Steuergerechtigkeit: Eine entscheidungstheoretische Interpretation [1 ed.] 9783428461202, 9783428061204


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German Pages 185 Year 1987

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Steuergerechtigkeit: Eine entscheidungstheoretische Interpretation [1 ed.]
 9783428461202, 9783428061204

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KLAUS WALZER

Steuergerechtigkeit Eine entscheidungstheoretische Interpretation

Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann

Heft 370

Steuergerechtigkeit Eine entscheidungstheoretische Interpretation

VOD

Dr. Klau8 Walzer

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Gedruckt mit Hilfe der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität Berlin e. V.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Walzer, Klaus: Steuergerechtigkeit: eine entscheidungstheoretische Interpretation / von Klaus Walzer. - Berlin: Duncker und Humblot, 1987. (Volkswirtschaftliche Schriften; H.370) ISBN 3-428-06120-9

NE:GT

D 188 Alle Rechte vorbehalten © 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hermann Hagedorn GmbH & Co, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06120-9

Geleitwort Wer sich mit dem derzeit geltenden Steuerrecht auseinandersetzt, kann gleichgültig aus welcher speziellen Richtung er es betrachtet - schwerlich zu dem Ergebnis kommen, es handele sich um ein schlüssiges System, das dem Anspruch nach einer gerechten Lösung des Konfliktes zwischen Staat und Steuerzahler genügt. Es kommt daher nicht überraschend, daß sich gerade in jüngster Zeit vermehrt Stimmen zu Wort melden, die die grundlegende Frage nach einem gerechten Steuersystem stellen und zu beantworten suchen. Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich von anderen vor allem dadurch, daß Verf. diese Diskussion mit Werkzeugen weiterführt, die auch von Philosophen (Ethikern) benutzt werden. In dieser philosophischen Diskussion spielt die Entscheidungstheorie eine herausragende Rolle. Es ist erstaunlich, daß dies bisher weder von Betriebswirten noch von Juristen für die Frage nach der Steuergerechtigkeit ausgewertet worden ist. Die von Rawls entscheidend weiter entwickelte Vertragstheorie, seine Definition des "Urzustandes" und andere Überlegungen von ihm weisen so verblüffende Ähnlichkeiten mit wirtschaftswissenschaftlichen Denkfiguren auf, daß für die einzelwirtschaftliche Betrachtungsweise, wie sie in der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre gepflegt wird, sich die Übertragung und Prüfung dieser Gedanken anbietet, mehr noch: für dieses Fach und seine Weiterentwicklung dringend notwendig erscheinen. Verf. stellt m. E. überzeugend dar, daß auch und gerade im Fach "Betriebswirtschaftliche Steuerlehre" die Frage nach der Steuergerechtigkeit aus der Sicht eines einzelnen wirtschaftenden Menschen im "Urzustand" zu stellen und zu beantworten ist. Die Hoffnung, einige Grundfragen mit einem einheitlichen Konzept schlüssig zu bearbeiten und wesentliche, bis heute äußerst umstrittene Fragen klarer und überzeugender als bisher zu beantworten, ist m. E. Verf. sehr gut gelungen. Verf. kommt zu klar begründeten, nachvollziehbaren und auch intuitiv plausiblen, oft zwingenden Antworten auf bisher mehr als umstrittene Grundfragen des (Einkommen-)Steuerrechts. Er macht - am Rande - deutlich, wie eng (um nicht zu sagen: engstirnig) manche in der Steuerpraxis zu hörenden Gerechtigkeitsargumente sind. Schon dies allein macht ihren Wert auch in gesellschaftlicher Hinsicht aus. Selbst wer nicht mit allen Ergebnissen und Folgerungen einverstanden ist, muß anerkennen, daß die Arbeit eine sehr eigenständige wissenschaftliche Leistung darstellt, die den Boden für eine Fülle weiterführender Gedanken bereitet. Er wird gezwungen, ebenso klar aus einem Konzept abgeleitete, schlüssige Gegenargumente zu liefern; das rallt schwer. Die Arbeit muß jedem, der nicht bloß Interessenargumente unter der Vokabel "Gerechtigkeit" verbergen will, dringend zur Lektüre empfohlen werden. Stb Prof. Dr. Peter Bareis

Inhaltsverzeichnis Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

Abkürzungsverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Notationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Erstes Kapitel Methodischer Ausgangspunkt: Die Theorie des rationalen Verhaltens

17

A. Grundlegende Begriffe und Symbole ........... : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

I. Mengen und Relationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Funktionen und Abbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . .

17 19

B. Grundtypen wissenschaftlicher Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

I. Klassifikatorische Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Komparative Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Quantitative Begriffe .............................................

20 22 24

C. Elemente der Entscheidungstheorie ....................................

26

I. Forrnalisierung der Entscheidungssituation. . .. . . . ... .. . . . . . . . . . .. . . . 11. Entscheidungen unter Sicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Entscheidungen unter Risiko. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bernoulli-Prinzip und Risikonutzenfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Risikonutzen-Axiomatik....................................... IV. Entscheidungen unter Ungewißheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gleichmäßig beste und effiziente Aktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgewählte Entscheidungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Maximin-Regel............................................ b) Laplace-Regel.............................................

26 28 29 30 31 33 33 34 35 36

Zweites Kapitel Formale Gerechtigkeit

38

A. Steuergerechtigkeit als distributive Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

B. Sprachliche Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

8

Inhaltsverzeichnis

c.

Formale Gerechtigkeit als Regelhaftigkeit ..............................

44

I. Logische Aspekte der formalen Gerechtigkeit ....................... II. Gleichbehandlung und formale Gerechtigkeit ....................... III. Universalisierbarkeit und formale Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 49 53

Drittes Kapitel Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

57

A. Rationalität und Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

B. Anwendung der Entscheidungstheorie auf die Wahl von Steuerverteilungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

I. Vertragstheorie mit Maximin-Lösung .............................. 1. Die Rawlssche Grundidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die entscheidungstheoretische Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Rawlssche Rechtfertigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 61 63 68

II. Präferenz-Utilitarismus mit Risikonutzen-Maximierung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundidee des Präferenz-Utilitarismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das präferenz-utilitaristische Entscheidungsmodell ................

73 73 74

III. Erweitertes Suppes-Modell: Risikonutzenmaximierung mit MaximinRestriktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gegenüberstellung von Risikonutzenmaximierung und Maximin-Lösung ........................................................ 2. Grading Principles of Formal lustice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

c.

Steuergerechtigkeit als komparativer Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 78 79 87

Viertes Kapitel Zur entscheidungstheoretischen Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

89

A. Ein ethisches Entscheidungsverfahren vom Rawlsschen Typ .. . . . . . . . . . . . . .

89

B. Steuerverteilungsprinzipien ...........................................

94

I. Sprachregelungen: Steuerverteilungen, Steuerverteilungsprinzipien und Familien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

II. Darstellung einzelner Familien von Steuerverteilungsprinzipien ........ 97 1. Die Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2. Die Familie der Äquivalenzprinzipien ........................... 103 3. Die Familie der Pauschsteuerprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 104 III. Eine Wahlliste einzelner Steuerverteilungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . .. 105

Inhaltsverzeichnis

9

C. Die Entscheidung für ein Steuerverteilungsprinzip ....................... 107 I. Hauptgründe für die Wahl der Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien

108

11. Zur Wahl eines speziellen Steuerverteilungsprinzips aus der Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 111 1. Bemessung der Leistungsfahigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 112 2. Ausgestaltung des steuerfreien Existenzminimums. . . . . . . . . . . . . . . .. 114 3. Beurteilung einer Mehr-Progression. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 116

Fünftes Kapitel

Steuerbemessung nach dem Einkommen in entscheidungstheoretischer Sicht

120

A. Zur Kontextgebundenheit eines Einkommensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 120 I. Relationale Verwendung ......................................... 120

11. Theoretische Verwendung in der älteren Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 121 1. Einkommen als Maximand des Wohlstands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 122 2. Einkommen als Steuerverteilungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 124 B. Einkommensexplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 127 I. Hypothetische Einkommensexplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 127

1. Brutto-Einkommen........................................... 128 2. Netto-Einkommen............................................ 128 a) Quellen-Einkommen....................................... 128 b) Reinvermögenszugangs-Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 130 c) Einkommen als künftiger dauerhafter und uniformer Entnahmestrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 133 11. Einkommen im Sinne des geltenden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136 1. Nominaldefinition .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Realdefinition: Notwendige und hinreichende Bedingungen für das Vorliegen von Einkünften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Tauschwirtschaftliches Kriterium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Vorteilerzielungsabsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Zurechnung zu einer Einkunftsart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Ermittlung von Einkünften und Einkommen ..................... a) Ermittlungsdualismus ...................................... b) Verlustausgleich und Verlustabzug ...........................

138 140 141 142 143 143 143 145

C. Die Einkommenswahl im Urzustand. . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. 146 I. Der Entscheidungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 146

11. Grundentscheidungen mit Geltung für alle Einkommensexplikationen .. 147 1. Brutto-Einkommen vs. Netto-Einkommen. . . . . . .. . . .. . . . . . . . .. . .. 147 2. Nominal-Einkommen vs. Real-Einkommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 149

10

Inhaltsverzeichnis III. Entscheidung für eine spepelle Einkommensexplikation . . . . . . . . . . . . . .. 151 1. Vermögenszugangs-Einkommen vs. Quellen-Einkommen. .. . . . . . . .. 151 2. Vermögenszugangs-Einkommen vs. Einkommen als Entnahmestrom . 152 3. Vermögenszugangs-Einkommen vs. Einkommen nach geltendem Recht 154

D. Die Wahl der Einkommensperiode im Urzustand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 155 1. Entscheidung für das Lebens-Einkommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 155

H. Verlustrücktrag oder -vortrag als Approximation einer Lebens-Einkommensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 158 IH. Durchschnittsbesteuerung als Approximation einer Lebens-Einkommensbesteuerung .................................................... 163 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 167 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 176 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 177

TabeUenverzeichnis 1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10: 11: 12: 13: 14: 15: 16: 17: 18: 19: 20: 21: 22: 23: 24:

Modell zur Wahl zwischen Kopfsteuer und progressiver Steuer . . . . . . . . . . . Einfluß der Risikoeinstellung auf die Wahl von Steuerverteilungen . . . . . . . . Zusammenfassender Vergleich der Ansätze von Rawls und Harsanyi ...... Möglichkeitenmatrix im Suppes-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berechnung des Risikonutzens .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach der Maximin-Regel gleichwertige Steuerverteilungen .... . . . . . . . . . . . Beziehungsgefüge normativer Sätze im Hinblick auf Steuerverteilungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . Besteuerungsschema mit Freigrenze. . . ... .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. .. . . .. Besteuerungsschema mit Freibetrag .................................. , Grenzsteuerbelastung bei Freibetragsregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Schemata zur Wahl zwischen gleicher und ungleicher personeller Einkommensverteilung nach Steuern ............................................ , Abhängigkeit zwischen Steuersatz und Existenzminimum bei konstantem Steueraufkommen und Grund-Progression ............................ , Überführung einer Grund-Progression in eine Mehr-Progression bei konstantem Existenzminimum mit Steuerausfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Anpassung einer Mehr-Progression an eine gegebene Grund-Progression durch Verringerung des Existenzminimums ohne Steuerausfall . . . . . . . . . . .. Brutto- und Nettoeinkommen. . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . ... Beispielhafter Steuertarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Beispielhafter laisser-faire Einkommensstrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Beispielhafter laisser-faire Einkommensstrom nach Steuern. . . . . . . . . . . . . .. Beispielhafte laisser-faire Einkommen verschiedener Jahre. . . . . . . . . . . .. . .. Möglichkeiten der Verlustverrechnung ................................ Auswirkungen eines Verlustrücktrags oder -vortrags auf die Einkommensermittlung .......................................................... Unterschiedliche Steuerbelastung des laisser-faire Einkommens mit bzw. ohne Verlustabzug bei nicht-linearen Tariffunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Durchschnittseinkommen........................................... Durchschnittsbesteuerung .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

71 77 80 83 86 93 95 114 115 115 116 117 118 119 148 150 153 154 158 160 160 162 163 165

Abbildungsverzeichnis 1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10: 11: 12: 13:

Begriffshierarchie "Gerechtigkeit" .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramm Steuer .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schema Rechtssätze ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flußdiagramm zum Überlegungsgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramm zur Relation "ist gerechter als" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hasse-Diagramm im Suppes-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenhang zwischen Prinzipien, Verteilungen und Familien. . . . . . ... . Graph von Tariffunktionen mit Grund- bzw. Mehr-Progression. . . . . . . . . .. Ermittlungszeitraum und -zeitpunkt am Zeitstrahl ...................... Preisindexierung ................................................... Rente als uniformer Entnahmestrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Vermögensentwicklung am Zeitstrahl ................................. Beispielhafte laisser-faire Einkommen verschiedener Jahre als Balkendiagramm dargestellt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 14: Auswirkungen eines Verlustabzugs auf die Einkommensermittlung ...... .. 15: Durchschnittseinkommen als Balkendiagramm . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . ..

.

41 43 47 70 82 84 97 103 132 133 134 156 159 161 164

Abkürzungsverzeichnis Abs. abzg!. Allg. Anm. Aufl.

Absatz abzüglich allgemein(er) Anmerkung Auflage

BB Bd. BerlinFG

bzw.

Betriebsberater (Zeitschrift) Band Gesetz zur Förderung der Berliner Wirtschaft (Berlinförderungsgesetz) in der Fassung vorn 23. Februar 1982 Bundesfinanzhof Bundessteuerblatt Teil I (Teil 11) Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise

DB ders. d.h. DM DStR

Der Betrieb (Zeitschrift) derselbe (Verfasser) das heißt Deutsche Mark Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift)

ed. ESt EStDV EStG

editor Einkommensteuer Einkommensteuer-Durchführungsverordnung 1981 in der Fassung vorn 23. Juni 1982 Einkommensteuergesetz 1983 in der Fassung vorn 24. Januar 1984

f. (fI.) FA FAN.F. Fn. FR

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BFH BStB!. I (11) BVerfGE

. gern. GmbH-Rdsch. GrS

gemäß GmbH-Rundschau (Zeitschrift) Großer Senat des BFH

hrsg. Hrsg.

herausgegeben Herausgeber

insbes. i.S.d.

insbesondere im Sinne des

Jg.

Jahrgang

Nr.

Nummer

S. sog.

Seite sogenannt(er)

14

Abkürzungsverzeichnis

Sp. StuW

Spalte Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift)

Tz.

Textziffer

u.E. UStG usw.

unseres Erachtens Umsatzsteuergesetz vom 26. November 1979 und so weiter

Verf. vgl. Vol. vs.

Verfasser vergleiche volume versus

z.B. zzgl.

zum Beispiel zuzüglich

Notationen In den folgenden Festsetzungen verweist die Abkürzung nach dem Semikolon auf die Stelle der erstmaligen Verwendung der erklärten Notation. Die FundsteIle ist abgekürzt. Beispielsweise ist die Abkürzung K1.A.I zu lesen: Erstes Kapitel, Gliederungspunkt A.I.

E

{x I P(x)} C u

V n (x, y) AxB

"-

R

=>

f: A --> B f(x) X Hf(x) f[T] j l rU] gof I/) i=n

U Ai

;= 1

-, V K

x- e2 e. ~ e2 e. - e2

.

L ;=

1

U

p

(e)

gleich; K1.A.I. ist Element von; K1.A.I. ist äquivalent; K1.A.I. die Menge aller x mit der Eigenschaft P; K1.A.I. ist eine Teilmenge von; Kt .A.I. Vereinigung; K1.A.I. Disjunktion; K1.A.I. Schnitt; Kt.A.I. geordnetes Paar; Kt .A.1. kartesisches Produkt zweier Mengen; K1.A.I. ungleich; K1.A.I. Relation; K1.A.I. Implikation; K1.A.I. Abbildung von A nach B; K1.A.II. Wert der Abbildungf an der Stelle x; K1.A.II. Pfeilschreibweise für x = f(x); K1.A.II. Bildmenge von T unter f; Kt .A.II. Urbildmenge von U bezüglich!; K1.A.II. Komposition von Abbildungen; K1.A.II. leere Menge; KLB.I. Vereinigung einer Familie von Mengen; K1.B.1. logische Negation; K1.B.I. Vorgängerrelation; Kt .B.II. Koinzidenzrelation; Kt .B.II. x ist kleiner als y; Kl.B.III. x kombiniert mit y; K1.B.m. Summe zweier Zahlen; Kt .B.m. Menge einer endlichen Folge von Elementen; K1.C.I. Element einer Matrix; KLC.I. e. wird vorgezogen e2 ; Kl.C.II. e. wird vorgezogen oder ist indifferent e2 ; K1.C.II. e. ist indifferent e2 ; KLC.II. Summe einer endlichen Folge von Zahlen; Kl.C.1I1. Nutzenoperator; Kt .C.1I1. Wahrscheinlichkeit; Kl.C.III.

16

Notationen

e1 pe2 (eij) (U(eij)) (ai) ai = min u (eij) max min u (eij)

Et R

x

~

o V

P

'V /\ 3 =p

V xJy

E, C, S, tl , t2 a

q

EW

lim abs (x)

E e, s

ern)

x ... x E.

einfache Chance; K1.C.IIl. Ergebnismatrix; K1.C.IV. Nutzenmatrix; K1.C.IV. entscheidungsrelevanter Präferenzwert; Kl.C.IV. minimales Element des i-ten Zeilenvektors der Matrix; K1.C.IV. maximales Element der min u (eij); K1.C.IV. kartesisches Produkt von n Mengen; K2.B. Menge der reellen Zahlen; K2.B. geboten, deontischer Operator; K2.C.1. verboten, deontischer Operator; K2.C.1. erlaubt, deontischer Operator; K2.C.1. Allquantor; K2.C.1. Konjunktion; K2.C.I Existenzquantor; K2.C.II. gleich bezüglich p; K2.C.II. zweite Wurzel aus; K3.B.II.2 x ist gerechter als y; K3.B.III.2. Einkommen der Periode t; K4.C.II.1. Konsum der Periode t; K4.C.II.1. Sparen der Periode t; K4.C.II.1. Steuersätze; K4.C.II.1. Rentenbetrag; K5.B.1.2.c) Zinssatz; K5.B.1.2.c) 1/(1 + i); K5.B.1.2.c) Ertragswert; K5.B.1.2.c) Grenzwert; K5.B.1.2.c) Betrag von x; K5.D.1. Lebenseinkommen; K5.D.II. Einkommen der Periode t; K5.D.II. linearer Steuersatz; K5.D.II. Durchschnittseinkommen der Perioden 1, ... , n; K5.D.IIl.

Erstes Kapitel

Methodischer Ausgangspunkt: Die Theorie des rationalen Verhaltens A. Grundlegende Begriffe und Symbole Mengen, Relationen, Funktionen und Abbildungen bilden den begrifflichen Hintergrund für eine fonnalisierte Rekonstruktion des rationalen Verhaltens. Diese grundlegenden Konzepte seien kurz referiert. l I. Mengen und Relationen

Unter einer Menge wird eine Gesamtheit von wohldefinierten Objekten, im allgemeinen Elemente genannt, verstanden? Das Adjektiv wohldefiniert soll sicherstellen, daß von jedem beliebigen Element durch Überprüfung seiner Eigenschaften festgestellt werden kann, ob es zur fraglichen Menge gehört oder nicht. Wenn A eine Menge ist, deren Elemente x die Eigenschaft P haben, dann ist der Satz: x ist Element der Menge A (fonnal: XE A) äquivalent dem Satz x hat die Eigenschaft P (fonnal: P (x)), also: x E A P (x) .3 Unter Verwendung dieser Symbolik läßt sich eine Menge A definieren als: A = {xlP (x)}.

Sind A, B Mengen, so bedeutet die Bezeichnung A C B, daß jedes Element von A auch ein Element von B ist und wird gelesen: A ist Teilmenge von B oder A ist in B enthalten. Sind A, B Mengen, so gibt es eine weitere Menge, deren Elemente zu A und zu B gehören. Sie wird Schnittmenge von A und B genannt und geschrieben: AIlB={xEAlxEB}.

Ferner gibt es eine weitere Menge, deren Elemente wenigstens zu A oder B gehören. Sie wird Vereinigungsmenge von A und B genannt und geschrieben: Au B= {xix E A V XE B}. 1 Die Ausführungen stützen sich im wesentlichen auf Grotemeyer, Lineare Algebra, S. 7 ff. sowie Tarski, Mathematische Logik, S. 79 -114. 2 Beim axiomatischen Aufbau der Mengenlehre wird der Begriff Menge als undefinierter Grundbegriff eingeführt. 3 Die aussagenlogischen Junktoren werden als bekannt vorausgesetzt.

2 Walzer

18

1. Kap.: Die Theorie des rationalen Verhaltens

Sind A, B Mengen, identisch oder nicht, so existiert zu jedem x E A und y E B ein geordnetes Paar (x, y) mit x als erster und y als zweiter Komponente. Die Beziehung (x, y) = (x', y') gilt genaudann, wenn x = x'undy = y'; insbesondere ist (x, y) = (y, x) genau dann, wenn x= y. Das Konzept des geordneten Paars läßt sich auf n Komponenten verallgemeinern und wird dann geordnetes nTupel genannt. Die Menge aller geordneten Paare (x, y) mit x E A und y E B heißt das kartesische Produkt der Mengen A und B und wird A x B geschrieben und gelesen: A kreuz B. Also: A x B= {(x, y)lx E A und y E B}. Im allgemeinen gilt: A x B"# B x A. Die Definition des kartesischen Produkts läßt sich induktiv auf n beliebige Mengen verallgemeinern. Ein Element x einer Menge A kann mit einem Element y einer Menge B sprachlich zu einer Aussage, die entweder wahr oder falsch ist, verbunden sein, z. B. x ist größer als y . Eine solche Aussage definiert eine binäre oder zweistellige Relation von A nach B. Steht R z. B. für den verbindenden Aussagenteil ist größer als, so wird geschrieben xRy und gelesen: x steht in Relation R mit y. Wird bedacht, daß das kartesische Produkt A x B die Menge aller möglichen geordneten Paare (x, y) mit x E A und y E B ist, so wird deutlich, daß sich eine Relation auch als diejenige Teilmenge des kartesischen Produkts A x B definieren läßt, für die die Aussage xRy gerade wahr ist. Eine Relation läßt sich auch äquivalent über den Begriff der Teilmenge definieren: Sind A, B Mengen, so ist jede Teilmenge R des kartesischen Produkts der Mengen A und B (R C A x B) eine Relation von A nach B. Ist (x, y) ER, so steht x in der Beziehung R zu y. Es gilt also die Äquivalenz: 4 xRy ~ (x, y) ER. Relationen können auf bestimmte Eigenschaften hin untersucht und entsprechend klassifiziert werden. Eine binäre Relation R von A nach A heißt reflexiv, wenn xRxfor alle XE A gilt, d. h. wenn jedes Element von A in der Beziehung R zu sich selbst steht, symmetrisch, wenn x Ry => Y Rx , d. h. wenn x in Relation R mit y steht, dann steht auch y in Relation R mit x, asymmetrisch, wenn xRy =>, (yRx) , antisymmetrisch, wenn (xRy und yRx) => x = y, transitiv, wenn (xRy und yRz)=>xRz, d.h. wenn x in RelationR mit y und y in Relation R mit z steht, dann steht auch x in Relation R mit z, konnex, wenn für zwei beliebige, aber verschiedene Elemente x, y E A gilt: xRy oder yRx, d.h. wenn die Relation R zwischen zwei beliebigen verschiedenen Elementen zumindest in einer Richtung besteht. Verschiedene Eigenschaften von Relationen treten oft gruppenweise auf. Hierfür wurden besondere Namen gebildet. Eine binäre Relation in einer Menge A heißt: Xquivalenzrelation, wenn sie reflexiv, symmetrisch und transitiv 4 Wobei R zwei verschiedene Bedeutungsinhalte hat: Teilmenge von A x Bund verbindender Aussagenteil.

B. Grundtypen wissenschaftlicher Begriffe

19

ist, schwache Ordnungsrelation, wenn sie reflexiv, antisymmetrisch und transitiv ist, strikte Ordnungsrelation, wenn sie asymmetrisch und transitiv ist. Beispielsweise ist die Gleichheit eine Äquivalenzrelation, die Beziehung ist größer als oder gleich eine schwache Ordnungsrelation und die Beziehung ist größer als dagegen eine strikte Ordnungsrelation. Genauer genommen sind die zuvor definierten Ordnungsrelationen partielle Ordnungsrelationen, da sie nicht konnex sind. Ordnungsrelationen, die auch konnex sind, heißen totale Ordnungsrelationen.

11. Funktionen und Abbildungen Sind A, B Mengen, so nennt man eine Relation, die jedem Element x aus A höchstens ein Element y aus B zuordnet, eine Funktion von A nach B. Dagegen wird eine Relationfvon A nach B eine Abbildung genannt, wenn zu jedem x aus A genau ein y aus B existiert. Eine Abbildung von A nach B wird auch mitj- A ---+ B bezeichnet. A heißt Definitionsbereich und B Bildbereich von

!

Ist y dasjenige Element aus B, das x unter fzugeordnet wird, so schreibt man y = f (x) oder in Pfeilschreibweise x ~ f (x) . x heißt ein Urbild von y. Dagegen heißt y ein Bild von x unter! Sei feine Abbildung von A nach B. Sei Teine Teilmenge von A und U eine TeilmengevonB. Dann heißt die Mengef[T] = {f(x) Ix E T} die Bildmengevon T unter fund die Mengef-l [UJ= {x E Alf(x) E B} die Urbildmenge von U bezüglich! Eine Abbildungj- A ---+ B heißt: surjektiv, wenn!! AJ = B, injektiv, wenn für alle x, x' E A aus x # x' stets folgtf(x) # f(x'), bijektiv, wennfsurjektiv und injektiv ist. Sei j- A ---+ Beine bijektive Abbildung. Dann heißt die Abbildung f - 1: B ---+ A die zu f inverse Abbildung. f - 1 ist dadurch definiert, daß jedem y E B ein eindeutig bestimmtes x E A mit f (x) = y zugeordnet wird. A

Seienj- A ---+ Bund g: B ---+ C Abbildungen. Dann heißt die Abbildung g 0 jC die Komposition vonfund g mit (g of) (x) =g(f(x)) für alle XE A.

---+

B. Grundtypen wissenschaftlicher Begriffe Begriffs- und Theoriebildung bedingen sich gegenseitig. Fortschritte in der letzteren gehen einher mit Fortschritten der ersteren, und umgekehrt. 5 So hängt die Funktion eines wissenschaftlichen Begriffs "entscheidend von den Beziehun5 Über diese Zusammenhänge unterrichten ganz vorzüglich Hempel, Begriffsbildung und Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung.

2'

20

1. Kap.: Die Theorie des rationalen Verhaltens

gen ab, durch die er mit anderen Begriffen im theoretischen Netzwerk verknüpft ist, und diese Beziehungen wiederum werden von den Prinzipien der Theorie bestimmt".6 Diese Ansicht beruht auf dem Gedanken, daß eine Erkenntnis der Realität nur mit Bezug auf eine Sprache möglich ist.? Um diesen Gesichtspunkt zur Geltung zu bringen, ist es hinreichend, die folgenden Ausführungen auf drei Grundtypen8 wissenschaftlicher Begriffsbildung zu beschränken: klassifikatorisehe, komparative sowie quantitative Begriffe.

I. KlassifIkatorische Begriffe Mit klassifikatorischen Begriffen wird bezweckt, eine gegebene Grundmenge M in verschiedene Teilmengen oder Klasserf derart zu zerlegen, daß die unten näher beschriebenen zwei Adäquatheitsbedingungen gelten. Eine Klassifikation der Elemente oder Objekte x einer Grundmenge M wird durchgeführt, indem Eigenschaften oder Kriterien Pi (i = 1, ... , n) aufgestellt werden, die den Begriffsumfang (Extension) und damit die Klasse bestimmen. Jede Eigenschaft bzw. jedes Kriterium Pi setzt genau eine Klasse C; (i = 1, ... , n) fest; näherhin genau diejenige Klasse aller Objekte x E M, für die Pd x) wahr ist: C={xEMIP;{x)}

mit i=l, ... ,n.

Ein klassifikatorischer Begriff drückt also stets die Zugehörigkeit eines gewissen Objekts x zu einer bestimmten Klasse C von Objekten aus. Er stellt, mit einem Wort Carnaps, einen Gegenstand in eine Klasse. Das ist alles. lO Aus dem Zweck, eine n-fache Zerlegung einer Grundmenge M in die Klassen CI, . .. , C. herbeizuführen, ergeben sich zwei Forderungen an klassifikatorische Begriffe, von Stegmüllerll Adäquatheitsbedingungen genannt: Hempel, Begriffsbildung, S. 88. Hierzu auch Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung, S. 15 f., der sich mit der "gehätschelten Fiktion", die Realität habe ein jeder Sprache vorgegebenes Inventar, auseinandersetzt und zu dem Schluß gelangt: "Die Welt gliedert sich nicht unabhängig von der Sprache in Tatsachen oder auch nur bloß mögliche Sachverhalte ... Welche Typen von Sachverhalten wir überhaupt ins Auge fassen können, hängt davon ab, mit welcher Art von Sprache wir an die uns umgebende und uns selbst enthaltende Realität herantreten." Hieraus erklärt sich auch die unterschiedliche Behandlung des Gerechtigkeitsproblems durch Juristen bzw. Ökonomen, beiden erscheint infolge der Unterschiede in den Wissenschaftssprachen die Realität anders. 8 Diese Unterscheidung findet sich schon im Jahre 1926 bei Carnap, Physikalische Begriffsbildung, der dort näherhin von qualitativen, topologischen sowie metrischen Begriffen spricht. Zur hier verwendeten Terminologie siehe insbesondere Hempel, Begriffsbildung, S. 51-71; ferner Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung, S. 19-109; ders., Wissenschaftstheorie, S. 340f. 9 Klasse wird hier durchgehend bedeutungsgleich mit Menge verwendet. Siehe zu diesem Sprachgebrauch auch Tarski, Mathematische Logik, S. 79. 10 Vgl. Carnap, Einführung, S. 60. 11 Vgl. Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung, S. 19. 6

7

B. Grundtypen wissenschaftlicher Begriffe

21

(i) Paarweise Disjunktheit Die n-Klassen müssen sich einander wechselseitig ausschließen, d. h., es darf kein x E M geben, das zu mehr als einer Klasse gehört. Mit anderen Worten, für je zwei beliebige Klassen C; und Cj muß gelten, daß ihre Schnittmenge die leere Menge ist: C;

n Cj=(/J für i i=j und 1

~ i,j ~ n.

(ii) Ausgeschöpftheit Die n- Klassen C; (i = 1, ... , n) müssen die Grundmenge Mausschöpfen, d. h., es darf kein Objekt x aus dieser Grundmenge geben, das nicht wenigstens zu einer Klasse Ci gehört. Mit anderen Worten, die Vereinigungsmenge aller Klassen Ci muß mit der Grundmenge M zusammenfallen:

\J C;=M. n

i= 1

Hauptanwendungsfall der Bildung klassifikatorischer Begriffe ist das Definitionsschema der klassischen Logik, "nach der jede Definition im Verhältnis von genus proximum und differentia specifica festgesetzt werden muß"P Beispielsweise definiert das Umsatzsteuergesetz Unternehmer ganz im Sinne des klassischen Definitionsschemas: "Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. "13 Diese Definition kennzeichnet Unternehmer als genau diejenige Subklasse des Genus Menschen, deren Elemente durch die differentia specifica "übt eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig aus" ausgezeichnet sind. Dies kann mengen theoretisch so ausgedrückt werden: Die Klasse der Unternehmer ist die Schnittmenge der Klassen der Menschen und der Klasse der selbständigen gewerblichen oder beruflichen Tätigkeiten. Wie kann nun festgestellt werden, ob eine klassifikatorische Begriffsbildung den zwei Adäquatheitsbedingungen genügt? Zwei Nachweise sind möglich: paarweise Disjunktheit und Ausschöpfung können eine logische Folge der Definitionen oder empirische Wahrheiten in dem Sinne sein, daß logisch zwar ein gemeinsamer Schnitt oder unvollständige Ausschöpfung möglich sind, tatsächlich aber nicht stattfinden. 14 Sei am Beispiel Unternehmer aufgezeigt, was mit eine logische Folge der Definitionen gemeint ist. Es bedeuten: P (x)

x übt eine selbständige gewerbliche oder berufliche Tätigkeit aus,

--, P (x) x übt keine selbständige gewerbliche und keine selbständige berufliche Tätigkeit aus,

M 12

13 14

die Menge aller Menschen. Hempel, Begriffsbildung, S. 16. § 2 Abs. 1 Satz 1 Umsatzsteuergesetz. Vgl. hierzu Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung, S. 21 ff.

22

1. Kap.: Die Theorie des rationalen Verhaltens

Die durch P bzw. , P gebildete Klassifizierung Cl = {x E MIP (x)}, das sind die Unternehmer, bzw. C2 = {x E MI, P (xJ), das sind die NichtUnternehmer, ist disjunkt, denn ein x kann nur entweder P (x) oder, P (x) erfüllen, aber nicht beides zugleich (Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch).15 Sie erschöpft auch M, denn jedes Objekt x E M fallt mit logischer Notwendigkeit in eine der beiden Klassen; eine dritte Möglichkeit gibt es nicht (Satz vom ausgeschlossenen DriUen).16 Im übrigen sind paarweise Disjunktheit und Ausschöpfung für die sog. dichotomischen Begriffe, deren Umfang für die eine Klasse durch P (x) und für die komplementäre Klasse durch, P (x) bestimmt sind, stets erfüllt. Um aufzeigen zu können, was mitempirische Wahrheiten gemeint ist, muß die Klasse der Nicht-Unternehmer nicht durch die Negation von P, sondern durch andere Merkmale, z. B. Q, bestimmt werden, etwa:

P (x)

Q (x)

x übt eine selbständige gewerbliche oder berufliche Tätigkeit aus, x ist unselbständig tätig.

Dann könnte argumentiert werden, daß Objekte x E M denkbar sind, die zwar weder gewerblich noch beruflich, aber eben in anderer Weise selbständig tätig sind. Aus einer Betrachtung der Wirklichkeit ergäbe sich aber, daß derartige andere selbständige Tätigkeiten nicht existieren. Die Klassifizierung mit Hilfe von P (x) und Q (x) ist dann aus empirischen Günden wahr.

11. Komparative Begriffe Komparative Begriffe sind Ordnungsbegriffe. Durch ihre Einführung wird der untersuchte Gegenstandsbereich entsprechend einer näher zu bestimmenden Ordnung strukturiert. Im Gegensatz zu klassifikatorischen Begriffssystemen, bei denen ein Objekt - wie ausgeführt -lediglich in eine Klasse gestellt wird, ermöglicht ein komparativer Begriff Vergleichsfeststellungen zwischen zwei Objekten x und y einer Menge oder Klasse C in dem Sinne, ob x eine gewisse Eigenschaft mehr oder weniger besitzt als y. Ein klassifikatorisches Begriffssystem liegt beispielsweise vor, solange nur zwischen gerecht oder ungerecht unterschieden werden kann. Sobald aber Sätze wie Steuerverteilung x ist gerechter als Steuerverteilung y konstruiert werden können, ist der Übergang zu einem komparativen Begriffssystem vollzogen. Die Formalstruktur komparativer Begriffe gründet überwiegend in der Relationslogik; komparative Begriffe werden deshalb auch als Relationsbegriffe bezeichnet. Der intuitive Ausgangspunkt einer solchen Formalisierung sei am Beispiel von Steuerverteilungen aufgezeigt. Sei also C die Klasse der zu untersuchenden Steuerverteilungen. Dieser Gegenstandsbereich soll durch den IS

16

Vgl. Klaus, Modeme Logik, S. 49 ff. Vgl. Klaus, Modeme Logik, S. 63ff.

B. Grundtypen wissenschaftlicher Begriffe

23

komparativen Begriff ist gerechter als in der Weise geordnet werden, daß schließlich gleichsam das kleinste und das größte Element festgestellt werden können. Die Aufstellung 1? eines komparativen Begriffs der Gerechtigkeit erfordert Kriterien, die für je zwei Steuerverteilungen aus C festlegen, ob sie gleichermaßen gerecht sind, und wenn nicht, welche von ihnen die weniger gerechte ist. Mittels dieser Kriterien muß es möglich sein, alle Steuerverteilungen aus C in einer Reihe anzuordnen. In dieser Reihe geht eine Steuerverteilung einer anderen voran, wenn sie weniger gerecht als die andere ist; Steuerverteilungen, die gleichermaßen gerecht sind, nehmen die gleiche Stellung ein (koinzidieren). Dieser intuitive Hintergrund gibt Anlaß zur Einführung von zwei Relationen 18 : (i) Zur Festlegung, wann ein Objekt x aus C einem anderen Objekt y aus C vorangeht, wird eine zweistellige Vorgängerrelation V eingeführt. (ii) Zur Festlegung, wann zwei Objekte x, y aus C im Sinne der Ordnung nicht unterscheidbar sind, also koinzidieren, wird die zweistellige Koinzidenzrelation Keingeführt.

K und V müssen drei Bedingungen erfüllen, wenn sichergestellt sein soll, daß die Klasse C durch sie geordnet wird: (i) K muß eine Xquivalenzrelation, d. h. reflexiv 19 , symmetrisch und transitiv sein. (ii) V muß eine strikte Ordnungsrelation, d. h. transitiv und antisymmetrisch 20 sein. (iii) Alle Objekte aus C müssen in bezug auf die beiden Relationen K und V konnex sein. Warum müssen diese Bedingungen gefordert werden? Wenn Keine Äquivalenzrelation ist, wird jeder Stelle der zu erzeugenden Ordnung die Klasse derjenigen Objekte zugeordnet, die in der Koinzidenzrelation K miteinander stehen. C wird also durch K erschöpfend in paarweise disjunkte Sub klassen aufgeteilt. Wenn V eine strikte Ordnungsrelation ist, kann wegen der Antisymmetrie kein Element zu sich selbst oder zu einem anderen Element, in dem es in der Koinzidenzrelation K steht, in der Relation V stehen. Die Konnexität stellt Vgl. zum allgemeinen Vorgehen beispielsweise Hempel, Begriffsbildung, S. 57. Hier wird insbesondere den Ausführungen von Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung, S. 29ff. und Hempel, Begriffsbildung, S. 57f. gefolgt. 19 Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung, S. 31 besteht auf Totalreflexivität; ist eine Relation R totalreflexiv, so soll dies bedeuten, daß R reflexiv ist und daß außerdem alle Elemente des Grundbereichs zum Vor- oder Nachbereich der Relation gehören. Letzteres wird in dieser Arbeit auch von Reflexivität verlangt. 20 Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung, S.31 sowie Hempel, Begriffsbildung, S. 57f. fordern Irreflexivität. Eine Relation, die zugleich transitiv, antisymmetrisch und konnex ist, ist auch irreflexiv; vgl. Tarski, Mathematische Logik, S. 106. 17

18

24

1. Kap.: Die Theorie des rationalen Verhaltens

schließlich sicher, daß zwei beliebige Objekte aus C entweder koinzidieren oder eines der beiden dem anderen vorangeht. Wären auch nur zwei Objekte aus C unvergleichbar hinsichtlich K oder V, so wäre C nicht vollständig geordnet, sondern bestenfalls partiell. Die erzielte Ordnung wird im Anschluß an Hempel Quasiordnung genannt, da "zum Unterschied von einer Ordnung, in der stets nur ein Element eine bestimmte Position einnehmen kann, jetzt mehrere (sogar beliebig viele) Elemente dieselbe Position einnehmen können."21 III. Quantitative Begriffe

Quantitative oder metrische Begriffe sind dadurch gekennzeichnet, daß den Objekten eines vorgegebenen Grundbereiches C Zahlen zugeschrieben werden. Für die Zuordnung von Zahlen zu Objekten bieten sich Funktionen oder Abbildungen an. Gemeinhin werden quantitative Begriffe als numerische Funktionen eingeführt?Z Beispielsweise kann Steuerverteilung als numerische Funktion und damit als quantitativer Begriff eingeführt werden. Mit Stegmüller muß scharf unterschieden werden zwischen Metrisierung bzw. Messung. 23 Die Einführung eines quantitativen Begriffs wird als Metrisierung

bezeichnet. Unter Messung wird dagegen der empirische Prozeß der Bestimmung eines Größenwerts verstanden. Beispielsweise ist eine Bernoulli-Befragung 24 ein solcher empirischer Prozeß zur Bestimmung eines Größen werts des metrischen Begriffs Risikonutzen. Die Einführung des letzteren in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch ist dagegen eine Metrisierung.

Metrisierungen erfolgen von Fachwissenschaft zu Fachwissenschaft verschieden und in den unterschiedlichsten Schattierungen und Komplexitätsgraden. Die Ausarbeitungen von Hempej25 bzw. Stegmüller 26 informieren hierüber eingehend. Nachfolgend wird lediglich ein Überblick geboten, der sich auf die einfachsten Grundgedanken beschränkt. Grundlegend für das Verständnis der Einführung quantitativer Begriffe ist die Unterscheidung in fundamentale Metrisierung einerseits, abgeleitete Metrisierung andererseits. Letztere setzt bereits bestehende metrische Begriffe voraus, mit deren Hilfe der neu einzuführende metrische Begriff konstruiert wirdP "Der einfachste Fall einer abgeleiteten Metrisierung liegt vor, wenn der neue Begriff auf die alten Begriffe 21 22 23 24 25 26 27

S.46.

Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung, S. 30. VgI. StegmülIer, Begriffs- und Theoriebildung, S.45. VgI. StegmülIer, Begriffs- und Theoriebildung, S. 46. Zur BernouIIi-Befragung und zum Risikonutzen siehe S. 29-32. Hempel, Begriffsbildung, S. 60-71. Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung, S. 44-109. VgI. Hempel, Begriffsbildung, S. 65 ferner Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung,

B. Grundtypen wissenschaftlicher Begriffe

25

zurückgeführt wird."28 Bei einer fundamentalen Metrisierung wird dagegen ein quantitativer Begriff ohne Rückgriff auf bereits vorhandene metrische Begriffe eingeführt.29 Für die Entwicklung der vorliegenden Arbeit sind fundamentale Metrisierungen von geringerer Bedeutung als abgeleitete. Denn: Einkommen, Steuer oder Steuerverteilung sind abgeleitete metrische Begriffe; ihre erstrebenswerte Rückführung auf fundamentale metrische Begriffe kann hier schon allein aus Raumgründen nicht geleistet werden, würde aber darüber hinaus auch weitere umfangreiche Vorstudien erfordern. Um einen groben Überblick über die Einführung eines quantitativen Begriffs zu vermitteln, sei der Fall referiert, daß für einen Gegenstandsbereich bereits ein komparativer Begriff eingeführt ist. Der bereits eingeführte komparative Begriff ist in einen quantitativen Begriff zu überführen 30 , genauer, in einen extensiven 31 quantitativen Begriff mit Verhältnisskala 32 • Seien K und V die oben eingeführten zweistelligen Relationen, die für die Objekte x der Klasse C eine Quasiordnung bestimmen. Notwendige Bedingung für die Metrisierung dieser Quasiordnung ist die Bestimmung einer Funktion/, welche die drei folgenden Bedingungen erfüllt: 0 1 Jedem x

E

C wird eine reelle Zahl f (x) zugeordnet.

O2 Für alle x, y 0 3 Für alle

E

X,YE

C gilt: wenn xKy, dannf (x)

=

f (y).

C gilt: wenn xVy, dannf(x) O (q). p ist ein deskriptiver Aussagesatz; es muß entscheidbar sein, ob der durch ihn ausgedrückte bedingende Sachverhalt besteht oder nicht. Der Gebotssatz 0 ( q) wird interpretiert als: Es ist geboten, daß q. Der Ausdruck q steht für einen Satz, der eine Verhaltensweise beschreibt. Auf weitere Einzelheiten kann hier verzichtet werden. So ist der Satz: Der Verlustausgleich des Kommanditisten a ist einzuschränken, wenn sein Kapitalkonto durch Verlustzurechnung negativ wird aus der Sicht der

deskriptiven Auffassung der deontischen Logik ein Gebotssatz, denn sein

Vgl. von Kutschera, Ethik, S. 3. Von Kutschera, Ethik, S. 4. 40 Keuth, Deontische Logik, S. 65. 41 Vgl. Lenk, Bedingte Normsätze, S. 112. 42 Wie hier z. B. auch von Kutschera, Ethik, S. 1 ff. 43 Vgl. von Wright, Normenlogik, S. 25-38. 44 Vgl. von Kutschera, Ethik, S. 1-10. 45 Vgl. von Wright, Handlung, S.19-39. 46 Vgl. Hempel, Begriffsbildung, S. 31 f. zum Gebrauch von wenn einer materialen Implikation. 38

39

dann im Sinne

c.

Formale Gerechtigkeit als Regelhaftigkeit

47

Wahrheitswert kann festgestellt werden. Er ist ferner bedingt, denn wenn der bedingende Aussagesatz: Sein Kapitalkonto wird durch Verlustzurechnung negativ wahr ist, gilt der Gebotssatz: Der Verlustausgleich des Kommandisten a ist einzuschränken. Die Tenninologie der Rechtssätze sei in einem Begriffsschema zusammengefaßt: Rechtssätze

Normen (präskriptive Sätze)

Gebotssät ze (deskriptive Sätze über präskriptive Sätze)

~

bedingt

in dieser Arbeit nicht entwickelt

Logik der Normen

nichtbedingt

~ Antezedenz (deskriptiver Aussagesatz)

Konklusion (nichtbedingter Gebotssatz)

deontische Logik

Abb. 3: Schema Rechtssätze

Zur Fonnalisierung deontischer Sätze kann auch auf die Prädikatenlogik zurückgegriffen werden; dadurch werden die Ausdrucksmöglichkeiten des bisherigen Minimal-Kalküls (aussagenlogische Verknüpfungen, Operatoren 0, V, P) erweitert. Das Prädikat A (a) mit a als Individuum drücke aus, daß a genau jene Eigenschaft hat, die den bedingenden deskriptiven Aussagesatz A wahr werden lassen. Dann behauptet der Aussagesatz Vx A (x) mit x als Individuenvariable, daß für alle x des Definitionsbereichs gilt: Individuum x verfügt über genau jene Eigenschaften, die A wahr werden lassen. Entsprechend besagt dann 0 (Ba): Es ist geboten, daß sich a entsprechend B verhält, und Vx 0 ( Bx) : Für alle x gilt: Es ist geboten, daß sich x entsprechend B verhält. Mit den bisher dargestellten deontischen Mitteln läßt sich das Konzept der fonnalen Gerechtigkeit in folgender Definition fonnalisieren:

48

2. Kap.: Formale Gerechtigkeit

Definition FG

Eine Norm wird genau dann formal gerecht angewendet, wenn gilt: 'v'x[A(x)

=>

o (Bx)].

Unter Verwendung von Definition FG läßt sich zeigen, daß der sog. Syllogismus

der Rechtsanwendung gilt.47 Satz SR

('v'x(A(x) =>O(Bx)) A A(a))

=>

o (Ba).

Satz SR sei zunächst bewiesen, bevor er inhaltlich erläutert wird. Beweis 4S

Nach Voraussetzung gelten: 1. 'v'x(A(x) =>O(Bx)) 2. A (a).

Nach der Regel, daß eine Eigenschaft, die auf alle Individuen zutrifft, auch auf ein beliebiges Individuum z zutrifft: Vy F (y) F (z), ergibt sich durch Einsetzen für y und z:

=

3. 'v'x(A(x) =>

o (Bx)) => (A(a)

=>

o (Ba)),

wobei gleichzeitig a für z eingesetzt wurde. Aus der vorausgesetzten Wahrheit von 1. und der tautologischen Wahrheit von 3. folgt nach der Abtrennungsregel: 49 4. A(a)

=>

O(Ba).

47 Hierzu Tipke, Steuerrecht, S. 90f., der die klassische Darstellung Obersatz Untersatz - Schlußfolgerung - wählt; ferner auch Larenz, Methodenlehre, S. 255 -261. Beide Autoren lassen allerdings den entscheidenden Gesichtspunkt unerörtert: Der klassische Syllogismus bezieht sich nicht auf Sollenssätze! Hier gelten die Worte Perelmanns, Gerechtigkeit, S. 57: "Der gerechte Akt muß mit der Schlußfolgerung eines speziellen Syllogismus übereinstimmen. Wir nennen ihn imperativen (oder auch deontisehen) Syllogismus, da sein Obersatz und seine Schlußfolgerung eine imperative Form haben." Bleibt dieser Unterschied unbeachtet, so wird ein Realitätsbereich, der normativen Gesetzen unterworfen ist, hinsichtlich des Syllogismus behandelt, als sei er empirischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. 48 Vgl. zum prädikatenlogischen Teil des Beweises auch Klaus, Modeme Logik, S. 239249, insbes. S. 249. 49 Die Abtrennungsregel gilt auch für die deontische Logik; vgl. von Wright, Normenlogik, S. 32.

C. Fonnale Gerechtigkeit als Regelhaftigkeit

49

Aus der Wahrheit von 2. und 4. folgt weiterhin nach der Abtrennungsregel: 5.

o (Ba) .

Satz SR besagt: Wenn für alle Individuen x mit einer bestimmten Eigenschaft A, Handlung Ji geboten ist und Individuum a diese Eigenschaft aufweist, dann ist Handlung B auch für a geboten. Für alle Individuen, die der durch Eigenschaft A bestimmten Klasse angehören, ist also Handlung B geboten. D. h. alle Individuen, die zur Klasse A gehören, werden gleichbehandelt. B wird auf sie unterschiedslos angewendet. In diesem Sinne ist Gleichbehandlung eine logische Konsequenz der Anwendung einer bedingten Rechtsnorm. Denn die Kontraposition von Definition FG ergibt: 'v'x(,O(Bx)~,

A(x)).

Woraus folgt: Wenn Handlung B für Individuum a geboten und für Individuum b nicht geboten ist, beide Individuen also ungleich behandelt werden, darf b nicht die Eigenschaft A besitzen, anderenfalls läge ein Widerspruch zu Definition FG vor. 50 11. Gleichbehandlung und formale Gerechtigkeit Spätestens seit Aristoteles wird distributive Gerechtigkeit mit Gleichheit in Verbindung gebracht. "Gerecht ist also", sagt Aristoteles, "das Gesetzliche und Gleiche, ungerecht das Widergesetzliche und Ungleiche".51 In der Sprache der Prädikatenlogik sind Gleichheit und Identität bedeutungsgleich. 52 Zwei Dinge x und y werden im Anschluß an Leibniz gleich oder identisch genau dann bezeichnet, wenn jede Eigenschaft P, die auf x zutrifft, auch auf y zutrifft und umgekehrt. 53 In prädikatenlogischer Schreibweise läßt sich diese Definition 54, die auch unter dem Namen Identitätssatz bekannt ist, wie folgt formalisieren: 50 Allerdings hat nicht jede Ungleichbehandlung gleicher Individuen einen Verstoß gegen die Regeln der fonnalen Gerechtigkeit zur Folge, nämlich dann nicht, wenn die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit nicht vorliegen, wie dies bei freiwilligen Handlungen der Fall ist. Hierzu gibt PereIman, Justice, S. 89 folgendes Beispiel: "if I give f, 1 to a passing beggar and an hour later give merely a quarter of this sum to a second beggar I have not acted unjustly since the rule of justice does not transfonn at a stroke an act which I am free to do or omit into an obligatory one ... if I am left completely free to act as I wish in the first situation, I retain this freedom of action in an essentially similar situation" . 51 Nikomachische Ethik, S. 154. 52 Vgl. z. B. Tarski, Mathematische Logik, S. 66 ff. sowie S. 106. Lorenzen, Konstruktive Wissenschaftstheorie, S. 190f. 53 Vgl. Tarski, Mathematische Logik, S. 67. 54 Vgl. Klaus, Moderne Logik, S. 294.

4 Walzer

50

2. Kap.: Formale Gerechtigkeit

Definition ID (x= y) - VP(P(x) -

P(y)).

Definition ID kommt große Bedeutung zu, denn: Ist die Identität von x und y nachgewiesen, so können x und y beliebig ausgetauscht werden. Die Festellung von Identitäten ist keinesfalls trivial, vielmehr erfordert der Nachweis, daß zwei scheinbar verschiedene Dinge x und y identisch sind, oftmals sehr subtile Überlegungen. 55 Trivial oder wenig inhaltsreich, wenn auch logisch wahr, sind lediglich Identitäten der Form x = x. Der Begriff formale Gerechtigkeit, verstanden im Sinne Aristoteles als Gleichbehandlung Gleicher und Ungleichbehandlung Ungleicher kann aber nicht die prädikatenlogische Gleichheit oder Identität beinhalten: Gerechtigkeit ist eine menschliche Tugend, in Frage steht somit die Gleichheit von Menschen. Zwei im Sinne des Identitätssatzes gleiche Menschen gibt es aber nicht. Würde formale Gerechtigkeit Gleichheit im Sinne des Identitätssatzes implizieren, so wäre die Gleichbehandlung der Gleichheit immanent, denn es lägen dann stets, um mit Frege zu sprechen, nur zwei verschiedene Namen für ein Individuum vor. Unterschiedliche Merkmale, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten, können nicht vorliegen 56. Die formale Gleichheit wäre aber als ethisches Konzept, das sich an die Allgemeinheit der Individuen wendet, bedeutungslos, da sich nur Einerklassen bilden ließen. Im Kontext der formalen Gerechtigkeit wird aber auch nicht behauptet, wie es der Identitätssatz erfordert, daß allen Individuen die gleichen Merkmale zukommen. Behauptet wird dagegen, daß zwei Individuen x und y gemeinsame Eigenschaften P und nicht-gemeinsame Eigenschaften Q haben, daß also gilt: 3P{P(x) /\ P(y)} /\ 3Q{Q(x) /\ --, Q(y)}.57

Die Individuen x und y sind wegen der Eigenschaft Q nicht gleich im Sinne des Identitätssatzes. Sie sind nur gleich hinsichtlich der Eigenschaft P. In diesem relativen Sinne wird die Gleichheit im Kontext der formalen Gerechtigkeit benutzt. Die relative Gleichheit bezüglich der Eigenschaft P wird nachfolgend = p geschrieben und gelesen: gleich bezüglich P.

55 Das auf Frege zurückgehende Kathederbeispiel entstammt der Astronomie und betrifft die Entdeckung, daß Abendstern und Morgenstern identisch sind, so daß nur zwei verschiedene Namen für ein und dasselbe Ding vorliegen. Aus der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre sei auf die in den letzten Jahren behauptete Identität von Wirtschaftsgut und Vermögensgegenstand hingewiesen. 56 Dieser Gesichtspunkt geht auf Perelman, I' Argumentation, S. 293 ff. zurück. 57 Vgl. Klaus, Modeme Logik, S. 297.

C. Formale Gerechtigkeit als Regeihaftigkeit

51

Definition GL Zwei Individuen x und y sind gleich bezüglich der Eigenschaft P genau dann, wenn mindestens P x zukommt und y zukommt:

Gleichheit im Sinne von Definition GL erfordert also nur, daß zwei Individuen übereinstimmende Eigenschaften haben; genauer: daß gewisse Eigenschaften dieser Individuen identisch sind. 58 Beispielsweise regelt § 15 a EStG die Begrenzung des Verlustausgleichs bei gewissen Unternehmern, deren Haftungslage gleich der eines Kommanditisten ist. Hinsichtlich der Eigenschaft Haftungslage besteht also Gleichheit zwischen diesen Unternehmern und einem Kommanditisten; hinsichtlich anderer Eigenschaften, z. B. Haarfarbe oder Schuhgröße, ist keine Gleichheit erforderlich. Allgemein läßt sich jede Beziehung zwischen zwei Individuen, die zugleich reflexiv, symmetrisch und transitiv ist, als eine Gleichheit auffassen. 59 Der folgende Satz zeigt, daß die Gleichheit GL zugleich reflexiv, symmetrisch und transitiv ist: Satz GL Für beliebige Individuen x, y und eine beliebige Eigenschaft P ist die Gleichheit GL reflexiv, symmetrisch und transitiv. Beweis (i) Reflexivität

Die Reflexivität folgt sofort aus Definition GL, wenn x für y eingesetzt wird; dies ist zulässig, da x und y als beliebig vorausgesetzt sind. (ii) Symmetrie

Aus x

=

p

Y folgt nach Definition GL P(x) /I. P(y).

Wegen der Kommutativität der Konjunktion gilt auch P(y) /I. P(x),

woraus wiederum nach Definition GL folgt y= px.

58 59

4"

Vgl. Tarski, Mathematische Logik, S. 104. Vgl. Tarski, Mathematische Logik, S. 104.

52

2. Kap.: Fonnale Gerechtigkeit

(iii) Transitivität

Nach Voraussetzung gilt (x= py) und (y= pz). Aus Definition GL folgt [P(x) A P(y)J A [P(y) A P(z)J.

Wegen der Kommutativität der Konjunktion gilt auch [P(x) A P(z)J A [P(y) A P(y)J.

Aus Definition GL folgt weiter

Das Glied (y = py) darf bei einem Schluß auf eine logisch schwächere Konklusion - um einen solchen Schluß handelt es sich hier - aus der Konjunktion fortgelassen werden, somit folgt: x=pz.

Q.e.d. Beispielsweise ist die Beziehung haftet wie eine Gleichheitsbeziehung: Sie ist reflexiv, da x haftet wie x, symmetrisch, denn wenn x haftet wie y, dann haftet y wie x und transitiv, denn wenn x haftet wie y und y haftet wie z, dann haftet x wie z. Im folgenden wird Gleichheit stets im Sinne von Definition GL verwendet; Gleichheit im Sinne von Definition ID wird als Identität bezeichnet. Der Begriff gleich wird im Gegensatz zu identisch also nur dann korrekt angewendet, wenn zugleich angegeben wird, auf welche Eigenschaft er sich bezieht. Von den zahlreichen Eigenschaften, die einem Individuum zukommen, werden nur einige ausgesondert. Hinsichtlich dieser Eigenschaften wird die Gleichheitsbeziehung definiert. Fraglich ist nun, welche Eigenschaften eine Gleichbehandlung bzw. welche davon verschiedenen Eigenschaften eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Dies ist eine Frage der materialen Gerechtigkeit, die später behandelt wird. Eine konsequent an den ausgezeichneten Eigenschaften ausgerichtete Behandlung aller Individuen, die diese Eigenschaften aufweisen, also aller gleicher Individuen, führt zu derselben formalen Gerechtigkeitsstruktur, wie die aus der Normenlogik abgeleitete formale Gerechtigkeit und umgekehrt. Voraussetzung ist allerdings, daß eben diese Eigenschaften in den Aussagesatz A der bedingten Norm A => 0 (B) aufgenommen werden. Die normenlogische und die den Gleichbehandlungsaspekt berücksichtigende formale Gerechtigkeit sind identisch; lediglich die Ableitungszusammenhänge unterscheiden sich.

C. Formale Gerechtigkeit als Regelhaftigkeit

53

Bereits an dieser Stelle sei auf eine im wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum 60 anzutreffende Klassifizierung hingewiesen, die im Zusammenhang mit der Gleichheitsproblematik vorgenommen wird. Diese knüpft an die klassische Formulierung Gleiches ist gleich, Ungleiches entsprechend dem Grad der Verschiedenheit ungleich zu behandeln an und unterscheidet zwischen horizontaler und vertikaler Steuergerechtigkeit. Bei der horizontalen Steuergerechtigkeit geht es um die Frage, wann wirtschaftlich gleiche Sachverhalte vorliegen. Vertikale Steuergerechtigkeit betrifft dagegen die Frage, wie ungleiche wirtschaftliche Positionen zu behandlen sind, also die Frage, ob und gegebenenfalls wieviel stärker eine wirtschaftlich bessere Position gegenüber einer schlechteren zur Steuerzahlung heranzuziehen ist.

111. Universalisierbarkeit und formale Gerechtigkeit Die Ausführungen zu den logischen Aspekten der formalen Gerechtigkeit und zur Gleichbehandlung enthalten einen gemeinsamen Gedanken: Es kann einem einzelnen in einer bestimmten Situation nur dann geboten sein, in bestimmter Weise zu handeln, wenn dies in gleichartigen Situationen auch allen anderen geboten ist. Dieser Gedanke umschreibt den Inhalt des U niversalisierbarkeitspostulats.6l Das Postulat läßt sich präziser formulieren: Für alle Individuen x,y gilt: Ist es x unter der Bedingung A geboten, B zu tun, so ist es auch y unter der Bedingung A geboten, B zu tun; oder in der Symbolik der deontischen Logik: 62 Definition UP

Vx,y [A (x)

= o (Bx)} = [A(y) = o (By)}

Das Universalisierbarkeitspostulat spielt in der Ethik eine herausragende Rolle. Kant machte es in seinem "Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft": "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne"63 zum Prüfstein moralischen HandeIns. Sidgwick64- ließ sich von ähnlichen Überlegungen leiten und betonte Vgl. statt vieler Dieter Schneider, Steuerbilanzen, S. 39f. Vgl. von Kutschera, Ethik, S. 32fT. zur Formalisierung in allerdings abweichender Symbolik; von Kutschera spricht statt von Universalisierbarkeit von Generalisierbarkeit. Hare, Moral sowie ders., Freiheit und Vernunft spricht von Universalisierbarkeit. Vgl. auch Mackie, Ethics, S. 97. Mackie betont zwar die Möglichkeit verschiedener Interpretationsmöglichkeiten des Universalisierbarkeitspostulats, nennt aber auch den verbindenden Gedanken: "In each ofthem a moraljudgement is taken to carry with it a similar view about any relevantly similar case." 62 Vgl. von Kutschera, S. 33. 63 Kant, Praktische Vernunft, S. 140. 64 Sidgwick, Ethics, S.379 (zitiert nach Sen, Collective Choice, S. 131): "whatever actions any ofus judges to be right for himself, he implicitly judges to be right for all similar 60 61

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2. Kap.: Formale Gerechtigkeit

insbesondere den Gesichtspunkt des Sich-in-die-Haut-des-anderen-Denkens, der extended sympathy 65, für die Beurteilung moralischer Urteile.66 Das Konzept der extended sympathy erfordert vom Urteilenden interpersonelle Vergleiche, welche die objektiven und die subjektiven Eigenschaften der Mitmenschen, insbesondere deren Präferenzstruktur, einbeziehen.67 Hare 68 führt diesen Gedanken weiter und sieht in Universalisierbarkeit das entscheidende formale 69 Kriterium, das moralische Urteile von anderen präskriptiven Urteilen trennt. Das Universalisierbarkeitspostulat läßt sich auch mittels interpersoneller Permutationen interpretieren.7o Hiermit ist folgendes gemeint: Es seien n Personen gegeben und Person i (i= 1, 2, ... , n) fällt ein moralisches Urteil.

Dann muß Person i zu diesem Urteil auch stehen, wenn sie ceteris paribus nacheinander die Position der übrigen (n - 1) Personen einnimmt und von dieser Warte urteilt. Anderenfalls kann das Urteil nicht moralisch genannt werden. Im Beispiel: Wenn ein unbeschränkt haftender Unternehmer a behauptet, die Begrenzung des Verlustausgleichs bei beschränkt haftenden Unternehmern sei gerecht, dann muß a, wenn er in der Position eines beschränkt haftenden Unternehmers b wäre, ebenfalls zu dem Urteil gelangen, die Begrenzung des Verlustausgleichs eines beschränkt haftenden Unternehmers sei gerecht. Anderenfalls würde a unmoralisch urteilen.

Gegen das Universalisierbarkeitspostulat sind Einwände erhoben worden. 71 Der wichtigste inhaltliche Einwand läuft auf die Frage hinaus, ob überhaupt persons in similar circumstances. Or, as we may otherwise put it, ,if a kind of conduct that is right (or wrong) for me is not right (or wrong) for some one else, it must be on the ground of some difference between the two cases, other than the fact that land he are different persons'." 65 Das Schulbeispiel für "extended sympathy" ist eine von Arrow, Social Choice, S. 114 zitierte Grabinschrift, die lautet: "Here lies Martin Engelbrodde, Ha'e mercy on my soul, Lord God, As I would do were I Lord God, And Thou wert Martin Engelbrodde." 66 Mit drei verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten des Universalisierbarkeitspostulats hat sich Mackie, Ethics, S. 83-102 auseinandergesetzt: "the first stage rules out as irrelevant only the numerical difference between one individual and another; the second stage rules out generic differences ... ; the third stage rules out differences which answer to particular tastes, preferences, values, and ideals."; ebenda, S.97. 67 Vgl. Sen, Collective Choice, S. 150; Harsanyi, Maximin-Principle, S. 50. 68 Vgl. Hare, Moral, S. 218 ff.; ders. Freiheit und Vernunft, S. 18 ff. 69 Vgl. Hare, Freiheit und Vernunft, S. 45ff. 70 Vgl. hierzu Sen, Collective Choice, S. 133. 71 Von Kutschera, Ethik, S. 33 weist auf logische Schwierigkeiten hin, die bei der Wahl pathologischer Prädikate auftreten können. Sen, Collective Choice, S. 133 sieht in der Formulierung Hares einen Verstoß gegen Humes Gesetz ("No ought from an is!"): "two states being factually exactly the same (a fact) seems to imply that they are equally good (a

C. Formale Gerechtigkeit als Regelhaftigkeit

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zwei gleiche Situationen vorliegen können. Wird gleich im Sinne von Definition ID verstanden, so gäbe es keine zwei gleiche Situationen, denn stets würden mindestens Unterschiede in Raum oder Zeit bestehen. Im Sinne von Definition GL kann es gleiche Situationen geben. Das Postulat impliziert dann aber ein Werturteil hinsichtlich der Eigenschaften, bezüglich denen die Gleichheit zu definieren ist. Denn würden alle denkbaren Eigenschaften für geeignet gehalten, eine Unterscheidung zu begründen, so müßte eine entsprechende Vielzahl von Klassen eingeführt werden. Damit würde gegen den Sinn des Postulats, daß ein moralisches Urteil für alle Individuen gelten muß, verstoßen. Ein auf Arrow zurückgehendes Argument weist ferner auf methodische Grenzen atomistischer Klassifikation hin: "value judgments may equate empirically distinguishable phenomena, but they cannot differentiate empirically indistinguishable states".72 Eine mögliche Lösung des Gleichheitsproblems, die den Sinn des Universalisierbarkeitspostulats nur gering einschränkt, wird von Sen angeführt13 : Wenn x und y im Sinne von Definition GL gleich sind hinsichtlich der Eigenschaft P, ungleich hinsichtlich der Eigenschaft Q, und wenn das in Frage stehende Urteil unabhängig von der Eigenschaft Q ist, dann liegt Gleichheit im Sinne des Universalisierbarkeitspostulats vor. Die Differenz zu Definition GL liegt also in der Unabhängigkeitsforderung. Das Universalisierbarkeitspostulat ist eine sehr starke Forderung an moralische Urteile. Verschiedentlich ist versucht worden, die Forderung der Universalisierbarkeit abzuschwächen.74 So ersetzen Rarsanyi 75 im Rahmen seiner utilitaristischen Moraltheorie und Rawls 76 im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie die Forderung der interpersonellen Permutation durch die Bedingung, daß das Urteil in einer Situation zu fällen ist, in der der Urteilende seine eigene Position in den betrachteten gesellschaftlichen Zuständen nicht kennt. Für juristische Urteile geht auch Rare davon aus, daß sie - im Gegensatz zu den übrigen moralischen Urteilen - im strengen Sinne nicht universalisierbar sind. "Sie sind es deshalb nicht", sagt Rare, "weil in einem Rechtssatz stets ein impliziter Bezug auf das jeweilige Rechtssystem vorhanden ist".77 Steuerhintervalue judgement)". Hare, Freiheit und Vernunft, S. 128 und S.209 bestreitet dies. Stegrnüller, Interrelations, S. 56 hält Hares System für inkonsistent: "One cannot have both: Hume's law and universalizability as a logical principle. This is why Hare's system, presumably, is inconsistent." 72 Arrow, Social Choice, S. 112. 73 Sen, Collective Choice, S. 134. 74 Vgl. Sen, Collective Choice, S. 135. 75 Harsanyi, Morality, S. 39ff. 76 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, z. B. S.34ff. 77 Hare, Freiheit und Vernunft, S. 50.

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2. Kap.: Formale Gerechtigkeit

ziehung ist gesetzlich verboten würde demnach implizit bedeuten: Steuerhinterziehung ist in (z. B.) Deutschland gesetzlich verboten. Da Deutschland ein singulärer Ausdruck ist, kann der Satz nicht universell sein. Dagegen ist das moralische Urteil: Steuern dürfen nicht hinterzogen werden universell, da kein Bezug auf ein einzelnes Rechtssystem vorliegt.

Drittes Kapitel

Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem Formale Gerechtigkeit setzt, will sie überhaupt Anwendung finden, eine gegebene materiale Rechtsregel, also gewöhnlich eine bedingte Norm, voraus. Schon Perelman stellte zutreffend fest: "this principle cannot be applied, in concrete cases, without the intervention of value judgements".! Die bisherige nur formale Analyse kann keine inhaltlich bedeutsamen Normen begründen; sie beschränkt sich auflogische Folgebeziehungen zwischen Normen. Wie können Normen gerechtfertigt werden? Eine scheinbare Möglichkeit besteht im Rückgriff auf allgemeinere, in der Wertehierarchie höher stehende Werte, aus denen die niedrigeren Werte ableitbar sind.2 Damit ist das Problem nur verschoben, nicht gelöst: Auch die an der Spitze der Hierarchie stehenden Werte bedürfen einer Begründung. In dieser Arbeit wird Ethik als Teil der Entscheidungstheorie begriffen.3 Der entscheidungstheoretische Gedanke wird - nachdem geklärt ist, wie sich Rationalität und Gerechtigkeit zueinander verhalten - in zwei Formen aufgegriffen. Zum einen werden die von Rawls, Harsanyi und Suppes entwickelten Entscheidungsverfahren dargestellt und direkt auf die Wahl von beispielhaften Steuerverteilungsprinzipien angewendet (Drittes Kapitel). Bei diesem Vorgehen gilt ein Steuerverteilungsprinzip als material gerecht, wenn die Entscheidungsträger in einer noch näher zu bestimmenden hypothetischen Entscheidungssituation dieses Prinzip wählen würden. Dies bedeutet, die Ausführung eines Gedankenexperiments - Wahl in einer hypothetischen Situation - entscheidet über die Frage der materialen Gerechtigkeit eines Steuerverteilungsprinzips.4 Dieses Vorgehen steht teilweise im Gegensatz zur Ansicht Rawls, der die Anwendung seines Entscheidungsverfahrens auf die Wahl der grundlegenden gesellschaftlichen Gerechtigkeitsgrundsätze einschränkt. 5 Perelman, Justice, S. 99. So vertritt Perelman, Gerechtigkeit, S. 132 die Ansicht, "daß eine Regel in dem Maße gerecht ist, ... als sie mit Hilfe allgemeinerer Prinzipien gerechtfertigt werden kann". 3 Wie hier auch Harsanyi, Morality, S.42ff.; ähnlich auch Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 33, nach dem die Theorie der Gerechtigkeit der vielleicht wichtigste Teil der Theorie der rationalen Entscheidungen ist. 4 Vgl. über eine Entscheidung durch Ausführung eines Gedankenexperiments auch Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 35. 1

2

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3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

Zum anderen wird untersucht, ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen sich vernünftig handelnde Menschen in der hypothetischen Situation für eine Steuerverteilung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip entscheiden würden. Dies zu untersuchen bedeutet, der Frage nachzugehen, ob die Steuerverteilung nach der Leistungsfähigkeit als material gerecht im Sinne der entscheidungstheoretischen Gerechtigkeitsinterpretation gelten kann (Viertes Kapitel). Schließlich ist zu untersuchen, welcher Einkommensbegriff aus entscheidungstheoretischer Sicht bevorzugt wird (Fünftes Kapitel).

A. Rationalität und Gerechtigkeit Bereits die klassischen Rationalisten behandelten ethische Probleme unter Vernunftgesichtspunkten. Der Kern des auf Descartes zurückgehenden, von Spinoza, Leibniz und Christian Wolff weitergeführten klassischen Rationalismus liegt in der Ansicht, daß die Vernunft das alleinige Erkenntnisprinzip sei.6 Die Erkenntnislehre des klassischen Rationalismus geht davon aus, daß die Wahrheit immer schon gegeben, aber möglicherweise verborgen ist, so "daß man nur die Augen aufzumachen braucht", wie Popper sagt, "um sie zu schauen".7 Albert bezeichnet diese Auffassung als das Offenbarungsmodell der Erkenntnistheorie.8 "Die ganze Methode besteht", schreibt Descartes, "in der Ordnung und Disposition dessen, worauf sich der Blick des Geistes richten muß, damit wir eine bestimmte Wahrheit entdecken"? Auch die Gerechtigkeitsfrage ist nach klassischer Auffassung nach diesem Erkenntnismodell zu lösen: Das Recht ist immer schon vorhanden, kann allenfalls noch nicht in unser Blickfeld gekommen sein, bedarf deshalb der vernunftgeleiteten Entdeckung. Dies ist die Position des Vernunft- oder Naturrechts, "nach der es bestimmte Prinzipien des menschlichen Verhaltens gibt, die von der menschlichen Vernunft nur entdeckt werden müssen und mit denen das Recht übereinstimmen muß, wenn es gültig sein soll".10 5 VgI. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S.182. Ferner Scanton, Rawls' Theory, S. 191 f.: "Rawls' Principles apply to particular distributions only indirect1y: a distribution may be called just if it is the result of just institutions working properly, but the principles provide no standard for appraising the justice of distributions independent of the institutions effecting them." 6 Ayer, Language, S. 98 referiert die klassische Position sehr treffend: "the fundamental tenet of rationaIism is that thought is an independent source of knowledge, and is moreover a more trustworthy source of knowledge than experience; indeed some rationalists have gone so far as to say that thought is the only source of knowledge". VgI. ferner Albert, Traktat, S. 21 ff.; Raphael, Moral Philosophy, S. 18 ff. 7 Popper, Conjectures and Refutationes, zitiert nach Albert, Traktat, S. 15f. 8 Albert, Traktat, S. 15 f. 9 Descartes, Regeln, S. 33 (Regel V). 10 Hart, Begriff des Rechts, S. 256. VgI. auch Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 93 ff.

A. Rationalität und Gerechtigkeit

59

Diese Ansicht gründet auf einer metaphysischen Voraussetzung: Sie unterstellt, daß das menschliche Zusammenleben von Natur aus gerecht geordnet ist. Anderenfalls wäre das Bemühen um die Entdeckung gerechter Gesetze menschlichen Zusammenlebens von vornherein vergebens. Wird diese metaphysische Voraussetzung als nicht mehr hinterfragbarer letzter Grund angesehen, so wäre der archimedische Punkt 11 der Begründungskette gefunden. Aber selbst das Infragestellen dieser metaphysischen Voraussetzung löst nicht das Begründungsproblem. "Wenn man für alles eine Begründung verlangt", sagt Albert - der auf Leibniz zurückgehende Satz vom zureichenden Grunde verlangt dies aus der Sicht des klassischen Rationalismus -, "muß man auch für die Erkenntnisse, auf die man jeweils die zu begründende Auffassung ... zurückgeführt hat, wieder eine Begründung veriangen"P Ein nicht lösbarer infiniter Begründungsregreß, der nur abgebrochen werden kann, entsteht.13 Die Voraussetzung des von Natur aus gerecht geordneten menschlichen Zusammenlebens wird, wie man sie auch wendet, zu einer nicht begründbaren Überzeugung, einem Dogma. Damit endet an diesem Punkt das begründende Denken. 14 Albert zieht die Konsequenz aus dem Dilemma, daß es gesichertes, sich auf letzten Gründen stützendes Wissen nicht geben kann, und ersetzt die Begründungsidee durch die Idee der kritischen Prüfung, der kritischen Diskussion aller in Frage kommenden Aussagen mit Hilfe rationaler Argumente. "Dann", so sagt Albert, "verzichtet man zwar auf selbstproduzierte Gewißheiten, hat aber die Aussicht, durch Versuch und Irrtum - durch versuchsweise Konstruktion prüfbarer Theorien und ihre kritische Diskussion an Hand relevanter Gesichtspunkte - der Wahrheit näher zu kommen, ohne allerdings jemals Gewißheit zu erreichen" (kritischer Rationalismus).15 Aus der Sicht des kritischen Rationalismus sind Normen nicht als Dogmen aufzufassen, sondern als vorläufig geltende Regelungen, die jederzeit durch eine als besser erkannte Regelung ersetzbar sind. 16 Hierin liegt die Differenz zwischen dem kritischen und dem klassischen Rationalismus. Von dieser Vgl. hierzu Albert, Traktat, S. 8 ff. Albert, Traktat, S. 13. 13 Vgl. zum Abbruch des Begründungsregreß auch Albert, Traktat, S. 13 ff. 14 Zur Widerlegung des (Grund-)Satzes: de principiis non disputandum vgl. Albert, Traktat, S. 13 ff. IS Albert, Traktat, S. 35. 16 Albert, Traktat, S. 75 behandelt ethische Aussagen und Aussagensysteme als Hypothesen; ders., Praxis, S.36: Wer die Kritik am klassischen Begründungsdenken "ernst nimmt und überdies die zeitliche Dimension und damit den Entwicklungsaspekt des Wissenaufbaus berücksichtigen möchte, wird für eine rationale Erkenntnispraxis einen in einem bestimmten Sinne dialektischen Denkstil bevorzugen, der es erlaubt, jede Problemlösung als Hypothese zu behandeln und damit auch sogenannte l.:tzte Voraussetzungengleichgültig, ob es sich um Aussagen, Ziele oder Normen handelt - in Frage zu stellen, und zwar dadurch, daß man einen Kontext wählt, der ihre kritische Beurteilung erlaubt." 11

12

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3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

Position her folgt für das Problem materialer Gerechtigkeit zweierlei: Erstens, von der Idee, Gerechtigkeitsprinzipien würden sich durch Anwendung klassischer rationaler Methoden entdecken lassen, muß Abschied genommen werden. Gibt es keine letztgültigen, sondern nur vorläufig geltende Gerechtigkeitsprinzipien, so kann auch nur die Frage entstehen, ob ein Gerechtigkeitsgrundsatz gerechter als ein anderer ist. Das Konzept der materialen distributiven Gerechtigkeit muß daher in komparativen Begriffen entworfen und als Relation ist gerechter als definiert werden.17 Zweitens, die Frage, wann ein Prinzip gerechter ist als ein anderes, kann nicht mit den Methoden des klassischen Rationalismus entschieden werden. Gewisse Fortschritte bei der Lösung dieser Frage gelingen, wenn die Theorie des rationalen Verhaltens angewendet wird, wenn also Gerechtigkeitsprinzipien entscheidungstheoretisch begründet werden. lB

B. Anwendung der Entscheidungstheorie auf die Wahl von Steuerverteilungsprinzipien Die Lösung der Gerechtigkeitsfrage und der damit verbundenen Frage gerechter Steuerverteilungsprinzipien kann als Entscheidungsproblem gedacht werden. Bei dieser Auffassung wird die Gerechtigkeitsfrage entscheidungstheoretisch interpretiert: Der Aktionsraum besteht aus alternativ möglichen Gerechtigkeitsregeln, der Zustandsraum aus den verschiedenen Positionen, die der Entscheidungsträger innerhalb der sozialen Hierarchie einnehmen kann. Stellt man sich den Zustandsraum aufsteigend geordnet vor, so reicht er vom Boden (worst-off individual) bis zur Spitze (best-off individual) der sozialen Pyramide. Im Schnittpunkt von Gerechtigkeitsregel und sozialer Position liegen die Ergebnisse, die der Entscheidungsträger für sich erwarten kann, falls sich diese Konstellation realisiert. Das Entscheidungsverfahren geht von einer hypothetischen Entscheidungssituation aus, die durch Einführung geeigneter Voraussetzungen entweder als Risiko- oder als Ungewißheitssituation aufgemacht ist. In dieser hypothetischen Situation müssen sich die Entscheidungsträger für Steuerverteil ungsprinzipien entscheiden. 17 Vgl. hierzu Suppes, Grading Principles, S. 296, der zeigt, wie eine solche Relation definiert werden könnte. Auch Perelman, Justice, S. 91 sieht für das allgemeine Problem materialer Gerechtigkeit keine endgültige Lösungsm'öglichkeit: "determing the rule to which it is just to conform ... poses a problem which cannot be solved in any way that is absolute". Allerdings folgert er aus dieser Situation keinen Entwurf der Gerechtigkeit in komparativen Begriffen. 18 Nagel, Rawls on Justice, S. 1 faßt bei der Besprechung der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie den auf einer Parallele zwischen individueller und sozialer Entscheidung beruhenden Ansatz treffend zusammen: "The aim is to provide a way oftreating the basic problems of social choice, for which no generally recognized methods of precise solution exists, through the proxy of a specially constructed parallel problem of individual choice, which can be solved by the more reliable intuitions and decision procedures of rational prudence."

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

61

Hinsichtlich der Voraussetzungen, die die hypothetische Entscheidungssituation kennzeichnen, besteht in der Literatur ein gewisser Grundkonsens. Dagegen haben sich zur Frage, welches Entscheidungskriterium in dieser Situation anzuwenden sei, zwei unterschiedliche Richtungen entwickelt: Die an Locke, Rousseau und Kant anknüpfende vertragstheoretische Richtung 19 , deren gegenwärtiger Hauptvertreter der Harvard-Philosoph John Rawls ist, und die von Bentham, John Stuart Mill, Sidgwick und Edgeworth vorgezeichnete utilitaristische Richtung 20 , deren gegenwärtiger Hauptvertreter der BerkeleyÖkonom John C. Harsanyi ist. Rawls begründet die Entscheidung in der hypothetischen Situation auch - aber nicht allein - mit der Maximin-Regel, Harsanyi wendet dagegen das Kriterium der Risikonutzen-Maximierung an. Beide Entscheidungskriterien erfüllen nicht - wie bereits im ersten Kapitel ausgeführt wurde - sämtliche von Milnor geforderten Rationalitätsbedingungen. I. Vertragstheorie mit Maximin-Lösung 1. Die Rawlssche Grundidee

Rawls legt eine Theorie vor, die er als Alternative zum Utilitarismus versteht. Bereits in seinen Grundentscheidungen geht er einen vom Utilitarismus abweichenden Weg: Seine Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß21 begreift das Rechte nicht als Maximierung des Guten, wie der Utilitarismus (teleologische Theorie). Vielmehr definiert Rawls das Rechte unabhängig vom Guten (deontische Theorie) .22 "Natürlich", sagt Rawls, "könnte auch das meiste Gute hervorgebracht werden, doch das wäre ein Zufall."23 Rawls verwendet nicht explizit die Relation ist gerechter als. Doch seine Ausführungen laufen auf ein jederzeit revidierbares Gerechtigkeitsverständnis hinaus. "Auch wenn die von mir ausgeführte Begründung nicht stichhaltig ist", meint Rawls im Schlußkapitel seines Buches, "zeigt sie nur, daß eine endgültig beste Theorie (falls es eine solche gibt) der Vertragstheorie stärker ähneln dürfte 19 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 12 und S. 27f. Zu den Steuerverteilungsprinzipien der vertragstheoretischen Klassiker vgl. Weston, Taxation, S.76-85; sie gründeten "their principles oftaxation solely upon the idea of proteetion"; ebenda, S. 85. 20 Vgl. Harsanyi, Morality, S. 40. Zu den Steuerverteilungsprinzipien der utilitaristischen Klassiker vgl. Weston, Taxation, S. 98 -1 06; Mill forderte "equality of sacrifice". 21 Auf die Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller Gerechtigkeitsvorstellung wird hier nicht näher eingegangen; vgl. im einzelnen Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 83; Daniels, Introduction, S. xxvi f. 22 Vgl. Stegmüller, Interrelations, zum BegriffS. 57, zum Zweifel an der Konzeption S. 76. Eingehend setzt sich Frankena, Analytische Ethik, S. 32ff. mit den Unterschieden zwischen teleologischen und deontologischen Theorien auseinander. In seiner Sprechweise ist Rawls ein Regeldeontologe. 23 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 48f.

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3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

als jeder anderen von uns betrachteten Theorie".24 Auch ist bisher nicht versucht worden, mit Hilfe der Rawlsschen Methodik eine Quasireihe für den Begriff gerecht einzuführen, die mehr als zwei Komponenten enthält. Gemäß seiner vertragstheoretischen Grundposition stellt sich Rawls vor, die Entscheidungsträger kämen in einer hypothetischen Entscheidungssituation, Urzustand (original position) genannt, zusammen, um die Grundregeln der Gesellschaft auszuhandeln.2 s Rawls verwendet den Begriff Urzustand auf verschiedene Weise. Zum einen als analytisches Instrument: das empirische Geflecht der Gesellschaft wird durch die Abstraktion Urzustand ersetzt.26 Der analytische Aspekt braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden. Zum anderen, und das ist der hier allein interessierende Aspekt, als Rechtfertigungsverfahren: 27 die den Urzustand ausmachenden Voraussetzungen sind gerade so zugeschnitten, daß die Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze hieraus folgen. Eine andere Konkretisierung des Urzustands führt zu anderen Gerechtigkeitsgrundsätzen 28 . Wer also die Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze nicht akzeptiert, muß zeigen, daß sie auf unvernünftigen Voraussetzungen beruhen. Rawls wählt, um seine Gerechtigkeitsgrundsätze konsensfähig zu machen, Voraussetzungen, die je für sich genommen natürlich und einleuchtend bzw. trivial sein sollen.29 Zwepo entscheidende Voraussetzungen seien näher betrachtet.31 Zunächst geht Rawls von einer einfachen, durch das Ordinalprinzip abgedeckten Zweck-Mittel-Rationalität aus und lehnt die Anwendung nicht-objektiver Wahrscheinlichkeiten strikt ab.32 Diese Voraussetzung ist problematisch. Sie 24 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 631; vgl. ferner die Rawlsschen Ausführungen zur Rangordnung konkurrierender Ansprüche: "Wird etwa eine Form der Grundstruktur als gerechter denn eine andere eingestuft, und diese als gerechter denn eine dritte, dann sollte auch die erste als gerechter denn die dritte gelten"; ebenda, S. 157. 25 Deontische Theorie, Vertragstheorie und Urzustand machen zusammen mit einem liberalen Menschenbild die Grundidee des Rawlsschen Ansatzes aus: "This is the striking claim that principles of justice do not rest on mere intuition yet are not to be derived from utilitarian principles or any other teleological theory holding that there is some form of good to be sought and maximized. Instead, the principles of justice are to be conceived as those that free and rational persons concerned to further their own interests would agree should govern their forms of social life and institutions if they had to choose such principles from behind a vei! 0/ ignorance", faßt Hart, Rawls on Liberty, S.231 den Rawlsschen Ansatz zusammen. 26 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 19. 27 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S.34ff. Eine ausführliche, kritische und sich deutlich vom übrigen Schrifttum abhebende Analyse des Urzustands liefert Nagel, Rawls on Justice. Er kommt zu dem Ergebnis: "the original position serves to model rather than to justify" (S. 15). 28 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 143. 29 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 35. 30 Eine Zusammenfassung der insgesamt zwölf Voraussetzungen findet sich bei Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S.169-171. 31 Vgl. auch Stegmüller, Interrelations, S. 61.

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

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nimmt die Erkenntnisse der Theorie subjektiver Wahrscheinlichkeiten nicht zur Kenntnis. Harsanyi hat gezeigt, daß die Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze deshalb in bestimmten Fällen zu unvernünftigen ethischen Entscheidungen führen. 33 So dann dürfen die Entscheidungsträger bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze bestimmte Kenntnisse über ihre persönlichen Umstände nicht verwerten. Die Wahl findet unter einem Schleier des Nichtwissens statt (veil of ignorance). "Dies gewährleistet", schreibt Rawls, "daß dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze ... das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung ... Das rechtfertigt die Bezeichnung ,Gerechtigkeit als Fairneß'''.34 Diese Voraussetzung ist weder natürlich noch auf den ersten Blick einleuchtend35 • Es bedarf weiterer Überlegungen, um sie als sinnvoll zu erkennen. So könnte die Ansicht vertreten werden, die Entscheidungsträger würden vernünftig handeln, wenn sie ihr gesamtes Wissen, nicht nur einen Teil, in die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen einbringen würden. Diese Ansicht trifft auf individuelle, nicht-ethische Entscheidungen auch zu. Die Differenz zwischen individueller, nicht-ethischer und ethischer Entscheidungssituation liegt gerade darin, daß letztere nicht von Eigeninteressen bestimmt werden darf.36 Genau dies stellt der Schleier des Nichtwissens sicher. 2. Die entscheidungstheoretische Entwicklung

Es verbleibt aufzuzeigen, daß das Rawlssche Rechtfertigungsverfahren eine entscheidungstheoretische Struktur hat. Dazu soll nachgewiesen werden, daß das Verfahren die einzelnen Elemente des Entscheidungsmodells - Aktionsraum, Zustandsraum, Ergebnisraum, Ergebnisfunktion und Präferenzrelation - in sich trägt. Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 166 f. Vgl. Harsanyi, Maximin-Principle, S. 46ff. 34 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 29. Harsanyi, Maximin-Principle, S. 40 faßt die Essenz des Urzustands sehr treffend zusammen: "the whole point about the concept ofthe original position is to imagine a number of individuals ignorant of their personal circumstances and then to assume that under these conditions ofignorance they would act in a rational manner, i.e., in accordance with some decision rule which consistently leads to reasonable decisions under ignorance and uncertainty". Ähnlich auch Sen, Collective Choice, S. 135 f. 35 Auch Nagel, Rawls on Justice, S.7f. hält allgemein die Voraussetzungen des Urzustands für problematisch. Seine Vorbehalte kulminieren in der Feststellung: "the situation thus constructed may not be fair". 36 Mit Nagel, Rawls on Justice, S.7 läßt sich auch sagen: "Every thing else ... is covered with a thick veil of ignorance on the ground that it is morally irrelevant". 32 33

64

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

Sollen zunächst die beiden unproblematischen Elemente Präferenzrelation und Ergebnisfunktion abgehandelt werden. Der Gedanke der Präferenzrelation ist bei Rawls nicht sehr stark entwickelt. Er geht jedoch von Entscheidungsträgern aus, die von den durch ihre Zusammenarbeit erzeugten Gütern lieber mehr als weniger haben möchten.37 Diese Annahme impliziert die Existenz einer konnexen und transitiven Präferenzrelation. Eine Ergebnisfunktion ordnet jedem geordneten Paar, bestehend aus einer Aktion als erster und einem Zustand der Welt als zweiter Komponente, ein Ergebnis zu. Genau dies leistet auch eine Ergebnismatrix; Ergebnisfunktion und Ergebnisrnatrix sind hier äquivalent. Somit kann die Existenz einer Ergebnisfunktion durch Aufstellen der Ergebnismatrix nachgewiesen werden. Dies ist nachfolgend zu zeigen. Zwischen welchen Aktionen kann der Entscheidungsträger im Urzustand wählen? Im Idealfall wären alle überhaupt nur denkbaren Gerechtigkeitsvorstellungen zulässige Aktionen. Damit wäre das Entscheidungsproblem aber nicht hinreichend genau bestimmt. Rawls stellt deshalb eine fünfzehn verschiedene Gerechtigkeitsgrundsätze umfassende Liste auf.38 Auf dieser Liste konkurrieren die Rawlsschen Grundsätze beispielsweise mit dem utilitaristischen Prinzip der Durchschnittnutzenmaximierung. Die Liste wird den Vertragsparteien vorgelegt, die sich einstimmig auf eine Gerechtigkeitsvorstellung einigen müssen.39 Rawls behauptet, die Entscheidungsträger werden im Urzustand nicht das utilitaristische Prinzip der Durchschnittnutzenmaximierung, sondern die von ihm entwickelten Prinzipien als Gerechtigkeitsgrundsätze wählen: ,,1. Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das for alle möglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaf fen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen."40

Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz ist dem zweiten lexikalisch vorgeordnet, d. h. Grundsatz 2. kommt erst zum Tragen, wenn Grundsatz 1. voll erfüllt ist;41 sog. Vorrang der Grundfreiheiten. Die Grundfreiheiten können nur um der Freiheit willen, und auch dann nur in besonderen Fällen, eingeschränkt werden.42 Aber auch die beiden Teile des zweiten Grundsatzes sind lexikalisch Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 20. Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 146f. zum genauen Listeninhalt. 39 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 162ff. 40 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 336. 41 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 62. Ausführlich zum Vorrangsproblem bei konkurrierenden Gerechtigkeitsgrundsätzen, ebenda, S. 60 - 65. 42 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 336 und S. 283. 37

38

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

65

geordnet. Teil (b) - faire Chancengleichheit - ist Teil (a) - Unterschiedsprinzip - vorgeordnet.43 Der erste Grundsatz sichert jedermann zwar Grundfreiheiten, andererseits aber auch nicht mehr, also nicht etwa jegliche Freiheiten. Zu den Grundfreiheiten zählt Rawls die politische Freiheit, die Rede- und Versammlungsfreiheit, die Gewissens- und Gedankenfreiheit, die Unverletzlichkeit der Person, das Recht auf persönliches Eigentum und den Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft.44 Der Vorrang der Freiheit vor den anderen gesellschaftlichen Grundgütern 45 beruht bei Rawls auf folgender Überlegung: Ist in einer Gesellschaft ein befriedigender Lebensstandard erreicht, so werden selbst die am wenigsten Begünstigten ein Mehr an persönlicher Freiheit einem Mehr an den übrigen gesellschaftlichen Grundgütern vorziehen. Diese Überlegung machen sich auch die Entscheidungssubjekte im Urzustand zu eigen. Sie lehnen, ein befriedigender Lebensstandard vorausgesetzt, eine Aufrechnung weniger persönlicher Grundfreiheiten mit mehr gesellschaftlichen Grundgütern ab. Denn: "The increasing preference for these liberties ... can be seen as deriving in part from the fact that they represent important conditions for the use and enjoyment of other goods. "46 Dem Rawlsschen Gedanken der increasing preference for liberties liegt wiederum eine bestimmte Vorstellung über die psychische Struktur der Entscheidungsträger zugrunde, die ebenso wie die der Freiheit in der Rawlsschen Theorie zukommende Rolle einer gründlichen Untersuchung bedürfte. Dies muß hier im Hinblick auf das Untersuchungsziel Steuergerechtigkeit unterbleiben. Ansätze zu einer solchen Untersuchung finden sich bei Hart 47 und Daniels. 48 Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist die Rawlssche Lösung des Problems distributiver Gerechtigkeit.49 Der zweite Grundsatz läßt, anders als der erste, Ungleichheiten zu. Rawls fordert also gleiche Grundfreiheiten für jedermann, läßt aber andererseits eine ungleiche Verteilung der übrigen gesellschaftlichen Grundgüter unter bestimmten Bedingungen zu. 50 Für die Frage gerechter Steuerverteilungsprinzipien, wie sie hier formuliert wurde, können Teile des zweiten Grundsatzes unbeachtet bleiben. So ist der Satzteil unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes vor dem Hintergrund zu sehen, daß "the maximization of the income of the worst-off Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 337. Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 82. 45 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 111 f. Grundgüter werden im Fortgang der Arbeit noch eingehend besprochen. 46 Scanlon, Rawls' Theory, S. 185. 47 Hart, Rawls on Liberty, S. 230-252. 48 Daniels, Equal Liberty, S. 253-281. 49 Vgl. Scanlon, Rawls' Theory, S. 170. 50 Vgl. Nagel, Rawls on Justice, S. 3. 4J

44

5 Walzer

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3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

section ofthe population might entail spending nothing on investment and this would make the next generation worse offthan the current one".51 Dies ist eine Betrachtung über die Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Generationen. Sie übersteigt die hier verfolgte Frage der gerechten Verteilung eines vorgegebenen Steueraufkommens insoweit, wie der gerechte Spargrundsatz die Höhe des jährlichen Steueraufkommens und der damit verbundenen gesellschaftlichen Investitionen selbst zum Problem macht. Nach dem zweiten Teil des zweiten Grundsatzes müssen soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen. Der tragende Gedanke ist hier, Ämter und Positionen nicht nur in einem formalen Sinne offen zu halten. Jedem muß auch eine gleiche Chance eingeräumt werden, sie zu erlangen. 52 "Menschen mit gleichen Fähigkeiten und gleicher Bereitschaft, sie einzusetzen", sollen, so führt Rawls aus, "gleiche Erfolgsaussichten haben".53 Dies unabhängig von der sozialen Schicht, in die diese Menschen hineingeboren wurden. 54 Auch der Grundsatz der fairen Chancengleichheit ist für die Frage gerechter Steuerverteilungsprinzipien nicht von direkter Bedeutung; eine ausführliche Erörterung kann deshalb unterbleiben. 55 Werden die Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes und die faire Chancengleichheit außer acht gelassen, reduziert sich der zweite Rawlssche Gerechtigkeitsgrundsatz auf das sog. Unterschiedsprinzip: Soziale und wirt-

schaftliche Ungleichheiten müssen den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen. 56 Das Unterschiedsprinzip läßt zwar Ungleichheiten in der

Verteilung wirtschaftlicher und sozialer Grundgüter zu, setzt aber voraus, daß dadurch die Aussichten der am wenigsten Begünstigten verbessert werden. Nach Rawls "sind die besseren Aussichten der Begünstigten genau dann gerecht, wenn sie zur Verbesserung der Aussichten der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft beitragen".57 In diesem Konditionalsatz scheint sich der Angelpunkt der Rawlsschen Theorie widerzuspiegeln: Niemand hat seine besseren natürlichen Fähigkeiten oder seinen aufgrund der Geburt besseren Startplatz in der Gesellschaft verdient. Deshalb können diese beiden Tatsachen auch keine Vorteile rechtfertigen. Wird das Ziel verfolgt, ein Gesellschaftssystem so zu gestalten, daß "niemand von seinem zufälligen Platz in der Verteilung 51

Barry, Liberal Theory, S. 43.

52 Vgl. Scanlon, Rawls' Theory, S. 192. 53 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 93.

Vgl. Scanlon, Rawls' Theory, S. 192. Vgl. zur Diskussion der fairen Chancengleichheit Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S.92-94. 56 Es wird davon ausgegangen, daß ein intuitives Vorverständnis darüber vorhanden ist, was unter wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zu verstehen ist. Vgl. hierzu Barry, Liberal Theory, S. 43ff. 57 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 96. 54 55

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

67

der natürlichen Gaben oder seiner Ausgangsposition in der Gesellschaft Voroder Nachteile hat, ohne einen Ausgleich zu geben oder zu empfangen",58 so ist das Unterschiedsprinzip ein mögliches Mittel zur Zielerreichung. Denn: Gehöre ich zu den aufgrund Geburt oder Begabung Bevorteilten, so muß ich nach dem Unterschiedsprinzip von meinem Mehr an gesellschaftlichen Grundgütern den Nicht-Bevorteilten abgeben. Gehöre ich dagegen zu den Nicht-Bevorteilten, so bekommen die aufgrund Geburt oder Begabung Bevorteilten nur dann ein Mehr an gesellschaftlichen Grundgütern, wenn ich davon ebenfalls einen Teil empfange. Diese Konstruktion ruft die Frage hervor, ob das Unterschiedsprinzip die Nicht-Bevorteilten begünstige. 59 Rawls betont dagegen den Grundsatz des gegenseitigen Vorteils, der im Unterschiedsprinzip liege.60 Die Bevorteilten seien durch ihre Besserstellung, auf die sie anfänglich keinen Anspruch hatten, bereits mit gesellschaftlichen Grundgütern abgegolten. Dies erkennen die Bevorteilten. Sie akzeptieren aus Vernunftsgründen das Unterschiedsprinzip als eine faire Grundlage für die Regelung der gesellschaftlichen Grundstruktur.61 Es ist zweifelhaft, ob dieses Argument zutrifft. Ein von Natur aus Begabter wird schwerlich seine Begabung bereits durch die Begabung selbst als abgegolten ansehen. Hier ist ein Argument aus der Theorie des Arbeitsmarktes überzeugender: Begabte müssen durch höheres Arbeitsentgelt dazu gebracht werden, entsprechend höher qualifizierte Arbeitsstellen zu besetzen. Ein durchgreifendes Argument für die Akzeptanz des Unterschiedsprinzips auch durch von Natur aus Begabte ergibt sich aus dem Urzustand. Der Begabte weiß nicht, daß er begabt ist und wird deshalb für das Unterschiedsprinzip votieren. Von welchen Zuständen der Welt gehen die Entscheidungsträger im Urzustand aus? Rawls geht auf den Zustandsraum nicht explizit ein. Aus seiner Beschreibung des Urzustands ergibt sich dieser jedoch mühelos. Wenn die Entscheidungsträger aufgrund des Schleiers des Nichtwissens weder ihren Platz in der Gesellschaft noch ihre natürlichen Gaben oder die Besonderheiten ihrer Psyche und auch nicht ihre Vorstellung vom Guten oder Einzelheiten ihres Lebensplanes kennen,62 dann ergibt sich der Zustandsraum aus der Vielzahl der logisch möglichen Verknüpfungen dieser verschleierten Tatsachen. Insbesondere wird jeder Entscheidungsträger überlegen, welche Rolle er in der von einer Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 123. So soll Nagel nach Ansicht von Daniels, Introduction, S. xxvii gegen das Unterschiedsprinzip einwenden: "that sacrifices by the best-off for the worst-off reflected a bias". (j() Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 123. Ähnlich Scanlon, Rawls' Theory, S. 204f., der im Gegensatz zu Nagel meint, in der Rawlsschen Theorie gilt: "the basic institutions of society are a cooperative enterprise in which the citizens stand as equal partners". 61 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 124. 62 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S.160f. zu weiteren Einzelheiten über verschleierte Tatsachen. 58

59

68

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

bestimmten Gerechtigkeitsregel geprägten Gesellschaft wohl einnähme, bevor er sich für diese Regel entscheidet. Weiterhin ist zu untersuchen, wie der Ergebnisraum der Rawlsschen Theorie aussieht. Nach den Ausführungen zum Aktions- und Zustandsraum ist klar, daß sich eine Ergebnismatrix aufstellen läßt, deren Elemente noch zu bestimmen sind. Im entscheidungstheoretischen Grundmodell werden die Elemente der Ergebnismatrix in ordinalen oder kardinalen Nutzengrößen gemessen. Von dieser Position rückt Rawls bewußt ab. Nutzengrößen verdecken nach seiner Ansicht nur die wirklich zu maximierenden Rechte, Freiheiten, Chancen sowie Einkommen und Vermögen und schließlich das Selbstwertgefühl.63 Für diesen Maximanden prägt Rawls den Begriff Grundgüter (primary goods).64 Den Grundgütern kommt insbesondere die Aufgabe zu, innerhalb der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie interpersonelle Vergleiche zu ermöglichen.6s Wegen der Verschiedenheit der Grundgüter ist die Konstruktion eines Index notwendig, in dem einzelne Grundgüter, die Freiheiten ausgenommen, gewichtet eingehen.66 Die näheren Umstände der Indexkonstruktion läßt Rawls offen.67 Interpersonelle Grundgütervergleiche sind wiederum Voraussetzung dafür, daß das Unterschiedsprinzip anwendbar ist. Ohne interpersonelle Grundgütervergleiche könnten die am wenigsten Begünstigten nicht ermittelt werden, und das Unterschiedsprinzip bliebe inhaltlich unbestimmt. Das Prinzip ist, in den Worten von Sen, nur dann "a well-defined criterion when ordinal interpersonal comparisons can be made to discover who is the worst-offperson".68 Mit Hilfe des Grundgüterkonzeptes läßt sich erklären, wer zu den am wenigsten Begünstigten gehört, nämlich diejenigen, "who have the lowest index of primary goods, when their prospects are viewed over a complete life. "69 3. Das Rawlssche Rechtfertigungsverfahren

Zu zeigen bleibt nur noch, daß die Entscheidungsträger in einer Situation des Urzustands die von Rawls behaupteten Gerechtigkeitsgrundsätze wählen würden. Rawls zeigt zwePO Wege eines Nachweises auf: ÜberlegungsgleichgeVgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 111f. Eine überarbeitete, verständlicher gefaßte Darstellung der Grundgüter liefert Rawls in: Primary Goods, S. 162ff. 65 Vgl. Rawls, Primary Goods, S. 159 und S. 163. 66 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 112 ff. sowie ders., Primary Goods, S. 162. 67 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 114; ders., Primary Goods, S. 163. 68 Sen, Collective Choice, S. 136. 69 Rawls, Primary Goods, S. 164. 70 Hierzu Kern, Diskussionsbeitrag, S. 449 f. 63

64

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

69

wicht (reflective equilibrium) und Entscheidungstheorie.71 Die Anwendung einer Entscheidungsregel auf den Urzustand ist zwar bevorzugter Diskussionsgegenstand der Sekundärliteratur geworden, von Rawls jedoch ursprünglich, jedenfalls expressis verbis, als Hilfsargument gedacht. 72

Das Überlegungsgleichgewicht wird durch einen wechselseitigen Anpassungsprozeß von unterschiedlichen Konkretisierungen des Urzustands mit dem daraus je folgendem System von Gerechtigkeitsgrundsätzen einerseits und wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteilen andererseits abgeleitet. "Wir gehen hin und her" erklärt Rawls sein Vorgehen, "einmal ändern wir die Bedingungen für die Vertragssituation, ein andermal geben wir unsere Urteile auf und passen sie den Grundsätzen an".73 Das Ergebnis dieses wechselseitigen Anpassungsprozesses ist eine Konkretisierung des Urzustands, die sowohl vernünftigen Bedingungen genügt als auch zu Grundsätzen führt, die mit unseren wohlüberlegten Urteilen übereinstimmen. Diesen Zustand nennt Rawls Überlegungsgleichgewicht. Deduktion und moralisches Gefühl führen also im Gleichgewicht zu identischen Gerechtigkeitsgrundsä tzen.74 Das Konzept des Überlegungsgleichgwichts läßt sich als Flußdiagramm darstellen (Abb. 4). Auf die Entscheidungssituation im Urzustand wendet der Entscheidungsträger das Maximinprinzip als Entscheidungsregel an. 75 Die Anwendung der Maximinregel führt zur Wahl der beiden Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze, insbesondere des Unterschiedsprinzips. Dies ergibt sich für Rawls aus der Überlegung, daß der Urzustand drej76 Haupteigenschaften aufweist, die eine Anwendung der Maximinregel plausibel machen: 1. Keine Kenntnis empirischer Wahrscheinlichkeiten. 2. Die Gerechtigkeitsgrundsätze sichern den Entscheidungsträgern ein ausreichendes Minimum an Grundgütern; dieses "möchten die Beteiligten nicht um wirtschaftlicher oder sozialer Vorteile willen antasten".77 3. Die übrigen Gerechtigkeitsgrundsätze der Wahlliste würden zu für die Entscheidungsträger unannehmbaren Ergebnissen führen. Das erste Argument ist durchgreifend und führt auf eine Entscheidungsregel aus der Maximin-Familie. Gegen die Anwendung der Maximinregel sind in der Literatur teilweise Bedenken vorgetragen worden. 78 Inwieweit sind diese Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 38f.; S. 68; S. 71 und S. 142. Nach Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 177 ist es lediglich "heuristisch nützlich, sich die beiden Grundsätze als die Maximin-Lösung des Problems der sozialen Gerechtigkeit vorzustellen". 73 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 38. 74 Hierzu ausführlich Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 65 ff., insbes. S. 68. 75 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 177 ff. 76 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 179 f. 77 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 180. 78 Vgl. z.B. Harsanyi, Maximin-Principle, S. 40ff.; Stegmüller, Interrelations, S. 63f.; Barry, Liberal Theory, S. 87ff. 71

72

70

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

Voraussetzung Konkretisierung des Urzustands

Folgerung aus den Voraussetzungen abgeleitetes System von Gerechtigkeitsgrundsätzen entweder: Voraussetzungen revidieren

Überlegungsgleichgewicht

oder: wohluberlegte Urteile revidieren

Intuition wohlUberlegte Gerechtigkeitsurteile

Abb. 4: Flußdiagramm zum Überlegungsgleichgewicht

begründet? Gegeben sei ein Urzustand in der Rawlsschen Formulierung. Dann ist eine Kritik insoweit unbegründet, wie sie sich gegen eine Anwendung der Maximinregel wendet; m. a. W.: Wenn Rawlsscher Urzustand, dann auch Maximinregel. Da sich Rawls auf den empirischen Wahrscheinlichkeitsbegriff zurückzieht, kommt - wenn diese Voraussetzung akzeptiert wird - nur eine Entscheidungsregel aus der Maximin-Familie in Betracht. Die anderen Entscheidungs regeln greifen auf subjektive Wahrscheinlichkeiten zurück. Damit konkurrieren um eine Anwendung in der Situation des Urzustands: Maximin-, Maximax- und Savage-Niehans-Regel. Die Maximax- und die Savage-NiehansRegel unterliegen beide prinzipiell den gleichen Einwänden wie die Maximinregel mit der Maßgabe, daß bei der Maximaxregel einseitiger Optimismus an die Stelle von Pessimismus tritt, und bei der Savage-Niehans-Regel Bedauernswerte die ordinalen Nutzengrößen ersetzen. Deshalb gilt: Wenn der Rawlssche Urzustand akzeptiert wird, so ist die Maximinregel eine vertretbare Entscheidungsregel.

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

71

Eine Kritik des Rawlsschen Entscheidungsverfahrens muß demnach bei den Voraussetzungen des Urzustands ansetzen. Die Kernfrage betrifft also den Rawlsschen Rückzug auf empirische Wahrscheinlichkeiten. Hier hat Harsanyi19 überzeugend argumentiert, daß sich ein Entscheidungsträger in der Situation des Urzustands der Anwendung subjektiver Wahrscheinlichkeiten kaum entziehen kann. Der Grund dafür liegt in den äußerst schwach formulierten Risikonutzenaxiomen. Ein Entscheidungsträger müßte nach einiger Überlegung bereit sein, diese als Rationalitätsregeln anzuerkennen, denn gegen Ordinalität und Stetigkeit lassen sich keine und gegen Unabhängigkeit lediglich einige nicht ganz ausdiskutierte Bedenken vortragen. Wenn ein Entscheidungsträger aber die Risikonutzenaxiomatik anerkennt, erkennt er implizit auch subjektive Wahrscheinlichkeiten an; er kann sich dann nicht mehr auf den empirischen Wahrscheinlichkeits begriff zurückziehen. Wird das Rawlssche Rechtfertigungsverfahren auf die Bestimmung von Steuerverteilungsprinzipien übertragen, so hängt der Ausgang der Wahl auch von der inhaltlichen Ausfüllung des Grundgüterkonzeptes ab. Wird beispielsweise vor dem Hintergrund gegebener Institutionen, die gleiche Grundfreiheiten und faire Chancengleichheit für alle sichern, das Einkommen als Grundgüterparadigma genommen, sind dennoch mehrere Begriffsinhalte denkbar: beispielsweise Einkommen nach Steuern oder Einkommenseinbußen infolge der Besteuerung. Die unterschiedlichen Wahlausgänge seien an einem Bespiel dargestellt. Der Entscheidungssituation liegt eine Zwei-Personen-Welt zugrunde, in der zwischen den beiden Steuerverteilungsprinzipien Kopfsteuer und progressive Steuer zu wählen ist. Nach beiden Steuerverteilungsprinzipien ist ein Steueraufkommen von 40 zu erheben. Die Einkommensverteilung und die Steuerverteilungen seien angenommen zu: Tabelle 1 Modell zur Wahl zwischen Kopfsteuer und progressiver Steuer Einkommen vor Steuern (e) Kopfsteuer progressive Steuer

Arm

ReiclfO

20

100

20

20

4

36

Vgl. Harsanyi, Maximin-Principle, S. 46fT. Die Bezeichnungen Arm und Reich werden mit verschiedenen Inhalten benutzt: Erstens stehen sie, wie hier, für die sozialen Positionen, die zu besetzen sind. Zweitens sind sie die Namen derjenigen Personen, die die sozialen Positionen besetzt halten. 79

80

72

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

Wird das Einkommen nach Steuern als Maximand bestimmt, so ergibt sich die Entscheidungsmatrix: Arm

o

Kopfsteuer progressive Steuer

Reich

80

16

64

max min eij = 16 j

Die Zeilenminima betragen {0,16} und das Maximum der Zeilenminima max {O, 16} = 16. Die Wahl geht also zugunsten der progressiven Steuer aus. Das Entscheidungsverfahren stellt in Übereinstimmung mit dem Unterschiedsprinzip das worst-off individual, d. h. Arm, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Wird Einkommen dagegen als Einkommenseinbuße infolge Besteuerung interpretiert, so ergibt sich die Entscheidungsmatrix: Arm

Reich

-20

-20 -36

Kopfsteuer progressive Steuer

- 4

max min eij =

-

20

j

Diese Entscheidungsmatrix enthält negative Größen, deshalb ist die Maximinregel hierauf nicht anwendbar. Wird bedacht, daß das schlechteste Ergebnis einer Zeile das maximale negative Element max - eij ist, und daß ferner das beste Element der negativen Zeilenmaxima das minimale Element ist, so lautet die abgewandelte Entscheidungsregel min max eij. Die negativen Zeilenmaxima betragen {- 20, - 36} , das Minimum der negativen Zeilenmaxima min { - 20, - 36} = - 20. Demnach wird die Kopfsteuer gewählt. Allerdings steht diese Entscheidung im Widerspruch zum Unterschiedsprinzip, da das Steuerverteilungsprinzip Kopfsteuer nicht das Worst-off individual begünstigt. Bei Anwendung des Rawlsschen Unterschiedsprinzips muß somit sehr sorgfältig auf die jeweilige Grundgüterinterpretation geachtet werden.

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

73

11. Präferenz-Utilitarismus mit Risikonutzen-Maximierung 1. Die Grundidee des Präferenz- Utilitarismus

Der Utilitarismus ist eine teleologische Theorie 81 , in der Handlungen nach ihren Konsequenzen beurteilt werden. 82 In seiner einfachsten sozialethischen Ausrichtung erklärt der Utilitarismus genau diejenige Handlung für gerecht, die den sozialen Nutzen maximiert.83 Harsanyi führt in der von ihm vertretenen utilitaristischen Theorie sozialen Nutzen auf individuellen Nutzen zurück und definiert die individuellen Nutzenfunktionen über individuelle Präferenzen.54 Mit Bezug auf dieses Vorgehen nennt Harsanyi seine Theorie preference utilitarianism. Dies ist nach seiner Ansicht "the only form of utilitarianism consistent with ... the principle that, in deciding what is good and what is bad for a given individual, the ultimate criterion can only be his own wants and his own preferences" .85 Präferenzen und Präferenzrelationen nehmen bei Harsanyi, anders als bei Rawls, eine zentrale Rolle in den Überlegungen ein. In Harsanyis Modell werden zwei verschiedene Klassen von Präferenzen eingeführt: persönliche und ethische. Ein auf persönlichen Präferenzen beruhendes Urteil reflektiert primär das Eigeninteresse.86 Moralische Urteile sind dagegen non-egoistic impersonal judgements of preference 87 ; sie dürfen keine persönlichen Interessen oder Präferenzen widerspiegeln. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Entscheidungsträger "in complete ignorance of what his own relative position ... would be within the system chosen"88 zu wählen hätte. Harsanyi unterstellt demnach bei moralischen Urteilen, ähnlich wie Rawls bei der Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen, eine hypothetische Entscheidungssituation, aus der das Eigeninteresse der Entscheidungsträger herausgehalten wird. Mittel hierzu ist die Voraussetzung, jeder Entscheidungsträger würde sich so verhalten, als käme "any one of the available social positions"89 die gleiche 81 Zum Begriff teleologische Theorie siehe oben, sowie ausführlich Frankena, Analytische Ethik, S, 32ff. 82 Der Utilitarismus wird deshalb auch verschiedentlich als Konsequentialismus bezeichnet; vgl. z.B. Williams, Utilitarismus-Kritik, S.45ff. 83 Vgl. etwa Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 40ff.; Williams, Utilitarismus-Kritik, S.106fT. 84 Vgl. Harsanyi, Morality, S. 54. 85 Vgl. Harsanyi, Morality, S. 55. 86 Vgl. Harsanyi, Morality, S. 45; ders., Maximin-Principle, S. 46. 87 Vgl. Harsanyi, Cardinal Utility, S. 3. Auch für Frankena, Analytische Ethik, S. 40 gilt: "Der moralische Standpunkt ist unparteiisch, nicht interessengebunden. " Williams, Utilitarismus-Kritik, S. 109 führt aus, der moralische Standpunkt sei unparteiisch und abstrahiere von den eigenen Interessen, was auf die Forderung hinausliefe, daß es bei der Wahl zwischen zwei sozialen Zuständen egal sei, wer man im einzelnen ist. 88 Vgl. Harsanyi, Cardinal Utility, S. 4. 89 Harsanyi, Morality, S.45.

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3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

Wahrscheinlichkeit zu (equiprobability model of moral value judgements). Entscheidungstheoretisch gesprochen, wird die Laplace-Regel angewendet. Harsanyi geht schließlich davon aus, daß die persönlichen und ethischen Präferenzen konnex und transitiv sind, somit dem Ordinalprinzip genügen. 2. Das präferenz-utilitaristische Entscheidungsmodell

Im einzelnen sind nun Gesichtspunkte des Aktions-, Zustands- und Ergebnisraumes zu diskutieren. Die Ergebnisfunktion wird auch für das HarsanyiModell im einfachsten Fall durch eine Entscheidungsmatrix repräsentiert und bedarf keiner weiteren Erörterung. Zwischen welchen Aktionen kann der utilitaristisch orientierte Entscheidungsträger wählen? Hier sind zwei Interpretationen genauer zu unterscheiden. Die traditionelle utilitaristische Interpretation stellt die einzelne Handlung auch Akt genannt - in den Mittelpunkt der Betrachtungen (HandungsUtilitarismus). Jede denkbare Handlung ist entscheidungs theoretisch als Aktion zu verstehen. Auf die einzelne Handlung wird das utilitaristische Moralkriterium angewendet, d. h. jede Handlung ist hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den sozialen Nutzen zu untersuchen. Moralisch richtig ist die den größten sozialen Nutzen hervorbringende Handlung.90 Handlungsutilitaristen fragen somit stets nur nach der Nützlichkeit einer Handlung im Einzelfall, niemals nach dem Nutzen der allgemeinen Ausführung derartiger Handlungen in gleichartigen Situationen.91 Der Handlungs-Utilitarismus verbietet sich eigentlich schon deshalb, weil das gesellschaftliche Zusammenleben nur schwer über eine Einzelfall-Moral bewältigt werden kann. So würde eine dem Handlungs-Utilitarismus folgende Steuerverteilung einen kafkaesken Rechen- und Verwaltungsapparat erfordern. Diese Erwägungen beiseite gelassen, sprechen schwerwiegende moralische Bedenken gegen eine Anwendung des Handlungs-Utilitarismus. Führen etwa zwei verschiedene Steuerverteilungsprinzipien zu gleichem sozialen Nutzen, und toleriert das eine Verteilungsprinzip Steuerhinterziehung, das andere dagegen nicht, so sind für den Handlungsutilitaristen beide Prinzipien gleichwertig. Ein Nicht-Handlungsutilitarist würde dagegen zwischen beiden Prinzipien differenzieren und, seiner moralischen Intuition folgend, das eine Steuerhinterziehung nicht tolerierende Verteilungsprinzip moralisch vorziehen.92 Nach einer neueren utilitaristischen Interpretation muß dagegen nicht die einzelne Handlung, sondern die allgemeine moralische Regel 93 , welche die Vgl. Harsanyi, Morality, S. 41; ders., Rule Utilitarianism, S. 30f. Vgl. hierzu Frankena, Analytische Ethik, S. 55. 92 Zu weiteren Gegenbeispielen siehe auch Williams, Utilitarismus-Kritik, S. 72ff. 93 Zu möglichen Bedeutungen des Begriffs Regel vgl. Stegmüller, Interrelations, S. 58f., der auch der Frage nachgeht, ob und ggf. unter welchen Bedingungen der RegelUtilitarismus aus dem Handlungs-Utilitarismus abgeleitet werden kann. 90 91

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

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einzelne Handlung rechtfertigt, mit Hilfe des Kriteriums des sozialen Nutzens beurteilt werden (Regel- Utilitarismus).94 Die moralische Regel ist entscheidungstheoretisch als Aktion zu verstehen. Gefragt wird nicht mehr, welche Handlung nutzenmaximal sei, sondern welche Regel. Das utilitaristische Moralkriterium wird nur bei der Festlegung von Regeln, nicht auf Handlungen angewendet. Moralisch richtig ist diejenige Regel, die den sozialen Nutzen maximal macht, wenn sie langfristig von jedermann in allen in ihren Anwendungsbereich fallenden sozialen Situationen befolgt wird.9s Ob dabei eine Handlung für sich genommen im Einzelfall den höchsten sozialen Nutzen hervorbringt, ist nicht entscheidend. Gehandelt wird wegen der Geltung einer Regel, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen einer Handlung.96 Ein RegelUtilitarist könnte demnach Handlungen - obwohl sie den Nutzen nicht maximieren - für richtig halten, weil sie "in Übereinstimmung mit einer Regel vollzogen wurden, die utilitaristisch wertvoll ist".97 Beispielsweise muß nach regelutilitaristischer Auffassung nicht gezeigt werden, daß eine in Frage stehende Interpretation eines steuerlichen Bemessungsgrundlagenteils den sozialen Nutzen maximal macht. Gezeigt werden muß nur, daß die fragliche Interpretation mit der durch das utilitaristische Moralkriterium gerechtfertigten Regel, also etwa dem Leistungsfähigkeitsprinzip, übereinstimmt. Insoweit kommt der Regel-Utilitarismus der herrschenden Moral- und Rechtspraxis näher als der Handlungs-Utilitarismus. Dennoch hat auch der Regel-Utilitarismus, gerade aus der Sicht der distributiven Gerechtigkeit 98 , einen entscheidenden Mangel: Führen z. B. zwei Steuerverteilungsprinzipien, angenommen Leistungsfähigkeitsprinzip und Äquivalenzprinzip, zu gleichem sozialen Nutzen, und belastet das Äquivalenzprinzip die Einkommensschwachen relativ mehr als die Einkommensstarken, so gelten beide Prinzipien nach regel-utilitaristischer Ansicht als gleich gerecht. Entgegen dieser Ansicht wird die relative Mehrbelastung der Einkommensschwachen regelmäßig intuitiv als ungerecht empfunden. Harsanyi legt sich nicht explizit auf eine bestimmte Form des Utilitarismus fest; seiner Abhandlung ,Rule Utilitarianism'99 kann jedoch entnommen werden, daß er den Regel-Utilitarismus gegenüber dem Handlungs-Utilitarismus den Vorzug zu geben scheint. 94 Siehe zum Regel-Utilitarismus: Harsanyi, Rule Utilitarianism, S. 25ff.; Frankena, Analytische Ethik, S. 58ff.; Williams, Utilitarismus-Kritik, S. 83ff. 9S Vgl. Harsanyi, Morality, S. 41. 9(j Vgl. Frankena, Analytische Ethik, S. 55f. 97 Williams, Utilitarismus-Kritik, S. 86. 98 Der Utilitarismus wird mit Fragen der distributiven Gerechtigkeit nur schwer fertig; hierauf weisen nahezu alle seine Kritiker hin; vgl. z. B. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S.40ff., insbes. S.44. Am umfänglichsten ist die utilitaristirche Formulierung vom größten Glück der größten Zahl; hierzu Frankena, Analytische Ethik, S. 60. 99 Harsanyi, Rule Utilitarianism.

76

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

Der Zustandsraum wird auch bei Harsanyi durch die möglichen sozialen Positionen bestimmt, die der Entscheidungsträger im zu wählenden Gesellschaftssystem einnehmen könnte. Der Entscheidungsträger hält alle sozialen Positionen für gleich wahrscheinlich, stützt seine Entscheidung auf die Gleichwahrscheinlichkeits-Annahme (Laplace-Regel),HXl Dieser Grundgedanke läßt sich auf die Wahl von Steuerverteilungsprinzipien übertragen. Der Entscheidungsträger wird dann von der Annahme ausgehen, er könne jeden denkbaren Platz in der Steuerverteilung einnehmen, also einen Platz zwischen dem am geringsten und dem am höchsten besteuerten Individuum, und seiner Entscheidung ebenfalls die Laplace-Regel zugrundelegen. Im Harsanyi-Modell werden die Ergebnisse der Aktionen durch kardinale RisikonutzenJunktionen bewertet, nicht in Rawlsschen Grundgütern. Das heißt aber, die kardinalen Nutzenfunktionen der Entscheidungsträger gehen "into the very definition ofjustice and other moral values" ein. lOt Kardinale Nutzenfunktionen haben nach Harsanyi durchaus ihren berechtigten Platz in einer ethischen Theorie, entgegen der Ansicht von Rawls. 102 Sie zeigen nämlich an, welchen Nutzen, d. h. wieviel "subjective importance people attach to their various needs and interests".103 Ohne kardinale Nutzen würde das Harsanyi-Modell schlechthin nicht funktionieren. Denn: Will ein Entscheidungsträger mit Hilfe des Harsanyi-Modells ein moralisches Urteil abgeben, angenommen über ein Steuerverteilungsprinzip, so muß er wissen, welchen sozialen Nutzen dieses Prinzip induziert. Dieser Nutzenkalkül erfordert vom Entscheidungsträger interpersonelle Nutzenvergleiche. Er muß nämlich, um die Nutzensumme ermitteln zu können, überlegen, "what utility level he would enjoy ifhe hirnself were placed in the objective physical, economic, and social conditions of any other individual-and if at the same time he also suddenly acquired this individual's subjective attitudes, taste, and preferences, i.e., suddenly acquired his utility function",HJ4 Die Ausführungen zum Handlungs- und Regel-Utilitarismus sind noch dahingehend zu präzisieren, daß Harsanyi nicht auf den Gesamt-, sondern auf den Durchschnittnutzen im Sinne eines arithmetischen Mittels abstellt (Durchschnittnutzenprinzip).105 Die Wahl eines Steuerverteilungsprinzips hängt im Harsanyi-Modell auch von der Risikoeinstellung des Entscheidungsträgers ab. Dies beruht auf dem in das Durchschnittnutzenprinzip eingehenden Risikonutzen. An einem Beispiel, dem die oben bei Erläuterung der Rawlsschen Prinzipienwahl bereits verwende100 101 102 103

104 105

Vgl. Harsanyi, Maximin-Principle, S. 45. Harsanyi, Maximin-Principle, S. 49. Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 355ff. Harsanyi, Maximin-Principle, S. 49. Harsanyi, Maximin-Principle, S. 50. Vgl. Harsanyi, Maximin-Principle, S. 45.

77

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

ten Einkommens- und Steuerverteilungen zugrunde liegen, sei der Risikoeinfluß aufgezeigtYl6 Für diese Überlegungen reicht es aus, je eine hypothetische Risikonutzenfunktion mit risikoscheuem u ( e) = risikofreudigem u ( e) = e 2 und risikoneutralem u ( e) = e Kurvenverlauf auszuwählen, und daran aufzuzeigen, daß eine unterschiedliche Risikoeinstellung zur Wahl unterschiedlicher Steuerverteilungen führt.

Ve,

Tabelle 2 Einfluß der RisikoeinsteUung auf die Wahl von Steuerverteilungen Risikonutzenfunktion

u (e) = e 2

u(e)=Ve

soziale Position

Arm

Kopfsteuer

0

4,5

4,5

0

3200

progressive Steuer

2,0

4,0

6,0

128

2048

Reich L>Ve Arm

u(e)=e

Reich L>e 2

Arm

Reich

Lpe

3200

0

40

40

2176

8

32

40

Das Entscheidungssubjekt wählt das Besteuerungsprinzip, das maximalen Risikonutzen verspricht. Bei risikoscheuer Einstellung wird also progressive Besteuerung, bei Risikofreude dagegen die Kopfsteuer gewählt. Daß dieses Ergebnis auch im intuitiven Sinne vernünftig ist, ergibt sich aus der Überlegung, daß ein einkommensschwacher Entscheidungsträger mit der Wahl der Kopfsteuer das Risiko eingeht, eine sein Einkommen übersteigende Steuer zahlen zu müssen. Bemerkenswert ist, daß im Falle der Risikoneutralität zwischen beiden Steuerverteilungsprinzipien Indifferenz besteht. Der Grund hierfür liegt in der Annahme einer linearen Risikonutzenfunktion. Dies impliziert, daß die Nutzeneinbußen aufgrund der Besteuerung für Arm und Reich relativ gleich sind, durch beliebige Änderungen der Steuerverteilung - wie sie in der Wahl zwischen Kopfsteuer und progressiver Steuer zum Ausdruck kommt - also keine Erhöhung des Durchschnittnutzens erreicht werden kann.

106 Die Berechnung der Risikonutzenindizes sei beispielhaft für den Fall angeführt, daß Risikoscheue vorliegt und progressiv besteuert wird:

rp ( e) = LP j

~ = 0,5

06 + 0,5 V64 = 2 + 4 = 6.

78

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

III. Erweitertes Suppes-ModeU: Risikonutzenmaximierung mit Maximin-Restriktion 1. Gegenüberstellung von Risikonutzenmaximierung und Maximin-Lösung 107

Weder die vertragstheoretische Maximin-Lösung noch die utilitaristische Risikonutzen-Maximierung können letzte Begründungen für Steuerverteilungsprinzipien liefern. Beide Lösungsversuche haben ihre jeweiligen Vorzüge. Nach dem Unterschiedsprinzip der Maximin-Lösung sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt, wenn anderenfalls die in der Gesellschaft am wenigsten Begünstigten noch schlechtere Aussichten hätten. Das Durchschnittnutzenprinzip der utilitaristischen Risikonutzen-Maximierung orientiert die Prinzipienwahl am Effizienzgedanken: Gerecht ist das nutzenmaximale Steuerverteilungsprinzip. Hinsichtlich der Voraussetzungen, aus denen die Entscheidung abzuleiten ist, bestehen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Modellen. IOB So wird in beiden Ansätzen von einer hypothetischen Entscheidungssituation ausgegangen, in der durch den Schleier der Unwissenheit bzw. durch die Gleichwahrscheinlichkeitsannahme verhindert wird, daß das Eigeninteresse des Entscheidungsträgers Einfluß auf das moralische Urteil nimmt. In beiden Fällen weiß der Entscheidungsträger nicht, welchen Platz er nach der Prinzipienwahl in der sozialen Hierarchie einnehmen wird und muß sein Entscheidungsverhalten entsprechend einrichten. Beide Verfahren führen in bestimmten Fällen zu gleichen Entscheidungen. Der Entscheidungsträger wählt unter Umständen nach beiden Verfahren dasselbe Steuerverteilungsprinzip. Beispielsweise fällt in den oben diskutierten Beispielen die Entscheidung nach der Maximin-Regel für eine progressive Besteuerung. Genau dieses Besteuerungsprinzip wird auch bei Anwendung der Risikonutzen-Maximierung gewählt, wenn sich das Entscheidungssubjekt risikoscheu verhält. Daß extreme Risikoscheue bei Anwendung der RisikonutzenMaximierung zu Wahlergebnissen führt, die den Maximin-Ergebnissen nahe kommen, wird bereits von Rawls vermutetYJ9 Eine eingehende Analyse dieser Fragestellung mit dem Ziel einer allgemeinen Lösung muß hier unterbleiben.

107 Gedanken zu einer vergleichenden Analyse von Risikonutzenmaximierung und Maximinlösung finden sich auch bei Phelps, Studies, S. 399-415. 108 Vgl. auch Harsanyi, Maximin-Principle, S. 47, nach dem der Unterschied zwischen beiden Modellen nicht in den qualitativen Voraussetzungen, sondern in der entscheidungstheoretischen Behandlung liegt. 109 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 192: "wenn die ungeheueren Risiken der Entscheidung im Urzustand gebührend berücksichtigt werden, dann kann die Risikoscheu so groß sein, daß die utilitaristische Gewichtung ... dem Unterschiedsprinzip ... nahe kommt".

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

79

Auch Arrow llO und Harsanyi 1l1 vermuten, daß beide Verfahren in zahlreichen praktisch bedeutsamen Fällen zu derselben Entscheidung führen werden. Treten Unterschiede auf, so hält Harsanyi allerdings die utilitaristische Entscheidung für vernünftiger. Um ein Bild von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Rawlsschen Vertragstheorie mit Maximin-Lösung und Harsanyis präferenzen-utilitaristischer Risikonutzen-Maximierung zu erhalten, seien die wesentlichen Gesichtspunkte gegenübergestellt (Tabelle 3, Seite 80). 2. Grading Principles of Formal lustice

Es fragt sich, inwieweit ein Verfahren zur Prinzipienbestimmung konstruiert werden kann, das die Vorteile der Maximin-Lösung und der Risikonutzenmaximierung zusammenfaßt, deren Nachteile aber vermeidet. In der Literatur l12 wird in Zusammenhang mit dieser Frage auf eine Arbeit von Suppes ll3 hingewiesen, in der grading principles offormal justice entwickelt werden. Suppes studiert in dieser Arbeit eine Zwei-Personen-Entscheidungssituation mit dem Ziel, zu untersuchen, "how a formal principle of justice may be introduced which will put non-trivial constraints on the utility function" .114 Sen erweitert das Suppes-Modell auf n Personen, so daß die Zwei-Personen-Welt im Ergebnis keine Einschränkung der Anwendbarkeit darstellt. Gegeben sind: Ai Aktionsraum der i-ten Person (i= 1, 2),

Ei Ergebnisraum der i-ten Person (i = 1, 2), S Zustandsraum,

f

j-SxA l xA 2 -+E l xE2 •

fist eine SozialwahlJunktion, die erst später anhand des folgenden Ausgangsbeispiels näher erklärt wird.t 15 Für das Ausgangsbeispiel gilt: AI =

A 2 = {Kopfsteuer, progressive Steuer},

EI = E2 = {O, 16,64, 80}, S = {Arm, Reich}.

SOWIe

Vgl. Arrow, Notes, S. 255. m Vgl. Harsanyi, Maximin-Principle, S. 41 ff.; 60f. 112 Vgl. Sen, Collective Choice, S. 151; Stegmüller, Interrelations, S. 65. 113 Suppes, Grading Principles. 114 Suppes, Grading Principles, S. 294. 115 Vgl. Sen, Collective Choice, S. 152ff. 110

80

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem Tabelle 3

Zusammenfassender Vergleich der Ansätze von Rawls und Harsanyi Rawls

Harsanyi

Theorietyp

deontische Theorie

teleologische Theorie

Gereehtigkeitsbzw. Moralkriterium

Unterschiedsprinzip

Durchschnittnutzenprinzip

Entseheidungsregel

Maximin-Regel

Risikonutzen -Maximierung

Entseheidungssituation

hypothetischer Urzustand mit Schleier des Nichtwissens; strikte Ablehnung nichtempirischer Wahrscheinlichkeiten (Entscheidung unter Ungewißheit)

hypothetische Situation; Entscheidungsträger wählt ohne zu wissen, welche soziale Position er nach der Wahl einnehmen wird; Anwendung subjektiver Wahrscheinlichkeiten; Gleichwahrscheinlichkeitsannahme (Entscheidung unter Risiko)

Aktionen ai

Liste alternativer Gerechtigkeitsregeln

Menge aller denkbaren moralischen Regeln oder Handlungen

Zustände der Welt Sj

die möglichen Plätze, die der siehe Rawls Entscheidungsträger innerhalb der sozialen Hierarchie einnehmen kann

Ergebnisse Sij

gemessen in sozialen Grundgütern, wie Einkommen, Vermögen

kardinal gemessener Risikonutzen

Rationalität

Ordinalprinzip (ZweckMittel-Rationalität)

Risikonutzenaxiomatik gilt auch für ethische Präferenzen

Interpersonelle Vergleiehe

interpersonelle Grundgütervergleiche, um das am schlechtesten gestellte Individuum zu bestimmen

interpersonelle Nutzenvergleiche; Entscheidungsträger muß sich, um zu einem moralischen Urteil zu kommen, in die (subjektive) Nutzenfunktion jedes anderen Mitglieds der Gesellschaft versetzen

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

81

Für jede Person muß eine Präferenzrelation R i (i= 1, 2) auf E 1 x E 2 erklärt sein, die konnex und transitiv ist. R muß also den gleichen Bedingungen genügen, wie sie für das Ordinalprinzip gefordert werden. Dagegen verlangt Suppes für R weniger als für die schwache (Reflexivität und Antisymmetrie fehlen), aber auch weniger als für die strikte (Asymmetrie fehlt) Präferenzrelation. Das Abstellen auf den Definitionsbereich E 1 x E 2 bedarf der Erläuterung. Würde für R 1 nur auf E 1 und für R2 nur auf E 2 abgestellt, so könnte beispielsweise Person 1 die Ergebnisse E 2 nicht beurteilen. Das moralische Urteil, so wurde ausgeführt, ist jedoch unparteiisch und nicht interessengebunden. Deshalb ist über eine Beurteilung der eigenen sozialen Position auch eine Beurteilung der sozialen Positionen der übrigen Mitglieder der Gesellschaft erforderlich. Der vereinigte Definitionsbereich garantiert, daß Person 1 auch die Ergebnismenge von Person 2, nämlich E 2 , ordnen kann. Die Ordnung erfolgt aber in den Präferenzen von Person 1, also durch R 1 . Suppes gründet die Präferenzrelation auf den Gedanken, daß sich Menschen als gleiche behandeln. Die Relation R einer Person i (i = 1, 2) ist gerecht (equitable), wenn sie gegenüber einem gegenseitigen Wechsel der beiden Positionen invariant bleibt. 1l6 Der Positionswechsel nach Suppes erfaßt nur die objektiven Umstände, ist lediglich wie der Austausch eines Spielers auf dem Spielfeld gemeint: der Torwart wird Mittelstürmer, der Mittelstürmer geht in das Tor, ohne daß der Torwart die persönlichen Eigenschaften des Mittelstürmers annimmt, und umgekehrt. Auf eine Erweiterung des Suppes-Modells durch Sen ist später einzugehen. Ferner setzt das Suppes-Modell Menschen voraus, die relativ frei von Egoismus sind. Die Präferenzordnung muß so beschaffen sein, daß "a man should judge it better that his neighbor of equal economic status receive a thousand dollars than that he hirnself should receive fifty dollars".117 Für das Ausgangsbeispiellautet die mittels der Präferenzrelation geordnete Menge der Vereinigung der Ergebnisse E 1 U E 2 = {80, 64, 16, O}, mit 80 als dem am meisten und 0 als dem am wenigsten präferierten Element. Die schwache (~), wie auch die strikte (>--) Präferenzordnung sind konnex und transitiv, erfüllen somit die von Suppes geforderten Bedingungen. Will Person 1 zwei soziale Zustände, etwa Kopfsteuer (x) und progressive Steuer (y), entsprechend ihrer subjektiven Gerechtigkeitsvorstellung beurteilen, fragt sie sich also, ob aus ihrer Sicht Zustand x gerechter als Zustand y ist, so wird sie die beiden Zustände x und y komponentenweise vergleichen:

116 117

Vgl. hierzu Suppes, Grading Principles, S. 295. Suppes, Grading Principles, S. 295.

6 Walzer

82

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem Vergleich korrespondierender sozialer Positionen Zustand:

Komponenten:

x

Vergleich vertauschter sozialer Positionen

0ALJ vA

y

"

N .N lJ ·lJ

y

1

x2

Abb. 5: Diagramm zur Relation "ist gerechter als"

In allen Fällen, in denen sich unter dem Gesichtspunkt der Präferenzordnung von Person 1 (R l ) der Zustand x gegenüber dem Zustand y als überlegen erweist, wird Person 1 urteilen: x ist gerechter als y. Dies ist der Fall, wenn genau eine der vier folgenden Aussagen wahr ist: korrespondierende soziale Positionen

» Y2

1.

XI

~ YI und

2.

XI

» YI und X2 ~ Y2

X2

vertauschte soziale Positionen und

3.

XI

~

4.

XI

» Y2 und X2

Y2

X2

» YI ~

YI .

Die schwache Präferenzrelation (~) darf in den obigen Fällen, ohne die Gültigkeit des Suppes-Modells zu beeinflussen, durch die starke Präferenzrelation (>- ) ersetzt werden. Diese Vorüberlegungen geben Anlaß zur Definition der Relation J ist gerechter als. Suppes präzisiert: Definition J118

Wenn Xl, Yl E EI und X2, Y2 E E 2 undx= (Xl, X2) undy= (Yl, Y2), dann gilt for i= 1, 2 xJiy genau dann, wenn entweder (i) x 1RiYl und x 2RiY2 und nicht (y1RiXI und y2RiX2) oder (ii) x 1RiY2 und x2RiYl und nicht (Y2RiXI und YI R i X 2) • Die beiden in der Definition enthaltenen Und-nicht-Klauseln sichern die Asymmetrie der Relation J. Die Indizierung von J deutet an, daß die Relation ist gerechter als "is done for each individual separately in terms of his own tastes".11 9 J ist eine partielle Relation. Sie ist zugleich asymmetrisch und transitiv, wie Suppes 120 für den Zwei- und Sen 121 für den n-Personenfall zeigen. 118

119

120 121

Vgl. Sen, Vgl. Vgl.

Suppes, Grading Principles, S. 296. Collective Choice, S. 147. Suppes, Grading Principles, S. 296ff. (Theorem 2). Sen, Collective Choice, S. 153f. (Theorem 9*1).

83

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

Partielle Relationen, die zugleich asymmetrisch und transitiv sind, nennt Suppes grading principles. Sie erfüllen die Bedingungen einer strikten Ordnungsrelation, sind aber nicht total, da keine Konnexität gefordert wird. Somit kann es in EI x E 2 Elemente geben, die hinsichtlich J nicht vergleichbar sind. Mit diesen Überlegungen ist der begriffliche Rahmen geschaffen, um das Suppes-Modell auf das Ausgangsbeispiel anwenden zu können. Sei zunächst die Erklärung der Sozialwahljunktion J nachgeholt. J ist eine Teilmenge von EI x E 2 • Die J konstituierenden Elemente werden aus dem Kreuzprodukt ausgesondert, indem überlegt wird, welche geordneten Paare nach den Voraussetzungen des Ausgangsbeispiels logisch möglich sind: Zwei Personen müssen die beiden möglichen sozialen Positionen, Arm bzw. Reich, unter sich aufteilen. Die endgültige Grundgüter- bzw. Risikonutzenverteilung hängt davon ab, welches Steuerverteilungsprinzip gewählt wird, Kopfsteuer oder progressive Steuer. Das gewählte Steuerverteilungsprinzip ist stets für beide Personen verbindlich; ein für jede Person individuell bestimmtes Steuerverteilungsprinzip ist unzulässig. Die aus dieser Problembeschreibung resultierenden logischen Möglichkeiten können in einer Matrix dargestellt werden: Tabelle 4

Möglichkeitenmatrix im Suppes-ModeU

Kopfsteuer progressive Steuer

Arm

Reich

(eI, e2) EE I x E 2

1

Person 1

Person 2

(0,80)

2

Person 2

Person 1

(80,0)

3

Person 1

Person 2

(16,64)

4

Pr e so n2

Person 1

(6416 , )

Die erste Komponente der Matrix (e11) wird beispielsweise interpretiert: Person 1 ist arm und unterliegt der Kopfsteuer. Wenn Person 1 arm ist und der Kopfsteuer unterliegt, dann muß Person 2 die soziale Gegenposition innehaben, also reich sein, und ebenfalls der Kopfsteuer unterliegen, wodurch die zweite Komponente dieser Zeile (e12) bestimmt ist. Diese Zeile wird durch das geordnete Paar (0,80) charakterisiert. In den geordneten Paaren steht stets die erste Komponente für Person 1, die zweite Komponente für Person 2. Somit gilt: J= {(0,80), (80,0), (16,64), (64,16)}. Die Menge der geordneten Paare J ist entsprechend der Präferenzrelation R; (i = 1, 2) zu ordnen. Für das Ausgangsbeispiel gilt R 1 = R 2 • Das Ordnen wird technisch erleichtert, wenn anstelle vonJ die Obermenge EI x E 2 geordnet im Hasse-Diagramm 122 dargestellt wird: 6'

84

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

/

(80,80)

7'(~ (80,16),(16,80)

(64,64)

/~/

r--- - -- - - --- - - --- - --- --- -'} (64,16) ,(16,64) I

f = { I (80,0) ,(0,80) L ___, \

--7-----------~

(64'")'~ (16,0) ,(0,16)

Abb.6: Hasse-Diagramm im Suppes-Modell

Die zu! gehörenden geordneten Paare liegen im Hasse-Diagramm sämtliehst auf einer Ebene, d.h. die Präferenzrelation R; (i= 1,2) kann zwischen diesen Elementen nicht differenzieren. Damit ist gezeigt, daß Definition J nicht auf! angewendet werden kann. Denn eine Anwendung von J setzt voraus, daß die Elemente von! durch R; geordnet werden, woran es hier mangelt. Mit Hilfe des Suppes-Modells kann demnach für das Ausgangsbeispiel nicht entschieden werden, ob das Steuerverteilungsprinzip Kopfsteuer gerechter ist als das Steuerverteilungsprinzip progressive Steuer. Das Beispiel bestätigt somit, daß die Relation J tatsächlich nicht konnex ist. Suppes schränkt die interpersonellen Permutationen auf die objektiven Eigenschaften der Entscheidungsträger ein, wie oben ausgeführt wurde. Sen hat aufgezeigt, daß sich diese Einschränkung als Hemmschuh für Gerechtigkeitslösungen erweist, die auch vernünftigen Effizienzforderungen genügen. 123 Dies liegt in der Tatsache begründet, daß interpersonelle Nutzenvergleiche wegen der fehlenden subjektiven Eigenschaften im einfachen Suppes-Modell nicht angestellt werden können. Oder, wie Sen resümiert: "nothing of much interest can be said on justice without bringing in some interpersonal comparability".l24 Sen 122 Hasse-Diagramme sind Ordnungs-Diagramme. Jedes Element der geordneten Menge wird durch einen Punkt wiedergegeben. Geht Punkt 1 in der Ordnung Punkt 2 voran, so liegt Punkt 2 auf einem tieferen Niveau als Punkt 1. Auf gleichem Niveau besteht zwischen den Punkten Indifferenz. 123 Vgl. Sen, Collective Choice, S. 149f. 124 Sen, Collective Choice, S. 150.

B. Anwendung der Entscheidungstheorie

85

erweitert daher das Suppes-Modell um die subjektiven Umstände und verallgemeinert es auf n Personen. 125 Das erweiterte Suppes-Modell wird in der Literatur auch als amplified grading principle of justice bezeichnet.126 Mit diesen Verallgemeinerungen vereinigt das erweiterte Suppes-Modell zwei grundlegende Eigenschaften des Unterschiedsprinzips und des Durchschnittnutzen-Prinzips.127 1. Sind Xi, Yi (i= 1, 2) Risikonutzen und ist x= (Xl, X2) und y= (Yl, Y2), dann impliziert xJy, daß Zustand X gegenüber Zustand y den größeren Gesamt- und damit ceteris paribus auch Durchschnittnutzen hat (Durchschnittnutzenprinzip). 2. Unter diesen Voraussetzungen impliziert xJy ferner, daß das in Zustand x am schlechtesten gestellte Individuum wenigsten so gut gestellt ist, wie es in Zustand y gestellt wäre (Unterschiedsprinzip). Die Beweise ergeben sich für den Zwei-Personen-Fall durch vollständige Fallunterscheidung unmittelbar aus Definition J, wobei Xi >- Yi genau dann gilt, wenn u (Xi) > U(Yi) gesetzt wird. Wegen der Beweise für den erweiterten nPersonen-Fall wird auf Sen hingewiesen. l28 Trotz der Eigenschaft des erweiterten Suppes-Modells, zwischen Unterschiedsprinzip und Durchschnittnutzenprinzip zu vermitteln, bleiben gegen das Suppes-Modell auch in seiner erweiterten Form zwei Vorbehalte bestehen. Erstens: Definition J liefert primär ein formales Gerechtigkeitskriterium; mehr ist allerdings von Suppes nicht beabsichtigt.129 Definition J enthält aber, wie sich bei genauerer Analyse herausstellt, über den formalen Gesichtspunkt hinaus, auch einen Teilaspekt materialer Gerechtigkeit. Sie reglementiert die Anwendung der Präferenzrelation R über das Kreuzprodukt E l x E 2 derart, daß die Lösung dem Unterschiedsprinzip genügt, einem wichtigen Bestandteil materialer Gerechtigkeit im Rawlsschen Sinne. Trotz dieser allgemeinen Eigenschaften von J werden die materialen Gerechtigkeitsvorstellungen der Entscheidungsträger allein in der Präferenzrelation R berücksichtigt. Dadurch bestimmen die Gerechtigkeitsvorstellungen zwar J indirekt mit. Doch das entscheidende Argument gegen Suppes liegt darin, daß R inhaltlich im vorwissenschaftlichen Bereich bleibt. Mit anderen Worten, das Gerechtigkeitsmodell von Suppes setzt bereits voraus, daß der Entscheidungsträger über eine geordnete intuitive Gerechtigkeitsvorstellung verfügt. Das Modell hilft nicht, eine solche Vorstel125 Sen, Collective Choice, S. 156 führt ein Identitäts-Axiom ein: "Each individual} in placing himself in the position of person i takes on the tastes and preferences of/,. Hieraus folgt J i = J j für alle i.j, so daß eine Indizierung von J unterbleiben kann. 126 Vgl. Stegmüller ,Interrelations, S. 66. 127 Vgl. dazu auch Sen, Collective Choice, S. 151 sowie Stegmüller, Interrelations, S.66. 128 Vgl. Sen, Collective Choice, S. 157ff., Sätze 9*5 und 9*7. 129 Vgl. Suppes, Grading Principles, S. 295: "the merest beginning of a formal theory of justice".

86

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

lung erst zu erlangen.13° Hat beispielsweise ein Entscheidungsträger die Präferenzstruktur XiRYi genau dann, wenn U(Xi) > U(Yi) für alle i, so bestimmt das utilitaristische Prinzip seine materiale Gerechtigkeitsvorstellung. Zweitens: Die Relation J ist gerechter als gilt nur partiell über Ei x E2; deshalb ist zu überlegen, welche Klasse von Problemen sie erfaßt. Die Problematik sei am Beispiel nur aufgezeigt, ohne deren allgemeine Lösung zu beabsichtigen. Das Ausgangsbeispiel ist weder bei risikoscheuem, risikofreudigem noch bei risikoneutralem Verhalten mit Hilfe der Relation J entscheidbar. Wird dagegen von der stückweise zusammengesetzten Nutzenfunktion ure) -

{Ve 8

für

0 < e < 64

für

e ;::: 64

ausgegangen, so enthält die Entscheidungsmatrix für die Einkommensverteilung des Ausgangsbeispiels die Risikonutzengrößen, d. h. Nutzen mal Wahrscheinlichkeit, der Einkommen nach Abzug der Steuer gemäß folgender Berechnung: Tabelle 5

Berecbnung des Risikonutzens Einkommen vor Steuern

Steuern

Einkommen nach Steuern

Nutzen

p

RisikoNutzen

20 20 100 100

20 4 20 36

0 16 80 64

0 4 8 8

0,5 0,5 0,5 0,5

0 2 4 4

Die Entscheidungsmatrix ergibt sich demnach zu: Arm Reich Kopfsteuer progressive Steuer

o 2

4

4

Für diese Matrix ergibt sich nach der ersten Alternative von Definition J: progressive Steuer ist gerechter als Kopfsteuer 131 • Dieses Ergebnis würde sich auch nach dem Unterschieds- und dem Durchschnittnutzenprinzip ergeben. 132 130 Diesen Einwand sieht auch Suppes, Grading Principles, S. 303: "it may be rightly objected that the intuitive succes of the theory depends upon these individual preference rankings themselves satisfying certain criteria of justice". 131 Es gilt: 2 > 0 und 4;::: 4.

C. Steuergerechtigkeit als komparativer Begriff

87

Aber auch die Fonn der Entscheidungsmatrix bestimmt, ob das SuppesModell anwendbar ist oder nicht. Wenn R die schwache Präferenzrelation ist, so ist eine symmetrische Matrix, die folgende RisikonutzengröBen enthält, entscheidbar: Arm Reich Kopfsteuer progressive Steuer

2 3

3 2

Für diese Matrix gilt: Kopfsteuer ist gerechter als progressive Steuer und progressive Steuer ist gerechter als Kopfsteuer; beides nach der zweiten Alternative von Definition J. Dieses Ergebnis ist nicht als Widerspruch, sondern eher als Indifferenz zu deuten: Beide Besteuerungsprinzipien werden im Beispiel als gleich gerecht empfunden. Genau dieses Ergebnis würde sich auch nach dem Unterschieds- und dem Durchschnittnutzenprinzip ergeben. Dagegen ist folgende asymmetrische Matrix, die ebenfalls RisikonutzengröBen enthält, nicht mit Hilfe der Relation J entscheid bar: Arm Reich Kopfsteuer progressive Steuer

2

2,5

3

2,5

Die Matrix ist ebenfalls nicht nach dem Durchschnittnutzenprinzip, wohl aber nach dem Unterschiedsprinzip entscheid bar.

C. Steuergerechtigkeit als komparativer Begriff Der Übergang von einem klassifikatorischen zu einem komparativen Begriffssystem im Rahmen einer nonnativen Theorie der Steuergerechtigkeit darf nicht nur als eine wünschenswerte Weiterentwicklung dieser Theorie angesehen werden. Es ist vielmehr eine notwendige Weiterentwicklung. Die Notwendigkeit resultiert aus der oben dargelegten Unmöglichkeit, Nonnen durch sog. letzte Gründe zu rechtfertigen. Die traditionelle Dichotomie entweder gerecht oder ungerecht suggeriert eine unzutreffende letzt begründete Steuergerechtigkeit. Eine Theorie, die sich von diesem Vorwurf befreien will, braucht ein komparatives (oder quantitatives) Begriffssystem. Wiederum wird deutlich, wie sich Theorie und Begriffssystem gegenseitig bedingen: Gerechtigkeit ist in klassi132 In diesem und in den hier folgenden Beispielen wird stets davon ausgegangen, daß die Matrixkomponenten unverändert bleiben, egal ob in Grundgütern oder in Risikonutzen gemessen.

88

3. Kap.: Materiale Steuergerechtigkeit als Entscheidungsproblem

sehen Theorien ein klassifikatorischer, in neueren Theorien ein komparativer Begriff Von den drei oben erörterten materiellen Gerechtigkeitskonzepten führt Suppes ganz offensichtlich Gerechtigkeit als komparativen Begriff ein. Allerdings hat dieser Begriff bei Suppes eine gegenüber der in dieser Arbeit vertretenen Auffassung abweichende logische Struktur. Suppes fordert für ist gerechter als keine Konnexität. Im Harsanyi-Modell ist diejenige Alternative gerecht, die zum größten Durchschnittnutzen führt. Gerechtigkeit kann hier als komparativer Begriff eingeführt werden. Im einfachsten Fall wird die von Suppes eingeführte Relation R mit Hilfe von Risikonutzengrößen gedeutet:

xRy=-u(x)

~

u(y).

In der Rawlsschen Theorie ist - soweit ersichtlich - bislang kein Versuch gemacht worden, die Relation ist gerechter als operational einzuführen. Implizit, dies wurde bereits ausgeführt, geht auch die Rawlssche Theorie von der Existenz dieser Relation aus. Die Krux der hier bisher unterlassenen Operationalisierung liegt in der Maximin-Regel, die lediglich genau eine Entscheidungsalternative als zielentsprechend auszeichnet, wodurch der Aktionsraum im allgemeinen nicht vollständig geordnet wird. Letzteres ist aber notwendige Voraussetzung für das Vorliegen eines komparativen Begriffs. Dennoch dürfte die Einführung eines komparativen Gerechtigkeitsbegriffs in die Rawlssche Theorie jedenfalls nicht an der Maximin-Regel scheitern; es besteht, wie Rawls betont, lediglich eine Beziehung zwischen beiden, keine Äquivalenz. Die Einführung eines komparativen Gerechtigkeitsbegriffs hängt vielmehr davon ab, ob es künftig gelingt, einen geeigneten Grundgüter-Index zu konstruieren, der die Nachteile der additiven Nutzenfunktionen vermeidet. Mit dessen Hilfe ließen sich Steuerverteilungen ordnen.

Viertes Kapitel

Zur entscheidungstheoretischen Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips A. Ein ethisches Entscheidungsverfahren vom Rawlsschen Typ Die von Rawls, Harsanyi oder Suppes entwickelten Modelle führen einen neuen Gedanken in die traditionelle Diskussion ethischer Entscheidungsverfahren ein: "The idea oftaking a chance on which person one will turn out to be", formuliert Rawls.1 Die drei Modelle explizieren diesen Grundgedanken gleichermaßen durch die Theorie des rationalen Verhaltens, wenden aber unterschiedliche Methoden dieser Theorie an. Der Methodenpluralismus führt in Einzelfällen zu unterschiedlichen ethischen Urteilen. Nun könnte die Methodenwahl allein durch Abstellen auf die Konsequenzen entschieden werden: Zu wählen ist die Methode, deren Urteile dem ethischen Vorverständnis am besten entsprechen. Dies ist sicherlich ein sehr gewichtiger Gesichtspunkt, sei er dem Entscheidenden bewußt oder noch unbewußt. Aber darüber hinaus zählen bei der Auswahl auch mehr technische Gesichtspunkte der Methode, wie etwa allgemeine Verständlichkeit, einfachere Anwendbarkeit oder Fruchtbarkeit im Hinblick auf das UntersuchungszieJ.2 In dieser Arbeit wird für die Anwendung eines ethischen Entscheidungsverfahrens vom Rawlsschen Typ argumentiert. Nicht, weil die Rawlssche Methodik alle ihr gestellten Probleme zu lösen vermag. Aber wenn die Summe der für oder gegen die einzelnen Modelle sprechenden Argumente gezogen wird, spricht mehr für Rawls. Das gewichtigste gegen Rawls sprechende Argument ist die prinzipielle Ablehnung nicht-empirischer, insbesondere auch subjektiver Wahrscheinlichkeiten. Dieses Argument tritt aber gegenüber dem Hauptmangel des Harsanyi-Modells zurück. Wegen der additiv definierten Gesamtnutzenfunktion gestattet das Harsanyi-Modell, wie alle anderen bekannten utilitaristischen Entscheidungsverfahren ebenfalls, keine Differenzierung entsprechend der personellen Risikonutzenverteilung. Entscheidend ist die Summe der gesamten Risikonutzen aller Entscheidungsträger einer Gesellschaft. Die Folge ist Rawls, Justice, S. 189. Im Grunde geht es um die Wahl zwischen verschiedenen möglichen theoretischen Konzepten zur Rechtfertigung von Steuerverteilungsprinzipien. Als für die Beurteilung einer Theorie bedeutsam, nennt Stegmüller, Begriffs- und Theoriebildung, S. 110f. das Zusammenspiel von fünf Komponenten: empirische Befunde, h}pothetische Verallgemeinerungen von Erfahrungen, Festsetzungen, Einfachheitsbetrachtungen und Fruchtbarkeitsüberlegungen. 1

2

90

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfahigkeitsprinzips

bekannt: Ein utilitaristisches Urteil kann Entscheidungen empfehlen, die einzelne Entscheidungsträger um des Vorteils der Übrigen willen schlechter stellt. Suppes Modell setzt mit der Präferenzrelation R bereits eine materielle Gerechtigkeitskonzeption voraus, scheidet deshalb für diese Arbeit völlig aus. Nachfolgend wird einem Entscheidungsverfahren vom Rawlsschen Typ das Wort geredet. Dies bedeutet Übernahme der Rawlsschen Methodik und Berücksichtigung einiger, insbesondere auf Harsanyi zurückgehender Einwände. Methodisch orientiert sich Rawls am axiomatischen Denken. Die den Urzustand ausmachenden zwölf Bedingungen liefern eine deduktive Basis. Von dieser werden mittels der Theorie des rationalen Verhaltens die Gerechtigkeitsgrundsätze abgeleitet. Im Hinblick auf die abweichenden Gegenstände - Rawls allgemeine Gerechtigkeitsgrundsätze, in dieser Arbeit Steuerverteilungsprinzipien - muß überlegt werden, ob die Rawlsschen Bedingungen auch für die Wahl von Steuerverteilungsprinzipien hinreichen. Gegebenenfalls einzufügende Bedingungen sollen möglichst "natürlich und einleuchtend" sein? Von ihrer Akzeptanz hängt, eine zutreffende Ableitung unterstellt, die Akzeptanz der Wahlergebnisse ab. Seien die zwölf Bedingungen - jeweils in Klammern die Rawlssche Numerierung - untersucht. Vertragspartner sind weiterhin Dauerpersonen oder Nachkommenlinien (1), die jederzeit (4) in die Gesellschaft eintreten können. Die zur Wahl stehenden unterschiedlichen Steuerverteilungsprinzipien werden in einer Liste dargestellt (3). Zur Wahlannahme ist ständige Einstimmigkeit erforderlich (10). Eine Übereinkunft kommt nicht zustande, wenn allgemeiner Egoismus herrscht (12). Es ist darauf Verlaß, daß die beschlossenen Grundsätze von jedermann streng eingehalten werden (11). Gegenstand der Entscheidung ist abweichend von Rawls nicht die Grundstruktur der Gesellschaft; vielmehr ist über Prinzipien materialer Steuergerechtigkeit zu entscheiden (2). Die Anwendungsbedingungen der materialen Steuergerechtigkeit sind bei Knappheit von Grundgütern erfüllt; Rawls übernimmt dagegen Humes Bedingungen mäßiger Knappheit (5). Rawls nennt ferner fünfformale Bedingungen für die Grundsätze der Gerechtigkeit: Allgemeinheit, unbeschränkte Anwendbarkeit, Öffentlichkeit, Rangordnung 4 und Endgültigkeit (6). Diese werden ersetzt durch die Ausführungen zur formalen Gerechtigkeit. Steuerverteilungsprinzipien müssen also universalisierbar sein; die Sätze müssen normenlogischen Regeln genügen. Durch diese Ersetzung bleibt die Rawlssche Forderung nach Öffentlichkeit im folgenden unberücksichtigt, ohne daß sich negative Auswirkungen bei der Rechtfertigung von Steuerverteilungsprinzipien ergeben. Die Kenntnisse und Ansichten der Entscheidungsträger sind unter dem Schleier des Nichtwissens verborgen (7). Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 35. Hiermit meint Rawls eine konnexe und transitive Ordnung aller denkbaren konkurrierenden Ansprüche; vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 156f. 3

4

A. Ein ethisches Entscheidungsverfahren vom Rawlsschen Typ

91

Für die Wahl von Steuerverteilungsprinzipien sind einige spezielle Kenntnisse klarzustellen. So ist den Entscheidungsträgem bekannt, daß sie in einer Gesellschaft leben, in der eine Inflation oder Deflation herrschen kann, aber nicht muß. Unbekannt ist dagegen, ob wirtschaftliches Wachstum vorliegt. Entscheidend für den Wahlausgang sind Kenntnisse über die Einkommensverteilung. Wissen die Entscheidungsträger beispielsweise im Urzustand, daß sie nach der Wahl eine gleiche personelle Einkommensverteilung in der Wirklichkeit vorfinden werden, so haben sie kaum Beweggründe, sich für eine Prinzipienfamilie zu entscheiden, die ein steuerfreies Existenzminimum oder eine Mehr-Progressions vorsieht. Unter dieser Annahme könnten sie sich für eine Pauschbesteuerung oder für die Äquivalenzfamilie entscheiden. Hier wird jedoch eine andere Annahme über die Einkommensverteilung getroffen: Die Entscheidungsträger wissen im Urzustand, daß sie nach der Wahl eine ungleiche Einkommensverteilung in der Wirklichkeit vorfinden werden.6 Unbekannt ist dagegen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe ein Entscheidungsträger Einkommen erzielen oder Vermögen besitzen, und wieviel Einkommen er möglicherweise sparen wird, ferner, ob das Vermögen ertragbringend angelegt werden kann. Die Ausgabenseite des öffentlichen Budgets ist bekannt und von allen Entscheidungsträgern in dieser Zusammensetzung als gerecht akzeptiert. Weiterhin setzt Rawls voraus, daß die Parteien aus einem gegenseitigen Desinteresse heraus handeln (8). Diese Bedingung wird übernommen. Sie steht im Gegensatz zum Verhalten der Figur des unparteiischen mitfühlenden Beobachters des klassischen Utilitarismus, der die Humesche Deutung der Unparteilichkeit - nach Humes Ansicht der einzige Gesichtspunkt zur Vereinheitlichung individueller moralischer Urteile - darstellt.7 In einem Rawlsschen Urzustand kann Mitgefühl durch gegenseitiges Desinteresse ersetzt werden. Das Ergebnis ist trotzdem Unparteilichkeit. Denn: Da die Entscheidungsträger "nichts über ihre natürlichen Gaben und ihre gesellschaftliche Stellung wissen, müssen sie die zu treffenden Regelungen unter allgemeinen Gesichtspunkten betrachten"s. Der Schleier des Nichtwissens vereitelt jegliche Parteinahme, auch für sich selbst. Die tiefgreifendste Abweichung zum Rawlsschen Urzustand besteht in den Rationalitätsbedingungen (9). Rawls geht von einer Zweck-Mittel-Rationalität Zu Mehr-Progression siehe unten, Punkt B.U.1 dieses Kapitels (S. 102f.). Es könnte auch angenommen werden, die Entscheidungsträger wüßten nicht, welche Einkommensverteilung nach der Prinzipienwahl in der Wirklichkeit vorliegen wird. Sie würden nur die allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenhänge kennen, nach denen entweder eine Gleich- oder eine Ungleichverteilung vorliegen muß, aber nicht wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit dies jeweils der Fall ist. Verhalten sich die Entscheidungsträger risikoscheu, so werden sie die Maxinlin-Regel anwenden und bei ihrer Entscheidung ebenfalls von einer Ungleichverteilung ausgehen. 7 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 217. 8 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 214. S

6

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4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

und objektiver Auffassung der Wahrscheinlichkeit aus. Hier wird die subjektive Auffassung der Wahrscheinlichkeit bevorzugt. Dementsprechend wird auch die Maximin-Regel aus der Sicht subjektiver Wahrscheinlichkeiten gedeutet. Dies bedeutet in den Worten Harsanyis: "if adecision maker follows the maximin principle, he is not really avoiding a choice of subjektive probabilities, at least implicitly ... his behavior will really amount to assigning propability one (or nearly to one) to the worst possibility in any given case".9 Die geringere Restwahrscheinlichkeit jeder Aktion ist auf den Eintritt der übrigen Zustände der Welt zu verteilen. Bei risikoscheuem Verhalten der Entscheidungsträger führen Maximin-Regel und Risikonutzen-Maximierung - wie bereits ausgeführt wurde - in zahlreichen Fällen zu derselben Entscheidung. Deshalb mag eine Maximin-Entscheidung als approximative Risikonutzen-Entscheidung verstanden werden. Die Gründe, hier die Maximin-Regel anzuwenden, sind aber handfesterer Natur. Risikonutzen-Maximierung ist - wie oben dargelegt - ethisch nicht akzeptabel. Dem gleichen Einwand wäre eine Grundgütermaximierung, die subjektive Wahrscheinlichkeiten berücksichtigt, ausgesetzt, wenn ein additives Gesamtmaß verwendet würde, wie es die jl-Regel tut. Die Maximin-Regel bietet ferner den Vorteil leichterer Handhabung, denn weder müssen aktuelle Risikonutzenfunktionen aufgestellt werden, noch sind interpersonelle Risikonutzenvergleiche erforderlich. Schließlich kann eine Entscheidungstheorie stets nur approximativ gültige Lösungen anbieten; exakte Lösungen existieren nur in den formalen Wissenschaften, wie Mathematik oder Logik. Wenn aber - dies wäre zu zeigen - Maximin-Entscheidung und RisikonutzenEntscheidung mit wachsender Risikoneigung konvergieren, so nähern sie sich auch dem gleichen Fehlerintervall. Die Maximin-Regel hat ihren Preis: methodische Schwierigkeiten. Hierin unterscheidet sie sich lediglich in Einzelheiten von der Risikonutzen-Maximierung. Sie ermöglicht die Lösung einiger Probleme im Zusammenhang mit der Wahl von Steuerverteilungsprinzipien, nicht die Lösung aller, ja nicht einmal die Lösung aller gewichtigeren Probleme. lO Der hier vertretene Rawls-Ansatz macht die Grundgüterausstattung des am wenigsten begünstigten Entscheidungsträgers zum Angelpunkt der Entscheidung. Dies wurde bereits bei der Harsanyi, Maximin-Principle, S. 47. So vermag der Rawls-Ansatz in der hier vorgetragenen Form nicht die Frage zu beantworten, in welchem Maße Ungleiches im Rahmen der Steuerverteilung ungleich zu behandeln ist. Nach Krause-Junk, Verteilungslehre, S. 342 ist dieses Problem bis heute allgemein nicht gelöst. Siehe zu dieser Frage auch Littmann, Valet, S. 114. Anderer Ansicht ist wohl Pohmer, Umverteilung, S. 158: Wird das Leistungsfähigkeitsprinzip opfertheoretisch interpretiert und werden gleiche Grenzopfer aller Entscheidungsträger verlangt, so ergibt sich, daß "der Staat die Einkommen seiner Bürger (vollständig) nivellieren muß"; "gibt man die Nivellierung auf und ersetzt sie durch die Devise soviel Umverteilung, wie möglich, so geht ein Vorzug dieses Ansatzes, nämlich die eindeutige Bestimmtheit des Ergebnisses, verloren. Besteuerungsniveau und Maß der Progression müssen nun festgelegt werden", ebenda, S. 160. 9

10

A. Ein ethisches Entscheidungsverfahren vom Rawlsschen Typ

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Diskussion der Möglichkeiten eines komparativen Gerechtigkeitsbegriffs erwähnt. Die personelle Grundgüterverteilung zwischen worst-off und best-off tangiert die Entscheidung dagegen nicht. So vermag die Maximin-Regel nicht, zwischen den beiden folgenden Steuerverteilungen zu differenzieren: Tabelle 6

Nach der Maximin-Regel gleichwertige Steuerverteilungen

Einkommen Steuerverteilung 1 Steuerverteilung 2

100 20 20

200

50

60

Summe

300 90 80

600 160 160

Nach der Maximin-Regel sind beide Steuerverteilungen gleichwertig. Die versteuerten Einkommen betragen {80, 150, 210} für Zeile 1 und {80, 140, 220} für Zeile 2, so daß sich Zeilenminima von jeweils 80 ergeben. Sen hat zur Behebung dieses Defektes eine sog. lexikographische MaximinRegel vorgeschlagen: "for a community of n individuals: (1) Maximize the welfare of the worst-off individual. (2) For equal welfare of the worst-off individuals, maximize the welfare ofthe second worst-offindividual ... (n) For equal welfare ofthe worst-ofTindividuals, the second worst-offindividuals, ... , the (n-1)th worst-offindividuals, maximize the welfare ofthe best-offindividual".u Wird die lexikographische Maximin-Regel dahin verstanden, daß zunächst die Position der am wenigsten Begünstigten entscheidend sein soll, falls hier Indifferenz vorliegt, soll die nächst bessere soziale Position entscheidend sein, usw., so fällt die Entscheidung nach dieser Regel für Verteilung 1. Der hier vorgeschlagene Lösungsansatz setzt sich ab von der in der Literatur 12 weitverbreiteten relativistischen Rechtfertigung von Normen. Danach soll, was moralisch richtig oder falsch ist, vom Wertesystem einer Gesellschaft bestimmt werden. Zu unterschiedlichen Epochen und in unterschiedlichen Kulturen würden unterschiedliche Moralordnungen gelten. Selbst, wenn dem Ableitungszusammenhang Gesellschaftssysstem - Wertesystem - Norm zugestimmt würde, bliebe unbeantwortet, wodurch das Wertesystem gerechtfertigt sein sollte. Die Tatsache, daß unterschiedliche Gesellschaftssysteme unterschiedliche Wertesysteme haben, besagt nicht das geringste über die Rechtfertigung eines Wertesystems. Der behauptete Ableitungszusammenhang ist somit lediglich eine Scheinbegründung. Williams 13 spöttelt wohl zu Recht über die verwirrte Lehre des Relativismus, wonach die Richtigkeit von irgendetwas vom WertesySen, Collective Choice, S. 138. Vgl. z. B. Ossenbühl, Gerechte Steuerlast, insbes. S. 7 -14; aber auch Bundesminister der Finanzen, Steuerrefonnkommission 1971, Allg. Teil, Tz. 36. 13 Williams, Utilitarismus-Kritik, S. 54. 11

12

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4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

stern einer Gesellschaft abhängen soll. Die Frage ist stets, wodurch das Wertesystem gerechtfertigt ist. Die Lösung dieses Problems läßt der Relativismus offen.

B. Steuerverteilungsprinzipien Steuerverteilungsprinzipien 14 werden im finanzwissenschaftlichen Schrifttum im umfassenderen Zusammenhang der Besteuerungsgrundsätze diskutiert. Letztere sind in den Worten Wittmanns "Normen für die Ausgestaltung und Erhebung von Steuern".l5 Diese Diskussion hat eine lange Tradition. 16 Sie wird in unseren Tagen insbesondere in Zusammenhang mit der Frage eines rationalen Steuersystems fortgeführtP

I. Sprachregelungen: Steuerverteilungen, Steuerverteilungsprinzipien und Familien Die herrschende Meinung tut sich schwer in der gedanklichen Aufarbeitung von Steuerverteilungsprinzipien. Damit einher geht eine undifferenzierte Terminologie, die - weil Spiegel mangelnder analytischer Durchdringung - das Verständnis erschwert. Deshalb ist zunächst eine im Hinblick auf das Untersuchungsziel angemessene Sprachregelung zu finden. Normative Sätze lassen sich danach unterscheiden, was sie gebieten. Ordnen sie eine konkrete Steuerverteilung an, oder lediglich wie eine Steuerverteilung zu gestalten ist? Man hnn sich folgendes Beziehungsgefüge 18 normativer Sätze vorstellen:

14 Einen lesenswerten Überblick vermittelt aus finanzwissenschaftlicher Sicht KrauseJunk, Verteilungslehren. IS Wittmann, ÖfTentliche Finanzen, S. 128. 16 Vgl. etwa die in der von Diehl, Karl und Mombert, Paul herausgegebenen Schrift, Grundsätze der Besteuerung, zusammengefaßten Beiträge von A. Smith, A. Held, J. W. von der Lith, J. St. Mill, A. H. Müller, D. Ricardo, J. A. Schlettwein, A. Wagner und anderer. 17 Siehe hierzu insbesondere Neumark, Grundsätze und Haller, Die Steuern. Ferner Koch, Deutung. 18 Im Vorgehen ähnlich wie hier Birk, Steuernormen, S. 54fT., jedoch speziell auf das Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichtet: "Man muß ... unterscheiden zwischen ersten Ableitungen, welche Grundcharakter hab,en, und weiteren auf den Grundwertungen aufbauenden Einzelwertungen, welche auf die Ausgestaltung einer Rechtsnorm gerichtet sind. Zur genauen Unterscheidung beider Ebenen sei hier vorgeschlagen, die Grundwertungen Primärableitungen zu nennen, die Einzelwertungen Sekundärableitungen. " Birks Analyse des Leistungsfähigkeitsprinzips hebt sich wohltuend von anderen Arbeiten ab, die im Bereich der Begriffsdichtung verbleiben, statt zu analysieren, d. h. in Bestandteile zu zerlegen.

B. Steuerverteilungsprinzipien

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Tabelle 7

Beziebungsgeflige normativer Sätze im Hinblick auf Steuerverteilungsprinzipien MetaMetaEbene

allgemeine normative Sätze, die gebieten, wie speziellere normative Sätze über die Gestaltung von Steuerverteilungen zu gestalten sind

MetaEbene

speziellere normative Sätze, die gebieten, wie Steuerverteilungen zu gestalten sind

ObjektEbene

normative Sätze, die eine konkrete Steuerverteilung gebieten

Das Beziehungsgefüge gibt Anlaß zu vier Definitionen: Definition Allgemeine STVP Ein allgemeines Steuerverteilungsprinzip ist ein normativer Satz über die Gestaltung von speziellen Steuerverteilungsprinzipien. Definition Spezielle STVP Ein spezielles Steuerverteilungsprinzip ist ein normativer Satz über die Gestaltung von Steuerverteilungen. 19 Er enthält Eigenschaften, die for die allgemeinen Steuerverteilungsprinzipien zwar notwendig, aber nicht hinreichend sind.

Spezielle Steuerverteilungsprinzipien liefern eine Wertung, deren Umsetzung in konkrete Handlungsanweisungen sich letztlich in wohlbestimmten Steuerverteilungen ausdrücken soll. Inwieweit eine Umsetzung eines Steuerverteilungsprinzips in eine Steuerverteilung gelingt, ist eine Frage der inhaltlichen Schärfe, die dem Prinzip gegeben wurde. Die begriffiiche Abgrenzung der allgemeinen Steuerverteilungsprinzipien von den speziellen hat durchaus ihre eigene Bedeutung bei der Analyse von Steuerverteilungsprinzipien. Historisch gesehen, sind erstere die älteste - aber auch unschärfste - Prinzipienformulierung. Die Abgrenzung ist im Rahmen des zu entwickelnden Begriffssystems aber eher als Baustein gedacht, der das Konzept einer Familie von speziellen Steuerverteilungsprinzipien verständlicher machen soll, das aus dem Beziehungsgefüge normativer Sätze bisher nicht ersichtlich war. Hierzu folgende Definition: 19 Diese Zusammenhänge hat auch schon Wicksell, New Principle, S. 74 in milderer Form beschrieben: "As is weil known, there are essentially two opposing basic principles, of which all others are but personal versions. They are the principle of equality or proportionality between ,Value and Countervalue' and the principle of equality or proportionality of sacrifice". Wicksells basic principles sind den hier eingeführten allgemeinen Steuerverteilungsprinzipien, seine personal versions den speziellen Steuerverteilungsprinzipien vergleichbar.

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4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

Definition Familie Eine Familie von speziellen Steuerverteilungsprinzipien ist die Menge aller spezieller Steuerverteilungsprinzipien, die ein- und demselben wohlbestimmten allgemeinen Steuerverteilungsprinzip genügen. 20

Eine Familie ist also eine Prinzipienmenge, nicht etwa eine Menge konkreter Steuerverteilungen. In ihr sind Prinzipien zusammengefaßt, die wohlbestimmte, die Familie konstituierende Eigenschaften aufweisen. Definition STV Eine Steuerverteilung ist ein bedingter normativer Satz, der eine Steuer gebietet. Er enthält Eigenschaften, die for ein spezielles Steuerverteilungsprinzip weder notwendig noch hinreichend sind.

Steuerverteilungen ordnen an, wer unter welchen Bedingungen welchen Betrag zahlen muß. Sie sind nicht zu verwechseln mit dem Begriff einer Steuer. Letzterem fehlt die normative Kraft. Auf die im zweiten Kapitel eingeführte Definition Steuer wird zur Abgrenzung hingewiesen. Allgemeine bzw. spezielle Steuerverteilungsprinzipien sowie Steuerverteilungen sollen nun so verstanden werden, daß zwischen ihnen folgende Beziehungen gelten, die als zunehmende Determinierung bezeichnet werden können: Ein allgemeines Steuerverteilungsprinzip muß intensional lediglich so bestimmt sein, daß die Eigenschaften im Definiens hinreichen, es von allen übrigen allgemeinen Steuerverteilungsprinzipien abzugrenzen. In der Sprache der Klassenlogik könnte man sagen, die Eigenschaften müssen für die Bildung disjunkter Klassen hinreichend sein. Ein spezielles Steuerverteilungsprinzip muß zusätzliche Eigenschaften im Definiens haben, die notwendig, aber nicht hinreichend für dieses Prinzip sind. Eine Steuerverteilung enthält wiederum weitere Eigenschaften im Definiens, die aber weder notwendig noch hinreichend sind, um die Steuerverteilung einem speziellen Steuerverteilungsprinzip zuzurechnen. Diese Eigenschaften individualisieren gleichsam das spezielle Steuerverteilungsprinzip. Sie können weggelassen oder in bestimmten Grenzen geändert werden, ohne daß eine Steuerverteilung dadurch gegen ein spezielles Steuerverteilungsprinzip verstoßen würde. Zunehmende Determinierung bedeutet ferner, daß die von Ebene zu Ebene hinzutretenden Eigenschaften hinsichtlich der in Frage stehenden normativen Sätze ethisch relevant sein müssen. Deshalb verlangt zunehmende Determinierung eine ethische Rechtfertigung. Der Gedanke führt also von den allgemeinen Steuerverteilungsprinzipien - hierüber wird im sogenannten ersten Wahlgang entschieden - über spezielle Steuerverteilungsprinzipien - eine Entscheidung 20 Ähnlich in der Begriffsbildung, allerdings nicht so differenziert, Musgrave / Peacock, Introduction, S. ix: Das "principle of ability to pay" - ein allgemeines Steuerverteilungsprinzip - muß in "an actual pattern oftax distribution" - eine konkrete Steuerverteilung - übertragen werden.

97

B. Steuerverteilungsprinzipien

des zweiten Wahlgangs - zu konkreten Steuerverteilungen, vorausgesetzt, die relevanten Eigenschaften können operationalisiert werden. Allgemeine bzw. spezielle Steuerverteilungsprinzipien wirken mit einem Wort Tipkes normsinnkonzipierend. 21 Zusammengefaßt ergibt sich als Sinnzusammenhang:

spezielles Prinzip\

spezielles Prinzip2

spezielle, PrinziPn

Verteilung\

Verteilung 2

Verteilung n

Abb. 7: Zusammenhang zwischen Prinzipien, Verteilungen und Familien

11. Darstellung einzelner Familien von Steuerverteilungsprinzipien Die Ausführungen gehen vom umgangssprachlichen Vorverständnis aus, das mit Einkommen, Konsum oder Existenzminimum verbunden ist. Die finanzwissenschaftliche Literatur versteht Steuerverteilungsprinzipien häufig wie konkrete Begriffe. So definiert Haller noch ganz in opfertheoretischer Tradition: "Das Prinzip der Abgabenbemessung nach der Opferfähigkeit wird als Leistungsfähigkeitsprinzip ... bezeichnet. "22 Eine derartige Auffassung kann nicht die Vielzahl möglicher normativer Sätze deutlich machen, die unter das Leistungsfähigkeitskonzept fallen. Sie erweckt vielmehr den Anschein, es gäbe nur ein Leistungsfähigkeitsprinzip und dieses sei in genau der - meist nur implizit - definierten Weise zu verstehen. Mit Hilfe der oben vorgeschlagenen Sprachregelungen werden Steuerverteilungsprinzipien differenzierter rekonstruiert. Die Rekonstruktion beschränkt sich auf die beiden Hauptfälle: Leistungsfähigkeitsprinzip und Äquivalenzprinzip; ferner auf das Pauschsteuerprinzip, einen Fall untergeordneter Bedeutung. Im angelsächsischen Sprachbereich wird erstes als ability-to-pay principle, zweites als equivalence oder benefit principle und drittes als lumpsum tax bezeichnet. Die intuitive Bedeutung der bei den Hauptfälle ist: (i) Die wirtschaftliche Fähigkeit der Entscheidungsträger, Steuern zahlen zu können, bestimmt die Vgl. Tipke, Steuergerechtigkeit, S. 48. Haller, Die Steuern, S. 15. Zur Auffassung Hallers äußert sich umfänglich Kurt Schmidt, Theorie, S. 392-402, insbesondere auch zur Frage, ob Leistungsfähigkeit durch die Lehre vom gleichen proportionalen Opfer (so Haller) zu interpretieren sei. 21

22

7 Walzer

98

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

Steuerverteilung (Leistungsjähigkeitsprinzip).23 (ii) Das marktwirtschaftliche do-ut-des wird auf den öffentlichen Sektor übertragen. D. h. der Grundsatz, jeder zahle an Steuern, was er an Leistungen des öffentlichen Sektors konsumiert, bestimmt die Steuerverteilung (Ä·quivalenzprinzip). 1. Die Familie der Leistungsjähigkeitsprinzipien

Die intuitive Formulierung des Leistungsfahigkeitsprinzips wurde häufig als Leerjormel bezeichnet oder als zu unbestimmt 24 angegriffen. Diese Kritik gilt nur eingeschränkt. Selbst die intuitive Formulierung kann als allgemeines Steuerverteilungsprinzip gewählt werden. Sie reicht zur Abgrenzung gegenüber dem Äquivalenzprinzip im Sinne einer disjunkten Klassenbildung aus. Fordert man vom Leistungsfahigkeitsprinzip mehr, so muß die Intension 25 erhöht werden.26 Eine konstruktive Kritik muß bei dieser Frage ansetzen und darf nicht bei der Leerforme1-Polemik verharren. Eine höhere Intension schützt auch vor Anwendung des Leistungsjähigkeitsprinzips als politisches Schlagwort in dem 23 Die Ursprünge dieses normativen Satzes gehen bis in die Antike zurück. In kodifizierter Form findet er sich spätestens seit der Französischen Revolution. Art. XIII der Erklärung der Menschenrechte von 1789 schrieb vor, daß "tous les citoyen en raison de leurs facultes" zu den Staatslasten beizutragen hätten. Auch Adam Smith, Wealth of Nations, Book V, Chapter 11, zitiert nach MusgravejPeacock, Introduction, S. ix, vertrat die Ansicht, alle Bürger sollten zu den Staatsausgaben beitragen "in proportion to their respective abilities; that is in proportion to the revenue which they respectively enjoy under the protection ofthe state". Vgl. auch Tipkes Ausführungen hierzu, Steuerrecht, S. 31 ff. Zur geschichtlichen Entwicklung einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit siehe auch Weston, Taxation, S. 171-209. Einen Überblick aus finanzwissenschaftlicher Sicht enthält Krause-Junk, Verteilungslehren, S. 338-344. Aus verfassungsrechtlicher Sicht äußern sich Bodenheim, Steuergerechtigkeitsproblem und Birk, Steuernormen; aus juristischer Sicht im übrigen unter vielen anderen Walz, Rechtsanwendung, S. 105 -119 und S. 155 -169 sowie Flurne, Wirtschaftsordnung, S. 58 - 71. 24 So hält Littmann, Valet, S. 114 das Leistungsfähigkeitsprinzip für eine Leerformel, "deren Essenz beinahe beliebig interpretiert wird"; ferner kollidiere die opfertheoretische Begründung des Prinzips "mit denjüngeren wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen" (S. 113). Leisner, Nivellierung, S. 101 äußert sich in einem polemischen Beitrag folgendermaßen: "Die größte Macht des Prinzips der Leistungsfähigkeit liegt in seiner eingängigen Unbestimmtheit". Zur Unbestimmtheit aber auch schon Weston, Taxation, S.171f.; ferner Schmoller, Grundprincipien, S. 57 und Pohmer, Einkommensumverteilung, S. 146. 2S Zur Unterscheidung und zum Zusammenhang von Intension und Extension von der Logik von Port Royal bis hin zu Carnap siehe Krauth, Philosophie Carnaps, S. 35 ff. 26 Bereits Popitz, Einkommensteuer, S.420 unternimmt zumindestens implizit den Versuch, die Intension des Leistungsfähigkeitsprinzips zu erhöhen, in dem er auf vier Differenzierungen hinweist: (i) Steuerfreiheit des Existenzminimums, (ii) Berücksichtigung subjektiver Lebensverhältnisse, (iii) Unterscheidung der Einkunftsarten in fundierte bzw. unfundierte und (iv) Progression. D. Schneider, Bezugsgrößen versucht eine Explikation steuerlicher Leistungsfähigkeit durch Diskussion unterschiedlicher ökonomischer Einkommenstheorien: Verwirklichung von oder Möglichkeit zum Mittelerwerb bzw. Verwirklichung von oder Möglichkeit zur Bedürfnisbefriedigung (S. 49) und entscheidet sich für verwirklichte Bedürfnisbefriedigung (S. 49), siehe auch ders., Abzug.

B. Steuerverteilungsprinzipien

99

Sinne, daß dem Prinzip ein zum jeweiligen tagespolitischen Couleur passender Inhalt gegeben wird.27 Definition allgemeines Leistungsfähigkeitsprinzip Ein Steuerverteilungsprinzip soll derart 28 gestaltet werden, daß gilt: 1. Die Bemessungsgrundlage hat wirtschaftliche Grundgüter als Argument, und

2. ein Existenzminimum bleibt steuerfrei, und 3. die durchschnittliche Steuerbelastung steigt mit wachsender Bemessungsgrundlage.

Unter durchschnittlicher Steuerbelastung wird der Ausdruck Tarif (b) / b mit bEB verstanden; vgl. die im zweiten Kapitel eingeführten Definitionen Bemessungsgrundlage und Tarif.29 Bevor die drei Bedingungen in ihrem Verhältnis zueinander undje für sich erläutert werden, sei erklärt, was unter der Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien zu verstehen ist. Definition Leistungsfähigkeits-Familie Die Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien ist die Menge aller Steuerverteilungsprinzipien, die dem allgemeinen Leistungsfähigkeitsprinzip genügen.

Aus der Definition folgt, daß nur genau eine Familie von Leistungsfahigkeitsprinzipien möglich ist, die aber aus mehreren unterscheidbaren Steuerverteilungsprinzipien besteht. Beispielsweise gehören die Prinzipien LI = Eine Steuerverteilung soll derart gestaltet werden, daß (i) die Bemessungsgrundlage Einkommen als Argument hat, (ii) ein Existenzminimum steuerfrei bleibt und (iii) die durchschnittliche Steuerbelastung mit wachsendem Einkommen steigt. und L 2 = Wie Ll, aber die Bemessungsgrundlage hat Konsum als Argument. beide zur Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien. Die Definition des allgemeinen Leistungsfähigkeitsprinzips knüpft mit ihrer ersten Eigenschaft, Bemessung der Steuer nach wirtschaftlichen Grundgütern, an wirtschaftliche Leistungsfahigkeit an. Im Gegensatz zur intuitiven Entwicklung des Leistungsfähigkeitskonzeptes wird Steuerfreiheit des Existenzminimums 27 Hierzu auch Schmölders, Gerechtigkeitspostulat, S. 57, der vom "nur vorgeschobenen Appell an die Gerechtigkeit" spricht. 28 Schon im Athen Solons sollen sich nach Montesquieu, Esprit des lois, S. 359 (livre XIII, chapitre VII) die Bürger einer Steuer unterworfen haben, die vier verschiedene Leistungsfähigkeitsklassen unterschied, relativ zur Leistungsfähigkeit progressiv ausgestaltet war und Steuerfreiheit für die Klasse mit der geringsten Leistungsfähigkeit vorsah. 29 Siehe S.53. Eine eigenwillige Diskussion von Steuertarifen bieten BösjGenser, Steuertariflehre. Die von den Autoren verwendete Terminologie unterscheidet sich sehr stark von der hier verwendeten. Speziell zur Möglichkeit eines Einkommensteuertarifs mit durchgehendem Progressionsverlauf vgl. Bundestagsdrucksache 8 j 62 (sog. Tarifbericht).



100

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

und steigende durchschnittliche Steuerbelastung nicht als Folge der Leistungsfähigkeit angesehen. Vielmehr sind beide Eigenschaften in das Definiens aufgenommen worden. Hierdurch unterscheidet sich eine Steuerverteilung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip von einer Steuerverteilung, die etwa nur bestimmte Grundgüter oder - wie es Schmollers 30 Absicht war - allein Einkommen als Verteilungsregel ansieht. Grundgüter sind im Rawlsschen Sinne zu verstehen. Gedacht ist insbesondere an die Grundgüter Einkommen oder Vermögen. Auch andere Grundgüter sind vorstellbar. So argumentiert Tinbergen 31 , in einem ökonomisch optimalen Steuersystem würde die Steuerverteilung eher nach den individuellen menschlichen Fähigkeiten der Entscheidungsträger, als am Ergebnis des Gebrauchs dieser Fähigkeiten bemessen werden. Die gegenwärtige Realisierung dieser Ansicht scheitere aber an den noch fehlenden geeigneten psychotechnischen Testverfahren. Wie es mit dieser mehr technischen Frage auch sei, ein Anknüpfen der Besteuerung an psychischen Fähigkeiten tangiert grundlegende ethische Werte, wie Freiheit oder Selbstbestimmung, z. B. bei der Bildung oder Berufswahl. Tinbergens Vorschlag würde im Ergebnis wie eine Steuer wirken, die nicht an das tatsächlich erzielte Einkommen (Ist-Einkommen), sondern an das bei Anstrengung aller Fähigkeiten erzielbare Einkommen (Soll-Einkommen) anknüpft. Die entscheidende Frage kann dann nur sein, ob sich die Menschen für eine interventionistische Steuerbemessung unter ethischen Gesichtspunkten entscheiden würden. Eine derartige Steuerbemessung würde ihr gesamtes System individueller Werte wirtschaftlichen Sanktionen unterwerfen. Aus der Sicht des Rawls-Ansatzes würden die Entscheidungsträger wegen des Vorrangs der Freiheit nicht für eine Besteuerung nach den potentiellen Fähigkeiten votieren. Zweite Eigenschaft der Leistungsfähigkeitsfamilie ist die Steuerfreiheit des Existenzminimums. Entscheidungsträger, deren Einkommen oder Vermögen eine näher zu bestimmende Armutsgrenze nicht übersteigen, sollen durch die Besteuerung wirtschaftlich nicht noch schlechter gestellt werden. Die Armutsgrenze muß die persönlichen Verhältnisse des Entscheidungsträgers berücksichtigen, wie Familienstand, Kinderzahl, Ausgaben wegen Krankheiten oder Behinderungen körperlicher, geistiger oder seelischer Art.32 Die Steuerfreiheit des Existenzminimums ist Ausdruck des Bestrebens, die am wenigsten Begün30 Vgl. Schmoller, Grundprinzipien, S. 52. Damit entfällt auch Schmollers Einwand, "Leistungsfähigkeit" sei "vorerst ein leerer Begriff, mit dem man ohne nähern Inhalt nichts thun kann, man mag ihn drehen und wenden wie man will", ebenda, S. 57. 31 Vgl. Tinbergen, Einkommensverteilung, S. 130, S. 156 und S. 164. Zur Explikation steuerlicher Leisungsfähigkeit mit Bezug auf die persönlichen Fähigkeiten eines Entscheidungsträgers, vgl. auch D. Schneider, Bezugsgrößen, S. 44ff. 32 Vgl. auch Weston, Taxation, S. 182: "With the earlier economists, following the English school, the taxable income was held to be the pure income-the net income minus the necessary cost of subsistence."

101

B. Steuerverteilungsprinzipien

stigten durch die Besteuerung nicht in existentielle Nöte zu bringen.33 "Die Steuer muß", wie Sismondi sagte, "vor der Notdurft haltmachen."34 Die Leistungsfähigkeitsfamilie sichert den Entscheidungsträgern kein MindestEinkommen in Höhe der Armutsgrenze zu. Eine derartige Regelung wird zwar von Befürwortern einer sog. negativen Einkommensteuer gefordert. Die Leistungsfähigkeitsfamilie folgt dieser Forderung aber nicht, sie nimmt vielmehr die gegebenen Einkommen oder Vermögen hin. Mögliche Transferzahlungen zur Aufstockung der Einkommen auf den Betrag der Armutsgrenze sind im Entscheidungsverfahren bereits bedacht. Sie gehören zur Ausgabenseite des gesamtwirtschaftlichen Budgets, dessen Ausgaben-Zusammensetzung als bereits im Urzustand akzeptiert gilt und somit hier nicht näher zu besprechen ist. Im zweiten Wahlgang müssen die Entscheidungsträger auch über die steuertechnische Ausgestaltung des steuerfreien Existenzminimums entscheiden. Zwei Wege sind möglich. Erstens Freigrenze: Eine Bemessungsgrundlage ist lediglich solange steuerfrei, wie sie den Betrag des Existenzminimums nicht übersteigt. Übersteigt sie ihn, so ist sie in voller Höhe steuerpflichtig. Zweitens Freibetrag: Die Bemessungsgrundlage ist nur insoweit steuerpflichtig, wie sie den Betrag des Existenzminimums übersteigt. Betrage beispielsweise das Existenzminimum 4. Die Tariffunktion nimmt dann für eine Freigrenzen- bzw. Freibetragsregelung des Existenzminimums unterschiedliche Formen an:

Tarif (b) =

Freigrenze

Freibetrag

für b~4 0,22 b für b > 4

o für b~4 0,22 (b-4) für

{o

b> 4

Die gelegentlich in der Literatur diskutierte Alternative, Steuerfreiheit entweder des physischen oder des kulturellen Existenzminimums, wird nicht in den ethischen Entscheidungsprozeß einbezogen. Sie bleibt hier offen.35 Dritte und letzte Eigenschaft der Leistungsfähigkeitsfamilie ist die mit wachsender Bemessungsgrundlage steigende durchschnittliche Steuerbelastung. Die durchschnittliche Steuerbelastung wurde erklärt zu: Tarif (b) / b (b E B). Für eine steigende durchschnittliche Steuerbelastung wird - Differenzierbar33 Vgl. Neumark, Einkommensbesteuerung, S. 64, nach dem das steuerfreie Existenzminimum den Ärmsten einen gewissen Schutz bieten soll. 34 Zitiert nach Neumark, Einkommensbesteuerung, S. 61. 3S J. St. Mill, Allgemeine Grundsätze, S.82 war der Ansicht, "Die Befreiung zu Gunsten des geringeren Einkommens sollte nach meiner Ansicht nicht weiter ausgedehnt werden, als zum Unterhalte des Lebens und der Gesundheit sowie zur Befreiung von leiblichen Ungemach eben nöthig ist".

102

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfahigkeitsprinzips

keit unterstellt - zusätzlich gefordert, daß die erste Ableitung der durchschnittlichen Steuerbelastung nach b positiv ist:

Fällt die Entscheidung für ein Existenzminimum in der Form der Freibetragsregelung, so ist damit stets eine steigende durchschnittliche Steuerbelastung verbunden. Dies erkennt man am einfachsten am Studium einer linearen Tariffunktion. Betrage das Existentminimum 4 und sei Tarif (b) = 0,22 (b - 4). Dann gilt: (1)

Tar~(b) =0,22- 0,:8 (b "# 0)

und die erste Ableitung von (1) nach b (2)

[

Tarif (b b

)J'

0,88 b2

= - (b"# 0)

ist positiv für beliebige bEB. Die steigende durchschnittliche Steuerbelastung konvergiert gegen 0,22, wenn b über alle Grenzen wächst. Eine mit wachsender Bemessungsgrundlage steigende durchschnittliche Steuerbelastung wird Grund-Progression 36 genannt, wenn sie allein auf dem Abzug eines Existenzminimums in der Form des Freibetrags beruht. Nun ist vorstellbar, daß die Tariffunktion eine über die Grund-Progression hinausgehende Progression aufweisen soll, etwa weil eine stärkere GrundgüterUmverteilung gewünscht wird. Die über die Grund-Progression hinausgehende Progression heißt Mehr-Progression 37 • Beispielsweise ist Tarifdb) = 0,22 (b - 4) (b> 0)

eine Tariffunktion allein mit Grund-Progression. Dagegen ist 36

Im sog. Taritbericht der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache 8/62 auch als

indirekte Progression bezeichnet: "Stellt man die Betrachtung auf die Durchschnittssteuer-

satzfunktion ab, so wird allerdings auch innerhalb der Proportionalzone ... keine proportionale Besteuerung erreicht, solange dieser eine Nullzone (Grundfreibetrag) vorgeschaltet ist. Für das insgesamt zu versteuernde Einkommen ergibt sich in diesem Falle eine progressive Durchschnittssteuerbelastung (sog. indirekte Progression), die um so steiler verläuft, je höher der Proportionalsteuersatz und / oder der Grundfreibetrag ist"; ebenda, S. 4. 37 Die Mehr-Progression wird im Schrifttum im allgemeinen als direkte Progression bezeichnet.

103

B. Steuerverteilungsprinzipien

Tarifdb)

= 0,22 (b -

4) (1

+ b120) (b > 0)

eine TarifTunktion mit Grund- und Mehrprogression. Die verschiedenen Kurvenverläufe seien anhand der Funktionsgraphen dargestellt: Tarif (b)

1,98

0,99

o

5

10

Abb.8: Graph von Tariffunktionen mit Grund- bzw. Mehr-Progression

Der Unterschied zwischen Grund- und Mehr-Progression liegt auf der Hand: Eine Grund-Progression ist lediglich die Folge eines als Freibetrag ausgestalteten Existenzminimums. Sie ist dann gerechtfertigt, wenn das als Freibetrag ausgestaltete Existenzminimum gerechtfertigt ist. Eine Mehr-Progression bedarf dagegen einer eigenständigen Rechtfertigung. 2. Die Familie der Xquivalenzprinzipien Über die intuitive Formulierung des Äquivalenzprinzips:38 Jeder zahle, was er an Leistungen des öffentlichen Sektors konsumiert, kommt auch die Definition des allgemeinen Äquivalenzprinzips nicht hinaus. Definition allgemeines Äquivalenzprinzip Ein spezielles Steuerverteilungsprinzip soll derart gestaltet werden, daß sich die einzelne Leistung des öffentlichen Sektors und die finanzielle Gegenleistung des konsumierenden Entscheidungsträgers jeweils wert- oder betragsmäßig entsprechen. Dementsprechend lautet die Definition der Familie der Äquivalenzprinzipien: Definition Ä'quivalenz-Familie Die Familie der Xquivalenzprinzipien ist die Menge aller Steuerverteilungsprinzipien, die dem allgemeinen Ä'quivalenzprinzip genügen. Die Äquivalenzfamilie ist in neuerer Zeit wohl am eingehendsten von Haller untersucht worden.39 Danach ist für Äquivalenzprinzipien zu unterscheiden, ob 38 Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. Weston, Taxation, S. 160 -170. Wegen eines Überblicks aus heutiger Sicht siehe Krause-Junk, Verteilungslehren, S. 334-338. 39 Vgl. Haller, Die Steuern, S. 13f. und S. 16ff.

104

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

sie auf sämtliche Leistungen des öffentlichen Sektors anzuwenden sind (totale Äquivalenz) oder nur auf bestimmte öffentliche Leistungen (partielle Äquivalenz). Eine totale Äquivalenz scheitert an der Nicht-Teilbarkeit zahlreicher öffentlicher Leistungen. So kann äußere Sicherheit den Entscheidungsträgern nicht in kleinen Einheiten für den individuellen Gebrauch angeboten werden. Sie erstreckt sich auf alle Entscheidungsträger, die - wie Adam Smith sagteunter dem Schutz des Staates leben. Deshalb kann für äußere Sicherheit auch das Ausschlußprinzip nicht gelten, nach dem von der Güternutzung ausgeschlossen ist, wer nicht zahlt. Auch wer kein Entgelt für äußere Sicherheit leistet, kommt in deren Genuß. Die Äquivalenzfamilie wäre also nur partiell sinnvoll anwendbar, nämlich insoweit, wie das Ausschlußprinzip auf öffentliche Leistungen anwendbar ist. Ferner können Äquivalenzprinzipien nach der Bemessungsgrundlage der Gegenleistung unterschieden werden. Bemißt sich die Gegenleistung nach dem Preis, den Kosten oder dem Nutzen der Leistung? Die preismäßige Äquivalenz wird auch marktwirtschaftliche Äquivalenz genannt. Die Theorie der Unternehmung unter vollkommener Konkurrenz wird hier auf den öffentlichen Sektor übertragen. Dieser setzt die Preise gemäß der Regel Preis = Grenzkosten fest. Umfang und Zusammensetzung der öffentlichen Leistungen bestimmen sich nach den Präferenzen der Entscheidungsträger, wie sie sich in deren Nachfrage offenbaren. Bei der kostenmäßigen Äquivalenz wird die Gegenleistung nach den auf Vollkostenbasis errechneten Selbstkosten der öffentlichen Leistungen bemessen. Haller differenziert hier noch zwischen individueller und gruppenmäßiger Äquivalenz. Im letzteren Fall nimmt eine Gruppe als Ganze bestimmte öffentliche Leistungen in Anspruch und soll auch als Ganze die angefallenen Kosten entrichten. Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten hilft diese Differenzierung nicht weiter. Sie läßt gerade das Verteilungsproblem innerhalb der Gruppe offen. Die nutzenmäßige Äquivalenz will schließlich die Gegenleistung nach dem individuellen Nutzen der Leistung für den Entscheidungsträger bemessen. 3. Die Familie der Pauschsteuerprinzipien

Die Literatur versteht unter einer Pauschsteuer eine Steuer, die zwar aus dem Einkommen zu entrichten sein soll, die aber nicht nach irgendwelchen Ergebnissen wirtschaftlichen Handeins bemessen wird. Pauschsteuern sind also insbesondere einkommens- und vermögensunabhängig. In wirtschaftswissenschaftlicher Terminologie lassen sie sich durch die Formulierung abgrenzen, sie hätten zwar einen Einkommenseffekt (Steuerzahlungen mindern das anderenfalls für Konsum oder Sparen verfügbare Einkommen) aber keinen Substitutionseffekt (werden in einem ökonomischen System mit optimaler Faktorallokation Steuern eingeführt oder verändert, so führen diese grundsätzlich zu einer ReAllokation der Faktoren, bevor das System wieder eine optimale Position einnimmt).

B. Steuerverteilungsprinzipien

105

Derartige Steuern sind geschichtlich nachgewiesen. So soll Solon in außergewöhnlichen Zeiten die Eisphora, eine Kopfsteuer der Athener Vollbürger, eingeführt haben.4Q In den USA soll es auf der Ebene der Bundesstaaten noch bis zum Jahre 1966 Pauschsteuern gegeben haben, deren Zahlung Voraussetzung für eine Wahl beteiligung war (sog. poil taxes).41 Pauschsteuern haben aber auch ihren Platz in der wissenschaftlichen Diskussion. Hier wird verschiedentlich behauptet, Pauschsteuern seien anderen Verteilungsprinzipien aus wohlfahrtstheoretischen Erwägungen überlegen. Die traditionellere Literatur hat Kopfsteuern diskutiert, entweder ungestaffelte - also gleicher Steuerbetrag je Kopf - oder nach Familienstand gestaffelte. Insbesondere Pigou behauptete die wohlfahrtstheoretische Überlegenheit einer Kopfsteuer. In neuerer Zeit setzt sich beispielsweise Tinbergen für die Suche nach anderen Verteilungsprinzipien ein, die enger an Pauschsteuern orientiert sind und eine Bemessung nach potentiellen Fähigkeiten des Entscheidungsträgers vorsehen.42

III. Eine Wahlliste einzelner Steuerverteilungsprinzipien Die Suche nach dem einen und einzigen gerechten materialen Steuerverteilungsprinzip muß, wie im dritten Kapitel aufgezeigt wurde, so ergebnislos bleiben, wie die Suche der Romantiker nach der blauen Blume. Die Existenz eines solchen Unikats läßt sich nicht analytisch zeigen. Vielmehr lassen die im Anschluß an Albert vorgetragenen Argumente den gegenteiligen Schluß zu, daß ein solches Prinzip nicht begründ bar ist. Hiervon ausgehend, ist ein anderer Weg zu suchen. In methodischer Anlehnung an Rawls wird deshalb eine Liste möglicher Steuerverteilungsprinzipien zusammengestellt. Die Liste enthält die oben dargestellten Familien von Steuerverteilungsprinzipien. Diese Liste kann niemals vollständig sein. Ihre Erweiterung ist lediglich eine Frage weiteren Nachdenkens über diesen Gegenstand. Mit dieser umfangmäßigen Unbestimmtheit der Liste scheint das hier gewählte methodische Vorgehen auf wackligen Füßen zu stehen. Doch wird zu diesem Urteil nur kommen, wer die Absolutheit wissenschaftlichen Denkens propagiert. Denn: Wird das Entscheidungsverfahren vom Rawlsschen Typ akzeptiert und angewendet, so wird die Subjektivität des Entscheidenden transzendiert. Das Verfahren führt also zu nachprüfbaren Entscheidungen. Offen ist dagegen, welche normativen Sätze im Sinne von Hypothesen dem Verfahren unterworfen werden. Hier ist die Erkenntnissituation aber nicht anders als etwa in der Physik: auch ein Physiker kann im allgemeinen nicht die Vollständigkeit der von ihm zu prüfenden Hypothesen garantieren. Er kann nur über die ihm bekannten Hypothesen urteilen und sein Urteil relativ zur Hypothesenliste aussprechen. Genau diese 40 41

42

Vgl. Schmölders, Steuerlehre, S. 15f. Vgl. Herber, Public Finance, S. 312f. Vgl. Tinbergen, Einkommensverteilung, S. 130, S. 156, S. 164.

106

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfahigkeitsprinzips

Situation liegt auch bei der Frage der Begründung normativer Sätze vor. Die Methode ist sinnvoll, wenn die hier vertretene nicht-dogmatische, offene Auffassung der materialen distributiven Gerechtigkeit akzeptiert wird. Die Auffassung manifestiert sich besonders deutlich darin, daß materiale distributive Gerechtigkeit als Relation ist gerechter als begriffen wird.43 Wenn hier gezeigt wird, daß die Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien gerechter ist als die übrigen Familien, so ist damit nicht ausgeschlossen, daß eine Familie von Steuerverteilungsprinzipien konstruiert werden kann, die gerechter ist als erstere. Nur ist gegenwärtig keine Familie von Verteilungsprinzipien bekannt, die die Leistungsfähigkeitsfamilie verdrängen könnte. Den Entscheidungsträgern wird im Urzustand als Wahlliste vorgelegt: A. Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien 1. a) Die Steuer wird nach dem Grundgut Einkommen bemessen, das steuerfreie physische Existenzminimum ist als Freibetragsregelung ausgestaltet, lediglich Grundprogression. b) Wie A.1.a), jedoch Bemessung nach dem Sparen. c) Wie A.1a), jedoch Bemessung nach dem Konsum. 2. Wie A.1.a), jedoch ist das steuerfreie physische Existenzminimum als Freigrenze ausgestaltet, nicht als Freibetrag. 3. Wie A.1.a), jedoch wird eine über die Grund-Progression hinausgehende Mehr-Progression eingeführt. B. Familie der Ä·quivalenzprinzipien 1. Marktwirtschaftliche Ä·quivalenz 2. Kostenmäßige Äquivalenz 3. Nutzenmäßige Ä·quivalenz C. Familie der Pauschsteuerprinzipien

1. Ungestaffelte Kopfsteuer 2. Nach Familienstand gestaffelte Kopfsteuer 3. Besteuerung nach Fähigkeiten

43 Vor diesem Hintergrund kann Tipkes Behauptung, das Leistungsfahigkeitsprinzip sei ein wissenschaftlich nicht deduzierbares ethisches Axiom keinen allgemeinen Bestand haben. Offenkundig kann das Prinzip in einigen Theorien ein Axiom sein, z. B. für das positiv gesetzte Einkommensteuerrecht. In Theorien über die Rechtfertigung von Steuerverteilungsprinzipien kann es dagegen nicht als Axiom eingeführt werden. Vielmehr ist es durch die auf anderen Grundannahmen aufbauenden Theorien gerade zu erklären. Auch ist unzutreffend, daß kein Wertepluralismus bestände. Vgl. Tipke, Steuerrecht, S.31f.

c.

Die Entscheidung für ein Steuerverteilungsprinzip

107

C. Die Entscheidung für ein Steuerverteilungsprinzip In diesem Abschnitt wird argumentiert, die Entscheidungsträger würden sich unter den Bedingungen des Urzustands für ein Leistungsfähigkeitsprinzip LFP I genannt - entscheiden, das die Steuer nach dem Einkommen bemißt, das steuerfreie Existenzminimum als Freibetrag ausgestaltet und im Regelfall eine Grund-Progression vorsieht.44 Die Wahl im Urzustand ist so aufgemacht, als wäre über eine Alleinsteuer zu entscheiden und nicht über ein System mehrerer Steuern. Mit der Darstellung der Wahlliste ist klar, unter welchen Aktionen der Entscheidungsträger wählen kann. Die ethische Entscheidungssituation ist damit vollständig beschrieben. Die Entscheidung vollzieht sich in mehreren aufeinanderfolgenden Wahlgängen: (i) Erster Wahlgang

Zu zeigen ist, daß der Entscheidungsträger sich unter den die Wahlsituation charakterisierenden Bedingungen für die Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien entscheidet. Hier wird die Entscheidung zwischen Leistungsfähigkeits- und Äquivalenzfamilie als der wohl wichtigste Fall ausführlicher, die übrigen Entscheidungen werden nur kursorisch behandelt. (ii) Zweiter Wahlgang

Zu zeigen ist, welches speziell ausgeprägte Steuerverteilungsprinzip aus der Leistungsfähigkeitsfamilie der Entscheidungsträger bevorzugt. Die Entscheidungsträger treffen unter den verschiedenen Familien von Steuerverteilungsprinzipien ihre Wahl, indem sie die Familien jeweils paarweise betrachten und sich dann für eine von beiden entscheiden. Bei der Paarbildung halten sie die Leistungsfähigkeitsfamilie gleichsam fest und wägen diese jeweils einzeln gegen die beiden anderen Familien ab. Dominiert die Leistungsfähigkeitsfamilie die beiden anderen Familien, wird durch diese Reihenfolge der paarweisen Entscheidungen die Wahl zwischen Äquivalenz- und Pauschsteuerfamilie überflüssig. Weitere Wahlgänge werden auf der Ebene der Steuerverteilungen erforderlich (Fünftes Kapitel).

44 Dagegen betont die herrschende Meinung, vgl. beispielsweise Tipke, Steuergerechtigkeit, S. 57, den Evidenz- und Offenbarungscharakter des Leistungsfähigkeitsprinzips: es sei nicht zwingend ableitbar, leuchte aber der großen Mehrheit offenbar als sachgerecht ein. Ähnlich auch schon Adam Smith, Wohlstand, S. 705: "Die augenfällige Gerechtigkeit und Nützlichkeit, die mit den vier Grundregeln verbunden sind." Unzutreffend sind dagegen die Feststellungen Leisners, Nivellierung, S. 97: "wird das Leistungsfähigkeitsaxiom auch gar nicht mehr diskutiert, es ist, als solches, der Kritik entzogen". Dem Verf. dieser Feststellung fehlt der Literaturüberblick; siehe etwa Littmann, Valet oder als Überblick: Krause-Junk, Verteilungslehren.

i08

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

I. Hauptgründe für die Wahl der Familie der Leistungsfahigkeitsprinzipien

Sei ein beliebiger Entscheidungsträger herausgegriffen und überlegt, wie er sich aus den im Urzustand vorausgesetzten Bedingungen heraus zwischen Leistungsfahigkeits- oder Äquivalenzfamilie entscheiden würde. Die Entscheidungsträger sind über die nach der Prinzipienwahl vorzufindende ungleiche personelle Einkommensverteilung orientiert. Sie wissen ferner um die Endgültigkeit der von ihnen zu wählenden Prinzipien. Die Endgültigkeit zwingt sie, sich für Steuerverteilungsprinzipien ohne Aussicht auf deren Revision zu entscheiden. Deshalb müssen sie berücksichtigen, ob und inwieweit die zur Wahl stehenden Prinzipien von ihnen Unerträgliches verlangen. Derartige Prinzipien scheiden von vornherein aus. Sie würden die Entscheidungsträger in eine Zwangslage - Prinzipientreue oder Selbsterhaltung bringen und dadurch die Gesellschaft eher de-stabilisieren als umgekehrt.45 Die gewählten Prinzipien müssen somit unter allen wesentlichen voraussehbaren Umständen von den Entscheidungsträgern einhaltbar sein. Nun kennzeichnen Knappheit der Grundgüter und das Bestreben der Entscheidungsträger, in Verfolgung ihres Eigeninteresses eher weniger als mehr Steuern zahlen zu wollen, die Anwendungsbedingungen der Steuergerechtigkeit. Die Familie der Äquivalenzprinzipien könnte geeignete Grundsätze zur Lösung dieses Konflikts beinhalten. Schließlich zahlt jeder nur das, was er an öffentlichen Leistungen konsumiert. Dagegen stellt die Leistungsfahigkeitsfamilie den Entscheidungsträgern die Güter des öffentlichen Sektors ohne spezielle Gegenleistung zur Nutzung zur Verfügung und finanziert diese über das allgemeine Steueraufkommen. Schon WiekseIl hatte argumentiert, es sei ungerecht, wenn man jemanden zwingen würde, die Kosten öffentlicher Tätigkeit mitzutragen, die er als nicht in seinem Interesse liegend betrachtet.46 Aus der Sicht des Urzustands ergibt sich allerdings eine von Wicksell abweichende Beurteilung. Bei Wahl der Äquivalenzfamilie müssen die Entscheidungsträger zwar nur die von ihnen konsumierten Güter des öffentlichen Sektors finanzieren. Sie wissen aber nicht, ob sie über die dafür benötigten Mittel verfügen werden. Dies verhindert der Schleier des Nichtwissens. Gehört der Entscheidungsträger zu den am wenigsten Begünstigten, so könnte diese Wahl Verzicht auf essentielle Güter bedeuten, wie Bildung, medizinische Versorgung, Nutzung der Infrastruktur oder gar Verzicht auf äußere oder innere Sicherheit und schließlich Verzicht auf soziale Transferleistungen, wodurch auch die Ausgaben für die elementare Lebensführung (Ernährung, Wohnen) in Frage stehen. 45 Zum Gesichtspunkt gesellschaftlicher Stabilität vgl. auch Schmölders, Gerechtigkeitspostulat, S. 54. 4ö Vgl. Wicksell, New Principle, S. 89.

C. Die Entscheidung für ein Steuerverteilungsprinzip

109

Die am wenigsten Begünstigten können auch nicht hoffen, ihre wirtschaftliche und existentielle Misere würde durch das Mitgefühl der Bessergestellten, durch altruistisches Handeln ihrer Mitmenschen gelindert werden. Die Menschen im Urzustand handeln aus gegenseitigem Desinteresse: "sie streben nach einer möglichst hohen Punktzahl. Ihren Mitspielern wünschen sie weder eine besonders hohe noch eine besonders niedrige Punktzahl".47 Sie könnten nun aus ihrer existentiellen Misere heraus die Wahl der Äquivalenzfamilie mit dem Hintergedanken treffen, sich selbst nicht daran zu halten, sondern deren Einhaltung den übrigen Entscheidungsträgern zu überlassen. Sie nähmen also eine gesellschaftliche Trittbrettfahrerposition ein und würden, wo immer möglich, öffentliche Leistungen konsumieren, ohne ihren Anteil zu deren Finanzierung aufzubringen. Unter den Bedingungen des Urzustands ist ein solches Verhalten nicht möglich. Hier wird strenge Einhaltung der beschlossenen Grundsätze durch alle Entscheidungsträger vorausgesetzt. Die Entscheidungsträger haben im Urzustand Kenntnisse der grundlegenden wirtschaftlichen Zusammenhänge. Sie müssen also bedenken, daß eine totale marktwirtschaftliche Äquivalenz nur möglich ist, wenn alle Güter dem Ausschlußprinzip unterworfen werden können. Für wichtige öffentliche Güter, z. B. innere oder äußere Sicherheit, ist das Ausschlußprinzip aber nicht durchsetzbar. Von daher könnte die Forderung nach Prinzipientreue allein an der Faktizität scheitern. Auch eine kostenmäßige Äquivalenz könnte die Misere der am wenigsten Begünstigten nicht ändern. Es bliebe nur der Weg einer Entgeltdifferenzierung. Für die am wenigsten Begünstigten müßten öffentliche Leistungen unter den Selbstkosten angeboten werden.48 "Fragt man aber nach der Fähigkeit, Beiträge zu tragen", sagt Haller, "und nach der Zumutbarkeit solcher Beiträge, so bewegt man sich bereits in den Gedankengängen des Leistungsfähigkeitsprinzips" .49 Mit der Wahl der Leistungsfähigkeitsfamilie sichern sich die Entscheidungsträger gegen die schlimmsten Möglichkeiten ab, die ihnen drohen, falls sie zu den am wenigsten Begünstigten gehören. Diese Prinzipienfamilie gestattet die Finanzierung von Transferzahlungen und stellt das Existenzminimum steuerfrei. Verbunden mit dem steuerfreien Existenzminimum ist, wenn dieses als Freibetrag ausgestaltet wird - unten wird gezeigt, daß dies die ethisch Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 168. Vgl. Tinbergen, Einkommensverteilung, S. 149: "Die soziale Bedeutung der Besteuerung kam mehr und mehr zur Sprache, als der Umfang der Leistungen, die der öffentliche Sektor unter Selbstkosten erbrachte, schrittweise zunahm. Dieses betrifft insbesondere den Bildungssektor, der in wachsendem Maße von der öffentlichen Hand finanziert wurde ... Heutzutage betrifft es aber auch das Eisenbahnwesen und in einigen Ländern das Gesundheitswesen. " 49 Haller, Die Steuern, S. 36. 47 48

110

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

bevorzugte Lösung ist -, eine Grund-Progression. Die Entscheidungsträger werden aber über die Grund-Progression hinaus auch für eine Mehr-Progression stimmen, wenn die Grund-Progression zur Sicherung des Existenzminimums nicht ausreicht. Wenn sich ein beliebiger Entscheidungsträger, der seine persönlichen Umstände nicht kennt, für die Leistungsfiihigkeitsfamilie entscheidet, so werden dies auch der zweite, dritte usw. bis hin zum n-ten tun, da allen n Entscheidungsträgern ihre persönlichen Umstände unbekannt sind. Auf diese Weise wird Einstimmigkeit der Entscheidung zustandekommen. Damit gilt: Die Entscheidungsträger werden sich unter den Bedingungen des Urzustands gegen die Äquivalenz- und für die Leistungsfahigkeitsfamilie entscheiden. Die Gründe, die gegen die Äquivalenzfamilie sprechen, nämlich keine Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte, die den am wenigsten Begünstigten existentielle Sicherheit geben könnten, lassen auch die Wahl zwischen der Leistungsfahigkeitsfamilie und der Pauschsteuerfamilie zugunsten der ersteren ausgehen. Den Entscheidungsträgern können große Nöte erwachsen, wenn sie eine einkommensunabhängig bemessene Steuer schulden, ohne über Einkommen, aus denen diese Steuer gezahlt werden kann, zu verfügen. Für die Leistungsfahigkeitsfamilie läßt sich auch aufzeigen, daß sie im Hinblick auf die Wahlliste die Maximin-Lösung des Problems der Steuerverteilung ist. Allerdings sind die für eine Anwendung der Maximin-Regel aus der Sicht des modifizierten Urzustands sprechenden Gründe geringfügig schwächer als bei Rawls. Rawls so nennt unter Berufung auf Fellner drei Voraussetzungen: Erstens, keine Kenntnis empirischer Wahrscheinlichkeiten; zweitens, Gleichgültigkeit gegenüber Ergebnissen, die über das nach der Maximin-Regel sicher Erreichbare hinausgehen und drittens, die abgelehnten Möglichkeiten müssen zu unannehmbaren Ergebnissen führen. Die erste Voraussetzung ist durch den Schleier des Nichtwissens erfüllt. Die dritte Voraussetzung liegt ebenfalls vor. Äquivalenzfamilie und Pauschsteuerfamilie sind aus der Sicht der am wenigsten Begünstigten unannehmbar, da soziale Gesichtspunkte unberücksichtigt bleiben. Problematisch ist die zweite Voraussetzung. Die Entscheidungsträger müßten sehr bescheidene Lebenspläne haben, wollten sie sich mit dem Existenzminimum begnügen. Im Gegenteil, im Urzustand wird auch ihr sicheres Selbstwertgefühl vorausgesetzt. Sie werden sich also stark genug fühlen, die Herausforderungen des Soziallebens anzunehmen und dessen Ergebnissen nicht gleichgültig gegenüberstehen. Wenn die Maximin-Regel ihr Wahlverhalten dennoch angemessen reflektiert, so deshalb, weil die Entscheidungsträger angesichts der großen Ungewißheiten des Soziallebens ein sicheres Minimum suchen. Sollten sich ihre Lebenspläne nach der Prinzipienwahl wie vorgesehen realisieren, so tant mieux für die Entscheidungsträger. 50

Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 179ff.

C. Die Entscheidung für ein Steuerverteilungsprinzip

111

Die Maximin-Regel stellt nun zunächst auf das denkbar ungünstigste Ergebnis einer jeden Prinzipienfamilie ab. Jede Familie ist somit danach zu beurteilen, wie sie die am wenigsten Begünstigten stellt. Die für die jeweiligen Familien sprechenden Argumente seien zusammengefaßt: Leistungsfähigkeitsfami/;e

a) Inanspruchnahmen öffentlicher Leistungen sind unabhängig von der individuellen Gegenleistung b) Finanzierung von Transferzahlungen zur Sicherung des Existenzminimums ist möglich c) Steuerfreiheit des Existenzminimums Äquivalenzfamilie

a) Jegliche öffentliche Leistung muß individuell bezahlt werden b) Keine Finanzierung von Transferzahlungen möglich c) Pauschsteuerfamilie

a) Inanspruchnahmen öffentlicher Leistungen sind unabhängig von der individuellen Gegenleistung b) c) Keine Steuerfreiheit des Existenzminimums; relativ hoher Steueranteil der am wenigsten Begünstigten Wird jetzt diejenige Familie bestimmt, die die am wenigsten Begünstigten relativ am besten stellt, so fällt die Wahl auf die Leistungsfähigkeitsfamilie. Diese Familie ist eine brauchbare Minimal/ösung des Problems der Steuerverteilung in einer Situation großer Ungewißheit. Unter den Bedingungen des Urzustands kann ein Entscheidungsträger kein Steuerverteilungsprinzip hinnehmen, das nicht wenigstens das Existenzminimum und dessen Steuerfreiheit sichert. Denkt man über den Ableitungszusammenhang nochmals aus einiger Distanz nach, so mag man das Leistungsfähigkeitsprinzip als Klugheitsregel charakterisieren. 51

n.

Zur Wahl eines speziellen Steuerverteilungsprinzips aus der Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien

Die Familie der Leistungsfähigkeitsprinzipien ist extensioneIl sehr weit bestimmt. Beispielsweise ist mit dem allgemeinen Leistungsfähigkeitsprinzip eine Bemessung der Leistungsfähigkeit nach dem Einkommen, dem Konsum oder dem Sparen verträglich. Das steuerfreie Existenzminimum kann als 51 So im Ergebnis auch Tipke, Steuergerechtigkeit, S. 99, wonach "Leistungsfähigkeitsprinzip und progressiver Tarif auch Prinzipien der praktischen Vernunft" sind. Tipke stellt zutreffend das Leistungsfähigkeitsprinzip über die Zweck-MitteL-Rationalität des bLoßen Verstandes. Die Vernunft ist das gegenüber dem Verstand höhere Erkenntnisvermögen, wenn in den Begriffen Kants gedacht wird.

112

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

Freigrenze oder Freibetrag ausgestaltet sein, Tarifkann eine Grund-Progression oder eine Mehr-Progression aufweisen, ohne daß sich Unverträglichkeiten zum allgemeinen Leistungsfähigkeitsprinzip ergäben. Nachfolgend wird versucht, ein spezieller formuliertes Leistungsfähigkeitsprinzip - nämlich LFP 1 - aus dieser Familie zu erhalten. Hierzu werden die unterschiedlichen Eigenschaften, die das allgemeine Leistungsfähigkeitsprinzip enthält, im sogenannten zweiten Wahlgang dem Entscheidungsverfahren vom Rawlsschen Typ unterworfen. Die Entscheidungen werden nur dann im einzelnen aus den Bedingungen des Urzustands abgeleitet, wenn ein Rückgriff in der Argumentation auf die gleichsam eine Kurzform des Entscheidungsverfahrens bildende Maximin-Regel nicht zum Ziel führt. Die Summe der jeweils ethisch bevorzugten Eigenschaften ergibt dann das spezieller ausgeprägte Leistungsfähigkei tsprinzi p. 1. Bemessung der Leistungsfähigkeit

Sei zunächst erwogen, ob sich die Entscheidungsträger im Urzustand für eine Bemessung der Leistungsfähigkeit nach Einkommen 52, Konsum oder Sparen entscheiden würden. 53 Sie wissen im Urzustand weder ob sie Einkünfte, noch welche Einkünfte sie erzielen werden. Unbekannt ist auch, ob sie Ersparnisse (Vermögen) besitzen und gegebenenfalls ertragsbringend anlegen können; ferner, inwieweit sie ihr Einkommen konsumieren. Ihnen ist jedoch der allgemeine Zusammenhang zwischen diesen drei Größen klar: Einkommen wird entweder konsumiert (C) oder gespart (S); eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Mit anderen Worten, sie verstehen den Bedeutungszusammenhang einer Definition des Einkommens einer Periode t (Et ) von der Verwendungsseite her: E t = Ct + St. Wird die Sparra te Null (S = 0), so gilt E = C; für soziale Schichten oberhalb der am wenigsten Begünstigten wird eine Sparrate, die größer als Null ist (S > 0), angenommen, so daß für diese Schichten auch gilt E> C.54 Der Fall C = 0 ist unmöglich, solange die Entscheidungsträger leben. 52 Eine ausführliche Diskussion, ob nicht nur Vermögen zur Bemessung der Leistungsfähigkeit herangezogen werden s01l, findet sich bei Weston, Taxation, S. 175 -178. Weston lehnt diese Ansicht ab: Historisch gesehen sei stets das Einkommen aus dem Vermögen gemeint gewesen, letzteres war lediglich Index für das erstere; anderenfa1ls "the property, and with it theability, would so on beexhausted", ebenda, S. 177. Dem letzteren Argument wi1l sich auch Krause-Junk, Verteilungslehren, S. 339 nicht verschließen. 53 Die zu Definition BM gehörende Interpretation führte die Komponenten Xl, ... , X n des Urbildes (Xl, ... , Xn ) von b als die numerischen Ausprägungen der besteuerungsrelevanten Eigenschaften ein. Diese Interpretation setzt voraus, daß zum einen den Komponenten Xl, ... , xn in sinnv01ler Weise Zahlen zugeordnet werden können und zum anderen eine sinnvolle Abbildungsvorschrift angegeben werden kann, die (x 1, ••• , x n ) auf b abbildet. Diese Metrisierungsproblematik wird hier nicht im einzelnen erörtert. Soweit jedoch die Komponenten Xl, ... , X n auf wirtschaftliche Tätigkeiten, z. B. unternehmerische oder freiberufliche Tätigkeit, Vermietung oder Verpachtung zurückgehen, kann man sich die Xl, ... , X n als das in Geld ausgedrückte Ergebnis dieser Tätigkeiten vorste1len.

c.

Die Entscheidung für ein Steuerverteilungsprinzip

113

Den Entscheidungsträgern ist ferner folgende Beziehung zwischen zwei Bemessungsgrundlagen b1, b2 (b E B) und zwei Steuersätzen 55 t 1, t2 (t > 0) bekannt: Aus der Wahrheit der Aussagen t 1 b 1 = t 2 b2 und b1 > b2 folgt die Wahrheit der Aussage t1 < t2 56 . D. h., wenn b1 wächst, so sinkt t1. Die Aussagen gelten analog für b2 und t2. Eine einfache Argumentation soll nun aufzeigen, daß den Entscheidungsträgern unter den Bedingungen des Urzustands eine Wahl zwischen E, C oder S möglich ist. In der Argumentation wird weder auf die Hypothese einer mit wachsendem Einkommen sinkenden Konsumquote noch gar auf die Hypothese eines mit wachsendem Einkommen abnehmenden Grenznutzens desselben zurückgegriffen. Nach der einfachen Maximin-Regel ist die Position der am wenigsten Begünstigten entscheidend. Diese konsumieren jedoch ihr gesamtes Einkommen; damit stellt sich für diese Gruppe kein wirkliches Wahlproblem. Nach der lexikographischen Maximin-Regel ist dann die nächst besser gestellte soziale Position entscheidend. Für diese darf ganz allgemein eine positive Sparrate angenommen werden, wodurch sich ein wirkliches Wahlproblern ergibt. Sei das Problem am Beispiel dieser sozialen Position beleuchtet. Die Entscheidungsträger sind ganz allgemein, wie ausgeführt wurde, um eine möglichst hohe Punktzahl im Verteilungsspiel bemüht. Dies ist dem repräsentativen Entscheidungsträger dieser sozialen Position bekannt. Angenommen, dieser Entscheidungsträger und auch alle übrigen entscheiden sich für eine Steuerbemessung nach dem Konsum. Dann können sich alle Entscheidungsträger auf die strenge Einhaltung dieses Verteilungsprinzips verlassen. Dies ist eine Bedingung des Urzustands. Die Prinzipientreue hindert die Entscheidungsträger aber nicht, ihre Lebenspläne hinsichtlich des vom Prinzip Gebotenen oder nicht Gebotenen möglichst günstig einzurichten. Im Gegenteil, sie müssen zur Erreichung einer möglichst hohen Punktzahl sogar so handeln. Dies gebietet die ebenfalls im Urzustand vorausgesetzte Zweck-Mittt?I-R1ationalität. Eine Steuerbemessung nach dem Konsum könnte die Entscheidungsträger dazu veranlassen, ihren gegenwärtigen Konsum zugunsten des Sparens stärker einzuschränken, als es für eine gerechte Sparrate 57 erforderlich wäre. Die Folge wäre eine 54 So auch die Ansicht von Tinbergen, Einkommensverteilung, S. 23: "Für niedrige Einkommen mag die Abweichung zwischen Einkommen definiert als Konsumausgaben zzgl. Sparen und Einkommen lediglich definiert als Konsumausgaben gering sein." 55 Aus Vereinfachungsgründen wird hier mit Steuersätzen im Sinne linearisierter Tariffunktionen argumentiert. 56 Man könnte anschaulich von einer Reziprozität zwischen Bemessungsgrundlage und Steuersatz sprechen: Eine hohe Bemessungsgrundlage beinhaltet einen niedrigen Steuersatz, wenn das Steueraufkommen konstant vorgegeben ist, und umgekehrt. Die Bedingung (I b l = (2b 2 formalisiert diese Konstanz. 57 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 336. Teil a) des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes "größtmögliche Vorteile für die am wenigsten Begünstigten" wird durch den "gerechten Spargrundsatz" eingeschränkt. Siehe hierzu auch oben S. 65 f.

8 Walzer

114

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

Steuersatzerhöhung, die diejenigen, deren KonsumquOie unverändert bliebe, stärker treffen würde. Mit anderen Worten, die Sparer würdfln eine Steuerumverteilung zuungunsten der Konsumenten bewirken können, ohne-daß sich letztere dagegen schützen könnten. Deshalb wird sich ein Entscheidungsiräger nicht für eine Bemessung nach dem Konsum entscheiden. Aus ähnlichen Überlegungen kommt auch eine Bemessung nach dt;m Sparen nicht in Frage.s8 Ein Entscheidungsträger wird eine Bemessung nach dem Einkommen wählen, weil damit seine Steuerzahlung stets unabhängig von der Einkommensverwendung ist. 2. Ausgestaltung des steuerfreien Existenzminimums

Sodann ist die Frage zu klären, ob sich die Entscheidungsträger für ein steuerfreies Existenzminimum ausgestaltet als Freibetrag oder als Freigrenze entscheiden würden. Oben, bei der Diskussion der Grund-Progression wurde bereits vorausgesetzt, daß die Entscheidung für eine Freibetragsregelung fallen wird. Dies' ist jetzt zu zeigen. Angesichts der großen Ungewißheit bevorzugen die Entscheidungsträger ein sicheres Minimum. Sie sind in ihrem Wahlverhalten darauf aus, die Position des am wenigsten Begünstigten zu maximieren. Unter den Bedingungen des vertragstheoretischen Entscheidungsmodells entspricht diesem Ziel ein möglichst hohes steuerfreies Existenzminimum. Nun läßt sich leicht einsehen, daß bei gegebenem Steueraufkommen die höchstmögliche Grenzsteuerbelastung auch das höchstmögliche steuerfreie Existenzminimum zur Folge hat. Ein rational handelnder Entscheidungsträger wird allerdings die Höhe der Grenzsteuersätze in seinem Wahlverhalten berücksichtigen und beispielsweise keine zusätzlichen Einkommensteile mehr erwirtschaften wollen, wenn der Grenzsteuerersatz 100% beträgt, denn in diesem Fall würde sich seine wirtschaftliche Position trotz weiterer wirtschaftlicher Aktivität nicht mehr verbessern. Angenommen, die Entscheidungsträger hätten ein Besteuerungsschema gewählt, in dem das steuerfreie Existenzminimum in der Form eines Freibetrags gewährt wird, der höchstmögliche Grenzsteuersatz 60% und das zu erhebende Steueraufkommen 63,36 betragen. Unter diesen Annahmen ergibt sich ein steuerfreies Existenzminimum von 72,20, wenn von dem sehr einfachen Fall von lediglich drei Einkommen in Höhe von 50 bzw. 100 bzw. 150 ausgegangen wird: Tabelle 8 Besteuerungsscbema mit Freigrenze

Einkommen Steuer

50,00

100,00

16,68

150,00

46,68

Summe 300,00 63,36

SB Zu einer abweichenden Ansicht gelangen z. B. Dieter Schneider, Steuerbilanzen, S. 26- 30; Moxter, Gewinnermittlung, S. 17 - 21.

C. Die Entscheidung für ein Steuerverteilungsprinzip

115

Das steuerfreie Existenzminimum ist maximal, denn seine weitere Erhöhung würde eine Erhöhung des Grenzsteuersatzes erfordern. Dies würde gegen die Annahme verstoßen, der Grenzsteuersatz von 60% sei bereits der höchstmögliche. Die Entscheidungsträger würden ein Besteuerungsschema, in dem das steuerfreie Existenzminimum in der Form einer Freigrenze ausgestaltet ist, nur dann wählen, wenn dieses ein höheres Existenzminimum als die Freibetragsregelung ermöglicht. Unter den gegebenen Umständen (höchstmöglicher Grenzsteuersatz 60%, Steueraufkommen 63,36) wäre das Steueraufkommen bei einer Freigrenze von 72,20 gemäß der Funktion Steuer (x) = 0,2534x für x größer als 72,20 zu berechnen: Tabelle 9 Besteuerungsschema mit Freibetrag

Einkommen Steuer

50,00

100,00 25,34

150,00 38,02

Summe 300,00 63,36

Dieses Besteuerungsschema enthält folgende Grenzsteuerbelastungen von Einkommensteilen, soweit diese die Freigrenze von 72,20 übersteigen (Grenzeinkommen): Tabelle 10 Grenzsteuerbelastung bei Freibetragsregelung

Einkommen Freibetrag

50,00 72,20

Grenzeinkommen Steuer Grenzsteuerbelastung

%

100,00 72,20

150,00 72,20

27,80

77,80

25,34 % 91,15

38,02 % 48,87

Bei einem Einkommen von 100 beträgt die Grenzsteuerbelastung bezogen auf das Grenzeinkommen 91,15%. Dies steht im Widerspruch zu der Annahme, der Grenzsteuersatz dürfe nur maximal 60% betragen. Demzufolge darf die Steuer höchstens auf (60% von 27,80 =) 16,68 festgesetzt werden, wodurch sich ein Steuerausfall von (25,34 - 16,68 =) 8,66 ergäbe. Andererseits liegt bei einem Einkommen von 150 die Grenzsteuerbelastung mit 48,87% noch unter der maximalen Grenzsteuerbelastung von 60%, so daß durch Anheben des Grenzsteuersatzes auf 60% eine kompensierende Steuermehreinnahme von (11,13% von 77,80 =) 8,66 möglich wäre. Damit verbliebe es nach diesen Steuersatzänderungen bei einem Steueraufkommen von 66,36. Die Besteuerungsmöglichkeiten sind ausgeschöpft, da die Grenzsteuersätze nunmehr ihre maximale Höhe erreicht haben. Ein höheres Steueraufkommen könnte nur 8'

116

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

durch eine Verringerung des Existenzminimums erreicht werden. Im Ergebnis kann somit auch in der Form der Freigrenze kein höheres steuerfreies Existenzminimum als 72,20 gewährt werden. Wenngleich, wie gezeigt, bei der Wahl zwischen einem steuerfreien Existenzminimum in der Form eines Freibetrags bzw. in der Form einer Freigrenze im Einzelfall Indifferenz bestehen kann, wird sich der Entscheidungsträger unter allgemeinen Gesichtspunkten für eine Freibetragsregelung entscheiden. Mit dieser Wahl vermeidet er, gemäß einer Freigrenzenregelung - wie sie etwa die Funktion Steuer (x) = 0,2534x für x größer als 72,20 ausdrückt- besteuert zu werden, deren Grenzsteuerbelastung für bestimmte Tarifabschnitte über dem höchstmöglichen Grenzsteuersatz liegt. 3. Beurteilung einer Mehr-Progression

Die Entscheidungsträger wählen ein steuerfreies Existenzminimum in der Form eines Freibetrags. Unter dem Gesichtspunkt des Tarifverlaufs bedeutet diese Wahl stets mindestens eine Grund-Progression. Aber auch eine MehrProgression ist mit einem Existenzminimum in der Form eines Freibetrags verträglich. Demnach müssen die Entscheidungsträger in der hypothetischen Situation auch zwischen einer Grund- oder einer Mehr-Progression wählen. Die Entscheidungsträger bevorzugen in ihrem Wahlverhalten, so wurde argumentiert, angesichts der großen Ungewißheiten des Lebens ein sicheres Minimum. Sie sind deshalb darauf aus, die soziale Position des' am wenigsten Begünstigten zu maximieren. Dieses Ziel hätten sie auf den ersten Blick scheinbar erreicht, wenn sich infolge des gewählten Besteuerungs- und Transferschemas ein for alle Entscheidungsträger gleichhohes Einkommen nach Berücksichtigung von Steuern und Transfers ergäbe. Das folgende Beispiel verdeutlicht diese Wahlsituation: Tabelle 11

Schemata zur Wahl zwischen gleicher und ungleicher personeUer Einkommensverteilung nach Steuern Einkommen Steuer a) öffentliche Güter b) Umverteilung versteuertes Einkommen Einkommen Steuer a) öffentliche Güter b) Umverteilung versteuertes Einkommen

Schema A 50,00

100,00

150,00

Summe 300,00

16,68

46,68

63,36

50,00

83,32

103,32

236,64

Schema B 50,00

100,00

150,00

300,00

+ 28,88

16,68 4,44

46,68 24,44

63,36

78,88

78,88

78,88

236,64

117

C. Die Entscheidung für ein Steuerverteilungsprinzip

Schema A besteuert die Entscheidungsträger gern. der Tariffunktion = 0,6 (x - 72,20) für x mindestens 72,20 bzw. Steuer (x) = 0 für x kleiner als 72,20. Dagegen lautet die Tariffunktion für das Schema B Steuer (x) = x - 78,88 für alle x größer oder gleich 78,88; Schema B enthält also eine Grund-Progression mit einem Grenzsteuersatz von 100% für alle Einkommensteile, die über dem Einheits-Einkommen von 78,88 liegen. Steuer (x)

Schema A hat ein Zeilenminimum von 50, Schema B ein solches von 78,88. Die Entscheidungsträger würden also das maximale Minimum von 78,88 und damit eine gleiche Verteilung des personellen Einkommens nach Berücksichtigung von Steuern und Transfers für alle Entscheidungsträger wählen. Dennoch enthält die Argumentation für die Gleichverteilung einen gravierenden Mangel. Die Entscheidungsträger handeln unter den die hypothetische Situation ausmachenden Bedingungen gemäß einer am Eigeninteresse ausgerichteten Rationalität. Im Besteuerungsschema B verhielte sich der einzelne Entscheidungsträger irrational, wenn er mehr leistete, als zur Erreichung des Einheits-Einkommens von 78,88 erforderlich ist, denn der diesen Betrag überschießende Einkommensteil wird zu 100% durch Steuern abgeschöpft und kommt nicht dem Leistenden zugute. Rational handelnde Entscheidungsträger würden gerade soviel leisten, wie notwendig ist, um das Einheits-Einkommen zu erzielen und im übrigen die Freizeit gegenüber der Arbeitsleistung vorziehen. Somit könnte bei Grenzsteuersätzen von 100% die Position der am wenigsten Begünstigten im Gegensatz zu dem angestrebten Ziel mangels ausreichendem Steueraufkommen nicht verbessert werden. 59 Soll das Ziel einer Maximierung der Position der am wenigsten Begünstigten erreicht werden, so darf die Höhe des Grenzsteuersatzes rational handelnden Entscheidungsträgern nicht den Anreiz nehmen, relativ hohe Positionen auf der Einkommensskala einzunehmen. Andererseits ist - wie bereits angedeutetfestzustellen, daß unter der Annahme eines konstanten Steueraufkommens die Position der am wenigsten Begünstigten sich durch Festsetzung höherer Grenzsteuersätze jeweils verbessert, indem höhere steuerfreie Existenzminima möglich werden, wie sich aus folgender Tabelle 12 ergibt: Tabelle 12 Abhängigkeit zwischen Steuersatz und Existenzminimum bei konstantem Steueraufkommen und Grund-Progression

Steuersatz (%) 30 40 50 60 70 59

Existenzminimum (Freibetrag) 29,60 47,20 61,64 72,20 79,74

Steuer bei einem Einkommen von 50,00 100,00 150,00 6,12 21,12 36,12 21,12 41,12 19,18 44,18 16,68 46,68 14,18 49,18

Vgl. zu dieser Problematik Arrow, Notes, S. 258ff.

Summe Steuern 63,36 63,36 63,36 63,36 63,36

118

4. Kap.: Begründung eines Leistungsfähigkeitsprinzips

Angenommen, s' wäre der kritischen Grenzsteuersatz, bei dem die Entscheidungsträger gerade noch zu weiterer Einkommenserzielung bereit wären, dann stände von einem zusätzlichen Einkommen von 100 ein Betrag von 100 s' für Transfers zur Verfügung. Dagegen würde eine ganz geringfügige Erhöhung des kritischen Grenzsteuersatzes kein zusätzliches Einkommen und damit keine zusätzlichen Steuerzahlungen entstehen lassen. Die Position der am wenigsten Begünstigten erreicht somit ihr Maximum, wenn der Grenzsteuersatz in Höhe des kritischen Grenzsteuersatzes festgesetzt wird. Bisher wurde gezeigt, daß eine Grund-Progression mit einem proportionalen Grenzsteuersatz (= kritischer Grenzsteuersatz) die Position der am wenigsten Begünstigten maximiert. Könnte dieses Ergebnis auch mit einem Besteuerungsschema erreicht werden, das eine Mehr-Progression vorsieht? Zur Beantwortung dieser Frage soll versucht werden, ein Besteuerungsschema mit GrundProgression (angenommener kritischer proportionaler Grenzsteuersatz 60%, Freibetrag 72,20; vgl. Tabelle 12) in ein solches mit Mehr-Progression zu überführen. Auch bei Mehr-Progression darf der angenommene kritische Grenzsteuersatz 60% nicht übersteigen, da anderenfalls kein Anreiz zu weiterer Einkommenserzielung bestände. Andererseits müssen, damit überhaupt von progressiven Grenzsteuersätzen gesprochen werden kann, die Grenzsteuersätze für niedrigere Einkommen unter 60% liegen. Angenommen, sie betragen 40% bzw. 0% für Einkommen von 100 bzw. 50, dann ergibt sich als Besteuerungsschema: Tabelle 13

Überruhrung einer Grund-Progression in eine Mehr-Progression bei konstantem Existenzminimum mit Steuerausfaß

S

0%

Einkommen Steuer

50,00

versteuertes Einkommen

50,00

40%

60%

150,00

~

46,68

Summe 300,00

88,88

103,32

242,20

100,00

57,80

Das Besteuerungsschema mit der Mehr-Progression gemäß Tabelle 13 weist gegenüber der Grund-Progression gemäß TabeIl 12 bisher ein um (63,36 - 57,80 =) 5,56 zu geringes Steueraufkommen aus. Die einzige Möglichkeit, Gleichheit der Steueraufkommen herbeizuführen, liegt in einer Herabsetzung des als Freibetrag gewährten Existenzminimums. Ein Existenzminimum von 66,64 führt zu einem Steueraufkommen von 63,36 und damit zur Aufkommensgleichheit, wie sich aus Tabelle 14 ergibt:

c.

Die Entscheidung für ein Steuerverteilungsprinzip

119

Tabelle 14

Anpassung einer Mehr-Progression an eine gegebene Grund-Progression durch Verringerung des Existenzminimums ohne SteuerausfaU

t

0% 50,00

40% 100,00 13,34

60% 150,00 50,02

Summe

versteuertes Einkommen

50,00

86,66

99,98

236,64

Einkommen Steuer

300,00 63,36

Eine Herabsetzung des steuerfreien Existenzminimums im Fall einer MehrProgression gegenüber dem Fall einer Grund-Progression bedeutet aber, daß erstere das Ziel einer Maximierung der sozialen Position der am wenigsten Begünstigten schlechter erfüllt als letztere. Die Entscheidungsträger werden sich somit für ein Besteuerungsschema mit Grund-Progression entscheiden, dessen proportionale Grenzsteuersätze dem kritischen Grenzsteuersatz entsprechen.

Fünftes Kapitel

Steuerbemessung nach dem Einkommen in entscheidungstheoretischer Sicht Im Urzustand wählen die Entscheidungsträger im ersten Wahlgang das allgemeine Leistungsfähigkeitsprinzip als Grundsatz materialer Steuergerechtigkeit. Sie entscheiden sich im zweiten Wahlgang ferner für das spezielle Leistungsfähigkeitsprinzip LFP 1, für das gilt: (i) die Steuerverteilung bemißt sich nach dem Einkommen, (ii) es gibt ein als Freibetrag ausgestaltetes steuerfreies Existenzminimum und (iii) der Tarif hat eine Grund- oder M ehrProgression. Diese drei Gedanken bilden den Kern der materialen Steuergerechtigkeit. Eine Auseinandersetzung mit möglichen Tarifgestaltungen und unterschiedlich hohen Existenzminima unterbleibt im Rahmen dieser Arbeit. Beide Probleme können durch den Rawls-Ansatz als teilweise gelöst gelten: aus dem Urzustand folgen zwar die Entscheidungen für eine progressive Besteuerung und für ein steuerfreies Existenzminimum. Differenzierte Antworten über den Progressionsverlauf bzw. die Höhe des Existenzminimums bleiben allerdings offen. Nachfolgend wird lediglich untersucht, welches Einkommenskonzept die Entscheidungsträger im Urzustand wählen würden, wobei zu beachten ist, daß Einkommen in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext Unterschiedliches bedeuten kann.

A. Zur Kontextgebundenheit eines Einkommensbegriffs Einkommen ist in mehrfacher Hinsicht nur dann ein wohlbestimmter Begriff, wenn - wie bei allen anderen Begriffen auch - der Kontext bekannt ist. Für sich allein genommen ist der Begriff nicht eindeutig bestimmt. Er erlangt seine volle Bedeutung erst durch seine Einbettung in entsprechende Aussagensysteme. Nachfolgend wird der Begriff vor dem Hintergrund verschiedener Bezugssysteme erörtert.

I. Relationale Verwendung Einkommen kann in Abhängigkeit vom Kontext als Eigenschaftsbegriff oder als RelationsbegrifJ verwendet werden.lIn dem Satz x ist Einkommen wird lediglich ausgedrückt, daß die Variable x eines bestimmten Grundbereichs die 1 Zur Diskussion des wissenschaftstheoretischen Hintergrunds dieser Unterscheidung siehe HempeJ, Begriffsbildung, S. 22.

A. Zur Kontextgebundenheit eines Einkommensbegriffs

121

klassebildenden Eigenschaften hat, die hinreichen, es zu dieser Klasse zu rechnen. Über x kann nur dann sinnvoll geredet werden, wenn die klassebildenden Eigenschaften bekannt sind. Beispielsweise wird in der Literatur immer und immer wieder die Frage erörtert, ob der Nutzungswert des Wohnens im eigenen Haus Einkommen sei? Dagegen werden in dem Satz a ist Einkommen von bein bestimmtes Objekt a des einen Grundbereichs und ein bestimmtes Subjekt b des anderen Grundbereichs miteinander in Beziehung gesetzt. Beispiel für diesen Aspekt des Einkommensbegriffs ist die unter dem Stichwort Übertragung von Einkunftsquellen geführte Diskussion.3 Bei dieser Diskussion geht es um die Frage, wem ein bestimmter Einkommensteil für Zwecke der Besteuerung zuzurechnen sei. Die relationale Verwendung von Einkommen bleibt in dieser Arbeit weitgehend unberücksichtigt; im Vordergrund steht die Verwendung von Einkommen als Eigenschaftsbegriff.

11. Theoretische Verwendung in der älteren Literatur Begriffs- und Theoriebildung gehen Hand in Hand. Auf diesen Zusammenhang wurde bereits öfter hingewiesen. Diese Erkenntnis wurde - so scheint es - von den Ökonomen und Juristen früherer Epochen nicht gebührend berücksichtigt. Statt Einkommen im Hinblick auf die ins Auge genommene Theorie zu definieren, wurde vielmehr verschiedentlich versucht, das Wesen des Einkommens an sich zu erfassen.4 Einkommen muß aber nicht für eine Summe direkt beobachtbarer Vorgänge oder Eigenschaften stehen, muß nicht auf zur Beobachtungssprache gehörige Grundbegriffe zurückgeführt werden können. Schon deshalb muß der phänomenalistische Ansatz scheitern. Vielmehr wurde es im Rahmen ökonomischer Theorien mit durchaus diffusen ökonomischen Begriffen, wie Bedürfnisbefriedigung, in Verbindung gebracht und erwies sich trotz der fehlenden empirischen Basis als ein im großen und ganzen fruchtbares Konzept, dessen Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Einkommen ist nur mit Bezug auf eine Theorie sinnvoll zu verwenden, ist ein theoretischer BegriffS 2 Neuestens hierzu BiergansjStockinger, Einkommensbegriff, S. 5f. Die Diskussion findet sich aber bereits bei den Klassikern. Beispielsweise ist nach Irving Fisher, Nature, S.106 jeglicher Dienst eines Vermögensgegenstandes Einkommen: "The only true method, in our view, is to regard uniformly as income the service of a dwelling to its owner (shelter or money rental), the service of a piano (music), and the service of food (nourishment)". 3 Hierzu ebenfalls neuestens Biergans j Stockinger, Einkommensbegriff, S. 25 - 33. Siehe aber auch Tipke (Hrsg.), Übertragung; dieses Werk enthält die auf der Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft im Jahre 1977 zu diesem Thema gehaltenen Vorträge. 4 Die frühen Theoretiker verfielen wohl dem Fehler, zunächst ein Begriffssystem zu schaffen, und der späteren Forschung die Frage zu überlassen, ob sich die Begrifflichkeit für die Konstruktion fruchtbarer Theorien eignet. "Aber Begri!Tsbildung in der Wissenschaft kann nicht", wie Hempel sagt, "von theoretischen Überlegungen getrennt werden"; ders., Begriffsbildung, S. 48.

122

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

1. Einkommen als M aximand des Wohlstands

Bei Durchsicht der älteren Literatur drängt sich der Eindruck auf, Einkommen wurde als General-Maximand des öffentlichen Wohlstands in die ökonomische Theorie eingeführt. So sagt etwa Schmoller über den bei Adam Smith verwendeten Einkommensbegriff, "dass damit Smith die Wohlfahrt und die Macht des Staates auf das, was er Roh-Einkommen nennt, stellt, lässt sich nicht läugnen".6 Sismondi sagt nach Schmoller "ausdrücklich, dass der Arbeiter von seinem Einkommen, d. h. seiner Arbeit lebe, dass wer verzehre, ohne ein Einkommen zu haben, sich und die Nation ärmer mache".? Und die Hermannsche Einkommenstheorie "soll nur den im Einkommensbegriff liegenden Thatsachen der Verarmung, des Auskommens, der Wohlhabenheit, des Reichthums auch wissenschaftlich Rechnung tragen und dem Theil des Einkommens einen besondern Namen geben, auf welchen allein die Möglichkeit einer Vermehrung der Bevölkerung, einer Erweiterung des Lebensgenusses und einer fortschreitenden Kapitalbildung beruht".8 Nach Schanz wird der Einkommensbegriff gebraucht "zur Erkenntnis der socialen Struktur der Gesellschaft, um zu sehen, wie die einzelnen Wirtschaftssubjekte nach diesem Gesichtspunkt sich abstufen, welche zeitlichen Verschiebungen in diesen Abstufungen sich ergeben, wir brauchen ihn, um die Güterverteilung richtig zu würdigen, brauchen ihn aber auch für eine wichtige öffentliche Einrichtung, für das Steuerwesen" .9 Schließlich konstatierte Irving Fisher: "Income plays an important role in all economic problems; it is income for which capital exists; it is income for which labor is exerted; and it is the distribution of income which constitutes the disparity between rich and poor".10 Bei der dem Einkommenskonzept in der älteren ökonomischen Theorie zugedachten zentralen Aufgabe konnte nur eine sehr allgemein gehaltene Einkommensdefinition in Frage kommen. So definierte der junge Schmoller im Jahre 1863 noch unter dem Einfluß der Hermannschen Gedanken: "Unter Einkommen verstehen wir ... die Summe von Mitteln, welche der Einzelne, 5 Theoretische Begriffe sind ein auf Carnap zurückgehendes Konzept; vgl. hierzu Krauth, Philosophie Carnaps, S. 107. 6 Schmoller, Grundprincipien, S. 8. Sehr deutlich wird dieser Zusammenhang ferner in der Schmollerschen Würdigung der Gedanken Hermanns. Wie nämlich für Hermann "das Ziel aller Wirthschaft die Bedürfnisbefriedigung des Menschen ist, so führt er auch den Begriff des Einkommens gemäß dem allgemeinen und alleinrichtigen Sprachgebrauch hierauf zurück. Einkommen ist ihm also die Summe von wirthschaftlichen Gütern, die ein Subjekt in einer gewissen Zeit zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ohne Schmälerung seines Vermögens verwenden kann"; ebenda, S. 19. 7 Schmoller, Grundprincipien, S. 13. B Schmoller, Grundprincipien, S. 22. 9 Schanz, Einkommensbegriff, S. 5. 10 Irving Fisher, Nature, S. viii.

A. Zur Kontextgebundenheit eines Einkommensbegriffs

123

ohne in seinem Vermögen zurückzukommen, für sich und seine Familie, für seine geistigen und körperlichen Bedürfnisse, für seine Genüsse und Zwecke, kurz für Steigerung seiner Persönlichkeit in seiner Wirthschaftsperiode verwenden kann".u Die Begründung für diese Definition lautet, auf eine kurze Formel gebracht: Weil "das Ziel aller Wirthschaft die Bedürfnisbefriedigung des Menschen ist"P Dagegen sagte Irving Fisher, der eine sehr ausgedehnte Dogmenforschung zum Einkommensbegriffbetrieb,13 um die Jahrhundertwende schlicht und einfach: "A flow of services through aperiod of time is called income".14 Er erläuterte diese Definition folgendermaßen: "The distinction between a fund and a flow has many applications in economic science. The most important application is to differentiate between capital and income. Capital is a fund and income a flow ... There is another important difference, namely, that capital is wealth, and income is the service of wealth" .15 Ähnlich abstrakt drückte sich Haig im Jahre 1921 aus: "Modern economic analysis recognizes that fundamentally income is a flow of satisfactions, of intangible psychological experiences".16 Etwas eingeschränkter formulierte Strutz, der Einkommen gleich Konsumtionsfond setzte und unter Einkommen mithin die Summe der zur Konsumtion ohne Inangriffnahme des Stammvermögens verfügbaren wirtschaftlichen Güter verstandP Das Bestreben, durch zunehmende Abstraktion bei der Begriffsbildung, einen General-Maximanden zu finden, erwies sich jedoch für Theorien, die die Wirklichkeit erklären und prognostizieren sollen, als wenig fruchtbar. Die Wirtschaftswissenschaften unserer Tage untersuchen zwar weiterhin Entstehung und Verteilung des Einkommens, kennen aber im Hinblick auf die Ziele der jeweiligen Theorie eine Vielzahl unterschiedlicher Einkommensbegriffe. So wird eine deutliche Grenze gezogen zwischen gesamtwirtschaftlichen Einkommenskonzepten, wie z. B. Volkseinkommen (Nettosozialprodukt zu Faktorkosten), Brutto- bzw. Netto-Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen, Brutto- bzw. Netto-Einkommen aus unselbständiger Arbeit sowie ÜbertraSchmoller, Grundprincipien, S. 52. Schmoller, Grundprincipien, S. 19. 13 Irving Fisher, Nature enthält einen zwölfseitigen speziellen Anhang Appendix to Chapter VII. Specimens of current definitions of income zu den unterschiedlichen Einkommensbegriffen, in dem sich Fisher mit zwölf Werken seiner Zeit auseinandersetzt, darunter auch die Definitionen der deutschsprachigen Klassiker, wie Roscher, Schmoller, Wagner. 14 Irving Fisher, Nature, S.52; siehe aber auch ebenda, S. 101. Der Gedanke der Bestands- bzw. Stromgröße findet sich später bei Popitz, Einkommensteuer, S. 406: "das Vermögen bezeichnet den in einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Bestand von Gütern, beim Einkommen handelt es sich um das Hinzutreten und das Ausscheiden von Gütern während eines Zeitraumes (Jahres), dort Zustand, hier Bewegung". IS Irving Fisher, Nature, S. 52. 16 Haig, Concept, S. 55. 17 Strutz, Einkommensteuergesetz, S. 3 f. 11

12

124

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

gungseinkommen, und einzel wirtschaftlichen Einkommenskonzepten, wie z. B. Einkommen als uniformer Entnahmestrom. 2. Einkommen als Steuerverteilungsmaßstab

In der frühen Literatur wurde der ökonomische Einkommensbegriff auch unreflektiert in Theorien über gerechte Steuerverteilungen aufgegriffen. Erst der junge Schmoller warf die entscheidende Frage auf: "Was versteht und verstand man unter Einkommen, und dann: welche Anwendung hat die Steuerlehre von diesen national-ökonomischen Begriffen bisher gemacht"?18 Schmoller führt dann weiter aus: "Ist wirklich der fiktive Theil des NationalEinkommens, aus welchem die Steuern gezahlt werden, nothwendig auch der arithmetische Maassstab, nach welchem sie umzulegen sind? Schließt das Gebot, durch die Steuern das Kapital nicht anzugreifen und die Möglichkeit fernerer Produktion nicht zu hindern, nothwendig auch das zweite Gebot ein, nur die kapitalisierbaren Ueberschüsse als Maassstab der Steuerverteilung aufzufassen? Nach unserer Ansicht ist die Bejahung dieser Frage einer der grössten logischen Sprünge, die je gemacht worden sind, ein Schluß, der nur möglich ist, wenn man seine Augen den Thatsachen des Lebens gänzlich verschliesst. "19 Schmoller ist insofern zuzustimmen, als schließlich scharf zu trennen ist, ob Einkommen zum Begriffssystem einer ökonomischen Theorie, z. B. zur Erklärung des Konsum- oder Investitionsverhaltens, oder zu einer Theorie über eine gerechte Steuerverteilung gehört. Apriori spricht nichts für einen in beiden Theoriebereichen identischen Einkommensbegriff. Auch Strutz hat den Ein18 Schmoller, Grundprincipien, S.2. Zur gleichen Problematik äußerte sich rund sechzig Jahre später Popitz, Einkommensteuer, S. 401 in fast unverständlicher Form: "Bei der Einkommensteuer ist bereits durch die richtige Ermittlung des Einkommens an sich begriffiich eine volkswirtschaftlich gerechte Verteilung der Last gegeben. Denn das Einkommen, an das die Steuer anknüpft, ist der volkswirtschaftliche Grundbegriff, bei dem sich das Problem der Verteilung der Güter in einer Volkswirtschaft mit dem finanzwissenschaftlichen Problem nach der Verteilung des öffentlichen Bedarfs auf die Wirtschaftseinheiten, aus denen sich die Volkswirtschaft eines Staatsgebiets zusammensetzt, begegnet. Das Einkommen bildet sich in einer bestimmten Spanne Zeit (in einem Jahr) im tauschwirtschaftlichen Verkehr, und seine Höhe entscheidet über den Anteil, der auf eine Wirtschaftseinheit an dem Fonds fällt, der in der Volkswirtschaft für Konsumtion und Vermögensbildung zur Verfügung steht. Wird die Steuerlast nach Maßgabe dieser Anteile am Jahresprodukt der Volkswirtschaft umgelegt, so erfüllen sich damit unmittelbar aus dem Begriff dieser Steuer heraus die Prinzipien der gerechten Steuerverteilung, die der Allgemeinheit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, in einem Maße, das von keiner anderen Steuer erreicht werden kann." Popitz übersieht, daß eine gerechte Steuerverteilung eine empirische und eine normative Komponente hat: Es muß eine normative Verteilungsregel geben, die als gerecht anerkannt ist, und die in der Wirklichkeit vorfindliche Verteilung muß dieser Regel entsprechen. Unmittelbar aus dem Begriffheraus folgt weder das eine noch das andere. 19 Schmoller, Grundprincipien, S. 32.

A. Zur Kontextgebundenheit eines Einkommensbegriffs

125

kommensbegriff unter dem ökonomischen und dem juristischen Gesichtspunkt gesehen: "Wenn auch die Frage, was im einzelnen Falle zum Einkommen im Sinne des Einzel-(Privat-)Einkommens gehört, weil dem einzelnen das Eigentum an einer Sache oder ein Forderungsrecht zusteht, und was in Abzug zu bringen ist auf Grund eines Schuldverhältnisses, natürlich die Vorschriften des bürgerlichen Rechts ... von ausschlaggebender Bedeutung sind, so ist doch der Begriff des Einkommens an sich von Haus aus kein Rechtsbegriff, sondern ein rein wirtschaftlicher".20 Damit spricht Strutz das Problem an, daß ein ursprünglich allein ökonomisches Konzept zur Grundlage eines rechtlichen Konzepts wird. Davon zu unterscheiden ist allerdings die Frage, inwieweit nicht auch der ökonomische Einkommensbegriff von jeher rechtliche Elemente enthielt; denn wird Einkommen jedenfalls teilweise als Frucht des Vermögens verstanden, so hängt es auch mit der Herrschaft über Vermögen, also mit Eigentumsrechten zusammen.21 Bevor aber ein Begriff aus einer ökonomischen Theorie in eine Theorie der gerechten Steuerverteilung übertragen werden kann, muß Klarheit darüber bestehen, was der Begriff im Rahmen der letzteren leisten soll. Hier werden in der Literatur vier Gesichtspunkte genannt, die durch das Begriffssystem abgedeckt sein müssen: -

Steuerzahlungspotential, Steuergegenstand, Steuerbemessungsgrundlage, Steuerverteilungsmaßstab.

Mit Steuerzahlungspotential sind die Möglichkeiten des Entscheidungsträgers gemeint, Steuern entrichten zu können, ohne in existentielle Schwierigkeiten zu geraten, insbesondere also sein Geld-Einkommen. Übersteigt der zu entrichtende Steuerbetrag das Potential, so verlangt die Steuerverteilung vom Entscheidungsträger Unerträgliches. Allerdings ist hier der Umstand zu bedenken, daß der Steuerzahler nicht unbedingt stets derjenige sein muß, der die Steuer wirtschaftlich trägt. Steuerzahler und wirtschaftlicher Steuer träger können verschiedene Entscheidungsträger sein; sog. Steuerüberwälzung oder Inzidenz. 22 20 Strutz, Einkommensteuergesetz, S. 3. Über diese Erkenntnis ist auch der Gesetzgeber unserer Tage noch nicht hinausgelangt. Er fonnuliert in enger Anlehnung an Strutz: "Einkommen ist in erster Linie ein wirtschaftlicher Begriff und erst in zweiter Linie ein Rechtsbegriff'; Bundestagsdrucksache 7/1470, S. 211. Ebenfalls wird die auf ein antiquiertes Theorieverständnis zurückgehende unsinnige Forderung nach einem einheitlichen Einkommensbegriff noch immer erhoben: "Trotz der großen praktischen Bedeutung im Wirtschaftsleben hat sich sich jedoch auch insoweit ein einheitlicher Einkommensbegriffweder in der Volkswirtschaftslehre noch in der Betriebswirtschaftslehre herausgebildet", ebenda. 21 Zum Zusammenhang von Vennögen (wealth) und Eigentumsrechten (property rights) äußerte sich sehr ausführlich schon Irving Fisher; vgl. ders., Nature, S. 18 -40. 22 Zum Begriff der Überwälzung siehe Musgrave, Finanztheorie, S. 180ff.

126

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

Im folgenden wird davon ausgegangen, daß eine Steuerüberwälzung nicht stattfinden wird. Steuergegenstand ist in den Worten von Strutz "die Sache oder der Umstand, wegen dessen Vorhandensein die Steuer erhoben wird".23 Eine neuere Literaturmeinung will dagegen einen Steuergegenstand nur in Handlungen des Entscheidungsträgers sehen.24

Dagegen ist Steuerbemessungsgrundlage "die Sache oder der Umstand, nach dessen Eigenschaften, insbesondere dessen wirtschaftlichen Werten die Steuer bemessen wird" .25 Beispielsweise kann Gegenstand der Besteuerung das Einkommen des Entscheidungsträgers sein, Bemessungsgrundlage dagegen der Mietwert seiner Wohnung.26 Ein derartiges Auseinanderfallen von Steuergegenstand und -bemessungsgrundlage bedeutet aber, daß der Mietwert der Wohnung als Indikator des Einkommens angesehen wird, oder aber, wie Strutz sagt, "die Absicht des Gesetzgebers, auf einem Umwege das Einkommen zu treffen"?, Steuerverteilungsmaßstab wurde in der älteren Literatur, beispielsweise von Schmoller, etwa im Sinne von Steuerbemessungsgrundlage verwendet.28 Die Begriffsumfange sind hier aber nur identisch, wenn der Steuertarif proportional verläuft. Denn bei progressiven Steuertarifen kann nicht mehr von einer Verteilung im Verhältnis der Bemessungsgrundlage gesprochen werden, vielmehr verläuft die Steuerbelastung relativ zur Bemessungsgrundlage steigend. Die Steuerverteilung wird also genau genommen durch zwei Größen bestimmt: durch die Bemessungsgrundlage und den Tarif. Deshalb findet sich der Begriff Steuerverteilungsmaßstab in der neueren Literatur mit Recht nicht mehr.

Wenn im Fortgang dieses Kapitels der Einkommensbegriff mit dem Ziel expliziert wird, eine Bemessungsgrundlage zu finden, und dabei auch auf 23 Strutz, Einkommensteuergesetz, S. 44. Enno Becker, Grundlagen, S. 9 formulierte dagegen speziell für das Einkommensteuerrecht: "Gegenstand der Einkommensteuer ist . .. die von einer Person innerhalb einer gewissen Zeitspanne auf den vom Gesetz bezeichneten Gebieten (Einkunftsarten, Sonderausgaben) ausgewiesene wirtschaftliche Kraft". 24 Vgl. hierzu Bayer /Müller, Steuergegenstand, S. 2ff.; Biergans/Wasmer, Tatbestand, S.57. 25 Strutz, Einkommensteuergesetz, S. 44. 26 Nach Strutz, Einkommensteuergesetz, S.45 waren die frühen französischen Einkommensteuern von dieser Form. 27 Strutz, Einkommensteuergesetz, S. 45. 28 So unterscheidet Schmoller, Grundprincipien, S. 36 zwischen Steuerquelle (Steuerzahlungspotential) und Vertheilungsmaassstab (Bemessungsgrundlage): "Wenn unsere Ansicht, statt des Ueberschusses das Einkommen als solches zur Grundlage der Steuerlehre zu machen, für die Arbeiter und alle minder Bemittelten hart erscheinen könnte, so müssen wir nur bitten, nicht zu vergessen, dass wir nicht eine, allenfalls auch ganz confiscirbare Steuerquelle im Sinne der älteren Theorie, sondern nur einen Vertheilungsmaassstab der Steuer suchen. Ueber die positive Grösse und Höhe der Steuersumme des Einzelnen ist damit noch nichts gesagt."

B. Einkommensexplikationen

127

althergebrachte ökonomische Inhalte zurückgegriffen wird, so hat dies allein heuristische Bedeutung: Es könnte sein, daß einer dieser Inhalte den Bedingungen des Urzustands genügt.

B. Einkommensexplikationen Einkommen ist somit das einzige Merkmal aus dem Defimebs des speziellen Leistungsfahigkeitsprinzips LFP 1, das hier näher untersucht wird. Es kann auf unterschiedliche Weise expliziert werden. Allerdings darf, um Zirkularität zu vermeiden, das Explikat Einkommen nicht wiederum aufLFP 1 bezug nehmen.29 Methodisch zutreffend mußte vielmehr bereits oben bei der Auswahl der LFP 1 konstituierenden Merkmale überlegt werden, ob diese Leistungsfahigkeit auch angemessen reflektieren. I. Hypothetische Einkommensexplikationen

Bei einer ExplikatiofilO des Einkommens geht es um eine Erörterung all dessen, was sinnvoll als Einkommen bezeichnet werden könnte, mit dem Ziel, einen im Hinblick auf eine gerechte Steuerverteilung fruchtbaren Einkommensbegriff zu erhalten. Ein inadäquater Einkommensbegriff kann eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ad absurdum führen. Historisch viel diskutiert wurde die gegenseitige Verzahnung des Einkommens-Konzeptes mit dem Kapital- bzw. Vermögens-Konzept.31 So stellte bereits Schmoller im Jahre 1863 fest: "was Einer Kapital nennt, ist für den Anderen Einkommen und

29 Streng genommen setzt die Einführung von LFP 1 voraus, daß Einkommen bereits bekannt ist. Die von Tipke, Steuergerechtigkeit, S. 65 vertretene Ansicht, "Wer bei der Bestimmung des steuerlichen Einkommensbegriffes gar nicht berücksichtigt, daß mit dem Einkommen Leistungsfähigkeit gemessen werden soll, hat von vornherein keine Orientierung" darf wohl nicht dahin verstanden werden, daß Leistungsfähigkeit Definiens des Definiendum Einkommen sein soll, gleichsam in Umkehrung der hier vertretenen Auffassung. 30 Die Bezeichnung Explikation geht auf Carnap zurück; vgl. hierzu Hempel, Begriffsbildung, S.20ff. Eine Explikation kann nicht einfach als wahr oder falsch, sondern höchstens mehr oder weniger adäquat bezeichnet werden. Nach Hempel, ebenda, S. 21 muß sie zwei Hauptanforderungen erfüllen: "Erstens: die explikative Reinterpretation eines Terms, oder - wie es oft der Fall ist - einer Menge in Verbindung stehender Terme, muß uns in syntaktisch präziser Form die Reformulierung wenigstens eines großen Teils dessen erlauben, was gemeinhin mittels der betrachteten Terme ausgedrückt wird. Zweitens: es sollte möglich sein, ein umfassendes, strenges und stimmiges theoretisches System in Form der rekonstruierten Konzepte zu entwickeln." 31 Vgl. hierzu bespielsweise MarshalI, Principles, S. 66: "almost every use of the term capital, which is known to history , has corresponded more or less closely to a parallel use of the term Income: in almost every use, capital has been that part of a man 's stock from which he expects to derive an income".

128

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

umgekehrt".32 Irving Fisher sprach davon, daß capital antithetical to income sei.33 Die Suche nach einem Kriterium, welches Kapital bzw. Vermögen einerseits, vom Einkommen andererseits in sinnvoller und eindeutiger Weise abgrenzt, hat immer wieder im Mittelpunkt der einkommens- bzw. kapitaltheoretischen Diskussion gestanden.34 1. Brutto-Einkommen

Eine erste mögliche Explikation des Einkommens wäre dessen Festlegung allein auf Zugänge, die die wirtschaftliche Position des Entscheidungsträgers verbessern, also etwa auf Einnahmen oder andere Vermögenszugänge.35 Auf die wirtschaftliche Position des Entscheidungsträgers verschlechternde Abgänge käme es bei dieser Explikation nicht an. 2. Netto-Einkommen

Eine zweite mögliche Explikation des Einkommens wäre der aus der Gegenüberstellung von Zugängen an wirtschaftlichen Gütern und der zur Erzielung der Zugänge notwendigen Abgänge an wirtschaftlichen Gütern entstehende Saldo (Netto-Einkommen) .36 Dieser kann positiv aber auch negativ werden. Das Netto-Einkommen hat sehr viele mögliche Explikationen, die nicht abschließend beschrieben werden können. Hier werden nur einige in der Literatur häufig diskutierte Möglichkeiten dargestelltP Eine sehr grobe Klassifizierung geht dahin, ob das Netto-Einkommen nach der sogenannten Quellentheorie oder nach der Vermögenszugangstheorie festgelegt wird; bzw., ob Einkommen dann vorliegt, wenn und soweit künftig dauerhafte und gleichbleibende Entnahmemöglichkeiten bestehen. 32 Schmoller, Grundprincipien, S. 14. Fuisting, Preußisches EStG, S. 67 klagte über diese Schwierigkeiten bei der operationalen Bestimmung eines Einkommensbegriffs: "Besondere Schwierigkeiten bietet hier namentlich die Unterscheidung des Einkommens von der Vermehrung des Stammvermögens." 33 Vgl. Irving Fisher, Nature, S. 57. 34 Vgl. statt vieler die Ausführungen von Irving Fisher, Nature, S.58: "we cannot jistinguish capital as that wealth which bears income. All wealth bears income, for income consists simply of the services of wealth. But the idea persistent from the time of Adam Smith, who, meaning by income only money income, conceived capital as the wealth which produces income in this sense, as distinguished from the wealth, such as dwellings, equipages, ciothing and food, which dissipates that income." 35 Die Besteuerung des Brutto-Einkommens darf nicht mit der Besteuerung eines sog. Soll-Ertrags verwechselt werden. Ein Soll-Ertrag ist eine normativ vorgegebene Größe, und eine Besteuerung nach dem Soll-Ertrag wirkt regelmäßig interventionistisch im Sinne einer bestimmten wirtschaftspolitischen Zielsetzung. 36 Umfassend zum sog. Netto-Prinzip Ruppe, Abgrenzung, S. 104ff. 37 V~l. statt vieler, Tipke, Steuerrecht, S. 147ff.; D. Schneider, Steuerbilanzen, S. 46ff. Einen Uberblick bietet Weisflog, Mittelfluß-Einkommensteuer, S. 337-340.

B. Einkommensexplikationen

129

a) Quellen-Einkommen "Bei dem Bild der Quelle tritt", wie Enno Becker sagte, "der Gegensatz zwischen der Quelle als der Hauptsache, dem Bleibenden, Ständigen, und dem, was aus der Quelle, ohne sie zu erschöpfen, fließt, in den Vordergrund."38 Dennoch läßt sich die Quellentheorie am einfachsten durch die bekannte Metapher des früchtetragenden Baumes erklären. Der Baum ist die Quelle oder, metaphorisch besser passend, das Stamm-Vermögen, von dem die Fruchternte - das Einkommen - gezogen wird. In diesem Sinne erklärte Fuisting um die Jahrhundertwende: "Als Einkommen im steuerlichen Sinne gelten die gesammten Jahreseinkünfte des Steuerpflichtigen in Geld und Geldeswerth, welche nicht als Vermehrung des Stammvermögens erscheinen".39 Bei dieser Festlegung gehören also Vermehrungen des Stammvermögens - bildhaft: der Baum wächst - nicht zum Einkommen. Fuisting drückte das so aus: "Außerordentliche, den Charakter des unmittelbaren Vermögenszuwachses an sich tragende Einnahmen gelten nicht als Einkommen, sondern als Vermehrung des Stammvermögens."40 Mit dieser Formulierung spielte er an, insbesondere auf Erbschaften und Schenkungen, "sowie die mit Gewinn verbundenen Ersetzungen von Bestandtheilen des Stammvermögens durch andere Vermögenswerte, sofern sie nicht gewerbsmäßig oder zu Spekulationszwecken erfolgen, sondern durch anderweite, rechtliche oder wirthschaftliche Rücksichten bedingt sind. "41 Ein Entscheidungsträger kann über mehrere Quellen verfügen; die Summe der Früchte aus allen seinen Quellen gehört zum Einkommen. Das Roheinkommen ist insbesondere um die Ausgaben zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung des Einkommens, sowie um die "Absetzungen für Abnutzung von Gebäuden, Maschinen, Betriebsgeräthschaften" zu kürzen.42 Die steuerrechtliche Terminologie differenziert - siehe die Erklärung von Fuisting - zwischen Einkünften und Einkommen. Grob und ungenau gesprochen beziehen sich die Einkünfte auf das Ergebnis einer Quelle; sie sind ein TeilEinkommen. Das Einkommen stellt hingegen die Zusammenfassung der Einkünfte aus allen Quellen eines Entscheidungsträgers dar, ist gleichsam Gesamt-Einkommen. Auf eine genauere Unterscheidung zwischen Einkünften und Einkommen wird unten bei der Darstellung des Einkommens nach geltendem Recht eingegangen. Fuistings Definition kann verallgemeinert werden, indem an die Stelle der lahreseinkünfte die Einkünfte einer Periode treten, ohne daß hierdurch deren sachlicher Kern berührt wird.

38 39 40

41 42

Enno Becker, Grundlagen, S. 206. Fuisting, Preußisches EStG, S. 68. Fuisting, Preußisches EStG, S. 69. Fuisting, Preußisches EStG, S. 69. Fuisting, Preußisches EStG, S. 70.

9 Walzer

130

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

Durch diese Verallgemeinerung bleibt zunächst offen, mit welcher Periode die Zeit gemessen wird, und es wird klar, daß zwei zu trennende Entscheidungsprobleme vorliegen: Sachliche und zeitliche Bestimmung des Einkommens. Schließlich können Quellen-Einkommen danach unterschieden werden, ob sie auf Nominal- oder auf Realwerte abstellen. Im letzteren Fall werden inflationäre Entwicklungen aus der Einkommensermittlung durch Indexierung eliminiert. Für diese Entscheidungsalternative bleibt im Urzustand auch Raum. Zwar wird im Urzustand von einer Geldwirtschaft ausgegangen, damit ist aber noch nicht entschieden, daß Einkommen stets nominell gemessen werden muß. Auch in einer Geldwirtschaft kann Einkommen sinnvoll real gemessen werden. b) Reinvermögenszugangs-Einkommen Den Grundgedanken einer Festlegung des Einkommens nach der Vermögenszugangstheorie macht man sich am besten durch das Studium der auf Hermann und den jungen Schmoller zurückgehenden, oben im Literaturteil bereits erwähnten Definition klar, nach der Einkommen die Summe der wirtschaftlichen Güter ist, die der Wirtschaftende in einem gewissen Zeitraume zur Befriedigung seiner Bedürfnisse verwenden kann, ohne seine anfängliche Vermögenslage zu verschlechtern.43 Schanz führte die Tradition der Vermögenszugangstheorie fort und formulierte entschieden kürzer: "Das Einkommen stellt sich bei konsequenter Festhaltung des Begriffs als Zugang von Reinvermögen in einer Wirtschaft während einer gegebenen Periode dar. "44 Eine Differenz zur quellentheoretischen Definition Fuistings liegt in der unterschiedlichen Behandlung der anfänglichen Vermögenslage. Nach der Quellentheorie gehören Vermehrungen des ursprünglichen Vermögens nicht mehr zum Einkommen. Über die Vermögenserhaltung wird nichts ausgesagt. Hier setzt Schanz seine Überlegungen an. Er vertrat die Ansicht, wir brauchten noch einen Begriff, der ersehen ließ, was in einem Zeitabschnitt einer Person derart zugeflossen sei, daß dieselbe darüber disponieren könne, ohne ihr bisheriges Vermögen selbst zu mindern - und dieser Begriff sei das Einkommen.4S Nach der Vermögenszugangstheorie gehört also jede Vermögensmehrung, d. h. alle wirtschaftlichen Güter, die das ursprüngliche Vermögen überstei43 Vgl. Schmoller, Grundprincipien, S.52; ferner Lexis, Einkommen. In seinen Spätwerken vertrat Schmoller die Quellentheorie, er wird deshalb in der Sekundärliteratur zur Stützung der Quellen- und der Reinvermögenszugangstheorie herangezogen; im Sinne der ersteren beispielsweise bei Hermann - Heuer- Raupach, § 2 Anm. 1 a. Tipke, Steuergerechtigkeit, S. 65 f. referiert kurz die amerikanische Literatur unter Zitierung von Haig und Simons. Aus der neueren Literatur zur Einkommenstheorie sei auch auf Moxter, Gewinnermittlung, S. 13 - 21 hingewiesen. 44 Schanz, EinkommensbegrifT, S. 7. 4S Vgl. Schanz, Einkommensbegriff, S. 23.

B. Einkommensexplikationen

131

gen, zum Einkommen. Eine solche Definition hat den Vorzug, das Einkommenskonzept mit dem Vermögens- bzw. Kapitalkonzept zu verbinden. Von dieser Position aus konnte Schanz folgerichtig das Identische der Vermögenszugänge und Einkommen behaupten.46 Die Frage nach der Vermögenserhaltung wird bei den Vermögenszugangs-Einkommen zum Angelpunkt der Einkommensermittlung. Sobald der Vermögenserhaltung genüge getan ist, beginnt das Einkommen. Die strenge Betonung der Vermögenserhaltung veranlaßte Irving Fisher von einem theoretischen standard income zu sprechen, von dem das wirkliche (actual) Einkommen zu unterscheiden sei.47 Die Differenz auf einen Satz gebracht: Quellentheorien berücksichtigen keine Änderungen am ursprünglichen Vermögen, Vermögenszugangstheorien berücksichtigen sie dagegen. Vermögen wird im rechtlichen Sinne und als Netto-Vermögen verstanden, d. h. als die Gesamtheit der einem Entscheidungsträger jeweils zustehenden geldwerten Rechte,48 abzüglich der Schulden. Bloße Erwerbsaussichten, ein erst in Aussicht stehender Gewinn, der noch ungewiß ist, sind keine Vermögens bestandteile.49 Wann ist ein Vermögen erhalten? Zwei möglichen Antworten auf diese Frage wird nachgegangen: Erhaltung des Nominalwerts bzw. des Realwerts eines Vermögens. Die Erhaltung des Nominalwerts eines Vermögens ist eng mit dem sogenannten Nominalprinzip verbunden, nach dem sich der Wert einer Geldschuld oder Geldforderung nicht nach der Kaufkraft zum Zeitpunkt der Vereinbarung, sondern nach dem jeweiligen Nennwert des Geldes richtet. Dieser Grundsatz wird auf die anderen Vermögensgegenstände, wie z. B. Grundstücke oder Waren ausgedehnt, indem diese mit den historischen Anschaffungs- oder Herstellungskosten bewertet werden. Die Ermittlung des nominalen Vermögenszugangs-Einkommens ist ferner primär vergangenheits orientiert. Der Entscheidungsträger will im Ermittlungszeitpunkt (t = 2) das in einer vergangenen Periode (z. B. der von t = 1 bis t = 2 währende Zeitraum) erzielte Einkommen ermitteln:

Schanz, Einkommensbegriff, S. 23. Vgl. Irving Fisher, Nature, S. 110: "we shall ... call such an ideal by the name of standard income. What we insist on is that such standard income is not, and must not be confused with, the actual income which a man receives from his capital. It is simply the income which he would receive if he chose to keep his capital unimpaired and unincreased. " 48 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 246. 49 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 248. 46

47



132

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen Ermittlungszeitraum

o

• t 2 Ermittlungszeitpunkt

Abb. 9: Ermittlungszeitraum und -zeitpunkt am Zeitstrahl

Abzinsungen zum Ausgleich der zu unterschiedlichen Zeitpunkten anfallenden Beträge oder Preiskorrekturen wegen inflationärer oder deflationärer wirtschaftlicher Entwicklungen werden bei der Einkommensermittlung nicht vorgenommen. Ermittlung des nominalen Vermögenszugangs-Einkommens bedeutet daher zweierlei: Erstens, Bewertung der Vermögensgegenstände zu historischen Anschaffungspreisen oder Herstellungskosten (im Gegensatz zu Wiederbeschaffungspreisen oder Reproduktionskosten) und zweitens Erhaltung des Nominalwerts des am Periodenanfang vorhandenen Vermögensbestands (im Gegensatz zur Erhaltung des realen Vermögens). Einkommen liegt vor, wenn der Nominalwert des Vermögens am Periodenende den Nominalwert am Periodenanfang übersteigt. 50 Diese weite Explikation des Einkommens umfaßt auch einmalig anfallende Vermögensmehrungen, z. B. Lotteriegewinne, die nach der Quellentheorie nicht zum Einkommen gehören würden. Nach letzterer würden nur Erträge aus dem Lottogewinn zum Einkommen gehören. Die Erhaltung des Realwerts eines Vermögens zielt darauf ab, inflationäre Preis steigerungen aus der Einkommensermittlung zu eliminieren. Die Realwerterhaltung unterscheidet sich damit von der sogenannten Substanzwerterhaltung, nach welcher die am Periodenanfang vorhandenen Vermögensgegenstände im Sinne einer mengenmäßigen Güterrechnung erhalten bleiben sollen. 51 Substanzwerterhaltung muß also über inflationäre Preissteigerungen hinaus auch marktbestimmte Preisänderungen berücksichtigen; anderenfalls ist eine vollständige Wiederbeschaffung verbrauchter Gütermengen nicht möglich. Preisänderungen gehen einher mit Änderungen der personellen laisser-faire Einkommensverteilung, führen also zu Einkommensumverteilungen. Im Urzustand wird die personelle laisser-faire Einkommensverteilung von den Entscheidungsträgern akzeptiert. Unter dieser Annahme besteht somit kein Raum für eine Korrektur des Einkommens um marktbestimmte Preisänderungen. so Diese Formulierung entspricht der von Meade, Direct Taxation, S. 31 vorgeschlagenen Definition A: "the proper measure of a taxpayer's income in any one year is the value ofwhat he could have consumed during the year without living on and so diminishing his capital wealth in the process", denn value ist als Nominalwert zu verstehen. SI D. Schneider, Steuerbilanzen, S.72 illustriert diesen Punkt anschaulich unter Hinweis auf die Reinertragsvorstellung des Römischen Rechts: Das Viehjunge wurde erst dann zur Frucht, wenn die Herde vollständig erhalten war oder wenn es starb, dann war es zur Erhaltung der Herdensubstanz nicht mehr in der Lage. D. h. es lag eine allein mengenmäßige Güterrechnung vor; der Wert der Güter blieb unberücksichtigt.

B. Einkommensexplikationen

133

Die Ermittlung des realen Vermögenszugangs-Einkommens ist ebenfalls vergangenheitsorientiert. Da aber die Kaufkraft erhalten bleiben soll, sind die am Periodenanfang (t = 1) herrschenden Wertverhältnisse auf die Verhältnisse am Periodenende (t = 2) zu beziehen, in dem das Anfangsvermögen auf das Preisniveau des Periodenendes mittels Indexzahlen umgerechnet wird. Preis-

indexierung ~/------------~Ir-------------~I---------' t 1'" ,,"2

o

--------

Abb. 10: Preisindexierung

Der Begriff Vermögenslage in der Schmollersehen Definition muß hier als um inflationäre Preissteigerungen korrigierte Vermögenslage gelesen werden. Ein-

kommen liegt demnach erst dann vor, wenn der Realwert des Vermögens am Periodenende den Realwert am Periodenanfang übersteigt. c) Einkommen als künftiger dauerhafter und uniformer Entnahmestrom

Die letzte zu diskutierende Einkommensexplikation betrachtet Einkommen schließlich als künftigen dauerhaften und gleichbleibenden Entnahmestrom. s2 Der Entnahmestrom wird im Sinne eines Stromes potentieller Konsummöglichkeiten verstanden. Der tatsächliche Konsumstrom kann - und wird auch wegen des Sparens - hiervon abweichen. Diese Explikation kann, da sie sich völlig von der empirischen Basis löst, als das theoretische Einkommenskonzept par excellence bezeichnet werden. Paradigma einer Explikation des Einkommens als künftiger dauerhafter und uniformer Entnahmestrom ist die unendliche Rente. Die Rente kann periodisch in uniformer Höhe entnommen werden, ohne dadurch die Aussicht auf weitere künftige Rentenzahlungen zu verändern:

52 Die Explikation knüpft an die Ausführungen von Meade, Direct Taxation, S. 31 f., an. In Definition B wird Einkommen als der Betrag verstanden, den ein Steuerpflichtiger "could consume in any one year and yet be left with the resources and expectations at the end of that year which enable hirn to maintain that same level of consumption indefinitely in the future". Zum Zusammenhang zwischen Konsumniveau und wirtschaftlicher Leistungsfahigkeit siehe auch Moxter, Gewinnermittlung, S. Sff.

134

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen Rente

1,

a

1

2

3

n

Abb.11: Rente als uniformer Entnahmestrom

Nun läßt sich danach fragen, was ein solcher unendlicher Entnahmestrom wert sei, z. B. aus Anlaß seines Erwerbs oder seiner Veräußerung. Ein möglicher Wert ist der nach finanzmathematischen Regeln errechnete Barwert der periodischen Rentenzahlungen, wobei die Rentenbeträge (a) mit dem zu erwartenden Zinssatz (i) alternativer festverzinslicher Kapitalanlagen in vergleichbaren Risikoklassen abgezinst werden: a a a (1 + i)1 + (1 + i)2 + ... + (1 + i)"·

Dieser Barwert wird auch als Ertragswert (EW) bezeichnet. s3 Bei dieser finanzmathematischen Bewertung bleibt aus Vereinfachungsgründen unberücksichtigt, daß Rentenzahlungen, wie alle anderen zukünftigen Der Ertragswert berechnet sich zu: EW(1)=a(q+tf+ ... +q"), wobei q = 1/(1 + i) ist. Äquivalent zu (1) ist Ausdruck (2) qEW(1)=a(q2+ q3+ ... +q"+I). 53

(1)

Durch Subtraktion der Ausdrücke (1) und (2) gewinnt man: (3) (1-q)EW(1)=a(q-q"+I), woraus sich schließlich ergibt: +1 (4) EW(1)=a(q-q" ), (q;61). 1-q Für die unendliche Rente wächst n über alle Grenzen, so daß gilt: (5)

EW(1)=a

woraus wegen 0< q < 1 und (6)

lim

n-+oo

lim n-+

00

q (1-q"), (q;6 1) 1-q

q"=O folgt q

EW(1)=a-,(q;61). 1-q

Für q = 1/(1 + i) eingesetzt, ergibt sich: EW (1) =~.

(7)

I

B. Einkommensexplikationen

135

Zahlungen ebenfalls, nicht mit Sicherheit anfallen. Angemessener unter dem Gesichtspunkt der zu berücksichtigenden Unsicherheit wäre eine Bewertung unter Einbeziehung des Erwartungswerts der zukünftigen Zahlungen.54 Die Explikation des Einkommens als künftiger dauerhafter Entnahmestrom wird in der deutschsprachigen Literatur teilweise unter dem Stichwort Ertragswerterhaltung diskutiert. ss Diese Literatur stellt den Ausdruck EW(1) = a/ i um und liest den Entnahmebetrag a = iEW(l) als Zinsen auf den Ertragswert. Nun fallen die laisser-faire Einkommen nur in seltenen Fällen in periodisch gleichbleibender Höhe an. Ein nicht-uniformer Einkommensstrom kann aber durch Einschaltung des Kapitalmarktes uniform gemacht werden, indem dort Spitzenbeträge durch Zwischenanlage oder Kreditaufnahme ausgeglichen werden. Für eine Steuerbemessung nach uniformen Entnahmen ist dagegen eine finanzmathematische Berechnung nach dem Muster der Ermittlung des Rentenbarwerts ausreichend, die derartige Anlagen bzw. Kreditaufnahmen fiktiv unterstellt und auf der Grundlage dieser Fiktion rechnerisch gleichbleibende Entnahmebeträge ermittelt.56 Diese Explikation versteht also zusammengefaßt unter Einkommen genau denjenigen Betrag, der der Bedingung genügt, daß trotz seiner Entnahme die Mittel für und die Aussichten auf weitere periodische Entnahmen in gleicher Höhe erhalten bleiben. 57 Auch, wenn Einkommen als künftiger dauerhafter und uniformer Entnahmestrom verstanden wird, bleibt offen, ob dieser Betrag nominal oder real gemessen wird. Die bisherigen Ausführungen gingen von einem NominalEinkommen aus und berücksichtigten noch keine Inflation. Angenommen, ein Entscheidungsträger erziele einen dauerhaften künftigen Entnahmestrom von 150 je Periode. Wird nun eine periodische Inflationsrate von 10% in die Betrachtungen eingeführt, so bleiben die nominalen Entnahmemöglichkeiten unverändert bei 150. Will der Entscheidungsträger seine Entnahmemöglichkeiten künftig auch real erhalten, so muß er, um die inflationäre Entwicklung auszugleichen, auf gegenwärtigen Konsum verzichten und die gesparten Beträge alternativ anlegen; angenommen zu 15%. Dadurch erzielt er höhere Nominal-Einkommen. Der nominale Erhöhungsbetrag gleicht die Inflationsrate aus. Unter der Nebenbedingung einer Erhaltung des Realwerts

54 Zur Berücksichtigung der Ungewißheit vgl. z. B. Moxter, Gewinnermittlung, S. 7 f., der behauptet: Grundsätzlich realisieren Individuen mit ausgeprägter Risikoscheu unter sonst gleichen Umständen zeitlebens ein niedrigeres Konsumniveau als weniger risikoscheue Individuen." 55 Vgl. D. Schneider, Steuerbilanzen, S. 74ff. 56 Siehe hierzu Moxter, Gewinnermittlung, S.6f.: uniforme Konsumströme seien rechnerische Hilfskonstruktionen, die den Größenvergleich von Konsumströmen erleichtern. 57 Vgl. Meade, Direct Taxation, S. 31.

136

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

kann der Entscheidungsträger im Beispiel jeweils entnehmen: 50, 55, 60,5 usw. D.h. der Betrag beginnt mit 50 und erhöht sich je Periode um 10%, um die Inflationsrate auszugleichen. Wenn der Entscheidungsträger in der Anfangsperiode 50 entnimmt, kann er 100 zu 15% anlegen, hat also in der nächsten Periode 165, nämlich 150 zzgl. 15% von 100. Hiervon entnimmt er 55 und legt die verbleibenden 110 wiederum an, usw. Der reale Einkommensstrom beträgt also gleichbleibend 50, obwohl der nominale Einkommensstromje Periode um 10% steigt. Sparen zum Zwecke des Inflationsausgleichs gehört demnach nicht zum Einkommen, wenn auf eine reale Einkommensermittlung abgestellt wird.

11. Einkommen im Sinne des geltenden Rechts Neben einer Beurteilung der oben aufgezeigten hypothetischen Einkommensexplikationen ist besonders interessant, wie der Einkommensbegriff des geltenden Rechts unter den Bedingungen des Urzustands zu würdigen ist. Das Ziel der Arbeit wäre sehr unvollständig erreicht, bliebe die de lege lata herrschende Situation unberücksichtigt. Die derzeit verbreitete Vorstellung von steuerlicher Gerechtigkeit kann nur im Vergleich mit anderen Gerechtigkeitsvorstellungen ihre Bestätigung oder Ablehnung finden; niemals allein aus sich heraus. Anders als in den bisherigen Überlegungen ist hier also von einem im Normensystem Steuerrecht bereits eingeführten Einkommensbegriff auszugehen. Die Bedeutung dieses Begriffs ist zu analysieren und darzustellen. Dabei ist es ausreichend, lediglich diejenigen fundamentalen Zusammenhänge aufzuzeigen, die den Wahlausgang bestimmen könnten, unter Verzicht auf die teils diffizilen Einzelheiten, mit denen sich die umfangreichen Erläuterungsbücher, die Finanzverwaltung und die Rechtsprechung auseinandersetzen. 58 In der Literatur wird verschiedentlich behauptet, das Einkommensteuergesetz enthielte keine Definition des EinkommensbegrifTs. Diese Ansicht findet sich schon bei Fuisting, der - in der Sache wohl über das Ziel schießend behauptete: "Wie eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung überhaupt nicht die Aufgabe der Gesetzgebung ist, hat auch das Einkommensteuergesetz von der Definition des Einkommens Abstand genommen".59 Weshalb soll der Gesetzgeber sich nicht um eine wissenschaftlich einwandfreie Begriffsbildung bemühen müssen, sollen für den Gesetzgeber die Regeln der Logik und die Erkenntnis der 58 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wird hingewiesen auf die Kommentare zum Einkommensteuergesetz von Herrmann - Heuer - Raupach, L. Schmidt und E. Littmann, auf die Einkommensteuerrichtlinien sowie die im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlichten Erlasse, Verfügungen und Rundschreiben der Finanzverwaltung und schließlich auf im Bundessteuerblatt Teil II veröffentlichte Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs; die Rechtsprechung der Finanzgerichte wird z. B. in der Sammlung Entscheidungen der Finanzgerichte veröffentlicht. 59 Fuisting, Preußisches EStG, S. 67, ferner S. 132.

B. Einkommensexplikationen

137

Wirklichkeit nicht gelten? Wie soll der Gesetzgeber unter diesen Bedingungen seinem Auftrag nachkommen, die soziale Wirklichkeit - keine fiktive Welt rechtlich zu ordnen? So spricht Schmölders auch etwas restriktiver lediglich von einem "Verzicht auf einen übergreifenden einheitlichen und sachlich-ökonomisch abgegrenzten Einkommensbegrifr'.60 E. Littmann meint, das Gesetz enthielte keine Definition allgemeingültiger Art, was unter Einkommen zu verstehen sei.61 In jüngster Zeit verbreiten Biergans / Stockinger diese Ansicht.62 Diese Behauptungen stehen in einem offenkundigen Widerspruch zu der bekannten Legaldefinition des § 2 Abs. 4 EStG: "Der Gesamtbetrag der Einkünfte, vermindert um die Sonderausgaben und die außergewöhnlichen Belastungen, ist das Einkommen." Zu einer früheren, bereits im Einkommensteuergesetz 1934/39 enthaltenen ähnlichen Formulierung führte kein geringerer als Enno Becker sogar aus: "Das Gesetz selbst sagt klar und scharf, was es unter Einkommen verstanden wissen will ... Die Begriffsbestimmung des Gesetzes überrascht durch ihre Einfachheit. "63 Wie kommen diese divergierenden Auffassungen zustande? Eine mögliche Erklärung scheint zu sein, daß die klassische Unterscheidung zwischen N omina/und Realdefinition nicht beachtet wird. Schmölders, E. Littmann und Biergans / Stockinger scheint es um eine Erklärung des Wesens, also des Was und des Wie des Einkommens zu gehen.64- Enno Becker sieht dagegen in der Legaldefinition zutreffend eine Nominaldefinition. Beiden Ansichten ist nachzugehen. Allerdings wird die Nominaldefinition des Einkommensbegriffs bei einer näheren Analyse nicht durch ihre Einfachheit überraschen, im Gegensatz zu Enno Beckers Behauptung.

Schmölders, Fehlender Einkommensbegriff, Sp. 76. Vgl. E. Littmann, Gesetzessystematik, S. 18. 62 Biergans / Stockinger, Einkommensbegriff, S. 4 meinen: "Die bisherigen reichs- bzwbundeseinheitlichen Einkommensteuergesetze verzichteten - ebenso wie deren Vorläufer, das preußische EStG von 1891 - auf eine Definition des Einkommensbegriffs" . Ferner führen sie aus: "Auch das geltende EStG bezieht sich nicht ausdrücklich auf eine finanzwissenschaftliche Theorie und verzichtet auf eine allgemeingültige Definition des Einkommensbegriffs. " 63 Enno Becker, Grundlagen, S. 2f. 64 Diese Behauptung findet jedenfalls für Schmölders eine Stütze in seinen folgenden Ausführungen: "Der Ersatz des fehlenden Einkommensbegriffs durch eine Aufzählung von einzelnen Einkunftsarten war demnach nicht das Ergebnis l;iner besseren Erkenntnis vom Wesen der wirtschaftlichen Kraft, die eine Person . .. in einem gewissen Zeitraum entfaltet hat, sondern nur ein Notbehelf'; ders., Fehlender Einkommensbegriff, Sp. 82. 60 61

138

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

1. Nominaldefinition Das Gesetz gibt der arithmetischen Differenz:

Gesamtbetrag der Einkünfte (

~ ei mit 1 ~ i ~ 7)

abzgl. Sonderausgaben (SA) abzgl. außergewöhnliche Belastungen (agB) , oder formal Einkommen =

7

L ei -

i= 1

SA - agB

den Namen Einkommen. Diese Namensgebung erleichtert spätere Verweise auf diese Differenz, indem die Nennung des kürzeren Namens auf die sprachlich umständlichere Fassung der Differenz verweist. Enthält umgekehrt ein Satz des Einkommensteuergesetzes den Namen Einkommen, so muß dieser jederzeit durch Einsetzen des Definiens: 7

L e;-SA-agB

i= 1

ersetzbar sein. Diese "Bedingung der eindeutigen Eliminierbarkeit definierter Ausdrücke"65 ist die einzige Forderung, die jede Definition tatsächlich erfüllen muß.66 Nicht erforderlich ist dagegen aus wissenschafts theoretischer Sicht, daß jeder der drei im Definiens enthaltenen Begriffe, durch den Einkommen eingeführt wird, also Gesamtbetrag der Einkünfte, Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen ebenfalls definiert wird. Im Gegenteil, die Forderung, jeden neuen Begriff auf bereits zuvor definierte Begriffe zurückführen zu müssen, ist unsinnig. Sie entspricht der Denkweise der in diesem Punkt längst überholten klassischen Logik von Port Royal. Denn wäre jeder neue Begriff auf bereits zuvor definierte Begriffe zurückzuführen, so entstünde ein Paralleiproblem zu der bereits im dritten Kapitel diskutierten Forderung, alle Behauptungen seien zu begründen. Die Forderung involviert einen unendlichen Definitionsregreß.67 Hempel, Begriffsbildung, S. 25. Vgl. hierzu auch Stegmüller, Wissenschaftstheorie, S. 336: "Es muß möglich sein, den durch Definition eingeführten Ausdruck aus allen Texten, in denen er vorkommt, zu eliminieren. " 67 Vgl. hierzu auch Hempel, Begriffsbildung, S. 23: "Obgleich viele Terme im Vokabular einer Theorie mittels anderer definiert werden können, ist dies nicht für alle möglich wegen, kurz gesagt, eines infiniten Regresses, in dem der Prozeß des Definierens eines Terms niemals zu Ende kommen würde." 6S

66

B. Einkommensexplikationen

139

Dieser wird in der neueren Methodik vermieden durch Einführung von Begriffen, deren Bedeutung im strengen Sinne offenbleibt (Grundbegriffe oder undefinierte Begriffe genannt). Mit dieser Einführung "nehmen wir das Prinzip an", schreibt Tarski, "keinen von den übrigen Ausdrücken der betrachteten Disziplin zu verwenden, solange wir nicht seine Bedeutung mit Hilfe von Grundbegriffen und solchen Begriffen bestimmt haben, deren Bedeutung schon vorher erklärt wurde. "68 Derart strengen Anforderungen genügt das Begriffssystem des Einkommensteuergesetzes nicht; die undefinierten Grundbegriffe des Gesetzes sind nicht bekannt. Allerdings können die drei im Definiens des Einkommensbegriffs enthaltenen Begriffe durch Einsetzen elementarerer Ausdrücke substituiert werden. Z. B. kann Gesamtbetrag der Einkünfte wegen einer weiteren im Einkommensteuergesetz enthaltenen Nominaldefinition ersetzt werden durch: Summe der Einkünfte, vermindert um den Altersentlastungsbetrag, den Ausbildungsplatz-Abzugsbetrag und die nach § 34c Abs. 2 und 3 abgezogene Steuer.69 Auf Summe der Einkünfte soll die Bedingung der eindeutigen Elimierbarkeit erneut angewendet werden. 70 Nun führt das Gesetz zwar die verschiedenen, der Einkommensteuer unterliegenden 71 Einkünfte abschließend 72 auf, nämlich Einkünfte aus: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbständiger Arbeit, nichtselbständiger Arbeit, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung, sowie sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 EStG.

68 Tarski, Mathematische Logik, S. 127. Nach Krauth, Philosophie Carnaps, S.73 besteht Carnap neuerdings nicht mehr darauf, nur noch mittels Definition aus den Grundbegriffen abgeleitete Begriffe in der Wissenschaftssprache zuzulassen, sondern betrachte jetzt viele wissenschaftliche Begriffe als in weitgehender Freiheit eingeführte theoretical concepts, die im Laufe der fortschreitenden empirischen Forschung immer weiter spezifiziert werden. 69 Vgl. § 2 Abs. 3 EStG. Die Legaldefinitionen für Sonderausgaben ergeben sich aus den §§ 1O-10c, die für außergewöhnliche Belastungen aus den §§ 33-33b EStG. 70 Die Legaldefinitionen für den Altersentlastungsbetrag und den AusbildungsplatzAbzugsbetrag ergeben sich aus § 24a bzw. 24b EStG. 71 Genau genommen unterliegen nur die Einkünfte der Einkommensteuer, "die der Steuerpflichtige während seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht oder als inländische Einkünfte während seiner beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielt"; vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 EStG. Von diesen Einschränkungen wird, um die Dinge einfach zu halten, abgesehen. 72 Daß die Aufzählung abschließend gemeint ist, ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Im Einkommensteuergesetz 1934/39 lautete der entsprechende Einleitungssatz des damaligen § 2 Abs. 3 "der Einkommensteuer unterliegen nur"; vgl. Enno Becker, Grundlagen, S. 5.

140

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

Das Gesetz läßt aber den Ausdruck Summe undefiniert. Rechtslehre und Rechtsprechung interpretieren diesen Ausdruck als arithmetische Summe. 73 Was im einzelnen unter die jeweiligen Einkunftsarten fallt, ergibt sich aus den §§ 1324 EStG; diese Vorschriften sind allerdings in starkem Maße interpretationsbedürftig.74 Ob und gegebenenfalls inwieweit die einzelnen Einkunftsarten gemeinsame Eigenschaften haben, ist im nächsten Abschnitt zu klären. Zuvor muß noch eine Besonderheit des geltenden Rechts beachtet werden. Der Diskussion der hypothetischen Einkommensexplikationen lag stets die Annahme zugrunde, daß der Einkommensteuertarif auf das Einkommen anzuwenden ist. Im geltenden Recht ist dies nicht so. Hier figuriert das Einkommen lediglich als Besteuerungsgrundlage.75 Bemessungsgrundlage ist hingegen das zu versteuernde Einkommen. Hierunter versteht das Gesetz: "Das Einkommen, vermindert um die Sonderfreibeträge im Sinne des § 32 Abs. 2 und 3, den Kinderfreibetrag im Sinne des § 32 Abs. 8 und um die sonstigen vom Einkommen abzuziehenden Beträge" .76 Sehr grob gesprochen ist das zu versteuernde Einkommen das um bestimmte, von den subjektiven Verhältnissen des Entscheidungsträgers abhängige Beträge gekürzte Einkommen.

2. Realdefinition: Notwendige und hinreichende Bedingungen for das Vorliegen von Einkünften Die Vertreter einer Realdefinition des Einkommensbegriffs vermissen, wie beispielsweise Schmölders formuliert: "eine umfassend-allgemeine Definition (Begriffsbestimmung)"77 des Einkommens. Nun ist allerdings eines gewiß: einen umfassend-allgemeinen oder einen allgemein gültigen Einkommensbegriff kann es aus logischen Gründen nicht geben. Ein Begriff kann eine weite oder enge Extension haben, er kann sich im Rahmen einer Theorie als fruchtbar erweisen oder nicht, aber das Prädikat allgemein g~ltig kann nur Aussagen zukommen. Insofern ist eine weitere Diskussion darüber sinnlos. Auch, wenn die Forderung, ein Begriff soll allgemein gültig sein, dahin verstanden wird, daß eigentlich gemeint sei, die Aussagenzusammenhänge, in denen der Begriff steht, sollen allgemein gültig sein, bleibt der Einwand bestehen. Denn lediglich die Aussagen der Formalwissenschaften Logik und Mathematik sind allgemein gültig im Sinne von Leibniz, daß sie in allen möglichen Welten gelten. Die Forderung ist aber für Einkommenskonzepte zu hoch gestochen, ja absurd. Sie verkennt den Vgl. statt vieler Tipke, Steuerrecht, S. 153: die Einkünfte werden summiert. Tipke, Steuerrecht, S. 157 berichtet, daß sich allein über 3000 veröffentlichte Urteile des Bundesfinanzhofs mit den §§ 13 -24 EStG, also mit der Abgrenzung der unterschiedlichen Einkunftsarten, beschäftigen. 7S Vgl. zum Begriff Besteuerungsgrundlage Seeger, in: Ludwig Schmidt, Einkommensteuergesetz, § 2 Anm. 16a. 76 § 2 Abs. 5 Halbsatz 1 EStG. 77 Schmölders, Fehlender Einkommensbegriff, Sp. 76. 73

74

B. Einkommensexplikationen

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Unterschied zwischen Formal- und Realwissenschaften. Im Bereich der Wirtschaftswissenschaften kann es nur darum gehen, eine im Hinblick auf Erklärung und Prognose der Wirklichkeit möglichst gehaltvolle Einkommenstheorie zu entwerfen. Im Bereich einer normativen Theorie der gerechten Steuerverteilung geht es um ein für diesen normativen Zweck fruchtbares Einkommenskonzept. Auch hier ist der Einkommensbegriff nur gültig mit Bezug auf eine Theorie; er ist ein theoretischer Begriff.78 Wenn auch die Vorstellung von einer allgemein gültigen Realdefinition des Einkommens sehr vage bleibt, so kann doch sinnvoll nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Vorliegen von Einkommen gefragt werden. 79 Die Position der Vertreter einer Realdefinition würde dann re-interpretiert lauten: Das Einkommensteuergesetz enthält nicht in eindeutiger Weise diejenigen Merkmale, die von genau den Sachverhalten erfüllt sein müssen, denen die Bedeutung des Begriffs Einkommen zukommen soll. Diese Aussage ist weitgehend als zutreffend anerkannt. Dementsprechend hat sich eine Literatur entwickelt, die nach Voraussetzungen sucht, die allen sieben Einkunftsarten gemein sind. Zwei Kriterien, die lediglich als notwendig, aber nicht hinreichend für das Vorliegen von Einkommen angesehen werden können, sind zu nennen: -

Tauschwirtschaftliches Kriterium, Kriterium der Vorteilserzielungsabsicht. a) Tauschwirtschaftliches Kriterium

Nach dem tauschwirtschaftlichen Kriterium setzt Einkommen voraus, daß es durch Beteiligung am wirtschaftlichen Verkehr gewonnen wird, daß es, wie Biergans / Stockinger formulieren, "auf die entgeltliche Verwertung von Gütern und Dienstleistungen am Markt zurückzuführen" ist.80 Tipke spricht von einer "Beteiligung am wirtschaftlichen Verkehr (objektiver Tatbestand), d. h. ein externes Erwirtschaften, das bestehen kann in einer Tätigkeit (Arbeit) oder im Einsatz von Vermögen oder in einer Kombination von beidem. "81 Auch der Bundesfinanzhof scheint zu dieser Ansicht zu neigen; er geht im Beschluß des Großen Senats vom 25.6. 198482 davon aus, daß wirtschaftliche Ergebnisse nur unter der Absicht der Vorteilserzielung Einkünfte und damit auch Einkommen darstellen. 78 Die Ansicht von Wallenhorst, Haftungsumfang, S. 1508 f. "für das Bilanzsteuerrecht habe der materielle Einkommensbegriff, falls er überhaupt existiert haben sollte, heute keine Gültigkeit mehr", vielmehr sei Einkommen formell gemeint, ist demnach unzutreffend. 79 Vgl. hierzu Hempe1, Begriffsbildung, S. 17 ff.; ferner Stegmüller, Wissenschaftstheorie, S. 336 ff. 80 BiergansjStockinger, Einkommensbegriff, S.5. Auch Lang, Gewinnrealisierung, S. 54f. spricht unter Berufung auf Ruppe von einem Markteinkommenskonzept. 81 Tipke, Steuerrecht, S. 152. 82 Vgl. BStBl. 1984 II, S. 751 ff., insbes. S. 766.

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5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

Ob die Aussage: Einkommen setzt notwendigerweise einen Güteraustausch voraus wahr ist, ist indessen strittig. Genau genommen ist die Aussage falsch, wenn es gelingt, einen Einkommensbestandteil aufzuzeigen, der das Kriterium nicht erfüllt. Ein solcher Einkommensbestandteil wird auch von Biergans/Stockinger 83 sowie von Tipke 84 eingeräumt: die Selbstnutzung von Wohnungen im eigenen Haus gehört nach §§ 21 Abs. 2, 21 a EStG zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung und damit zum Einkommen. Daraus ziehen die genannten Autoren jedoch nicht den Schluß, daß die behauptete Verallgemeinerung falsch sei, vielmehr sei es falsch, die Selbstnutzung als Einkommen im Rechtssinne zu bezeichnen.8s Dennoch scheint hier eher das Gedankengut einer klassisch-liberalen Wirtschaftsauffassung in das Gesetz hineingetragen zu sein, als daß das gesetzte Recht verallgemeinert ist. Denn: Das Gesetz enthält weitere Ausnahmen, so beispielsweise die von § 22 Nr. 1 a EStG erfaßten Zuwendungsrenten und im Bereich der Gewinnermittlung die Aktivierung von Eigenleistungen. Im Markteinkommenskonzept eine ratio legis des Einkommensteuergesetzes zu sehen, erscheint deshalb zweifelhaft. Derartige spekulative Verallgemeinerungen erweisen sich auch als überflüssig, fallen also dem Ockhamschen Rasiermesser zum Opfer, da bereits das spezielle Leistungsfähigkeitsprinzip eine geeignete Argumentationsbasis bietet. b) Vorteilserzielungsabsicht Nach dem Kriterium der Vorteilserzielungsabsicht ist, wie der Bundesfinanzhof formulierte, kennzeichnend für die Einkunftsarten, "daß die ihnen zugrunde liegenden Tätigkeiten oder Vermögensnutzungen auf eine größere Zahl von Jahren gesehen der Erzielung positiver Einkünfte oder Überschüsse dienen. Fehlt es an dieser Voraussetzung, so fallen die wirtschaftlichen Ergebnisse auch dann nicht unter eine Einkunftsart, wenn sie sich ihrer Art nach" darunter einordnen ließen.8ö Auch diese Voraussetzung läßt sich aus dem Gesetz nicht durch Verallgemeinerung gewinnen. Es enthält zum Fragenkomplex der interperiodischen Betrachtung von Einkünften nur sehr wenige Regeln 87, die Vg!. Biergans/Stockinger, Einkommensbegriff, S. 6. Vgl. Tipke, Steuerrecht, S. 152. 85 So argumentieren Biergans/Stockinger, Einkommensbegriff, S.6: "U. E. liegen insoweit jedoch Durchbrechungen der allgemeinen system bildenden Besteuerungsgrundsätze vor, so daß eine Erweiterung des Einkunftsbegriffs zur Berücksichtigung dieser Tatbestände nicht erforderlich ist." Tipkes Ansicht entspricht in diesem Punkt der vorgenannten: "Diese Einkünfte sind nicht erwirtschaftet. Ihre Erfassung ist regelwidrig. "; ders., Steuerrecht, S. 152. 86 Beschluß des Großen Senats des Bundesfinanzhofs vom 25. 6.1984, BStB!. 11 1984, S.766. 87 Beispielsweise die Vorschriften über den Verlustabzug (§ 10d EStG) sowie über den verrechenbaren Verlust bei Verlusten bei beschränkter Haftung (§ 15a Abs. 4 EStG). 83

84

B. Einkommensexplikationen

143

sich nicht zum Kriterium der Vorteilserzielungsabsicht verallgemeinern lassen. Auch hier ist der Vater des Gedankens das dem Gesetz übergeordnete Leistungsfähigkeitsprinzip. c) Zurechnung zu einer Einkunftsart Das tauschwirtschaftliche Kriterium und das Kriterium der Vorteilserzielungsabsicht bilden zusammengenommen - wie erwähnt - zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für das Vorliegen von Einkünften und damit auch von Einkommen. Weiterhin ist notwendig, daß die Einkünfte unter eine der sieben oben genannten Einkunftsarten fallen. Erst die Konjunktion dieser drei Bedingungen ist notwendig und hinreichend für das Vorliegen von Einkommen im Rechtssinne. Dies bedeutet aber insbesondere, daß Einkünfte, die zwar die beiden erstgenannten Kriterien erfüllen, aber nicht zu einer der sieben Einkunftsarten gerechnet werden können, nicht der Einkommensteuer unterliegen. Deshalb sei es dem Gesetzgeber darauf angekommen, sagt E. Littmann, "in den Tatbeständen der sieben Einkunftsarten diejenigen Vorgänge, die sich für eine Heranziehung zur ESt eignen, so lückenlos wie irgend möglich zu erfassen".88 3. Ermittlung von Einkünften und Einkommen Die Klassifizierung in sieben Einkunftsarten hat nun nicht etwa nur die pragmatische Bedeutung einer operationalen Erfassung der Einkünfte. Vielmehr ist die Zuordnung von Einkünften zu den einzelnen Einkunftsarten auch entscheidend im Hinblick auf unterschiedlich hohe Abzugsbeträge 89 , die das Gesetz vorsieht, und last not least im Hinblick auf die Methode zur Ermittlung der Einkünfte, denn das Gesetz kennt zwei verschiedene Ermittlungsmethoden (sog. Ermittlungsdualismus). In der Literatur wurde das geltende Einkommensteuerrecht deshalb zutreffend als ein Einkunftsartenrecht bezeichnet.90 a) Ermittlungsdualismus Oben, bei Darstellung der hypothetischen Einkommensexplikationen wurde stets von einem ganzheitlichen Einkommensbegriff mit nur einer Errnittlungsmethode (Ermittlungsmonoismus) ausgegangen. Im Gegensatz dazu ist das Einkommen im Rechtssinne in sieben Einkunftsarten zerfasert und wird je nach E. Littmann, Gesetzessystematik, S. 95. Zu nennen sind hier etwa die bei den einzelnen Einkunftsarten teils gar nicht, teils in unterschiedlicher Höhe gewährten Freibeträge; ferner die unterschiedlich hohen Werbungskostenpauschbeträge bei den Überschußeinkünften und schließlich die durchaus unterschiedlichen Möglichkeiten des Verlustausgleichs bzw. -abzugs. Siehe zu diesen Fragen etwa Seeger, in: Ludwig Schmidt, Einkommensteuergesetz, § 2 Anm. 10a. 90 Vgl. etwa Rose, Einkunftsart, S. 2464. 88 89

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5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

Einkunftsart durch zwei verschiedene Methoden ennittelt. Dieser Ennittlungsdualismus läßt sich mit Tipke "cum grano salis als Dualismus zwischen Reinvennögenszugangstheorie und Quellentheorie bezeichnen".91 Die Einkünfte werden ermittelt bei Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit durch den Gewinn (sog. Gewinneinkünfte), bei den übrigen Einkunftsarten durch Überschuß der Einnahmen über die Werbungskosten (sog. Überschußeinkünfte ).92 "Gewinn ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvennögen am Schluß des Wirtschaftsjahrs und dem Betriebsvennögen am Schluß des vorangegangenen Wirtschaftsjahrs, vennehrt um den Wert der Entnahmen und vennindert um den Wert der Einlagen. "93 Bei den Gewinneinkünften wirkt sich also jede Änderung des Betriebsvennögens auf die Höhe der Einkünfte und damit auf das Einkommen aus. Insoweit liegt eine fonnale Ähnlichkeit mit dem Reinvennögenszugangs-Einkommen vor. Dagegen findet bei den Überschußeinkünften grundsätzlich kein Vergleich des Vennögens - bei diesen Einkunftsarten wird deshalb zur Abgrenzung auch nicht von Betriebs-, sondern von Privatvennögen gesprochen - am Anfang und am Schluß des Wirtschaftsjahrs statt.94 Aber auch hier ist der Überschuß eines Jahres zu ennitteln, nicht etwa der während des Lebens eines Entscheidungsträgers insgesamt anfallende Überschuß.9 5 Einnahmen im Rechtssinne "sind alle Güter, die in Geld oder Geldeswert bestehen und dem Steuerpflichtigen im Rahmen einer der" Überschußeinkunftsarten zufließen.96 Von den Einnahmen sind die Werbungskosten abzusetzen. Hierbei handelt es sich um "Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen" .97 Insoweit liegt eine fonnale Ähnlichkeit mit dem Quellen-Einkommen vor. Den Gewinneinkünften und den Überschußeinkünften ist also gemeinsam, daß sie keine Brutto-Einkommen, sondern Netto-Einkommen sind. Die einkommensteuerrechtliche Literatur spricht vom Netto-Prinzip. Es findet unter Tipke, Steuerrecht, S. 212. Vgl. § 2 Abs. 2 EStG. 93 § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG. Genau genommen ist danach zu unterscheiden, ob der Steuerpflichtige Bücher führt oder nicht; nur für erstere gilt der Betriebsvermögensvergleich; letztere können als Gewinn den Überschuß der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben ansetzen, vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 EStG. Ausführlich zum Gewinnbegriff Lang, Gewinnrealisierung, S. 50-96. 94 In Ausnahmefällen werden auch bei den Überschußeinkünften Vermögenszugänge zu den Einkünften gerechnet, z. B. bei Vorliegen sog. Spekulationsgewinne (§§ 22 Nr. 2,23 EStG) und bei Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften bei wesentlicher Beteiligung (§ 17 EStG). 95 Nach § 2 Abs.7 Satz 2 EStG sind die Grundlagen für die Festsetzung der Einkommensteuer jeweils für ein Kalenderjahr zu ermitteln. 96 § 8 Abs. 1 EStG. 97 § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG. 91

92

B. Einkommensexplikationen

145

anderem nach Tipke 9B , Ruppe 99 und Söhn seine Rechtfertigung im Leistungsfähigkeitsprinzip; in den Worten Söhns: "Nur die (Rein)Einkünfte sind ein zutreffender Indikator objektiver steuerlicher Leistungsfähigkeit. Was für die Einnahmeerzielung aufgewendet worden ist, steht nicht mehr zur Steuerzahlung zur Verfügung, lediglich der Saldo ist ein wirksamer Wertezufluß, ein tatsächlicher Zuwachs an wirtschaftlicher (finanzieller) Leistungsfähigkeit. "100 Weiterhin ist den Gewinneinkünften und den Überschußeinkünften gemeinsam, daß sie Nominal-Einkommen und keine Real-Einkommen sind. Diese Ansicht wird von der Rechtsprechung unter anderem darauf gestützt, daß im Gesetz DM-Beträge ausdrücklich erwähnt werden. lOl Ferner vertritt das Bundesverfassungsgericht die Ansicht, in einer modernen Volkswirtschaft, die notwendig eine Geldwirtschaft sei, stelle der Grundsatz Mark = Mark ein tragendes Ordnungsprinzip der geltenden Währungsordnung und Wirtschaftspolitik dar. Dem Nominalwertprinzip komme im Steuerrecht ein besonderes Gewicht ZU. 102 b) Verlustausgleich und Verlustabzug Schließlich haben Gewinneinkünfte und Überschußeinkünfte trotz aller Verschiedenheit auch ermittlungstechnische Gemeinsamkeiten. So gehören zu einer Einkunftsart stets die Ergebnisse (Einkünfte) aller unter diese Einkunftsart fallenden Einkunftsquellen, z. B. sind die verschiedenen Miethäuser eines Entscheidungsträgers jeweils eigene Einkunftsquellen, deren Einzelergebnisse bei seinen Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu erfassen sind. Positive und negative Einzelergebnisse verschiedener Einkunftsquellen einer Einkunftsart sind grundsätzlich gegeneinander auszugleichen; sog. interner oder horizontaler Verlustausgleich. 103 Bestimmte negative Einzelergebnisse (Verluste) sind allerdings nach den Regeln des geltenden Rechts vom internen bzw. horizontalen Verlustausgleich ausgeschlossen. 104 98 Vgl. Tipke, Steuerrecht, S. 151: "Das Nettoprinzip ist Ausfluß des Leistungsfähigkeitsprinzips. " 99 Vgl. Ruppe, Abgrenzung, S.105: "Die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit fordert die Erfassung (bloß) des Reineinkommens statt des Roheinkommens." I()() Söhn, Betriebsausgaben, S. 18. 101 Vgl. etwa BFH-Urteil vom 14.5.1974 VIII R 95/72, BStBl. 11 1974, S. 576: "So liegt allen Vorschriften des EStG, die bestimmte DM-Beträge nennen ... ersichtlich das Nominalprinzip zugrunde." 102 Vgl. BVerfGE 50, S.92. 103 Siehe hieriu auch Walzer, Verlustausgleichsbegrenzung, S. 163; ders. Verlustausgleichsmaßstäbe, S. 1683. Der Fall eines Verlustausgleichs zwischen Ehegatten bei Zusammenveranlagung nach § 26 b EStG bleibt unberücksichtigt. 104 Ausgeschlossen vom internen Verlustausgleich sind beispielsweise: Verluste aus der Eigennutzung von Einfamilienhäusern (§ 21 a), soweit nicht z. B. §§ 7 b, 54 EStG oder § 15

10 Walzer

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5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

Sind die Einkünfte der einzelnen Einkunftsarten der Höhe nach ermittelt, und ergeben sich für einige Einkunftsarten positive, für andere negative Einkünfte, so sind die positiven und negativen Einkünfte bei der Ermittlung der Summe der Einkünfte gegeneinander auszugleichen; sog. externer oder vertikaler Verlustausgleich. !Os Wird auch die Summe der Einkünfte eines Jahres negativ, so sind die Verluste im Rahmen des § 10 d EStG betragsmäßig begrenzt zunächst vom Gesamtbetrag der Einkünfte der beiden vorangegangenen Jahre, und, falls noch immer überschießende negative Einkünfte verbleiben, vom Gesamtbetrag der Einkünfte der fünf auf die Verlustentstehung folgenden Jahre, abzuziehenYl6

C. Die Einkommenswahl im Urzustand Die Entscheidungsträger wählen nun aus den oben dargestellten Einkommensexplikationen diejenige aus, die ihren Lebensplänen am meisten entspricht. Gewählt wird in mehreren aufeinanderfolgenden Schritten: Zunächst wird die Wahl hinsichtlich der Aspekte getroffen, die für alle vorgetragenen Explikationen gleichermaßen von Bedeutung sind, näherhin also die Frage einer Besteuerung nach dem Brutto- oder Netto-Einkommen einerseits, dem Nominal- oder Real-Einkommen andererseits. Sodann erfolgt die Wahl zwischen den verschiedenen Einkommensexplikationen. Die Wahl der Einkommensperiode wird erst unten in Abschnitt D. dargestellt.

I. Der Entscheidungsrahmen Nach den vorhergehenden Ausführungen können die Entscheidungsträger im Urzustand einen Einkommensbegriff aus folgender Liste wählen:

A. Brutto-Einkommen B. Netto-Einkommen 1. Quellen-Einkommen a) nominal b) real BeriinFG oder §§ 82 a, 82 g EStDV eingreifen; Verluste aus sonstigen Einkünften gern. § 22 Nr. 3 EStG; Verluste aus Spekulationsgeschäften, soweit sie die Gewinne aus anderen Spekulationsgeschäften übersteigen (§ 23 Abs.4 EStG); Verluste aus gewerblicher Tierhaltung (§ 15 Abs. 3 EStG); sowie die nach §§ 15aAbs. 1,18 Abs. 5,20 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2, 21 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht ausgleichsfähigen Verluste; schließlich negative Einkünfte im Rahmen des § 2a EStG. lOS Siehe hierzu auch Walzer, Verlustausgleichsbegrenzung, S. 163; ders. Verlustausgleichsmaßstäbe, S. 1683. Die Bezeichnung negative Einkünfte findet sich im Gesetz; vgl. z.B. § 2a Abs. 1 Satz 1 oder § 39a Abs. 1 Nr. 6 EStG. 106 Zur Verlustbehandlung nach geltendem Recht siehe auch den Überblicksartikel von lohn, Verlust. Eine eingehendere Behandlung der Verlustproblematik aus der Sicht des Urzustands findet sich unter Punkt D. dieses Kapitels.

C. Die Einkommenswahl im Urzustand

147

2. Vermögenszugangs-Einkommen a) nominal b) real 3. künftiger dauerhafter und uniformer Entnahmestrom a) nominal b) real C. Einkommen im Sinne des geltenden Rechts

Die Entscheidungsträger treffen ihre Wahl unter Ungewißheit. Sie können dieses Problem lösen, indem sie eine der im ersten Kapitel dargestellten Entscheidungsregeln anwenden. Neben einer Entscheidung nach der MaximinRegel kann hier auch die Frage geprüft werden, ob eine gleichmäßig beste oder gar eine beste Einkommensexplikation vorliegt. Ja, es wird sogar behauptet, das Vermögenszugangs-Einkommen sei die beste Explikation unter den erwähnten Entscheidungsalternativen. Für einen strengen Beweis dieser Behauptung müßte nun komponentenweise gezeigt werden, daß das VermögenszugangsEinkommen den übrigen Einkommensexplikationen nicht unterlegen und für mindestens eine Komponente überlegen ist. Die hier vorgetragene Argumentation zielt mehr auf den letzten Gesichtspunkt: Gezeigt werden soll, daß das Vermögenszugangs-Einkommen den übrigen Einkommensexplikationen in jeweils mindestens einer Komponente überlegen ist. Die Überlegenheit des Vermögenszugangs-Einkommens, wie sie hier behauptet wird, muß also als Hypothese verstanden werden, für deren Bestätigung aus der Sicht des Urzustands starke Argumente sprechen. Nach der Wahl werden die Entscheidungsträger, welche Einkommensexplikation sie auch wählen, eine ungleiche personelle Einkommensverteilung vorfinden. Sie wissen nicht, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe sie selbst Einkommen erzielen werden. Dagegen ist ihnen bekannt, daß die gewählte Einkommensexplikation diesen Fragenkreis endgültig, ohne Aussicht auf Revision, regeln wird. Die gewählte Explikation ist für jedermann verbindlich und wird streng eingehalten.

11. Grundentscheidungen mit Geltung fUr aUe Einkommensexplikationen Zu erörtern sind die Entscheidungen zwischen Brutto- und Netto-Einkommen sowie Nominal- und Real-Einkommen. 1. Brutto-Einkommen vs. Netto-Einkommen

Sei ein beliebiger Entscheidungsträger herausgegriffen und überlegt, wie er sich unter den Bedingungen des Urzustands zwischen Brutto- oder NettoEinkommen entscheiden würde. Der Entscheidungsträger kennt die allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenhänge, nach denen regelmäßig mit einer Einnahmenerzielung auch Ausgaben verbunden sind, etwa zum Erwerb von Waren, 10'

148

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen

die später veräußert werden sollen. J07 Er wird also zunächst zwei beliebige, aber unterschiedliche Zustände der Wel t Sb S2 auf ihre finanziellen Konsequenzen hin untersuchen, um festzustellen, ob eine Einkommensexplikation für ihn Unerträgliches enthält. Beispielsweise könnte er ohne Beschränkung der Allgemeinheit seiner Überlegungen von folgenden zwei Zuständen der Welt ausgehen: Tabelle 15

Brutto- und Nettoeinkommen

Brutto-Einkommen Ausgaben zur Erzielung der Einnahmen Netto-Einkommen

SI

Sz

320 290 30

320 120 200

Angenommen, der Steuersatz betrage 20%, bezogen auf das Brutto- bzw. Netto-Einkommen. Dann kann sich der Entscheidungsträger eine Entscheidungsmatrix aufstellen, in der die Überschüsse nach Steuern als entscheidungsrelevante Präferenzwerte angesehen werden:

Netto-Einkommen Brutto-Einkommen

SI

Sz

24 108 -34

160 136

Die Zeilenminima betragen {24, - 34}, wobei der Wert - 34 eher als Indikator für ein sehr schlechtes Ergebnis zu interpretieren ist, denn als ein durch die Besteuerung entstandener Verlust. Dies beruht auf der Wahl des speziellen Leistungsfähigkeitsprinzips LFP 1, wonach in einem solchen Fall die mildernde Regelung des steuerfreien Existenzminimums eingreift. Ohnehin wird der Entscheidungsträger das Ergebnis der Entscheidungsmatrix dahin verallgemeinern, daß die Wahl des Brutto-Einkommens als Bemessungsgrundlage ihn in existentielle wirtschaftliche Schwierigkeiten führen kann. Ob dies der Fall sein wird, hängt von dem Zustand der Welt ab, dem sich der Entscheidungsträger nach der Wahl gegenübergestellt sieht. Dieses Risiko vermeidet er aber, indem er sich für das Netto-Einkommen entscheidet.

107 Vgl. hierzu unter vielen anderen Ruppe, Abgrenzung, S. 105: "Was für die Erzielung der Einkünfte aufgewendet wird, steht nicht zugleich für private Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung". 108 Z. B.: Brutto-Einkommen (320) abzgl. Ausgaben zur Einnahmeerzielung (290) abzgl. Steuern (20% von 30) ergibt 24.

C. Die Einkommenswahl im Urzustand

149

2. Nominal-Einkommen vs. Real-Einkommen

Bleibt weiterhin zu erörtern, ob der Entscheidungsträger eher ein nominal oder ein real gemessenes Einkommen wählt. Im Urzustand wird vom Vorliegen einer Geldwirtschaft ausgegangen. Der Entscheidungsträger muß also die Möglichkeit einer inflationären Preisentwicklung in Erwägung ziehen. Er kennt die allgemeine wirtschaftliche Auswirkung einer inflationären Entwicklung, die in einem Verlust an Kaufkraft des Geldes liegt. Gleiches nominales Einkommen vorausgesetzt, verringert sich infolge inflationär steigender Preise sein realer Güterkorb. Er weiß auch, daß sich eine Inflation auf seine wirtschaftliche Position besonders negativ auswirkt, wenn sie mit einem progressiven Tarif, z. B. der Grund- oder Mehr-Progression, zusammentrifftY19 Denn das inflationär aufgeblähte Nominal-Einkommen bringt ihn unter Umständen sehr schnell in die Bereiche hoher progressiver Grenzsteuersätze. Eine Inflation kann also, wenn Nominal-Einkommen besteuert wird, die ursprünglich für eine Welt ohne Inflation vereinbarte Steuerverteilung gleichsam unmerklich unterlaufen und zu einer nicht gewollten Steuerverteilung führen po Hat der Entscheidungsträger diesen Unterschied zwischen nominal und real gemessenen Werten einmal, wie im Urzustand vorausgesetzt, verstanden, so wird er sich gegen die Auswirkungen der Inflation schützen wollen. Eine Möglichkeit des Schutzes ist das Abstellen auf Real-Einkommen im Sinne inflationsbereinigter Nominal-Einkommen. Der Entscheidungsträger muß also überlegen, wie sich eine Besteuerung inflationär aufgeblähter Nominal-Einkommen auf seine wirtschaftliche Position auswirkt, wenn das Einkommen nominal oder real gemessen wird. Er kann hier im wesentlichen zwei Fälle in Erwägung ziehen, die beide durch progressive Tarife gekennzeichnet sind. Betrage die Inflationsrate 10%, das NominalEinkommen 100 und der Steuersatz in Abhängigkeit vom Einkommen:

109 Vgl. hierzu OECD, Adjustment for Inflation, S. 10. Ferner eindringlich HerrmannHeuer-Raupach. § 2 Abs.29b: "Liegen die Real-Einkünfte wegen einer Geldwertverschlechterung niedriger als die Nominal-Einkünfte, so wirkt sich die auf den Unterschied zwischen beiden Größen entfallende Steuer als übertarifliche Steuerprogression aus. Übersteigt die aus den Nominal-Einkünften erhobene Steuer die Real-Einkünfte, so führt die Besteuerung sogar zu einem Substanzverzehr und damit zu einer Abweichung von dem der Einkommensbesteuerung zugrunde liegenden Grundsatz der Belastung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nach Maßgabe von Erträgen." 110 So auch OECD, Adjustment for Inflation, S. 12; vgl. ferner Neumark, Indexbindung, S. 94: "Wie dargelegt führt die Beibehaltung des Nominalwertprinzips speziell in der Einkommens-, aber auch in der Vermögens besteuerung zu einer das ursprünglich gewollte Niveau überschreitende Erhöhung der fiskalischen Forderungen und einer Verzerrung der bei Erlaß der betreffenden Gesetze als gerecht angesehenen Belastungsproportionen ...

150

5. Kap.: Steuerbemessung nach dem Einkommen Tabelle 16

Beispielhafter Steuertarif Einkommen (E)

Steuersatz

E