3.18, 407) 193 Die scheinbare Bewusstlosigkeit traumFür allgemeine terminologische Erörterungen des vedāntischen Bewusstseinsbegriff siehe: Hacker (1995a) 211–226 und Gupta (2003). 193 Dass es sich beim Tiefschlaf nicht um den Bruch in eine völlige Bewusstlosigkeit handeln kann, dürfte überdies schon der glückliche Umstand anzeigen, dass wir wieder aufwachen können. Für eine aufschlussreiche Untersuchung einiger Aspekte des Tiefschlafes aus neurophänomenologischer Perspektive, die sich den Herausforderungen vedāntischer und buddhistischer Bewusstseinsbegriffe stellt, siehe Thompson (2015), 231–273. 192

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losen Schlafes exemplifiziert für Śaṅkara lediglich jene objektlose Dimension von Bewusstsein, die im Wachzustand, durch die Identifikation mit dem antaḥkaraṇa und den Modifikationen der vṛtti aktualisiert, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gewährleistet, indem diese sich in seinem Licht manifestieren. Für Śaṅkara ist Bewusstsein seiner ursprünglichen Natur nach somit nicht nur selbsterscheinend, sondern auch objektlos (nirviṣayaka) und in seiner Unbedingtheit halt- und ortlos (nirāśraya). 194 Um diese Dimension von Bewusstsein näherhin zu bestimmen, gebrauchen Śaṅkara und viele Advaitins nach ihm, den Ausdruck sākṣin. 195 Er gehört zu den prominentesten termini technici des Vedānta und wird in der Regel als »Zeuge« bzw. »witness-consciousness« paraphrasiert. 196 Vor allem im Vivekacūḍāmaṇi und der Upadeśasāhasrī macht Śaṅkara deutlich, dass ātman im Wesentlichen sākṣin ist. 197 Die Metaphorik des Zeugen gibt dabei leicht zu substanzialistischen Interpretationen Anlass, sākṣin sei ein wachsamer Seelenhomunkulus hinter der Mannigfaltigkeit innerer und äußerer Erscheinungen und entsprechender Erfahrung. Śaṅkara verwahrt sich entschieden gegen diese Interpretation (vgl. etwa BĀUBh, I.IV.10, 109). Als selbstleuchtendes Bewusstsein ist sākṣin »nichts als ständige Wahrnehmung« (nityopalabdhimātra) (Upad, II.2.79). Und wie abschließend zu zeigen ist, gewinnt die phänomenologische Intuition eines offenen und lichten Feldes impersonaler Subjektivität an der Diskussion um den Begriff des sākṣin weiter an Kontur.

Vgl. Mohanty (1993), 56–66. Da schon eine Phänomenologie des Tiefschlafes als ein zunächst wenig erfolgversprechendes Unterfangen anmutet, ist es nur sachlich angemessen, die philosophische Fragerichtung zunächst davon bestimmen zu lassen, »how far our mundane life becomes more intelligible, if we accept such a principle.« Chatterjee (1982), 339. Eine solche Heuristik speist sich nicht zuletzt aus dem methodischen Ärgernis des vedāntisches Bewusstseinsbegriff, das weiter oben schon zur Sprache kam. Es entsteht aus der Emphase darauf, dass er auf der einen Seite erst in folge einer singulären Anstrengung um ein Ideal spiritueller Befreiung (mokṣa), also den Gewinn einer besonderen Form von Erkenntnis (paravidyā) einleuchtet. Auf der anderen Seite dient er als Bestimmung des ureigenen Selbst, das niemandem unbekannt sein kann, weil es stets grundlegend vertraut (prasiddha) ist. (Vgl. BSBh, I.1.1, 9) 196 Vgl. Chatterjee (1982), Fort (1984), Gupta (1998), Kanthamani (2001), Albahari (2009), Fasching (2010). Etymologisch meint sākṣin sowohl den juristisch als auch erkenntnistheoretisch maßgeblichen Modus einer direkten, unmittelbaren Wahrnehmung. Vgl. Gupta (1998), 4 f. 197 Vgl. die Stellensammlung in Gupta (1998), 37–39. 194 195

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

Schon Fort hatte in seiner Antwort auf Chatterjee zwei Konzepte des sākṣin unterschieden: »sākṣin as witness, an eternal, passive observer and sākṣin as field, the context, or ›space‹ for all contents or form.« (Fort 1984, 277) Zwar attestiert er Śaṅkaras Ausführungen, dass sie den Aspekt der asymetrischen Relation des sākṣin zu antaḥkaraṇa und den vṛtti betonen und dadurch die Hypostasierung einer passiven Zeugeninstanz begünstigen. Die unverkennbare Nähe zum Ātmanbegriff impliziere aber doch den »field aspect […] for the ātman is, in its essence, the unconditioned field of consciousness/ being«. (Ebd., 280) Als Feld möchte Fort dabei nicht eine »physical area (kṣetre), part of the objectiv realm« verstanden wissen, sondern »the context for contents, or ›space‹ in which forms may appear«. (Ebd., 278) 198 Auch wenn er den terminologischen Beleg für einen Feld-Begriff bei Śaṅkara schuldig bleiben muss 199, so ist die mit diesem Begriff verbundene topologische Intuition für eine phänomenologische Interpretation zentral, insofern sie auf die eigentümlich homogene und unfragmentierte Dimension des Bewusstseins verweist, die ohne die irreführende Hypostasierung einer der ›Außenwelt‹ gegenüberstehenden Subjektinstanz oder einer Art BehälterbewusstFort neigt dazu, die beiden Konzeptionen des sākṣin auf die Standpunkte gewöhnlicher (vyavahāra) und höchster (paramārtha) Wirklichkeit abzubilden und meint das Konzept des passiven Zeugen entspräche eher dem empirischen, das Konzept des Feldes dem metaphysischen Zugriff. Es ließe sich aber annehmen, beide Konzepte ergänzten sich innerhalb des soteriologischen Zugriffs Śaṅkaras, insofern der verhaltene Dualismus, der dem Hypostasierten Zeugenbegriff anhaftet, dem Vollzug des neti neti entspricht, in dem Ich mich fortschreitend als das erfahre, was keiner Negation anheim fallen kann, also auch nicht das Ich, das mir etwa im Tiefschlaf zu mangeln scheint. Die topologische Intuition, die den Feld-Begriff so attraktiv macht, ist hingegen Ausdruck der irreduziblen Präsenz des sākṣin in solchen Erlebniszusammenhängen, die als natürliches Welterfahren gelten und in denen es sich das Zeugenbewusstsein als eine Art »background hum« (Albahari 2009, 63.) oder »subtle background presence« (Zahavi, 2008) ankündigen mag, also als ein »Hintergrundphänomen«, als das Husserl die lebendige Gegenwart zunächst gelten lassen musste. 199 Schon bei seinem Schüler Sureśvara lässt sich allerdings der Ausdruck sākṣi-vastu nachweisen. Der Ausdruck vastu kann sowohl ›Gegenstand‹ als auch ›Platz‹, ›Feld‹ oder ›Raum‹ bedeuten. Das Verb vastuḥ verweist zudem auf die Lichtmetaphorik und kann als ›dämmern‹ oder ›lichten‹ übersetzt werden. In diesem Zusammenhang muss auch daran erinnert werden, dass kṣetre keineswegs nur das Feld im Sinne eines physischen Ortes meint. Im 13. Buch der Bhagavadgītā und Śaṅkaras entsprechendem Kommentar bezeichnet kṣetre den Körper (XIII, 2) sowie den Ich-Sinn, Verstand und Vernunft (XIII, 5) die unsteten Objekte der inneren Wahrnehmung, Affekte, Geistestätigkeit usw. (XIII, 6) und ist zu unterscheiden vom kṣetrejña, dem Kenner des Feldes, der unwandelbar das Feld durchleuchtet. (XIII, 1; 33) 198

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Phänomenologische Grundzüge

sein, die Vorstellung einer durch die ephemere Gestalt innerer und äußerer Erfahrungen beständigen Bewusstseinspräsens wachhält. Gupta fängt diese Intuition dadurch auf, dass sie im Geiste der Lichtmetaphorik vom sākṣin als dem »principle of manifestation« spricht. Wie das Licht zu seiner Enthüllung keines weiteren Lichtes bedarf, so scheine auch der sākṣin selbst und enthülle die Objekte, ohne ein weiteres. 200 Für Chatterjee weist das Konzept des sākṣin im wesentlichen zwei Aspekte auf: Es ist »absolutely passiv« und »neverto-be-objectified principle of awareness«. (Chatterjee 1982, 341) 201 Beide Aspekte verbinden sich bei Śaṅkara zu einer Bestimmung als »primordial continuous consciousness which is self-aware, self-established and always present«. (Ebd., 350) Auch bei Albahari findet sich eine der fasslichen Unfasslichkeit des Feldbegriffs wenigstens verwandte Auffassung, wenn sie ihren Begriff des »witness-consciousness« an Chalmers Bild eines »background hum« entwickelt. Dieser Hintergrund des Bewusstseins »seem caused by the same principle that seems to unifiy the experiences to a single subject – that of mode-neutral awareness«. (Albahari 2009, 76) 202 Fasching spricht in diesem Zusammenhang im Anschluss an Klawonn und Zahavi von der »existence-dimension of experience«: »We stated that the ›witness‹ (sākṣin) is not understood as an observing entity standing opposed to what it observes, but as the very taking place of ›witnessing‹ itself, and ›witnessing‹ is nothing other than the very taking place of the experiential presence of the experiences, in wich the experiences have their very being-experienced and thereby their existence.« (Fasching 2010, 203 f.) In den zeitgenössischen Bemühungen um den Begriff des sākṣin finden sich somit zumeist Ansätze, die zu zeigen versuchen, dass »Bewusstsein« und »Erlebnis« zwar zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind. Als vielversprechender Kandidat für eine Explikation des Vgl. Gupta (1998), 43, 54 und (2003), 31. Während Chatterjee den Aspekt der Passivität in den Upaniṣaden entwickelt sieht und Śaṅkara den Aspekt der Nichtobjektivierbarkeit zuschreibt, hält Gupta die Unterscheidung zwar für zutreffend, gibt aber zu bedenken, dass der Ausdruck sākṣin im philosophischen Zusammenhang zum einen überhaupt erst mit Śaṅkara auftritt und die Upaniṣaden zum anderen schon im Rahmen ihrer reichen Lichtmetaphorik wiederholt auf die Nichtobjektivierbarkeit hinweisen. (Gupta 1998), 54. 202 Albahari entwickelt ihren Begriff des Zeugenbewusstseins nicht von einer vedāntischen, sondern buddhistischen Position her. Dieser angesichts der überkommenen Anātman-Doktrin des frühen Buddhismus sicher kontroverse Umstand kann für den hier leitenden Zusammenhang aber vernachlässigt werden. 200 201

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

vedāntischen Zeugen-Bewusstseins gelten deshalb die an Husserls und Sartres zeitphänomenologischen Einsichten entwickelten Differenzierungen Zahavis. Da, wo er das Selbst als »Experiential Dimension« (Zahavi 2008, 115) und eine entsprechende mineness als »abiding dimension of first-personal experiencing« (ebd.,131) bestimmt, hebt er dieses »prereflective selfconsciousness«, das er zuweilen als »(weak or thin) selfconsciousness« (Zahavi 2008a, 49–56) paraphrasiert, von den höherstufigen Leistungen gegenständlicher Orientierung und entsprechender Reflexion ab. Damit stellt er sich hinter die vertraute Intuition »to distinguish the strict singularity of the field of first-personal giveness from the plurality of changing experiences«. (Zahavi 2008, 132) Fasching hat bei mehreren Gelegenheit versucht, den Bewusstseinsbegriff des Advaita-Vedānta im allgemeinen und den Begriff des sākṣin im Besonderen mit Hilfe dieser Terminologie Zahavis verständlich zu machen. (Vgl. Fasching 2012, 170; 2010, 204 f.) Dadurch gelingt es ihm zu zeigen, »that the Advaitic distinction between consciousness and the mental states should not be read as the distinction between two seperate existences, but as one between two aspects of one and the same happening in order to abstractly isolate the presence-aspect as such, wich we normally (being totally absorbed by the contents present to us) so not attend to«. (Ebd. 2012, 171) Das phänomenologisch aufweisbare Element einer gegenüber den aktuellen Inhalten bewussten Erlebens verharrenden Dimension der Erlebnisgegenwart, die von diesen Inhalten nicht geschieden ist, sondern das Mediale ihres Erscheinens selbst ist, bietet in diesem Sinne eine hervorragende Heuristik, sich den Ausführungen Śaṅkaras zu nähern. Die Nichtobjektivierbarkeit des sākṣin ist in diesem Horizont nicht Merkmal einer obskuren unausweisbaren Instanz, sondern der Bestimmung der Struktur medialen Erlebens selbst, nicht eines möglichen Erlebten oder Erlebenden. Albahari, die das »witness-consciousness« in modus operandi als »mode-neutral awarenss with intrinsic phenomenal character« bestimmt, versucht hingegen, diese Dimension explizit von Zahavis for-me-ness bzw. first-personal-giveness abzuheben 203: »[T]hey belong to different parts of the conscious field.« (Albahari 2009, 67)

203 Im Anschluss an Zahavi und Albahari verwende ich die Ausdrücke mineness, forme-ness, first-personal-giveness synonym. Vgl. auch Zahavi/Kriegel (2015).

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Für diesen Abweis führt sie zwei Gründe an: Zunächst sei Zahavis for-me-ness »a relational (although invariant) property that is had by the different experiences that come and go. It presents as a feature of experiences that points them in the direction of a subject (whether or not there in fact is such a subject)«. (Ebd., 68) Albahari sieht in der for-me-ness somit eine Relation angezeigt. Sie liest einige Äußerungen Zahavis, – »When we investigate appearing objects, we also disclose ourselve as datives of manifestation, as those to whom objects appear« (Zahavi 2008, 122) – als Hinweis darauf, for-me-ness sei die Strukturbestimmung von Erlebnissen, »which enables one to effortlessly determine that various experiences belong to the very same stream of consciousness«. (Albahari 2009, 67) Diese Auffassung führt sie zu der unvorsichtigen Einschätzung: »for-me-ness is a feature of the experience(s) observed; witness-consciousness, a feature of the subject that observes the experiences.« (Ebd., 68) Vor allem die unvermittelte Hypostasierung eines Subjektes, die weder Zahavi noch Śaṅkara gerecht wird und überdies ihre eigene Rede von einem »conscious field« unterminiert, macht diese Einschätzung bedenklich. Dieser Hypostasierung bedarf sie aber für ihre Begründung eines Zeugen-Bewusstseins, das nicht in Zahavis forme-ness aufgeht. Ihrer starken Interpretation der for-me-ness zufolge enthält der Begriff eine »reference to a me that the experience are for« (ebd., 72). In dem Maße, wie sie dieses me, als »unifiying awareness« versteht und for-me-ness als ein »feature of the experience«, kann sie behaupten, dass dieses me, das die Einheit der Erlebnisse gewährleistet, nicht selbst ein bestimmter Erlebnismodus, sondern eine »mode-neutral-awareness«, also ein »wittness-consciousness« sein muss. (Vgl. ebd., 72 f.) Wie Fasching zu Recht meint, besteht für Zahavi aber gar kein Anlass, Bewusstsein und Erlebnis derart als zwei separate Strukturmomente aufzufassen, und for-meness gilt Zahavi auch nicht als ein Additiv von Erlebnissen, »that points them in the direction of a subject«. Denn im Fahrwasser der Husserl’schen Konstitutionstheorie 204 begreift er das Selbst nicht als eine von den Erlebnissen unabhängige Struktur, sondern dieses ist

204 »[I]nner time-consciousness simply is the pre-reflectiv self-awareness of the stream of consciousness, and Husserl’s account of the structure of inner time-consciousness (protention-prima presentation-retention) should consequently be appreciated as an analysis ot the (micro)structure of first-personal givenness.« Zahavi (2008), 65.

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gerade »identified by the very first-personal givenness of the experiences«. (Fasching 2010, 204) Das besagt nun aber nicht, Albaharis Intuition, der Begriff einer first-personal givenness erschöpfe nicht den Begriff des witnessconsciousness, sei unberechtigt. Zwar ist ihr Versuch, for-me-ness in einem starken Sinne als eine relationale Eigenschaft von Erlebnissen zu bestimmen, denen gegenüber der »modus operandi of the subject that has them« (Albahari 2009, 68) steht, mit Blick auf Zahavis phänomenologisches Anliegen wenig überzeugend. Das relationale Moment, das im Begriff einer for-me-ness unabweisbar angelegt ist, lässt in einem schwächeren nicht logischen, sondern phänomenologischen Sinne aber die Frage zu, was die phänomenale Qualität dieser firstpersonal giveness besagt, die sich im lebendigen Vollzug aktueller Erlebnisse konstituiert. Um welche Art Subjektivtität handelt es sich hier? 205 Albaharis zweiter Grund für ihren Abweis der Äquivalenz von first-personal giveness und Zeugenbewusstsein speist sich aus einem naheliegenden Verdacht: Sobald wir den Ersten-Person-Modus als »aspect of the conscious experiences« (ebd., 68) gelten lassen, kann er auch »focus of an attentive (or in Zahavi’s terms, ›reflective‹) act« (ebd., 69) werden. Im Vollzug meines bewegten Lebens, »absorbed or immersed in our daily concerns« (Zahavi 2008, 64), ist first-personal giveness damit marginales, unthematisches Element je aktueller Erlebnisse. Wenn ich hingegen auf mein gegenwärtiges Erleben reflektiere: »it is given as that which remains identical across the respective differences of pre-reflective givenness, that is, it is given as the same as what was previously experienced unthematically.« (Ebd.) Auch wenn man Zahavis Unvorsichtigkeit bei solchen Formulierungen nicht zu ernst nehmen muss, weil sich auch differenziertere

205 Anders als Albahari teile ich Zahavis Einschätzung, dass es terminologisch sinnvoll ist »to replace the traditional phrase ›subject of experience‹ with the phrase ›subjectivity of experience‹« (Zahavi 2008, 126) Albahari ist der Auffassung, dass das ontologische Resultat dieser terminologischen Variation bei aller Rede von einer ›first-personal givenness‹ impliziere »[that] there is no first person to whom the stream is given, no me that the for-me-ness is for.« Albahari (2009), 80. Dieses Resultat macht aus dem witness-consciousness »as a modus operandi of a subject, standing in opposition of the stream of experiences« in der Tat »a pervasive illusion.« (Ebd., 81) Es schafft aber auch Raum dafür, das Zeugenbewusstsein als Dimension einer impersonalen Subjektivität zu verstehen, die gerade nicht die konfrontative Geste eines Subjektes impliziert, dem etwas erscheinen müsste.

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Bestimmungen finden lassen – »The minenness is not something attendet to; it simply figures as a subtle background presence.« (Ebd., 124) 206 –, so kann man seine Ausführungen doch nicht einfach als Argument für eine ursprüngliche Form vor-diskriminierender Bewusstheit 207 oder als Eingeständnis theoretischer Ohnmacht gegenüber einem anonym fungierenden Ur-Ich sehen, das eben prinzipiell die »Rückseite« einer gewohnt selbstreferenziellen Struktur bewussten Erlebens kennzeichnet. Denn er fährt fort: »Nevertheless, the particular first-person givenness of the experience make it mine and distinguishes it for me from whatever experiences others might have.« (Ebd.) Zahavis phänomenologisches Konzept von first-personal-givenness ist in der Tat kein geeigneter Kandidat zur Explikation von sākṣin. Aber nicht, weil es die gegenüber den wechselnden Erlebnissen invariante Struktur des Vollzugs bewussten Erlebens nur unter Rückgriff auf die Möglichkeit bestimmen kann, diesen unthematischen Vollzug reflexiv verfügbar zu machen. Es ist deshalb kein geeigneter Kandidat, weil die Dimension vorreflexiver Subjektivität, die es explizieren soll, stets schon als Horizont personalen Erlebens gedacht ist. So wird sich der Unverfügbarkeit einer »subtle background presence« dadurch versichert, dass es zu einem Prinzip perspektivischer Präfiguration eines entsprechenden Weltzugangs erklärt wird. Denn der Fokus auf diese Dimension bewussten Erlebens speist sich aus Zahavis Wunsch, »to insist on the basic (and quite formal) indviduation of experiential life as well as on the irreducible difference between on stream of consiousness and another stream of consciousness«. (Zahavi 2013, 68 f.) Schon weil dieser Wunsch einen ungleich stärkeren Rückhalt in der vor-philosophischen Auffassung unserer selbst hat, als die Vorstellung eines alles durchdringenden, imper206 Albaharis Argument für einen spezifischen ›intrinsic phenomenal charakter‹ des witness-consciousness ergibt sich für sie aus dem Hinweis, dass gerade die als ›background presence‹ oder von Chalmers als ›background hum‹ bzw. ›singularity behind the multiplicity‹ paraphrasierte Sphäre bewussten Erlebens eine unverfügbare Nähe anzeigen; »the phenomenal charakter of the hum remains as elusive, whether we are attenting to objects or to experiences.« Albahari (2009), 77. Zur Klärung dieses ›puzzle‹ bedürfe es daher der Anerkennung eines »witness-consciousness«, das sich durch einen »pre-attentional sense of presence« (ebd., 79) auszeichne. 207 Gelegentlich möchte er for-me-ness mit einem Verweis auf Husserl als eine fundamentale »Meinheit« des bewussten Erlebens verstehen, die keine Differenzierung von Selbst und Anderen einschließt, sondern diese vielmehr fundiert. Vgl. Zahavi (2013), 58.

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sonalen Bewusstseins, ist die von Zahavi ausgewiesene Dimension eines solchen »minimal core Self« die unverfängliche Variante, in die Nähe des vedāntischen Zeugen-Bewusstseins zu geraten, ohne die dezidiert soteriologischen Intuitionen zu berücksichtigen und zu beherzigen, die diesen Begriff tragen. 208 Śaṅkara ist sich der Verlegenheit eines halbherzigen Verständnisses seiner Differenzierungen bewusst, denn er weiß um die existenzielle Angst des ›Verlustes‹ des personalen Selbst, die selbst oder gerade die Suchenden befällt, die sich einer entsprechenden soteriologischen Praxis verschrieben haben. (Vgl. Upad, I.5.1; MUBh, III, 40.) Der Fehler hinter der leitenden Intuiton des hier skizzierten Versuchs, das vedāntische Zeugenbewusstsein im Sinne einer first-personal givenness zu erklären, lässt sich daher mit Blick auf eine andere Unterscheidung Śaṅkaras wenigstens erhellen. Śaṅkara verfährt mit dem Begriff des Zeugen nicht nur nicht sonderlich kohärent, an vielen Stellen wird an seiner statt der aus den Upaniṣaden überkommende Ausdruck draṣṭr (Seher) bzw. drṣṭi (Sehen) gebraucht. 209 In dem Kommentar zur Bṛhadāranyaka-Upaniṣad (I.iv.10, 109 und III.iv.2, 327) unterscheidet er dabei zwischen zwei Formen des Sehens, loka-dṛṣṭi (›Weltliches-Sehen‹) und ātmadṛṣṭi (›Selbst-Sehen‹). Wenn wir mit Fort die Feldkonzeption des sākṣin an seine Nähe zum Ātmanbegriff binden und ātman da, wo die entsprechende Qualität des ununterbrochenen Erkennens betont werden soll, eher durch die Ausdrücke draṣṭr bzw. drṣṭi als durch sākṣin bestimmt wird, 210 dann können wir in der Differenzierung von loka-dṛṣṭi und ātma-dṛṣṭi eine Binnendifferenzierung der Felddimensionalität des sākṣin erkennen. 208 Spekulativ gesprochen ist die first-personal-givenness Zahavis die Explikation der vorreflexiven Struktur eines Bewusstseins, dass immer schon den Tod eines anderen Bewusstseins wollen kann. Das Zeugen-Bewusstsein der Vedāntis meint Bewusstsein, das diesen Tod nicht wollen kann, weil es sich selbst als alle Anderen kennt. (Vgl. Upad, I.7.2; BhG., 6.29) Zahavi trifft deshalb sicher einen wichtigen Punkt, wenn er mit Blick auf die buddhistisch inspirierten Phänomenologien eines No-Self das Problem sieht, »how a radical denial of the reality of the self will ever be able to respect the otherness of the other«. Zahavi (2013), 68. Die phänomenologische Kategorie impersonaler Subjektivität zwingt demgegenüber nicht zu einer radikalen Verweigerung personalen Selbst, sondern eröffnet in einem Sinne, den zu erörtern allerdings nicht mehr im Horizont dieser Arbeit liegt, vielmehr die rückhaltlose aber gelassene Anerkennung personaler Subjektivität, der eignen wie der fremden. 209 Vgl. dazu Gupta (1998), 53 f. 210 Vgl. Fort (1984), 280.

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Wenn man sich auf die Qualifikation des sākṣin als for-me-ness einlässt, wird man gezwungen sein, auch die folgende Bestimmung vorreflexiven Selbstbewusstseins im Sinne eines »minimal, or core sense of self« zu akzeptieren: »self-awareness is always the self-awareness of a world-immersed self. The self is present to itself precisely and indeed only when worldly engaged.« (Zahavi 2008, 125 f.) Das Feld der first-personal givenness ist dann wenigstens koextensiv mit dem Feld der Phänomene. Es bezeichnet die als ständige Bewusstseinspräsenz erlebte intrinsische Mikrostruktur bewussten Erlebens im Vollzug eines sinnlich und kognitiv engagierten, also bewegten Lebens. Für diese Art Bewusstsein gebraucht Śaṅkara den Ausdruck loka-dṛṣṭi und meint damit die durch die Sinne und das innere Organ (antaḥkaraṇa), d. h. den Ich-Sinn und die sinnlichen sowie kognitiven Vermögen hindurchscheinende und dadurch scheinbar modifizierte Bewusstheit der ātma-dṛṣṭi. (BĀUBh, III.iv.2, 327) Aufgrund der natürlichen Überlagerung erscheinen loka- und ātma-dṛṣṭi als ununterscheidbar, nur der Modus ihrer Persistenz gibt ihren Unterschied preis. Während das Feld der loka-dṛṣṭi seine Persistenz nach Maßgabe der Vermögen des inneren Organs und entsprechender Akte gewinnt und als solches Anfang und Ende hat, bestimmt die ātma-dṛṣṭi Bewusstheit, in der sich noch Anfang und Ende weltlichen Sehens gründet. Die natürliche, d. h. durchlebte Übertragung dieser beiden Felder ist überhaupt Grund dafür, dass ātman metaphorisch als »sākṣin« paraphrasiert werden kann. Denn nur durch die Verbindung mit der loka-dṛṣṭi macht die Bestimmung als »Zeuge« und die damit verbundene Implikation eines Bezeugten überhaupt Sinn. (Vgl. BĀUBh, III. iv.2, ebd.) Aus der Verkennung der natürlichen Überlagerung dieser Felder ergibt sich auch die Plausibilität des Versuchs, sākṣin als »abiding dimension of first-personal experiencing« zu verstehen. Beide Begriffe dienen nicht zuletzt dem Abweis der Hypostasierung einer hinter oder über den Erlebnissen stehenden Instanz. Und auch Śaṅkara ist daran gelegen zu zeigen, dass die ātma-dṛṣṭi nicht ein Zeuge hinter dem bewegten Bewusstein der loka-dṛṣṭi ist. Er ist zugleich das Sehen durch das bewegte Bewusstsein und das Sehen des bewegten Bewusstseins. »Such being the case, the vision itself is Its nature, like the heat of fire, and there is no other conscious (or unconscious) seer over and above the vision, as the Vaiśeṣikas maintain«. (BĀUBh, I.iv.10, 109) Es lässt sich also sagen, dass der Versuch, sākṣin im Sinne von 419 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

Zahavis first-personal givenness zu bestimmen, sowohl richtig als auch falsch ist. Die ātma-dṛṣṭi gibt sich in den Grenzen des bewegten Lebens d. h. als Feld der loka-dṛṣṭi zunächst tatsächlich als die Präsenz einer irreduziblen for-me-ness – die Ich-Vorstellung (ahaṃpratyaya) ist schließlich die Wurzel (bījam) dieses bewegten Lebens (Upad, 1.4.1) –, im Horizont des Advaita liegt der Fehler aber in der retrospektiven Projektion, diese for-me-ness allein als perspektivische Präfiguration personalen Erlebens zu verstehen. Śaṅkara weiß um die Verfänglichkeit dieser Stufe der Analyse. Denn auch wenn es viele Hindernisse auf dem Weg zur Befreiung von der täuschenden Überlagerung des Nicht-Wissens gibt, so muss der Ich-Sinn (ahaṁkāraḥ) als ihre Wurzel (mūlaṁ) gelten, denn er ist die erste Modifikation (prathamavikāraḥ). (Vgl. VC, § 298) Zugleich ist diese Stufe aber auch entscheidende Chance. Denn erst hier kann sich erweisen, dass »das wahre Ich [d. h. ātman] der Zeuge des Ich« ist (ahampadārthāhamādisākṣi). (Vgl. VC, § 294) Dieser Zeuge ist nun aber keine weltentrückte Instanz. Für den Advaita-Vedānta ist die Alternative zu einem »world-immersed self« und einer entsprechenden first-personal-giveness nicht ein »Cartesian-style mental residuum, that is, as some kind of self-enclosed and selfsufficient interiority« (Zahavi 2008, 126). Es ist diejenige Dimension des Bewusstseinsfeldes, in der auch noch die formalste Individuation ihre transparente Gestalt gewinnt. Die Anerkennung einer solch schlüpfrigen Dimension wird dadurch erschwert, dass sie für den Vedāntin nicht abstraktive Schichtenbestimmung eines konstituierenden Bewusstseins ist, sondern die Wesensbestimmung von Bewusstsein und Selbstbewusstsein überhaupt. Unser vertrauter Zugang zu uns selbst erlaubt es nicht, auch nur im Modus des Versuchs eine Vorstellung von uns selbst als impersonaler Subjektivität zu erzeugen. Das liegt freilich nicht nur daran, dass dieser Versuch eine contradictio in adjecto zu denken hätte, sondern längst in Anspruch nehmen würde, was er auf dem imaginierten via negativa in Abrede stellte. Wie wir gesehen haben, ist das neti neti Śaṅkaras aber kein bloßes Gedankenexperiment und auch nicht Referenzsurrogat einer negativen Theologie, sondern Vollzug einer besonderen diskriminierenden Weise bewussten Erlebens. Im gleichen Sinne darf auch der Hinweis auf die prinzipielle transluzide Ungegenständlichkeit und damit »Unerkennbarkeit« des Zeugen-Bewusstseins nicht als bloß additive Bestimmung oder Ausdruck einer Unbequemlichkeit oder eines Ärgernisses verstanden werden, sondern als Hinweis auf den natürlichen 420 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

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Reflexionsreflex, der das wache Erleben im Feld der loka-dṛṣṭi prägt. Die Realisation der Unmöglichkeit, den Seher des Sehens sehen, den Erkenner des Erkennens erkennen zu können, ist maßgeblicher Teil seiner Anerkennung. Denn sie sensibilisiert für den Umstand, dass die Bewusstseinsleistung, die dem vermeintlich hintergründigen Zeugen habhaft zu werden wünscht, gerade diejenige Leistung ist, die die lebendige Anerkennung seiner unfragmentierten Präsenz verhindert. »He who knows that the vision of the seer is eternal, does not wish to see It in any other way. This wish to see the seer automatically stops because of its very impossibilty.« (BĀUBh, I.iv.10, 109) 211

Die Metapher des Zeugen erweist sich als ein soteriologischer Umschlagplatz für die Erfahrung impersonaler Subjektivität, in der die Trennung von Erkennendem und Erkanntem ihre Geltung verliert. Die Hypostase des Selbst als »Zeugen« motiviert gerade die Bewegung reflexiver Konfrontation, an deren stetigem Scheitern sich der stille Zeuge selbst offenkundig werden kann. Die bewusste Erfahrung dieser Unverfügbarkeit gilt so als ein ausnehmend glücklicher Umstand. Erst an dieser Erfahrung kann sich der jīva in seiner ephemeren Gestalt verdächtig und durchsichtig werden. Erst hier kann die personale Patina des Selbst erodieren. Die entsprechende Einsicht setzt aber neben dem Erschöpfen des Reflexionsreflexes und d. h. dessen vorgängigem Vollzug, auch die Einübung eines intimen Perspektivwechsel des Bewusstseinsfeldes voraus. Denn im Modus der loka-dṛṣṭi bin ich zwar wacher Wahrnehmender und ich mag, einer Ermüdung des Reflexionsreflexes erliegend, meine ständige Gegenwart bei der Welt hingebungsvoll gelten lassen. Aber eine solche Erschlaffung ist nur temporär und das sehende Ich schielt schon auf ein nächstes Ziel. Der Zeuge aber schielt und zielt nicht – auch nicht auf sich selbst. Im Modus der ātma-dṛṣṭi bin

211 So lässt sich auch die brühmte Begegnung zwischen Bāhva und Vāshkali verstehen, von der Śaṅkara im Brahmasūtrabhāṣya berichtet. »Und als Bāhva von dem Vāshkali befragt wurde, da erklärte dieser ihm das brahman dadurch, dass er schwieg, wie die Schrift erzählt: und er sprach: ›lehre mir, o Ehrwürdiger, das Brahman‹. Jener aber schwieg stille. Als nun der Andere zum zweiten Male oder dritten Male fragte, da sprach er: ›ich lehre dir es ja, aber du verstehst es nicht; dieser Ātman ist Stille‹.« (BSBh, III.2.17, 524.) Hier kommt nicht etwa nur der Umstand zum Ausdruck, dass sich das Selbst sprachlicher Artikulation entzieht, sondern dass es als stilles Feld schon in jeder Bewusstseinsbewegung vorausgesetzt ist.

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ich zwar ›Seher des Sehens‹ (BĀUBh, I.iv.10, 108 f.). Dies aber nicht vermöge der Aktualisierung einer reflexiven Disposition, sondern der Realisation jener Bewusstseinsdimension, die mir im loka-dṛṣṭi nur als vage Hintergrundpräsenz gegenwärtig ist. Die Persistenz der loka-dṛṣṭi durchlebe ich stets relativ zu den Erfahrungen in die Welt und relevanter Gegenstände in ihr – die Persistenz der ātma-dṛṣṭi ist absolut, weder ständig noch nicht-ständig. Gegen- und Zustände innerer wie äußerer Erfahrung sind mir im loka-dṛṣṭi noch je opak 212, sie können stets einen Widerstand sinnlicher und personaler Geltung erzeugen und bestimmen so den Horizont des bewegten Lebens, in dem sich ein Ich als autonomes Zentrum von Tun und Erleiden, Gegenstände wie sich selbst als mehr oder weniger zu manipulierende Einheiten erlebt – immersed in our daily concerns. Im Feld der ātmadṛṣṭi scheinen Ich sowie seine Gegen- und Zustände nun als die transluzide Patina des antaḥkaraṇa und seiner vṛtti. Als ephemere Bewegungen stillen, alles durchdringenden Bewusstseins verfallen sie selbst ihrer relativen Unbeständigkeit wie Wellen auf der Oberfläche des Stromes. Da ihnen deshalb der Sog zu personalem, überhaupt ego-zentrischem Engagement ermangeln muss, motiviert die Realisation dieser Dimension sowohl die Rede vom illusionären Charakter personaler Wirklichkeit, als auch die Emphase auf Glückseligkeit (ānanda), Gelassenheit (śama) und schließlich Befreiung (mokṣa). 213 Die vermeintliche Distanz des Zeugen verspricht somit nicht asketische Abstumpfung oder rationalen Rückzug, ist weder Ausdruck einer Selbstbeherrschung, die verloren gehen könnte, noch die Erzeugung innerer Stille, vielmehr ihre Entdeckung. Hier herrscht nicht Rücksicht auf eine geschlossene Tiefe, noch Vorsicht auf eine ausstehende Höhe, sondern die Aussicht offener Weite. 214 212 In der Vorstellung eines ursprünglich transparenten Bewusstseins, dem die Gegenstände personaler Wirklichkeit opak sind, liegt eine oft bemerkte Nähe des vedāntischen Bewusstseinsbegriff zu demjenigen des frühen Sartres. Vgl. Gupta (1998), 162–164, Chatterjee (1982), 348–349. 213 Vgl. VC, § 317. Wo Śaṅkara mokṣa als Zerstörung der vāsanā bestimmt (vāsanāprakṣayahmokṣaḥ). Vāsanā (›Gedanke‹, ›Eindruck‹) können als personale Habitualitäten oder Tendenzen verstanden werden, die das wache Erleben auf eine egozentrische Perspektive hin präfigurieren. In diesem Sinne werden sie in § 318 auch ahamādivāsanā genannt. 214 Dieser Anklang an die buddhistische Tradition des Bìyán Lù ist keine Stellungnahme zur philologischen Diskussion um den crypto-buddhistischen Status des Vedānta Śaṅkaras. Für eine entsprechende Diskussion um die Nähe von brahman und śūnyatā (›Leere‹) bzw. ātman und tathāgatadhātu (›Buddha-Natur‹) siehe Mug-

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Phänomenologische Grundzüge

Im Geiste des Advaita wird man mithin zu berücksichtigen haben, dass die Anerkennung dieser selbstleuchtenden Untiefe stets zurückgebunden sein wird an das, was man als bewegtes Selbst immer schon in Anspruch nehmen sich angewöhnt hat. Ein »multidimensional account of the self« (Zahavi 2013, 74), wie Zahavi ihn vor Augen hat, darf deshalb nicht ausschließen, dass unsere Erkenntnis über diese intime Verfassung zu einer Refiguration und Transformation dessen führen kann und muss, für das wir uns in den anderen Dimensionen unserer Selbst halten. Oder anders gewendet: Die soteriologischen Hinsichten des Avdaita Vedānta sollten nicht einfach als beiläufiges Ärgernis für eine ansonsten systematische Analyse des Bewusstseins angesehen werden, sondern als Verweis auf die Möglichkeit, dass derjenige, der Antwort gibt auf die philosophische Frage, was Selbstbewusstsein sei, ein anderer sein könnte, als der, der sie gestellt hat – das nächste Selbst. Dieser Refiguration muss eine Phänomenologie des Selbst fortschreitend Rechnung tragen können. Neben dieser methodischen Vorsicht bietet sich mit Blick auf die Differenzierungen Śaṅkaras in loka- und ātma-dṛṣṭi aber auch eine kurze systematische Aussicht an. Es lässt sich nun mit Blick auf die Versuche, sich dem vedāntischen Zeugenbewusstsein zu nähern, zwischen einer first-personal givenness und dem unterscheiden, was man impersonal isness nennen könnte. Nicht, um dadurch das Universum der Bewusstseinsstrukturen unnötig zu vermehren, sondern um begrifflichen Spielraum für die fruchtbare Vermutung zu haben, dass sich eine mögliche Lösung des Bewusstseinsrätsels nicht in den uns so vertrauten Modi personalen Bewusstseins finden lässt, sondern es der Anerkennung jener eigentümlichen Subjektivität bedarf, deren theoretische Spuren und Variationen in dieser Arbeit verfolgt wurden. Der kontraintuitive Bewusstseinsbegriff Śaṅkaras lädt dazu ein, die für die Phänomenologie mitunter ärgerliche Kohäsion, Luzidal (1975). Es soll hier aber angezeigt sein, dass die dezidiert bewusstseinsphänomenologische Auseinandersetzung mit der impersonalen Verfassung von »Selbst« einen Punkt erreicht, an dem sie sich zwanglos den »ontologisch« bzw. »topologisch« motivierten Phänomenologien ostasiatischer Provenienz zuneigt. Als vielversprechende Anknüpfungspunkte seien hier genannt: die frühe Phänomenologie der »Reinen Erfahrung« Nishidas (1993) sowie seine Entwicklung hin zu einer »Logik des Ortes« (Nishida 2011); der Begriff der »Leere« bzw. des »absoluten Nichts« und die entsprechende Vorstellung des Impersonalen und insbesondere der impersonalen Personalität bei Nishitani (1982); die Phänomenologie des Ortes und der Compassion bei Ōhashi (1984), (2009) und (2018).

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Elemente einer Phänomenologie des Selbstbewusstseins im Advaita-Vedānta

dität und Ständigkeit von Bewusstsein für etwas zu halten, das sich dem vertrauten, gegenständlichen Zugriff philosophischer Analyse entzieht und dadurch Entscheidendes über sich selbst und die Form des Engagements philosophischer Arbeit preisgibt. First-personal givenness und impersonal isness können als Binnenstruktur lebendiger Gegenwart gelten. Wäre first-personal givenness die anwesende Seite subjektiver Präsenz, die als perspektivische Präfiguration und als permanentes Geschehen des Erscheinens bewusster Inhalte erlebt wird, so wäre impersonal isness die abwesende Seite dieser Präsenz, jenes Bewusstsein, von dem Śaṅkara mit der Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad sagen kann: »Es kennt nur sich selbst« (BĀUBh, I.iv.10, 108) und in der Upadeśasāhasrī sagen muss: Es kennt sich selbst in jedem Anderen. (Vgl. Upad, I.7.2, auch BhGBh, VI.29.18) Im bewegten Leben sind beide Hinsichten lebendiger Gegenwart verschränkt und es wird sich nach Maßgabe gelassener Gewichtung ergeben, welche das wache Erleben bestimmt. Während die Dimension der first-personal-giveness in die Welt differenzierter Phänomene öffnet und das vertraute Erleben personaler Subjektivität präfiguriert, zeitigt die Dimension der impersonal isness die stets offene Einheit von Bewusstsein und räumt das Erleben impersonaler Subjektivität ein. Nun erlaubt der Rahmen dieser Arbeit zwar nicht mehr, die angezeigte Differenzierung hinsichtlich ihrer Implikationen für eine umfassende Phänomenologie der Subjektivität und Intersubjektivität weiter zu entfalten. Mit der Anerkennung der Erfahrungsdimension impersonaler Subjektivität und ihres strukturellen Korrelats gewinnen wir jedoch abschließend ein Verständnis der entschiedensten Ausdrücke des nicht-dualen Vedānta: »I am Seeing, pure and by nature changeless. There is by nature no object for me. Being the Infinite, completely filled in front, across, up, down, and in every direction, i am unborn, abiding in Myself.« (Upad, I.10.2) Darüber hinaus ermöglicht die Einsicht in die natürliche Überlagerung personaler und impersonaler Momente lebendiger Gegenwart, den Zwischentönen eines Jīvanmukta gerecht zu werden: »Though I have the highest Ātman as my true nature and am nondual, i am nevertheless covered with wrong knowledge, which is nescience.« (Upad, I.10.8) Die vermeintliche Entrückung in einen Zustand höchster Realität (paramārthaavasthā) muss nicht als Dämmern in ein welt- und leibentrücktes Refugium verstanden werden, sondern als Realisation der Dimension impersonaler Subjektivität, die entlang unseres enga424 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Phänomenologische Grundzüge

gierten Lebens, nicht quer zu diesem verläuft. »He who, in the waking state, like a man of deep sleep, does not see Duality, though [actually] seeing, because of his non-duality, and similary he who, though [in fact] acting, is actionless – he [only] is the knower of Ātman, and nobody else.« (Upad, I.10.13) Weder ist der Zeuge panoptische Instanz, noch stellt seine impersonale Verfassung den Rückfall in eine vorbewusste Dichte dar. Die Freilegung impersonaler Subjektivität verlangt zwar die rückhaltlose Identifikation und Inhibierung des Personalen, ist aber so wenig deren Annihilation, wie lebendige Gegenwart die Annihilation zeitlicher Ekstasen bedeutet. Ihr phänomenologischer Ausweis ist aber konstant mit der Verlegenheit konfrontiert, die Anstrengung des entsprechenden Perspektivwechsels mit Rücksicht auf philosophische Kategorien einzufordern, die einer Anschauung verpflichtet sind, in der duale Zustände und ein Primat gegenständlicher Orientierung herrschen. Wenn wir daher phänomenologisch wirklich zu der Sache ›Selbst‹ kommen wollen, werden wir Ausbildung und Einübung einer Anschauung nicht weiter aufschieben können, in der auch die unverfügbare Nähe impersonaler Subjektivität Anerkennung findet.

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8. Schlussbetrachtungen

Der philosophische Horizont, in dem uns Selbstverständliches fragwürdig wird, entscheidet mit darüber, wie tief die Frage reicht, die wir uns zu stellen gestatten. Die Selbstverständlichkeit unserer selbst ist hier keine Ausnahme. Es war zu verfolgen, auf welche Weise menschliches Selbst in Phänomenologie und Advaita-Vedānta fragwürdig wird und welche Konzeptionen von Selbstbewusstsein hieran offenkundig letztlich prekär werden und an welche Formen von Selbsterfahrung diese Konzeptionen zurückgebunden sind. Als dramatisches tertium comperationis wurde dafür der Begriff impersonaler Subjektivität gewählt, der in dem bewusstseinsphänomenologischen Fokus dieser Arbeit einer notwendigen Engführung auf eine Erfahrungsdimension standhalten musste. Für den Ausweis des vedāntischen Begriffs von ātman bedeutete das, dass wir seinen höchsten Sinn, die Identität mit brahman, weitestgehend eingeklammert lassen mussten. Der entsprechende Begriff von Selbst wäre unter den hier entfalteten Voraussetzungen, die etwa die Frage nach dem Sein (sat) nur als ausstehende Frage berücksichtigen konnten, allenfalls als »dimensionslos« zu denken. Im Zentrum stand somit der Anspruch zweier philosophischer Traditionen, Dimensionen von Bewusstsein freizulegen und zu erforschen, die dem natürlichen Lebensvollzug und einem korrespondierenden Erkenntnisinteresse verborgen bleiben müssen. Dabei hat sich gezeigt, dass die phänomenologische Frage nach Selbstbewusstsein an der Untiefe von Bewusstsein einen rätselhaften Entzug seiner selbst freilegt. Das Ärgernis dieses Rätsels ergab sich nicht nur aus der Schwierigkeit, diese impersonale Dimension unter den Voraussetzungen phänomenologischen Philosophierens erkennen, sondern vor allem sie anerkennen zu können. Die soteriologische Prätention des Advaita-Vedānta richtet seine phänomenologischen Bemühungen hingegen so entschieden an der Freilegung dieser Dimension aus, dass die begrifflichen und ästhetischen Differenzierungen zu ihrer fak426 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Schlussbetrachtungen

tischen Anerkennung nötigen. Für einen reicheren Begriff des Impersonalen bedürfte es einer Phänomenologie, die die Schwebe zwischen Personalem und Impersonalem und somit zugleich den Gestus einer entsprechenden Einübung berücksichtigen kann. Sie wird darauf verzichten, eine impersonale Subjektivität als negativen Grenzbegriff des Personalen darzustellen. Vielmehr wird sie das nächste Selbst so zum Ausdruck bringen, dass die Ferne zum Begriff des Impersonalen, mit der man die Nähe zum Phänomen bezahlt, zunehmend kleiner wird. Erst so wird er auch für die in dieser Arbeit weitestgehend ausgesparten Fragen nach der intersubjektiven und gemeinschaftlichen Verfassung menschlicher Subjektivität fruchtbar werden können. Es ließe sich dann auch aus einer bewusstseinsphänomenologischen Haltung heraus verständlich machen, dass die intersubjektiven, zuletzt ethischen Verbindlichkeiten bewussten Erlebens nicht auf vorsätzlichem Engagement personaler Subjektivität beruhen, sondern sich längst in der impersonalen Nähe entfalten, die dem personalen Selbst gleichermaßen an sich und an dem anderen entzogen bleibt und so eine gemeinsame Kultivierung nahelegt. Es ließe sich dann zeigen, wie »Eigenes« und »Fremdes« erst aneinander in der impersonalen Erfahrungsdimension Gestalt gewinnen, der in dieser Arbeit nachzufragen war. Eine Erfahrungsdimension, die sich nicht im Horizont vorsätzlicher Anschauung aufweisen lässt. An den Analysen zu einem entsprechenden Begriff vorreflexiven Bewusstseins zeichnete sich dann auch die Verlegenheit einer philosophischen Tradition ab, die die Freilegung dieses Bewusstseinsfeldes selbst für eine reflexive Anstrengung ausgibt. Die phänomenologische Wendung zu vorreflexivem Bewusstsein sieht sich in diesem Horizont mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sie etwas auszuweisen hat, das sie in ihrer unvermittelten Ursprünglichkeit nicht ausweisen kann, ohne das Auszuweisende zu verfremden. Diese Verlegenheit ergab sich bei Husserl aus dem Ideal einer Wissenschaft, deren Erkenntnis sich für gewöhnlich daran misst, in welchem Maße ein Gegenstandsbereich objektivierend verfügbar wird. Die impersonale Dimension lebendiger Gegenwart konnte sich deshalb lediglich als anonymer Hintergrund eines Bewusstseins geben, das sich selbst als ein personales System des ›Ich kann‹ erfasst. Bei der phänomenologischen Frage nach Selbstbewusstsein musste die erkenntnistheoretische Unbequemlichkeit, dass ich das, was ich voraussetzen muss, um Gegenständliches erkennen zu können, nicht selbst werde gegenständlich erkennen können, zu einem Ärgernis werden. 427 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Schlussbetrachtungen

Der Versuch einem solchen Ärgernis durch eine Theorie von Bewusstsein zu entgehen, die ihren Ausgang bei der Spontaneität eines unpersönlichen Bewusstseins nimmt, blieb bei Sartre im Stadium aufschlussreicher Beschreibungen. Es zeigte sich zwar, dass das personale Selbst das gelebte, nicht das lebendige Bewusstsein sein kann. Eine entsprechende Entfaltung in eine phänomenologische Ontologie konnte die Reichhaltigkeit der frühen Bewussteinsphilosophie aber nicht aufnehmen und geriet in die so pessimistische wie widersprüchliche Theorie eines präreflexiven Cogito. Hier gab sich beiläufig jene nicht-eliminierbare Eigenschaft von Bewusstsein zu erkennen, welche die durch Reflexion generierte Fragmentation von Bewusstsein aufhebt. Diese aufhebende Eigenschaft von Bewusstsein, für einen Zeugen zu existieren, der es selbst ist, musste aber in einer Phänomenologie unbestimmt bleiben, in der die Grundverfassung menschlichen Selbst darin besteht, stets vor sich selbst auf der Flucht zu sein. Merleau-Pontys phänomenologische Redlichkeit und die entschiedene Absage an einen intellektualistischen Objektivismus führte an den Abgrund eines stillschweigenden Cogito und gab von dort den Blick auf das offene Feld eines notwendigen Zeugen frei. Die leitende Intuition des Zur-Welt-seins, ein damit verbundener Intersubjektivismus und ein verhaltener horror vacui führten aber zu einer Konzeption dieses Feldes, die nur erlaubte, in ihm den Ausdruck eines solus ipse zu sehen, dessen Allgegenwart sich auch im Begriff Gottes nicht aufheben ließ – oder nur zu dem Preis einer eigentümlichen Aufgabe des ipse. Der hier angelegten Entgrenzung war im Horizont seiner Leibphänomenologie nicht nachzudenken und so blieb Merleau-Ponty implizit der Emphase des Selbst als des Eigenen verhaftet. Die Philosophie des Advaita-Vedānta setzt im Grunde bei dieser Entgrenzung an. Da, wo die philosophische Aufgabe von Selbsterkenntnis mit einem soteriologischen Horizont verknüpft ist, der die Radikalität des phänomenologischen Blicks trägt und so entlastet, bekommt die Unverfügbarkeit von Bewusstsein einen programmatischen Sinn. In besonderer Weise fruchtbar ist in diesem Zusammenhang die Doppelbewegung vedāntischer Phänomenologie. Die philosophische Sensibilität des Adavaita verlangt es, die Erforschung von Bewusstseinsfunktionen, die den begrifflichen Aufwand ihrer systematischen Identifikation voraussetzt, zugleich als Einübung in Bewusstsein zu begreifen, das sich seiner natürlichen Tendenz zu gegenständlicher Erkenntnis entziehen muss und deshalb nur im Voll428 https://doi.org/10.5771/9783495820469 .

Schlussbetrachtungen

zug negierender Reduktion zu sich kommen kann. Eine Reduktion, die aber nicht Rückgang auf ein triumphierendes Refugium bedeutet, sondern Vertiefung und Verwandlung eigener Existenz. Das Scheitern gegenständlicher Orientierung erlaubt, in der Unverfügbarkeit des Selbst jene Grenze zu berühren, an der das impersonale Feld des Zeugen in einer Intimität zur Geltung kommt, deren Anerkennung nur durch kultivierten Selbstverlust zu gewinnen ist. An dem Gedanken, noch jener stille Zeuge werden zu müssen, der man bereits ist, gibt sich der Topos einer dialektischen Selbstbesinnung zu erkennen, die sich im aufhebenden Durchgang durch die bewegte Reflexion einstellt. Diese Figur, die wir bei Fink in Anspruch genommen haben, bei Sartre angelegt und abgelehnt und bei Merleau-Ponty verweigert fanden, hinterlässt mitunter einen schalen Geschmack. Betont man ihren transformativen Sinn, bleibt die Emphase des Nachvollzugs, lässt man ihn unbetont, ist ihr anschaulicher Sinn sicheres Motiv, den Vollzug des Durchgangs aufzuschieben. Diese Arbeit wollte deshalb einen kleinen Beitrag zu einem Durchdenken des Selbst leisten und dabei zeigen, wo das bloße Denken des Durchgangs selbst dunkel bleiben muss, weil es das Licht noch je im Rücken hat. So hat sich gezeigt, wie phänomenologisches Philosophieren versuchen muss und an dem Versuch fehlgehen kann, sich der paradoxen Nähe impersonaler Subjektivität zu versichern. Mit Blick auf den Advaita-Vedānta mag die vorliegende Arbeit dabei helfen, die philosophische Eitelkeit verstehen zu lernen, die nicht darin liegt, es überhaupt, sondern es halbherzig zu versuchen. Das Scheitern des Versuchs, diese Dimension bewussten Erlebens zu objektivieren und gegenständlich verfügbar zu machen, ist nicht nur ein Scheitern mit Ansage, sondern enthüllt zudem eine Täuschung unserer selbst, die wir leichtfertig für ein prinzipielles Unvermögen ausgeben – um nicht den vermeintlichen Preis der Enttäuschung zahlen zu müssen. Dabei ist dieses Unvermögen vielleicht nur Ausdruck menschlicher Trägheit angesichts der Grunderfahrung des Nächsten selbst.

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