174 76 111MB
German Pages 440 [459] Year 1977
D. N. SUBAREW
Statistische Thermodynamik des Nichtgleichgewichts
D. N. S U B A R E W
Statistische Thermodynamik des Nichtgleichgewichts Autorisierte Übersetzung In deutscher Sprache herausgegeben von
Dr. G. Röpke
Mit 2 Abbildungen
A K A D E M I E - V E R L A G - B E R L I N 1976
XI. H . 3y6apeB
H E P A B H O B E C H A H CTATHCTHHECKAH TEPMOflHHAMHKA
Erschienen im Verlag Nauka, Moskau Übersetzung aus dem Russischen von D r . K . - H . Müller, Dresden
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3 — 4 © der deutschen Ausgabe Akademie-Verlag, Berlin, 1976 Lizenznummer: 202 • 100/545/76 Gesamtherstellung: V E B Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Bestellnummer: 761 730 7 (6030) • LSV 1145 Printed in GDR EVP 7 8 , -
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zu deutschen Ausgabe
11
Einleitung
13
Kapitel I. Die statistische Thermodynamik klassischer Systeme im thermischen Gleichgewicht
15
§ 1.
Die Verteilungsfunktionen
15
1.1. 1.2.
Verteilungsfunktionen von Systemen wechselwirkender Teilchen Die Normierung
15 17
§ 2.
Die Liouville-Gleichung
18
2.1. 2.2. 2.3. 2.4.
Der Liouvillesche Satz über die Invarianz des Phasenvolumens Die Liouville-Gleichung Die Zeitabhängigkeit der Verteilungsfunktionen Die Entropie
18 20 22 25
§ 3.
Die Gibbsschen statistischen Gesamtheiten
29
3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
Die mikrokanonische Verteilung Die Gibbssche kanonische Verteilung Der Satz von Gibbs über die kanonische Verteilung Die großkanonische Gibbssche Verteilung Gibbssche Verteilung für die isobar-isotherme Gesamtheit
31 32 35 40 44
§ 4.
Der Zusammenhang zwischen den Gibbsschen Verteilungen und dem Maximum der Informationsentropie
46
4.1. 4.2. 4.3. 4.4.
Die Die Die Die
46 48 49 50
§ 5.
Die thermodynamischen Zustandsgieichungen
52
5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5.
Der quasistatische Prozeß Die Zustandsgieichungen für die mikrokanonische Gesamtheit Der Virialsatz Die Zustandsgieichungen für die kanonische Gibbssche Gesamtheit . . . . Die Zustandsgieichungen für die großkanonische Gibbssche Gesamtheit . .
52 53 55 57 59
'
Informationsentropie Extremaleigenschaft der mikrokanonischen Verteilung Extremaleigenschaft der kanonischen Gibbsschen Verteilung Extremaleigenschaft der großkanonischen Verteilung
6
Inhaltsverzeichnis
§ 6.
Die Schwankungen
60
6.1. 6.2.
Die quasithermodynamische Theorie der Schwankungen Die Gaußsche Verteilung für die Wahrscheinlichkeit von Schwankungen. .
60 63
Kapitel II. Die statistische Thermodynamik von Quantensystemen im Gleichgewicht .
67
§ 7.
Der statistische Operator
67
7.1. 7.2.
Die reine Gesamtheit Die gemischte Gesamtheit und der statistische Operator
67 70
§ 8.
Die Liouville-Gleichung für den Fall der Quantenstatistik
73
8.1. 8.2.
73
8.3. 8.4.
Die quantenmechanische Liouville-Gleichung Die Schrödinger-Darstellung und die Heisenberg-Darstellung für die statistischen Operatoren Der Operator der Entropie Die Entropie
76 77 78
§ 9.
Die Gibbsschen Gesamtheiten der Quantenstatistik
81
9.1. 9.2. 9.3. 9.4. 9.5. 9.6.
Die mikrokanonische Gibbssche Verteilung Die kanonische Gibbssche Verteilung Der Satz von Gibbs über die kanonische Gesamtheit Die großkanonische Gibbssche Verteilung Der Satz von Gibbs über die großkanonische Verteilung Die Gibbssche Verteilung für die isobar-isotherme Gesamtheit
82 84 85 90 92 95
§ 10.
Der Zusammenhang der Gibbsschen Verteilungen mit dem Maximum der Informationsentropie (quantenstatistischer Fall)
97
10.1. 10.2. 10.3.
Die Extremaleigenschaft der mikrokanonischen Verteilung Die Extremaleigenschaft der kanonischen Verteilung Die Extremaleigenschaft der Gibbsschen großkanonischen G e s a m t h e i t . . .
97 98 99
§ 11.
Die thermodynamischen Zustandsgieichungen
100
11.1. 11.2. 11.3. 11.4. 11.5.
100 101 102 104
11.6.
Der quasistatische Prozeß Die Zustandsgieichungen der mikrokanonischen Gesamtheit Der Virialsatz für Quantensysteme Die Zustandsgieichungen für die kanonische Gibbssche Gesamtheit . . . . Die- thermodynamischen Gleichungen für die großkanonische Gibbssche Gesamtheit Der Nemstsche Satz
105 106
§ 12.
Schwankungen in Quantensystemen
109
12.1. 12.2. 12.3.
Die Schwankungen in der kanonischen Gibbsschen Gesamtheit 110 Die Schwankungen in der großkanonischen Gibbsschen Gesamtheit . . . . 1 1 0 Die Schwankungen in der verallgemeinerten Gibbsschen Gesamtheit . . . 111
§ 13.
Die thermodynamische Äquivalenz der Gibbsschen statistischen Gesamtheiten 113
Inhaltsverzeichnis 13.1. 13.2.
7
Die thermodynamische Äquivalenz der kanonischen und der mikrokanonischen Gesamtheit 114 Die thermodynamische Äquivalenz von großkanonischer und kanonischer Gibbsscher Gesamtheit 118
§ 14.
Der Grenzübergang von der Quantenstatistik zur klassischen Statistik . . . 121
14.1. 14.2.
Der Grenzübergang für die Zustandssummen Der Grenzübergang für den statistischen Operator im Gleichgewicht
. . .
122 128
Kapitel i n . Irreversible Prozesse, die durch mechanische Störungen hervorgerufen werden 131 §15.
Die Reaktion eines Systems auf äußere mechanische Störungen
131
15.1. 15.2. 15.3. 15.4.
Die lineare Reaktion des Systems (Fall der klassischen Statistik) Die lineare Reaktion des Systems (quantenstatistischer Fall) Die nichtlineare Reaktion eines Systems Der Einfluß eines veränderlichen elektrischen Feldes, elektrische Leitfähigkeit Der Einfluß eines magnetischen Wechselfeldes. Die magnetische Suszeptibilität
133 141 147
15.5.
152 157
§ 16.
Die Zweizeitigen Greenschen Funktionen
16.1. 16.2. 16.3.
Retardierte, avancierte und kausale Greensche Funktionen 159 Die Spektraldarstellungen der zeitlichen Korrelationsfunktionen 162 Spektraldarstellungen und Dispersionsrelationen für die Greenschen Funktionen 167 Die Summenregeln 173 Die Symmetrie der Greenschen Funktionen 175
16.4. 16.5.
158
§ 17.
Fluktuations-Dissipations-Theoreme und Dispersionsrelationen
17.1.
Dispersionsrelationen, Summenregeln und Onsager-Relationen für die verallgemeinerten Suszeptibilitäten 17® Das Fluktuations-Dissipations-Theorem von Callen und Welton für die verallgemeinerten Suszeptibilitäten 182 Die linearen Beziehungen zwischen den Strömen und den Kräften; die kinetischen Koeffizienten und ihre Eigenschaften 184 Die Reihenfolge der Grenzübergänge V —>• oo und E -> 0 in den kinetischen Koeffizienten 190 Das Anwachsen der Energie unter dem Einfluß äußerer mechanischer Störungen 193 Die Entropieerzeugung 198
17.2. 17.3. 17.4. 17.5. 17.6.
178
§ 18.
Ein System geladener Teilchen im veränderlichen elektromagnetischen Feld 200
18.1. 18.2. 18.3. 18.4.
Die Dielektrizitätskonstante und die Leitfähigkeit Symmetrieeigenschaften und Dispersionsrelationen Ein System aus Teilchen mit Spin im elektromagnetischen Feld Ein System aus Teilchen, die ein elektrisches Dipolmoment tragen . . . .
200. 210 211 212
8
Inhaltsverzeichnis
Kapitel IY. Der statistische Operator für das Nichtgleichgewicht
215
§ 19.
Die Erhaltungssätze
219
19.1. 19.2. 19.3. 19.4. 19.5.
Die lokalen Erhaltungssätze der klassischen Mechanik Die lokalen Erhaltungssätze im Falle der Quantenmechanik Der Virialsatz für den inhomogenen Fall Die Erhaltungssätze für Gemische aus Gasen oder Flüssigkeiten [185] . . Die Erhaltungssätze für Systeme aus Teilchen mit innefen Freiheitsgraden
220 225 232 234 238
§ 20.
Die Verteilung des lokalen Gleichgewichts
241
20.1. 20.2. 20.3. 20.4. 20.5.
Der statistische Operator und die Verteilungsfunktionen für Systeme im lokalen Gleichgewicht Die thermodynamischen Gleichungen Die Schwankungen in der Gesamtheit des lokalen Gleichgewichts [3] . . . Die kritischen Fluktuationen [3] Das Fehlen dissipativer Prozesse im Zustand des lokalen Gleichgewichts. .
241 249 251 258 263
§21.
Der statistische Operator für Systeme im Nichtgleichgewicht [2 —5], . . . 270
21.1. 21.2. 21.3.
Der statistische Operator für das Nichtgleichgewicht Die physikalische Bedeutung der Parameter Zur Bedeutung der lokalen Bewegungsintegrale
§ 22.
Tensorielle, vektorielle und skalare Prozesse. Die Gleichungen der Hydrodynamik, der Wärmeleitfähigkeit und der Diffusion in mehrkomponentigen Flüssigkeiten 283
22.1.
Die Transportprozesse in mehrkomponentigen Flüssigkeiten; der statistische Operator Die linearen Beziehungen zwischen den Strömen und den thermodynamischen Kräften Die Onsager-Relationen Die Entropieerzeugung bei Nichtgleichgewichtsprozessen Tensorielle, vektorielle und skalare Prozesse. Die Wärmeleitung, die Diffusion und die Thermodiffusion, der Dufour-Effekt, die gewöhnliche und die Volumenviskosität Die Transportprozesse in einkomponentigen Flüssigkeiten. Die Wärmeleitungsgleichung und die Navier-Stokesschen Gleichungen Die Transportprozesse in Zweiergemischen. Die Wärmeleitfähigkeit, die Diffusion und die kreuzweisen Effekte Ein anderer Satz thermodynamischer Kräfte
22.2. 22.3. 22.4. 22.5.
22.6. 22.7. 22.8.
271 279 280
284 289 293 296
301 309 313 315
§ 23.
Die Relaxationsprozesse
322
23.1. 23.2. 23.3.
Die allgemeine Theorie Die Relaxation der Kernspins in einem Kristall [46] Die Spin-Gitter-Relaxation der Leitungselektronen in Halbleitern im Magnetfeld [53b] Der Energieaustausch zwischen zwei schwach miteinander wechselwirkenden Untersystemen [55] Die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen
322 330
23.4. 23.5.
334 337 344
Inhaltsverzeichnis
9
§ 24.
Der statistische Operator eines relativistischen Systems und die relativistische Hydrodynamik [5] 351
24.1. 24.2. 24.3. 24.4.
Der relativistische statistische Operator Die thermodynamischen Zustandsgieichungen Die relativistischen hydrodynamischen Gleichungen Der Ladungstransport
351 353 355 363
§ 25.
Die kinetischen Gleichungen
365
25.1. 25.2. 25.3.
Verallgemeinerte kinetische Gleichungen [56] Die nichtidealen Quantengase Die kinetische Gleichung für Metallelektronen
365 372 374
§26.
Die Kramers-Fokker-Planck-Gleichungen [162]
376
26.1. 26.2.
Die allgemeine Methode Spezialfälle
377 385
§ 27.
Die Extremaleigenschaften des statistischen Operators für das Nichtgleichgewicht [170, 189] 387
27.1. 27.2.
Die Extremaleigenschaften der Quasigleichgewichtsverteilung [170] . . . . Die Herleitung des statistischen Operators für das Nichtgleichgewicht aus dem Extremum der Informationsentropie [170, 189] Der Zusammenhang zwischen dem statistischen Operator für das Nichtgleichgewicht und dem für das Quasigleichgewicht [184] Die verallgemeinerten Transportgleichungen [56, 170] Die verallgemeinerten Transportgleichungen und die Kriterien für den Zeitablauf makroskopischer Systeme von Prigogine und Glansdorf [170] . .
27.3. 27.4. 27.5.
Anhänge
388 390 393 396 398 403
Anhang I. Die formale Theorie der Streuung in der Quantenmechanik 403 Anhang II. Die statistische Theorie der Transportprozesse nach McLennan 409 Anhang III. Die Grenzbedingungen für die statistischen Operatoren in der Theorie der Nichtgleichgewichtsprozesse und die Methode der Quasimittelwerte . . 413 Ergänzung zur deutschen Ausgabe
419
Literaturverzeichnis
421
Sachverzeichnis
438
Vorwort zur deutschen Ausgabe
I n diesem Buch wird der Versuch unternommen, die gegenwärtige Situation in der statistischen Thermodynamik des Nichtgleichgewichts, von einem einheitlichen Gesichtspunkt ausgehend, als natürliche Verallgemeinerung der statistischen Thermodynamik des Gleichgewichts zu behandeln. Von einer logischen Betrachtungsweise aus wäre es wünschenswert, am Anfang die statistische Theorie der Nichtgleichgewichtsprozesse zu betrachten und die Theorie des statistischen Gleichgewichts als deren Grenzfall anzusehen. Eine derartige Darstellung dürfte jedoch zur Zeit kaum zweckmäßig sein, da sich die statistische Thermodynamik für das Nichtgleichgewicht und diejenige f ü r das Gleichgewicht in zu unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden. Deshalb bringen wir in den Kapiteln I und I I eine knappe Darstellung der klassischen Statistik und der Quantenstatistik von Systemen im Gleichgewicht in einem Umfang, der nötig ist, um die grundlegenden thermodynamischen Beziehungen für den Fall des Gleichgewichts einzuführen. Das Ziel dieser einführenden Kapitel besteht darin, auf die allgemeine Methode der statistischen Gesamtheiten von Gibbs zu verweisen, da in den K a piteln I I I und IV der Versuch gemacht wird, die Idee der statistischen Gesamtheiten auf die statistische Thermodynamik des Nichtgleichgewichts zu übertragen. Der klassischen statistischen Mechanik ist ein gesondertes Kapitel gewidmet, obwohl man sie als den Grenzfall der Quantenstatistik auffassen kann, in dem die Quantenkorrekturen vernachlässigt werden können. Wir gehen diesen Weg jedoch nicht, da die klassische statistische Mechanik selber von Interesse ist und für viele Aufgaben völlig ausreicht. Die Methoden der klassischen Statistik und der Quantenstatistik besitzen viele Gemeinsamkeiten bezüglich der prinzipiellen Behandlung physikalischer Probleme. I n beiden Fällen stößt man auf sehr ähnliche Schwierigkeiten, wenn der Versuch gemacht wird, sie zu begründen. Der Grenzübergang von der Quantenstatistik zur klassischen Statistik wird am Schluß des Kapitels I I betrachtet. I n Kapitel I I I gehen wir zur Betrachtung von Nichtgleichgewichtsprozessen über und untersuchen die Reaktion statistischer Gesamtheiten auf äußere Störungen mechanischer Art. Mit diesem Begriff werden Störungen bezeichnet, die durch das Einschalten eines äußeren Feldes entstehen, wobei die Energie der Störung als Zusatzglied zur Hamilton-Funktion dargestellt werden kann.
12
Vorwort zur deutschen
Ausgabe
Als Anfangsbedingung wird der Zustand des statistischen Gleichgewichts verwendet. Weiterhin werden Fluktuations-Dissipations-Theoreme, Dispersionsrelationen und Summenregeln und deren Anwendungen, insbesondere auf Systeme geladener Teilchen, behandelt. Das Kapitel IV ist thermischen Störungen gewidmet, die im allgemeinen nicht als eine Störungsenergie darstellbar sind; so werden beispielsweise Störungen betrachtet, die durch Änderungen der Temperatur, des Druckes oder der Konzentration von Teilchen sowohl im Raum als auch in der Zeit hervorgerufen werden. I m Vergleich zum Fall mechanischer Störungen erfordert dieser Fall eine unmittelbare Konstruktion der statistischen Gesamtheiten. Mit Hilfe der Methode der „Quasiintegrale der Bewegung" für die reduzierte (d. h. makroskopische) Beschreibung des Systems wird ein statistischer Operator für das Nichtgleichgewicht konstruiert, der dann auf verschiedene Probleme angewendet wird: auf die Herleitung der Gleichungssysteme für den Transport von Energie, Impuls und Teilchenzahl mehrkomponentiger Systeme, von Relaxations- und kinetischen Gleichungen und von Kramers-FokkerPlanck-Gleichungen. Es zeigt sich, daß dieser statistische Operator für das Nichtgleichgewicht aus dem Extremum der Informationsentropie gewonnen werden kann, wenn die vorgegebenen Größen, die den Nichtgleichgewichtszustand charakterisieren, nicht nur im gegebenen Zeitpunkt, sondern auch in der gesamten Vergangenheit vorgegeben sind. Dieses Kapitel ist im wesentlichen auf Untersuchungen des Autors gegründet. Es wird vorausgesetzt, daß der Leser im Umfang von Universitätsvorlesungen mit den Grundlagen der Quantenstatistik und der klassischen Statistik für das Gleichgewicht vertraut ist. Das Manuskript wurde von W. A. Moskalenko, J u . L. Klimontowitsch, W. P. Kalaschnikow, A. E. Marintschuk, L. A. Pokrowski, A. G. Baschkirow, 0. Balabanjan, M. W. Sergejew, S. W. Tistschenko und M. J u . Nowikow durchgesehen, denen der Autor für Ratschläge und Hinweise dankt. Der Autor möchte außerdem Akademiemitglied N. N. Bogoljubow herzlich für fruchtbare Diskussionen verschiedener Probleme der Theorie der irreversiblen Prozesse danken. Die im vierten Kapitel dieses Buches behandelte Theorie des statistischen Operators für das Nichtgleichgewicht wurde in der letzten Zeit weiterentwickelt. In den Arbeiten [229, 230] des Autors und W. P. KALASCHNIKOWS wurden Integralgleichungen und die Störungstheorie für den statistischen Operator für das Nichtgleichgewicht [229] und der Zusammenhang mit anderen Methoden [230] untersucht. I n d e n Arbeiten [233] des Autors und S. W. TISTSCHENKOS wurden nichtlokale hydrodynamische Gleichungen „mit Gedächtnis" konstruiert und in den Arbeiten [234] des Autors und J u . NOWIKOWS die Bedingungen für die Dämpfung der Korrelation und die kinetischen Gleichungen verallgemeinert.
Moskau 1975
D. N. Subarew
Einleitung
I n dem gleichen Maß, wie die gewöhnliehe statistische Thermodynamik die Grundlage für die Thermodynamik des Gleichgewichts darstellt, ist die statistische Thermodynamik des Nichtgleichgewichts die theoretische Grundlage für die Thermodynamik des Nichtgleichgewichts [1]. Sie untersucht die Transportprozesse für Energie, Impuls und Teilöhen in den verschiedenen physikalischen Systemen (Gasen, Flüssigkeiten, Festkörpern) auf der Grundlage der statistischen Mechanik. Ihre Aufgabe ist es, die Gleichungen der Thermodynamik des Nichtgleichgewichts (soweit es möglich ist) aus „first principles" herzuleiten, d. h. aus den Gleichungen der Quantenmechanik oder der klassischen Mechanik Ausdrücke für die kinetischen Koeffizienten zu finden, die die mikroskopischen Parameter enthalten, die Symmetrieeigenschaften dieser Koeffizienten zu begründen und Fluktuations-Dissipations-Theoreme zu beweisen. Die am weitesten ausgearbeitete Methode der Theorie irreversibler Prozesse ist die Methode der kinetischen Gleichungen für die Verteilungsfunktionen, die bereits von Boltzmann eingeführt wurde und die von N. N. B O G O L J U B O W [2], K I R K W O O D [3], B O E N und G R E E N [4], V A N H O V E [5] und anderen [6, 7] begründet und weiterentwickelt wurde. Diese Methode gestattet es, die Gleichungen der Thermodynamik des Nichtgleichgewichts herzuleiten, die kinetischen Koeffizienten explizit zu berechnen, und ist sehr wichtig f ü r praktische Rechnungen, jedoch ist sie nur auf Gase mit hinreichend kleiner Dichte oder genügend schwacher Wechselwirkung zwischen den Teilchen anwendbar. Deshalb ergibt sich die Aufgabe, Gleichungen der irreversiblen Thermodynamik auf der Grundlage der statistischen Mechanik für allgemeinere Systeme herzuleiten. Die gewöhnliche lineare phänomenologische Thermodynamik des Nichtgleichgewichts ist auf ein beliebiges System anwendbar, wenn sich das System in einem schwachen Nichtgleichgewichtszustand, d. h. in der Nähe des völligen statistischen Gleichgewichts, befindet. Wir weisen darauf hin, daß hierbei nicht von einer ausgesprochen makroskopischen Betrachtungsweise ausgegangen wird. Sie verwendet neben axiomatischen thermodynamischen Methoden zu einem wesentlichen Teil mikroskopische Begründungen, insbesondere wird davon Gebrauch gemacht, daß die Teilchen den Bewegungsgleichungen der Mechanik unterliegen. Als Beispiel sei die Herleitung der Onsager-Relationen aus der Invarianz der Bewegungsgleichungen bezüglich einer Zeitumkehr
14
Einleitung
angeführt. Dabei wird allerdings nur die Existenz der Bewegungsgleichungen ausgenutzt, nicht aber ihre konkrete Form, die mit der Gestalt des HamiltonOperators verknüpft ist. Die statistische Thermodynamik des Gleichgewichts geht weiter in dieser Richtung, indem sie zunächst von einer Beschreibung des Systems durch einen ganz bestimmten Hamilton-Operator ausgeht und die Bewegungsgleichungen explizit ausnutzt. Die statistische Thermodynamik des Nichtgleichgewichts ist eine Weiterentwicklung der Gleichgewichtsthermodynamik. Während jedoch letztere eine gut ausgearbeitete Theorie darstellt, deren Begründung schon am Anfang des Jahrhunderts durch G I B B S [8] erfolgte, befindet sich die statistische Thermodynamik des Nichtgleichgewichts noch im Prozeß der Entwicklung und ist weit entfernt davon, abgeschlossen zu sein. B i s in die jüngste Zeit war die Ansicht weit verbreitet und wird auch heute noch von vielen vertreten, daß die Theorie der irreversiblen Prozesse keine einheitliche universale Methode haben könne, die wie die Gibbssche Methode auf ein beliebiges System anwendbar ist, und daß eine exakte Behandlung des Problems nur in den Grenzfällen möglich sei, in denen für die Systeme kinetische Gleichungen aufgestellt werden können. Die Entwicklung der Theorie der irreversiblen Prozesse in den letzten zehn J a h r e n (siehe die Übersichtsarbeiten [9—13]) zeigt, daß wesentliche Schritte zum Aufbau einer statistischen Thermodynamik irreversibler Prozesse für beliebige Systeme getan wurden und daß sich eine eigene Methode dieser Theorie herauszubilden beginnt. Damit bewahrheitet sich ein Gedanke von CALLEN und WELTON, der von ihnen 1951 in der Arbeit über die Theorie der Schwankungen und das verallgemeinerte Rauschen [14] ausgesprochen wurde: „ E s scheint, daß der Zusammenhang zwischen den Schwankungen im Gleichgewicht und der Irreversibilität, der hier-entwickelt wird, eine Methode für einen allgemeinen Zugang zur Theorie der Irreversibilität ergibt, der die Methoden der statistischen Gesamtheiten ausnutzt". Im vorliegenden Buch wurde der Versuch gemacht, eine vorläufige Bilanz der Ergebnisse zu ziehen, die auf diesem Wege erreicht wurden. Wir werden Nichtgleichgewichtsprozesse in thermodynamischen makroskopischen Systemen, zum Beispiel in Gasen, Flüssigkeiten, Festkörpern, mit Hilfe der Methoden der statistischen Mechanik untersuchen. Deshalb wollen wir im weiteren immer annehmen, daß das betrachtete System aus einer großen Zahl von Teilchen besteht und den Gesetzen der Quantenmechanik (oder der klassischen Mechanik) unterliegt, wobei der Hamilton-Operator bekannt sein soll. (Eine Darstellung der statistischen Mechanik des Gleichgewichts befindet sich z. B . in [ 1 5 - 1 9 ] . ) Die Methode des statistischen Operators für dasNichtgleichgewicht, auf welcher das vierte Kapitel dieses Buches begründet ist, behandelte der Autor in den Arbeiten [20]. Weiterentwickelt wurde diese Methode zusammen mit W. P . KALASCHNIKOW [21], L . L . B U I S C H W I L I [22] und A. G. BASCHKEROW [23]. Eine Reihe wesentlicher Ergänzungen wurden von L . A. POKROWSKI erhalten [24].
Die statistische Thermodynamik klassischer Systeme im thermischen Gleichgewicht
Kapitel
I
Die statistische Thermodynamik der Gleichgewichts- sowie der Nichtgleichgewichtsprozesse geht von den Gleichungen der Quantenmechanik beziehungsweise der klassischen Mechanik für das zu untersuchende System von Teilchen aus. Da die Zahl der Variablen dieses Gleichungssystems außerordentlich hoch ist, erweist sich seine Integration als praktisch unmöglich, und selbst wenn es gelänge, die Gleichungen zu integrieren, könnten wir die Anfangsbedingungen für eine so große Zahl von Gleichungen nicht festlegen, denn das liegt außerhalb der Möglichkeiten der Experimentatoren. Deshalb werden zur Untersuchung solcher Systeme die Methoden der statistischen Mechanik verwendet, die auf der Einführung von Verteilungsfunktionen in der klassischen statistischen Mechanik bzw. von statistischen Operatoren in der Quantenstatistik beruhen. I n diesem Kapitel betrachten wir die Grundbegriffe der klassischen statistischen Mechanik von Systemen im Gleichgewicht, d. h. die Methode der Gibbsschen Gesamtheiten für Systeme von Teilchen, die der klassischen Mechanik gehorchen.
§ 1.
Die Verteilungsfunktionen
1.1.
Verteilungsfunktionen von Systemen wechselwirkender Teilchen
Wir betrachten ein System aus N gleichen wechselwirkenden Teilchen, die in einem endlichen, aber makroskopisch großen Volumen V eingeschlossen sind. Der Einfachheit halber werden wir annehmen, daß die Teilchen keine inneren Freiheitsgrade besitzen. Im Falle der klassischen Mechanik ist der dynamische Zustand jedes Teilchens durch die Vorgabe der Koordinaten q und Impulse p des Teilchens festgelegt, wobei q und p die Gesamtheit der drei kartesischen Koordinaten und der Impulsprojektionen qx, p" ( Q> 0 beschrieben, die die Bedeutung einer Wahrscheinlichkeitsdichte der Systeme im Phasenraum besitzt. Sie wird so definiert, daß dw — f(p, q, t) dp dq
(1.4)
die Wahrscheinlichkeit darstellt, das System im Augenblick t im Phasenraumelement dp dq am Punkt (p, q), d. h. (p1, ..., pN; q1} ...,qN), zu finden.
1.2.
Die Normierung
Die Verteilungsfunktion (1.4) muß die Normierungsbedingung fKV> Q, t) dpdq=
1
(1.4a)
erfüllen, da die Summe der Wahrscheinlichkeiten aller möglichen Zustände gleich Eins sein muß. Eine derartige Normierung der Verteilungsfunktion ist jedoch ungeeignet. Die klassische Statistik ist der Grenzfall der Quantenstatistik für genügend hohe Temperaturen, bei denen man Quanteneffekte vernachlässigen kann; die Normierung (1.4a) entspricht jedoch nicht dem Grenzübergang von der Quantenstatistik zur klassischen Statistik. Es ist deshalb zweckmäßiger, Verteilungsfunktionen mit einer anderen Normierung zu verwenden. Aus der Quantenmechanik ist bekannt, daß nur im Rahmen der quasiklassischen Näherung die Begriffe des Ortes und des Impulses eines Teilchens der klassischen Mechanik eingeführt werden können, ohne in Widerspruch mit der Quantenmechanik zu geraten. Die kleinstmögliche Ausdehnung einer Phasenzelle für die eindimensionale Bewegung des t'-ten Teilchens in quasiklassischer Näherung ist gleich der Planckschen Konstanten h = 2JIH, Mi Apf ^ h . Folglich ist das kleinstmögliche Volumen einer Zelle im Phasenraum eines Teilchens h3 und im Phasenraum von N Teilchen h3N. Die Größe hSN ist somit eine natürliche Einheit für das Phasenvolumen. Deshalb ist es sinnvoll, eine Verteilungsfunktion einzuführen, die auf die Einheit des dimensionslosen Phasenvolumens dp dqjh3N normiert ist. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß eine Vertauschung gleicher Teilchen in der Quantenmechanik nicht die Zustände ändert. Diese Eigenschaft soll auch in der klassischen Statistik, die einen Grenzfall der Quantenstatistik darstellt, erhalten bleiben. Da die Anzahl der Permutationen für N gleiche Teilchen N\ beträgt, muß das Phasenvolumen um das N ¡-fache verkleinert werden, damit nur verschiedene Zustände gezählt werden. 2
Subarew
18
Kapitel I.
Statistische Thermodynamik klassischer Systeme im Oleichgewicht
Aus den angeführten Überlegungen folgt, daß es zweckmäßig ist, eine dimensionslose Verteilungsfunktion einzuführen, die sich auf ein Element des Phasenraumes dp dq/N! hSN bezieht, also in Einheiten hSN gemessen wird, wobei die Gleichheit der Teilchen berücksichtigt wurde. Folglich ist es zweckmäßiger, die Verteilungsfunktion f(p, q, t) nicht durch (1.4), sondern durch die Beziehung
dp dq dw = f(p, q, t) N]h3N
(L5)
zu definieren. In diesem Falle besitzt die Normierungsbedingung der Verteilungsfunktion die Form
ff(p,q,t)dr= wobei
„ d r
1,
dp dq = iTnk
(1.5a)
(L5b)
das dimensionslose Element des Phasenvolumens darstellt. Nun entspricht die Integration in (1.5 a) einer Summation über sämtliche verschiedene Zustände. E s läßt sich zeigen, daß man die gleiche Normierungsbedingung erhält, wenn man die klassische Mechanik als Grenzfall der Quantenmechanik betrachtet (siehe § 14). Wir weisen darauf hin, daß G I B B S [ 1 ] den Faktor l / N ! vor dem Phasenvolumen schon vor Aufstellung der Quantenmechanik einführte, um dem Paradoxon zu entgehen, das seinen Namen trägt, nämlich dem Anwachsen der Entropie bei der Mischung gleicher Gase bei gleicher Temperatur und unter gleichem Druck. E r unterschied „spezifische Phasen" und „generische Phasen", für welche das Phasenvolumen um N ! verkleinert ist, und normierte die Verteilungsfunktionen gemäß den generischen Phasen. Wenn die Verteilungsfunktion f(p, q, t) bekannt ist, läßt sich der Mittelwert einer beliebigen dynamischen Variablen A{p, q),
oo und dann co -> 0 ausgeführt wird, und wenn diese Grenzübergänge nicht stetig verlaufen. Es ist interessant zu bemerken, daß schon Gibbs, als er die Analogie zwischen dem Streben eines Systems zum Gleichgewicht und der Vermischung inkompressibler Flüssigkeiten verfolgte, im Grunde genommen die Vergröberung der Verteilungsfunktion vornahm und bemerkte, daß die Grenzübergänge unstetig verlaufen (siehe [1], Kap. 12, S. 143—147). Die Grobstrukturmittelung nach Ehrenfest löst somit das Problem des Anwachsens der Entropie nicht. Doch ist die Idee der Mittelung der Verteilungsfunktionen zweifellos von großem Interesse. Die Glättung der Verteilungsfunktionen ist nicht nur im Phasenraum möglich, sondern auch bezüglich der Zeit. Alle gemessenen Größen sind grundsätzlich Mittelwerte über ein Zeitintervall T von der Größenordnung der Beobachtungszeit. Deshalb kann man die über die Dauer T gemittelte Verteilungsfunktion T
(2.35) o oder die entsprechend gemittelten dynamischen Variablen einführen. Diese Glättung der Verteilungsfunktionen bezüglich der Zeit wurde in breitem Maße von KIRKWOOD [ 7 ] angewendet und ist offensichtlich effektiver als die Vergröberung nach Ehrenfest. Sie entspricht der Mittelung der Bewegungsgleichungen in der nichtlinearen Mechanik, die schnelle Oszillationen in der Nähe der mittleren Bahn glättet und hilft, die mittlere Bewegung zu bestimmen [8]. Überhaupt gibt es eine enge Verwandtschaft zwischen den Methoden der nichtlinearen Mechanik und der statistischen Mechanik. Ein statistisches System strebt unabhängig von den Anfangsbedingungen, welche schnell „vergessen" werden, zum Zustand des statistischen Gleichgewichts, ähnlich wie ein nichtlineares System zum Grenzzyklus strebt. Die Methoden, bei der Aufstellung kinetischer Gleichungen Säkularterme auszuschließen, sind die gleichen wie bei der Lösung der Gleichungen der nichtlinearen Mechanik [9].
§ 3.
Die Gibbsschen statistischen Gesamtheiten
Zur Konstruktion der statistischen Gesamtheiten im Falle des statistischen Gleichgewichts muß die Frage gelöst werden, von welchen Bewegungsintegralen die Verteilungsfunktion abhängen kann und welche Form sie für die durch verschiedene äußere Bedingungen festgelegten Gesamtheiten besitzt. Diese Aufgabe wurde von Gibbs gelöst. Die strenge Begründung der erhaltenen Verteilungen bleibt jedoch ein schwieriges und bisher noch nicht vollständig gelöstes Problem. Es ist noch nicht einmal klar, inwieweit diese strenge Begründung überhaupt möglich ist.
30
Kapitel I.
Statistische Thermodynamik
klassischer Systeme im Oleichgewicht
F ü r Zustände, die nicht dem statistischen Gleichgewicht entsprechen, ist es wesentlich schwieriger, statistische Gesamtheiten zu konstruieren, u n d einen Fortschritt in dieser Richtung h a t es erst in den letzten J a h r e n gegeben. Hier besteht die gegenwärtige Aufgabe mehr darin, Gesamtheiten wirklich zu konstruieren, a n s t a t t sie streng formal zu begründen. Diese Fragen werden wir in den Kapiteln I I I und I V behandeln. Nach Gibbs hängt die Verteilungsfunktion / im Zustand des statistischen Gleichgewichts n u r von eindeutigen, additiven Integralen der Bewegung ab. Die Additivität der Bewegungsintegrale bedeutet, daß sich die Bewegungsintegrale des Gesamtsystems additiv aus denen seiner Untersysteme zusammensetzen. E s sind drei solche Bewegungsintegrale b e k a n n t : die Energie H , der Gesamtimpuls P u n d der Gesamtdrehimpuls M . Folglich gilt f = /(ja-, P ,
M).
(3.1)
F ü r P u n d M ist die Additivität exakt erfüllt (wenn man die Wechselwirkung mit den Wänden vernachlässigt) und f ü r H mit einer Genauigkeit von der Größe der Oberflächenenergie der Grenzfläche zwischen den Untersystemen, welche von der Wechselwirkung der Teilchen der verschiedenen Untersysteme untereinander herrührt. Wenn die Gesamtzahl N der Teilchen nicht in jedem System der Gesamtheit vorgegeben ist, m u ß man N als ein viertes Integral der Bewegung auffassen, da sich N bei der zeitlichen Entwicklung des Systems nicht ä n d e r t . Somit ergibt sich in diesem Falle f = f(H,
N,P,M).
(3.1a)
Das Bewegungsintegral M m u ß m a n berücksichtigen, wenn sich das System als ganzes mit einer konstanten Winkelgeschwindigkeit dreht, u n d das Bewegungsintegral P , wenn superfluide Systeme quantenstatistisch behandelt werden. Die Zahl der wesentlichen Bewegungsintegrale verringert sich, wenn ein System von Teilchen in einem ruhenden Gefäß betrachtet wird. D a n n sind der Gesamtimpuls P und der Gesamtdrehimpuls M im Zustand des statistischen Gleichgewichts Null, und die additiven Integrale P u n d M brauchen nicht berücksichtigt zu werden. Folglich gilt f ü r ein System mit vorgegebener Teilchenzahl (3.2) (3.2a) Die Funktion / m u ß außerdem von den P a r a m e t e r n abhängen, die die Gesamtheit makroskopisch festlegen und die f ü r sämtliche Abbilder des Systems als gleich angesehen werden, also beispielsweise vom Volumen V und, f ü r Systeme mit gegebener Gesamtteilchenzahl N, von N.
§ 3.
Die Oibbsschen statistischen Gesamtheiten
3.1.
Die mikrokanonische Verteilung
31
Wir betrachten eine Gesamtheit abgeschlossener, energetisch isolierter Systeme in einem festen Volumen F, d. h. eine Gesamtheit von Systemen mit konstanter Teilchenzahl N, die sich in einer adiabatischen Schale befinden und die gleiche Energie E mit der Genauigkeit AE E besitzen. Nach Gibbs nehmen wir an, daß die Verteilungsfunktion f(p, q) für eine solche Gesamtheit in der Schicht AE konstant und außerhalb dieser Schicht Null ist: q
i [Ü{E, F)]"i für E ^ H(p, q) ^ E + AE , \0 außerhalb dieser Schicht.
'
(3.3)
Eine derartige Verteilung und die dazugehörige Gesamtheit werden mikrokanonisch genannt. Der makroskopische Zustand der Systeme in einer solchen Gesamtheit wird durch die extensiven Parameter E, V, N festgelegt. Die Konstante Q(E, N, V) wird als statistisches Gewicht bezeichnet. Sie bestimmt sich aus der Normierungsbedingung (1.5a) und hat die Bedeutung eines dimensionslosen Phasenraumvolumens bzw. der Zahl der Zustände in der Schicht AE: D(E,N,V)=^p;
J
dpdq.
(3.3a)
Im Falle der klassischen Mechanik kann man den Grenzübergang AE vollziehen und / in der Form / = Q-\E, N, V) ö(H(p, q) - E) schreiben mit Ü{E
'N'
F) =
mW
fd{H(p'q)
Q-\E, N, V) = [Q{E, N, F)]- 1 .
0 (3.4)
~
E ) dp dq
(3.4a)
(In den Gleichungen (3.3a) und (3.4a) tragen die Zahl der Zustände in der Schicht AE und die Dichte der Zustände auf der Fläche konstanter Energie die gleiche Bezeichnung Ü(E, N, F).) In der Quantenmechanik steht die Unbestimmtheitsrelation zwischen Beobachtungszeit t und der Energie, AE • t tu h, diesem Grenzübergang im Wege; wenn AE nach Null streben soll, müßte die Beobachtungszeit unendlich werden. Deshalb werden wir die Darstellung (3.3) für / verwenden und (3.4) nur manchmal zur Vereinfachung der Ausdrücke benutzen. Wir berechnen die Entropie (2.24) für die mikrokanonische Verteilung: s = = - NV^jfiP'
1)ln f(P> 9) dp dq .
(3.5)
32
Kapitel I.
Statistische Thermodynamik klassischer Systeme im, Oleichgewicht
Durch Einsetzen des Ausdruckes (3.3) und unter Berücksichtigung von (3.3 a) erhalten wir 8(E, N, V) = In Q(E, N, V) .
(3.5a)
Somit ist die Entropie für die mikrokanonische Gesamtheit gleich dem Logarithmus des statistischen Gewichts (3.3a). Es läßt sich zeigen, daß die so definierte Entropie tatsächlich die Eigenschaften der thermodynamischen Entropie besitzt. Zu dieser Frage kehren wir in § 5 zurück. Die Hypothese, daß die mikrokanonische Gesamtheit tatsächlich den makroskopischen Zustand eines abgeschlossenen, energetisch isolierten Systems repräsentiert, d. h., daß die mikrokanonischen Mittelwerte gleich den beobachteten Werten der physikalischen Größen sind, ist eines der Grundpostulate der statistischen Mechanik. Die gemessenen Werte der physikalischen Größen A(p, q) sind stets Mittelwerte über eine gewisse Beobachtungszeit r. Zu begründen, daß die Zeitmittelwerte durch Mittelwerte bezüglich der mikrokanonischen Gesamtheit ersetzt werden können, bildet den Inhalt des Ergodenproblems. Dieses Problem besteht darin, für abgeschlossene, energetisch isolierte Systeme die Gleichung ^ JA(p(t),
q(t)) dt = ^ y ^ J f ( p , q) A(p, q) dp dq
(3.6)
o zu beweisen, wobei / die mikrokanonische Verteilung darstellt. Diese Aufgabe erweist sich als sehr schwierig und ist trotz einer Reihe bereits erzielter wichtiger Ergebnisse noch nicht gelöst. Deshalb werden wir sie nicht behandeln und verweisen den Leser auf die Literatur [6, 11, 12], Die mikrokanonische Verteilung ist mitunter für allgemeine Untersuchungen geeignet, da sie von allen Gibbsschen Verteilungen am engsten mit der Mechanik verknüpft ist (sämtliche Parameter E, V, N besitzen in der Mechanik eine Bedeutung). Für praktische Anwendungen auf konkrete Systeme ist sie jedoch ungeeignet, da sich Q(E, N, V) nur schwer berechnen läßt. Es erweist sich als wesentlich zweckmäßiger, nicht energetisch isolierte Systeme zu betrachten, sondern Systeme, die mit der Umgebung im Wärmekontakt stehen. 3.2.
Die Gibbssche kanonische Verteilung
Wir betrachten nun ein abgeschlossenes System im Wärmekontakt mit einem Thermostaten. Als Thermostaten wollen wir ein System mit einer großen Zahl von Freiheitsgraden betrachten, das in der Lage ist, Energie mit dem gegebenen System auszutauschen. Es soll so groß sein, daß sich sein Zustand dabei praktisch nicht ändert. Die statistische Gesamtheit von Systemen mit einer vorgegebenen Zahl von Teilchen N und dem Volumen V, die sich im Kontakt mit einem Thermostaten befinden, wird als Gibbssche kanonische Gesamtheit bezeichnet.
§ 3.
33
Die Oibbsschen statistischen Gesamtheiten
Diese Gesamtheit wird durch die Gibbssche kanonische I
Verteilung1)
H (p, q)\
f(p, q) = Q'Hd, V, N) exp f
(3.7)
beschrieben, wobei 0 den Modul der kanonischen Verteilung darstellt und die Rolle der Temperatur2) spielt, wie wir später zeigen werden. Q(Q, V, N) ist das Zustandsintegral, das durch die Normierungsbedingung (1.5a) bestimmt wird: Q(d, V,N)=J
f
/ H{p,q)\ „ exp ( - - ^ p j dr
mit
dpdq ¿ T = ^ f j ^ . (3.8)
Das Zustandsintegral (3.8), welches auf der Grundlage der Gibbsschen kanonischen Verteilung erhalten wird, ist eine Funktion der Parameter 0, V, N, die die Gesamtheit makroskopisch definieren. Zwei von ihnen, nämlich V undiV, sind extensive Parameter, d.h., sie sind bei konstantem Verhältnis V¡N proportional zu V. Der dritte, 0, ist dagegen intensiv und nimmt bei dem Grenzübergang V -»• oo, V/N = const einen endlichen Wert an. Das Zustandsintegral Q(d, V, N) ist die fundamentale Größe, die die thermodynamischen Eigenschaften des Systems bestimmt. Der Logarithmus des Zustandsintegrals (3.8) ergibt die Freie Energie des Systems: F(6, V, N) = - 0 In Q(d, V, N) .
(3.8a)
Für reale Systeme mit sehr großem N brauchen wir den genauen Wert der Funktion F(d, V, N) nicht zu kennen, sondern es genügt, den thermodynaF(ß, V, N) mischen Grenzwert lim — = /(0, v) , d. h. die Freie Energie pro N —>oo V/N=v~ const Teilchen, zu betrachten, wobei die Zahl der Teilchen bei konstanter Dichte nach Unendlich strebt. Diese Funktion enthält alle thermodynamischen Eigenschaften des Systems. Der Nachweis, daß der thermodynamische Grenzwert für die kanonische Gesamtheit existiert, wurde von VAN H O V E [13] sowie von N. N. B O G O L J U B O W und B. I . C H A Z E T [34] geführt, wobei keine sehr starken Einschränkungen an das Wechselwirkungspotential zwischen den Teilchen gestellt wurden. Van Hove wies nach, daß der thermodynamische Grenzwert der Energie existiert, während N. N. Bogoljubow und B. I. Chazet die Existenz der Grenzwerte der Korrelationsfunktionen zeigten, aus denen die Grenzwerte der thermodynamischen Funktionen hervorgehen. Diese Richtung wurde von L E E und Y A N G [14], R U E L L E [15], P. L. D O B E U S C H I N [16] und anderen [17a—17e] weiterentwickelt. Die genannten Arbeiten kann man als Anfang eines neuen Gebietes der mathematischen Physik, der mathematischen statistischen Physik, ansehen (siehe dazu die Literatur in dem Buch von R U E L L E [15]). 2)
Die Begründung der Gibbsschen kanonischen Verteilung erfolgt in Abschnitt 3.3. 0 hängt mit der Temperatur T gemäß 6 = kBT zusammen, kB ist die Boltzmann-Konstante.
3
Subarew
34
Kapitel I.
Statistische Thermodynamik klassischer Systeme im Oleichgewicht
Wir erhalten einen Ausdruck für die mittlere Energie, indem wir (3.8) nach 0 differenzieren und (2.19) berücksichtigen: < # > = 0* A i n
=
Q(ßi
(y)^ ^ .
(3.8b)
Die Entropie der Gibbsschen kanonischen Gesamtheit ist gleich S = < v > = - J
C
/Inf ä r = —
g
-
—
F
=
/ BF \
-
( ^ y ) ^
(3.8c)
(dabei wurden die Gleichungen (3.8a), (3.8b) verwendet). Die Beziehungen (3.8b), (3.8c) stellen thermodynamische Zustandsgleichungen dar und zeigen, daß F und 8 tatsächlich die Freie Energie und die Entropie sind. Eine noch vollständigere Analogie zur Thermodynamik werden wir im Abschnitt 5.4. erhalten, wenn wir ein sich langsam änderndes Volumen beträchten. Die kanonische Verteilung (3.7) ermöglicht es auch, Schwankungen zu berechnen. Dazu differenzieren wir (3.8) zweimal nach 1/0, verwenden (3.8b) und erhalten einen Ausdruck für die Energieschwankungen in der Gibbsschen Gesamtheit,
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