Stationen poetischer Entwicklung: Paul Celans Gedichtbände in chronologisch-historischer Folge [1 ed.] 9783737014434, 9783847114437


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Stationen poetischer Entwicklung: Paul Celans Gedichtbände in chronologisch-historischer Folge [1 ed.]
 9783737014434, 9783847114437

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Passages – Transitions – Intersections

Volume 9

General Editors: Paola Partenza (University of Chieti-Pescara, Italy) Andrea Mariani (University of Chieti-Pescara, Italy)

Advisory Board: Gianfranca Balestra (University of Siena, Italy) Barbara M. Benedict (Trinity College Connecticut, USA) Gert Buelens (University of Ghent, Belgium) Jennifer Kilgore-Caradec (University of Caen, and ICP, France) Esra Melikoglu (University of Istanbul, Turkey) Michal Peprník (University of Olomouc, Czech Republic) John Paul Russo (University of Miami, USA) The volumes of this series are peer-reviewed.

Petro Rychlo

Stationen poetischer Entwicklung Paul Celans Gedichtbände in chronologisch-historischer Folge

V&R unipress

Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available online: https://dnb.de. © 2022 by Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen, Germany, an imprint of the Brill-Group (Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Germany; Brill Österreich GmbH, Vienna, Austria) Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau and V&R unipress. All rights reserved. No part of this work may be reproduced or utilized in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or any information storage and retrieval system, without prior written permission from the publisher. Cover image: Helga von Loewenich: Mohn und Gedächtnis. To Paul Celan’s book of poems of the same name. Handmade paper, frottage, watercolour, 31 x 22.5 cm. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-9173 ISBN 978-3-7370-1443-4

Inhalt

»Krumm war der Weg, den ich ging, […] denn, ja, er war ja gerade…«. Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Sand aus den Urnen: Zur Geschichte eines gescheiterten poetischen Erstlings

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. . . . . . . . . .

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Mohn und Gedächtnis: Der dichterische Durchbruch . . . . . . . . . . . .

29

Von Schwelle zu Schwelle: Das Niederreißen von Schranken . . . . . . . .

37

Sprachgitter: Auf der Suche nach der »graueren Sprache« . . . . . . . . .

45

Die Niemandsrose: »Ein Nichts im Zustand des Blühens«

. . . . . . . . .

53

. . . . . . . . . . . . . .

63

Fadensonnen: »Wo die Selbstentfremdung des Menschen aufhört« . . . .

73

Lichtzwang: Sehnsucht nach Dunkelheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Schneepart: »Die Wortschatten / heraushaun«

93

Atemwende: An der Schwelle des Verstummens

Zeitgehöft: »Die kahlgeplünderte Phase Dasein«

. . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . 107

Eingedunkelt: »Nach dem Lichtverzicht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

»Krumm war der Weg, den ich ging, […] denn, ja, er war ja gerade…«1. Eine Einführung

Dieses Buch hat eine langjährige Vorgeschichte, die Anfang der 1990er Jahre in der Geburtsstadt Paul Celan Czernowitz beginnt und mit der Rezeption seines Werkes im unabhängigen Staat Ukraine simultan einhergeht. Damals, kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion, als die ideologischen Schranken gefallen waren und der Name des Dichters, der bis dahin aus politischen, ethnischen und ästhetischen Gründen bei uns ignoriert und verschwiegen wurde, geriet in meine Hände die zweibändige Ausgabe seiner Gedichte, die in der Reihe »Bibliothek Suhrkamp« erschienen war und acht Gedichtbände des Autors enthielt – von »Mohn und Gedächtnis« bis »Schneepart«2. Nach den wiederholten, zuerst etwas verzweifelten Versuchen, mich in diese schwierigen poetischen Texte einzulesen und den ersten vorläufigen Übersetzungsentwürfen beschloss ich eine größere Auswahl daraus ins Ukrainische zu übertragen und in Buchform herauszubringen. So ist 1993 die im postsowjetischen Raum erste Celan-Ausgabe in Buchform unter dem Titel »Meridian des Herzens« zweisprachig (deutsch-ukrainisch) erschienen3. Das Büchlein, der damaligen wirtschaftlichen Situation entsprechend auf einem schlechten Papier gedruckt und polygraphisch sehr fraglich hergestellt, zählte 62 Gedichte und sollte einen Querschnitt durch alle in der erwähnten Suhrkamp-Ausgabe enthaltenen Gedichtbände bieten. Da mir aber schon damals die Idee einer umfassenden Ausgabe einleuchtete, nahm ich in mein Buch auch drei Gedichte aus Celans erstem, später aus dem Verkehr gezogenen und eingestampften Gedichtband »Der Sand aus den Urnen« auf. Obwohl das Bändchen eine ganz stattliche Auflage von 5.000 Exemplaren hatte, war es merkwürdiger-

1 Zitat aus dem Gedicht »Eine Gauner- und Ganovenweise gesungen zu Paris emprès Pontoise von Paul Celan aus Czernowitz bei Sadagora«. In: Paul Celan. Die Niemandsrose. Gedichte. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1963, S. 27. 2 Paul Celan. Gedichte in zwei Bänden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1975. – B. I. – 302 S.; B. II. – 446 S. 3 Пауль Целан. Меридіан серця. Поезії. Переклад з німецької Петра Рихла. – Чернівці: Прут 1993. – 152 с.

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Einführung

weise bereits in wenigen Monaten vergriffen. Heute ist es eine echte Rarität, die in keiner Buchhandlung, in keinem Antiquariat zu finden ist. Ein weiterer Versuch, Celan in den ukrainischen Kulturkontext einzuschreiben und sein Werk mit neuen Facetten zu präsentieren, war ein im Jahre 2001 erschienenes Heft des »Marbacher Magazins« mit dem Titel »Paul Antschel / Paul Celan in Czernowitz«, das unter der Schirmherrschaft der Deutschen Schillergesellschaft Marbach herausgebracht wurde4. Es stellte eine Art Text- und BildDokumentation über Celans dichterische Anfänge in seiner Heimatstadt dar, zusammengestellt und bearbeitet vom Aachener Celan-Fachmann Axel Gellhaus und von mir ins Ukrainische übersetzt. Das Heft erschien in einer Reihe mit drei weiteren, graphisch verwandten Ausgaben zu Schauplätzen der deutschen Literatur im Ausland – so in Litauen (Thomas Mann in Nidden), Tschechien (Karl Kraus in Janowitz) und Russland (Reiner Maria Rilke in Jasnaja Poljana). All diese Hefte waren ebenfalls zweisprachig – auf Deutsch und mit Paralleltexten in der jeweiligen Sprache des Landes, zu dem die genannten Autoren Bezug hatten. Außer der ausführlichen Lebenschronik des Dichters (»Paul Celan. Stationen seines Lebens«), einigen Texten aus Celans früher Lektüre (Martin Buber, Rose Ausländer), Materialien zu seinen Gymnasial- und Universitätsjahren aus Czernowitzer Archiven und zahlreichen Fotos aus dem Familienarchiv von Eric Celan bildeten sein Kernstück frühe, in den Jahren 1942–1944 im rumänischen Arbeitslager entstandene Gedichte des jungen Autors, die er in sein »Notizbuch aus Taba˘res¸ti«5 eintrug und seiner damaligen Freundin Ruth Kraft nach Czernowitz schickte. Eine von mir ins Ukrainische übertragene Auswahl daraus (über 30 Gedichte) wurde in das Marbacher Heft aufgenommen. Da aber dieses Heft über das Goethe-Institut auch in der Ukraine verbreitet wurde, sind diese Übersetzungen ebenfalls zum rezeptiven Element ukrainischer Celaniana geworden. Im gleichen Jahr 2001 habe ich noch eine ukrainische Celan-Ausgabe ins Leben gerufen, diesmal unter anderen Prämissen. Da einige Gedichte Celans (vor allem die »Todesfuge«) in das Schulprogramm für das Fach »Weltliteratur«, das in der Ukraine unterrichtet wird, aufgenommen wurden, entstand ein akutes Bedürfnis, entsprechende Texte für den Schulunterricht in ukrainischer Übersetzung zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck bereitete ich eine neue Auswahl von Celans Gedichten vor, die als Anthologie der ukrainischen Übersetzungen

4 Paul Antschel / Paul Celan in Czernowitz. Bearbeitet von Axel Gellhaus. Übersetzung ins Ukrainische von Peter Rychlo. / Marbacher Magazin 90/2000. Deutsche Schillergesellschaft 2001. – 160 S. 5 Sieh das Faksimile dieses Notizbüchleins in: Paul Celan. Gedichte 1938–1944. Faksimile der Handschrift und Transkription der Handschrift. Mit einem Vorwort von Ruth Kraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1985.

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gedacht war6. Das Buch enthält Übersetzungsproben von 12 ukrainischen Dichtern und Übersetzern, darunter solch in der Ukraine bekannte Namen wie Mychajlo Orest, Mykola Bashan, Wasyl Stus, Leonid Tscherewatenko, Mojsej Fischbejn u. a. Dieses Buchkonzept sollte zeigen, welche zeitliche und räumliche Breite die ukrainische Rezeption des Dichters bereits erreicht hatte, denn unter den Interpreten Celanscher Gedichte gab es nicht nur binnenukrainische Autoren, sondern auch ukrainische Diaspora-Dichter, nicht nur zeitgenössische Literaten, sondern auch Vertreter der älteren Generation, die bei uns zu den Klassikern der ukrainischen Literatur gezählt werden. Doch mit der Zeit merkte ich, dass die oben erwähnten Ausgaben zwar gut für die erste Annäherung an Celans Dichtung waren, sie konnten aber nicht eine genaue Vorstellung über die poetische Entwicklung des Dichters geben, denn bei einem anthologischen Prinzip wählt jeder Übersetzer für seine Interpretation meistens sehr subjektiv, manchmal sogar willkürlich, nur jene Gedichte, die ihn besonders ansprechen, im Gleichklang mit seinen eigenen ästhetischen Vorstellungen und seinen Gefühlen stehen oder die ihm aus inhaltlichen oder formalen Gründen vorteilhaft erscheinen. Celan gehört jedoch zu jenen Lyrikern, bei denen jeder nächste Gedichtband einen Markstein in der Entwicklung poetologischer Reflexion bedeutete und den Vektor für weitere Entwicklung des poetischen Gedankens generell vorzeichnete. Um diesen einmaligen Weg verfolgen zu können, muss man den ganzen Korpus seiner Gedichte vor Augen haben. So entstand die Idee, alle seine Gedichtbände zu übersetzen. 2013 erschien im Czernowitzer Verlag »Knyhy XXI« (mit der Lizenz des Suhrkamp Verlags) der erste Band »Mohn und Gedächtnis«, dem dann im Laufe von sieben Jahren, bis zum 100. Geburtstag des Dichters, weitere neun Bände folgten, so dass heute dem ukrainischen Leser das lyrische Gesamtwerk Celans zur Verfügung steht7.

6 Пауль Целан. Поезії. Антологія українського перекладу / Впорядкування та передмова Петра Рихла. Чернівці: Букрек 2001. – 224 С. 7 Пауль Целан. Мак і пам’ять. Поезії. Пер. з нім. та післямова Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ, 2013. – 148 с.; Пауль Целан. Від порога до порога. Поезії. Пер. з нім. та післямова Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ, 2014. – 130 с.; Пауль Целан. Мовні ґрати. Поезії. Пер. з нім. та післямова Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ, 2014. – 132 с.; Пауль Целан. Нічийна троянда. Поезії. Упор., пер. з нім., післямова та ґлосарій Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ, 2015. – 200 с.; Пауль Целан. Злам подиху. Поезії. Упор., пер. з нім., післямова та ґлосарій Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ, 2016. – 224 с.; Пауль Целан. Волокнисті сонця. Поезії. Упор., пер. з нім., післямова та ґлосарій Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ, 2017. – 276 с.; Пауль Целан. Світлопримус. Поезії. Упор., пер. з нім., післямова та ґлосарій Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ, 2018. – 228 с.; Пауль Целан. Арія снігу. Поезії. Упор., пер. з нім., післямова та ґлосарій Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ, 2019. – 216 с.; Пауль Целан. Притулок часу. Пізні поезії зі спадщини / Упор., пер. з нім., післямова та глосарій Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ, 2020.– 152 с.; Затьмарено та вірші з тематичного кола »Затьмарено«. Упор. Бертрана Бадью та Жан-Клода Рамбаха. Пер. з нім., післямова та

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Parallel zur ukrainischen Gesamtausgabe Celanscher Gedichte sind in den letzten Jahren auch andere Bücher von und über den Dichter in der Ukraine erschienen – so z. B. der Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann8, Celans Jugendbiographie von Israel Chalfen9, deutsch-ukrainische Anthologie »Paul Celan 100«10, in der je 7 ukrainische und deutsche Autoren sich zu Celan in essayistischer Form äußern, sowie einige wissenschaftliche Bände11. Die Gesamtausgabe der Gedichtbände berücksichtigt die Celansche Folge und macht einen einheitlichen Eindruck vor allem dank ihrer gleichartigen künstlerischen Gestaltung, welche die Berliner Malerin Helga von Loewenich ausgearbeitet hat12. Zu jedem Buch hat sie ein Originalbild in Aquarelltechnik geschaffen, das auf dem Schutzumschlag vor dem blau-grauen Hintergrund wiedergegeben wird und mit dem Titel des jeweiligen Gedichtbandes auf metaphorischer oder symbolischer Ebene tiefsinnig korrespondiert. Somit sind diese Bände auch dank ihrer äußeren Gestaltung als eine Bücherreihe erkennbar. Zur ukrainischen Celan-Ausgabe gehören auch jene Gedichtbände, die im Nachlass des Dichters aufgefunden wurden und nicht mehr vom Autor selbst zum Druck vorbereitet werden konnten. Sie sind erst postum, viele Jahre nach seinem Ableben, – wie »Zeitgehöft« und »Eingedunkelt« – beim Suhrkamp Verlag erschienen, werden jedoch als ein unentbehrlicher Teil des Gesamtwerkes des Dichters betrachtet. Jeder Band der ukrainischen Gesamtausgabe ist zweisprachig konzipiert, mit einem ausführlichen analytischen Nachwort sowie einem Sachkommentar, dem sog. Glossar, versehen. Diese paraliterarischen Texte haben die Absicht, die in den Celanschen Gedichtbänden vorkommenden historischen, politischen, geographischen Realien, sprachliche Neuschöpfungen, intertextuelle Bezüge zu erklären, d. h. das Verstehen dieser schwierigen poetischen Strukturen zu erleichtern. Besonders wichtig sind in dieser Hinsicht vor

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глосарій Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ, 2020. – 116 с. (alle Bände deutsch und ukrainisch) Пора серця. Інґеборґ Бахман – Пауль Целан. Листування. З листуванням між Паулем Целаном і Максом Фрішем, а також між Інґеборґ Бахман і Жизель Целан-Лестранж. Упор. й прокоментували Бертран Бадью, Ганс Гьоллер, Андреа Штоль і Барбара Відеман. Пер. Лариса Цибенко та Петро Рихло. – Чернівці: Книги ХХІ, 2012. 416 с. Ізраель Халфен. Пауль Целан. Біографія юності поета. Пер. з нім., післямова та коментар Петра Рихла. – Чернівці: Книги ХХІ. 256 с. Paul Celan 100. Deutsch-ukrainische Anthologie. Hrsg. von Evgenia Lopata im Rahmen des Projekts »Paul-Celan-Literaturtage 2020«. – Meridian Czernowitz 2021. – 390 S. Петро Рихло. Поетика діалогу: Творчість Пауля Целана як інтертекст. Монографія. – Чернівці: Рута, 2005. – 584 с.; Петро Рихло. Пауль Целан. Референції. Наукові студії, статті, есеї. – Київ: Дух і Літера, 2020. – 464 с.; Петро Рихло. Поетика діалогу: Творчість Пауля Целана як інтертекст. – Київ: Дух і Літера, 2021. – 424 с. Zu Celan-Bildern der Künstlerin sieh: Helga von Loewenich. Zähle die Mandeln. Bilder zu Gedichten von Paul Celan. Mit einem Vorwort von Petro Rychlo. – Kyjiw: Duch i Litera 2020. – 72 S.

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allem zehn Nachworte, die die entsprechenden Bände begleiten und jeden von ihnen aufschlussreich und umfassend charakterisieren. Obwohl sie im Rahmen des gesamten Projekts vor allem eine erläuternde und popularisierende Aufgabe haben, wächst ihr Gewicht über diese pragmatische Funktion weit hinaus, denn sie wurden zugleich als gründliche wissenschaftliche Abhandlungen verfasst, die sich auf breite Sekundärliteratur stützen und mit einem entsprechenden wissenschaftlichen Apparat versehen sind. Deswegen kann man diese Texte in ihrer Ganzheit als ein Forschungsprojekt betrachten, das zum ersten Mal einen systematischen Überblick über Gedichtbände Celans in ihrer chronologischen und historischen Folge bietet. Ausgesondert und aneinandergereiht, bilden sie eine Genesis- und Rezeptionsgeschichte Celanscher Gedichtbände und machen dadurch die ästhetische und poetologische Entwicklungslinie des Dichters sichtbar. Paul Celans poetisches Werk stellt eine geschlossene Einheit dar, und das lässt sich besonders anschaulich feststellen, wenn man innere Beziehungen zwischen einzelnen Gedichtbänden, Gedichtzyklen, ja sogar zwischen einzelnen Gedichten verfolgt. Das seiner Dichtung immanent eigene dialogische Prinzip realisiert sich hier auch auf dem Niveau verbaler, thematischer, bildlicher, struktureller »Antiphone«, die diese Einheit zu sichern vermögen. Im Grunde bilden Celans Gedichte ein intertextuelles Kettengeflecht, dessen Glieder aneinander aufgereiht, miteinander untrennbar verbunden sind. Das geschieht auf verschiedenen Ebenen: Gedichte aus einem Gedichtband werden in den anderen »transportiert« (so z. B. mehr als die Hälfte von Gedichten des ersten, gleich nach seinem Erscheinen makulierten Bandes »Der Sand aus den Urnen« (1948) wurden in den Band »Mohn und Gedächtnis« (1952) übernommen); einzelne Elemente eines Gedichts hallen später in anderen dichterischen Gebilden wider (so taucht der Titel des Gedichtbandes »Der Sand aus den Urnen« als Überschrift des ersten Zyklus des Gedichtbandes »Mohn und Gedächtnis« auf); der Titel des Bandes »Von Schwelle zu Schwelle« (1955) wird aus dem Gedicht »Chanson einer Dame im Schatten« übernommen, das sich ebenfalls in »Mohn und Gedächtnis« findet; der Gedichtband »Fadensonnen« (1968) verdankt seine Überschrift dem gleichnamigen Gedicht aus dem Band »Atemwende« (1967) usw. Ein anderes Zeichen der engen Verflechtung einzelner Elemente im poetischen System Celans sind sog. Selbstzitate. So zitiert der Dichter im Gedicht »Zwölf Jahre« (»Die Niemandsrose«, 1963) eine Zeile aus seinem früheren Gedicht »Auf Reisen« (»dein Haus in Paris zur Opferstatt deiner Hände«), das aus »Mohn und Gedächtnis« stammt. Auch das Gedicht »…rauscht der Brunnen« aus »Die Niemandsrose« enthält in sich Zitate aus dem früheren Gedicht »Kristall« (»Mohn und Gedächtnis«). In seinen späten Gedichten griff Celan noch häufiger zum Selbstzitieren, da er eine Revision seiner älteren Wort-

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schöpfungen und poetischer Bilder anstrebte, während er sie in neue Kontexte stellte und dadurch ihre Bestandsfähigkeit prüfte. Es existieren aber in Celans poetischem Werk auch Beziehungen tieferer Art, wobei es um die Wiederaufnahme bestimmter Themen, Ideen, Leitmotive geht. Bildkomplexe mit Stichworten Wasser, Stein, Auge, Hand, Herz usw. trifft man praktisch in jedem seiner Gedichtbände. Es gibt zugleich auch »große« Celansche Themen wie die jüdische Katastrophe, Identität, Sprache, dichterische Berufung, Wahnsinn etc. Sie gehen dann von einem Gedichtband in den anderen über, indem sie immer neue Facetten aufzeigen. Manchmal sind diese Linien nur punktuell angedeutet und werden erst bei wiederholtem Lesen bemerkbar. So befindet sich seine »Todesfuge«, die vorher in den Bänden »Der Sand aus den Urnen« und »Mohn und Gedächtnis« abgedruckt war, in einer osmotischen, aber zugleich auch antinomischen Beziehung zu »Engführung« (»Sprachgitter«, 1959), die wie ein aktualisiertes Pendant zu seinem früheren berühmten Gedicht steht. In diesem längsten Gedichts Celans werden die Praktiken der Kettenverflechtungen bis an die äußerste Grenze geführt: Selbstzitierung und Rahmenkomposition (die Anfangszeilen werden abschließend zitiert); virtuose klangspielerische »Echolalien«, bei denen jede neue Strophe mit der Wiederholung der letzten Worte der vorigen Strophe beginnt, das den Effekt eines Widerhalls, einer Resonanz hervorruft; strukturelle Elemente musikalischer Fuge, die beiden Texten eigen sind – dies alles veranschaulicht die engsten Verknüpfungen Celanscher Gedichte am überzeugendsten. Diese verborgenen Beziehungen werden aber nur dann evident, wenn man mit dem ganzen Textkorpus von Gedichten und nicht mit einer sporadischen Auswahl zu tun hat. Im gleichen Maße bezieht sich diese Tatsache auch auf das Problem dichterischer Evolution Celans. Eine poetische Entwicklung lässt sich aufgrund weniger Textbeispiele kaum nachvollziehen – nur wenn man thematische Dominanten, sprachliche Horizonte, formale Eigenschaften, metrische Präferenzen einzelner Gedichtbände vergleicht, kann man die hier existierende Dynamik leicht feststellen. Bereits visuell lässt sich verfolgen, wie mit jedem nächsten Band die beim frühen Celan geliebte, fast zum feierlichen Hexameter tendierende daktylische Langzeile immer kürzer wird, wie die blühende metaphorische Bildlichkeit allmählich austrocknet, wie sich sein dichterisches Vokabular bis zu wenigen Grundbegriffen aus der Natursphäre und der menschlichen Anatomie reduziert, wie einzelne Zeilen durch Enjambements gebrochen und zerrissen werden und Wörter sich in einzelne Silben, manchmal sogar in einzeln stehende Buchstaben zerfallen. Diesen Prozess, der bereits mit dem Band »Sprachgitter« (1959) begann und im Weiteren immer mehr zunahm, äußerte sich vor allem in der Suche nach einer neuen Sprache, die der »Lyrik nach Auschwitz« entsprechend sein sollte und die der Dichter als »grauere Sprache« bezeichnete. In ihren Ansätzen war sie bereits in der »Todesfuge« vorgeprägt.

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Diese neue Sprache durfte nicht mehr die Realität vortäuschen, Blumen und Sterne beschwören, durch ihren Wohlklang Verbrechen verharmlosen oder das Grauen ästhetisieren, sie musste sachlich, nüchtern, wahr, aber auch dicht, suggestiv, mehrdeutig sein – eine Sprache, in der jedes Wort steinschwer wiegt und jedes Gedicht Bände spricht. Die Beiträge, die das vorliegende Buch ausmachen, erfassen schöpferische und produktionsästhetische Aspekte der Gedichtbände Celans. Sie verfolgen den dichterischen Arbeitsprozess von den ersten poetischen Einfällen bis zur Realisierung poetischer Idee. Zeit und Umstände der Gedichtentstehung, ihre thematische Kongruenz, Buchtitel, Architektonik der Bände (Reihenfolge der Gedichte, ihre Zyklisierung, Zeilenkonfiguration), aber auch Kontakte zu Verlagen, Briefwechsel mit Lektoren, Druck und Ausstattung der Gedichtbände spielen dabei eine wichtige Rolle. Eine der wesentlichen Intentionen dieses Buches besteht auch darin, die zeitgenössische literaturkritische Rezeption von Celans Gedichtbänden zu umreißen. Denn ihre literaturkritischen Einschätzungen haben sich mit der Zeit spürbar geändert. Nach Celans Tod, als seine Dichtung zum literarischen Kanon des 20. Jahrhunderts gezählt wurde, schaute man auf seine Gedichtbände anders als zuvor zurück. Jene politischen und ästhetischen Kriterien, die zu seinen Gedichten in den 1950–1960er Jahren angewandt wurden, änderten sich allmählich mit der immer tieferen Bewusstwerdung historischer Schuld der Deutschen für die Verbrechen des Naziregimes und der Veränderung poetologischer Vorstellungen der deutschen Lyrik schlechthin. In dieser Hinsicht sind ausgerechnet synchrone Bewertungen bezeichnend, die uns zeigen, wie unzulänglich und oft durchaus tendenziös damalige Urteile waren (denken wir z. B. an kritische Einwände von Hans Egon Holthusen, Curt Hohoff oder Günther Blöcker, die Celans Gedichtbände als wirklichkeitsferne »graphische Gebilde« und »Exerzitien auf dem Notenpapier«13 charakterisierten). Diese und ähnliche Urteile konnten nur aufgrund von Rezensionen und Buchbesprechungen verfolgt werden, die in den damaligen Zeitungen und Zeitschriften publiziert waren. Das verlangte gründliche Recherchen in Bibliotheken und Archiven, so in der Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, der Bibliothek der Freien Universität Berlin oder im Deutschen Literaturarchiv Marbach, deren Mitarbeitern ich an dieser Stelle meine Dankbarkeit für ihre Freundlichkeit und Hilfe bei der Auffindung schwerzugänglicher Quellen aussprechen möchte. Extra für dieses Buch, dessen einzelne Beiträge ursprünglich, wie bereits erwähnt, als Begleittexte zu der 10-bändigen deutsch-ukrainischen Ausgabe des Celanschen lyrischen Gesamtwerkes verfasst wurden, habe ich zusätzlich noch ein Kapitel über den allerersten, in Wien veröffentlichten Band »Der Sand aus 13 Günter Blöcker. Gedichte als graphische Gebilde. In: Tagesspiegel (Berlin), 11. 10. 1959.

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den Urnen«, verfasst. Obwohl Celan ihn gleich nach seinem Erscheinen aus dem Buchhandel entfernen und vernichten ließ, hat er ihn nie widerrufen – er selbst hatte immer etliche Exemplare des Bandes in seinem Besitz gehabt, schenkte ihn manchmal seinen nächsten Freunden und wies die Forscher, die sich an ihn in dieser Frage wandten, auf seine Präsenz in den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek hin. Daher schien es mir wichtig, schon der Vollständigkeit wegen, auch über die dramatische Entstehungsgeschichte und das nachfolgende Desaster, das diesen lyrischen Erstling des jungen Dichters traf, ausführlich zu berichten. Paul Celan war ein Dichter, bei dem Biographie und Poesie aufs engste verbunden, ja untrennbar waren, deswegen sind seine Gedichtbände auch Etappen seines Lebens gewesen. »Ich habe in meinen Gedichten ein Äußerstes an menschlicher Erfahrung in dieser Zeit eingebracht«14 – schrieb er in einem späten Brief an seinen intimen Jugendfreund aus der Czernowitzer Zeit Gustav Chomed. Wenn man in Betracht zieht, mit welcher Sorgfältigkeit er seine Gedichtbände komponierte, wie akribisch er ihre Schrift und Papier wählte, wie viel es ihm an ihrem richtigen Verständnis und an ihrem Echo in der Öffentlichkeit lag, so ist es ersichtlich, dass sie Glieder eines allumfassenden ästhetischen und poetologischen Lebensprogramms für ihn waren. Die vorliegenden Beiträge, die Geschichte und Wirkung, spezifische Eigenschaften und das eigenartige Profil einzelner Gedichtbände Celans umreißen, indem sie sie in Verbindung mit den entscheidenden Momenten seines Lebens bringen, rühren somit auch an den Brennpunkten von Celans Biographie und helfen uns, ihn nicht nur als Dichter, sondern auch als Menschen besser zu verstehen.

14 Der Brief vom 29. I.1970, in: Paul Celan / Gustav Chomed. »…ich brauche Deine Briefe…«. Hrsg. u. kommentiert von Barbara Wiedemann und Jürgen Köchel. Berlin: Suhrkamp Verlag 2010, S. 62.

Der Sand aus den Urnen: Zur Geschichte eines gescheiterten poetischen Erstlings

Im Jahre 1894 erschien in einem der Leipziger Verlage ein Buch unter dem Titel »Die Geschichte des Erstlingswerkes«1, das Karl Emil Franzos als Herausgeber zeichnete. Das Buch enthielt selbstbiographische Aufsätze von 19 deutschsprachigen Autoren, darunter von Rudolf Baumbach, Felix Dan, Georg Ebers, Marie von Ebner-Eschenbach, Theodor Fontane, Paul Heyse, Conrad Ferdinand Meyer, Friedrich Spielhagen, Hermann Sudermann, Julius Wolff u. a. Franzos selbst war dort mit dem Essay »Mein Erstlingswerk: ›Die Juden von Barnow‹« vertreten. Bis heute bleibt dieses Buch eine überaus spannende Lektüre, da es sehr lebhaft den inneren Entwicklungsgang zeigt, den jeder Dichter durchmacht, bevor er zu seinem ersten Buch kommt. Die Entstehung des Erstlingswerkes kann manchmal – wegen zahlreicher Hindernisse und Hürden, die der junge Autor zu bewältigen hat, um sein ersehntes Ziel zu erreichen, – sehr langwierig und dornig sein. Die Geschichte der Weltliteratur kennt auch Beispiele, wo ein Schriftsteller, dessen Werke heute zum literarischen Kanon gezählt werden, zu seinen Lebzeiten keine einzige Buchveröffentlichung erleben und erst posthum als eine wichtige literarische Stimme entdeckt werden konnte (z. B. die amerikanische Dichterin Emily Dickinson). In dieser Hinsicht spielt das Erstlingswerk eine äußerst wichtige Rolle im Leben jedes Autors und bleibt dann lange Zeit richtungweisend für seinen weiteren dichterischen Weg. Für Franzos’ Landsmann Paul Celan war dieser Weg recht mühsam. Es ist durchaus verständlich, dass jeder junge Autor sich seine erste Buchpublikation sehnlich herbeiwünscht und sie als ein außergewöhnliches Ereignis in seinem Leben betrachtet. Paul Celan war da keine Ausnahme. Bereits in Czernowitz hatte er mehrere Versuche unternommen, seine Gedichte zu sammeln und zu ordnen, um sie als einen einheitlichen Textkorpus sorgsam zu

1 Die Geschichte des Erstlingswerks. Selbstbiographische Aufsätze. Eingeleitet von Karl Emil Franzos. – Leipzig: Verlag von Adolf Ditze, o .J. [1894], XVIII, 296 S.

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bewahren und auf diese Weise alles Geschriebene vor möglichen Gefährdungen zu sichern. Wir wissen nicht genau, wann Paul Celan sein erstes Gedicht geschrieben hat. Dass er aber ganz früh, bereits als 15-jähriger Gymnasiast, damit begonnen hat, können wir in der gut dokumentierten Biographie seiner Jugend von Israel Chalfen nachlesen2. Die frühesten Texte, die im Nachlass des Dichters erhalten blieben, sind auf das Jahr 1938 datiert (»Klage«, »Kein ankerloses Tasten stört die Hand«). Dem ersehnten Wunsch nach der Veröffentlichung seiner Gedichte ging aber Celans früh erwachtes Interesse für Literatur, insbesondere für Lyrik, seine intensive Lektüre voraus. Noch bevor das Kind lesen konnte, lernte es Schillers »Die Bürgschaft« und »Das Lied von der Glocke« auswendig und rezitierte sie im Familienkreis3. Zu seinem 13. Geburtstag erhielt der Halbwüchsige von Elternfreunden eine schöne zweibändige »Faust«-Ausgabe, in der er sofort zu lesen begann4. Auf dem rumänischen »Liceul Marele Voevod Mihai« in Czernowitz unterrichtete man deutsche Literaturgeschichte für jüdische Schüler, deren Muttersprache Deutsch war, nach altösterreichischem Lehrplan, d. h. von ihren Anfängen bis zur Romantik5. Das konnte jedoch den wissbegierigen, dichterisch veranlagten Jungen nicht zufriedenstellen. Sehr bald entdeckte er für sich Hölderlin und Rilke, Stefan George und Trakl, Hofmannsthal und Kafka, Verlaine und Rimbaud, deren Werke er im Freundeskreis zu rezitieren pflegte. Aber dann kam ein Moment, bei dem das Lesen und das Rezitieren fremder Texte nicht mehr ausreichten – er spürte in sich einen kaum zu beherrschenden Drang, selbst Gedichte zu schreiben, die er dann den Mädchen seines »Lesezirkels« schenkte. Nach einiger Zeit begann er seine Gedichte zu hand- oder maschinenschriftlichen Konvoluten zu ordnen, insbesondere als sich politische Ereignisse auch in der Bukowina zugespitzt hatten und er sie gefährdet sah. Einige solcher handund maschinenschriftlichen Gedichtsammlungen des jungen Paul Antschel sind erhalten geblieben. Als erste dieser Sammlungen wäre »Das Notizbuch aus Ta˘ba˘res¸ti /1943« zu nennen, in das der zur Zwangsarbeit im rumänischen Lager mobilisierte Paul Antschel sich dort entstandene Gedichte notierte. Oft legte er sie den Briefen an seine Jugendfreundin, die Schauspielerin des Jiddischen Theaters in Czernowitz Ruth Kraft bei, in die er damals verliebt war. Im Jahre 2000 wurden diese

2 Israel Chalfen. Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt a. M: Suhrkamp Verlag 1983, S. 58, 72–73. 3 Ebenda, S. 41. 4 Ebenda, S. 50. 5 Ebenda, S. 59.

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handschriftlichen Texte in einem zweisprachigen ukrainisch-deutschen Heft des »Marbacher Magazins« faksimiliert und transkribiert abgedruckt6. Eine weitere frühe Gedichtsammlung des jungen Dichters ist heute als »Typoskript 1944« bekannt. Es enthält 93 zu einem einzigen poetischen Zyklus zusammengefasste Gedichte aus den Jahren 1938 bis 1944, die ursprünglich auf Einzelblättern und im Notizbuch aus dem Arbeitslager Ta˘ba˘res¸ti niedergeschrieben wurden. Nach der Rückkehr aus dem Lager ließ er diese Gedichte unter Mithilfe seiner Czernowitzer Freunde Hersch Segal und Jacob Silbermann maschinenschriftlich in einigen Exemplaren mit Durchschlag vervielfältigen. Durch seine broschierte Form und das Inhaltsverzeichnis erweckte dieses Konvolut »den Anspruch eines geschlossenen Gedichtbandes«7. Den nächsten Versuch, seine frühen Texte zu ordnen und sicherzustellen, unternahm Celan in der Zeit von Herbst 1944 bis Anfang 1945, ebenfalls noch in Czernowitz. Diesmal geht es um ein aus 97 Gedichten bestehendes »Manuskript 1944/45«, das er eigenhändig für Ruth Kraft ins Reine schrieb. Während seines Lageraufenthalts schickte er viele dieser Gedichte an Ruth zur Aufbewahrung, denn bei ihr haben sie mehr Chancen gehabt, erhalten zu bleiben. »Nun ordnete er alle Gedichte, gruppierte sie und schrieb sie neu auf, so dass ein kalligraphisch einzigartiges Bändchen entstand, das er mir schenkte«8 – erinnert sich Ruth Kraft. Der Textkorpus dieses kleinen schwarzen Notizbüchleins mit Goldschnitt, der später im Rahmen der Erstveröffentlichung ebenfalls faksimiliert wurde, nahm die meisten Gedichte des »Typoskripts 1944« auf, neue Texte kamen noch hinzu. Doch strukturell stellt dieses Typoskript nicht mehr eine lose Sammlung von Gedichten dar, sondern ist in 5 thematische Abschnitte aufgeteilt – »Der Sandmann«, »Vor Mitternacht«, »Drüben«, »Blumen« und »Das Fenster im Südturm«. Solch eine Aufteilung rückt noch näher an das Bild eines richtigen Gedichtbandes mit thematischer Zyklisierung und durchdachter Komposition. Dieses Geschenk an die geliebte Frau hatte vermutlich noch ein ganz pragmatisches Ziel gehabt – da Ruth Kraft Anfang 1945 im Begriff war, nach Bukarest zu gehen, plante sie, diese Gedichtsammlung dem dort bereits seit den 1930er Jahren lebenden Dichter und Förderer junger Talente Alfred Margul-Sperber zu

6 Paul Antschel/Paul Celan in Czernowitz. Bearbeitet von Axel Gellhaus. Ukrainisch/ Deutsch. Übersetzung ins Ukrainische von Peter Rychlo. Marbacher Magazin 90/2000, S. 68–119 [Deutsche Schillergesellschaft Marbach 2001]. 7 Barbara Wiedemann-Wolf. Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1985, S. 14. 8 Paul Celan. Gedichte 1938–1944 in Bänden. Bd. 1. Faksimile der Handschrift. Bd. 2. Transkription der Handschrift. Mit einem Vorwort von Ruth Kraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1985, S. 6.

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zeigen, um »Celan auf diese Weise im Kreis der ›Bukowiner Dichterschule‹ bekannt zu machen.«9 In der Tat war Margul-Sperber eine der ersten Adressen in Bukarest, die der junge Paul Antschel, der bereits im April 1945 Ruth Kraft dorthin folgte, aufgesucht hatte. Der ältere Dichterkollege war von Celans Gedichten, die Ruth ihm schon früher zukommen ließ, tief beeindruckt und nahm den begabten jungen Landsmann unter seine väterlichen Fittiche. In seiner kleinen, mit Büchern vollgestopften Wohnung in der strada Buzes¸ti 98 sammelte sich damals allwöchentlich am Sonntagvormittag der Kreis der Bukowiner Dichter. Während einer Diskussion um literarische Pseudonyme entstand in diesem Hause auf den Vorschlag der Ehefrau von Alfred Margul-Sperber Jessika (Jetti) der Dichtername »Celan«, der durch die Umstellung beider Silben seines echten Namens in rumänischer Transkription (Ancel / Celan) gebildet wurde. Erst in Bukarest fand so etwas wie eine literarische Initiation Paul Celans statt: hier begann er als Lektor am staatlichen Verlag »Cartea rusa˘« (»Russisches Buch«) sich mit der Literatur professionell zu beschäftigen und, als Folge dieser literarischen und editorischen Tätigkeit, auch selbst zu publizieren. Seine ersten Veröffentlichungen waren bekanntlich die Übersetzungen aus dem Russischen ins Rumänische: der Roman von Michail Lermontow »Ein Held unserer Zeit«, der Erzählband von Anton Tschechow »Die Bauern«, aber auch das politische Stück von Konstantin Simonov »Die russische Frage«. Die ersten zwei Übersetzungen sind 1946 in Buchform erschienen und wurden von der Literaturkritik viel gelobt. Das dramatische Stück von Simonow wurde in einigen rumänischen Theatern aufgeführt. In dieser Zeit knüpft Celan enge Kontakte zu rumänischen Surrealisten, schreibt sogar einige Gedichte und kurze Prosatexte auf Rumänisch. Eine Zeitlang schien es so, als könnte aus ihm ein rumänischer Schriftsteller werden. Doch Celan wollte kein rumänischer, sondern ein deutscher Dichter sein. Sogar die Publikation seiner »Todesfuge« in rumänischer Übersetzung seines Bukarester Freundes Petre Solomon, die am 2. Mai 1947 in der Bukarester Zeitung »Contemporanul« noch unter dem Titel »Tangoul mort¸i« (»Todestango«) erschien – seine allererste Gedichtpublikation überhaupt – brachte ihm nicht die erwartete Genugtuung, genauso wie die etwa gleichzeitige Publikation von drei Gedichten in deutscher Sprache im einzigen Heft der von Ion Caraion herausgegebenen mehrsprachigen Bukarester Zeitschrift »Agora« (»Ein wasserfarbenes Wild«, später mit dem Titel »Die letzte Fahne«, »Das Geheimnis der Farne« und »Das Gastmahl«). Es sei hier noch das lang geplante, schließlich aber nichtrealisierte Projekt einer Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina »Die Buche« erwähnt, das Alfred Margul-Sperber bereits in den 1930er 9 Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann (Hrsg.) Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler, 2008, S. 41.

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Jahren konzipiert hatte und im Berliner Schocken-Verlag herauszugeben versuchte, doch die politische Entwicklung in Deutschland ließ das Erscheinen dieses Buches nicht mehr zu. Das geplante Projekt wurde im Laufe der Jahre mehrmals umgearbeitet und ergänzt, es existieren davon einige Fassungen und etliche Konvolute, die sich heute im Museum der Rumänischen Literatur in Bukarest befinden. Von besonderem Interesse ist für uns jene Tatsache, dass die Fassung B (Konvolut 1), die vermutlich in den ersten Nachkriegsjahren aufs Neue zusammengestellt wurde, eine Auswahl von Gedichten Paul Antschels enthält (17 Gedichte aus der Czernowitzer Zeit, inklusive das zum Gedenken der Mutter Anfang Juli 1944 geschriebene Gedicht »Nähe der Gräber«).10 Im Jahre 1946, während Celans Bukarester Zeit, entstand ein neues Textkonvolut mit 106 Gedichten, das als »Typoskript ›Der Sand aus den Urnen‹ / Bukarest 1946« bekannt ist. Es enthält sowohl einige ausgewählte frühe, noch in Czernowitz geschriebene Gedichte, die bereits in den vorigen Typoskripten und Manuskripten vertreten waren, als auch jene Gedichte, die seit Anfang 1945 in Czernowitz und dann in Bukarest geschrieben wurden. Die vom Autor unternommene Selektion ist strenger geworden – viele der frühen Texte finden in dieses Typoskript keinen Eingang mehr. »Damit sind alle Gedichte, die in der ersten Auswahl Dokumente seiner Jugend und seiner Leidenschaften, aber auch der Erfahrungen mit der totalitären sowjetischen Besatzung waren, systematisch ausgeschlossen«11, was offensichtlich auch mit den veränderten poetologischen Vorstellungen des Dichters zu tun hatte: nach all dem in den Jahren 1941/44 Erlebten und Erlittenen begann er seine Gedichte als »Dichtung nach Auschwitz« zu profilieren und bediente sich dabei anderer ästhetischen Kriterien als bisher. Später wurden diese Texte in den Band 1.2 der Bonner »Historisch-kritischen Ausgabe« aufgenommen12. Mit der Überschrift »Der Sand aus den Urnen« wurde bereits der Titel für den Wiener Gedichtband präformiert (eine der vorherigen Sammlungen mit 73 Gedichten trug noch den Titel »Der Pfeil der Artemis«)13. Mehr und mehr entwickelten sich bei dem jungen Celan eigene thematische Präferenzen, kristallisierte sich das Bildsystem und formte sich sein individueller dichterischer Stil aus. Dies geschah vor allem auf dem sprachlichen Niveau.

10 Die Anthologie ist erst mehrere Jahrzehnte nach Alfred Margul-Sperbers Tod in Buchform erschienen: Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina. Zusammengestellt von Alfred Margul-Sperber. Aus dem Nachlass herausgegeben von George Gut¸u, Peter Motzan und Stefan Sienerth. München: IKGS 2009. 11 Celan-Handbuch, S. 45. 12 Paul Celan. Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abteilung I: Lyrik und Prosa, besorgt von der Bonner Arbeitsstelle für die Celan-Ausgabe Beda Allemann, Rolf Bücher, Axel Gellhaus, Stefan Reichert, Bd. 1.2. – Frankfurt am. Main: Suhrkamp Verlag, 1990. 13 Celan-Handbuch, S. 46.

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Celans Bukarester Lyrik ist viel mehr Sprachwelt in Sinn einer sprachlichen Fixiertheit als die frühere; ihre Bilder sind keine arbiträren Zeichen, sie bedingen sich gegenseitig und erscheinen somit als Elemente einer neuen, zuinnerst motivierten Sprache. Auch in dieser Hinsicht ist erst die Bukarester Lyrik wirklich Celans Lyrik14, –

stellt Barbara Wiedemann-Wolf fest. Es geht nun darum, eine Vorlage für einen richtigen Gedichtband zu konzipieren und eine Buchpublikation zu erwirken. Auf das Erreichen dieses ersehnten Ziels sind nun all seine Gedanken und Gefühle gerichtet. Als Celans Absicht, das immer mehr zur kommunistischen Diktatur driftende Rumänien zu verlassen und nach dem Westen zu gehen, festere Konturen angenommen hatte, setzte sein Bukarester Mentor und Förderer Alfred MargulSperber alles daran, ihm den literarischen Weg im deutschsprachigen Kulturraum zu ebnen. Bereits im Herbst 1946 schickte er ein Konvolut mit Celans Gedichten für eine Publikation im Westen an den Leiter des Feuilletons der Zürcher Zeitung »Die Tat« Max Rychner. Später, im Sommer 1947, ließ er Texte einiger Bukarester deutschsprachiger Autoren, darunter auch Celan, an den Herausgeber der wiedererscheinenden Wiener Zeitschrift »Silberboot« Ernst Schönwiese zukommen. Für Schönwiese zeigte sich aber Celans Poetik als eine spürbare Überforderung, er konnte sich mit den Bildern dieser Gedichte nicht richtig befreunden. In seinem Brief an Margul-Sperber vom 20. Juli 1947 schrieb er: Am schwierigsten habe ich es – ich darf doch ehrlich sein – mit Celan. Ich muss da Ihre uneigennützige Begeisterung sehr um Entschuldigung bitten, wenn ich Ihnen sage, dass ich noch keinen rechten Zugang gefunden habe. Natürlich spüre ich die – im besten Sinn verstanden! – Verwandtschaft mit Trakl: Aber doch auch manches vom Expressionismus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. – Aber vielleicht muss man länger mit den Gedichten leben und öfter, in verschiedenen Stimmungen, darin lesen. Lassen Sie mir also noch Zeit – und seien Sie nicht zu sehr enttäuscht von meinem »Versagen«.15

Doch in selben Brief verwies er auf eine andere Wiener Zeitschrift, die eine ausgeprägt avantgardistische Orientierung hatte – auf den von Otto Basil herausgegebenen »Plan«, der sich für diese Texte »begeistern und gern einsetzen würde«16. Der Ratschlag hatte sich gelohnt, und bald erhielt Otto Basil von Margul-Sperber einen seitdem oft zitierten Brief vom 9. Oktober 1947, der eine tiefgehende Charakteristik der frühen Lyrik dieses jungen, dem »Haupte des

14 Barbara Wiedemann-Wolf. Antschel Paul – Paul Celan, S. 221. 15 Peter Goßens (Hrsg.) »So etwas wie eine Bukowiner Dichterschule«. Ernst Schönwieses Briefwechsel mit Dichtern aus der Bukowina (1947/1948). Aachen: Rimbaud 2011, S. 20. 16 Peter Goßens (Hrsg.) »So etwas wie eine Bukowiner Dichterschule«, S. 21.

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Zeus«17 entsprungenen Dichters enthielt und eine entscheidende Rolle in Celans weiterem literarischem Schicksal spielen sollte: Lieber Herr Otto Basil, ich sende Ihnen beigeschlossen ein Gedichtemanuskript »Der Sand aus den Urnen« von Paul Celan. Ohne ihrem gewiss zuständigeren Urteil vorzugreifen, möchte ich ihnen doch gerne sagen, dass Paul Celan der Dichter unserer westöstlichen Landschaft ist, den ich ein halbes Menschenalter von ihr erwartet habe und der diese Gläubigkeit reichlich lohnt. Celan hat ausschließlich hier in Rumänien, also in einer nichtdeutschen Sprachumgebung gelebt. Aber seine Gedichte scheinen zu beweisen, dass es einen erlauchten Geist der Sprache gibt, der nicht auf den lebendigen Umgang von Mund zu Mund angewiesen ist. Sein Werk scheint mir unter allen Äußerungen der jüngsten deutschen Dichtergeneration die eigenartigste und unverwechselbarste; es gibt sich dem Leser allerdings nicht leicht und fordert liebende Aufgeschlossenheit, Bereitschaft und Hingabe. Nicht nur, dass die Begebenheiten seiner Dichtung in einem mythischen Raum spielen – das Licht, das darin waltet, entstammt geradezu einem anderen Spektrum –: auch die poetische Wirklichkeit ist transfiguriert, es ist sozusagen der Astralleib dieser Wirklichkeit, was uns begegnet. Das Emotionelle, Sonore, Visionäre, alles hat versetzte Vorzeichen, die Assoziation des Traums, die (auch sprachliches) Neuland abtastet. Ich für mein bescheidenes Teil glaube, dass »Der Sand aus den Urnen« das wichtigste deutsche Gedichtbuch dieser letzten Dezennien ist, das einzige lyrische Pendant des Kafkaschen Werkes.18

In seiner Antwort auf diesen Brief Margul-Sperbers vom 14. November 1947 schloss sich Otto Basil bei der Qualitätswertschätzung von Celans Gedichten der Meinung seines Bukarester Dichterkollegen völlig an, indem er sie »außerordentlich schön und bedeutend«19 fand und seine Bereitschaft äußerte, sie in einem der nächsten Hefte des »Plan« zu publizieren. Nachdem Celan Ende November 1947 illegal die rumänisch-ungarische Grenze überschritten und am 17. Dezember, nach einer langen, erschöpfenden Reise, Wien erreicht hatte, besuchte er Otto Basil im Redaktionsbüro des »Plan« am Opernring 19 und konnte zusammen mit ihm die Auswahl seiner Gedichte für die bevorstehende Publikation treffen. Otto Basil erinnert sich an diese erste Begegnung mit dem jungen Flüchtling aus Rumänien wie folgt: Eines Tages, es dürfte im Januar 1948 gewesen sein, war in der Redaktion des »Plan« ein junger Mensch mit schmalem Gesicht und dunklen, traurigen Augen erschienen. Er sprach mit leiser Stimme, wirkte bescheiden, verhemmt, beinahe furchtsam. Es war Paul Celan. Er machte einen verhungerten und abgerissenen Eindruck, denn er hatte sich,

17 Otto Basil und die Literatur um 1945. Tradition – Kontinuität – Neubeginn, hrsg. v. Volker Kaukoreit und Wendelin Schmidt-Dengler. – Wien: Paul Zsolnay Verlag, 1998, S. 56. [Profile. Magazin des Österreichischen Literaturarchivs, 1. Jg., H. 2, September 1998]. 18 Ebenda, S. 56. 19 Ebenda, S. 59.

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zum Teil auf langen Fußmärschen, über Ungarn nach Wien durchgeschlagen. […] Seit Trakl hatte kaum mehr ein Dichter einen so großen Eindruck auf mich gemacht.20

Bereits bei der nächsten Redaktionssitzung wurde beschlossen, Celans Gedichte zu publizieren, und so erschien im Heft 6 der Zeitschrift »Plan« (Februar 1948), das aus finanziellen Gründen das letzte sein sollte, eine »repräsentative Auswahl«21 von 17 Gedichten Paul Celans unter dem Titel »Der Sand aus den Urnen«. Allerdings wurde die »Todesfuge« in dieser Publikation ausgeklammert – wohl wegen der Länge des Gedichts. »Das kommt ins Buch«22 – sollte Basil gesagt haben. Fast zur gleichen Zeit wurden 7 Gedichte des jungen Autors auch in der Literaturbeilage der Zürcher Zeitung »Die Tat« vom 7. Februar 1948 veröffentlicht, die der damalige Feuilletonchef Max Rychner mit einer kleinen, teilweise etwas verwirrenden, Einleitung brachte. Mit ihm stand Celan bereits in Bukarest im Briefwechsel, und so vertraute er ihm in einem Brief vom 3. November 1946, der eine mögliche Publikation in der »Tat« betraf, seine Gedanken über die Schwierigkeit, seine dichterische Existenz mit seinem Judentum zu verbinden, an: …etwas muss ich doch hinzufügen, beklommenen Herzens, und in diesem Augenblick rede ich wohl aus dem Dunkel, das mich auch mit Raubtierfängen zu umkrallen wusste: Ich will Ihnen sagen, wie schwer es ist als Jude in deutscher Sprache zu schreiben. Wenn meine Gedichte erscheinen, kommen sie wohl auch nach Deutschland und – lassen Sie mich das Entsetzliche sagen – die Hand, die mein Buch aufschlägt, hat vielleicht die Hand dessen gedrückt, der der Mörder meiner Mutter war… Und es könnte noch furchtbarer kommen… Aber mein Schicksal ist dieses: Deutsche Gedichte schreiben zu müssen. Und ist die Poesie mein Schicksal – und hier danke ich Ihnen wieder, dass Sie es bejahen – so bin ich froh, Anlass zu Ihrem schönen Gleichnis vom aufgesprengten Bannkreis zu sein und mir sagen zu können, dass jenes andere Deutschland fortlebt, dass wenigstens das Wort von den ›deux Allemagnes‹ seinen (traurigen) Sinn nicht verloren hat.23

Solche ambivalenten Überlegungen begleiteten den jungen Autor aus der Bukowina, der ein deutscher Dichter werden wollte, trotz allem, und deswegen in den deutschen Kulturraum, nach Wien, gekommen ist. Die Sprache seiner Gedichte war für ihn wohl das Kostbarste, was er von seiner Mutter geerbt hatte und

20 Otto Basil. Wir leben unter finsteren Himmeln. In: Literatur und Kritik (Salzburg) 6/2 (1971), S. 102–103. 21 Otto Basil und die Literatur um 1945, S. 57. 22 Jerry Glenn. Paul Celan in Wien. In: In memoriam Reinhard Federmann. Hrsg. von Milo Dor. Wien: Löcker & Wögenstein 1977, S. 101. 23 Zit nach: Joachim Seng. »Und ist die Poesie mein Schicksal…« Paul Celans Gedichtband ›Der Sand aus den Urnen‹. In: Displaced. Paul Celan in Wien 1947/1948. Herausgegeben von Peter Goßens und Marcus G. Patka im Auftrag des Jüdischen Museums Wien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2001, S. 101.

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was er noch aus zahlreichen politischen und persönlichen Katastrophen herausretten konnte, aber das erlittene Trauma, vor allem der Mord an seinen Eltern in einem der »Arbeitslager« Transnistriens, traf ihn so tief, dass er sich selbst in dem noch in Czernowitz geschriebenen Gedicht »Nähe der Gräber« fragen musste: »Und duldest du, Mutter, wie einst, ach daheim/ den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?«. Beide Publikationen Celans in westlichen Zeitschriften waren wichtige Meilensteine auf dem Wege zu seiner dichterischen Berufung, aber um sich im Status eines deutschen Dichters zu behaupten, brauchte er eine Publikation in Buchform. Der schon in Bukarest 1946 konzipierte Gedichtband »Der Sand aus den Urnen« eilte ihm als Manuskript auf seinem Weg nach Westen voraus, nun musste er einen Verleger finden, der es veröffentlichen lassen würde. In Wien fand Celan, außer Otto Basil, noch einen anderen Förderer, den surrealistischen Maler Edgar Jené, der ihn, wie er seinem Bukarester Mentor bereits im ersten Brief vom 11. Februar 1948 berichtet, »in sein Herz, oder doch zumindest in einen Vorhof seines Herzens eingeschlossen«24 hat. »Er ist hier sozusagen der ›Papst‹ des Surrealismus und ich bin nun sein einflussreichster (einziger) Kardinal.«25 Edgar Jené, der Celans Gedichte sehr schätzte, wurde zum wichtigsten Bahnbrecher und finanziellen Förderer des ersehnten Celanschen Gedichtbandes in Österreich. Nur war es in Wien der ersten Nachkriegsjahre nicht so leicht, das ersehnte Ziel zu realisieren. Über die Peripetien und Krümmungen dieses Weges berichtet Celan an seinen Bukarester Schirmherrn A. Margul-Sperber, indem er ihm »etwas aus der Vorgeschichte zu dem Erscheinen der Gedichte« erzählte: Eine Verlegerin, Frau Lückmann, der ich bei Jené Gedichte vorlas, war so begeistert, dass sie sich sofort bereit erklärte, sie auf ihre Kosten herauszugeben. Nach ein paar Tagen, nachdem sie das Manuskript nach Hause genommen hatte, überlegte sie es sich aber wieder, weil ihr ihr Lektor und einer der Autoren, P. Gütersloh, sagte, der Zeitpunkt für die Veröffentlichung dieser allerdings »sehr begabten« Gedichte sei »noch nicht gekommen«. Ein schwarzer Punkt, dieser Zeitpunkt!26

Doch später hat sich die Sternkonstellation etwas günstiger zusammengesetzt, so dass Celans weitere Informationen zuerst durchaus hoffnungsvoll klingen, ja man hat sogar den Eindruck, dass alles sich zum Besseren wendet und der Gedichtband bald in der Tat erscheinen kann. Zwar verlangte er spürbare finanzielle Opfer, die Celan selbst nicht aufbringen konnte – es wurde eine Kollekte veranstaltet, um das notwendige Geld zu sammeln. In dem oben zitierten 24 Paul Celan. Briefe an Alfred Margul-Sperber. In: Neue Literatur. Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der Sozialistischen Republik Rumänien, 26. Jahrgang, Heft 7, Juli 1975, S. 50. 25 Ebenda, S. 50. 26 Ebenda, S. 51.

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Brief an Margul-Sperber beschreibt Celan die Herstellung des Buches als eine beinahe vollzogene Tatsache: Denn mein Buch, mit dessen Druck heute begonnen wurde, wird in fünf oder sechs Wochen fertig sein. Das Geld dazu haben mir Freunde gegeben. Es kostet viertausendsechshundert Schilling, hat eine Auflage von fünfhundert Exemplaren, einen sandfarbenen Leinenband, eine Lithographie von E. Jené und erscheint bei Erwin Müller. Es soll vierzig Gedichte enthalten, einen einzigen Zyklus, bestehend aus allen Gedichten des letzten Zyklus und anderen früheren, bei deren Auswahl ich Sie bitte, mir behilflich zu sein.27

Aber seine Freude auf das angeblich langsam gedruckte Buch hatte sich als vorzeitig erwiesen, und nun muss Celan resignierend feststellen, dass der Buchdruck sich verzögert. Er will sich aber darauf nicht zu stark fixieren und meint, es sei wichtiger, sich dichterisch weiter zu entwickeln, worüber er seinem älteren Bukarester Dichterfreund im Brief vom 21. April 1948 schreibt: Leider ist mein Buch nicht recht vorwärtsgekommen, aber hoffentlich kommt es nun doch ins Rollen. Immer mehr, immer häufiger muss ich nun sagen, dass es auf die Veröffentlichung meiner Gedichte wohl weniger ankommt, als darauf, neue zu schreiben. Hätte ich das auch daheim zu tun vermocht? Ich wage nicht, es zu beantworten, wahrscheinlich wäre ich aber doch letzten Endes ganz verstummt.28

Den Dichter erwarteten jedoch noch einige härtere Schläge, die zeigen, dass das ganze Unternehmen von Anfang an unter einem trüben Licht stand: der Verlag Erwin Müller, in dem das Buch erscheinen sollte, ging bald infolge der von der österreichischen Regierung durchgeführten Währungsreform in Konkurs, so das der vielgeprüfte Gedichtband, trotz der rechtzeitigen Vorauszahlung von zweitausend Schilling, überhaupt nicht mehr erscheinen konnte, denn das Geld wurde zur Deckung von Verlagsschulden verbraucht. All seine Anstrengungen – mühsames Aufbringen der Druckkosten, langes Warten, schwierige Verhandlungen mit dem Verleger, – haben sich als umsonst erwiesen. Nun hieß es, von neuem zu beginnen. Diesmal wurde der kleine Wiener A. Sexl Verlag gewählt, der ebenfalls sich bereit erklärt hatte, gegen die Selbstfinanzierung das Buch herauszubringen. Inzwischen hatte der Dichter beschlossen, Wien, wo er sich immer bedrängter fühlte, plötzlich zu verlassen und nach Paris umzuziehen. Damit verließ er auch den deutschen Sprachraum, was hinsichtlich seiner Verwurzelung in diesem Element für ihn sicherlich keine leichte Entscheidung war. Vielleicht spielte dabei seine positive Erfahrung mit Frankreich während des Vorkriegsstudienjahrs in Tours eine Rolle. Allerdings hatte er keine Lust mehr, auf das Erscheinen seines Gedichtbandes weiter zu warten und 27 Ebenda, S. 51. 28 Ebenda, S. 51.

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überließ die Aufsicht über den Druck des Buches seinen Wiener Freunden, vor allem dem Maler Edgar Jené. Doch auch diesmal lauerte auf ihn ein schlimmes Desaster, welches er bereits aus Paris in einem Brief an Max Rychner von 24. Oktober1948 beschreibt: Freunde stellten mir einen weiteren Betrag zur Verfügung, der diesmal direkt der Druckerei bezahlt wurde. Voller Zuversicht ging ich im Juli nach Paris und wartete. Später als vorgesehen, Ende September, erschien mein Buch. Wie groß war mein Entsetzen, als ich es bekam! Freunde hatten es übernommen, die notwendigen Korrekturen zu besorgen, denn es galt ja, keine Zeit mehr zu verlieren – und das Buch erschien voller Druckfehler, mit dem geschmacklosesten Einband, den ich je gesehen, und obendrein mit zwei Illustrationen eines Freundes, der Maler ist, und der es nicht unterlassen konnte, mein Buch mit zwei Beweisen äußerster Geschmacklosigkeit zu versehen. Und die Druckfehler waren von der entsetzlichsten Sorte! Ich war gezwungen, telegraphisch zu veranlassen, das Buch aus dem Verkehr zu ziehen.29

Celan beauftragte damit seinen Wiener Freund Klaus Demus, aber auch dieser Prozess zog sich über Jahre hindurch, bis das Buch endlich eingestampft wurde und der Dichter im März 1952 eine Schlussabrechnung erhielt. Es handelte sich darin merkwürdigerweise nur von 354 (statt 500) Exemplaren, von denen 9 durch den Buchhandel verkauft, 5 als Pflichtexemplare an Bibliotheken verteilt und 320 makuliert worden sind. Der gesamte Erlös von verkauften (90 Schilling) und eingestampften Büchern (56 Schilling) ergab eine Summe von 146 Schilling.30 Der erste Gedichtband Paul Celans, dessen Erscheinen dem Autor so viele materielle Opfer und seelische Kräfte kostete, endete somit mit einem Fiasko. Schlechtes Papier, der lieblose Buchumschlag, 17 Druckfehler, die zum Teil sinnentstellend waren und nicht als solche erkannt werden konnten, dazu noch zwei Lithographien von Edgar Jené, die äußerst kitschig wirkten, ließen den Autor schweren Herzens die Auflage des Buches vernichten. In seinem Handexemplar hat Celan beide Lithographien aus dem Buch herausgerissen, es kam schließlich zu einem Zerwürfnis mit Edgar Jené, den er für das Misslingen verantwortlich machte. Im Grunde war aber der Band »Der Sand aus den Urnen« eine überaus wichtige Etappe in Celans dichterischem Werdegang, er hat diese Gedichte nicht verworfen – rund die Hälfte von ihnen wurden später in seinen Band »Mohn und Gedächtnis« übernommen. Die Entstehungsgeschichte dieser Gedichtsammlung, die, angefangen von den noch in Czernowitz geschriebenen Gedichten, etwa acht Jahre dauerte, demonstriert zugleich Phasen von Celans dichterischer Entwicklung, was besonders in immer deutlicherer thematischer Koinzidenz seiner Gedichte, immer schärferem Sinn für zyklisches Denken, immer intensiverem Hang zu intertextuellen Ver29 Zit. nach: Joachim Seng. »Und ist Poesie mein Schicksal…«, S. 100. 30 Ebenda, S. 100.

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fahrensweisen ersichtlich ist. Das zeigt sich z. B. in verschiedener Aufteilung der beiden Varianten des in Wien zum Druck vorbereiteten Manuskripts des Gedichtbandes. Die für den Verlag Erwin Müller vorbestimmte Fassung mit 40 Gedichten hatte noch vier Zyklen gehabt: »Schlummermännlein«; »Sindbad«, »Der Pfeil der Artemis« und »Der Sand aus den Urnen«, die, wie Margul-Sperber in seinem Brief an Otto Basil hervorhob, »den zeitlichen und geistigen Entwicklungsstufen«31 des jungen Autors entsprachen und in deren Strukturierung Texte aus der Czernowitzer Zeit eine dominante Rolle spielten. Die zweite Fassung mit ihren 48 Gedichten, die beim A. Sexl Verlag in Buchform erschienen ist, weist nun drei Zyklen vor: »An den Toren«, »Mohn und Gedächtnis« und »Todesfuge«, wobei sie auch jene sechs Gedichte aufnimmt, die in Wien entstanden sind und jeden Zwischentitel enger an die zu ihnen gehörende Gedichte bindet. In dieser Hinsicht nutzte Celan die durch produktionstechnische Schwierigkeiten entstandene Pause aus, um die Strukturierung des Bandes noch einmal zu ändern und die »Todesfuge«, die in der ersten Fassung einen Übergang von der Czernowitzer zur Bukarester Zeit markierte, in der zweiten Fassung als einen eigenen Zyklus und einen ausdrucksvollen, starken Ausklang zu setzen. In Einzelfällen wurden auch manche Gedichttitel geändert und Widmungen ausgetauscht. Da der Band aber vom Autor selbst aus dem Verkehr gezogen wurde, bleibt er eher als Zeugnis seines Frühwerks bestehen, das einen dokumentarischen Charakter hat. In diesem Sinne betonen Beda Allemann und Stefan Reichert seine Bedeutung bei dem erneuten Abdruck der Gedichtsammlung »Der Sand aus den Urnen« im dritten Band von Celans »Gesammelten Werken«: Wenn Celan den Freunden gegenüber dennoch Gewicht auf die Existenz seines Erstlingsbuches legte und gerne die Katalognummer des in der Wiener National-Bibliothek vorhandenen Exemplars mitteilte, so deshalb, weil mit diesem Band, der Gedichte aus den Jahren 1940 bis 1948 enthält, unwiderlegbar die Stufe dokumentiert ist, die seine Lyrik spätestens auf der Wiener Zwischenstation erreicht hatte.32

Celans Hinweise auf seinen missglückten poetischen Erstling könnten jedoch noch einen tieferen Grund haben – im Laufe der sog. »Goll-Affäre« mit ihren widerwilligen und unhaltbaren Bezichtigungen des Plagiats waren seine frühen Gedichte ein starkes Argument gegen diese Vorwürfe, denn sie lieferten unleugbares Beweismaterial für die absolute Priorität Celanscher Bilderwelt, die Claire Goll in Frage zu stellen bestrebt war. Dies erklärt Celans spätere Praktik präziser Datierungen all seiner Texte und die an seine Freunde in Bukarest

31 Otto Basil und die Literatur um 1945, S. 56. 32 Paul Celan. Gesammelte Werke in fünf Bänden. Dritter Band. Gedichte III, Prosa. Reden. Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1983. S. 210.

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mehrmals gerichteten Bitten, ihm seine frühesten Gedichte, die er vor seinem Weggang nach Westen bei ihnen deponiert hatte, nach Paris zu schicken. Celans erste, »so inständig herbeigesehnte und schmerzlich gescheiterte Buchpublikation«33 konnte nicht zum Objekt literaturkritischer Rezeption werden. Da sie der Öffentlichkeit vorenthalten blieb, konnte sie auch keine Rezeption haben – es gibt in literarischen Medien keine Rezensionen dieses Gedichtbandes. Das Buch wurde aber nicht vollständig makuliert – Celan hatte mehrere Exemplare davon behalten, die er seinen Freunden später verschenkte. Auch in Paris ließ ihn dieses Buchprojekt nicht los, er ergänzte es immer wieder mit neuen Gedichten und fertigte ein weiteres Typoskript mit dem Titel »Der Sand aus den Urnen, Paris, Oktober 1950«. Die darin enthaltenen Gedichte bildeten später die Grundlage für seinen 1952 erschienenen Gedichtband »Mohn und Gedächtnis«34, der seitdem als seine offizielle Erstpublikation in Buchform gilt. Die langjährige Geschichte des missglückten Wiener Bandes zeigt, wie schwer und leidvoll dieser poetische Weg in seinen Anfängen war.

33 Joachim Seng. »Und ist Poesie mein Schicksal…«, S. 108. 34 Paul Celan. Mohn und Gedächtnis. Gedichte. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1952.

Mohn und Gedächtnis: Der dichterische Durchbruch

Bevor Ende 1952 Paul Celans Gedichtband »Mohn und Gedächtnis« bei der Stuttgarter »Deutschen Verlags-Anstalt« (DVA) erschien, hatte der Dichter bereits einen bemerkenswerten literarischen Weg durchgemacht und konnte auf mehrere Publikationen in Buchform zurückschauen. In Bukarest veröffentlichte er Übersetzungen aus dem Russischen ins Rumänische (M. Lermontovs Roman »Ein Held unserer Zeit«, A. Tschechows Erzählzyklus »Die Bauern«, K. Simonovs dramatisches Stück »Russische Frage«), in Wien – den Essay »Edgar Jené und der Traum vom Traume« und den Gedichtband »Der Sand aus den Urnen«. Zugleich brachten seine Gedichte renommierte europäische Zeitungen und Zeitschriften, wie »Contemporanul«, »Ahora« (Bukarest), »Plan«, »Wort und Wahrheit« (Wien), »Surrealistische Publikationen« (Klagenfurt), »Die Tat« (Zürich), »Das Lot« (Berlin), »Die Wandlung« (Heidelberg), »Meta« (Frankfurt a. M.), »Neue literarische Welt« (Darmstadt), die Wiener Anthologie »Stimmen der Gegenwart 1951«. Außerdem hat er in den ersten Nachkriegsjahren seine Gedichte mehrmals öffentlich vorgetragen, darunter bei dem im Mai 1952 stattgefundenen Treffen der »Gruppe 47« in Niendorf. Er war also kein Anfänger, kein literarischer Neophyt mehr. Und doch gilt »Mohn und Gedächtnis« für viele Leser bis heute als sein eigentliches poetisches Debüt, was in gewisser Hinsicht auch stimmt – erst mit diesem Buch ist der Dichter ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit in der deutschsprachigen Welt geradezu triumphal eingegangen. Den langen Kampf um seine poetische Anerkennung hat Paul Celan mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit ausgetragen. Bereits in Czernowitz ordnete er seine poetischen Texte zu hand- und maschinenschriftlichen Konvoluten, die einem Gedichtband glichen. Auch in Bukarest versuchte er konzeptuelle Gedichtbuchprojekte anzufertigen, mit denen er dann westliche Publikationsorgane zu erreichen bemüht war. Aber erst in Wien gelang es ihm, nach einigen schmerzhaften Rückschlägen, einen Verleger zu finden und seinen ersten Gedichtband »Der Sand aus den Urnen« herauszubringen (den er wegen mehrerer Druckfehler, aber auch aus ästhetischen Gründen bald darauf aus dem Verkehr zog).

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Zum Zeitpunkt seines Erscheinens im Herbst 1948 war der Dichter allerdings schon in Paris. Trotz aller Enttäuschungen, die er in Wien erfahren hatte, gab Celan die Hoffnung nicht auf, seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen – eine Sammlung seiner Gedichte zu publizieren. Jene Zwischenstationen, die durch gescheiterte Buchprojekte entstanden waren, nutzte er zur ständigen Umstrukturierung seiner Typoskripte, indem er die Zahl und Anordnung der Gedichte änderte und ihnen neu geschriebene Texte hinzufügte. Das war ein natürlicher Prozess der Suche nach einer sinngemäßen und adäquaten Form, der im Endergebnis die Einheitlichkeit, den inneren Zusammenhang und den künstlerischen Wert seines Debüt-Gedichtbandes erhöhte. Nach der negativen Erfahrung mit österreichischen Verlagen setzte er jetzt auf Deutschland, wo einige seiner ersten Versuche ebenfalls schief gingen. So erhoffte er sich im Jahre 1949 seinen umgewandelten Gedichtband »Der Sand aus den Urnen« zuerst im Düsseldorfer Karl Rauch Verlag zu publizieren, wo schon vorher seine Übersetzung von Jean Cocteaus »Der goldene Vorhang. Brief eines Amerikaners« erschienen war, erhielt dort aber eine Absage. Eine Zeitlang erwog er auch den Gedanken, den Suhrkamp Verlag dafür zu gewinnen, aber auch dieses Vorhaben missglückte1. Solch erfolgloses Abklopfen mehrerer Türen hat Celan sehr deprimiert. In einem Brief an seine niederländische Freundin Diet Kloos-Barendregt vom 6. September 1949 versucht er seinen damaligen psychologischen Zustand wie folgt zu beschreiben: Was ich brauche, was ich so dringend brauche, eben deshalb, weil ich so oft von mir weg muss, auf Reisen gehen muss – und wie unbequem ist dieses Reisen: ich selber bin dabei reglos, wechsle nicht den Ort, die Welt aber saust unter meinen Füssen vorbei! – was ich also brauche, ist das Gefühl, dass es bei all diesem Hin und Her einen Ausgangspunkt gibt, der, wenn er auch nie wieder erreicht werden kann, dennoch bestehen bleibt – ein solcher Ausgangspunkt wären meine Gedichte, wenn ich sie in Sicherheit wüsste, sauber abgedruckt und gebunden2.

Dieser Seelenschrei des einsamen jungen Dichters in der fremden Stadt beweist sehr gut, welche Bedeutung er schon damals seinen Gedichten beigemessen hat – für ihn waren sie Sinn seines von mehreren schweren Schicksalsschlägen belasteten Lebens. Erst nach der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf, die im Frühjahr 1952 stattfand und zu der Celan dank den Bemühungen seiner Freunde, vor allem Milo Dors und Ingeborg Bachmanns, vom Leiter der Gruppe Hans Werner 1 Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehman (Hrsg.) Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. – Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler 2008, S. 55. 2 Paul Celan. »Du mußt versuchen, auch den Schweigenden zu hören«. Briefe an Diet KloosBarendregt. Handschrift – Edition – Kommentar. Hrsg. von Paul Sars. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2002, S. 71–72.

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Richter eingeladen worden war, öffnete sich für ihn eine reale Perspektive, seine Gedichte endlich in einem deutschen Verlag veröffentlicht zu sehen. Obwohl seine Lesung bei dieser Tagung kaum geglückt genannt werden kann (Celans ästhetische Vorstellungen stimmten mit der auf neorealistische, sachliche Pragmatik orientierten Gruppe nicht überein, daher schien den meisten Teilnehmern sein Lesen – insbesondere der »Todesfuge« – zu feierlich, zu theatralisch). Der dabei anwesende Schriftsteller und Literaturhistoriker Walter Jens erinnerte sich später: Als Celan zum ersten Mal auftrat, da sagte man: »Das kann doch kaum jemand hören«; er las sehr pathetisch. Wir haben darüber gelacht. Der liest ja wie Goebbels, sagte einer. Er wurde ausgelacht, so dass dann später ein Sprecher der Gruppe 47, Walter Hilsbecher aus Frankfurt, die Gedichte noch einmal vorlesen musste. Die »Todesfuge« war ein Reinfall in der Gruppe! Das war eine völlig andere Welt, da kamen die Neorealisten nicht mit, die sozusagen mit diesem Programm groß geworden waren.3

Doch konnte Celan dort auch einige verständnisvollere Ohren und einen Verleger finden, den seine Gedichte tief beeindruckt hatten. Das war Willy A. Koch, der Cheflektor der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart. Nach seiner Rückkehr aus Deutschland erhielt Celan am 25. Juni 1952 von ihm einen Brief mit der Bitte, möglichst bald eine Auswahl seiner Gedichte an den Verlag zu schicken, und bereits am 30. Juni konnte Koch den Eingang des »Mohn und Gedächtnis«Manuskripts bestätigen. Nach weiteren zwei Wochen hatte die Verlagskonferenz auf Initiative Kochs beschlossen, »das Manuskript eines außerordentlichen Lyrikers, der in Deutschland so gut wie unbekannt ist, als Weihnachtsgabe zu drucken mit der Motivierung, dass es sich um die Entdeckung eines Dichters von hohem Rang handelt«4. Man kann sich leicht die Reaktion Celans auf diesen Beschluss des Verlags vorstellen. In seinem Brief vom 21. August, den er an den damaligen Verlagsleiter Helmut Dingelday adressiert, schrieb Celan: Für mich bedeutete dieser Brief die Nachricht – ich weiß ihr kaum eine andere aus den letzten Jahren zur Seite zu stellen –, brachten diese Zeilen die Befreiung von tausend Ungewissheiten und Undeutlichkeiten und damit die Zuversicht, von der beinahe alles Weitere abhängt.5

Am 17. Dezember 1952 lagen die ersten Exemplare der auf 1500 Stück festgesetzten ersten Auflage von »Mohn und Gedächtnis« ausgedruckt vor, die dann teilweise als Weihnachtsgeschenk an die Freunde des Verlags gingen, und seit Januar 1953 konnte man den Band in den Buchhandlungen erwerben.

3 Zit. nach Thomas Sparr. Todesfuge. Biographie eines Gedichts. München: Deutsche VerlagsAnstalt 2020, S. 127. 4 Celan-Handbuch, S. 56. 5 Ebenda, S. 56.

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Mir dem Erscheinen von »Mohn und Gedächtnis« kam der sehnlichste Wunsch Celans in Erfüllung – er hat sich nun als Buchautor im deutschen Sprachraum behauptet und wurde als solcher von Lesern und Literaturkritik wahrgenommen. Es befreite ihn von der Unsicherheit und quälenden Zweifeln, die ihn in all diesen Jahren geplagt haben. Von den Gefühlen, die ihn beim Betrachten des Bändchens, das ihm Anfang Januar 1953 vom Verlag als Signalexemplar zugeschickt wurde, erfasst haben, berichtet der Dichter im Brief vom 4. Februar 1953 an seinen Verlagslektor Alfred Günther, aus dem gut ersichtlich ist, welche psychologische und emotionale Wirkung das frisch gedruckte Buch auf ihn ausgeübt hatte: Als ich in der ersten Januarwoche mit meiner Frau – ich habe kurz vor Weihnachten geheiratet – aus Südfrankreich zurückkehrte und das Buch vorfand, schlug meine Freude in ihrer Unbändigkeit einen seltsamen Weg ein: sie führte mich um dieses Buch herum, das ich nicht aufzuschlagen wagte, so unwirklich-schön lag es da, in einer Mitte, die ich nicht um ihren Sinn zu befragen wagte, weil sie in eine Richtung zu weisen schien, wo Fragen laut wurden, zu deren Beantwortung das Bisherige nicht ausreicht, weil sie mich die Fernen eines Raumes erblicken ließ, der sich über meine Angst hinwegwölbte, über die Angst, in die ich meine Worte zu tauchen gewohnt war, ehe ich ihnen Glauben schenkte…6

Der Gedichtband, von dem er bereits in Czernowitz, später in Bukarest und Wien so sehnsuchtsvoll geschwärmt hatte, lag nun vor ihm, fast unglaublich in seiner realen Präsenz und in seiner schlichten Schönheit: auf dem dunklen Hintergrund des in schwarzes Leinen eingebundenen Buchumschlags leuchteten goldene Buchstaben seines Namens sowie die ungewöhnliche, geheimnisvolle Wortverbindung des Titels: Mohn und Gedächtnis, die wie ferne Gestirne auf dem nächtlichen Himmel strahlten. Die Eleganz des Bändchens ergänzte auch der Schutzumschlag aus dem durchsichtigen Zellophan, das das Buch umhüllte. Dadurch wirkte der Gedichtband wie ein kostbares Kleinod, das man nur mit großer Ehrfurcht in die Hand nimmt. *** Ohne jeglichen Zweifel stellt der Gedichtband »Mohn und Gedächtnis« den wichtigsten Meilenstein und den größten Durchbruch in Celans Leben dar. Bereits seine schwierige Entstehungsgeschichte bekräftigt diese These. Der Weg zu diesem »offiziellen« poetischen Buchdebüt des Dichters dauerte viel länger als die Genese aller nächsten Gedichtbände des Autors – von den ersten, noch in Czernowitz 1944 entstandenen Gedichten über die in Bukarest und Wien ge6 Paul Celan. »etwas ganz und gar Persönliches«. Briefe 1934–1970. Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin: Suhrkamp 2019, S. 138–139.

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schriebenen Texte – bis zu den lyrischen Schöpfungen der Pariser Zeit waren etwa acht Jahre vergangen. Auch die Dichte der Erfahrungen, die hier ihren Niederschlag fanden, ist kaum mit anderen Perioden seines Lebens zu vergleichen: Krieg und Verfolgung, Deportation und Ermordung der Eltern, das rumänische Arbeitslager, Flucht aus dem sowjetischen Czernowitz nach Rumänien, das elende Dahinvegetieren in den Metropolen Europas… All das klingt in diesem dichterischen Erstling Celans durch. Der Gedichtband »Mohn und Gedächtnis« enthält diesmal 56 lyrische Texte. Fast die Hälfte davon (26 Gedichte) wurden von dem eingestampften Wiener Band »Der Sand aus den Urnen« übernommen, was darauf hinweist, dass Celan seinen missglückten Wiener Band nicht verworfen, sondern fortgesetzt hatte. Der Titel stammt aus dem in Wien geschriebenen Gedicht »Corona« (lat. Krone, Kranz), wo es heißt: »Wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis«. Der Kontext dieser Zeile lässt auf die gegenseitige Gravitation beider Titelbegriffe schließen, denn zwischen »Mohn« und »Gedächtnis« existiert hier so etwas wie ein einträchtiges Übereinstimmen. Doch das Wesen dieser Liebe ist ambivalent, denn die Begriffe »Mohn« und »Gedächtnis« stehen einander strikt gegenüber – Mohn mit seinen Rausch- und Vergessen-Konnotationen und Gedächtnis als Erinnerung und Andenken bilden etwas durchaus Antagonistisches. Durch diese Eigenschaft des Mohns, der das Vergessen erwirkt und ein Substitut für das Verlöschen des Gedächtnisses ist, doch zugleich mit seiner purpurnen Farbe das zum Einschlafen tendierendes Gedächtnis immer wieder erweckt, entsteht ein semantisches Feld, das dieses Bild so spannend und facettenreich macht. Dieses Wortpaar, das in Celans poetischem System ein ausgeprägtes Oxymoron, aber zugleich auch eine untrennbare Einheit bildet, da es die Polarität von Erinnerung und Vergessen skizziert und das Gedenken an die Toten zu einem unentbehrlichen Element des Lebens erklärt, ist vielschichtig und tiefgehend, es löst beim Leser eine Fülle von spontanen Assoziationen aus, die zwischen Flamme, Rausch, Traum, Liebe, Schmerz und Tod lokalisiert sind. Im Wiener Band »Sand aus den Urnen« war »Mohn und Gedächtnis« der Titel des größten mittleren Zyklus. Nun hat Celan dieses weit verzweigte, symbolträchtige Bildgefüge auf den Buchumschlag seines Gedichtbandes programmatisch als einen metaphorischen Oberbegriff gestellt – so dass die Titel der Gedichtzyklen nun im Lichte dieses traumatischen Bildes gelesen werden können. Der erste Zyklus »Der Sand aus den Urnen« (25 Gedichte) umfasst noch Texte aus der Czernowitzer, Bukarester und Wiener Zeit, die »Todesfuge« (in Czernowitz konzipiert und in Bukarest abgeschlossen und zum ersten Mal in der rumänischen Übersetzung von Celans Freund Petre Solomon unter dem Titel »Todestango« (»Tangoul mort¸ii«) in der Zeitung »Contemporanul« vom 2. Mai 1947 veröffentlicht) bildet einen eigenständigen Abschnitt und erfüllt hier die Rolle einer Achse, die strukturell und thematisch das Gleichgewicht hält, der dritte Zyklus »Gegenlicht« (17 Gedichte)

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und die vierte Zyklusfolge »Halme der Nacht« (13 Gedichte) – schließen dann jene Gedichte ein, die bereits in Paris entstanden waren. Diese Strukturierung ist chronologisch, aber auch thematisch angelegt, und wir können verfolgen, wie radikal sich thematische Dominanten des Autors seit der Wiener Zeit verändert haben. Mit Recht betont Joachim Seng: »Der Band ist ein gutes Beispiel dafür, wie Celan mit Hilfe der Komposition auf veränderte Wirklichkeit reagiert«7. Nicht zufällig hatte Celan die »Todesfuge« etwa in die Mitte seines Gedichtbandes gestellt, wo sie die zentrale Stelle einnimmt. Mit der in ihr gestalteten schrecklichen Problematik des jüdischen Massenmordes wurde die bildliche Semantik des Buchtitels ins Extreme geführt und das Gedenken an die Opfern zum schmerzlichsten moralischen Trauma der Deutschen gemacht, das in ihrem Gedächtnis gleich einer sich nie schließenden Wunde klaffen soll. Die Schwierigkeiten bei der Rezeption dieses bis heute berühmtesten Gedichts Celans zeigen, dass dies eine der großen Herausforderungen an das deutsche Bewusstsein bleibt. Weder die ersten Leser noch die frühen Rezensenten des Celanschen Gedichtbandes haben diese Absicht des Dichters in vollem Maße erfasst, indem sie die »Todesfuge« als eine »Versöhnungsgeste«, als Überwindung der furchtbaren Wirklichkeit der Todeslager durch harmonisierende künstlerische Mittel der Poesie betrachteten und sich von der Ästhetik dieser »schönen« Sprache eine gewisse Verdrängung der historischen Schuld erhofften und darin eine moralische Entlastung sahen. Bereits in diesem ersten, dem breiten deutschen Lesepublikum zugänglichen Gedichtband Celans, zeigt sich sein Hang zu intensiven intertextuellen Bezügen, zur Aneignung der ganzen Fülle verschiedener Phänomene der Weltkultur, »das Verfahren, mit verdeckten Zitaten und Anspielungen die dichterische Tradition im eigenen Gedicht zu vergegenwärtigen und traditionelle Vokabeln mit der Wirklichkeit des Dichters zu konfrontieren.«8 Daraus resultiert die dialogische Struktur dieser Lyrik, die sich nicht nur in der ständigen Du-Anrede, sondern auch in der permanenten Kohärenz mit historischen und politischen Ereignissen, mythologischen Vorstellungen, philosophischen Ansichten, künstlerischen und literarischen Werken äußert, dieses geschichtliche und kulturelle Erbe der Menschheit mit dem neuen Licht beleuchtet, es in den neuen Kontext stellt und dadurch aktualisiert. Der Band »Mohn und Gedächtnis« kristallisiert thematische Schwerpunkte, die bereits in »Der Sand aus den Urnen« angeschnitten und deklariert wurden: Shoa und Andenken, Heimatlosigkeit und Wandern, Eros und Thanatos, Sprache, Raum und Zeit. Die Anknüpfung an die kulturelle Tradition erweist sich in der Vielfalt biblischer (Babel, Ägypten, Ruth, Noemi, Mirjam, Sulamith) und 7 Celan-Handbuch, S. 58. 8 Ebenda, S. 59–60.

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antiker (Jason, Orion, Deukalion und Pyrrha) mythologischer Reminiszenzen, in der Anspielung auf Bilder und Motive klassischer und moderner Literatur (Luther, Goethe, Heine, Andersen, Rilke, Trakl). Diese überlieferten Namen und Realien kommen in Celans Gedichten in neuen, unerwarteten bildlichen Konstellationen vor, die die ganze Tragik des 20. Jahrhunderts in sich aufnehmen und sie in paradoxen, nicht selten verfremdenden poetischen Strukturen reflektieren. Die für frühere Gedichte charakteristische daktylische Langzeile schrumpft allmählich zu kürzeren Versen, die Zeilenbrüche werden immer häufiger, die Strophen übersichtlicher und die Sprache insgesamt nüchterner – aus den Gedichten der Pariser Zyklen verschwindet die üppige Bildlichkeit der zahlreichen Epitheta und Genitivmetaphern fast gänzlich. So offenbart sich bereits in diesem Band die generelle Richtung der weiteren dichterischen Entwicklung Celans, die an einer »graueren Sprache« orientiert ist. *** Die literaturkritische Reaktion auf das Erscheinen von Celans »Mohn und Gedächtnis« war sehr rege, aber nicht eindeutig. Von einer Seite, erhielt der Gedichtband eine Reihe von begeisterten Besprechungen in den führenden Presseorganen und literarischen Zeitschriften des deutschen Sprachraums, in denen seine Bedeutung ausdrücklich hervorgehoben wurde. So schrieb Walter Lennig über den durchaus modernen Charakter Celanscher Gedichte, die »auf den Ton gefasster Trauer gestimmt« seien, in denen »ein neuer Klang« und »eine persönliche Ausdruckswelt« zu hören seien, daher solle man hier nicht »um den Rang feilschen«, denn mit diesem Gedichtbuch habe sich Celan »an die Spitze aller jungen deutschen Lyriker gestellt«9; Helmuth de Haas unterstrich, dass Celans Erstlingswerk »einen unüberhörbaren Ton habe«, den man nicht mehr vergesse und bezeichnete seine Sprache als »mundfrisch« und »beginnlich rein«10; Karl Schwedhelm hob ausdrücklich hervor, dass es eine Sprache ist, die im deutschen Kulturraum noch »ungewohnt« sei, denn »sie predigt nicht, sie singt nicht, und sie betreibt keine Landschaftsmalerei, vielmehr spricht sie innere Erfahrung durch Bilder aus, und diese Bilder zeugen durch ihre poetische Intensität neue Erfahrungen«11. Von der anderen Seite, gab es auch kritische Stimmen, wie die von Heinz Piontek, der bemerkte, Celans Buch enthalte »zwanzig Gedichte zu viel« und überhaupt seien diese Verse »poésie pure«, »zaubrische Montage«, die »ganz aus 9 Walter Lenning. Ein neuer Lyriker. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 31. 5. 1953. 10 Helmuth de Haas. Mohn und Gedächtnis. Über die Gedichte von Paul Celan. In: Süddeutsche Zeitung, 6. 6. 1953. 11 Karl Schwedhelm. Mohn und Gedächtnis. In: Wort und Wahrheit. 7. Jg., 1953, S. 533.

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der Metapher, aus Bild und Inbild« lebten, so dass man sie nicht anders als »Artistik im Sinne Benns« bezeichnen kann12. Ähnliche Gedanken äußerte auch Hans Egon Holthusen, wenn er meinte, in Celans Band »Mohn und Gedächtnis« »tritt ein Talent auf den Plan, das gewisse Prinzipien der modernen französischen Lyrik auf die deutsche Sprache zu übertragen scheint«, die auf dem deutschen Boden noch relativ neu sind, wodurch eigentlich seine Wirkung auf den Leser zu erklären sei, und warf dabei dem jungen Autor Irrationalismus, Wirklichkeitsferne und willkürlich konstruierte Metaphern vor13. Wie sich später zeigen sollte, schlugen diese letzteren Meinungen ganz fehl, da sie auf einseitige, durchaus voreingenommene Urteile fußten. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Celanschen Erstlingswerkes veröffentlichte der deutsche Lyriker Karl Krolow in der Zürcher Zeitung »Die Tat«, wo Anfang 1948 zum ersten Mal im deutschen Sprachraum Celans Gedichte publiziert wurden, einen Artikel unter dem Titel »Erinnerung an einen großen Gedichtband. Paul Celans ›Mond und Gedächtnis‹«, in dem es heißt: Als Celan in der damaligen literarischen Öffentlichkeit zum Vorschein kam und sich in ihr durchsetzte, war man über seine Sprachweise zugleich überrascht und hatte man auf sie gewartet. […] »Mohn und Gedächtnis« erfüllte […] für Jahre die Vorstellung von Veränderung der Struktur, der Thematik, des Wesens im Gedicht […], erweiterte den Raum sensibler Aufnahmefähigkeit beim Leser deutscher Lyrik zum erstenmal entscheidend seit dem Erscheinen der späten Gedichte Rilkes und ihrer Sensibilitätshöhe. […] Das seiner dekorativen Erscheinung entkleidete Gedicht ist bei Celan zu einem außerordentlich ernst genommenen Gebilde geworden.14

Diese Betrachtung, samt der Behauptung von der »unerhörten Qualität« des Bandes, aus einem längeren zeitlichen Abstand geschrieben, als die scharfen Winde um Celans poetische Botschaft sich schon allmählich gelegt hatten, kann auch heute als Beispiel einer ausgewogenen und objektiven Wertschätzung gelten, die Celans Rolle im deutschen Literaturprozess der Nachkriegszeit nur bestätigt. Umso notwendiger ist es zu erkennen, dass ganz am Anfang dieses exemplarischen Weges des jungen Dichters der Band stand, der das Programm seiner weiteren poetischen Entwicklung bereits im Kern enthielt, – »Mohn und Gedächtnis«.

12 Heinz Piontek. Celan, Paul. Mohn und Gedächtnis. In: Welt und Wort (Tübingen). 8. 1953. Nr. 6, S. 200–201. 13 Hans Egon Holthusen. Fünf junge Lyriker (H. Piontek, W. Höllerer, G. Forestier, A. A. Scholl und Paul Celan). In: Merkur. 8 Jg., Nr. 73 u. 74. 1954, S. 385–390. 14 Karl Krolow. Erinnerung an einen großen Gedichtband: Paul Celans »Mohn und Gedächtnis«. In: Die Tat (Zürich). 4. 1. 1975. S. 15.

Von Schwelle zu Schwelle: Das Niederreißen von Schranken

Drei Jahre nach dem Erscheinen des Debütbandes »Mohn und Gedächtnis« (1952) kam in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart der neue Gedichtband Paul Celans »Von Schwelle zu Schwelle« (1955) heraus. Stammten Gedichte des ersten Bandes noch aus verschiedenen Orten wie Czernowitz, Bukarest, Wien und Paris, so umfasst »Von Schwelle zu Schwelle« nur dichterische Produkte der Pariser Zeit. Biographisch bedeuteten diese drei Jahre für Celan eine Periode der schwierigen Integrierung in die französische Gesellschaft, die sich sowohl in öffentlicher, als auch in privater Sphäre intensiv abwickelte. Am 23. Dezember 1952 heiratet er die französische Graphikerin Gisèle de Lestrange. Im August 1953 verschickt Claire Goll an deutsche Kritiker, Rundfunkleute und Verleger ihre ersten unhaltbaren Beschuldigungen, laut denen Celan seine Gedichte bei ihrem Mann, dem deutsch-französischen Dichter Ivan Goll, plagiiert habe. Am 7. Oktober 1953 wird dem jungen Ehepaar ihr erster Sohn François geboren, der bereits nach zwei Tagen stirbt. 1953 erscheint beim Rowohlt-Verlag Hamburg Celans Übersetzung des philosophischen Werkes Emil Ciorans »Lehre vom Zerfall« und ein Jahr später im Verlag der Arche Zürich – die Übersetzung des Dramas Pablo Picassos »Wie man Wünsche beim Schwanz packt«. Am 6. Juni 1955 wird der Sohn Eric geboren, und wenige Tage später erhält Celan offiziell die französische Staatsbürgerschaft. Am 23. Juni 1955 liegen die ersten Exemplare »Von Schwelle zu Schwelle« vor. So war der biographische Hintergrund, vor dem die 47 Gedichte des neuen poetischen Bandes entstanden sind. Manche dieser Ereignisse haben hier ihren spürbaren dichterischen Niederschlag gefunden. Sie markierten die wichtigsten Wendepunkte des Celanschen Lebens in den Jahren 1952–1955 und sind ein überzeugender Beweis dafür, wie eng seine Dichtung mit der Realität verbunden ist. »Ich habe nie eine Zeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte«1, – schrieb Celan später an seinen Jugendfreund Erich Einhorn. 1 Einhorn: du weißt um die Steine… Paul Celan – Erich Einhorn. Briefwechsel. Hrsg. u. kommentiert von Marina Dmitrieva-Einhorn. – Berlin: Friedenauer Presse 2001, S. 6.

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Schon im August 1954 kündigte Celan in einem Brief an den Verlag die Entstehung seines neuen Gedichtbandes an, den er bis Ende des Jahres abzuschließen gedachte. Am 14. Dezember konnte er dann wieder der DVA mitteilen, dass die Konturen des Buches inzwischen ganz deutlich geworden sind: »Der neue Gedichtband ist nun so gut wie abgeschlossen. Was noch nicht ganz feststeht, ist die Anordnung der auf drei Zyklen verteilten Gedichte – und der Titel«2. Doch auch diesmal gab es zwischen Autor und Verlag spürbare Reibungen, ausgelöst durch einige willkürlich vorgenommene einseitige Vertragsänderungen seitens der DVA sowie durch die etwas hastige Drucklegung des Buches, die ohne Autorisierung des Dichters erfolgte. »Die Herrschaften hatten, ohne meine Unterschrift abzuwarten, das Buch schon verkauft und gedruckt«3 – empörte sich der Dichter in einem Brief an seinen Stuttgarter Freund Hermann Lenz. Der Titel des Gedichtbandes wurde lange erwogen und mehrmals geändert. Zuerst wollte Celan sein Buch »Mit wechselndem Schlüssel« nennen, dann kamen die Titel »Inselhin« und »Argumentum e silentio« (lateinischer Ausdruck, in juridischer Praxis – ein Beweis, der im Verschweigen begründet ist) in Betracht und erst in der Endphase der Herstellung des Bandes entschloss er sich für den Titel »Von Schwelle zu Schwelle«. Genauso wurde auch mit der Widmung gespielt, die seiner Frau gelten sollte: die erste Variante »Für Almaviva« (eine intime Geheimchiffre für Gisèle) wurde dann durch ihren echten Vornamen ersetzt (»Für Gisèle«). Die Absicht, seinen nächsten Gedichtband ihr zu widmen, äußerte Celan noch bevor beide geheiratet haben. So schrieb er am 14. August 1952 an seine Braut: »Ich lese viel, um eines Tages ein neues Buch für Sie schreiben zu können. Das scheint umso dringlicher, als das erste ein unabhängiges Leben führen zu wollen scheint«4. Allein durch diese Widmung ist der neue Gedichtband an die persönliche Ebene des jungen Ehepaars eng gebunden. Sie sublimiert in sich nicht nur ihre gegenseitige Liebe und Nähe, sondern auch jenen schwierigen existenziellen Kampf, den beide bald nach ihrer Heirat austragen mussten – gegen den adeligen Hochmut der Familie Lestrange, die Celan als einen Ostjuden in ihren Schoß nicht aufnehmen wollte, gegen spürbare Nachteile seines Immigrantenstatus sowie gegen die elementare materielle Not, die es zu überwinden hieß. In diesem Kampf war Gisèle immer seine treueste Verbündete, 2 Editorisches Vorwort. In: Paul Celan. Von Schwelle zu Schwelle. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Bearbeiten von Heino Schmull u. a. – Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2002, S. 8 [Werke. Tübinger Ausgabe]. 3 Paul Celan – Hanne und Hermann Lenz. Briefwechsel. Mit Briefen von Gisèle Celan-Lestrange. Hrsg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Hanne Lenz. – Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2001, S. 28. 4 Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange. Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Hrsg. u. kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan. – Erster Band. Die Briefe. – Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 2001, S. 29.

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so dass seine Buchwidmung als Dank für ihr kompromissloses Beistehen betrachtet werden muss. Der Titel »Von Schwelle zu Schwelle«, der nach vielen Erwägungen endgültig gewählt wurde, ist programmatisch. In einem Brief vom 22. Februar 1955 an Jürgen Rausch, den damaligen DVA-Mitarbeiter, äußerte sich Celan dazu wie folgt: »Damit ist, so glaube und hoffe ich zumindest, außer einem gewiss nicht unwesentlichen Zug des Dichterischen, seinem liminaren (einleitenden, anfänglichen – P.R.) Charakter nämlich, auch das Nie-zur-Ruhe-Kommen des Poetischen angedeutet und mithin wohl auch der – schlechthin unerfüllbare – Unendlichkeitsanspruch jeglicher Aussage in diesem Bereich«5. Celan betont hier das dynamische Potenzial und die räumliche Offenheit des Schwellenbildes. Der Titel »Von Schwelle zu Schwelle« stellt eine Periphrase der unaufhörlichen Bewegung und des ewigen Strebens nach dem unerreichbaren Ideal dar. Er wurde dem Gedicht »Chanson einer Dame im Schatten« aus »Mohn und Gedächtnis« entnommen und sichert somit die motivische Verbindung mit dem vorherigen Gedichtband des Dichters. Die tiefere Dimension dieses Bildes enthüllt sich, wenn man an die Symbolik des Begriffs »Schwelle« in seinem mythologischen Ausmaß denkt. »Schwelle« ist in vielen mythologischen Systemen ein Grenzsymbol, der einen Übergang bedeutet: vom Profanen zum Heiligen, vom Realen zum Transzendenten, von der alten in die neue Welt. Es ist eine Wasserscheide, die Linie der Abgrenzung und des Zusammentreffens. »Diese wird ritualisiert in der Zeremonie des »Niederreißens der Schranken« bekräftigt, wodurch der Bereich des Raumes in der gleichen Art und Weise neu bestimmt wird wie in Neujahrsfeiern die Zeit. Das Versinken im Wasser, das Betreten eines dunklen Waldes oder eine Tür in einer Wand sind Schwellensymbole für das Betreten des gefahrvollen Unbekannten»6. Dies alles sollte der damaligen Weltempfindung Celans entsprechen, der sich in Paris allmählich heimisch macht und den Übergang von seiner unsicheren osteuropäischen Existenz zur Stabilität mehr oder weniger gesicherter Verhältnisse, von der mit tragischen Erfahrungen beladenen Vergangenheit zur relativ ausgewogenen Gegenwart, von seiner Jugend zu seiner Reifezeit verwirklicht. Er selbst nennt sich gelegentlich ein »Schwellenwesen«, »halb von gestern, halb von heute«, »zwischen mehr oder minder geschichtslosen »Östlichkeiten« und herbstendem Okzident« sitzend7. Viele Gedichte des Bandes sind von diesem Gefühl des Unterwegsseins gezeichnet. Auch die innere Gliederung des Bandes entspricht seiner Schwellentendenz. Celan hat sein Buch in drei Binnenzyklen aufgeteilt: »Sieben Rosen später«, »Mit 5 Editorisches Vorwort. In: Paul Celan. Von Schwelle zu Schwelle. Vorstufen – Textgenese – Endfassung, S. IX. 6 Cooper Jean C. Lexikon alter Symbole. Aus dem Englischen übersetzt von Gudrun u. Matthias Middel. – Leipzig: E. A. Seemann Verlag 1986, S. 171. 7 Paul Celan – Hanne und Hermann Lenz. Briefwechsel, S. 41.

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wechselndem Schlüssel« und »Inselhin«. Alle drei Titel konnotieren die Semantik der zeitlichen oder räumlichen Bewegung und somit die Schwellenproblematik. Der Titel des ersten Zyklus ist dem Gedicht »Kristall« entnommen, das aus dem vorherigen Band »Mohn und Gedächtnis« stammt und sorgt dafür, dass die assoziative und motivische Beziehung zwischen beiden Bänden aufrecht erhalten bleibt. Der zweite und der dritte Zyklus verdanken ihre Namen den jeweiligen Gedichten des neuen Bandes. Abgesehen von der »Grabschrift für François« haben die Gedichte keine genaue Datierung und unterliegen keinem chronologischen Prinzip, so dass ihre zeitliche Nachbarschaft recht unverbindlich ist. Das wird sich schon im nächsten Band »Sprachgitter« ändern, denn die Goll-Affäre sollte Celan zur überaus genauen und strengen Dokumentierung jedes seiner poetischen Texte zwingen. Im ersten Binnenzyklus »Sieben Rosen später« überwiegt noch die Liebesproblematik, was bereits mit dem Stichwort »Rosen« als traditionellem Liebessymbol vorgegeben ist. Auch hier ist die Liebe vom Gedächtnis an die jüdischen Toten nicht zu trennen, was für Celan schon in »Mohn und Gedächtnis« charakteristisch war. In beiden weiteren Zyklen des Bandes taucht diese Verquickung von Grundmotiven seiner Dichtung wieder auf. Die Liebe ist durch den Tod (auch des eigenen Kindes) überschattet. In diesem Sinne ist »Grabschrift für François«, die den zweiten Zyklus »Mit wechselndem Schlüssel« eröffnet, »Kristallisationspunkt« des ganzen Bandes, wie es Celan in einem Gespräch mit Otto Pöggeler formuliert hat8. Durch dieses trübe Prisma erscheint die Liebe nicht mehr als pure Glücksempfindung, sondern als ein ambivalentes Gefühl, das zugleich Freude und Trauer in sich einschließt. »Innerhalb des gesamten Bandes wird die Gefahr der Verdrängung der Erinnerung an die Toten durch die neue Liebe dadurch gebannt, dass die Gedichte diese Liebe problematisieren und letztlich in den existenziell bestimmenden Diskurs des Totengedenkens eingliedern, wobei der Tod des gemeinsamen Kindes den Angelpunkt dieser Integrationsfigur bildet«9, – meint Markus May. Es ist daher kaum möglich, das Liebesmotiv von anderen Motiven und Bildkomplexen abzusondern, die das wachsame Gedächtnis des Autors ihm immer wieder liefert, während es auch seine ermordeten Eltern (z. B. in »Mit Äxten spielend« oder »Vor einer Kerze«) sowie unzählige anonyme Opfern des Holocausts in diesen Kreis hineinnimmt. Im zweiten und dritten Binnenzyklus nehmen dann religionsphilosophische (»Aufs Auge gepfropft«, »Der uns die Stunden zählte«, »Assisi«) und poetologische (»Abend der Worte«, »Welchen der Steine du hebst«, »In memoriam Paul 8 Pöggeler Otto. Der Stein hinterm Aug. Studien zu Celans Gedichten. – München: Wilhelm Fink, 2000, S. 42. 9 Celan- Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler 2008, S. 65–66.

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Eluards«, »Schibboleth«, »Sprich auch du«, »Mit zeitroten Lippen«, »Argumentum e silentio«, »Die Winzer«) Akzente zu, die vor allem sprachreflexive Fragen intonieren. Viele Gedichte decken dichte intertextuelle Schichten auf, während sie zu philosophischen, kulturhistorischen, literarischen und künstlerischen Anspielungen greifen. Man kann hier Zitate oder Reminiszenzen aus den Werken von Parmenides, Franz von Assisi, Hölderlin, Jean Paul, Gustav Schwab, Nietzsche, Joyce, Yeats, Rilke, Else Lasker-Schüler, Paul Eluard, Martin Buber, Gershom Scholem u. a. finden. Die häufigsten Motive, die immer wieder in den Gedichten des Bandes vorkommen, sind Auge, Haar, Hand, Mund, Herz, Rose, Baum, Stein, Sand, Wasser, Meer, Wolke, Schnee, Eis, Licht, Schatten, Kerze, Faden, Stunde, Zeit, Nacht, Welt, Name, Wort sowie ihre zahlreichen Derivate. Die meisten dieser Schlüsselbilder, die auch in seinen späteren Gedichtbänden dominieren werden, beziehen sich hauptsächlich auf die Anatomie des Menschen sowie auf ursprüngliche Naturelemente und Naturerscheinungen, viel seltener begegnen wir hier Begriffen und Realien aus abstrakter oder gesellschaftlicher Sphäre. Auch Celans Vielsprachigkeit hat in Gedichten dieses Bandes ihre Spuren hinterlassen, während er Wörter, Redewendungen oder Sentenzen aus verschiedenen alten und neuen Sprachen verwendet, so z. B. aus dem Hebräischen (Schibboleth), Altgriechischen (Kenotaph), Lateinischen (Argumentum e silentio), Spanischen (No pasaran). Dieser Außenseiter und Fremdling, geboren am Rande des deutschen Sprachraums (was die deutsche Kritik ihm als »Eindringling« nie verzeihen wollte), demonstriert hier wieder ein erstaunlich feines und tiefes Sprachgefühl und bereichert seine deutsche Muttersprache mit Neuschöpfungen, die wesentlich ihre Grenze erweitern (Baumwort, lidweit, nachtverhangen, sömmernd, gedankenfarben, Flügelnacht, Zwillingsröte, Mittnacht, Doppelsilber, Sonnengrab, Spätmund, Lichtstumpf usw.), oder mit alliterierenden und paradoxen Wortspielen wie »die Zungen der Sehnsucht, / die Zangen«, »und tragen das Grün in dein Immer«, die ihn als einen der hellhörigsten sprachlichen Könner profilieren. Bereits in »Von Schwelle zu Schwelle« entwickelt der Dichter seine seltene Gabe, durch vielschichtige Wortbedeutungen zu neuen semantischen Dimensionen und noch nicht erschlossenen Bildräumen vorzudringen, worin Jacques Derrida am Beispiel der Schibboleth-Chiffre das Grundprinzip seiner Dichtung durchschaute10. »Schibboleth«, ein Wort aus dem Alten Testament, bedeutet auf Hebräisch »Ähre« oder »Woge«. Es diente für die Leute Jeftahs als Erkennungszeichen in ihrem Kampf gegen die Ephraimiter, die es nicht richtig aussprechen konnten (Richter, 12, 1–7). Somit symbolisiert dieser Begriff, den schon Martin Buber für die Begründung seines »dialogischen 10 Derrida Jacques. Schibboleth: Für Paul Celan. Hrsg. von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Wolfgang Sebastian Baur. – Wien: Passagen-Verlag 2002.

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Prinzips« verwendete, ein poetologisch-sprachkritisches Problem, wie es noch Hugo von Hofmannsthal in seinem »Brief des Lord Chandos« verstand, und skizziert Möglichkeiten eines Sprechens schlechthin sowie des von Celan angestrebten anderen Sprechens. Bereits mit dem Gedichtband »Von Schwelle zu Schwelle« beginnt Celans ästhetische Umorientierung, während er sich von den neoromantisch oder surrealistisch geprägten Bildstrukturen seiner frühen Gedichte allmählich entfernt, um eine neue – viel sachlichere und nüchternere – poetische Sprache zu finden. Das hängt mit der emotionalen und gedanklichen Verarbeitung geschichtlicher Prozesse der neuesten Zeit zusammen, vor allem mit der Erfahrung des Holocaust und der Veränderung seiner Vorstellungen über Wesen und Form der Dichtung »nach Auschwitz«. Die Konfrontation mit dieser schmerzhaften Problematik lässt ihn nicht nur thematische Richtungslinien und den bildlichen Charakter seiner lyrischen Texte neugestalten, sondern auch seine sprachlichen und stilistischen Mittel stark reduzieren. Auf der Suche nach adäquater Sprache seiner Dichtung verwirft er überlieferte Modelle der rein ästhetischen Aussage zugunsten der poetischen Wirklichkeit, die sich nicht mehr in schönem Bild und harmonischem Klang, sondern im Wahren als Maß des Poetischen verwurzelt weiß. Das war aber ein langwieriger Prozess, der auch in den nächsten Gedichtbänden seine Fortsetzung haben sollte. »In diesen Jahren – schreibt dazu Wolfgang Emmerich – war der Rückzug ins Schweigen zwar eine Erwägung, aber er fand nicht statt. Vielmehr entwarf Paul Celan eine Poetik der Dichtung, die einerseits eine Absage an sein eigenes bisheriges Ideal des schönen Gedichts bedeutete und andererseits ein Weitersprechen auch angesichts von Schinderohren und falschen Lobgesängen ermöglichte«11. Natürlich musste es auch die Veränderung der äußeren Gestalt, der Architektonik des Gedichts nach sich ziehen – sie werden nun knapper, straffer und inhaltlich dichter an Substanz. Der neue Gedichtband Celans entstand noch aus der geborgenen Atmosphäre der jungen Liebe und enger Freundschaften, was nicht nur in der Widmung des Buches an seine Frau, sondern auch in den Zueignungen einzelner Gedichte an die nächsten Freunde des Dichters seinen Ausdruck fand. So sind einige wichtige Texte Hannah und Hermann Lenz (»Nächtlich geschürzt«), René Char (»Argumentum e silentio«) oder Nani und Klaus Demus (»Die Winzer«) gewidmet. Ein anderes wichtiges poetologisches Gedicht trägt den Titel »In memoriam Paul Eluard«. Damit werden auch der damalige Freundeskreis Celans und seine ästhetischen Präferenzen umrissen, was für die Geschichte der Entstehung des Bandes nicht ohne Relevanz ist.

11 Emmerich Wolfgang. Paul Celan. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 96–97.

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Eine treffende Charakteristik dieser poetischen Leistung gibt in einem seiner Briefe an Celan sein Stuttgarter Dichterfreund Hermann Lenz, indem er den neuen Band mit Celans poetischem Debütbuch vergleicht und ihn nicht nur als eine biographische und wirklichkeitsbezogene Einheit wahrnimmt, sondern auch als den Weg von der Einsamkeit zur Utopie der menschlichen Solidarität beschreibt: »Der Band erscheint mir geschlossener als »Mohn und Gedächtnis«, obwohl ich – und das ist mir bei Gedichten immer besonders wichtig – dort die Stationen Deines Weges zu erkennen glaube. Die neuen Gedichte zeigen eine Konzentration auf das Wesentliche, und ich beneide Dich um die Sicherheit, mit der Du Deinen Weg fortgesetzt hast«. Und weiter heißt es: »In »Von Schwelle zu Schwelle« ist eine große Einsamkeit zu spüren, das Buch ist ein Brevier für alle »Nachtgewiegten«, die durch weiße Fäden miteinander verbunden sind. Einen besseren Titel konntest Du für dieses Buch nicht finden»12. Diese Worte könnten als Antwort an jene Kritiker und Rezensenten adressiert sein, die in Celans Gedichten wieder zu willkürliche Metaphern und den Mangel an Wirklichkeitsbezug feststellten und von den surrealistischen Anklängen oder gar epigonalen Zügen sprachen. Heute erscheinen solche Anschuldigungen als grundlos, überholt und wissenschaftlich unproduktiv. Celans zweiter Gedichtband bestätigte den Vektor seiner poetischen Entwicklung, der in »Mohn und Gedächtnis« angebahnt wurde. Durch die Vertiefung und Weiterentwicklung seiner durchgehenden Bilder und Leitmotive (Liebe und Tod, Dichtung und Sprache, Totengedenken und menschliche Solidarität), durch die dialogische Struktur seiner Gedichte, den regen Appell an den Anderen, erkämpfte sich dieser Band einen festen Platz in der deutschen Nachkriegslyrik als poetisches Buch von seltener Eindringlichkeit und tiefstem Wahrheitsgehalt.

12 Paul Celan – Hanne und Hermann Lenz. Briefwechsel, S. 30.

Sprachgitter: Auf der Suche nach der »graueren Sprache«

Der 1959 bei S. Fischer Verlag erschienene dritte Gedichtband Paul Celans Sprachgitter ist seinem Umfang nach der schmalste in seinem dichterischen Gesamtwerk. Doch sollte sein spezifisches Gewicht im Kontext der schöpferischen Entwicklung des Lyrikers wohl der schwerste sein. Die Verdichtung der poetischen Sprache zeigt sich bereits im Titel des Bandes. Im Vergleich zu beiden vorherigen Bänden – Mohn und Gedächtnis und Von Schwelle zu Schwelle, – deren Titel noch aus einigen Wortkomponenten bestanden, drückt der neue Titel sein poetologisches Programm in einem einzigen Wortkompositum aus, das eine Grenzdichte der semantischen und bildlichen Ebenen in sich birgt. Dieses Wort ist im Deutschen kaum verbreitet und klingt etwas ungewöhnlich und verfremdend. Doch ist es keine willkürliche Neuschöpfung Celans. Im Grimmschen Wörterbuch der deutschen Sprache findet es sich mit der Erklärung seiner Bedeutung wie folgt: »in nonnenklöstern das gitter (gegitterte fenster) im sprachzimmer, wodurch die nonne mit weltlichen sprechen darf« (Bd. 16, Sp. 2758). In diesem Sinne bedeutet es dann »eine Begrenzung, Behinderung, Einschränkung – aber auch Ermöglichung des Sprechens, ein Gitter zwischen Sprechenden«1. Metaphorisch wird es von Jean Paul in seinen Romanen mehrmals gebraucht. So lesen wir im Hesperus über die augenkranke Fürstin Agnola, deren »Auges Tapetentür und Sprachgitter schwarz verhangen war«2. Oder etwas weiter, in der Episode, wo Emmanuel seinen Tod erwartet und den Blick in das Transzendentale richtet: »Die Stille ist die Sprache der Geisterwelt, der Sternenhimmel ihr Sprachgitter – aber hinter dem Sternengitter erschien jetzt kein Geist, und Gott nicht.«3 Den gleichnamigen Titel haben auch ein Gedichtzyklus sowie eines der zentralen Gedichte des Bandes, das programmatisch ist und mit dem Titel des Bandes aufs engste korrespondiert, ihn noch vielmehr verstärkt. 1 Alfred Kelletat. Accessus zu Celans »Sprachgitter«. In: Über Paul Celan. Hrsg. von Dietlind Meinecke. Zweite, erweiterte Auflage. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1973, S. 116. 2 Jean Paul. Werke in 6 Bänden (Hanser-Klassiker-Ausgabe). München 1959–1963, I, 918, 23. 3 Ebenda, I, 1135, 3–5.

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Der Band umfasst lediglich 33 Gedichte, die zwischen dem 6. 3. 1955 und dem 3. 11. 1958 entstanden sind. Für Celan war diese Zeit von mehreren wichtigen Ereignissen gezeichnet, zum Teil recht untröstlichen, wie materielle Unsicherheit (derentwegen er vom Januar bis Mai 1956 die Arbeit des Übersetzers am Bureau International du Travail in Genf übernehmen musste) oder die ersten Vorzeichen der Goll-Affäre und das Ausbleiben der erhofften Solidarität seitens deutscher Autoren und Kritiker, die Zunahme antisemitischer Stimmungen in Deutschland und das Erstarken der Rechten in Frankreich. In dieser Zeit überschritt er jene symbolische Schwelle, die von Dante oder Hölderlin als »Mitte des Lebens« bezeichnet wird und psychologisch nach einer Rückschau verlangte. Dies alles führte ihn mittlerweile zur Resignation, die auch seine Schaffenskraft lähmte und Schreibhemmungen verursachte. In einem Brief an seinen Freund Hermann Lenz, der in diese Lebensphase fällt, lesen wir: »Aber glaub mir, ich hätte längst geschrieben, wenn – ich noch schreiben könnte. Denn ich habe ein so wortloses Jahr hinter mir – hinter mir? –, dass ich daran zweifeln muss, ob dieser Zustand je ein Ende findet«4. Es gab dafür aber auch andere, immanentpoetische Gründe, die vielleicht von einer noch wichtigeren Relevanz waren, – in dieser Zeit vollzieht sich bei ihm eine Umwertung seiner bisherigen dichterischen Prinzipien, allmählich formt sich ein neues Verständnis der Poesie, ihrer Bestimmung und Aufgaben. Am deutlichsten äußert er seine neuen poetologischen Ansichten in der Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris vom 1958, in der es heißt: Die deutsche Lyrik geht, glaube ich, andere Wege als die französische. Düsteres im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie misstraut dem »Schönen«, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also, wenn ich, das Polychrome des scheinbar Aktuellen im Auge behaltend, im Bereich des Visuellen nach einem Wort suchen darf, eine »grauere« Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre »Musikalität« an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem »Wohlklang« gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte. Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision. Sie verklärt nicht, »poetisiert« nicht, sie nennt und setzt, sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen.5

Von großer Bedeutung ist in diesem Band die innere Strukturierung und Gliederung der Texte, d. h. die Zyklisierung der Gedichte. Die Anordnung, nach der sie hier organisiert sind, folgt nicht mehr dem chronologischen Prinzip, sondern 4 Paul Celan / Hanne und Hermann Lenz. Briefwechsel. Mit drei Briefen von Gisèle CelanLestrange. Hrsg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Hanne Lenz. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2001. S. 49. 5 Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1990, S. 21–22.

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entspricht den thematischen Kriterien. Die wichtigsten thematischen Komplexe gruppieren sich um einige Leitmotive, die in den Gedichten mehrfach auftauchen, sich überschneiden und variiert werden. Die Architektonik des Gedichtbandes wird von einer außerordentlichen Strenge bestimmt – es gibt in der Geschichte der Weltliteratur nur wenige Beispiele einer so gut strukturierten, so tief durchdachten, bis in die kleinsten Details ausgearbeiteten Komposition eines Gedichtbandes. Im Unterschied zu den beiden bisherigen poetischen Büchern, die noch mit Zwischentiteln ausgestattet waren, sind die Zyklen von Sprachgitter nur mit römischen Zahlen bezeichnet. Dadurch wird die symmetrische Struktur, die »Geometrie« des Gedichtbandes hervorgehoben, der aus sechs zyklischen Komponenten besteht, wobei fünf von ihnen eine zahlenmäßige Markierung tragen und der letzte, sechste Zyklus, einen eigenständigen verbalen Titel hat: Engführung. In der Mitte des Gedichtbandes steht das Gedicht Schuttkahn, das aus zwei Vierzeilern besteht, die durch eine gepunktete Linie aufgeteilt sind. Diese Linie erfüllt die Funktion des »Äquators« des Bandes. Das Prinzip der Spiegelsymmetrie ist hier mit einer geradezu mathematischen Genauigkeit durchgeführt, was auch die Gedichtszahl jedes Zyklus anbetrifft – vor dem in der Mitte des Bandes eingeordneten Gedicht Schuttkahn (das zugleich das letzte des III. Zyklus ist, aber als zentrale Achse des Bandes eine gesonderte Stelle einnimmt) zählen die drei Zyklen 16 Gedichte (I – 1, II – 7, III – 8) und die nächsten drei Zyklen (inklusive Engführung) – wiederum 16 Gedichte, jedoch in entgegengesetzter Reihenfolge (IV – 8, V – 7, VI (Engführung) – 1). Dieser eigentümliche »Zahlen-Chiasmus« ist sehr beeindruckend und zeugt davon, welch großen Wert Celan auf die Strukturierung seines Gedichtbandes gelegt, wie präzise er damit gearbeitet hat. Mit dem Titel des Bandes verband Celan vor allem die Sprachproblematik, die Modalitäten des Sprechens eines deutschjüdischen Dichters nach dem Trauma des Holocaust. Wie die Vor- bzw. Zwischenstufen des Bandes zeigen, hat der Dichter zuerst erwogen, jedem Zyklus einen eigenen Titel zu geben. In einem Brief vom 4. August 1958 an den damaligen Leiter des S. Fischer Verlags Rudolf Hirsch, der einige Bedenken gegenüber dem von Celan angebotenen Titel hatte, schreibt er: Sprachgitter: dieser Titel kam seinerzeit unüberhörbar auf mich zu […], ich habe jetzt wieder das Unabdingbare dieses Titels im Ohr, bitte lassen Sie ihn mir! In meiner Vorstellung sollte auch der mittlere Zyklus des Bandes so heißen, diesem Zyklus gehen zwei andere vorauf, Stimmen und Stimmlos, auf Sprachgitter (als Zyklus) folgen die Zyklen Stimmhaft und Engführung – darin soll Konzeption und Struktur des Ganzen zum Ausdruck kommen.6 6 Paul Celan / Rudolf Hirsch. Briefwechsel. Hrsg. von Joachim Seng. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 47.

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Obwohl diese Titel in die Endfassung des Bandes nicht aufgenommen wurden, zeigen sie ganz gut, welche thematische Richtung der Dichter damit verfolgt hat. Es ging ihm um die Sprache, die sich vor allem durch die Stimme realisieren lässt. In der Zeit der Naziherrschaft musste sie aber, wie es in seiner Bremer Rede heißt, »durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten […], durch furchtbares Verstummen […], durch die Tausend Finsternisse todbringender Rede«7 hindurchgehen, infolgedessen sie dem Ersticken nah war. Somit berührt hier der Dichter eines der schmerzhaftesten poetologischen Probleme – wie kann die Sprache nach »all dem« wieder stimmhaft werden. Dieser Weg führt also von der Stimmlosigkeit zur Stimmhaftigkeit, er ist aber nicht direkt, er muss durch diese tragische Erfahrung hindurchführen, durch das »Sprachgitter« und die »Engführung«. Zur Zeit der Entstehung des Gedichtbandes Sprachgitter las Celan intensiv naturwissenschaftliche Literatur, darunter auch Texte aus dem Bereich der Geologie und der Mineralogie. Aus der letzten sollte er den Begriff des Kristalls entnommen haben, das ihm als Vorlage für sein Schlüsselbild Sprachgitter dienen könnte. Wie ein Kristall seine innere Struktur dem entsprechenden Raumgitter verdankt, so sollte der Aufbau seines Gedichtbandes eine ähnliche kristalline Struktur des Sprachgitters aufzeigen. Christoph Schwerin, der auf diesen Bezug hinweist, meint, dass für Celan »der Kristall Gedicht bedeutete und zugleich Welt und Wirklichkeit, Innenwelt und unbegrenzte Zeitlichkeit«8. Das klare strukturelle Gitterprinzip eines Kristalls bestimmt in großem Maße auch Ebenmaß und Durchsichtigkeit des Gedichtbandes von Celan. Die beiden umfangreichen Gedichte – Stimmen und Engführung –, die das Buch als eigenständige Zyklen eröffnen und abschließen, bilden somit seine Umrahmung und verstärken die Symmetrie und Abgeschlossenheit des Bandes. Diese ausgeprägte strukturelle Gliederung hat aber noch eine – musikalische – Facette, die darin besteht, dass die Komposition von Sprachgitter ganz deutlich nach dem Prinzip der Fuge aufgebaut ist. Die Fuge (lat. fuga, buchstäblich »Flucht«) ist bekanntlich ein musikalisches Kompositionsprinzip polyphoner Mehrstimmigkeit, bei der ein musikalisches Thema in verschiedenen Stimmen durchgeführt und immer wieder auf unterschiedlicher Tonhöhe variiert wird. Aus dieser Sicht könnte man den Stimmen-Zyklus als eine »Exposition« betrachten, in der das Thema (Dux, lat. Führer) und ihre Variation (Comes, lat. Gefährte) zum ersten Mal exponiert werden, denen darauf in vier weiteren Zyklen die sog. »Durchführungen« folgen. In der Regel wird die Fuge mit einer virtuosen Steigerung (Engführung, ital. stretto) abgeschlossen, wobei die Einsätze sich quasi überstürzen. Dieses musikalische Verfahren, das ungefähr den 7 Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1990, S. 38. 8 Christoph Schwerin. Bitterer Brunnen des Herzens. Erinnerungen an Paul Celan. In: Der Monat (Weinheim). – 33. Jg., Nr. 279, S. 75.

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Kanon nachahmt (der Begriff »Fuga« wurde bereits im 14. Jahrhundert auch für den Kanon verwendet), ist am krassesten im letzten Zyklus des Celanschen Bandes (Engführung) realisiert worden, wo die letzten Worte der vorhergehenden Partie von der nächsten aufgegriffen und als ihr Echo wiederholt werden. Auf diese Weise werden einzelne Partien kranzartig zu einer Einheit gewunden. Das musikalische Prinzip verursacht in Sprachgitter auch die Technik der Leitmotive, die den Gedichtband durchdringen. Im ersten Zyklus dominiert das Motiv der Stimme als einer empirischen Form und Verkörperung des Sprechaktes und der Sprache schlechthin. Die Sprechbegabung ist von allen Lebewesen nur dem Menschen eigen, es ist also seine immanente Charakteristik. Die Unfähigkeit zu sprechen oder der Verlust der Sprache sind dem geistigen Tode des Menschen gleich. Daher ist das helle Erklingen der menschlichen Stimme eine Vorbedingung des bewussten Daseins. Im Stimmen-Zyklus kommen verschiedene Sprecharten vor – Stimmen, denen die Sprache weggenommen ist, oder jene, die in ihrem Sprechen nur flüstern dürfen, alttestamentarische Stimmen der Erzväter, die durch Jahrhunderte ihre fernen Nachkommen beschwören – bis zu völligem Erlöschen der Stimme (»keine Stimme«), anstatt derer nur ein »Spätgeräusch« noch zu hören ist. Stimme ist hier auch mit dem poetischen Sprechen identisch, es ist für Celan ein durchaus selbstreflexives Thema, das mit der Existenz der Dichtung »nach Auschwitz« und mit seinen biographischen Umständen zu tun hat. In dem zweiten Zyklus, der in den Vorstufen noch den Titel Stimmlos hatte, wechselt das Stimmhafte ins Visuelle, wobei sich das Gesehene dann in seelischen Prozessen verinnerlicht. Das Motiv des Auges (Zuversicht, Unten), der Seh- und Wahrnehmungsfähigkeit sowie der Hindernisse, die auf diesem Wege stehen (Schliere im Aug), die Trauer um das Verlorene bestimmen die Thematik dieses Zyklus. Das lyrische Ich entgleitet hier »ins Stumme« (Heimkehr), die Stimme »sickert« nur noch (Heute und morgen). Der dritte Zyklus beginnt mit dem Gedicht Tenebrae und leitet nicht nur das Motiv der Dunkelheit, sondern auch die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gottesglauben sowie das Leitmotiv des Holocaust ein. Weitere Motive des Auges (Sprachgitter, Schneebett), der Hand (Matière de Bretagne), des Wortes (Blumen), des Steins (Nacht, Schuttkahn) und seiner verschiedenen Erscheinungsformen (»Kies und Geröll«, »Schutt«) weisen auf sprachreflexive Problematik und auf die Suche nach der »graueren Sprache« hin. Hände und Augen sind hier Zeichen einer Bemühung um den ausbleibenden Dialog. Poetische Landschaften zeigen Bilder der anorganischen Natur – Öde, Wüste, Schneebett, »eiternde Hänge«, die als verfremdete Sprachlandschaften verstanden sind. Der allgemeine Ton ist düster, »herzgrau«, von Trauer erfüllt. Das programmatische Gedicht Sprachgitter artikuliert Unmöglichkeit oder Schwierigkeiten der Kommunikation.

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Erst in beiden nächsten Zyklen werden die Stimmen wieder vernehmbar (in der Vorstufe des Bandes als Stimmhaft betitelt). Am Anfang des vierten Zyklus steht das Gedicht Köln, Am Hof, das auf die Wiederaufnahme der Liebesbeziehung zu Ingeborg Bachmann zurückgeht, und mit ihm kommt auch das erotische Motiv in diese Gedichte wieder mit hinein: »Herzzeit« (In Mundhöhe, Eine Hand, Aber, Allerseelen). Die wiedereroberte Fähigkeit zu sprechen wird vom Motiv des Atems begleitet, das zugleich das freie poetische Sprechen symbolisiert. Bildliche Begriffe von Mund, Lippe, Licht (Leuchter), Brunnen, Stunde, Stern beflügeln mehrere Gedichte aus diesen Zyklen, obwohl auch die Leitmotive des Auges und des Steins wieder auftauchen und elliptische Bilder der Meereslandschaften (Niedrigwasser) und Ödplätze (Entwurf einer Landschaft, Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt) als imaginäre Sprachlandschaften zutage treten. Genauso wird die Zeit- (»ihr Uhren tief in uns«) und Schmerzproblematik (»den Widerhaken gefühlt«) thematisiert, was manche Gedichte wieder an die Grenze des Schweigens rückt. Eine Sonderstellung nimmt im Sprachgitter-Band der abschließende Zyklus Engführung ein, der nicht nummeriert ist und schon dadurch aus dem Kontext der anderen fünf Zyklen herausragt. Nur ein Gedicht Celans wurde bisher mit der Relevanz eines ganzen Gedichtzyklus so deutlich hervorgehoben – die Todesfuge aus dem Band Mohn und Gedächtnis (1952). Engführung ist das längste und umfangreichste Gedicht Celans, das aus neun Teilen besteht, die der Dichter Partien nennt. Einzelne Partien sind durch Asterisken und Leerstellen voneinander abgesetzt, aber durch die kanonartige Technik der Verflechtung ihrer Themeneinsätze auch eng miteinander verbunden. Gleich der Rahmenstruktur des Sprachgitter-Bandes, hat auch die Engführung eine kreisförmige Strukturierung: die Anfangszeilen »Verbracht ins / Gelände / mit der untrüglicher Spur« werden am Ende des Gedichts fast wörtlich wiederholt. Wie seinerzeit schon Marlies Janz festgestellt hat, führt das Gedicht zwei historische Themen zusammen: die Ereignisse in den faschistischen Vernichtungslagern während des Zweiten Weltkrieges und die Abwürfe der ersten beiden Atombomben auf japanische Städte Hiroshima und Nagasaki im August 19459. Diese beiden Themen korrespondieren in Engführung mit dem den Gedichtband Sprachgitter durchdringenden Thema des schmerzhaften Sprachverlusts, des poetischen Verstummens. Den Schlüssel zum tieferen Verständnis eines der wichtigsten Ausgangspunkte seiner Engführung gab Celan selbst im Brief an seinen Czernowitzer Jugendfreund Erich Einhorn vom 10. August 1962, in dem er die von Diogenes Laertius überlieferte Worte des altgriechischen Philosophen Demokrit anführt: 9 Marlies Janz. Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Frankfurt a. M.: Syndikat 1976, S. 75.

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In meinem letzten Gedichtband (Sprachgitter) findest Du ein Gedicht, Engführung, das die Verheerungen der Atombombe evoziert. An einer zentralen Stelle steht, fragmentarisch, dieses Wort von Demokrit: »Es gibt nichts als die Atome und den leeren Raum; alles andere ist Meinung«. Ich brauche nicht erst hervorzuheben, dass das Gedicht um dieser Meinung – um der Menschen willen, also gegen alle Leere und Atomisierung geschrieben ist.10

In einem gewissen Sinne kann man Celans Gedicht Engführung als ein Pendant zu seiner Todesfuge betrachten. Manche Celan-Forscher behaupten, es sei sogar ein Widerruf der Todesfuge. Der Dichter selbst hat diese Deutung in einem Gespräch mit Hans Mayer heftig dementiert, indem er ihm entgegnete: »Ich nehme nie ein Gedicht zurück, lieber Hans Mayer!«11. Bei all den thematischen (Holocaust) und gattungsmusikalischen (Fuge) Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Gedichten existieren hier jedoch gravierende Unterschiede, die durch radikale Änderung ästhetischer und poetologischer Prinzipien des Dichters in den Jahren zwischen ihrer Entstehung verursacht sind. Von diesem Standpunkt aus bedeutet die Engführung keine Zurücknahme, sondern eine Weiterentwicklung der Todesfuge, ein neues Stadium poetischer Reflexion. Als fugenartige Konstruktion kondensiert die Engführung all seine Themen, Bilder, Form- und Sprachelemente bis zur kristallinen Dichte, »führt« sie gleichsam durch die Enge, infolgedessen nur noch ein Substrat, ein bloßes Gerüst der Wirklichkeit bleibt. Diese Dichte entsteht nicht zuletzt auch dank den zahlreichen intertextuellen Bezügen, die in der Engführung als Reminiszenzen, Anspielungen, implizite und explizite Zitate verschlüsselt sind und die erst nach der entsprechenden Re-Codierung durch den Leser zutage treten (so z. B. Bezüge zur Bibel, zu den altgriechischen Philosophen Demokrit und Empedokles, zu Dante, Hölderlin, Jean Paul, Nietzsche, Franz Rosenzweig, zu dem französischen Dokumentarfilm von Alain Resnais Nacht und Nebel, dessen von Jean Cayrol stammenden Begleittext Celan ins Deutsche übersetzt hat usw.). Diese poetische Verfahrensweise charakterisiert aber nicht nur die Engführung, sondern den ganzen Gedichtband Sprachgitter, der durch seine thematische Palette und kompositorische Eigenschaften das neue Prinzip von Celans Schaffen verkörpert. Der Gedichtband, – so Joachim Seng, – erscheint als sprachliches Gitterwerk, das unbesetzten, freien Raum lässt, der zum inneren Aufbau des Ganzen gehört, wie zu Sprechen das Schweigen. Erst dieser Zwischenraum ermöglicht, gemeinsam mit dem kompositorisch strengen Aufbau des Bandes, jene vielschichtige Kommunikation

10 Einhorn: du weißt um die Steine… Paul Celan – Erich Einhorn. Briefwechsel. Hrsg. u. kommentiert von Marina Dmitrieva-Einhorn. Berlin: Friedenauer Presse 2001, S. 7. 11 Hans Mayer. Erinnerung an Paul Celan. In: Merkur 24 (1970), Heft 12, S. 1158.

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zwischen den Gedichten des Bandes, Gedichten anderer Bände sowie fernen und nahen Personen, mit denen sich im Gedichtraum eine Begegnung vollzieht.12

Somit ist das Schweigen eine wichtige Konstituente dieses Gedichtbandes, Pausen und Leerstellen gehören zu seinem Gitterbau genauso wie das verbal Artikulierte. Erst im Zusammenspiel dieser Elemente realisieren sich seine Grundidee und sein tieferer Sinn. Die »grauere Sprache«, die bei Celan im Gedichtband Sprachgitter als poetologisches Programm der »Lyrik nach Auschwitz« postuliert wird, zeichnet sich durch die spürbare Reduzierung der überlieferten »poetischen Mittel« und den Verzicht auf jegliche dekorativen Elemente aus. Sie wird exakter, trockener, wahrer, sie setzt auf verborgene suggestive und assoziative Zusammenhänge, durch die sie tiefere Schichten der menschlichen Psyche aufdeckt, profundere Gedanken ausbreitet, prägnantere Wortbilder in unserem Bewusstsein hinterlässt. Ingeborg Bachmann, die in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen (Wintersemester 1959/1960) den neuen Band Celans ihren Hörern vorstellte, formulierte es folgendermaßen: Die Metaphern sind völlig verschwunden, die Worte haben jede Verkleidung, Verhüllung abgelegt, kein Wort fliegt mehr einem anderen zu, berauscht ein anderes. Nach einer schmerzlichen Wendung, einer äußerst harten Überprüfung der Bezüge von Wort und Welt, kommt es zu neuen Definitionen.13

Diese »neuen Definitionen« bedeuteten vor allem eine neue Entwicklungsphase des ästhetischen Bewusstseins und des poetischen Denkens, den entscheidenden qualitativen Wechsel, der hier vollzogen wurde. Unter diesem Blickwinkel erscheint die Stellung von Sprachgitter im Gesamtkontext von Celans dichterischem Werk aus einer anderen axiologischen Perspektive, man misst dann diesem Gedichtband ein besonderes poetologisches Gewicht bei. Daher trifft Joachim Sengs Beobachtung zweifellos zu: »Nicht erst mit Atemwende, sondern bereits mit Sprachgitter beginnt Celans Spätwerk«14.

12 Joachim Seng. Auf den Kreis-Wegen der Dichtung, Zyklische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis »Sprachgitter«. – Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1998, S. 285. 13 Ingeborg Bachmann. Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung. München; Zürich: R. Piper & Co. Verlag 1984, S. 40. 14 Joachim Seng. Auf den Kreis-Wegen der Dichtung, S. 290.

Die Niemandsrose: »Ein Nichts im Zustand des Blühens«

Der Titel des vierten autorisierten Gedichtbandes Paul Celans Die Niemandsrose, der 1963 im S. Fischer Verlag erschien, scheint komplexer und vielschichtiger als die Titel seiner vorherigen Gedichtbände zu sein. Das rätselhafte Kompositum, das zuerst den Leser in eine gewisse Ratlosigkeit versetzt, ist eine Umwandlung des Epitaphs Rilkes, dessen Grab in Raron (Wallis) Celan am 31. März 1961 (»Karfreitagsfahrt«)1 besuchte. Rilke selbst hat dieses kurze Gedicht zu seinem Grabspruch bestimmt. Sein Text lautet: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern.2

Aus der Rose, die bei Rilke »Niemandes Schlaf« ist, wurde die Neuschöpfung »Niemandsrose«, die zwar aus Rilkes Zeilen erwächst, im Grunde aber einen ganz anderen semantischen und symbolischen Kontext erweckt. Die Konnotationen, die hier entstehen, führen die Rose aus ihrem immanenten Schlafzustand in die Beziehung der anonymen Zugehörigkeit, in die Sphäre der negativen (apophatischen) Theologie über, wo Niemand ein Substitut des abwesenden Gottes ist, und die Rose selbst als eine mystische Rose erscheint, die im mythologischen Denken vieler Völker und insbesondere in der christlichen Tradition tief verwurzelt ist. Wenn Gott aber abwesend, ein Niemand ist, so scheint auch die Rose, die ihm gehört, kaum präsent zu sein, sie existiert nicht. Die Possessivbeziehung, die hier auf den ersten Blick so klar ausgedrückt ist, verliert dann jede Begründung. Die Rose hat keinen Geruch mehr, keine Farbe, keine festen Konturen. Sie hat nur noch einen Namen – die Rose, aber im dichterischen Sinne blüht sie. »Die 1 Axel Gellhaus. ›In statu nascendi‹ – DIE NIEMANDSROSE und ihre Frühstadien – am Beispiel der Genese von »In Eins«. In: Paul Celan. Die Niemandsrose. Lectures et Interprétations. Sous la direction de Ralf Zschachlitz. Nancy: Ventre de Recherches Germaniques et Scandinaves de l’Université de Nancy II, 2003, S. 8. 2 Reiner Maria Rilke. Werke. Auswahl in drei Bänden. Erster Band: Gedichte. – Leipzig: Insel Verlag 1963, S. 352.

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Niemandsrose gehört niemandem, sie hat keine Identität, die auf Grund der Zugehörigkeit gebildet werden kann. Sie ist ein Nichts im Zustand des Blühens, und dieser Zustand hängt mit dem Schreiben zusammen«3, – bemerkt dazu Yoko Tawada. Eines der wichtigsten Lebensorgane der Rose – wie vieler anderen Blumen – ist der Griffel (lat. pistillum), ein Wort, das im Deutschen auch die Bedeutung des antiken Schreibinstruments (griech. grapheion, lat. stilus) hat. In Celans programmatischem Gedicht »Psalm« sind diese beiden semantischen Bedeutungen aktiviert und zusammengebunden. Den Band Die Niemandsrose bezeichnete der Dichter in einem Gespräch mit Alfred Kelletat als ein »Intermezzo zwischen Sprachgitter und Atemwende«4. Diese Aussage sollte aber nicht täuschen, denn der Gedichtband ist kein Übergangs- oder Zwischenstadium, er hat ein sehr stark ausgeprägtes eigenes Profil und zeichnet sich durch mehrere innovative Züge aus. Vor allem bedeutet er einen originellen Daseinsentwurf, die Konstruierung eines eigenen Universums mit Elementen, die kein bisheriger Band mit solch dichter Intensität vorzeigen konnte. Er ist also nicht nur ein Mittel-, sondern auch ein Höhepunkt im Gesamtwerk des Dichters und vielleicht sein wichtigster Gedichtband, in dem sich alle Themen und Motive seines bisherigen Schaffens exemplarisch gekreuzt haben: jüdische Geschichte, Mythologie und Religion mit ihren mystischen Zügen und dem sehr persönlich gefärbten Leiden an der Shoah, menschliche Existenz im Weltall, Kreislauf der Evolution, ihre Irrwege und Aussichten, kulturelle Identität, Modalitäten des dichterischen Sprechens und Sprachkritik, Erotik und Liebe, Sehnsucht nach einer besseren Welt… Ein so reiches thematisches Spektrum kann man nur selten in einem Gedichtband des modernen Autors finden. Die Gedichte der Niemandsrose, die zwischen 1959 und 1963 entstanden sind, spiegeln in 53 Texten »den lyrischen Reflex existenziell besonders schwieriger Jahre«5 wieder, die sich durch eine ernste Ehekrise, die widerwärtige Plagiatsinfamie Claire Golls, die ihn zutiefst erschüttert, die dadurch ausgelösten seelischen Depressionen und den ersten Klinikaufenthalt, aber auch durch den Beginn seiner langjährigen Arbeit als Lektor an der École Normale Supérieure, den regen Gedankenaustausch mit Nelly Sachs, die Entdeckung der russischen Poesie und die Verleihung des Büchner-Preises charakterisieren. In diese Lebensphase 3 Yoko Tawada. Die Krone aus Gras. Zu Paul Celans »Die Niemandsrose«. In: Text+Kritik, Heft 53/54 (Paul Celan). – 3. Auflage: Neufassung, November 2002, S. 177. 4 Alfred Kelletat. Hermeneutica zu Celan, anlässlich seines ›Psalms‹ (Nachträge). In: Abhandlungen aus der pädagogischen Hochschule Berlin. Hrsg. von W. Heistermann. Bd. 1. Aus: Erziehungs-, Sozial- und Geisteswissenschaft. Berlin 1974, S. 301. 5 Theo Buck. »Auf Atemwegen« . Zu Celans poetologischer Konfession in der »Niemandsrose«. In: Lectures d’un œuvre: Paul Celan. Die Niemandsrose. Ouvrage collectif coordonné par Marie-Hélène Quéval. – Nantes: Editions Du Temps 2002, S. 13.

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fällt auch die Arbeit an seinem bedeutenden Prosatext »Gespräch im Gebirg«, der eine imaginäre Begegnung mit Theodor Adorno antizipiert sowie an seiner poetologisch wichtigsten Büchnerpreisrede »Meridian«. Die deutsche Celan-Forscherin Marlies Janz betrachtet die Konzeption der Niemandsrose als eine Art »Anti-Bibel«, als »Revision der Heilsgeschichte«6. Vor allem wird hier auf das erste Buch Mose (»Genesis«) angespielt, in dem von der Erschaffung des Menschen die Rede ist. »Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele« (Genesis, 2, 7). Celan geht von dieser alttestamentarischen Vorstellung aus, doch wandelt in seinem »Psalm« das Bild der Menschenschöpfung radikal um, indem er es in eine von der furchtbaren Erfahrung der Katastrophe bestimmte existentiell pessimistische Perspektive überführt, denn bei ihm heißt es: »Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unseren Staub. / Niemand.« Das ist jedoch kein platter Atheismus im herkömmlichen Sinne des Begriffs, – der Dichter knüpft hier an die kabbalistische Tradition an und interpretiert Gott als Schöpfer, der sich von seiner Schöpfung entfernt und in seine eigene Substanz zurückkehrt (Zimzum), so dass seine Abwesenheit zum höchsten Modus seiner Präsenz wird. Als »Niemand« existiert er auch weiter, doch er bestimmt das Schicksal der Welt nicht mehr, obwohl die Menschen ihn auch weiter preisen und loben. Dieser paradoxe Zustand bildet den Hintergrund nicht nur des Celanschen Gedichts »Psalm«, sondern auch den des ganzen Bandes Die Niemandsrose. Bereits einleitende Verse »Es war Erde in ihnen« transformieren das Thema der Genesis bis zur Unkenntlichkeit, und das abschließende Gedicht »In der Luft« verbindet dann das Irdische mit dem Ätherischen (»Atem-und-Lehm«). Der Mensch, der aus »Erde und Lehm« nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde, gehört nicht mehr als Glückswesen zum irdischen Paradies, sondern steigt als Rauch in die Luft oder düngt mit Millionen seiner Leichen die Erde, »schwer / in den Untiefen lagernd, die Leiber / zu Schwellen getürmt, zu Dämmen«, über die dann »der Klumpfuß der Götter herüber- / gestolpert kommt«. Der Band – schreibt dazu Marlies Janz – beginnt mit einem Gedicht, das […] von der Erschaffung des Menschen aus einem Erdkloß handelt, und er endet mit der Feststellung, dass nach Auschwitz Erlösung zu spät komme, ja in ihr Gegenteil sich verkehre; dass die Götter über den Leichenbergen der Vernichtungslager klumpfüßig wie Satan oder Goebbels erscheinen.7

Die Niemandsrose ist somit, vielmehr als die vorigen Gedichtbände Celans, durch das Thema Shoah durchgehend geprägt, es gibt hier kaum ein einziges Gedicht, 6 Marlies Janz. Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. – Frankfurt a. M.: Syndikat 1976, S. 129. 7 Marlies Janz, S. 129.

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das damit – direkt oder indirekt – nicht zu tun hätte. Das geschieht im Zuge des um diese Zeit erwachten Interesses des Dichters für das Judentum, das vor dem Hintergrund der historischen Amnesie und der Wiederbelebung der antisemitischen Stimmungen im Adenauer-Deutschland zum Ausdruck kommt, die Celan höchst betrüben. Um diesen negativen Tendenzen gegenüberzustehen, entdeckt der Dichter für sich seit Mitte der fünfziger Jahre jüdische Theologie und Philosophie, erschließt jüdische Mystik, vor allem den Chassidismus und die Grundlagen der Kabbala. Er wendet sich den Schriften Martin Bubers und Gershom Scholems, den Werken Oskar Goldbergs »Die Wirklichkeit der Hebräer« und Margarete Susmans »Das Buch Hiobs und das Schicksal des jüdischen Volkes«, Rudolf Ottos »Das Heilige« und Franz Rosenzweigs »Der Stern der Erlösung« zu. In den Gedichten der Niemandsrose treffen wir dann auf Bezeichnungen spezifisch jüdischer Geschichts- und Religionsbegriffe – Hawdalah, Tekiah, Kaddisch, Jiskor, Aleph, Beth, Jud (Jod). »In keinem Gedichtband Celans sind jüdische Namen und Begriffe, jüdische Mythologie, Mystik und Religion so präsent wie in der Niemandsrose«8 – meint Jürgen Lehmann. Diese höchst intensive und kritische Auseinandersetzung mit dem Judentum gestaltet sich vor allem als Dialog mit zwei dichterischen Persönlichkeiten, die die Traditionen des Ostjudentums und des Westjudentums vertreten – mit Ossip Mandelstam und Nelly Sachs. Die Niemandsrose hat eine Widmung: »Dem Andenken Ossip Mandelstamms«. In der Gestalt des russischen Dichters jüdischer Herkunft, der vom stalinistischen Regime vernichtet wurde, sah Celan nicht nur einen ästhetisch und poetisch verwandten Autor, sondern auch seinen Schicksalsgenossen, mit dem er sich identifizierte. »Bruder Ossip« nennt er ihn in einem Gedichtentwurf. Mehrere Gedichte der Niemandsrose spielen mit seinem Namen, den er ganz anführt oder in Teile zerlegt, aber seine Präsenz im Gedichtband ist immer spürbar, vor allem in solchen Gedichten, wie »Eine Gauner- und Ganovenweise…«, wo das mit dem Namen des russischen Dichters semantisch verwandte Wortstamm »Mandel« in mehreren Transformationen vorkommt, in »Mandorla«, wo bereits im Titel eine lateinische Variante der Mandel auftaucht, oder in »Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle«, wo der russische Dichter auf einmal in einer seltsamen Vision als Person erscheint. Als erster übersetzte Celan Mandelstams Gedichte ins Deutsche und räumte diesen Übersetzungen einen nicht minderen Platz ein als seinen eigenen Gedichten. Es existieren im Werk der beiden Dichter mehrere Parallelen und Kongruenzen thematischen und formalen Charakters, die ihre Nähe bezeugen. Zu ihnen gehört vor allem das Konzept der Dichtung als Flaschenpost und Begegnung, als Unterwegssein, aber 8 Jürgen Lehmann (Hrsg.) Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«. – Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 4. Auflage 2003, S. 12.

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auch gemeinsame Motive wie Atem und Wort, Stein und Stern, Wasser und Nacht, Hand und Name. Zugleich hebt Celan das Jüdische in der Mandelstamschen Dichtung hervor, woran ihm besonders lag, und tritt mit dem russischen Dichter in einen Dialog, der über Zeit und Raum geführt wird. Im Unterschied zur virtuellen Begegnung mit Ossip Mandelstam war die Begegnung mit der Literatur-Nobelpreisträgerin Nelly Sachs eine durchaus reale. Celan hat die Dichterin, die bereits seit 1940 im schwedischen Exil lebte, persönlich gekannt, beide standen im regen Briefwechsel und trafen sich einige Male in Paris und Zürich. In der Auseinandersetzung mit Nelly Sachs geht es um die Problematisierung jüdischer Glaubensvorstellungen, die angesichts der Schrecken des Holocausts fraglich geworden sind. Das charakteristische Beispiel dafür ist das Gedicht »Zürich, Zum Storchen«, in dem die Dialektik des Celanschen »Gegenworts« in prägender Weise hervortritt. Diese antinomische dichterische Gesinnung bedeutet für Celan Distanzierung von den überlieferten Vorstellungen, Normen und Klischees, Dekomposition der althergebrachten Werte, Polemik gegen konservative Denkart, auch gegen Abstumpfung der Sprache und ihre Instrumentalisierung durch totalitäre Ideologien. Die »Ästhetik der Negation« gehört zu Celans typischen Methoden des bildlichen Denkens und der Umgestaltung der Realität – durch das Negieren des Offensichtlichen kommt es zu der Aufdeckung tieferer Relationen zwischen den Objekten und Erscheinungen der realen Welt und zu ihrer schonungslosen Entlarvung. Auf diese Weise entsteht dann ein kreativer »Gegenentwurf«, eine neue Wirklichkeit, deren Erschaffung die eigentliche Aufgabe jeder Kunst ist. Celans »Gegenentwurf« ist also zugleich ein neuer Daseinsentwurf. Die Niemandsrose bietet uns eine persönliche Kosmogonie, mit ihrer Erde und ihrem Himmel, mit ihren Sternbildern, mit ihren Orten und Flüssen und vor allem mit ihren Namen. »Nicht Darstellung oder Interpretation der bestehenden, sondern Erschaffung einer neuen, anderen Welt in Sprache, als Sprache, ist dieser Gedichtband«9 – meint Jürgen Lehmann. Auf diese Weise entsteht in der Niemandsrose ein bildlicher und sprachlicher Kosmos mit eigenen Dimensionen und Zusammenhängen, dessen Demiurg der Dichter allein ist. Die Raumgestaltung dieses Kosmos beruht auf semantischen Oppositionen und Sinnparadoxien: Himmel – Erde, Licht – Dunkel, Niemand – Nichts, Mensch – Gott, oben – unten, nah – fern, weit – eng, schwer – leicht, offen – geschlossen, frei – gebunden, krumm – gerade usw. Außer solchen »absoluten« Oppositionen trifft man nicht selten auch kontextuelle Paradoxien von der Art: »Es war Erde in ihnen, und / sie gruben«, »Trübung durch Helles«, »Es wird stumm, es wird taub / hinter den Augen«, »Es war ja ein Tümpel rings, es war der unendliche Teich«, »Krücke du, Schwinge«, »Wurzel Abrahams. Wurzel Jesse. 9 Jürgen Lehmann, S. 23.

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Niemandes / Wurzel – o unser«, »Der Stein trat aus dem Berge«; »Die Himmelsschlucht hinter der Stirn«, »Und wir sangen die Warschowjanka. / Mit verschilften Lippen«, »In der Luft, da bleibt deine Wurzel« u. a. Solch eine paradoxe Sicht zeigt dann die Welt nicht mehr in taktfester Harmonie, sondern in ständigen Spannungen und Brüchen, so dass sie nun als bedrohlich und unheilvoll vorkommt, was auch ihrem katastrophalen Zustand nach der Shoah entspricht. Der Eindruck der kosmischen Dimension dieses poetischen Universums wird auch durch die Erwähnung astronomischer Begriffe verstärkt, so z. B. mehrerer Himmelskörper, die in diesem Gedichtband auftauchen. Der Weg durch die Niemandsrose ist ein Weg unter Sternbildern – bemerkt dazu Kurt Oppens. – Sie sind durch das ganze Werk verstreut, »zusammengeflickt als Wohnung«, Alpha Centauri, Hund mit Hellstern und Zwergleuchte, die drei kriegerischen Gürtelsterne Orions und Berenikes Haupthaar. Die Sternbilder aber sind zugleich die wahre Blindenschrift, an der auch der Sehende erblindet.10

Celans Blick auf den Weltall hat etwas von dem schwebenden Panoramablick des Schöpfers auf einer der zentralen Fresken der »Sixtinischen Kapelle« Michelangelos. Dieser Blick ist dynamisch und allumfassend, er sieht die Schöpfung nicht als etwas Erstarrtes, sondern eher als ein langsam abkühlendes Plasma. Eine ähnliche Optik verwendete der Dichter bereits in seinem längeren Gedicht »Engführung« aus dem Band Sprachgitter. In der Niemandsrose ist sie nun dominierend geworden: »Soviel Gestirne, die / man uns hinhält […] // O diese Wege, galaktisch, / o diese Stunde […] / Es ist / ich weiß es, nicht wahr, / dass wir lebten, es ging / blind nur der Atem zwischen / Dort und Nicht-da und Zuweilen, / kometenhaft schwirrte ein Aug / auf Erloschenes zu, in den Schluchten, / da, wo’s verglühte, stand / zitzenprächtig die Zeit, / an der schon empor- und hinab- / und hinwegwuchs, was / ist oder war oder wird –«. Es ist eindeutig ein kosmischer Blick, und solche Sichtperspektiven sind in der Niemandsrose keine Seltenheit, in den abschließenden Langgedichten (»Hüttenfenster«, »Es ist alles anders«, »Und mit dem Buch aus Tarussa«, »In der Luft«) sind sie das grundsätzliche Prinzip der Bilderentfaltung. Eine andere Facette der Raumkonstruktion in der Niemandsrose ist der Weg nach innen, der Prozess der Vertiefung, der Vergrabung in die Erde, ein unaufhörliches »Zur-Tiefe-Gehen«. Die Tiefe ist für Celan mit dem Wahren identisch, man gräbt sich zu ihm nur langsam und schmerzhaft hinunter. Das Graben bedeutet auch den Weg zu den Schleusen der Erinnerung, zum Gedächtnis an die Toten. Diese gegensätzliche Bewegung – nach oben, zu den Sternen, und nach unten, in die irdische Tiefe – bildet die senkrechte Achse des Celanschen Bandes,

10 Kurt Oppens. Blühen und Schreiben im Niemandsland. In: Über Paul Celan. Hrsg. von Dietlind Meinecke. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1970, S. 111.

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die sich allmählich biegt und in etwas Bogen- und Kreisförmiges verwandelt, in einen Meridian, der die wichtigsten Leitmotive, Themen, Namen und Daten seiner Dichtung verbindet. Das Gedicht steht für Celan – wie er es in seiner Büchnerpreisrede Meridian formuliert – »im Geheimnis der Begegnung«. »Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.«11 Auf der Suche nach dem Anderen mobilisiert der Dichter das reiche Arsenal der Weltkultur und tritt mit ihren Repräsentanten in einen regen Dialog. Die Niemandsrose überrascht mit der Fülle intertextueller Beziehungen, die das Konzept seiner Dichtung als Begegnung mit dem Anderen bezeugen. Bereits frühe Titelentwürfe wurden in den Vorstufen zur Niemandsrose nicht nur mit der Widmung »Dem Andenken Ossip Mandelstamms«, sondern auch mit einigen Mottos versehen. So standen dort ursprünglich die Zeilen von Hölderlin aus seinem Gedicht »Der Rhein«: »…Denn / Wie du anfingst, wirst du bleiben, / So viel auch wirket die Not…«, Mandelstams Verse aus dem Gedicht »Der erste Januar 1924«: »…Geschlechtern, fremdesten, mit Kalk in deinem Blute / das Gras zu pflücken und das Kraut der Nacht…« sowie eine Zeile aus Dantes »Divina Commedia« »…si che dal fatto il dir non sia diverso« (»Daß Sache sich und Wort nicht unterscheiden«, »Inferno«, Canto XXXII, 12)12. Später hat der Dichter diese Mottos gestrichen, genauso wie jene aus Shakespeare und Robert Desnos, die die Binnengliederung des Bandes thematisch akzentuieren sollten13. Trotzdem bleibt die intertextuelle Dichte der Niemandsrose beeindruckend – außer Mandelstam, dessen Name hier mehrmals erscheint und dessen Silhouette Celan auf dem Vorsatzblatt des Buches anbringen wollte, tauchen hier Petrarca, Hölderlin und Heine, Marina Zwetajewa und Nelly Sachs auf, die er namentlich nennt, ihre Verse seinen Gedichten voranstellt oder mit ihnen polemisiert. Es finden sich dann Anspielungen auf Xenophontes, François Villon, Georg Forster, Mozart, die Brüder Grimm, Rilke, Georg Heym, Sigmund Freud, Marc Chagall, Arnold Zweig, Hans Magnus Enzensberger oder explizite bzw. implizite Zitate von Catull, Büchner, Baudelaire, Verlaine, Apollinaire, SaintJohn Perse. Dazu müssen noch Selbstzitate oder Anspielungen auf seine früheren Texte zugezählt werden, zu denen er in den Gedichten »Zwölf Jahre« (»…dein / Haus in Paris – zur Opferstatt seiner Hände«) oder »…Rauscht der Brunnen« (»Später der Rosen«) greift. 11 Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1990, S. 55. 12 Paul Celan. Die Niemandsrose. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Bearbeitet von Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1996, S. 4–5 [Paul Celan. Werke, hrsg. von Jürgen Wertheimer. Tübinger Ausgabe]. 13 Markus May / Peter Goßens / Jürgen Lehmann (Hrsg.) Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler 2008, S. 82.

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All diese Anspielungen und Zitate haben in Celans Gedichten eine spezifische Funktion, sie markieren seine weltanschaulichen und ästhetischen Orientierungen und beschreiben den Kontext, aus dem sich sein Identitätsbild speist. Aber, wie Bernd Witte hervorhebt, »hier von Zitaten zu reden, griffe zu kurz. Eher ließe sich schon sagen, der Text bezieht sich auf die Tradition, die viele, virtuell unendliche Menge von Texten einbegreift«14. Die Begegnung mit diesen Texten ist die Voraussetzung für Celans Polemiken nicht nur mit einzelnen Autoren, sondern mit ideologischen, politischen und kulturellen Richtungen, die sie repräsentieren. Diese Polemiken beziehen sich nicht auf abstrakte Erscheinungen und Kategorien, sie haben immer überaus konkrete Adressaten, die namentlich bezeichnet sind. Die Bedeutung des Namens, der schon immer eine große Rolle in der jüdischen Tradition spielte, nimmt mit der Zeit in Celans Dichtung spürbar zu. Auch in dieser Hinsicht konnte Mandelstam für ihn ein gutes Vorbild sein: Dreimal selig, wer einen Namen einführt ins Lied! Das namensgeschmückte Lied lebt länger inmitten der anderen – Es ist kenntlich gemacht inmitten seiner Gefährten durch eine Stirnbinde, die von Bewusstlosigkeit heilt […]15 –

lesen wir in Mandelstams Gedicht »Der Hufeisenfinder«, das Celan ins Deutsche übersetzte. Die »Heiligung des Namens« wird jetzt für einen Überlebenden zu seiner wichtigsten poetischen und ethischen Aufgabe, denn »die Toten – sie betteln noch, Franz«, – wie er bereits in seinem Gedicht »Assisi« aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle ermahnte. »Die Niemandsrose – schrieb schon ganz früh einer der ersten Rezensenten des Bandes Kurt Oppens – ist mit Namen gefüllt bis zum Rande, damit der Niemand wieder Jemand wird, damit sich eine neue Welt formen, der Genesungsprozess sich vollenden kann.«16 Und das ist eigentlich die zentrale Botschaft des Celanschen Gedichtbandes Die Niemandsrose. Zum persönlichen Weltuniversum, das Celan in seiner Dichtung konstruiert, gehören auch zahlreiche geographische, historische und religiöse Namen, von denen es in der Niemandsrose geradezu wimmelt. Das sind Ortsnamen (Paris, Czernowitz, Pontoise, Sadagora, Brest, Witebsk, Petropolis (St. Petersburg), Tarussa, Krakau, Prag, Zürich, Tübingen), Flussnamen (Seine, Rhein, Oka, Nie-

14 Bernd Witte. Der zyklische Charakter der »Niemandsrose«. In: Argumentum e Silentio. International Paul Celan Symposium. Ed. by Amy D. Colin. – Berlin; New York: Walter de Gruyter 1987, S. 76. 15 Paul Celan. Gesammelte Werke. Fünfter Band: Übertragungen II. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 133. 16 Kurt Oppens, S. 109.

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men), Namen von Regionen (Böhmen, Mähren, Friaul, Toscana, Normandie, Huesca, Sibirien, Kolchis) oder Namen topographischer Punkte inmitten der europäischen Städte (Anhalter Bahnhof in Berlin, La Contrescarpe und Pont Mirabeau in Paris, Hotel »Zum Storchen« in Zürich, Hölderlinturm in Tübingen). Schließlich finden sich in Celans Band auch etliche biblische (Abraham, Jakob, Jesse) oder religionsgeschichtliche Namen (Rabbi Löw). Diese unglaublich dichte Häufung von Namen verschiedener Provenienz zeigt Celan als einen überaus intellektuellen Dichter, als einen richtigen »poeta doctus«, das bedeutet aber zugleich, dass sein persönlicher Kosmos immer »irdisch fixiert« ist. Der intertextuelle Charakter der Niemandsrose äußert sich auch in der metrischen Hinsicht. Davon zeugt die Vielfalt der hier verwendeten Strophen- und Versformen, die im Laufe der Literaturgesichte ausgearbeitet worden waren. Außer den freien Rhythmen, die im Buch eindeutig dominieren, treffen wir hier Gedichtstrukturen, die an die Psalmentradition anknüpfen (»Es war Erde in ihnen«, »Psalm«), die altfranzösische Ballade á la François Villon nachahmen (»Eine Gauner- und Ganovenweise…«), den protestantischen Choral parodieren (»Eis, Eden«), an romantische Muster (Eichendorff, Heine) angelehnt sind (»Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle«, »Kermorvan«), die Gattung der Rilkeschen Elegie aufgreifen (besonders die umfangreichen Langgedichte) oder das Volkslied imitieren (»Selbdritt, Selbviert«). Im Vergleich zu den früheren Gedichtbänden gibt es hier auch viele Reimgedichte, die ebenfalls an eine enge Bindung mit der vorherigen literarischen Tradition denken lassen. Der Reichtum intertextueller Beziehungen und Assoziationen soll aber jene Tatsache nicht verdecken, dass Die Niemandsrose eine ausgeprägte zyklische Struktur hat und als Einheit verstanden werden will. Die Einheit des Bandes wird durch mehrere künstlerische Mittel und poetische Modi verstärkt: durch die ständige Präsenz in allen seinen vier Teilen des Namens Ossip Mandelstams, dem er gewidmet ist, durch die enge Kohärenz seiner Themen und Motive, vor allem die Vorherrschung der Erinnerung an die Ermordeten, durch poetologische Aspekte und den dynamischen Charakter seiner Sprachkonzeption, durch stilistische Besonderheiten – syntaktische Freiheit, elliptische Konstruktionen, Enjambements und Leerstellen, häufige Inversionen, Wort- und Silbenbrüche, spezifische Zeichensetzung, die nicht selten semantische oder rhetorische Bedeutung bekommt, durch das besondere Gewicht des Einzelwortes. Viele Gedichte sind hier so angeordnet, dass sie als Weiterentwicklung des gleichen Themas, als Vervollständigung und gegenseitige Kommentare angesehen werden können. Die totale intertextuelle Strukturierung der Niemandsrose, die bereits um die Mitte des 20. Jahrhunderts vorgenommen wurde, hat ihre Zeit bei weitem überholt und die neuen Tendenzen dichterischer Entwicklung der Postmoderne entworfen. »Kein anderer Gedichtband bezieht sich so umfassend, so intensiv

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und so differenziert auf andere Texte. Celans Lyrik ist somit alles andere als ›hermetisch‹, sondern extrem offen.«17

17 Jürgen Lehmann (Hrsg.) Kommentar, S. 27.

Atemwende: An der Schwelle des Verstummens

Der Zeitraum der Entstehung und der Drucklegung von Paul Celans Gedichtband Atemwende fällt auf eine der schwersten Phasen seines Lebens. Die ersten Skizzen des neuen Zyklus wurden im September 1963 gemacht, das letzte dazu gehörende Gedicht ist mit September 1965 verzeichnet. Doch erst 1967 konnte der Band beim Suhrkamp Verlag erscheinen. In diesen vier Jahren verschlechterte sich der psychische Zustand des Dichters dermaßen, dass er einige Male in psychiatrische Kliniken eingeliefert und dort längeren Behandlungen unterzogen werden musste. Seit Dezember 1965 bis Juni 1966 und dann die ganze erste Hälfte 1967 muss Celan mehrere Monate in der Klinik verbringen, wonach er nicht mehr in das gemeinsame Domizil in der Rue de Longchamp zu seiner Familie zurückkehrt, sondern, aus Angst vor neuen gefährlichen Rezidiven, zuerst in der Klinik, später eine Zeitlang in seinem Büro in der École Normale Supérieure (ENS) wohnt und im Dezember 1967 endlich in eine andere Wohnung in die Rue Tournefort umzieht, die im Quartier Latin liegt. Die schöpferische Kreativität des Dichters und sein öffentliches Engagement geben jedoch auch in dieser schweren Zeit nicht nach. 1964 erhält er den Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, was wiederholt seinen Rang als einen der führenden Autoren seiner Generation bestätigt. Während seiner Klinikaufenthalte entsteht der poetische Zyklus »Eingedunkelt«, der allerdings zu Lebzeiten unveröffentlicht bleiben sollte. Im Frühjahr 1966 wird im Pariser Goethe-Institut die Ausstellung »Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange« organisiert, wo Celans bibliophile Edition des Gedichtzyklus Atemkristall mit 39 Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange gezeigt wird. In diesen Jahren hat Celan wichtige Lesungen in Hamburg, Zürich und Freiburg. Besonders die letzte Lesung, die am 24. Juli 1967 an der Universität Freiburg veranstaltet wurde, hat eine unglaublich große Resonanz ausgelöst – rund 1000 Zuhörer sitzen dabei im Auditorium Maximum der Universität Freiburg, darunter der Philosoph Martin Heidegger, der Celans Besuch mitorganisiert hat. Am nächsten Tag besucht Celan auf Einladung Heideggers seine berühmte Waldhütte in Todtnauberg.

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Die relativ große Lücke zwischen dem Abschließen des Bandes und seiner Publikation, die etwa zwei Jahre dauert, war auch mit dem Verlagswechsel des Dichters verbunden – nach der langjährigen engen Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag tritt Celan infolge eines Dissens mit seinem Leiter Gottfried Bermann Fischer zum Suhrkamp Verlag über, was eine gewisse Zeit für die Neuorientierung verlangte. Seit der Atemwende erscheinen dann alle seine nachfolgenden Gedichtbände im Suhrkamp Verlag. Die Atemwende enthält 80 Gedichte und ist in sechs Abschnitte gegliedert, die mit römischen Zahlen bezeichnet sind, mit jeweils 21 (I), 17 (II), 16 (III), 18 (IV), 7 (V) Texten und einem einzigen abschließenden Gedicht »Einmal« im sechsten Abschnitt. Am Ende des Bandes steht eine kleine Bemerkung: »Von den Gedichten dieses Bandes erschien der erste Zyklus unter dem Titel Atemkristall, mit acht Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange, in einer einmaligen bibliophilen Ausgabe von 75 Exemplaren im Herbst 1965 bei ›Brunidor‹, Paris.« Mit einigen Ausnahmen sind die Gedichte des Bandes meistens nach dem chronologischen Prinzip geordnet. Der Titel des neuen Gedichtbandes, der nach mehreren hypothetischen Varianten (»Atemgang«, »Wahnspur«, »Wahn, Atem«, »Atemzelle«)1 angenommen wurde, geht auf eine Formulierung der Celanschen Büchner-Rede zurück, in der es heißt: »Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten. Wer weiß, vielleicht legt die Dichtung den Weg – auch den Weg der Kunst – um einer solchen Atemwende willen zurück?«2 Man erinnert sich dabei auch an die Anfangszeile eines der Rilkeschen »Sonette an Orpheus«: »Atmen, du unsichtbares Gedicht!«3, die Atem und Gedicht zusammenführt, ja sie für identisch erklärt. In den Entwürfen zu Celans Büchner-Rede findet sich noch folgende Passage: »Ich hatte einiges überlebt – Überstehen ist ja wohl doch nicht ›alles‹, ich hatte ein schlechtes Gewissen; ich suchte – vielleicht darf ich es so nennen? – meine Atemwende…«4. Daraus kann man schließen, dass mit dem Begriff »Atemwende« ein Bruch gemeint ist, der sowohl eine poetologische als auch eine Lebenswende für den Dichter bedeutet hatte – also einen gewissen Wechselfall, eine Peripetie, um mit Aristoteles zu sprechen. »Der Terminus Atemwende fügt sich so zu einer poetologisch-existenziellen Chiffre, welche in ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreifenden Zeitstruktur die Programmatik von Celans Gedichtband 1 Paul Celan. Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung. Lyrik und Prosa, Bd. 7/2: Atemwende. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1990. S. 19. 2 Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a .M.: Suhrkamp Verlag 1990, S. 52. 3 Reiner Maria Rilke. Werke. Auswahl in drei Bänden. Erster Teil: Gedichte. Leipzig: Insel Verlag 1963, S. 285. 4 Paul Celan. Der Meridian. Endfassung, Entwürfe, Materialien. Tübinger Ausgabe, hrsg. von Jürgen Wertheimer, bearbeitet von Bernhard Böschenstein, Heino Schmull. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1999, S. 123.

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emphatisch pointiert«5, – schreibt Markus May. Nicht zuletzt bedeutete dieser Band für Celan auch eine sprachliche Wende, die Ablösung des herkömmlichen Vokabulars und den Übergang zu jenem Sprachduktus, den er schon früher in Bezug auf seinen Gedichtband Sprachgitter als »grauere Sprache« bezeichnet hat. Mit ihrer extremen Verknappung, äußersten Sinnverdichtung, dem Verzicht auf jedes dekoratives Element tendiert diese Sprache zum Verstummen. Celans Schweigen siedelt sich aber in den Pausen, Intervallen und Leerstellen seiner Gedichte an, suggestiv produziert es neue, bis dahin kaum existierende Sinngebungen und semantische Bedeutungen. Atem, das ist lebendiges Schweigen, – schreibt Christoph Perels, – im Atem verbirgt sich die Disposition zum Sprechen, der vorgeburtliche Bereich einer reinen, unverdorbenen Sprache. Der Lyriker sucht im Atemstrom den Atemkristall, Reinheit und Form des von der Sprache abgelösten absoluten Gedichts.6

Den ersten Abschnitt des Gedichtbandes Atemwende bildet der Zyklus Atemkristall, der bereits ein Jahr früher als bibliophile Edition mit den Graphiken von Gisèle Celan-Lestrange präsentiert wurde. Die Gedichte dieses Zyklus sind in einer engen Zusammenarbeit Celans mit seiner Ehefrau entstanden, deren Radierungen ein adäquates Pendant zu seiner Bilderwelt darstellen. »Ich habe Ihre Radierungen neben meinen Gedichten entstehen sehen, und Sie wissen ja, dass Atemkristall, das mir, wieder einmal, die Wege der Poesie geöffnet hat, aus Ihren Radierungen heraus entstanden ist«7, – schrieb der Dichter in einem Brief vom 20. Mai 1965 an seine Frau. Die Affinitäten, die hier existieren, sind manchmal ganz verblüffend – zerstückelte Wirklichkeit, nervige Linien mit zahlreichen Brüchen, schwarze und graue Stäbchen in chaotischer Bewegung, wie Moleküle unter dem Mikroskop, Fäden und Knoten im freien Schwimmen… Die Präzision, mit der Gisèle Celan-Lestrange hier gearbeitet hat, erinnert an die poetische Technik Celanscher Gedichte. Die unter dem beizenden »Strahlenwind« von Celans Sprache entstandenen Gedichte aus Atemkristall, – bemerkt dazu Wolfgang Emmerich, – korrespondieren in ihrem Gestus frappierend mit den Graphiken von Gisèle Celan-Lestrange. Die Worte sind wie mit einer Radiernadel in eine Kupferplatte geritzt, und das Ganze eines Textes lässt einen tatsächlich an den Abdruck einer Metallplatte denken, aus der die eingravierten Linien, mit Säure übergossen, scharf hervortreten – Zeichen und Gebilde jenseits des 5 Markus May. Atemwende. In: Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann (Hrsg.) CelanHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler 2008, S. 90. 6 Christoph Perels. Das Gedicht im Exil. In: Über Paul Celan. Herausgegeben von Dietlind Meinecke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1973, S. 211. 7 Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange. Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Hrsg. u. kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan. – Erster Band. Die Briefe. – Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 2001, S. 226.

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Organischen, in denen sich dessen Verlust manifestiert; Lieder, die jenseits / der Menschen zu singen sind.8

Die thematische Palette des Zyklus, der vorwiegend aus kurzen, ungemein konzentrierten Gedichten besteht, zeichnet sich durch eine beeindruckende Breite aus. Fast alle Motive der früheren Gedichtbände Celans sind hier präsent: Shoah und Erinnerung an die Toten, autobiographische Reflexionen, poetologische Problematik, Konfrontation mit dem laufenden Literaturbetrieb. Dazu kommen aber auch neue Aspekte, die seine veränderte psychische Verfassung wiedergeben, Komplexe und Wahnvorstellungen thematisieren oder auf die technischen Besonderheiten der Radierungskunst anspielen, die mit seiner poetischen Methode verwandt zu sein scheinen. Die Kürze der Gedichte, die manchmal nur aus einem einzigen, zwar syntaktisch recht verzweigten Schachtelsatz mit mehreren Partizipialkonstruktionen bestehen, zeigt eine ungewöhnlich dichte semantische Konsistenz vor, was »die Tendenz zur noch größeren Verknappung, zur kondensierenden Konzentration und Autoreflexion«9 bestätigt. Wichtige stilistische Mittel sind dabei Paradoxon und Antithese, Umkehrung geläufiger Redewendungen und Begriffe, die nicht nur den Zyklus Atemkristall, sondern den ganzen Gedichtband Atemwende durchdringen. Im Großen und Ganzen sind die Gedichte von Atemwende viel hermetischer als vorherige Texte Celans. Die Konzentration der poetischen Substanz erreicht hier ihre äußersten Grenzen, das Gewicht jedes Wortes übertrifft rezeptive Möglichkeiten durchschnittlicher Konsumenten der lyrischen Produktion. Jedes Bild ist polysemantisch und polyvalent, es bietet mehrere Interpretationsvarianten, unter denen fast unmöglich ist, die einzig richtige zu wählen. Der Dichter selbst gab es zu, wenn er in einem Brief an seine Frau vom 8. März 1967 betonte: Es ist wirklich das Dichteste, was ich bisher geschrieben habe, auch das Umfassendste. Bei manchen Wendungen des Textes habe ich, ich muss es gestehen, Stolz verspürt. – Ich habe schließlich das Manuskript in Zyklen eingeteilt – es musste gelüftet werden, – die in der Ausdehnung zwar ungleich, doch »in sich geschlossen« sind.10

Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass der Dichter im Grunde auf die traditionelle Bildhaftigkeit verzichtet und sein poetisches Vokabular noch radikaler ändert. Vertraute stilistische Mittel wie Epitheta, Metaphern oder Symbole, an die wir als Leser seit der Zeit der Romantik gewöhnt sind, verschwinden bei ihm endgültig. »Bekanntlich hat Celan nichts davon wissen wollen, dass es bei ihm Metaphern gebe, und wenn man Metaphern als Redeteile und

8 Wolfgang Emmerich. Paul Celan. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 135–136. 9 Markus May. Atemwende, S. 91. 10 Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange. Briefwechsel, S. 479.

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Redemittel versteht, die sich aus dem eigentlich Gesagten herausheben bzw. in es eingliedern, so versteht man diese Abwehr recht wohl«11, – betonte seinerzeit einer der kompetentesten und feinfühligsten Interpreten Celanscher Gedichte Hans-Georg Gadamer. Diese Dichtung beschreibt nicht mehr die Wirklichkeit – sie erschafft, modelliert sie aufs Neue. Man kennt in der Literaturwissenschaft seit langem den Begriff »Naturlyrik«, die im 20. Jahrhundert im deutschen Sprachraum etwa von Wilhelm Lehmann, Günter Eich oder Karl Krolow vertreten ist und sich der einfühlsamen Darstellungen von Landschaften, Pflanzen- und Tierwelt oder Wetterphänomenen widmet. Auch Celan knüpft in der Atemwende an diese Tradition an – doch unter welch veränderten Zeichen! In seinen Gedichten entfalten sich vor uns imaginäre Landschaften, die eher halluzinatorische Zustände und die Topographie des menschlichen Körpers beschreiben. Das sind öde Gegenden, vorwiegend Flussoder Meerlandschaften, mit spärlicher Vegetation, flachen Ufern oder steinernen Kaimauern, mit Schleusen, Fähren und Kähnen, die zeitlos wirken und fast menschenleer sind. Elke Günzel gebraucht für sie den Begriff »Gegenlandschaft« und spricht von der seltsamen Verquickung in diesen Gedichten der Landschaft und des menschlichen Körpers, die hier eine Einheit bilden: »Elemente des Körpers dringen in das Landschaftsbild […], das Weltall wird in den Körper gepflanzt«12. Es entstehen phantasmagorische Bilder, die nicht selten an eine kafkaeske Realität erinnern: »In den Flüssen nördlich der Zukunft«, »Die Schwermutschnellen hindurch,/ an blanken/ Wundenspiegel vorbei«, »Wege im Schatten-Gebräch/ deiner Hand«, »Weissgrau aus-/ geschachteten steilen Gefühls«. »Fadensonnen/ über der grauschwarzen Ödnis«, »Harnischstriemen, Faltenachsen,/ Durchstichpunkte:/ dein Gelände«, »Wortaufschüttung, vulkanisch,/ meerüberrauscht«. Bilder der Kälte, Schnee- und Eislandschaften beherrschen viele dieser Gedichte, harter steiniger Boden stellt den Schauplatz dar, auf dem sich der unaufhörliche Dialog zwischen dem lyrischen Ich (oder dem lyrischen Du) mit der äußeren Welt abspielt. »Dies Ich ist nicht nur der Dichter, sondern viel eher ›jener Einzelne‹, wie ihn Kierkegaard genannt hat, der ein jeder von uns ist«13. Diesen Landschaften werden vor allem Begriffe aus der Sphäre der Geologie, Mineralogie oder Medizin gerecht, die der Dichter in den entsprechenden Handbüchern entdeckte, was durch Anstreichungen und Randnotizen in den Beständen seiner Privatbibliothek belegt ist. »Hier fand Celan den Bezug auf den anorganischen Bereich des Nichtlebendigen, von dem seine Gedichte notge11 Hans-Georg Gadamer. Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Paul Celans Gedichtfolge »Atemkristall«. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1973, S. 114. 12 Elke Günzel. Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen Kontext. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 226–229. 13 Hans Georg Gadamer, S. 11.

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drungen sprechen«14, – meint Wolfgang Emmerich. Sand, Kies, Steine, Findlinge, Quader formen Horizonte dieser kargen Landschaften, bizarre Komposita tauchen da auf, welche an sich Fachtermini sind, im Kontext der Gedichte aber andere oder zusätzliche Konnotationen bekommen, wie z. B. »Tagschlucht«, »Kluftrose«, »Gletscherstuben«, »Brustwarzensteine«, »Wabeneis« u. a. Auf diese Weise entstehen neue Wirklichkeiten, in denen die Sprache des Dichters das reale Objekt nicht nur benennt, sondern es beinahe ersetzt, was Beda Allemann in seiner Rezension der Atemwende bereits kurz nach dem Erscheinen des Bandes feststellen konnte, indem er schrieb: Eine thematische Eigentümlichkeit der Dichtung Celans, die im Lauf der Zeit immer deutlicher zum Vorschein kam und im jüngsten Gedichtband ein Grundmotiv bildet, ist die enge Verflechtung und gegenseitige Durchdringung der Wort- und der DingSphäre. Es gibt im Atemwende-Band kaum ein Gedicht, das nicht durch diese Verflechtung geprägt ist. Sie geht so weit, dass es kaum mehr erlaubt ist, überhaupt mit dem abstrakten Gegensatz von »Wort« und »Ding« zu operieren, wenn man dem wirklichen poetologischen Verhältnis auf die Spur kommen will. Wörter, Namen, Silben, Buchstaben, Satzzeichen erscheinen ohne weiteres als Bestandteile der vom Gedicht evozierten Landschaft.15

Dabei geht es Celan immer darum, dass seine Bilder die Welt neu strukturieren, dass sie tiefere Ebenen der Realität aufdecken, die durch neue, unerwartete Konstellationen der Dinge in ihrer Semantik und Symbolik erst zu erfassen sind. Sein wichtigstes Medium auf diesem Weg ist seine neue poetische Sprache. Sie hebt sich nicht nur von dem Vokabular und den Formen der Alltagssprache, sondern auch von tradierten Modellen des bisherigen poetischen Denkens ab. Auffällig sind vor allem die große Zahl und die Vielfalt seiner Neologismen, sein unermüdliches Wortschöpfertum, mit dem er seine eigene Sprache schafft. Das bewirkt bisweilen den Eindruck der Hermetik, der Undurchsichtigkeit seiner Gedichte, die bis zu einem bestimmten Punkt nicht selten verschlüsselt bleiben. Es hat zwar an ihren Interpretationsversuchen nie gefehlt, sehr oft geben sie aber nur subjektive, manchmal kaum nachvollziehbare Deutungen verschiedener Interpreten, worauf Peter Horst Neumann hingewiesen hat: Sosehr Celans Gedichte zu ihrer Deutung einladen, sosehr sie mit dem Versprechen ihrer Deutbarkeit den Leser anlocken: da sie Zeugnisse einer Grenzsituation des Menschlichen wie der Sprache sind, werden sie sich immer auch der Deutung entziehen. Schon der Behauptung, sie seien vieldeutig, liegt ein Missverständnis zu Grunde. Der

14 Wolfgang Emmerich. Paul Celan, S. 134. 15 Beda Allemann. Zu Paul Celans neuem Gedichband »Atemwende«. In: Über Paul Celan, S. 195–196.

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Eindruck der Vieldeutigkeit entsteht erst bei dem Versuch, das Wort der Dichtung aus deren eigenem Idiom in die Sprache der ästhetischen Reflexion zu übersetzen.16

Man muss zugeben, dass diese Gedichte nicht mit gewohnten literaturwissenschaftlichen Methoden erläutert werden können, bei der es um die Analyse poetischer Tropen geht – sie sträuben sich dagegen, da die Mehrheit von Celans Neuschöpfungen keine herkömmlichen Metaphern sind, die das Gefühl des Lesers, seine Vorstellungskraft animieren können. Die meisten poetischen Bilder Celans sind von rationaler, intellektueller Natur, man kann sie nur dann produktiv rekonstruieren, wenn man das bildliche Potenzial ihrer von Fachtermini abgeleiteten symbolischen Bedeutungen mit dem Kontext der in diesen Gedichten entworfenen Wirklichkeit konfrontiert. Aber auch in diesem Fall kann man nicht immer sicher sein, dass die Interpretation völlig stimmt. Davor warnt auch Hans-Georg Gadamer, wenn er hervorhebt: Es kann überhaupt keine Interpretation geben, die Endgültigkeit besitzt. Eine jede will nur Annäherung sein und wäre nicht, was sie sein kann, wenn sie nicht selber ihren wirkungsgeschichtlichen Ort einnähme und damit in das Wirkungsgeschehen des Werkes einrücke.17

Das Verständnis hermetischer Gedichte von Celans Atemwende hängt nicht sosehr mit der Deutung einzelner Bilder als vielmehr mit der Bestimmung ihrer thematischen Leitmotive zusammen. Durch das Prisma eines Leitmotivs öffnen sich dann auch die Bilder, die sich in seinem Kraftfeld bewegen. Als Leitmotiv kann ein historisches, politisches oder persönliches Ereignis, eine Erinnerung, eine Begebenheit, ein Vorfall sein, daher ist es für die Interpretation vor allem wichtig, diesen Ausgangspunkt zu bestimmen, denn alles, was dann im Gedicht geschieht – alle Kollisionsverknüpfungen, Gedankengänge, bildliche Assoziationen – konzentrieren sich um diesen Mittelpunkt. Zu den wichtigsten thematischen Leitmotiven der Atemwende gehören solche Topoi wie Atem (Symbol für Dichtung), Wasser (Fluss, Meer, Sintflut), Schnee und Eis, Steine, Spiel (Würfelspiel), Schmerz und Wunde, Wahn, dann etliche Realien aus der jüdischen Religionsgeschichte und jüdischen Ritualen (Sabbat, Tefillin, Schofar), Symbole für das Totengedächtnis (schwarzer Strahl) und den Widerstand (Stehen). Viele von ihnen sind aufs Engste mit der Biographie des Dichters verbunden oder werden auf sein Leben extrapoliert, dadurch erklärt sich auch das leidenschaftliche Pathos, mit dem sie beschworen werden. Der Band vollzieht »die Wende zum mystischen Sprechen«18, was besonders krass in der Zahlensymbolik zum

16 Peter Horst Neumann. »Atemwende« – ein neuer Gedichtband Paul Celans. In: Über Paul Celan, S. 201. 17 Hans-Georg Gadamer. Wer bin Ich und wer bist Du? – S. 133–134. 18 Peter Horst Neumann, S. 200–201.

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Ausdruck kommt (»Die Zahlen, im Bund/ mit der Bilder Verhängnis/ und Gegen-/ verhängnis«): »vierzig/ entrindeten Lebensbäume«, »Zwanzig für immer/ verflüchtigte Schlüssselburg-Blumen«, »Wieviel/ Stumme?/ Siebenzehn«, »Zwölf-/ tönige Liebeslautbojen«, »einer der Wieviel-/ unddreißig/ war mein lebendiger Schatten«, »Fünfgebirg Kindheit«, »zwölfmal erglüht/ das von Pfeilen getroffene Drüben«, »Zehn Blindenstäbe,/ feurig, gerade, frei,/ entschweben dem eben/ geborenen Zeichen« usw. Um die richtige Bedeutung der Zahlensymbolik in den Gedichten Celans aus dem Band Atemwende zu erfassen, muss man in Betracht ziehen, dass er sich um diese Zeit intensiv mit der jüdischen Kabbala befasste und die wichtigsten Arbeiten des religiösen Philosophen Gershom Scholem studierte, in denen auch die mystische Semantik von Zahlen erläutert ist. Jeder Gedichtband Celans hat seine eigentümlichen, einzigartigen Merkmale, durch die er sich von den anderen Bänden des Dichters unterscheidet. Diese Merkmale können nach den mehrmaligen Lesen der Gedichte festgestellt werden, wie z. B. die wichtigsten Leitmotive von Atemwende, auf die schon oben hingewiesen wurde. Daraus geht hervor, – meint Elke Günzel, – dass ein einzelnes Gedicht, das aus dem Gesamtkomplex des Zyklus herausgerissen wird, nicht verstanden werden kann. Jedes Motiv wiederholt und verändert sich von Gedicht zu Gedicht. Diesen Motiven muss nachgegangen werden, um den Sinn zu verstehen. Jeder Zyklus erschafft einen neuen Wortbestand, der erst im Zusammenhang des Einzelbandes verstanden werden kann.19

Deswegen ist es so wichtig, Celans Gedichte nicht in einer willkürlichen Reihenfolge, sondern jeweils nach den von ihm selbst zusammengesetzten und geordneten Zyklen und Gedichtbänden zu lesen. Erst unter diesen Umständen können wir ihre durchgehenden thematischen Dominanten, inneren Korrespondenzen zwischen einzelnen Gedichten, Prinzipien der Zyklisierung, ihre Architektonik und Komposition feststellen, erst dann erscheint uns jeder Band als eine überaus durchdachte, dynamisch angelegte, in allen ihren Elementen ausgewogene ästhetische Einheit. Kaum weniger dicht als in dem vorhergehenden Gedichtband Die Niemandsrose tauchen in der Atemwende zahlreiche intertextuelle Bezüge auf, meistens implizit, als Entlehnungen mancher Bilder und Begriffe, Wörter und Redewendungen, die als solche manchmal nur schwer identifizierbar sind. Man kann hier Hinweise, Reminiszenzen und Anspielungen an die Bibel und an die norddeutschen Schwänke, an Homer, Hans Sachs, Shakespeare, Goethe, Lichtenberg, Jean Paul, Theodor Storm, Fontane, Hofmannsthal, Rilke, Kafka, Hans Henny Jahnn, Arno Schmidt, an die Künstler Antonin Dvorˇak, Vincent van Gogh, 19 Elke Günzel, S. 224.

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Sergej Eisenstein, Luis Buñuel, an die Philosophen Pascal, Henry Bergson, Leo Schestov, Ernst Bloch, Hugo Bergmann, Margarete Susman, an die sozialistischen Revolutionäre Wera Figner, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg u. a. treffen. Aber noch mehr orientiert sich die Atemwende in intertextueller Hinsicht an der Fachliteratur aus dem naturwissenschaftlichen Bereich, deren Begriffe und Termini für Celan ein unerschöpflicher Fundus für die Erneuerung seines poetischen Vokabulars gilt. Wie alle vorherigen Gedichtbände Celans, hat auch die Atemwende in zahlreichen Rezensionen eine kontroverse Kritik bekommen. Die häufigsten Einwände betrafen die Dunkelheit der Gedichte des Bandes, ihre schwere Zugänglichkeit, Wirklichkeitsferne und »das überzogene Reden« (Jost Nolte). Andere Besprechungen betrachteten Celans neuen Gedichtband als einen weiteren Schritt auf dem Wege seiner persönlichen, in die Tiefe gehenden Annäherung an historische und politische Realien seiner Zeit, als Verdichtung und Destillierung poetischer Materie mittels der »Coagulation« (vom lat. coagulare – »gerinnen machen«, z. B. vom Blut), indem sie seine »veränderte Sprechweise« (Georg Michael Schulz), das Austrocknen seiner dichterischen Sprache zugunsten der unverblümten, nüchternen, wahrheitsgetreuen Artikulierung wichtiger Probleme der menschlichen Existenz betonten. Bei einem literarischen Werk mit so stark ausgeprägter Innovationstendenz sind solch gegensätzliche Einschätzungen kein Wunder, denn zu weit hat sich der Dichter von tradierten Vorstellungen und Mustern entfernt, zu tief in die unerschlossene Sphäre des mystischen Sprechens gegriffen. Da wahre Poesie in ihren Vorahnungen und Erleuchtungen meistens mystisch gefärbt ist, stellt sie das ewige Lebensrätsel dar, wie der menschliche Atem. »Atmen, du unsichtbares Gedicht!« Der Dichter, der in diesem Sinne eine Atemwende vollzieht, huldigt dem tiefsten Geheimnis der Dichtung und des Lebens.

Fadensonnen: »Wo die Selbstentfremdung des Menschen aufhört«

Nur ein knappes Jahr liegt zwischen dem Erscheinen der beiden Gedichtbände Paul Celans Atemwende (28. 8. 1967) und Fadensonnen (3. 9. 1968). Dabei ist der neue Band der umfangreichste von allen bisher erschienenen – er zählt 105 Gedichte, die in fünf Zyklen angeordnet sind. Celan arbeitete daran fast zwei Jahre lang, zwischen September 1965 und Juni 1967, teilweise parallel mit den letzten Gedichten von Atemwende. In diesen Zeitraum fällt auch die Entstehung des Zyklus Eingedunkelt, der zu Lebzeiten des Dichters nur in einer kleinen Anthologie »Aus aufgegebenen Werken«1 (1968) publiziert wurde. Auch dieser neue Gedichtband erschien, wie ein Jahr vorher die Atemwende, bei Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. Der Titel des Bandes Fadensonnen wurde erst nach längeren Überlegungen gewählt, nachdem solche provisorischen Titel wie »Der Kolben«, »Sinnfäden«, »Quincunx«, »Die Freistatt«, »Findlinge«, »Schläfenkette« oder »Schläfenfirn« eine Zeitlang erwogen und dann verworfen wurden. Wie schon früher in Celans poetischer Praxis stammt der Titel, der ein Selbstzitat ist, nicht aus dem gleichen Gedichtband, sondern wurde einem Gedicht aus dem vorangegangenen Band Atemwende »entlockt«. Um seine etwas dunkle Bedeutung aufzuhellen und den Kontext, zu dem er gehört, noch einmal in Erinnerung zu bringen, sei hier der vollständige Gedichttext angeführt: Fadensonnen über der grauschwarzen Ödnis. Ein baumhoher Gedanke greift sich den Lichtton: es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.2

1 Aus aufgegebenen Werken. Hrsg. von Siegfried Unseld. – Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1968. 2 Paul Celan. Atemwende. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1967, S. 22.

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Die Urlandschaft, die hier entworfen wird, ruft zuerst durch ihre Öde und Abwesenheit jeglicher Zeichen des organischen Lebens das Bild des Universums in den ersten Tagen der Weltschöpfung hervor, wie wir es aus dem alttestamentarischen ersten Buch Mose kennen: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde./ Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser./ Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht./ Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis/ Und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.« (Genesis, I, 1–5). Zwar befremden die »Fadensonnen« das biblische Bild, denn in dieser Form – fadenartig und im Plural – kommen sie in der Heiligen Schrift nicht vor. Es gibt verschiedene Interpretationen dieser Neuschöpfung Celans, die von dem Namen eines astronomischen Geräts (Filargnomon oder Fadensonnenzeiger, der zur genauen Bestimmung der Mittagszeit dient) bis zur Darstellung einer apokalyptischen Landschaft reichen, wo mehrere Sonnen am Himmel zugleich stehen und durch Staubwolken ihre fadenähnlichen Strahlen aussäen. Allerdings erweist sich diese Landschaft bald als nicht ganz menschenleer – aber es fehlt dort an menschlicher Solidarität, so dass Lieder erst »jenseits der Menschen« zu singen sind. »Lieder« symbolisieren hier aber die menschliche Sprache als solche, das Gedicht kann man als Zeugnis des schmerzhaften Sprachverlusts verstehen. Die alte historisch belastete und verfälschte Sprache taugt nicht mehr, sie muss durch neue »Lieder« ersetzt werden. In diesem Sinne interpretiert das Celansche Gedicht der deutsche Literaturkritiker Joachim Günther: Geht es bei Celan auch eher um ein Nichts, Chaos, Tohuwabohu nach der Schöpfung, um ein »zukünftiges« Nichts im Seinmodus negativer Hoffnungen, so ähneln dessen Modalitäten und Attribute doch demjenigen vor der Weltschöpfung zum Verwechseln. Im Grunde geht es ja überhaupt weniger um das konkrete Nada- und Niemandsland als um das in der Sprache.3

In einer undatierten, aber offensichtlich kurz nach dem Erscheinen des Gedichtbandes Fadensonnen niedergeschriebenen poetologischen Notiz bringt Celan ein wenig Licht in sein eigenes Verständnis der Semantik dieses Kompositums auf, indem er schreibt: »Fadensonnen«: das ist dort, wo die Selbstentfremdung des Menschen aufhört… und das selbstentfremdende Gerede von ebendieser Selbstentfremdung.«4 Die Worte »jenseits der Menschen«, die manchmal ganz falsch als Ausdruck Celanscher Misanthropie verstanden wer3 Joachim Günther. Paul Celan: Fadensonnen (Rez.) – In: Neue deutsche Hefte, Jg. 15, H.4, Nr. 120, S. 127. 4 Paul Celan. Mikrolithen sinds, Steinchen. Die Prosa aus dem Nachlass. Kritische Ausgabe. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2005, S. 124.

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den, meinen gerade das Gegenteil: seine Sehnsucht nach menschlicher Gemeinsamkeit, nach Verbundenheit und Verständigung. Zugleich ist dieses Gedicht ein sprachkritischer Text, denn durch die Sprache können Menschen vereinigt oder getrennt sein. »Es ist ein Gedicht über die Möglichkeiten und Grenzen der Lyrik heute, an denen sich dann […] auch die Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens von Lyrik heute ablesen lassen«5 – meint Hartmut Steinecke. Wo liegen für Celan die Grenzen der Lyrik? Seit dem Gedichtband Sprachgitter dringt der Dichter in die Substanz der Sprache immer tiefer hinein, so dass sie sich für ihn schließlich als einzige tragende Kraft erweist. Hier bewegt er sich in gleicher Richtung. Sieglind Bogumil registriert diese Bewegung und stellt die hier existierenden Affinitäten fest: Dunkel spricht der »baumhohe Gedanke« den »Lichtton« aus […]. Dunkel scheint es als Licht hindurch, ist »schwarz-diaphan«, der Faden stellt sich in gleicher Weise vor die Sonnen, wie einst das Gitter die ursprüngliche Sprache verstellte. Von ferne spiegelt sich das »Sprachgitter« im Bild der »Fadensonnen«.6

Die schöpferische Produktivität des Dichters erreicht im neuen Band ihren Höhepunkt, obwohl die äußeren Umstände von Paul Celans Leben von mehreren negativen Ereignissen überschattet sind. Die schlimmsten davon sind seine notwendigen Einweisungen in psychiatrische Kliniken in und bei Paris, nachdem er im November 1965 im Wahnzustand seine Frau Gisèle mit einem Messer überfällt. Dort verbringt er zuerst rund ein halbes Jahr – von November 1965 bis Juni 1966, und dort sind auch viele Gedichte für den Band Fadensonnen und für den unveröffentlichten Zyklus Eingedunkelt entstanden. Anfang 1967 verschärft sich die psychische Erkrankung wieder – er verübt einen Selbstmordversuch durch einen Lungenstich in unmittelbarer Herznähe – was zu einem neuen Klinikaufenthalt bis Oktober 1967 führt. Danach kehrt Celan nicht mehr in die gemeinsame Wohnung zu seiner Familie in die Rue de Longchamp zurück, sondern »wohnt« zuerst in der Klinik mit Ausgangsgenehmigungen ab Ende April. In diese Zeit fallen auch seine berühmte Lesung an der Universität Freiburg, die Begegnung mit Martin Heidegger in Todtnauberg (Juli 1967), das Erscheinen seines Gedichtbandes Atemwende und des Übersetzungsbandes Einundzwanzig Sonette von William Shakespeare. Ende 1967 begegnet Celan in Paris dem Neurophysiologen Moshé Feldenkrais, der eine neue Methode der neurologischen Behandlung erarbeitet hat und von dem Celan sich eine Hilfe erhofft. Im Dezember 1967 zieht er in die Rue Tournefort 24 im Quartier Latin, in der Nähe von der École Normale Supérieure um. Trotz seines angegriffenen Zu5 Hartmut Steinecke. Lieder … jenseits der Menschen? In: Psalm und Hawdalah. Zum Werk Paul Celans. Akten des Internationalen Paul Celan-Kolloquiums New York 1985. Hrsg. von Joseph P. Strelka. Bern; Frankfurt a. M.; New York; Paris: Peter Lang 1987, S. 201. 6 Sieglind Bogumil. Celans Wandern im Wort. In: Neue Rundschau, 94. Jg., 1983, H. 1, S. 96.

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standes reist Celan um diese Zeit viel und veranstaltet mehrere Lesungen in verschiedenen Städten (Frankfurt am Main, Berlin, Bonn). In Paris verfolgt er dann aus nächster Nähe studentische Maiunruhen 1968, die ihn begeistern. Im gleichen Jahr erscheinen noch seine Übersetzungsbände Vakante Glut von André du Bouchet, Gedichte von Jules Supervielles, Das verheißende Land und Das Merkbuch des Alten von Giuseppe Ungaretti. Dieser biographische Hintergrund bildet somit die Kulisse für die Gedichte des Bandes Fadensonnen. Was für ein Weltbild entsteht hinter dieser Kulisse? Vor allem muss man sagen, dass es kaum eine erkennbare Widerspiegelung der realen Welt ist, denn Celans Bilder haben keinen mimetischen Charakter, sie erschaffen eher eine neue Realität inmitten ihres eigenen geschlossenen Systems. Es bleibt das Faktum, – schreibt Rudolf Hartung, – dass oft das einzelne Wort und das einzelne Gedicht aus sich heraus nicht oder kaum mehr verständlich ist, dass das Wort oder das Bild bei Celan häufig nur innerhalb des ganzen Systems aus Wörtern und Metaphern seine Bedeutung allenfalls enthält.7

Was versteht aber der angesehene Literaturkritiker hier unter »Bedeutung«? Celan ist meistens in seinen Bildstrukturen durchaus polyvalent, und der Kontext seiner Gedichte lässt dann viele Interpretationsmöglichkeiten zu, so dass es recht problematisch ist, die »Bedeutung« seiner semantischen Strukturen genau zu bestimmen. »Nach ›Bedeutung‹ der Bilder im landläufigen Sinne durfte man den Celanschen Mikrokosmos nie befragen«8 – behauptet Anneliese Odry. Die »Themen« seiner Lyrik spielen sich spätestens seit Sprachgitter immer mehr nur im sprachlichen Raum ab, die Sprache will für ihn die einzige wahre Realität sein. Die Sprache, als höchste Sublimierung des realen Lebens, als Modell unseres Denkens und »Haus des Seins« (Heidegger) bildet für ihn das wichtigste existenzielle Fundament, ersetzt ihm die realen Begebenheiten und Konstellationen der Wirklichkeit, indem sie ihn in die tieferen Sphären des Unbewussten führt und entführt, wo in den gegensätzlichen, einander ausschließenden Bildern seiner Gedichte eigene Welten entstehen, die jenseits der empirischen Realität lokalisiert sind. Dieses »Jenseits der Menschen« erinnert daher, nach Meinung Kai Fischers, »nicht zufällig an Plotins Bestimmung eines »Jenseits des Sein« oder an Wittgensteins Begrenzung des Sagbaren, das ausschließlich der Erfahrbarkeit mystischer Offenbarung unterliegt.«9 Die Realität dieser Gedichte ist kein harmonisierender Kosmos mehr – es ist eine zerrissene, fragmentarische Wirk7 Rudolf Hartung. An der Grenze zum Schweigen. Die gefährdete Lyrik Paul Celans. In: Zeit, 22. November 1968, S. Lit. V. 8 Anneliese Odry. Celans letzte Dinge. In: Rheinischer Merkur, Jg. 23, Nr. 47, 22. November 1968, S. 40. 9 Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann (Hrsg.) Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler 2008, S. 103.

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lichkeit, die nur im Kontext von Celans eigener individueller Metaphorik erfasst und erschlossen werden kann, eine zerbrechliche »Gläserwelt«, eigenmächtig konstruiert, in der keine irdischen Gesetzte mehr wirken: »Lügen sieben-/ lodern, Messer / schmeicheln, Krücken / Meineid schwören« (Gezinkt der Zufall). »die Degen/ angeln« (Wer herrscht?), »der meerige Lichtsumpf/ bellt an uns hoch« (Die teuflischen), hier löffelt man »Nervenzellen […] aus den Rautengruben« (Komm) und trägt man »den Hirnmantel leicht um die Schultern« (Seelenblind). Natürlich kann man auch hier von dem Begriff des »Chronotop« sprechen, aber Zeit und Raum sind in diesen Gedichten manchmal nur schwer genau definierbar, da diese Kategorien bei Celan meistens sehr verschwommen auftreten und sich ständig relativieren. Man hat den Eindruck, dass die Zeit hier für immer stehen geblieben ist: »Ich höre, es wird gar nicht später« (»Wer herrscht?«). Die Uhr, die als funktionelles Gerät für die Zeitvermessung bestimmt ist, wird in dieser erstarrten Zeitstatik überflüssig: »leb dich / querdurch, ohne Uhr« (Die Fleissigen). Die Zeit ist willkürlich, sie stellt sich der Uhr nicht mehr zur Verfügung und lässt sie »verhungern«: »Die Uhr / stiehlt sich die Zeit beim Kometen« (»Wer herrscht?«). Aber nicht nur solche kleinen Zeitabschnitte wie Minuten und Stunden, sondern auch größere zeitliche Phasen verlieren ihre immanenten Eigenschaften und geraten sozusagen in ihre »Identitätskrisen«: »das Nebenjahrtausend / fremdet sich ein« (»Lyon, Les Archers«), »Die Ewigkeit altert«. Diese Relativierung betrifft bei Celan auch räumliche Verhältnisse. In vielen Gedichten erwähnt der Autor reale Orte, sie werden explizit genannt, kommen nicht selten sogar in Titeln der Gedichte vor – Frankfurt, Hendaye, Pau, Lyon – oder tauchen dann in Gedichttexten auf: Bocklemünd, Cerveteri, Massada. Im Grunde sind es aber nur subjektive Dichterreflexionen, die uns mit der Bezeichnung der Orte signalisieren, wo das eine oder andere Gedicht entstand oder welche Gedanken und Gefühle diese Orte beim lyrischen Ich hervorrufen, man könnte sie jedoch als reale Topoi mit ihren Eigenschaften und Dispositionen in diesen Gedichten kaum identifizieren. Noch öfter erscheinen aber abstrakte Orte im utopischen Sinne, die nicht genau lokalisiert werden können: »jenseits von Zahl und Unzahl« (Die Dunkel-Impflinge), »jenseits der farnigen Dämme« (Die freigeblasene Leuchtsaat), »am außerhimmlischen Ort« (Zur Rechten), »am entnachteten Ort« (Eingehimmelt), »am Herzhang« (IRISCH), »Nah, im Aortenbogen«, »dahinter, im Bambus« (Mächte, Gewalten), oder sie werden als fiktive Topoi poetischer Phantasie bezeichnet: »die Stadt, / die sie baun / hinterm Glück« (Die Köpfe), »Die herzschriftengekrümelte Sichtinsel« usw. Das zentrale Motiv des Bandes, das schon im Titel angekündigt ist, – Kombination von »Faden« und »Sonnen« – wiederholt sich mehrmals in zahlreichen

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Lichtvariationen: »das große Licht, / zum Funken erhoben« (Wo bin ich?), »das verbotene Licht« (Der geglückte), »Strahlengänge« (Weissgeräusche), »Leuchtmuschel« (Die Eine), »bei halbem Muttermal-Licht« (Das unbedingte Geläut), »Schimmer des Urlichts« »Die freigeblasene Leuchtsaat«, »Ziw, jenes Licht« (Nah, im Aortenbogen) u. a. Die Lichtsemantik aktiviert sich schließlich noch im Titel des nächsten Gedichtbandes Celans: Lichtzwang. Kai Fischer betrachtet diese Lichtmetaphorik durch das Prisma der Wegsuche und schlägt vor, die Titelmetapher »Fadensonnen« als Wegweiser zu verstehen, als Möglichkeit einer Orientierung in der Finsternis: »In diesem Sinne sind die Gedichte des Bandes Fadensonnen so etwas wie die Dokumentation des Weges, den der Dichter zurückzulegen hatte.«10 Die Leuchtkraft Celanscher Bilder ermöglicht seine in den Gedichten vorgenommenen imaginären Reisen durch irdische Landschaften und geistige Sphären transparenter zu machen. Neben der Lichtmetaphorik spielt auch die Zahlensymbolik in Fadensonnen eine wichtige Rolle. Ihre Präsenz ist besonders im Spätwerk Celans auffällig, was vor allem mit seinem Interesse für die jüdische Mystik zusammenhängt. Die Zahlen, die in der jüdischen Kabbala, ja sogar im hebräischen Alphabet von Bedeutung sind, verwendet Celan für die Verstärkung seiner Bildassoziationen, denn schon ihre nominalen Bedeutungen sind imstande, den bildlichen Ausdruck zu potenzieren. Für ihn lassen sich Objekte seiner poetischen Welt durch Zahlen symbolisch vervielfachen, sie bekommen dann neue Facetten und Dimensionen. Die verborgenen, mystischen Beziehungen zwischen den Erscheinungen, Dingen und Namen durchdringen das religiöse und philosophische Bewusstsein der Juden seit eh und je, die Welt ist nach diesen Vorstellungen eine Kombination von Zahlen. »Farbenbelagert das Leben, zahlenbedrängt«, – sagt Celan in seinem Gedicht »Wer herrscht?«. Nicht selten hat die Zahl bei ihm eine hyperbolische oder paradoxe Funktion, äußert durch ihre in mehreren Religionen und Kulturen präsente Symbolik die Fülle und die Blüte eines Objekts oder eines Prozesses, ihren absoluten Höchststand: »Zwölfgesang« (Sichtbar), »der neunmal / geschlungene, triefende Grandelkranz« (Spasmen), »Siebenflöte« (Aus den nahen), »die hundert silbernen Hufe« (Der geglückte), »das dreizehn-/ lötige Nichts« (Eingewohnt-entwohnt), »das zehntürmige Wüstentor« (Ihr mit dem) usw. Der mystische Ton des Bandes Fadensonnen äußert sich auch in jenen kabbalistischen Vorstellungen, die Celan sich bei der Lektüre von Büchern des religiösen jüdischen Philosophen Gershom Scholem aneignete (»Von der mystischen Gestalt der Gottheit«, »Zur Kabbala und ihrer Symbolik«) und sie in dunklen, manchmal höchst chiffrierten Bildern seiner Gedichte wiedergab. Das bezieht sich vor allem auf jene Gedichte, wo kabbalistische Vorstellungen und 10 Celan-Handbuch, S. 103.

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Begriffe explizit oder implizit auftauchen – Ziv, Zelem, Schechina, Sefirot, – die zu den Trägern seiner poetischen Strukturen werden (»Ihr mit«, »Aus Engelsmaterie«, »Nah, im Aortenbogen«, »Verwaist«, »Beider«). In solchen Gedichten entstehen dann bildlich umgewandelte, metaphorisch angehauchte Entsprechungen zu den kabbalistischen Ausführungen Scholems, die nur mit der genauen Kenntnis dieser mystischen Assoziationen verständlich sind. Daher ist diese Kenntnis eine notwendige Vorbedingung für eine einleuchtende Interpretation seiner poetischen Bilder, die sonst verschlüsselte Chiffren bleiben. Eine andere Besonderheit des Bandes Fadensonnen ist Celans »technisches Zivilisationsvokabular«11. Vor allem stechen hier ins Auge mehrere medizinische Ausdrücke, insbesondere aus dem Bereich der Neurologie und der Psychiatrie. Hauptsächlich beziehen sich diese Fachwörter auf die Sphäre des Gehirns, was mit der psychischen Erkrankung des Dichters und seiner intensiven Lektüre der einschlägigen Literatur zu tun hatte. Begriffe wie Hirnstamm, Hirnlappen, Fibrille, Nervenzellen, Ozellen, Kommissur usw. zeugen davon, dass Celan sich in seiner Lektüre »auch theoretisch mit der Frage nach der Entstehung der Bilder im Unbewussten«12 beschäftigte. Dazu kommen noch anatomische Begriffe wie Aorta, Kranzarterien, Muskelfaser, Ovarien u. a. oder termini technici aus anderen wissenschaftlichen Bereichen, z. B. aus der Biologie (Metazoen), Physik (Elektronen, Antimagneten), Technik (Schlepptrosse, Duschraum, Zündschlüssel, Düse), Kunstgeschichte (Quincunx), Musiktheorie (Synkope, Allemande, Arioso), Phonetik (Kehlkopfverschlusslaut, Dreivokal) u. a. Dabei werden viele von diesen Begriffen nur selten in ihren fachwörtlichen Bedeutungen verwendet, vielmehr in Bildstrukturen transponiert, so dass sie zu den häufigsten Komponenten metaphorischer Neubildungen werden: »Die Kaltlicht-Ozellen«, »Gramfibrille«, »Kehlkopfverschlusslaut singt«, »die geheizte Synkope« usw. Aber nicht nur in der Wortwahl, sondern auch im allgemeinen Ton der Gedichte von Fadensonnen kann man spürbare Veränderung der dichterischen Intention feststellen. Dieser neue Ton äußert sich in der Häufung sarkastischer und grotesker Elemente, die manche Gedichte durchdringen, und betrifft, nach Winfried Menninghaus, jenes Setzen vulgärer, obszöner und blasphemischer Prägungen, das von Fadensonnen an immer stärker die Physiognomie von Celans Sprechen bestimmt und in seiner Distanzierung vom »erlesenen« Vokabular- und Bilderschatz des Frühwerks wohl das auffälligste wie auch bedeutendste Entwicklungsphänomen in Celans Gesamtwerk ist.13 11 Helmut Mader. Lieder zu singen jenseits der Menschen? Paul Celans »Fadensonnen« und »Ausgewählte Gedichte« aus seinen früheren Bänden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (S), 04. 01. 1969 (Sa), S. BuZ5. 12 Bogumil, Celans Wandern im Wort, S. 94. 13 Winfried Menninghaus. Paul Celan. Magie der Form. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1980, S. 195.

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Dieser frivole »Shanty-Ton«, dieser »Vaganten-Moment« bringt manchmal Celans Gedichte aus dem »orphischen Dunstkreis« in die Atmosphäre einer zügellosen Possenreißer-Stimmung. »Der Autor entpuppt sich plötzlich als unmetaphorischer Zecher, als Sänger von Gauner- und Ganovenweisen, der versucht, alle »gemanschte Tristesse« hinter sich zu lassen.«14. Das betrifft vor allem solche Gedichte wie »Spasmen«, »Tau«, »Üppige Durchsage«, »Unbedeckte«, »Haut Mal« u. a., wo »unlyrische« Vulgarismen und blasphemische Formulierungen zum stilbildenden Prinzip werden. Es ist wohl kein Zufall, dass die Hauptleistung dieser Gedichte nicht im thematischen, sondern in sprachlichen Bereich liegt. Der thematische Kreis reduzierte sich in Fadensonnen wesentlich, vor allem infolge längerer Aufenthalte des Dichters in psychiatrischen Kliniken, wo er sich immer tiefer in sein Inneres zurückziehen musste. Seit dem dritten Abschnitt (ab dem Gedicht »Entteufelter Nu«) folgen im Band lauter Klinikgedichte. Doch der sprachliche Aspekt erhielt dadurch sogar neue Impulse und Intensivierung – das Experimentelle nimmt hier noch mehr zu: Wort- und Klangspiele (»Ewig, verunewigt bist du, / verewigt, Unewig, du« – »Spasmen«, »Vermessen, entmessen, verortet, entwortet – »Deine Augen im Arm«), Paradoxien und Oxymoren (»Die Liebe, zwangsjackenschön«, »Kommend-Entkommend« – »Wo bin ich«, »hörbar-unhörbar« – »Weissgeräusche«), Verkürzung der Metapher zu Anspielungen (»aschendurchfadmet«, wo die Bedeutungen »durchatmet« und »mit Fäden durchwoben« präsent sind), Wortkürzungen (mittnachts) und andere stilistische Mittel zeugen davon, dass seine sprachschöpferische Kraft nicht nachgelassen, sondern vielmehr gesteigert ist. Spürbare Reduktionen betreffen auch formale Sphäre – es gibt kaum längere oder langzeilige Gedichte mehr, die Syntax ist ruhiger geworden, auch die Expressivität vermindert sich merklich. Das sind also Gedichte, die – wie Rudolf Hartung bemerkt – »gerade der äußersten Reduktion und Isolierung ihr Gelingen verdanken: Gedichte ohne expressive Schönheit, mit zurückgenommener Pathos-Geste, beständige und weiterwachsende Wahrheiten«15. Da sich Kontakte des Dichters mit der äußeren Welt infolge seiner gesellschaftlichen Isolierung wesentlich verringern, ist er in noch größerem Maße auf seine eigenen Lektüreerlebnisse angewiesen. Das Dialogische, das schon immer in seinen Gedichten eine überaus wichtige Rolle spielte, findet seinen Ausdruck in zahlreichen intertextuellen Bezügen – die Bücher des Alten und des Neuen Testaments, Zenon von Elea und Plato, Josephus Flavius und Spinoza, Freud, Kafka und Brecht, Albert Camus und Gershom Scholem, aber auch medizinische 14 Gottfried Just. Vom Niemandsland nach St. Pauli. Celans jüngster Gedichtband: Fadensonnen. In: Stuttgarter Zeitung, Jg. 25, Nr. 128, 7. Juni 1969, S. 52. 15 Hartung, An der Grenze zu Schweigen, S. Lit. V.

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Traktate des altgriechischen Arztes Hippokrates oder moderne Vorstellungen über den menschlichen Körper aus dem populären anatomischen Nachschlagewerk Adolf Fallers geben ihm spürbare Impulse zur dichterischen Inspiration und zur Ausweitung des dialogischen Prinzips seiner Gedichte. Krankheitsbedingt erhebt er Texte dieser Autoren zu seinen Gesprächspartnern. Die Rezeption des Bandes Fadensonnen in der deutschen Literaturkritik war recht zurückhaltend. »Kein anderer Gedichtband Celans ist weniger kommentiert und erfolgreicher ignoriert worden als Fadensonnen«16 – meint Kai Fischer. Obwohl der Band relativ viele Besprechungen bekommen hatte, waren die Rezensenten bei ihren Einschätzungen einigermaßen ratlos. Vor allem hob man dabei den Mangel an Realitätsbezügen hervor: »Celans Sprachzeugungen haben keine Außenbeziehungen mehr; in ihnen rollt sich die Sprache selber ein und wieder aus«17 – meinte Joachim Günther. Am meisten verwirrte die Rezensenten die subjektive Verschlüsselung des Bandes, die hermetisch und esoterisch wirkte. Man betrachtete diese Gedichte als »dunkle Verklausulierung« (H. Mader), als »eine sich weitersteigende Sensibilität« (K. Krolow), als »Sprache, die […] nur noch an sich selbst erinnert« (S. Bogumil) und schließlich als »eine reine Wortwelt« (J. Wallmann). Man sah in Fadensonnen eine »umfangreichere« Fortsetzung von Atemwende, aber man stellte zugleich fest, dass sie irgendwie unzureichend war. »Es entsteht geradezu der Eindruck, als wäre hier alles gesammelt worden, was einem vor dem strengeren Auswahlprinzip nicht standhielt«18. Es gab für diese Reserviertheit der Literaturkritik mindestens zwei wichtige Gründe. Zum einen erschien fast gleichzeitig mit dem Band Fadensonnen auch eine mit dem Nachwort von Beda Allemann ausgestattete Auswahl aus Celans bisherigem Werk, eine Art Querschnitt durch seine früheren fünf Gedichtbände, die sehr anschaulich und übersichtlich seine Entwicklung als Dichter zeigte19. Vor dem Hintergrund dieser bereits etablierten und »zugänglichen« Auswahl, in der die bekanntesten poetischen Texte Celans gesammelt worden waren, wirkte der neue Band mit seinen alogischen, willkürlichen, zuweilen an das Absurde grenzenden Bildstrukturen sowohl für die Leserschaft als auch für die Literaturkritik sehr herausfordernd, so dass der Vergleich beider Bücher im rezeptiven Aspekt sich für Fadensonnen durchaus ungünstig ergab. Zum anderen erwies sich die dichterische Entwicklung Celans in seinen späten Gedichtbänden so radikal, dass die damalige Literaturkritik seine ästhetischen Experimente noch nicht nachvollziehen konnte – erst der unerwartete Tod des Dichters und seine 16 17 18 19

Celan-Handbuch, S. 98. Günter, Paul Celan: Fadensonnen, S. 128. Mader, Lieder zu singen jenseits der Menschen?, S. BuZ5. Paul Celan. Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. Nachwort von Beda Allemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1968.

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nächsten Gedichtbände, die bereits posthum erschienen sind, haben einen notwendigen Kontext und eine notwendige Perspektive für die Rezeption der späten Gedichte geschaffen und seine poetische Innovationen erkennen lassen. Heute, aus der Perspektive eines halben Jahrhunderts seit dem Erscheinen von Fadensonnen, nachdem Celans poetisches Werk von den unzähligen Literaturwissenschaftlern in allen seinen Fasern gründlich durchgearbeitet wurde, lesen sich diese Gedichte anders. Vieles, was damals in ihnen undurchsichtig und dunkel schien, kommt uns heute nicht mehr so verschlossen vor, denn durch die nähere Klärung biographischer Konstellationen und zahlreiche Publikationen aus dem Nachlass des Dichters sind die Umstände ihrer Entstehung und die konkreten Anlässe, die sie ins Leben gerufen haben, bekannt geworden. In diesem neuen Licht nimmt der Gedichtband Fadensonnen in Celans poetischem Universum seinen gebührenden Platz ein – als eine höchst produktive und wichtige Etappe in seiner unaufhaltsamen dichterischen Entwicklung.

Lichtzwang: Sehnsucht nach Dunkelheit

Lichtzwang, der siebte Gedichtband Paul Celans, erschien postum beim Suhrkamp Verlag am 2. Juni 1970, versehen mit einer schwarzen Banderole und der Aufschrift: »Paul Celans letztes Gedichtbuch – Publikation aus dem Nachlass«. Das Letztere stimmte nicht ganz, denn der Dichter hat diese Gedichtsammlung bereits im Juni 1968 weitgehend fertig gestellt, aber erst am 2. März 1970 noch eigenhändig das Manuskript an den Verlag geschickt. Zwischen der Fertigstellung des Bandes und seinem Erscheinen liegen also rund zwei Jahre. Naturgemäß entsteht eine Frage – warum war diese Pause so lang? Eine der möglichen Erklärungen dafür wären die schweren Depressionen des Dichters, die um diese Zeit ihn immer öfter heimgesucht hatten, und die damit verbundenen Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, die seinen gewöhnlichen Lebensrhythmus zwangsläufig geändert hatten. Dabei muss zugleich bemerkt werden, dass seine schöpferische Aktivität dadurch keinesfalls gelähmt war – gerade um diese Zeit erreichte sie eine ungewöhnliche Intensität und Dichte. Aber vielleicht wollte Celan auch nicht alles Geschriebene auf einmal publizieren, denn vorher sind in kurzen zeitlichen Abständen seine Gedichtbände Atemwende und Fadensonnen sowie einige Übersetzungsbücher erschienen. 81 Gedichte des neuen Bandes, die in sechs nicht streng chronologisch angeordneten, mit römischen Ziffern verzeichneten Zyklen eingeteilt waren, sind vom 9. Juni bis 12. Dezember 1967 geschrieben worden. Dies ist der kürzeste Zeitraum, in dem ein Gedichtband Celans je entstanden war. Wie bei manchen vorherigen Bänden, hat der Dichter nicht sofort den endgültigen Titel gefunden, sondern ihn aus vielen Varianten erst allmählich gewählt. In Betracht kamen zuerst solche Titel wie »Narbennaht« (»Narbennähte«), »Freizeichen«, »Steinmut«, »Wundgewinn«, »Steinhaube«, »Mit fahniger Lunge«, »Streubesitz«, »Siebenhöhe«, »Steinblick«, »Strahlengang«, »Ziw, jenes Licht«, »Sinneinwärts«, »Am Abschiedsgrat« u. a. Eine enge Verzahnung mit dem vorangehenden Band Fadensonnen bezeugt der Umstand, dass die Handschriften der ersten Fassun-

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gen noch unter dem Titel »Nach Fadensonnen« standen.1 Zwei der Arbeitstitel wurden öfters erwogen: »Der Bakensammler« und »Schwarzmaut«. Unter dem letzten Titel erschien im Frühjahr 1969 bei »Brunidor« (Paris) der erste Zyklus des Bandes mit vierzehn Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange in einer bibliophilen Ausgabe von 85 Exemplaren. Doch für den Band selbst wurde schließlich der Titel Lichtzwang gewählt. Diese ungewöhnliche metaphorische Neuprägung stammt aus einem Gedicht des ersten Zyklus des Bandes: Wir lagen schon tief in der Macchia, als du endlich herankrochst. Doch konnten wir nicht hinüberdunkeln zu dir: es herrschte Lichtzwang

Schon aus dem Kontext dieses Gedichts ist ersichtlich, dass das Titelwort des Bandes eine negative Konnotation hat. Es ist ein aggressives, störendes Licht, zu dem das kollektive »wir« genötigt wird, das sich vor einer Gefahr in der Macchia versteckt. Die naheste semantisch bedingte Assoziation läge hier bei den französischen Widerstandskämpfern, die während der deutschen Okkupation Frankreichs in den Jahren 1940–44 »maquis« genannt wurden. Da es eine illegale Partisanenbewegung war, die ihre Aktionen gegen die Nazis hauptsächlich bei Nacht und Nebel durchführte, war das Licht für sie unerwünscht, ja geradezu feindlich. Daher mussten die »maquis« immer »hinüberdunkeln«, also im Dunkel ganz leise hinschleichen, um unbemerkt zu bleiben. Aber das Gedicht hat offensichtlich für Celan auch eine andere Dimension – als Person hat der Dichter nie das grelle Licht ertragen, und zur Zeit der Entstehung dieses Gedichts befand er sich in der psychiatrischen Klinik, einem Ort für geistig gestörte Menschen, so dass das grelle Licht medizinischer Beleuchtung ihm geradezu weh tun sollte. Das bildhafte Kompositum »Lichtzwang« ist somit ein Beispiel Celanscher Paradoxie, die zu einem Oxymoron tendiert, denn Licht ist in der Dichtung verschiedener Völker traditionell mit positiver Semantik und Symbolik geladen, und nun entsteht hier in Verbindung mit Zwang eine Situation der Nötigung und Gewalt. Es ist wahrscheinlich auch mit dem technischen Fortschritt der neuesten Zeit verbunden, mit modernen Medien und dem grellen Licht der Werbung, das bei vielen empfindlichen Menschen die Lichtscheu als Abwehrreaktion auslöst. »Nur so kann der Mensch die tyrannische Helle industriell vervielfältigter Eindimensionalität, das kommerziell hergestellte Ausgeleuchtsein des Lebens erle1 Paul Celan. Lichtzwang. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Bearbeitet von Heino Schmull unter Mitarbeit von Markus Heilmann und Christiane Wittkopp. – Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2001, S. 2 [Paul Celan. Werke. Tübinger Ausgabe, hrsg. von Jürgen Wertheimer].

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ben«2. Wie im Falle mit den Titeln Die Niemandsrose, Atemwende oder Fadensonnen bildet hier Celan mit dem paradoxen Kompositum Lichtzwang einen poetischen Begriff von kristalliner Dichte. Das Wort zeigt eine ungewöhnliche Perspektive, wirkt befremdend, evoziert den Leser mit seiner polemischen Zuspitzung. Das stellten schon früh auch manche Literaturkritiker fest, z. B. Horst Bienek, der in dieser Neuprägung einen tieferen suggestiven und durchaus tragischen Sinn erblickte: »Lichtzwang«: auch so ein Wort, über das man nicht gerade spekulieren, aber doch ein wenig nachdenken sollte. Darüber gebeugt wie über einem Insekt, das im Stein eingeschlossen ist. Ein Stein kann nicht bluten. Aber ein Stein kann leuchten.3

Licht und Dunkel bilden hier im gewissen Sinne eine inhaltliche binare Opposition des Bandes mit den spürbaren Konnotationen ursprünglicher biblischer Gegenüberstellung von Licht und Finsternis, nur sind ihre Charakteristiken und Einschätzungen bei Celan ganz anders geartet. In mehreren Gedichten dieses Bandes herrschen Nacht, Dämmerung, Dunkelheit, in denen das lyrische Ich mit seinem Wort sich bergen kann, wo es sich heimischer fühlt als beim überhellen Licht, denn Licht ist in der Vorstellung des Dichters ein Todesverbündeter, es ist ein »Sterbelicht«: Klopf die Lichtkeile weg: das schwimmende Wort hat der Dämmer.

In diesem Sinne kann man Celansche dichterische Interpretation der Dunkelheit mit deren Auffassung des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard vergleichen, der einmal auf die Frage, warum in seinen Büchern immer die gleiche totale Finsternis herrscht, eine paradoxe Antwort gab: »In der Finsternis ist alles deutlich«4. Auch für Celan ist hier die Dunkelheit ein Grundstein seiner Weltauffassung, sie hat auch mit seinen poetologischen Vorstellungen zu tun, mit seiner Vorliebe für eine dunkle, verschlüsselte Schreibweise, bei der der Leser nicht sofort zum Verständnis des im Gedicht Ausgesprochenen kommt, sondern nur allmählich, nach mehrmaligem Lesen, nach und nach seine semantischen und metaphorischen Schichten entdeckt. Lichtzwang ist nicht nur ein Titel, – meint in seiner Besprechung des Bandes Gottfried Just, – sondern verrät wie Paul Celans frühere Gedichtbände Sprachgitter, Die Nie2 Mathias Schreiber. Dunkle Gedichte gegen den Lichtzwang. In: Frankfurter Neue Presse, 13. Juni 1970. 3 Horst Bienek. Ein Stein blutet nicht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Mai 1975, BuZ. 4 Thomas Bernhard – Drei Tage. Ein Film von Ferry Radax. Deutschland 1970, 52 min, Produktion: IFAGE-Filmproduktion, Westdeutscher Rundfunk (WDR).

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mandsrose oder Atemwende ein poetisches, ein existenzielles Programm: die verzweifelte Anstrengung, in eine klar geschiedene Sphäre zu gelangen, dorthin, wo sich’s noch sprechen lässt, wo eine Verständigung möglich ist: auf jenes unbekannte Du hin, das Paul Celan vor Jahren in der Rede zur Büchner-Preis-Verleihung beschwor.5

Der metaphorische Begriff »Lichtzwang« bildet somit eines der Leitmotive des Gedichtbandes, der nicht immer explizit ausgedrückt, doch in vielen Gedichten präsent ist. Andere Leitmotive, in äußerster Stufe von Abstraktheit, reihen sich an: Bedrohung und Gefahr, Herrschaft und Gewalt, Wunde, Schmerz, Einsamkeit und Trauer, Trennung und Abschied, Wahn und Tod. Sie durchdringen mehrere Gedichte. Beliebte Erkenntnissphären bilden hier Geologie und Archäologie, Biologie und Physik, Anatomie und Neurologie, Astronomie und Weltraumforschung. Manchmal greift der Dichter in solch spezielle Fachbereiche wie Meereskunde, Flugtechnik, Atomphysik oder Forstwirtschaft. Oft spielen Gedichte auf die frühen Phasen menschlicher Geschichte (Urzeit, Eiszeit), auf Mythologie und Mystik an. Die reale Wirklichkeit ist bruchstückhaft, gefiltert durch das dichte Sieb subjektiver Gefühle und Vorstellungen. Zu den wichtigsten Symbolen gehören hier auch Stein und Kahn, Reiten und Schwimmen. Häufig kommen hier auch Sprachreflexionen und poetologische Überlegungen vor – Gedicht und Gesang, Wort und Klang. Manche Gedichte zeigen verfremdete reale oder innere Landschaften, in denen einzelne Körperteile eine wichtige Rolle spielen. Auch Lichtzwang wimmelt von zahlreichen intertextuellen Bezügen – deutliche Hinweise oder Anspielungen gibt es auf die orientalische Märchensammlung Tausendundeine Nacht (»Hörreste, Sehreste«), auf Homer (»Sperrtonnensprache«), Meister Eckhart (»Treckschutenzeit«, »Du sei wie du«), Alexander Puschkin (»Schwanengefahr«), Théodore Géricault (»Blitzgeschreckt«), Karl Marx (»Highgate«), Carl von Ossietzky (»Oranienstrasse 1«), Bertolt Brecht (»Herzschlag-Fibeln«), Konstantin Brancusi (»Bei Brancusi, zu zweit«) oder Martin Heidegger (»Todtnauberg«). Außerdem erscheinen hier Reaktionen auf aktuelle Begebenheiten und Ereignisse wie der Vietnam-Krieg (»Einem Bruder in Asien«), Weltraumflüge (»Mit Traumantrieb«) oder moderne industrielle Produktion (»Fertigungshalle«). Wegen dieses breiten Spektrums von Themen und Motiven hinterlässt der Band Lichtzwang zeitweilig den Eindruck einer eher fragmentarischen, zerlegten Wirklichkeit. Die meisten Gedichte sind hier wie Steinchen eines Kaleidoskops, nur in ihrem Gesamtbild formen sie eine gewisse, manchmal schwer erkennbare Einheit. In seinem vorletzten, zu Lebzeiten publizierten Buch Atemwende (1967), – meint Jürgen P. Wallmann, – war noch die Rede von einem »singbaren Rest«. Nun, in Lichtzwang, 5 Gottfried Just. Danach gibt es kein Später. Zu Paul Celans letztem Gedichtband. – In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 183, 1./2. August 1970, BuZ.

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sind nur noch »Hörreste, Sehreste« geblieben. Der Dichter ist »nachtblind, tagblind, weltblind« geworden, und er unterliegt beim Kampf mit dem »Wortstier«.6

Diesen Kampf mit dem ungeheuren, unbarmherzigen »Wortstier«, d. h. mit der konservativen Trägheit der Sprache, der er jedes neue Wort und jedes neue Bild nur mit äußerster Anstrengung aller geistigen Kräfte entringen kann, musste der Dichter in seiner Pariser Isolation ganz einsam austragen. Viele Freundschaften gingen im Laufe der »Goll-Affäre« verloren, seine erneuten Depressionen führten zur spürbaren Abkühlung der Beziehungen mit Gisèle. Der größte Teil der Gedichte von Lichtzwang war in der Pariser Universitätsklinik Sainte-Anne geschrieben, wo er von seiner Familie, von seinen Büchern und von seinen Studenten getrennt war. Daher nahm seine Vereinsamung, seine Weltferne immer mehr zu. Immer weiter, – meint Sabine Schultze, – hatte Celan sich aus dieser Welt entfernt, war aus dem Alltag und der Allerweltsprache herausgetreten. War immer einsamer geworden. Die Entwicklung hatte in einer früheren Epoche eingesetzt. Durch Sprachgitter schloss er sich von der Außenwelt ab. Lichtzwang bezeichnet nur den Endpunkt dieser Entwicklung.7

Diese Weltfremdheit Celans erklärt sich aber nicht nur aus seiner Vereinsamung, sondern auch aus seinen ästhetischen und poetologischen Prämissen, die er in seinen letzten Gedichtbänden entwickelt hatte. Die Verdichtung seiner Bilder hatte inzwischen eine Grenze erreicht, hinter der die Kommunikation mit dem Leser bricht. Am besten illustrieren es Celans Neuprägungen, jene Komposita, die Begriffe aus kaum vereinbaren Sphären zusammenbringen – daher ist es so schwer, assoziative Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Sie greifen oft in Bereiche, die noch nie nebeneinander gestanden waren, darum wirken sie befremdend und lösen mittlerweile beim Lesen einen assoziativen Schock aus: »Seinstrog«, »Aschenkelle«, »Tränentrumm«, »Nadelblicke«, »Lichtkeile«, »Bauchfratze«, »Stirnsplitter«, »Torforgel«, »Zeitwinkel«, »Sperrtonnensprache« usw. oder hypermetaphorische, paradoxe Bildausdrücke wie »augenfingrige Ferne«, »Nacken des Worts«, »Fundsache Seele«, »Schminke Wahrheit«, »Rauhnacht Immerimmer«, »unendlich geerdete Schwermut« u. a. Wie kommt es, – fragt Rudolf Hartung, – zu diesen befremdlichen, fragwürdigen, außerhalb und nicht selten auch innerhalb des Kontextes schwer verständlichen Neuprägungen? Offensichtlich ist es so, dass das einfache, vorgegebene Wort dem Gedicht

6 Jürgen P. Wallmann. Nachtblind, tagblind, weltblind. In: Der Tagesspiegel (Berlin), vom 15. 11. 1970, S. 46. 7 Sabine Schultze. Wortschatten aus dem Schweigen. Zum 50. Geburtstag Paul Celans. In: RheinNeckar-Zeitung (Heidelberg), 24. 11.1970.

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Celans nicht mehr genügt: jenes Wort, das einer unmittelbar identifizierbaren Wirklichkeit entspricht.8

Celan arbeitet in diesem Band vor allem »in Bauch der Sprache«, wo er, wie im mütterlichen Schoß, eine Zuflucht vor den Lebensgefahren findet. Er sucht sich Worte und Wortfügungen in der einschlägigen Fachliteratur oder populärwissenschaftlichen Nachschlagewerken aus, die oft jenseits des traditionellen Vokabulars des durchschnittlichen Lesers liegen, die dann die komplexesten Bildgefüge und dichtesten Zusammenballungen formen. Es bedeutet aber nicht, dass diese Sprache keine Entsprechungen in der unmittelbaren Realität hat – nur liegt diese Realität nicht mehr auf der Handfläche, sie wird durch sein subjektives Wahrnehmen wie ein Sonnenstrahl in einer Linse gebrochen und erscheint dem Leser in ihrer mehrmals transformierten und geänderten Form. Er ist ein leidenschaftlicher Wortjäger, ein poetischer Magier, der für seine Zwecke die tiefsten Schichten der Sprache durchwandert und mobilisiert, der aus ihrem Arsenal immer neue semantische und bildliche Verquickungen hervorzaubert, ein »Bakensammler«, der die glühenden Lichtsignale der Wirklichkeit in sprachliche Energien umwandelt. In diesem Sinne schrieb der Dichter am 7. April 1970, kurz nachdem er das Manuskript des Bandes Lichtzwang abgeschickt hatte, an seinen Verleger Siegfried Unseld: Meine Gedichte sind weder hermetischer geworden noch geometrischer; sie sind nicht Chiffren, sie sind Sprache; sie entfernen sich nicht noch weiter vom Alltag, sie stehen, auch in ihrer Wörtlichkeit – nehmen Sie etwa »Fertigungshalle« –, im Heute. Ich glaube, ich darf sagen, dass ich mit diesem Buch ein äußerstes an menschlicher Erfahrung in dieser unserer Welt und dieser unserer Zeit eingebracht habe, unverstummt und auf dem Weg zu Weiterem.9

Dieses schwierigste Ziel, das Celan sich in seiner extremen Lebenssituation gestellt hat, verlangte ebenfalls einen neuen poetischen Ausdruck, der darin bestand, das Höchste und Reinste zu sagen. Das machte ihn mit der poetischen Intention Hölderlins verwandt. Die Suche nach dieser neuen poetischen Sprache führte Celan »immer tiefer in die entferntesten Bezirke seines Geistes […] Diesen so weit es ihm möglich war auszumessen, d. h. eine sprachliche Form für ihn zu finden, die ihn nennt, ohne ihn zu begrenzen, wurde ihm in den Gedichten von Lichtzwang zur Aufgabe«10 – meint Sieghild Bohumil-Notz. Sie betrachtet Lichtzwang-Gedichte als »einen neuen orphischen Gesang« – mit allen Eigentümlichkeiten dieser Art des Singens, mit seiner Dunkelheit, Verschlossenheit 8 Rudolf Hartung. Paul Celan. Lichtzwang. Eine Radiosendung. Deutschlandfunk, Abt. Literatur. Sendezeit: 2. August 1970. 9 Paul Celan. Lichtzwang. Vorstufen – Textgenese – Endfassung, S. VIII–IX. 10 Markus May, Peter Gossens, Jürgen Lehmann (Hrsg.) Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler 2008, S. 106.

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und seinem visionären Blick, seinen mystischen Zügen, mit seiner neuen poetologischen Ordnung der Wörter (»Silbenschrift«), die die Syntax und notwendige Alltagslogik abschaffen und zerstören11. Es ist ein Sprechen, bei dem, wie Celan in seiner Meridian-Rede sagte, »alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen«12. Das Paradoxe, Absurde sowie das Bittersarkastische, Blasphemische spielte in der Lyrik Celans schon immer eine gewichtige Rolle, es ist ein festes konstitutives Element seiner Gedichte auch im Lichtzwang: Die Entsprungenen Graupapageien lesen die Messe in deinem Mund. Du hörst regnen und meinst, auch diesmal sei’s Gott.

Oft fehlen in diesen Gedichten die notwendigen logischen oder assoziativen Verbindungsglieder, es entsteht der Eindruck der Willkürlichkeit, der Zufälligkeit bildlicher Zusammenhänge. Dann entziehen sie sich dem rationalen und emotionalen Verständnis und bleiben für die Leser verschlossen. Viele Rezensenten des Bandes Lichtzwang betonten die Undurchsichtigkeit dieser Gedichte, betrachteten sie als einen abschließenden Akkord einer langen poetischen Entwicklung, die an den Rand des Möglichen geführt wurde und keine weitere Perspektive mehr habe. So seien für Gottfried Just diese lyrischen Texte nicht nur ein Beispiel des durchaus hermetischen Stils des Dichters, sondern auch Endpunkt poetischer Tradition der deutschen Lyrik im Allgemeinen: Lichtzwang, sein letzter, postum veröffentlichter Gedichtband, – schreibt der deutsche Literaturkritiker, – ist wirklich ein Spätwerk, ein Buch, das am Ende steht, ohne Zukunft. Was der Leser, befremdet genug, darin entdeckt, wirkt ausgeglüht, kalt und kosmisch, entmenschlicht, entindividualisiert, entmaterialisiert: Wortspuren, Sprachsplitter, deren Verbindungsstücke fehlen. Der da stockend spricht, nennt sich nachtblind, tagblind und weltblind – was seinen Kollegen aus früheren, der Dichtung günstigeren Jahrhunderten Seele hieß, ist für ihn eine Fundsache, die sich im Übrigen nirgends mehr findet. Nicht die Niemandsrose erscheint ihm als Inbegriff der Welt, sondern ein Schlammkahn. Zeit entpuppt sich als Kröte, Leben als Karrenspur: als graue Mühe, die kein poetischer Nihilismus überwindet oder nur bannt.13

Der Grundtenor dieser Einschätzung ist charakteristisch für kritische Reaktionen auf das Erscheinen von Lichtzwang. Offensichtlich waren Celans poetolo-

11 Celan-Handbuch, S. 109. 12 Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1990, S. 57. 13 Gottfried Just. Danach gibt es kein Später. In: Süddeutsche Zeitung, 1./2. August 1970, BuZ.

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gische Prinzipien der »kompakten Diktion«14, wie er es in einem Brief an seine Frau vom 23. August 1968 formulierte, für die damalige deutsche Literaturkritik zu fremd, zu abstrakt, das Wesen seiner »graueren Sprache«, die auf reservierte, unpathetische Aussage setzte, zu kühl. Man spricht vom »resignativen Hauch«15 und vom »Zerfall der Substanz«16, von der »matten Variation früherer Motive« und von »dünn gefeilten Montagen aus dem Vokabular der modernen Technik«17, von der »Poesie, die in Bildgedanken besteht und die Welt hinter sich gelassen hat«18, und vom »Ende des Gedichtes«19. Besonders krass zeigten sich diese rezeptiven Schwierigkeiten des neuen Gedichtbandes bei der Lesung während der Stuttgarter Tagung der Hölderlin-Gesellschaft am 21. März 1970, die dem 200-jährigen Geburtstag des Dichters gewidmet war. Für Celan, der sich in der letzten Zeit mit Hölderlin immer mehr identifizierte, sollte diese Lesung eine symbolische Bedeutung haben, er erhoffte sich bei den Teilnehmern der Tagung ein besonders versiertes und verständnisvolles Publikum zu treffen. Die Veranstaltung fand im Silcher-Saal der berühmten Stuttgarter Liederhalle mit etwa 400 Zuhörern statt und erweckte zuerst große Erwartungen. Doch sie haben sich kaum erfüllt, mehr noch, die Lesung fiel für Celan beinahe katastrophal aus. Es gibt einige Erinnerungen an dieses Ereignis, die einander ergänzen, grundsätzlich aber sehr einstimmig sind. So beschreibt der Publizist Kurt Lothar Tank diesen poetischen Abend wie folgt: Fahlstimmig las er, aus einem umfangreichen Manuskriptbündel fünfzehn oder zwanzig meist kurze Gedichte auswählend. Zeilen blieben haften. Das Titelwort »Lichtzwang«, der »Schlammkahn«, die Abwehr der »Gebetshand«. Paul Celan, ein so fest und gut gefügter Körper, wie es schien, hielt sich mit seiner linken Hand am weißen Papier fest, wie an den unsichtbaren Gitterstäben, die ihm einen Halt doch nicht geben konnten.20

Dieses Bild vervollständigt Hans-Jörg Modlmayer, der der Lesung ebenfalls beiwohnte und später eine bissige Beschreibung ihres Verlaufs hinterließ. Seinen Ausführungen zufolge war der Misserfolg dieser Lesung geradezu prädestiniert, denn die meisten Mitglieder der Hölderlin-Gesellschaft huldigten vorwiegend 14 Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange. Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric. Aus dem Französischen von Eugen Helmlè. Herausgegeben und kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan. Erster Band. Die Briefe. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2001, S. 543. 15 Peter Engel. Celans letzter Gedichtband. In: Südwestpresse (Ulm), 3. 12. 1970. 16 Gottfried Just. Danach gibt es kein Später. In: Süddeutsche Zeitung, 1./2. August 1970, BuZ. 17 Karl Corino. Paul Celan. Lichtzwang. Radiosendung. Hessischer Rundfunk. Kulturelles Wort. Sendezeit 13. 8. 1970. 18 Curt Hohoff. Poesie in Bildgedanken, die die Welt hinter sich gelassen hat. Gedichte aus den letzten drei Lebensjahren von Paul Celan. In: Kölnische Rundschau vom 10. Oktober 1970. 19 Sabine Grunow. Begegnung mit einem Buch. Radio Bremen/Kultur, Sendezeit 22. 11. 1970. 20 Kurt Lothar Tank. Lichtzwang der Lyrik. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt (Hamburg), vom 17. 5. 1970, S. 21.

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den klassischen Literaturparadigmen und hielten nicht viel von der modernen Dichtung. Vielleicht durfte man ihnen das Verständnis von Celans schwieriger Poesie gar nicht zumuten, jedenfalls überschätzte der Dichter ihre auf traditionelle Vorbilder ausgerichtete Aufnahmefähigkeit, was dazu geführt hat, dass sie ihn bei der Lesung völlig ignoriert hatten: Also, Celan war in Stuttgart. Unsere Literaturprominenz war vollzählig erschienen, um sich mehr oder weniger tollpatschig die Zungen platt zu drücken an Hölderlin. Und im Allgemeinen empfing man Celan skeptisch, peinlich berührt, greisenhaft. Celan spürte, dass er fehl am Platze war und dass man eher bereit war, ihm Salzsäure ins Ohr zu träufeln, als ihm zuzuhören. In seiner Verzweiflung suchte Celan vergebens freundschaftliche Verständigung. Enttäuscht verließ er Stuttgart und kehre zurück nach Paris.21

Das dritte Zeugnis über diese missratene Lesung findet sich in den Erinnerungen des namhaften deutschen Literaturwissenschaftlers Hans Mayer, der die Ignoranz gegenüber dem Dichter durch die Einseitigkeit der Interessen, Taubheit für neuere literarische Trends und das fachliche Kastenprinzip der gelehrten Männer erklärt: Geeichte Philologen, genauestes informiert über die Thesen der Sekundärliteratur zu einzelnen Dunkelheiten Hölderlins, schüttelten den Kopf, sperrten sich gegen den Mann da oben und gegen sein Wort.22

Diese Gleichgültigkeit seinen neuen Gedichten gegenüber und dabei ausgerechnet im Kreise der angeblichen Literaturkenner sollte Celan tief verletzt und traumatisiert haben. Seine Reaktion darauf ließ er nur wenigen nahesten Freunden wie Franz Wurm oder Ilana Shmueli in knappen Worten zukommen. »Die Lesung in Stuttgart – sie war die bestbesuchte aller Veranstaltungen im Rahmen der Hölderlinfeier – wurde totgeschwiegen oder als unverständlich abgetan«23, – schrieb er in einem seiner letzten Briefe vom 27. März 1970 an Ilana Shmueli. Wer kann es heute ermessen, welche psychische Wirkung diese Ignoranz auf den übersensiblen Dichter damals hatte? Ein Monat später ging er in die Seine… Der Gedichtband Lichtzwang markiert jene Phase im Leben und Werk Paul Celans, die von extremen persönlichen Schwierigkeiten und gravierender psychischer Herausforderung überschattet war. Diese Phase bedeutete für ihn eine

21 Hans-Jörg Modlmayer. Paul Celan und die Deutschen. In: die horen, 16. Jg., Ausgabe 83, 1971, S. 75. 22 Hans Mayer. Erinnerungen an Paul Celan. In: ders. Der Repräsentant und der Märtyrer. Konstellationen der Literatur. Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1971, S. 186. 23 Paul Celan / Ilana Shmueli. Briefwechsel. Hrsg. von Ilana Shmueli und Thomas Sparr. – Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 128.

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Lichtzwang

durchaus »unruhige Zeit«24. Nicht alle Gedichte des Bandes sind in ästhetischer Hinsicht gleichwertig, manche von ihnen tragen den Stempel ihrer klinischen Herkunft, bei den einen wirkt das Bemühen um die aktuelle Thematik zu stark, bei den anderen rückt die bildliche Verabstrahierung an die Grenze des Kommunikationsverlusts. Man kann aber dem Dichter auch in diesem Band ein ausgeprägtes poetologisches Konzept nicht absprechen. Die Gedichte von Lichtzwang ertasten die frühesten Etappen der Menschheit »im regressiven Prozess der Dekonstruktion der Geschichte«25, bei dem das poetische Sprechen kein Singen mehr, sondern nur ein prähistorisches »Wiehern«, eine »Sperrtonnensprache« sein kann. Das ist ein »dunkles« Sprechen, das die Bereiche der jüdischen und christlichen Mystik erfasst, wovon insbesondere drei abschließende Gedichte des Bandes zeugen, die die jüdische Kabbala mit der negativen Theologie des christlichen Mystikers Meister Eckhart verbinden. Abgründige Tiefen öffnen sich hier hinter den wenigen Zeilen, Gott und Mensch, Schöpfung und Nichts treten in einmaligen Konstellationen zutage und bezeugen noch einmal, dass Celan in seinen Gedichten einen universellen Kosmos im metaphysischen Sinne modellieren und die »letzten Dinge« über das menschliche Sein aussprechen wollte. Er steht immer noch, auch unter diesem grausamen Lichtzwang, sich nach der Dunkelheit sehnend, jenseits von Wahn und Schmerz.

24 Gerhart Baumann. Erinnerungen an Paul Celan. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1986, S. 128. 25 Celan-Handbuch, S. 110.

Schneepart: »Die Wortschatten / heraushaun«

Im Jahre 1971, etwa ein Jahr nach dem Freitod des Dichters in der Seine, brachte der Suhrkamp Verlag einen neuen, im Nachlass von Paul Celan aufgefundenen Gedichtband mit dem Titel Schneepart heraus. Diese Gedichtsammlung stützte sich auf zwei quasi »fertige« Sammelkonvolute, die Celan noch selbst zusammengestellt hatte. Davon informiert uns eine Verlagsanmerkung, die auf der letzten Seite des neu erschienenen Buches abgedruckt wurde: Der Text des vorliegenden Gedichtbandes beruht auf einem Typoskript und einer damit bis auf wenige Einzelheiten identischen Handschrift Paul Celans, die beide die Überschrift Schneepart tragen und vom 22. 9. 1969 datiert sind. Die einzelnen Gedichte dieser letzten von Celan selbst noch vollständig redigierten Sammlung sind zwischen dem 16. 12. 1967 und dem 18. 10. 1968 entstanden.1

Zeitlich fallen die Texte von Schneepart zwischen den Band Fadensonnen (1968) und den erst nach dem Tode des Dichters erschienenen Lichtzwang (1970). Aus irgendwelchen Gründen ließ Celan diese Texte damals nicht veröffentlichen, was seine Forscher zu verschiedenen Spekulationen inspirierte. So meint der Literaturkritiker Hans Dieter Schäfer, »die wachsende Politisierung des literarischen Lebens und die damit einhergehende dogmatische Verhärtung«2 haben den Autor von der Publikation abgehalten. Es könnten aber für diese Verzögerung auch andere Gründe geben. So stellt sich der deutsche Publizist Karl Corino in seiner Besprechung des Bandes die Frage, ob die künstlerische Qualität dieser Gedichte in Celans Augen hoch genug war, um den ästhetischen Vorstellungen und Kriterien des Autors zu entsprechen3. Solch eine Vermutung scheint ebenfalls nicht ganz unbegründet zu sein, sie wird indirekt auch von jener Tatsache bestätigt, dass auf den beiden Mappen, die diese Texte ursprünglich enthielten, 1 Anmerkung des Verlags, in: Paul Celan. Schneepart. Gedichte. – Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1971, S. 96. 2 Hans Dieter Schäfer. Petrarca ist wieder in Sicht. Paul Celans Gedichte aus dem Nachlaß. In: Die Welt der Literatur, Nr. 8, 15. April 1971, S. 4. 3 Karl Corino. Lila Luft. Paul Celans Nachlaß. In: Deutsche Zeitung (Stuttgart), 30. 7. 1971, S. 20.

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mit Celans Hand »Nicht veröffentlichen« und »Niemals veröffentlichen!« geschrieben stand. Die eigenhändige Reinschrift dieses Gedichtbandes, die auf dem schönen englischen Papier »Three Candlesticks« ausgeführt wurde, hatte Celan im Herbst 1969 seiner Frau Gisèle geschenkt. Der Band umfasst 70 Gedichte, die in fünf Zyklen aufgeteilt und grundsätzlich chronologisch angeordnet sind. Die zyklische Gliederung der Sammlung wurde vom Autor nicht vollständig festgelegt, sie konnte aber aus dem Inhaltsverzeichnis rekonstruiert werden. Einige der in den Band aufgenommenen Gedichte schrieb Celan auf Reisen, die meisten jedoch in Paris. Mehr als die Hälfte dieser Texte, die in die Reinschrift Eingang fanden, haben die Angabe »Rue Tournefort« (Celans möbliertes Einzimmerapartment, wo er nach dem längeren Klinikaufenthalt getrennt von seiner Familie wohnte) oder »Rue d’Ulm« (Sitz der École Normale Supérieure, wo er unterrichtete und ein Arbeitszimmer hatte) im Quartier Latin. Dieser zentrale Stadtteil von Paris war bekanntlich der wichtigste Schauplatz der studentischen Revolution 1968, wo sich von April bis Juni Straßenschlachten zwischen den revoltierenden Studenten und der Pariser Polizei abgespielt hatten. Der Titel dieses Nachlassbandes stammt aus dem gleichnamigen Gedicht, das wohl eine programmatische Bedeutung hat, denn das Schnee-Leitmotiv, das mit Motiven von Kälte und Einsamkeit eng verquickt ist, verbindet sich hier mit der poetologischen Problematik der Gedichtsammlung: Schneepart, gebäumt, bis zuletzt, im Aufwind, vor den für immer entfensterten Hütten: Flachräume schirken übers geriffene Eis; die Wortschatten heraushaun, sie klaftern rings um den Krampen im Kolk.

Für Dieter Hasselblatt ist der Titel Schneepart das paradigmatische Modell für die Vielschichtigkeit Celanscher Wortkomposita, das Signum für seine mit Paradoxien spielende Art, eine neue Bedeutung aus durchaus disparaten Elementen zu bilden. In diesen ungewöhnlichen Wortverknüpfungen realisiert sich dann das »schlummernde« Sprachpotential, das die tiefsten und widersprüchlichsten Beziehungen der Wirklichkeit umreißen kann.

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Schneepart, ein Celan-Wort, ein Wort aus dem Wortschattenfeld, wo die Sprache genauer als unterm Lichtzwang sagen kann, was zwischen Welt und weltwundem Bewusstsein den Atem verschlägt.4

Man weiß, welch große Rolle Celan den Titeln seiner Gedichtbände beimaß, wie kristallin dicht, polysemantisch und tiefgehend seine Titelkomposita, angefangen von Sprachgitter waren: Niemandsrose, Atemwende, Fadensonnen, Lichtzwang. Und nun Schneepart. Kein leichtes Wort fürs Verstehen, da seine zweite Komponente (-part) mit ihrer offensichtlichen, auf der Handfläche liegenden, jedoch recht farblosen Semantik (»Teil von etwas«) den Leser stark irritiert. Denn welche Vorstellungen, welche poetische Assoziationen kann er mit diesem Wort verbinden, welche bildliche, metaphorische Dimensionen öffnen sich dabei, besonders wenn man bedenkt, dass dieses Wort sich nicht nur auf das einzelne Gedicht bezieht, sondern den Titel des ganzen Gedichtbandes bildet? Man kennt ja die Vorliebe Celans zur vielschichtigen Wortsemantik, zu der dichtesten bildlichen »Coagulation«, um daraus zu schließen, dass die Semantik von »-part« (in der Bedeutung von »Teil«) hier unzureichend ist. Welche weiteren semantischen Perspektiven kommen hier aber in Betracht? Versteht man Schneepart, – bemerkt dazu die deutsche Celan-Forscherin Wiebke Amthor, – nicht nur in der Bedeutung von Part (lat. pars) als Teil (eines Körpers), Anteil, Teilnahme, Anteilnahme, Teilhabe, Mitteilung und so als zum Bereich des Schnees gehörend, sondern auch als eine Stimme im Musik- oder eine Rolle im Theaterstück, so wird Schneepart zum Ausdruck der Aktualisierung: als Stimmhaftwerden des Schnees in Musik oder dramatischer Kunst.5

Unter diesem Blickwinkel erscheint dann der Titel »Schneepart« nicht als etwas Statisches, Erstarrtes (als Schneeteil, was absurd genug klingt), sondern als Prozess voller Bewegung, innerer Dynamik, bei dem das Akustische im Vordergrund steht. Eine »Schneearie« – man hört darin das Heulen des Windes und das Singen des Schneewirbels über der menschenleeren Gegend mit »entfensterten Hütten«. Solch ein Bild erinnert übrigens an manche Grafiken von Gisèle Celan-Lestrange, in denen die Künstlerin nicht selten trostlose Öde verlassener Landschaften dargestellt hatte. In dieser endlosen, leblosen Eislandschaft, wo sogar Träume »flach« liegen und selbst die Sprache einfriert, steht das lyrische Ich vor der auf sich selbst auferlegten Aufgabe, »Wortschatten« aus dem Eis herauszuhauen. Wohlgemerkt, nicht das Wort selbst, sondern nur seinen Schatten, seine kristalline Substanz, kalt und durchsichtig, die dem festen Griff entschlüpft. Um diese Schatten einigermaßen zu festigen, zu bündeln, muss das 4 Dieter Hasselblatt. Lyrik heute. Aus Paul Celans nachgelassenen Gedichten Schneepart. In: Deutschlandfunk, Ausstrahlung am 3. Mai 1971. 5 Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann (Hrsg.) Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler 2008, S. 119.

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lyrische Ich sie an einem unsicheren Platz, »rings um den Krampen/ im Kolk« wie Brennholz »klaftern«. Somit ist hier das Celansche Konzept einer totalen, unwiderruflichen Sprachentleerung präsent, das für seine späten Gedichtbände bezeichnend ist, und das ganze Gedicht bekommt dann einen unverkennbaren poetologischen Klang und Sinn. Der Gedichtband Schneepart wird von drei Gedichten eröffnet, die Celan als erste nach dem etwa acht Monate dauernden Klinikaufenthalt und der Umsiedlung in ein Studio in der rue Tournefort im Dezember 1967 geschrieben hat. Sie sind mit seiner ersten Reise nach Berlin verbunden und bilden somit einen kleinen »Berliner« Zyklus. Eines davon (»Ungewaschen, unbemalt«) bezieht sich auf den Flug von Paris nach Berlin über dem damaligen Braunkohlrevier der DDR, ein anderes (»Du liegst«) berührt schmerzhafte Episoden der neueren deutschen Geschichte – die im Januar 1919 erfolgte Ermordung der deutschen Revolutionäre Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sowie die Hinrichtung der Verschwörer vom 20. Juli 1944 im Gefängnis Plötzensee. Das dritte Gedicht (»Lila Luft«) kreist um die Ruine des Anhalter Bahnhofs, durch den der junge Paul Antschel am 9. November 1938, am Vorabend der berüchtigten »Kristallnacht«, zu seinem Studium nach Frankreich gefahren war und dessen Rauch bereits »von morgen« war (»La Contrescarpe«). In all diesen Texten dominieren historische Motive mit einem stark ausgeprägten politischen Akzent. Die Entstehung des Gedichtbandes Schneepart fällt, wie bereits erwähnt wurde, in eine recht turbulente und unruhige Zeit, die das politische Klima in Europa wesentlich veränderte. Celans psychischer Zustand hat sich seit der zweiten Hälfte 1967 einigermaßen stabilisiert, so dass er in den nächsten Monaten wieder zu Lesungen nach Deutschland (Freiburg, Frankfurt am Mein, Berlin, Bonn, Kiel, Tübingen u. a.) sowie zu kurzen Aufenthalten in die Schweiz, nach London oder in die Provence reisen konnte. Um diese Zeit nähert er sich den französischen Intellektuellen, wird zum Mitherausgeber der französischen Zeitschrift L’Éphémère und entfaltet rege Tätigkeit als Übersetzer französischer Lyrik (André du Bouchet, Jules Supervielles). Das Jahr 1968, in dem die meisten dieser Gedichte geschrieben wurden, schlug hohe politische Wellen – die studentischen Maiunruhen in Paris und der Einmarsch der sowjetischen Truppen am 21. August 1968 in Prag haben wieder einmal die Zerbrechlichkeit der europäischen Nachkriegsordnung bezeugt. Celan verfolgt diese Ereignisse mit großem Interesse, beteiligt sich an ProtestDemonstrationen, sammelt Flugblätter, die er dann in eine spezielle Mappe ordnet. Mit tiefer Sorge reagiert er auf die sowjetische Invasion in die Tschechoslowakei, verschlingt jeden Artikel darüber in der Presse, trennt sich kaum von seinem »Transistor«, durch den er die letzten Nachrichten wahrnimmt. Das »Akut des Heutigen« bestimmt das Wesen mehrerer Gedichte von Schneepart, aber sogar in solchen Texten geht es dem Dichter vordergründig um poetologi-

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sche Problematik. In einem Brief an seine Frau Gisèle äußert er sich dazu wie folgt: »Die Probleme der Dichtung stellen sich für mich mit großer Schärfe, die Ereignisse – Du kannst Dir vorstellen, wie stark mich die aus der Tschechoslowakei berühren – beschäftigen mich mitten in dem, was ich schreibe, dem, was ich zu schreiben versuche.«6 Diesen stürmischen Ereignissen ist eine Reihe von Gedichten des Nachlassbandes gewidmet – vor allem solche Texte, wie »Auch der Runige«, »Für Eric II«, »Dein Blondschatten«, »Leuchtstäbe«, »In den Einstiegluken«, »Und jetzt«, in denen die Realien der damaligen Zeit leicht erkennbar sind (Anspielungen auf die Anführer der studentischen Bewegung Daniel Cohn-Bendit und Rudi Dutschke, Reaktion auf die sowjetischen Panzer in Prag etc.). Ihn stoßen rücksichtlose militärische Brutalität der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei und die Lüge der sowjetischen Propaganda ab, aber auch der linke Antisemitismus der aufständischen Studenten, die in ihrem anarchistischen Übermut nazistische Parole übernehmen. In seiner Variation des Brechtschen Gedichts »An die Nachgeborenen«, in dem es um das totale Schweigen angesichts der Naziverbrechen ging, betont Celan die Devalvierung und Entleerung der Sprache durch das unaufhörliche Gerede, bei dem dann der Sinn des Gesagten in einem uferlosen Wortschwall verschwindet: Ein Blatt, baumlos für Bertolt Brecht: Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch beinah ein Verbrechen ist, weil es soviel Gesagtes mit einschließt?

Als passionierter Zeitungsleser interessiert sich Celan nicht nur für aktuelle politische Ereignisse. Mit großer Hingabe verfolgt er auch die Nachrichten über technische Leistungen und wissenschaftliche Entdeckungen wie z. B. über die Vorbereitung des NASA-Mondlandeprogramms oder Berichte über die ersten Herztransplantationen, was ebenfalls einen Widerhall in den Gedichten von Schneepart findet (»Ein Leseast«, »Bergung«). Doch der Großteil der Gedichte des Bandes hat sozusagen einen »metaphysischen«, transzendenten Charakter. Diese Texte entwerfen vor allem eine sprachliche Wirklichkeit, die für Celan eine zweifellose Autonomie besaß. Die 6 Brief vom 23. August 1968, in: Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange. Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric. Aus dem Französischen von Eugen Helmlè. Herausgegeben und kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan. Erster Band: Die Briefe. – Suhrkamp Verlag 2001, S. 543.

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Wirklichkeit ist in ihnen präsent – in ihren zahlreichen Bildern der äußeren Welt, in ihren »Realitätssplittern«, aber diese sind manchmal so unkenntlich modifiziert, dass sie ihre Leser in eine andere Dimension versetzen und die objektive Realität nur leicht streifen, über sie immer nur schweben. Die Hinweise auf Äußeres helfen uns zwar, diese Wirklichkeit als eine empirische Welt wahrzunehmen, aber sie geben dieses Äußere als etwas Traumhaftes, als eine Art ferne Erinnerung wieder. »Manches ist wie aus einem Jenseits gesprochen und scheint von dort zurückzukehren, damit es uns an die Triumphe und an das Scheitern der Lyrik Paul Celans erinnere«7, – meint der deutsche Literaturkritiker Rudolf Hartung. Mit Celans Worten heißt es: Die nachzustotternde Welt, bei der ich zu Gast gewesen sein werde, ein Name, herabgeschwitzt von der Mauer, an der eine Wunde hochleckt.

Die äußere Welt ist in den meisten Fällen für Celan negativ und resignativ determiniert und wird von Verletzung und Wunde, Kälte und Frost gezeichnet. Im Spannungsfeld der wichtigsten Motive des Nachlassbandes nehmen daher Motive von Schnee und Eis einen führenden Platz ein, wovon, außer dem »Schneepart«, auch solche Wortfügungen und metaphorische Begriffe zeugen wie »Schneekneipe« (»von der/ Stehkneipe zur/ Schneekneipe«), »Schneenadel« (»Die Abgründe sind/ eingeschworen auf Weiß, ihnen/ entstieg/ die Schneenadel«), Rauhreif (»Dein Mähnen-Echo/ […] mit Rauhreif beschlagen«), »Gefrornis« (»geeinsamt in der Gefrornis«). Aber diese Schnee- und Frostmetaphorik ist bei Celan in ihrer Bildlichkeit nicht selten ambivalent – sie kann auch durchaus positiv konnotiert werden, denn mit Schnee und Frost verbindet Celan nicht selten auch Reinheit und Wahrheit. In »Eis« und »Schnee«, – so Winfried Menninghaus, – ist sowohl die […] Härte der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Vereisung der Geschichte als auch die Gegengewalt, die Anti-Kälte derer, die diese negative Kälte überwinden, als auch die kristalline Reinheit des von dieser Gegengewalt angestrebten Geschichts- und Sprachzustands präsent.8

Zu den relevanten Motiven von Schneepart gehört auch ein solch anthropologisch geprägtes Motiv wie der menschliche Körper. Bereits in früheren Gedichtbänden Celans bildete er das unentbehrliche Arsenal der wichtigen Tropen und Symbole des Dichters. »Der menschliche Körper wird in Schneepart mit 7 Rudolf Hartung. Aus großer Ferne. Paul Celans nachgelassener Gedichtband Schneepart. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 222, 25. September 1971 [BuZ]. 8 Winfried Menninghaus. Paul Celan. Magie der Form. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1980, S. 113.

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seinen Funktionen und Elementen sowie mit Verletzungen, Wunden, Krankheiten oder Verstümmelungen gezeigt«9 – schreibt Wiebke Amthor. »Zwei Finger, handfern,/ errudern den moorigen/ Schwur«, »Buchstaben zwischen den Zehen«, »die Armstrünke wuchern«, »am Ohrlappen hängt/ dir das Aug/ und hüpft/ begrünt«, »zwei Bücher an Stelle der Lungen«, »dich beredet/ die Welt ohne Zunge«, »vorm/ Blutklumpenort, auf der Lungen-/ schwelle«. Diese Zitate lassen sich, indem man sie zeilenweise, mit entsprechenden Zäsuren und Enjambements platziert, wie ein neues, synthetisches Gedicht Celans lesen, das von der Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit des Menschen und der Welt zeugt. Insgesamt bilden zahlreiche Bildkonstruktionen mit Körperorganen jene spezifische Celansche »Körpertopographie«, die sein poetisches Werk bereits von den frühen Gedichtbänden an durchdringt. Ähnlich dem menschlichen Körper ist auch die menschliche Sprache in Schneepart beschädigt und verstümmelt, vom Stocken, Stammeln und Stottern gezeichnet. »Mit der Stimme der Feldmaus/ quiekst du herauf«, »Der überkübelte Zuruf: dein/ Gefährte«, »eingeschreint/ an Bord/ ist dein Schrei«, »seelenbärtiger, hagel-/ äugiger Weißkies-/stotterer«, »dieses/ Brot kauen, mit/ Schreibzähnen«. Diese und ähnliche Beispiele verletzter, defekter Sprache beschreiben die Situation einer unüberbrückbaren Sprachkrise, die seit Hugo von Hofmannsthals »Chandos-Brief« das Sprachbewusstsein deutscher Dichter bestimmte. Viel Aufmerksamkeit widmet Celan in seinem Gedichtband auch dem Motiv der Zeit. Hier haben wir eine äußerst breite Zeitskala – von der Eiszeit (»eiszeitlich nah/ steuert das Filzschwanenpaar/durch die schwebende/ Stein-Ikone«) – bis zur Ewigkeit (»die Ewigkeit hält sich in Grenzen«). Die Zeit verläuft in diesen Gedichten linear (»die gestopfte/ Trompete/ haucht uns zeitauf«), sie kann sich aber auch relativieren (»Später als früh: früher/ hält die Zeit sich die jähe/ rebellische Waage«) oder rückwärts gehen (»Dies Jahr/ rauscht nicht hinüber,/ es stürzt den Dezember zurück, den November,/ es gräbt seine Wunden um,/ es öffnet sich dir«). Zeitliche Kategorien bekommen hier stark ausgeprägte metaphorische Transformationen – es gibt eine »Spaltstunde«, einen »Überabend«, »Hall-Schalt-/ Jahre« oder das »nächste/ Urjahrhundert«, man begegnet solchen Wortfügungen wie »Zeitunterheiligtes«, »das Küken/ Zeit«, »Zeithof« usw. Von wichtiger Relevanz für das literarische Werk ist jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Raum (»Chronotop« – wie der russische Literaturtheoretiker M. Bachtin es bestimmte). Beide Kategorien bilden im literarischen Text eine untrennbare Einheit. In Schneepart tauchen mehrere geographische und topographische Namen auf – Spree, Havel, Landwehrkanal und Anhalter Bahnhof in Berlin, Mapesbury Road in London, rue Tournefort in Paris, Prag und Moldau, 9 Celan-Handbuch, S. 119.

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Pilsen und Castrup, Vorzeit-, Wüsten- und Mondlandschaften. Neben diesen realen Orten begegnet man hier auch den imaginären Topoi, die nur in der poetischen Phantasie des Dichters lokalisiert sind (z. B. Jenseits-Kaue, das gallertäugige Drüben, Geister-Pawlatschen usw.). Wenn die Namen realer Orte die Wirklichkeitsbezüge dieser Dichtung betonen (was für Celan im Hinblick auf wiederholte Vorwürfe der Kritik, seine Gedichte seien von der Realität entfernt, sehr wichtig war), so betonen utopische, irreale Orte und Räume den transzendenten Charakter seiner Lyrik, was dem Modellieren seiner individuellen, parallelen Wirklichkeit entspricht. Im Zusammenhang mit der Darstellung dieser irrealen Seite des Lebens spielt in Schneepart das Schattenmotiv eine wichtige Rolle. Es hat vor allem mit Celans poetologischem Konzept zu tun, nach dem der Dichter die Darstellung der Realität in ihrer logischen Kausalität meidet, stattdessen in der Regel seine eigene, assoziative Welt konstruiert. Im Bild eines Schattens, das seit der deutschen Romantik (Chamisso) für eine mystische Seite des Lebens steht, sieht Celan ein Zeichen für diese zweite Wirklichkeit, die in seinen Gedichten öfters auftaucht und bei der reale Dinge und Beziehungen transfiguriert erscheinen: »der Flugschatten im/ irisierenden Rund/ heilt uns ein«, »dein Schatten/ streift dich ab im Gebüsch«, »mitten in meiner/ dich Schatten beschwerenden/ Rede«, »die Wortschatten/ heraushaun«, »Deinem, auch deinem/ fehldurchläuteten Schatten/ gab ich die Chance«. In diesen Beispielen erscheint der Schatten als ein gewisses Substitut des realen Objekts und die Schattierung steht für seine Verdichtung, Verdoppelung, sie bildet hier eine noch schwerwiegendere Substanz als das reale Objekt selbst. Auch Farben und Zahlen spiegeln im Schneepart kaum reale Verhältnisse der objektiven Wirklichkeit wider, sondern haben vielmehr eine symbolische Bedeutung. Ihre »mystische« Verbindung ist seit langem bekannt. »Farbenbelagert das Leben, zahlenbedrängt« – lesen wir in Celans Gedicht »Wer herrscht?« aus dem Band Fadensonnen. Zwei Farben dominieren im Schneepart – Weiß und Schwarz, aber diese Farbcharakteristiken sind recht abstrakt und durchaus willkürlich: »die Sandknubbe im/ weißen Daneben« oder »die Ewigkeit/ blutschwarz umbabelt«. Genauso verfehlt sind auch andere Farben – z. B. Lila (»Lila Luft«) oder Grün (»ein Wort, mit all seinem Grün«). Somit sind Celans Farben in Schneepart, wie so oft bei ihm, nichts anderes als »der Motor der surrealen Bildlogik des Gedichts«10, wie Winfried Menninghaus sie nennt. Auch die Zahlen in den neologischen Komposita »Sieben-/ höhe«, »Zwölfmund« oder »Sechsstern« sind trügerisch.

10 Winfried Menninghaus. Paul Celan. Magie der Form, S. 184.

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Die entscheidende Funktion von Celans Zählen [liegt] in der Irritation, Korrosion, Auflösung des Gezählten und damit im Effekt einer zwischen Zahl und Gezähltem »schwimmenden« Semantik, welche die gezählten »Topoi« gerade in ihrem GezähltWerden in einem gespannten »Licht der U-topie« schillern läßt.11

Wie bereits in den früheren, zu Lebzeiten publizierten Gedichtbänden Celans, finden sich auch in Schneepart zahlreiche Anspielungen und Reminiszenzen aus naturwissenschaftlichem Bereich. In den meisten Fällen werden die dabei verwendeten Fachtermini aus dem Bereich von Geologie, Archäologie, Astronomie, Biologie, Medizin oder Technik durchgängig metaphorisiert und stark verfremdet: »droben mit-/ ziehenden weißen// Meta-/stasen«, »als sprächen, mit ihnen,/ Angiospermen/ ein offenes Wort«, »melodische Antitoxine«, »geschwiegene Kommissur«, »Schnellfeuer-Perihel« usw. In der Regel stammen sie aus populärwissenschaftlichen Quellen, die Celan um jene Zeit gelesen hat, und zeugen von intertextuellen Bezügen zu ihren Autoren sowie zu mehreren Philosophen, Literaten und Künstlern. Zu den wichtigsten Gesprächspartnern Celans in Schneepart, mit denen er einen intertextuellen poetischen Dialog führt, gehören große Gestalten der europäischen Kultur wie Francesco Petrarca, Marsilio Ficino, Shakespeare, Christopher Marlowe, Rembrandt, Georg Büchner, Freud, Kafka, Brecht, Walter Benjamin, Edmund Husserl, Ernst Bloch, Jean Tati, Ingeborg Bachmann u. a., aus deren Werken er einzelne Wörter und Bilder schöpft, dann solche Nachschlagewerke wie das Brockhaus-Taschenbuch der Geologie (Leipzig 1955) oder Hans Reichels und Adolf Bleichers Leitfaden der Physiologie des Menschen (Stuttgart 1966). Kennzeichnend für Schneepart ist auch jene Tatsache, dass viele Gedichte Celans auf den Publikationen der aktuellen deutschen Presse wie Frankfurter Allgemeine Zeitung oder Spiegel gründen, die er zur Zeit der Entstehung des Bandes intensiv gelesen hat. Bei der Aneignung dieser Gedichte entstehen besonders erhebliche rezeptive Schwierigkeiten, da die Entlehnungen aus den damaligen Presseartikeln heute kaum mehr als solche erkannt werden können, die Presseorgane selbst in der Regel unzugänglich und die publizierten Materialien teilweise auch zeitlich überholt sind. Daher verschließen sich viele Gedichte in Schneepart ganz hermetisch, der Leser steht vor diesen Texten ratlos, er kann die poetischen Assoziationen des Autors nicht mehr nachvollziehen, weil solch eine Form poetischer Aktualisierung weder eine informative noch ästhetische Kommunikation zwischen dem Autor und seinem Leser herstellen kann. Ein anderer Umstand, der diese Gedichte so undurchsichtig und schwierig macht, besteht in den zahlreichen Neuschöpfungen, von denen es in Schneepart geradezu wimmelt. Das sind Wortfügungen, die sich in keinem Wörterbuch 11 Menninghaus, Paul Celan, S. 187.

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finden, sie sind im Prozess des Niederschreibens jeweiliger Gedichte entstanden und somit einmalig. Hier nur einige Beispiele, die ganz beliebig gewählt wurden und sich leicht mehren lassen: zerwölkt, umbabelt, eingejännert, notfrisch, seelenbärtig, hageläugig, Sonnennächte, nebenlichtig, erjahen, überwahrheitet, Unschlaf, Ohnebild, zeitwild, Selbstherz usw. Es gibt wohl keinen Band Celans, – schreibt Karl Corino, – der rein prozentual mehr Wort-Neuschöpfungen enthielt als Schneepart. […] Da wird die Innovation zur bloßen Neologismen-Wut. Sie schlägt sich dann in einzelnen Vokabeln nieder […], sie kann aber auch zu paranoid anmutenden Zusammenballungen führen, in denen weder der Teil noch das Ganze verständlich ist (»Die scharfgehimmelten höfischen Schlucke Mitluft«.)12

Hier werden auch negative Momente dieses schöpferischen Vorgehens sichtbar, die zuweilen, wenn es zu subjektiv geschieht, leicht ins poetische Extreme, in unkontrollierbare Sprachkaskaden, in richtige Wort- und Bild-Scharaden ausschlägt, was das angeführte Zitat bestätigt. Celans »Neologismen-Wut« hängt vor allem mit seiner generellen Intention zusammen, die Sprache zu revidieren, sie von dem lästigen Erbe der Nazizeit und der Banalisierung des Alltags zu befreien, aber auch damit, dass der Dichter ihre Grenzen im Sinne seiner eigenen Poetik zu erweitern suchte, indem er sich von den konventionellen, abgegriffenen sprachlichen Klischees entfernte. Er wollte die Sprache »aus dem Engpass herausführen«13, in den sie infolge ihrer Entwicklung der letzten Dezennien geraten war, dabei zerriss er jedoch oft die seinen poetischen Objekten innewohnenden assoziativen Bindungen, verzichtete auf ihre metaphorische Tragkraft und verwandelte sie in Nebeneinanderreihung schwer verbindbarer Realien, die abgesondert für sich stehen und kein zusammenhängendes Realitätsbild, sei es nur ein sprachliches, entstehen lassen. Dieser schwierige Rezeptionsprozess hat aber noch eine andere Seite – Celans Gedichte, die durchgehend intertextuell sind, verlangen einen sozusagen »exemplarischen Leser« (U. Eco), einen Leser, der bereit wäre, sich ins Dickicht dieser aus Zitaten, Reminiszenzen, Anspielungen und Neuschöpfungen bestehenden Texte, die in mehreren Bereichen des Wissens und der menschlichen Tätigkeit wurzeln, zu vertiefen. Dies alles setzt eine enorme intellektuelle und geistige Anstrengung voraus, die nicht jeder vorzuzeigen bereit ist. Celans Gedichte brauchen somit einen »kongenialen« Leser. Wer diesen Dichter begreifen will, – betont Jürgen Wallmann, – muß die lohnende Mühe auf sich nehmen, die Chiffren und die Wortneubildungen, in denen Disparates

12 Karl Corino. Lila Luft. Paul Celans Nachlaß, S. 20. 13 Peter Jokostra. Paul Celans letzte Gedichte. In: Rheinische Post, 21. 8. 1971 [Das neue Buch].

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zusammengezwungen wird, aus dem Zusammenhang des Gesamtwerkes zu verstehen, er muß versuchen, die Realitätspartikeln zu erkennen.14

Dies betrifft insbesondere den hier besprochenen Gedichtband Schneepart, dessen Rezeption erhebliche Probleme bei der Aneignung solcher Art von Lyrik veranschaulicht. Die meisten Rezensionen in den deutschsprachigen Medien fielen daher ambivalent aus und zeugten davon, dass die Rezensenten mit dem Nachlassband Celans große Schwierigkeiten hatten. Als Schwächen des Bandes wurden die »zu weit getriebene metaphorische Konkretion« und die Undurchsichtigkeit dieser Texte, deren Bilder die zu großen Umwege verlangen, um transparent zu werden (Rudolf Hartung)15; Überforderung des Lesers, der für das Verständnis dieser Gedichte »zumindest ein Lexikon oder ein ausführliches Wörterbuch« braucht, denn in ihrer Verschlüsselung erinnern sie ihn an geheimnisvolle Sprüche, denen man sich wie einem Rätsel nähern muss (Simon Krauss)16; Hermetismus und Narzissmus, »platte Allegoresen«, die »durch erlesenes, unerhörtes Vokabular auf Stelzen gehoben werden« (Karl Corino)17; »peinliche Manieriertheiten« sowie der Umstand, dass die poetische Chiffre »sich von der Kontrolle durch das Bewußtsein löst und für sich weiter im Leeren tönt« (Peter Jokostra)18; der Versuch, der Immanenz »durch das Schaffen absoluter Metaphern und, bisweilen, auch durch Sarkasmen« zu entkommen (Hans-Jürgen Heise)19. Alles in allem war die Bewertung des Bandes in der deutschsprachigen Literaturkritik eher ablehnend, was mit der Selbsteinschätzung des Autors durchaus kontrastiert, der in einem Brief an seine Jerusalemer Freundin Ilana Shmueli meinte, der Band Schneepart sei »wohl das Stärkste, Kühnste«, was er geschrieben habe.20 Zweifellos bleibt allerdings dies Eine – noch nie hat sich Celan so tief in die Abgründe seines Bewusstseins, in solch entfernte Sphären seines Geistes begeben, noch nie hat er seine Leser durch sein poetisches Wort so stark herausgefordert wie in diesem Nachlassband, der von ihm selbst als Ganzes noch komponiert und als eine abgeschlossene Sammlung betrachtet wurde. Es gab jedoch unter den Literaturkritikern auch andere Stimmen, die mehr Verständnis für diese poetischen Texte hatten und sie in Bezug auf den einmaligen Weg des Dichters als ein Kettenglied in seiner poetischen Entwicklung 14 Jürgen P. Wallmann. Wortschatten. In: Die Tat (Zürich), 10. 07. 1971, S. 31. 15 Rudolf Hartung. Aus großer Ferne. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 222, 25. September 1971 (BuZ). 16 Simon Krauss. Paul Celan. Schneepart. In: Die Presse (Wien), 14. 7. 1971, S. 5. 17 Karl Corino. Lila Luft. Paul Celans Nachlaß, S. 20. 18 Peter Jokostra. Paul Celans letzte Gedichte. In: Rheinische Post, 21. 8. 1971 [Das neue Buch]. 19 Hans-Jürgen Heise. Paul Celan. Schneepart. In: Neue Deutsche Hefte, 2/1971, S. 132. 20 Der Brief vom 24. 1. 1970, in: Paul Celan / Ilana Shmueli. Briefwechsel. Hrsg. von Ilana Shmueli und Thomas Sparr. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, S. 86.

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sahen, als ein gesetzmäßiges Ergebnis dieses Weges. Für sie standen Celans Sprachmächtigkeit und seine bildliche Ausdruckskraft außer Zweifel, und wenn sie auch eine gewisse Verwirrung durch die allzu große Dichte mancher seiner Bilder zeigten, so konnten sie die Produktivität seiner poetischen Experimente doch nicht bestreiten. So äußert sich z. B. Helmut Heißenbüttel in seiner Besprechung von Schneepart wie folgt: Wie wenig er [Celan] zweifelte an der Möglichkeit des Gedichts, an der Möglichkeit, aus dem Sprachvorrat, der jedem zur Verfügung steht, einmalige Gebilde aus Bildvorstellung und Topos herauszudestillieren, zeigt der nach seinem Tode erschienene letzte Gedichtband Schneepart. […] Was diese Gedichte an Irritation, an Desorientierung auch ausdrücken mögen, sie zeigen alle die Unbeirrbarkeit an der Fähigkeit dieses Ausdrückenkönnens. Sie zeigen eine Meisterschaft in der Beherrschung der Mittel, die Celan ausgebildet hatte, wie kaum ein Band von ihm vorher21.

Tiefere Einsicht in Celans poetische Eigenart, die im Gedichtband Schneepart ihren krassen Niederschlag findet, zeigt in seiner Besprechung des Bandes Johannes Olma, wenn er die Verfremdung der dichterischen Sprache Celans durch die Entfernung vom konventionellen Vokabular und die Verknappung des poetischen Ausdrucks hervorhebt. Für ihn ist Celan ein unübertrefflicher sprachlicher Demiurg, ein Schöpfer neuer utopischer Welten, die er aus den Worten entstehen lässt. Sprachliche und bildliche Innovationen des Gedichtbandes Schneepart hält der Kritiker für eine spürbare Bereicherung lyrischer Ausdrucksmittel und meint, dass der Autor dadurch den verborgenen Sinn von Dingen und Erscheinungen der Wirklichkeit ausspricht: So intensiv die Lyrik Celans ist, so sprachmächtig, so sehr zeigt sie aber auch ein unleugbares Entfernen von der Selbstverständlichkeit der Muttersprache. Sparsam, fast karg erschienen manche Gedichte, doch sind gerade sie von kaum zu ergründendem Reichtum, von beschwörendem Wortzauber. Paul Celan hat die Welt vielleicht besser verstanden als andere, er hat sie ergründet. Aber er posaunt seine ureigenste Erkenntnis nicht als vordergründig hinaus, er sagt das Zeitgemäße und Wahre als Geheimnis.22

Für Karl Krolow zeichnet sich Schneepart vor allem durch seine inhaltliche Geschlossenheit aus, die darauf gründet, dass sie »Stufungen fast unkenntlicher Art, Nuancen eines über die Jahre hin zu verfolgenden In-sich-Gekehrt-Seins« vorzeigt.23 Hier wird noch einmal jene Tatsache hervorgehoben, dass Celan sich in seinem Spätwerk fast ausschließlich mit seiner inneren Situation befasste, was auf seine Krankheit und fortschreitende Isolierung zurückzuführen wäre. Dies war vielleicht zu jener Zeit seine einzig mögliche Form der dichterischen Existenz 21 Helmut Heißenbüttel. Neue Bücher vorgestellt. In: Norddeutscher Rundfunk, Ausstrahlung am 5. 6. 1971. 22 Johannes-P. Olma. »…die Wortschatten heraushauen…« In: Der neue Tag-Kurier, 5. 8. 1971. 23 Karl Krolow. Weit ausschreitende Stille. In: Tagesspiegel (Berlin), 20. 6. 1971, S. 45.

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in der Einsamkeit und Umnachtung, die immer dunkler wurden. Doch auch unter diesen ungünstigen Umständen wollte er immer noch »stehen«, und seine Schneepart-Gedichte seien, nach Joachim Müller, »keine letzten Worte, eher erste Worte, die mit hoher Geisteskraft tasten in eine immer neu zu erschließende Welt hinein«24.

24 Joachim Müller. Paul Celan. Schneepart. In: Universitas (Stuttgart), 28.1973, Nr. 3, S. 325.

Zeitgehöft: »Die kahlgeplünderte Phase Dasein«

Das Leben eines Dichters hört mit seinem physischen Tod nicht auf, seine poetischen Werke versichern ihm oft eine derart intensive Wirkung auf Gedanken und Gefühle seiner Zeitgenossen, dass er lange noch als ein Lebendiger, als naher Gesprächspartner wahrgenommen wird. Bei Paul Celan bestätigte sich dieser Eindruck mehrmals. Bereits seine posthum erschienenen Gedichtbände Lichtzwang (1970) und Schneepart (1971) haben uns ein gewisses Gefühl ununterbrochener kreativer Kontinuität »hinter der Welt« gegeben. Diese Empfindung verstärkte sich noch einmal, als 1976, sechs Jahre nach dem Freitod des Dichters in der Seine, beim Suhrkamp-Verlag wieder ein Gedichtband aus seinem Nachlass erschien: Zeitgehöft. Die Textgrundlage für den Band bildeten drei Typoskript-Konvolute, die sich im Archiv des Dichters gefunden haben. Das erste von ihnen, der 23 Gedichte zählte, hatte den Titel »Zeitgehöft« gehabt, nach dem dann der ganze Band benannt wurde. Der zweite Zyklus, der 20 Gedichte enthielt und sich auf Celans einzige Reise nach Israel im Oktober 1969 bezieht, trug den Namen einer Czernowitzer Jugendfreundin des Dichters, die ihn in Jerusalem ständig begleitete: Ilana. Das dritte Konvolut mit 7 abschließenden Gedichten wurde schlicht als »Neuer Zyklus« betitelt, was vor allem auf seinen unvollendeten, fragmentarischen Charakter hinweist. Es bleibt offen, wie der Band ausgesehen hätte, könnte ihn der Autor noch selbst richtig zusammenstellen und ordnen. Ob er alle darin enthaltenen Gedichte aufnehmen und gelten lassen würde? Hätte er die Reihenfolge der Gedichte anders gestaltet? Wäre die Struktur des Bandes, inklusive die Aufteilung in drei Zyklen, so geblieben, wie sie heute ist? Und würde er schließlich den Band mit dem Titel des ersten Abschnitts Zeitgehöft benennen oder nach weiteren Alternativen suchen, wie es bei der Titelwahl der vorigen Bände öfters der Fall war? Dies alles sind die Fragen, auf die wir nie eine Antwort bekommen werden. Denn obwohl Celans Typoskript noch eigenhändige Korrekturen des Dichters aufweist, seine Druckbewilligung hatte er nicht mehr gegeben und die Druckfahnen des formatierten Bandes ebenfalls nicht mehr gelesen.

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Zeitgehöft

50 Gedichte, die zwischen dem 25. 2. 1969 und dem 13. 4. 1970 geschrieben wurden (abgesehen vom Gedicht »Mandelnde«, das bereits am 2. 9. 1968 entstand und später dem mittleren Zyklus zugeordnet war), zählen zu den letzten von Celan geschriebenen Gedichttexten. Von hier aus kommt ihnen eine besondere Rolle im gesamten lyrischen Werk des Dichters zu – die Rolle eines poetischen Vermächtnisses. Ob er sie selber so gesehen hat, bleibt wiederum in der Schwebe. Der Titel des Gedichtbandes – »so celanisch wie nur denkbar«1 – stellt wieder eine Neuwortschöpfung dar, in der sich ein Abstraktum mit einem konkreten Begriff verbindet und die bereits in den früheren Gedichtbänden des Dichters so typisch waren – Sprachgitter, Niemandsrose, Atemwende, Lichtzwang. Auch diesmal ist er mit reichen Konnotationen geladen. Als Präfiguration dazu könnte der vom deutschen Philosophen Edmund Husserl (1859–1938) geprägte Begriff »Zeithof« sein, der ihn in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins verwendet2. Durch diese Wortschöpfung bezeichnet der Denker einen »Jetztpunkt […], der sich in einer Kontinuität von Erinnerungsauffassungen vollzieht«.3 Auch in Celans Gedichten kommt diese Metapher dreimal vor. Für den Titel seines Gedichtzyklus, der dann als der Titel für den ganzen Gedichtband von Herausgebern übernommen wurde, hat der Dichter sie noch einmal modifiziert: Zeitgehöft – ein Kompositum, »das sich aus einer Pluralität von ›Zeithöfen‹ zusammensetzt«4. Celan-Forscher betonen aber, dass es in diesem Fall eher um einen poetologischen als um einen philosophischen Kontext handelt. So wird der Bezug zu R. M. Rilkes Gedicht »Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens« mit seiner Zeile »noch ein letztes/ Gehöft von Gefühl«, zu der Gedichtsammlungen Günter Eichs Abgelegene Gehöfte oder Ernst Meisters Im Zeitspalt hergestellt. Die Chiffre »Zeitgehöft« verbindet zwei wichtigste existenzielle Begriffe, die als Urformen der Materie bekannt sind, – »Zeit« und »Raum« – und drückt damit die Tragik des Daseins in der »gestundeten Zeit« (Ingeborg Bachmann) des menschlichen Lebens aus. Die »Zeit«, – bemerkt dazu Richard Reschika, – schrumpft, reduziert sich hier zum verschwindend kleinen und solitären »Gehöft« – als dem Ort menschlichen Daseins und Wirkens […] »Zeitgehöft« also als Ort irdischen Daseins, zugleich als Ort der

1 Karl Krolow. Es schnippen zwei Finger im Abgrund: Paul Celans Nachlassband »Zeitgehöft«. Lyrik ohne Bestand. In: Stuttgarter Zeitung. 15. September 1976, S. 36. 2 Vgl. Richard Reschika. Poesie und Apokalypse. Paul Celans »Jerusalem-Gedichte« aus dem Nachlassband »Zeitgehöft«. Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft 1991, S. 53–54. 3 Paul Celan. La Bibliothèque philosophique. Die philosophische Bibliothek. Catalogue raisonné des annotations établi par Alexandra Richter, Patrik Alac et Bertrand Badiou. Préface de JeanPierre Lefebvre. Paris: Éditions Rue d’Ulm/Presses de l’École normale supérieure, 2004, p. 422. 4 So Sieghild Bogumil-Notz in: Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann (Hrsg.) CelanHandbuch. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler 2008, S. 127.

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Nichtigkeit menschlicher Zeit, die von einer »zeitlosen Zeit« eingegrenzt und früher oder später durch sie gänzlich aufgehoben wird. »Zeitgehöft« – ein letztlich »hohle(s) Lebensgehöft«.5

Die Zeit ist somit eines der wichtigen Leitmotive dieses letzten Celanschen Nachlassbandes, besonders in seinem ersten Zyklus, was nicht nur vom Titel hergeleitet wird. Wie bereits im vorhergehenden Gedichtband Schneepart, zeigt die Zeit hier eine »kosmische« Dimension auf – von der prähistorischen Phase bis in die dunkel umrissene Zukunft, von der ersten menschlichen Erfahrung der Zeitläufe – bis in die Unendlichkeit. Es gibt jedoch keine zeitliche Einheit und Kontinuität mehr, der Akzent verschiebt sich immer mehr auf das Apokalyptische, Eschatologische. Die Zeit ist hier meistens negativ konnotiert, sie ist durch Verstümmelungen und Risse geprägt: »Traumentzug-Zeiten« (Gold), »die kahlgeplünderte/ Phase Dasein«, »die wahnfeste Zeit« (In den Fernsten), »Zeitloch« (Die Posaunenstelle) u. a. Man kann sagen, dass die Grundstimmung von Zeitgehöft vom Gefühl der »Endzeit« überschattet ist, »von der ersten bis zur letzten Zeile scheinen diese fünfzig Gedichte bereits ›Todesbesitz‹ zu sein.«6 Der erste Zyklus, der Celans seelischen Zustand in den Monaten vor seiner Israel-Reise wiedergibt, ist von einer durchaus resignativen Stimmung gezeichnet. Seine Bilder fallen meistens negativ und destruktiv aus – sie zeigen entstellte, zerstörte Natur: »gehässige Monde/ räkeln sich geifern/ hinter dem Nichts« (Gehässige Monde), »der Chor/ der Platanenstrünke/ buckelt sich ein zum Gebet« (Gold) »der Himmel/ stürzt sich/ in die Harpune« (Von der sinkenden Walstirn), und den verletzten, zerlegten menschlichen Körper: »Zungenentwurzeln« (Du liegst hinaus), »Zwei Sсhwülste, zwei/ Narbennähte,/ auch hier, quer durchs/ Gesicht« (Zwei Schwülste), »Lippen-/ pflöcke«, »Gletschergeschrei/ deiner Hände« (Das Flüsterhaus). Diese unheile Welt ist kaum mehr reparabel, sie hat keine Aussichten auf eine glückliche Zukunft. Daher entstehen hier häufige Todesmotive, die als Folge von Einsamkeit und Krankheit des Dichters zu verstehen wären. Manchmal sind sie ganz unverhüllt, ihre Bilder bezeugen Lebensmüdigkeit und Todessehnsucht, die in »das/ balzende Nichts« (Von der sinkenden Walstirn) münden: »Wir sind bereit,/ das Tödlichste in uns zu tauschen« (In den Fernsten), »mit allen/ Kielen/ such ich dich,/ Ungrund« (Eingeschossen), »Alle die Sterbemäntel aus Sand« (Kleine Nacht). Kennzeichnend für diesen ersten Zyklus kann das Gedicht »Erst wenn ich dich« sein, in dem diese Leitmotive besonders krass ausgeprägt sind:

5 Richard Reschika. Poesie und Apokalypse, S. 45. 6 Ernst Günther Bleisch. Balzendes Nichts. In: Münchner Merkur, 24. November 1976, S. 24.

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Erst wenn ich dich als Schatten berühre, glaubst du mir meinen Mund, der klettert mit Spätsinnigem droben in Zeithöfen umher, du stößt zur Heerschar der Zweitverwerter unter den Engeln, Schweigewütiges sternt.

Die Schattenexistenz, die in alten Mythologien verschiedener Völker mit dem Tod gleichgesetzt wird, kommt hier als Vorbedingung des Lebens vor. Das ist eines der Celanschen Paradoxe, das den Tod in das Leben umkehrt. Der Mund – neben Hand und Herz eines der wichtigsten Symbole in Celans Poetologie und als Sprachorgan unentbehrlich – erforscht hier die Welt auf (spät)sinnliche Weise, er entdeckt immer neue Zeithöfe, in denen die empirische Erkenntnis möglich ist. Die etwas rätselhafte »Heerschar/ der Zweitverwerter unter/ den Engeln«, zu der das lyrische Du stößt, versetzt die ganze Szenerie in eine außerirdische, transzendente Sphäre, wo »Schweigewütiges/ sternt« und somit das Ich-Du-Verhältnis wieder in den sprachlosen Zustand, in den Tod führt. Auf diesem Wege umkreist das Gedicht den großen Bogen zum Absoluten und markiert noch einmal Celans mehrmals hervorgehobene poetologische Entwicklungsrichtung zum Schweigen. Die zentrale Stelle in Zeitgehöft nimmt der sog. Jerusalem-Zyklus, der mit dem Namen »Ilana« überschrieben wurde. Ilana Shmueli, geborene Schindler, stammt, wie Celan selbst, aus Czernowitz, beide haben sich noch in der Zeit der Verfolgung in ihrer Heimatstadt kennen gelernt. Viele Jahre, über zwei Jahrzehnte lang, haben sie sich nicht gesehen. Während ihrer Europareise im September 1965 hatte sie Celan in Paris besucht. Die Begegnung war nicht geplant, sie gestaltete sich aber für beide als höchst erwünscht, denn sie brachte beide wieder in ihre Jugendzeit zurück. Sie sprachen und gingen und fragten einander aus. Es war ein sehr langer gemeinsamer Spaziergang, der vom Spätnachmittag bis fünf Uhr morgens dauerte. »Wir sprachen über die 21 Jahre, die zwischen uns lagen«7 – erinnerte sich später Ilana Shmueli. Danach begannen beide miteinander zu 7 Paul Celan / Ilana Shmueli. Briefwechsel. Hrsg. von Ilana Shmueli und Thomas Sparr. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 164.

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korrespondieren, Celan schickte in seinen Briefen an die Jugendfreundin auch neue Gedichte. Während Celans Israel-Aufenthalts im Oktober 1969 erfüllte Ilana Shmueli ihr noch in Paris gegebenes Versprechen, ihm Jerusalem zu zeigen. Auf Celans Bitte machte sie damals kurze Aufzeichnungen über jene Orte der heiligen Stadt, die sie gemeinsam besucht hatten. Sie waren in Jerusalem viel zusammen, aus der einstigen jugendlichen Freundschaft und der noch in Czernowitz entstandenen romantischen Verliebtheit8 erwuchs eine richtige Liebe, »die wohl beide, Celan und die Freundin, in ihrer Intensität und Unbedingtheit des gegenseitigen Vertrauens überraschte«9 und die auch später, als Celan nach Paris zurückgekehrt war, in der brieflichen Form und bei Ilanas erneuten Besuchen in der französischen Metropole Dauer hatte. Doch der Dichter war schon gezeichnet, seine Einsamkeit und Verzweiflung hielten ihn fest im Griff, auch die neue Liebe konnte ihn nicht mehr retten. Jerusalem war aber der Versuch, seine Lebenskräfte noch einmal zu bündeln. »In Israel, – meint Ilana Shmueli, – hoffte er etwas Rückhalt und Sicherheit zu finden, die er so brauchte.«10 Diese Hoffnung hat sich teilweise auch erfüllt und erreichte ihren Höhepunkt im neuen Gedichtzyklus, der das poetische Profil des Bandes Zeitgehöft im großen Maße bestimmt. Die meisten dieser Gedichte legte er seinen Briefen an Ilana Shmueli bei, die er ihr aus Paris schickte. Bereits in einem der ersten Briefe, den er an Ilana richtet, heißt es: Aber wie wird aussehen, was ich jetzt, nach Jerusalem, aufschreibe? Dass Jerusalem eine Wende, eine Zäsur sein würde in meinem Leben – das wusste ich. Aber ich wusste nicht, dass ich dort beschenkt werden sollte mit Dir.11

Die 20 Gedichte des zentralen Zyklus von Zeitgehöft, den man in der CelanForschung auch »Jerusalem-Zyklus« nennt, zeichnen sich durch eine beeindruckende thematische und stilistische Einheit aus, sie ist vor allem durch das weibliche lyrische Du bedingt, welches in den meisten dieser Gedichte angesprochen wird. Dieses lyrische Du ist doppelschichtig – von der einen Seite verkörpert es die Stadt Jerusalem mit all ihren geschichtlichen, religiösen und allegorischen Implikationen, von der anderen Seite ist es die geliebte Frau. Dabei sind die meisten Gedichte des Jerusalem-Zyklus von eschatologisch-apokalyptischen Motiven und einem »kosmischen« Nihilismus durchdrungen, sie evo8 Sieh: Edith Silbermann. Czernowitz – Stadt der Dichter. Geschichte einer jüdischen Familie aus der Bukowina (1900–1948). Herausgegeben, dokumentiert und kommentiert von AmyDiana Colin. Padeborn: Wilhelm Fink Verlag 2015, S. 157. 9 Wolfgang Emmerich. Paul Celan. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 155. 10 Ilana Shmueli. Nachwort. In: Paul Celan / Ilana Shmueli. Briefwechsel, S. 168. 11 Paul Celan / Ilana Shmueli. Briefwechsel, Brief vom 21. 10. 1969, S. 14.

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zieren die untrennbare Verbindung dieser beiden Sphären. Solch eine »Doppelsträngigkeit« und »Kontrapunktik« des Zyklus äußert sich darin, dass »Jerusalem« und die »besungene« Geliebte oftmals Synonyme bilden12. Diese Konstellation ist nicht neu, sie hat ihre Wurzeln bereits im Alten Testament, wo Geliebte und Jerusalem gleichgesetzt und als »Schechina«, die Gottesbraut, interpretiert werden. Celan zeigte schon immer eine besondere Faszination für die Namen, auch Ortsnamen tauchen in seinen Gedichten immer wieder auf. Es geht hier um eine reale Topographie der heiligen Stadt, um Orte, die auf jedem Stadtplan von Jerusalem zu finden sind: Gethsemane und Absaloms Grab, die arabische Siedlung Abu-Tor, das Dänenschiff-Denkmal auf dem Platz Kikar Dania, das Viertel Newe Awiwim, Omar-Moschee mit seiner »Goldboje«, das Tor des Erbarmens und das Löwentor in der alten Stadtmauer. Doch Celan war kein wissensdurstiger Tourist, der sich die Sehenswürdigkeiten von Jerusalem anschauen wollte. Diese Orte verbindet er mit persönlichen Erfahrungen und verleiht ihnen in seinen Gedichten einen tiefen symbolischen Sinn, deswegen stellt sein Jerusalem-Zyklus etwas anderes als »ein poetisches Tagebuch einer Reise und einer Liebe« (Jean Bollack) dar, er ist vor allem ein poetischer Vorgriff, eine Antizipation menschlicher Solidarität, die er in Paris so sehr vermisst hatte. »In Israel und speziell in Jerusalem trifft Celan auf den festen Grund seiner Dichtung und seines Daseins: die einigende Versammlung alles Getrennten«13 – betont Sieghild Bogumil-Notz. Siebzehn Tage in Israel: meine intensivsten, seit Jahren – schrieb Celan in einem Brief an seinen Freund Franz Wurm. – Wo soll ich jetzt hin mit diesem Dort?/ Paris, das sind die Härten und dann und wann ein kleines Gedicht […] Dort, das war, zumal in Jerusalem, auch mein starkes Selbst. Umredet, umschwiegen, umlebt.14

Am überzeugendsten drückt es das Gedicht »Die Pole« aus, das diese schwierige Selbstfindung des eigenen Ich in Jerusalem zustande bringt und auch von der Komposition des Zyklus her eine zentrale Stelle einnimmt: Die Pole sind in uns, unübersteigbar im Wachen, wir schlafen hinüber, vors Tor des Erbarmens,

12 Richard Reschika. Poesie und Apokalypse, S. 4. 13 Celan-Handbuch, S. 129. 14 Paul Celan / Franz Wurm. Hrsg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Franz Wurm. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1995, S. 220.

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ich verliere dich an dich, das ist mein Schneetrost, sag, daß Jerusalem i s t sags, als wäre ich dieses dein Weiß, als wärst du meins, als könnten wir ohne uns wir sein, ich blättre dich auf, für immer, du betest, du bettest uns frei.

In der Celan-Forschung wird das Gedicht als ein »moderner Psalm«15 charakterisiert, da es grundsätzlich auf Transzendenz gerichtet ist. Zugleich ist es ein Liebesgedicht mit starken erotischen Elementen. Sein wichtigster Leitgedanke ist das Motiv der Polarität, die hier auf die Dualität der Geschlechter, der »Ich-Du«Beziehung spielt, aber religionsgeschichtlich die Vertikale von Unten nach Oben symbolisiert und auch die Hinwendung des Menschen zu Gott einbezieht16. Es hat eine starke utopische Dimension und zeigt, dass die Überwindung der Diskrepanzen zwischen Ich und Du nur im Schlaf, also in einem unbewussten Zustand möglich ist, dabei wird dieser Schlaf als »Hinüberschlafen« »vors Tor des Erbarmens« (von Christen noch das »Goldene Tor« genannt) platziert, was ihm zugleich eine religionsmystische Bedeutung verleiht, worauf Otto Pöggeler aufmerksam macht: Das Tor des Erbarmens in der Ostmauer von Jerusalem verweist auf die Polarität von Draußen und Drinnen. Nach jüdischer Hoffnung wird der Messias, von Osten her über den Ölberg kommend, durch dieses Tor in Jerusalem einziehen. […] Das Draußen vor dem Tor ist die Zeit mit ihren geschichtlichen Trennungen und Verwicklungen; das Drinnen ist die messianische Zeit des Friedens von der Ewigkeit her.17

Somit wird hier die für diesen Gedichtband grundlegende Zeitproblematik noch einmal hervorgehoben. Sie realisiert sich im Rahmen der utopischen Polarität des »irdischen« und des »himmlischen« Jerusalems, daher wird die Zeile »sag, dass Jerusalem i s t «, die zugleich die zentrale strukturelle Achse des Gedichts bildet, zum Ausdruck messianischer und persönlicher Hoffnung des Dichters, dass diese Utopie möglich ist. Diese Hoffnung verkörpert sich im Stichwort »Weiß«, 15 Richard Reschika. Poesie und Apokalypse, S. 140. 16 Richard Reschika. Poesie und Apokalypse, S. 141. 17 Otto Pöggeler. Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans. Freiburg/München: Verlag Karl Alber 1986, S. 392–393.

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das in assoziativer Verbindung mit »Schneetrost« ideelle Verklärung und absolute Reinheit symbolisiert. Die abschließenden Zeilen »du betest, du bettest/ uns frei«, die auf dem unüberhörbaren phonetischen und semantischen Wortspiel der Verben »beten« und »betten« gründen, verschmelzen noch einmal das Mystische mit dem Erotischen, sie zeugen von einer nur selten bei Celan vorkommenden, durchaus zuversichtlichen und lebensbejahenden weltanschaulichen Position, was mit der allgemeinen Stimmung anderer Gedichte aus seinem dichterischen Nachlass spürbar kontrastiert. »Israel – schreibt Christoph Schwerin – war Celans letztes prägendes Erlebnis, Begegnung mit den historischen Stätten der Bibel, dem befreiten jüdischen Volk, den Freunden seiner Kindheit.«18 All dort Gesehenes, Durchdachtes und Erfühltes gab ihm die Kraft, mit dem Jerusalem-Zyklus noch einmal auf die Höhe seines dichterischen Talents aufzusteigen und poetische Texte zu verfassen, die zu seinen besten gezählt werden können. »Ein ganz eigenes, Celansches Hohelied«19 – nennt Ilana Shmueli den Jerusalem-Zyklus. Doch das letzte Aufflammen der Euphorie, die Celan in Israel erlebt hatte, konnte nicht lange dauern. »In Israel – meint Lydia Koelle – musste Celan erkennen, dass seine Erwartung, irdisches und himmlisches Jerusalem könnten zur Deckung kommen, die Pole könnten in eins fallen, utopisch ist.«20 Nach Paris zurückgekehrt, musste er wieder in seine Abgründe hinabsteigen. Das dritte Konvolut unter dem Arbeitstitel »Neuer Zyklus« umfasst nur 7 Gedichte und hinterlässt zuerst den Eindruck eines Fragments. Seine thematische Palette bilden solche Motive wie Natur, kosmisches Universum, Einsamkeit und Bitterkeit der menschlichen Existenz. Schlüsselworte wie Erde und Sonne, Kometen, Substanzen und Antimaterie, aber auch Blumen und Pflanzen wie Skabiose, Krokus und Rebe tauchen hier auf – eher Restsymbole als Naturerscheinungen, denn auch der Kosmos und die Natur sind bei Celan in ihren Funktionen bis zur Unkenntlichkeit verändert. Bittere und sarkastische Töne durchdringen das kleine Gedicht »Die Welt«, das mit seinen fünf kurzen Zeilen eine unerhörte existenzielle Diskrepanz zwischen dem menschlichen Individuum und den äußeren Umständen seiner Existenz aufwirft und das er selbst in einem Brief an Ilana Shmueli »fürchterlich« nannte21: Die Welt, Welt, in allen Fürzen gerecht, 18 Christoph Schwerin. Bitterer Brunnen des Herzens. Erinnerungen an Paul Celan. In: Der Monat 32 (1981), S. 81. 19 Ilana Shmueli. Denk Dir. Paul Celan in Jerusalem. In: Jüdischer Almanach 1995 des Leo Beck Instituts. Hrsg. von Jacob Hessing. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 32. 20 Lydia Koelle. Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah. Mainz: Matthias Grunewald-Verlag 1997, S. 315. 21 Paul Celan / Ilana Shmueli. Briefwechsel, S. 100–101.

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ich, ich, bei dir, dir, Kahlgeschorene.

Auch hier artikuliert sich die absolute Polarität zwischen der Welt und dem lyrischen Subjekt als unüberbrückbare Kluft, wobei das lyrische Subjekt keine Chancen hat, sich als Rivale gegen die Welt durchzusetzen, da bereits a priori die Welt unanfechtbar ist. Dass das lyrische Du, das hier offensichtlich weiblich ist, dabei »kahlgeschoren« ist, betont noch mehr seine existentielle »Schuld«, denn nur von der Gesellschaft Verworfene – Missetäter, Verbrecher, Häftlinge – werden üblicherweise kahl geschoren. Celans Gedichtband Zeitgehöft schließt mit dem hebräischen Wort »Sabbath« ab, das im jüdischen Ritus einen Ruhetag nach der Schöpfung bedeutet. Celan war bekanntlich kein rituell gläubiger Jude, aber ist es nicht symptomatisch, dass das letzte von ihm geschriebene Gedicht »Rebleute« ausgerechnet mit diesem hebräischen Wort endet? Meint es nicht einen endgültigen Punkt, den er auf diese Weise in seinem Werk setzen wollte, damit danach nun Ruhe, Stille und Schweigen herrschen? Aus solch einer Sicht würde dann auch dieser Zyklus seines Gedichtbandes nicht mehr fragmentarisch, sondern durchaus abgeschlossen erscheinen. Die Rezeption des letzten Gedichtbandes Celans von der deutschen Literaturkritik – wenn man von der Zahl der Rezensionen ausgeht –, war recht intensiv, aber in seinem Grundton eher negativ. Besonders harte Vorwürfe an den Dichter stellten Literaturkritiker, die schon früher, zu Celans Lebzeiten, mehrere Gedichtbände von ihm mit viel Verständnis und überaus wohlwollend besprochen hatten. Diesmal waren jedoch ihre Urteile beinahe verwerfend. So wirken Celans Gedichte von Zeitgehöft auf Rudolf Hartung »ausgeklügelt und zerebral« und bestätigen den Verdacht, dass »der Weg dieses Lyrikers zuletzt immer mehr ein Irrweg war«22. Hans-Jürgen Heise bemängelt in diesen Arbeiten vor allem, dass sie »nicht mehr dieselbe Präzision und Qualität wie noch vieles aus den Nachlassbänden Lichtzwang und Schneepart« haben, wobei er zugleich betont, »es wäre falsch und zudem sehr ungerecht, würde man das Gesamtwerk des Dichters künftig nach diesen Texten beurteilen, die er während seiner letzten großen Krise geschrieben hat und die er selber nicht einmal mehr auswählte und überarbeitete«23. Genauso ablehnend urteilt über die Texte des Zeitgehöft-Bandes Georg Laschen, indem er meint:

22 Rudolf Hartung. »Zeitgehöft« von Paul Celan. Hessischer Rundfunk. Sendezeit 26. September 1976 (Das Buch der Woche). 23 Hans-Jürgen Heise. Heute, für immer. Nachgelassene Gedichte von Paul Celan. In Rheinischer Merkur, 3. Dezember 1976, S. 37.

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Noch in keinem Gedichtbuch Celans zuvor finden sich so viele Unwägbarkeiten, Halbsätze, Unentschiedenheiten, ja »ausplündernde« Redseligkeit und Veränderungsanstrengung, der es kaum noch gelingt, ihre Prinzipienhaltigkeit zu veranschaulichen, in ein ihr adäquates Bild aufzukommen.24

Ganz abschlägig äußert sich in seiner Einschätzung des Bandes Peter Jokostra, der sich die Veröffentlichung dieser Texte lieber erspart haben sollte: »Celan schrieb diese Verse, deren Merkmal der Sinnverfall, das Widersinnige und Aberwitzige ist, am Vorabend des Verstummens. Man hätte sie aus dem Respekt vor diesem bedeutenden Lyriker der 50er Jahre nicht publizieren sollen.«25 Dagegen sträubt sich Karl Krolow, der meint, »die Arbeiten des Zeitgehöfts haben keinen wie immer gearteten Abgesang-Charakter. Sie sind Orte der Auseinandersetzung und der Verstörung, eine celanische stumme (und wiederum sehr beredte, in der Aufnahme der Thematik überaus beredte) Stätte verbaler Grenzbegehung wie früher.«26. Ein anderer deutscher Literaturkritiker, Mathias Schreiber, hebt in seiner Rezension das beinahe wichtigste Prinzip Celanscher Dichtung hervor, das ihr wohl seit der frühen Phase eigen war und bis zum letzten Band seine Gültigkeit beibehalten hatte – ihre unermüdliche Wahrheitssuche, die jedoch oft scheitern musste, aber approximativ immer als ein unerreichbares Ideal für den Dichter vorschwebte: Paul Celans späte Verse sind weder in Lyrik versteckte Untergangsphilosophie noch unverbindliche, surreal montierte Sprachspiele. Es sind Gedichte, die das »unumstößliche Zeugnis« der einen Wahrheit suchen, doch nur die Schönheit des unauflöslichen Widerspruchs, den Reiz der spröden, abenteuerlichen Verschränkung von Gegensätzen finden. Und die dieses Nie-zum-Ziel-Gelangen in sich reflektieren.27

Gleich Karl Krolow, der in späten Gedichten Celans eine Fortführung und Verdichtung seiner früheren Gedichtsammlungen sah, betrachtet auch Norbert Schlachtsiek-Freitag den Celanschen Band Zeitgehöft als eine konsequente Entwicklung seiner sprachlichen und poetologischen Tendierung zur Verknappung des poetischen Ausdrucks: Insgesamt gesehen, stellen die Gedichte die Kontinuität Celanschen Dichtens erneut unter Beweis: die späten Gedichte nähern sich noch stärker der Grenze des Schweigens. Die Sprache ist noch spröder geworden, die Metaphern verschlüsselter, die Gedichtsformen offener, der kommunikative Aspekt noch mehr zurückgenommen trotz der 24 Gregor Laschen. Paul Celans »Zeitgehöft« – Späte Gedichte aus dem Nachlaß. Deutschlandfunk, Sendezeit 21. November 1976 (Bücher im Gespräch). 25 Peter Jokostra. An der Schweigegrenze. Späte Gedichte aus dem Nachlaß Paul Celans. In: Rheinische Post, 15. Januar 1977. Beilage RP am Sonntag, o. S. 26 Karl Krolow. »An die Haltlosigkeiten sich schmiegen«. Paul Celans Nachlassband Zeitgehöft. In: Darmstädter Echo, 11. September 1976, S. 29. 27 Mathias Schreiber. »Ich lotse Dich hinter die Welt«. Zum Spätwerk von Paul Celan. Lyrikband und neue Aufsätze. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 26. März 1977, S. 7.

Zeitgehöft

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vielen Anrufungen. Kein Zweifel: auch Celans letzte Lyrik mit ihrem stark ausgeprägten assoziativen Gehalt und den wiederum irritierenden Neologismen sperrt sich wie eh und je einfachen klartextlichen Übertragungen.28

Aus den oben angeführten kritischen Äußerungen über den letzten Celanschen Gedichtband Zeitgehöft geht hervor, dass man ihn nicht isoliert von seinen vorhergehenden Gedichtsammlungen betrachten darf, dass er nur im allgemeinen Kontext des ganzen Werkes des Dichters seine ihm gebührende Stelle und Bedeutung bekommt. Heute, aus einer längeren, über vierzigjährigen zeitlichen Perspektive, in der die Celan-Forschung viele neue Zugänge zu dieser Lyrik gefunden hatte, sollten sich auch kritische Akzente in der Einschätzung dieses Bandes geändert haben. Man entdeckt heute in diesem Gedichtband viel mehr verborgenen Sinn und tiefere ontologische Dimensionen als kurz nach seinem Erscheinen. Die Gedichtsammlung Zeitgehöft ist zum festen Bestand des Celanschen lyrischen Gesamtwerkes geworden, ohne die kaum mehr möglich ist, sich eine objektive Vorstellung von der Rolle und Bedeutung dieses Dichters bei der Evolution poetischer Ideen des 20. Jahrhunderts zu bilden.

28 Norbert Schlachtsiek-Freitag. Paul Celans letzte Gedichte. In: Tribüne (Frankfurt/M.), 15, Heft 60/1976, S. 7306–7308.

Eingedunkelt: »Nach dem Lichtverzicht«

Dieser schmale Gedichtband, der Anfang der 1990er Jahre eine Überraschung der Frankfurter Buchmesse, ihre »stille Sensation«1 war, hat zwei deutliche Zeitdimensionen: 1966, als die meisten seiner Texte niedergeschrieben wurden, und 1991, als sie in Buchform beim Suhrkamp Verlag erschienen waren. Ein Vierteljahrhundert trennt beide Eckdaten voneinander. Wodurch erklärt sich diese lange Pause? Und wieso tauchte über zwei Jahrzehnte nach dem Tode des Dichters, dessen poetisches Gesamtwerk inzwischen mit jeder Zeile bekannt war, ein neuer Gedichtband auf ? »Habent sua fata libelli« (»Bücher haben ihr Schicksal«) – lautet eine alte lateinische Sentenz. Das Schicksal des letzterschienenen Gedichtbandes von Paul Celan »Eingedunkelt« bekräftigt diesen Ausspruch exemplarisch, denn seine Erscheinung hat eine recht verwickelte Geschichte, die nun hier in ihren wichtigsten Stationen rekonstruiert werden soll. Ein Teil dieser Gedichte wurde bereits 1968 in einem Sonderband der Bibliothek Suhrkamp mit dem Titel »Aus aufgegebenen Werken« publiziert, den der damalige Verlagsleiter Siegfried Unseld herausgegeben hatte. Es war eine kleine Anthologie der von Autoren verworfenen Texte, die nun auf Initiative des Herausgebers aus den Schriftstellerschubladen geholt und der literarischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, auch jene von Celan. Der Band enthielt, außer den Gedichten Celans, auch Texte von solch prominenten SuhrkampAutoren wie Samuel Beckett, Karl Krolow, Wolfgang Köppen, Hans Erich Nossack, Peter Weiss, Uwe Johnson, Wolfgang Hildesheimer, Nelly Sachs und Martin Walser – alles Fragmente, die aus verschiedenen Gründen von den Autoren selbst abgelehnt wurden und unvollendet blieben. Der Herausgeber erwähnt in seiner Vorbemerkung die romantischen Befürworter des Fragmentarischen Schlegel und Novalis, die dem Fragment »Rang und Wirkung« gaben und in ihm den Versuch sahen, »das geschlossene Weltbild durch eine Form zu brechen, die sich 1 Rolf Michaelis. Der beschriftete Ankerstein. Aus dem Nachlass eines großen Dichters: Paul Celans fragmentarischer Zyklus »Eingedunkelt«. In: Die Zeit, Nr. 42, 11. Oktober 1991, S. L. 9.

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Eingedunkelt

prinzipiell zum Unabgeschlossenen und Offenen bekennt.«2 Bei Celan handelt es sich hier um einen Zyklus von 11 Gedichten unter dem Titel »Eingedunkelt«, der in der Pariser psychiatrischen Universitätsklinik Sainte Anne, wohin er nach einem Mordversuch an seiner Frau eingewiesen war, geschrieben wurde, doch zuerst unpubliziert blieb. Auf die Bitte des Verlegers hat der Dichter diese Gedichte zwei Jahre später jedoch zum Druck freigegeben. Das Fragmentarische entspricht dem poetischen Denken Paul Celans, besonders in seinen späten Gedichtbänden, und so ist es auch in diesem Zyklus spürbar vertreten. Das Wesen dieser literarischen Gattung ist auf dem Prinzip »pars pro toto« gegründet, daher bekommt das Fragment auch in seiner Kürze und Elliptizität eine gewisse Abgeschlossenheit. Ignoriert man dieses Moment, so übersieht man hier das Wesentliche. In seiner Besprechung der kleinen Anthologie von S. Unseld betont zwar Helmut Heißenbüttel die Wichtigkeit des Fragments für Celan, aber seine Charakteristik des Zyklus, dessen Formulierungen »in einer merkwürdigen Vorläufigkeit stecken«, benötigen vom heutigen Standpunkt der Celan-Forschung aus eine gewisse Korrektur, denn diese Texte sind keinesfalls nur »rudimentäre Tagebuchskizzen zu Gedichten; Stichworte, notiert, um ins deutlicher Sagbare vorgetrieben zu werden«3, sondern aussagekräftige, enorm verdichtete, eigenständige poetische Äußerungen. An dem Gedichtzyklus »Eingedunkelt« arbeitete Celan zwischen Februar und Mai1966, also in der Endphase der Entstehung des Bandes »Fadensonnen«, daher trug er zuerst, wie ein Konvolut in Celans Nachlass belegt, den Arbeitstitel »NachFadensonnen-Poem«. Es geht dabei nicht nur um die 11 im Sonderband der Bibliothek Suhrkamp 1968 veröffentlichten Gedichte, sondern auch um 24 weitere poetische Texte, also um den Entwurf eines nie vollendeten Zyklus, der, trotz der Behauptung des Herausgebers, der Autor habe den anschließenden größeren Teil der Gedichte vernichtet4, sich jedoch erhalten haben und zusammen mit den bereits publizierten Gedichttexten eine Grundlage für den 1991 von den französischen Literaturwissenschaftlern Betrand Badiou und Jean-Claude Rambach herausgegebenen Band »Eingedunkelt« bildeten5. Bereits seinem äußeren Aussehen nach gehört dieser Band in die Reihe Celanscher Suhrkamp-Gedichtbände – er hat dasselbe Format und dieselbe editorische Ausstattung. Später widmete

2 Siegfried Unseld. Vorbemerkung. In: Aus aufgegebenen Werken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1968, S. 11. 3 Helmut Heißenbüttel. Fragmente und Fragmentarisches. In: Merkur, 22, Nr. 248, 1968, S. 1164. 4 Aus aufgegebenen Werken, S. 194. 5 Paul Celan. Eingedunkelt und Gedichte aus dem Umkreis von Eingedunkelt. Hrsg. von Bertrand Badiou und Jean-Claude Rambach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1991, 78 S.

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ihm auch die Bonner Historisch-Kritische Ausgabe der Werke Celans einen eigenständigen 12. Band6. Da der gesamte Textkorpus des 1991 herausgebrachten Gedichtbandes aus den nicht gegliederten und chronologisch nicht geordneten Gedichten zusammengestellt wurde, die zum Teil in einem Schulheft und zum Teil auf 192 losen Blättern niedergeschrieben wurden, wobei sich auch etliche Wiederholungen und Varianten fanden, haben sich die Herausgeber dafür entschieden, zuerst den im Sonderband »Aus aufgegebenen Werken« bereits publizierten Zyklus aus den schon erwähnten 11 Gedichten (»Eingedunkelt«), dann die »Gedichte aus dem Umkreis von ›Eingedunkelt‹«, die sowohl im Heft als auch auf den losen Blättern vorgefunden wurden, und schließlich noch 7 Gedichte, die nur auf losen Blättern (mit zwei Ausnahmen) existierten, in ihre Ausgabe aufzunehmen. Dabei wurden die Gedichte des ersten Abschnitts noch einmal im zweiten und dritten Abschnitt, teilweise mit kleinen Änderungen, abgedruckt. Dies war eine gewisse Notlösung, die die komplizierte Editionsgeschichte nachvollzieht und die Varianten einbezieht. Für die deutsch-ukrainische Ausgabe wurden die Varianten gestrichen, denn bei der Übersetzung spielten die winzigen Abweichungen kaum eine Rolle. Deswegen besteht der Textkorpus der deutsch-ukrainischen Ausgabe aus insgesamt 35 Gedichten, von denen 11 Gedichttexte vom Autor selbst zum Druck freigegeben wurden, denen dann 24 Gedichte aus dem zweiten und dritten Abschnitt folgen. Zeitlich gesehen müsste »Eingedunkelt« zwischen den Bänden »Fadensonnen« und »Lichtzwang« platziert werden – als Gedichtzyklus aus dem Nachlass, der erst nach Celans Freitod in seinem Büro an der École Normale Superieur entdeckt wurde. Erst Jahrzehnte später erschien er als letzter eigenständiger Gedichtband des Dichters. In dieser Hinsicht nimmt der Band »Eingedunkelt« im gesamten Werk Celans eine Sonderstellung ein, und obwohl er, abgesehen von bereits zu Lebzeiten publizierten Gedichten, von ihm nicht mehr autorisiert werden konnte, gehört er zu seinen »legitimen« Einzelbänden. So besiegelt dieser Band auch die deutsch-ukrainische Ausgabe, die mit ihm nun abgeschlossen ist. Die Gedichte des in einem alten Briefumschlag aufbewahrten Konvoluts sind sorgfältig vom Autor datiert worden, aber schon bei der Teilveröffentlichung des Zyklus in der von Siegfried Unseld herausgegebenen Sammlung verzichtete der Dichter auf die chronologische Einordnung, wobei er offensichtlich vor allem

6 Paul Celan. Eingedunkelt. Historische-kritische Ausgabe. 12. Band. Hrsg. von Rolf Bücher und Andreas Lohr unter Mitarbeit von Hans Kruschwitz und Thomas Schneider. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2006 [Paul Celan. Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung. Lyrik und Prosa. Begründet von Beda Allemann. Besorgt von der Bonner Arbeitsstelle für die CelanAusgabe (Rolf Bücher, Axel Gellhaus)].

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darauf achtete, die thematischen Überschneidungen zu vermeiden7. Bei der Zusammenstellung des neuen Bandes haben die Herausgeber dieses Prinzip beibehalten. Es fehlt also in diesem Buch die für Celan in seinen früheren Gedichtbänden charakteristische innere Kongruenz und strenge zeitliche Folge. Der Dichter schickte die kleine Auswahl an den Verleger »als Sammlung von Einzelgedichten, nicht als konsistenten Gedichtzyklus«8, wie Wiebke Amthor betont. Diese fragmentarischen Gedichte erreichen uns nun als »späte Flaschenpost«9, die an »Herzland« gespült wurde, wie sich der Dichter in seiner Bremer Preisrede erhofft hatte. Aus diesem Grund war die Suche nach einem ausdrucksvollen, umfassenden Titel für den Gedichtzyklus nicht einfach. Als Varianten kamen die Titel mit Konnotationen des Schmerzes, der Unfreiheit und der psychischen Verstörung, was den Entstehungsumständen der Gedichte in den psychiatrischen Kliniken entsprach. Harald Hartung, einer der wenigen Rezensenten des postum erschienenen Bandes, bemerkt dazu: So fiel es Celan offenbar schwer, seinem »Nach-Fadensonnen-Poem« einen signifikanten Titel zu geben. Er hat Formulierungen wie »Narbenwahr«, »Notgesang« oder »Wahngang« erwogen. Sie mögen ihm missverständlich und allzu persönlich erschienen sein. Mit Recht blieben die Herausgeber daher bei dem bereits sanktionierten Titel. Er ist schön und vielschichtig, verdüstert und verrätselt, eben »Eingedunkelt«.10

Dieser Titel ist wiederum eine typisch eigene Celansche Neuprägung, die ein breites Spektrum der von dem Dichter bevorzugten Bedeutungen anbietet. Bereits in früheren Bänden finden sich bei ihm Worte wie »erdunkeln« (»Ich trink so lang, bis dir mein Herz erdunkelt« – »Auf hoher See«), »hinüberdunkeln« (»Doch konnten wir nicht/ hinüberdunkeln zu dir« – »Wir lagen«) oder »unverdunkelt« (»Sichtbar, bei Hirnstamm und Herzstamm,/ unverdunkelt, terrestrisch,/ der Mitternachtsschütze« – »Sichtbar«). Dunkel ist für Celan ein viel gemütlicheres Element als das Licht – das wurde bereits mit dem Gedichtband »Lichtzwang« bezeugt. »Ist dieses Wort, das sich kaum in einem deutschen Wörterbuch findet, nicht Kennzeichen für den sich ins Dunkel, ins Schweigen, in den Tod arbeitenden Dichter?«11 – fragt Rolf Michaelis. Das aus dem Verb »dunkeln« und dem Präfix »ein« gebildete Partizip ist eine Neuwortbildung, die zudem einen Prozess, einen Übergang vom Tag zur Nacht, vom Licht zum Finsternis signalisiert. Das bezieht sich aber bei Celan nicht nur auf die Natur, 7 Celan-Handbuch. Leben – Werk –Wirkung. Hrsg. von Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler 2008, S. 137. 8 Ebenda, S. 137–138. 9 Harald Hartung. Späte Flaschenpost. Gedichte aus dem Nachlass Paul Celans. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Oktober 1991, Nr. 233, S. L. 15. 10 Ebenda. 11 Rolf Michaelis, a.a.O.

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sondern auch auf seinen eigenen seelischen Zustand, auf seine eigene Umnachtung, die ihm bewusst war und die er hier reflektiert. Zugleich darf man sie keinesfalls nur als Widerspiegelung seiner psychischen Probleme betrachten. »Celans Gedichte aus »Eingedunkelt« – meint Ingo Ebener – lassen sich nicht auf die Krankheit oder den »Wahnsinn« beschränken, der sie – mal stärker, mal schwächer – eingedenk bleiben.«12 Es gibt in diesem Zyklus eine Reihe von Gedichten, die überaus nüchtern wirken und mitunter eine poetische Utopie der Flucht entwerfen, die in das »Unbezwungene« des Nomadenlebens mündet und eine gewisse Absage an die Welt verkündet: Wirfst du den beschrifteten Ankerstein aus? Mich hält hier nichts, nicht die Nacht der Lebendigen, nicht die Nacht der Unbändigen, nicht die Nacht der Wendigen. Komm, wälz mit mir den Türstein vors Unbezwungene Zelt.

Gleich anderen Gedichten aus dem poetischen Spätwerk Celans gehören auch manche der Texte des Zyklus »Eingedunkelt« zur sog. »atonalen Dichtung« (der Begriff stammt vom Erfurter Germanisten Ulisse Dogà, der hier die Analogie zur »atonalen Musik« zieht, welche der Tonart-Grundlage und der gegenseitigen Ton-Anziehung entbehrt ist13). Auch diese späten Gedichte Celans entwickeln ihre suggestive Kraft nicht im Bereich der bildlich-logischen, sondern eher der subjektiv-assoziativen Beziehungen. Hier erscheint eine fragmentarische poetische Wirklichkeit, die ihre bildlichen Strukturen in Leitmotiven entstehen lässt, welche oft einen willkürlichen Charakter haben und nach dem Prinzip einer Montage oder einer Collage gestaltet sind. Das ist die Dichtung, die nach der traumatischen Erfahrung des Holocaust entstanden ist, der einen »Kurzschluss« der Funktion der Sprache verursacht hat, infolge dessen »die Kunst als intakte Darstellungsform unmöglich geworden ist« – so dass ihr »nur das Zeugnis dieser Unmöglichkeit möglich bleibt.«14 In diesem Sinne sind Gedichte aus Celans nachgelassenem Zyklus zu verstehen – dunkel, alogisch, hermetisch. In

12 Ingo Ebener. »Sogleich, nach Menschenart, / mischt sich das Dunkel hinzu« – über Paul Celans dunklen Genius. In: Helene von Bogen / Theresa Mayer / Shirin Meyer zu Schwabedissen /Daniel Schierke / Simon Schnorr (Hg.) Literatur und Wahnsinn. Berlin: Frank & Timme 2015, S. 92. 13 Ulisse Dogà. Der Entreimte. Über Paul Celans Spätwerk. Aachen: Rimbaud Verlag 2007, S. 97. 14 Ebenda, S. 98.

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ihnen dominieren zwei Hauptmotive – das Motiv des Lichtverlustes und des Leidens. Das erste von ihnen wird in solchen Bildstrukturen realisiert wie »Bedenkenlos,/ den Vernebelungen zuwider,/ glüht sich der hängende Leuchter/ nach unten, zu uns« (»Bedenkenlos«), »Setz die Leuchtzeiger ein, die Leucht-/ ziffern,// Sogleich, nach Menschenart,/ mischt sich das Dunkel hinzu,/ das du herauskennst« (»Vom Hochseil«), »ein Leuchter, groß und allein,/ taucht hinzu« (»Erlisch nicht ganz«) usw. Heinz Michael Kramer betrachtet den Zyklus »Eingedunkelt« als »eine Zwischenstufe« in der Reihe der Gedichtbände »Fadensonnen« – »Eingedunkelt« – »Lichtzwang«, in denen Konnotationen des Lichts vorhanden sind, und meint, dass »Eingedunkelt« »eine weitere Lichtabnahme« bezeichnet15. Das zweite Leitmotiv umfasst Bilder von Schmerz, Leid, Einsamkeit, Verzweiflung, Angst und Zerstörung, das Gefühl der Unfreiheit und die Gefahr, die auf das lyrische Ich lauern: »Vielarmiger Brand,/ sucht jetzt sein Eisen, hört,/ woher, aus Menschenhautnähe,/ ein Zischen« (»Bedenkenlos«), »Die blühselige Botschaft,/ schriller und schriller,/ findet zum blutenden Ohr« (»Nach dem Lichtverzicht«), »Schwarz-/ züngiges, reif, am Sterben,/ wird abermals laut« (»Deutlich«), »Unterhöhlt/ vom flutenden Schmerz,/ seelenbitter« (»Unterhöhlt«) u. a. Die Konzentration von Schmerz und Leid ist in diesen relativ kurzen Versen sehr hoch. Wie einer der Rezensenten der Anthologie »Aus aufgegebenen Werken« bemerkte, »hier wird am stärksten […] jenes Schmerzgefühl […] spürbar, das Bruchstücke auslösen können.«16. Zweifellos trifft diese Charakteristik vor allem auf den Celanschen Gedichtzyklus »Eingedunkelt«, dessen Titelgedicht eine schmerzliche Wende anspricht, die im Stillen geschehen ist und eine dunkle und wilde Macht an die Herrschaft gebracht hat, die grausam und brutal ist wie der Caliban des Shakespearschen »Sturms«: Eingedunkelt die Schlüsselgewalt, Der Stoßzahn regiert, von der Kreidespur her, gegen die Weltsekunde.

Im suggestiven Raum dieser wenigen Zeilen lebt etwas, was die Szene der ersten Erscheinung von Mephisto inmitten des magischen Kreidekreises in Goethes »Faust« in Erinnerung bringt. Diese verhüllte Auflehnung gegen die »Weltse15 Heinz Michael Krämer. Eine Sprache des Leidens. Zur Lyrik von Paul Celan. München: Kaiser; Mainz: Grünewald 1979, S. 151–152. 16 Christian Ferber. Für die Schublade geschrieben. In: Die Welt der Literatur (Hamburg), 5. Dezember 1968, S. 6.

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kunde« bedeutet den Triumph des Dunklen und die Hegemonie des Schmerzes, die zum »Notgesang der Gedanken« führt (wie es in einem anderen gleichnamigen Gedicht heißt), und alles »stachlig« erscheinen lässt. Daher ist hier das lyrische Ich voller Wunden, mit Narben bedeckt, so dass das Wort »narbenwahr« (oder »das Narbenwahre«), das der Dichter als Titel seines Zyklus eine Zeitlang erwogen hatte, nicht fehl am Platze gewesen wäre. Wunderbares Wort für Poesie Celans – schreibt Rolf Michaelis –, die zugleich privat, individuell und öffentlich, politisch, allgemein ist: »Narbenwahr«. Die Narbe ist da, ist nicht mehr zu tilgen. Der sie tragen, der sie erleiden muss, wird ständig verwiesen auf die anderen, die ihm die Wunde geschlagen haben.17

So spiegelt »Eingedunkelt« seine eigene, biographisch geprägte Genese als Zyklus wieder, der die tiefe seelische Krise des Autors aufnimmt. Der Dichter versuchte aber, den oben erwähnten »Vernebelungen« gegenüberzustehen. »Mit den Vernebelungen könnten also die Momente der Krankheit gemeint sein, die in der Therapie weggebrannt oder weggeglüht werden sollten, durch das Eisen, das auf Menschenhaut ein Zischen bewirkt«18, meint Ingo Ebener. Es könnten aber auch poetische »Vernebelungen« gemeint sein, gegen die Celan sich auflehnte, um zu einer klaren, wahren Sprache zu kommen. Eines der schönsten, einleuchtenden, fast programmatischen Gedichte des Zyklus, das aus lauter an sich selbst gerichteten Imperativen besteht, sucht Ausweg aus dieser Enge: Schreib dich nicht zwischen die Welten, komm auf gegen der Bedeutungen Vielfalt, vertrau der Tränenspur und lerne leben.

Dieser Aufruf an sich selbst blieb aber letztendlich rhetorisch. »Er schrieb sich ja mehr und mehr »zwischen den Welten« […], keiner mehr ganz zugehörig. Schrieb und bewegte sich in die unwiderrufliche Richtung, die zur Todesrichtung wurde»19, meint Harald Hartung. Dabei haben für ihn diese Gedichte, trotz ihrer fragmentarischen Struktur, »eindeutige Kohärenz«, vor allem dank dem seinerzeit vom Autor freigegebenen Teildruck des Zyklus, der dadurch thematische und stilistische Dominanten des ganzen Bandes bestimmte: »Er ist der Magnet, um den sich die Eisenspäne ordnen«20.

17 18 19 20

Rolf Michaelis, a.a.O., S. L. 9. Ingo Ebener, a.a.O., S. 92. Harald Hartung, a.a.O. Ebenda.

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Auch die »irritierende Wortgewalt«21 des Zyklus zeugt von nicht versiegender poetischer Kraft des Autors – die Fülle von Neuwortschöpfungen, wie Rolf Michaelis betont, lässt auch hier nicht nach: blühselig, traumstark, enthökert, Sperrzauber, Zeitlücke, Notgesang, enthimmelt, Sehklumpen, Eisfeuerschein, Dämmerfracht, Knospenregen, lindenblättrige Ohnmacht, die Atemlosigkeiten des Denkens, seelenbitter u. a. Komposita sind nur einige Beispiele unermüdlicher sprachlicher und bildlicher Kreativität des Dichters, so dass diese Verse ihren »eigenen Wert« behaupten und »müssen nicht – irgendwann – im Apparat einer Kritischen Ausgabe versteckt werden«22. Wie bereits in den früheren Gedichtbänden Celans spielt auch in »Eingedunkelt« das intertextuelle Prinzip eine spürbare Rolle. Die meisten Gedichte hätten ohne intertextuelle Bezüge kaum entstehen können. Zu den wichtigen Referenzen dieser Art gehören hier vor allem jene »Auslöser« des poetischen Denkens, die er beim Schreiben dieser Gedichte gerade gelesen hatte. Man findet darunter Homers »Odyssee«, Josephs Conrads »Der Geheimagent« und Thomas Wolfes »Von Zeit und Strom«, Leo Schestovs »Le Pouvoir des Clefs (Potestas Clavium)«, Georg Büchners »Dantons Tod« und »Leonce und Lena«, Reiner Maria Rilkes »Duineser Elegien«, aber auch »Brockhaus-Taschenbuch der Geologie«, Presseartikel, den Text seiner eigenen Rundfunksendung über Ossip Mandelstam u. a. Die aktuelle Lektüre gibt ihm unmittelbar einzelne Wörter, Ausdrücke und Themen seiner Gedichte vor. Auch in diesem Band bleibt Celan ein ausgesprochener »poeta doctus«. Es ist natürlich schwer zu sagen, wie dieses Buch ausgeschaut haben würde, hätte der Dichter es noch selbst zum Druck vorbereiten können. Dass er aber das Konvolut des Bandes nicht vernichtet, sondern sorgfältig aufbewahrt hatte, spricht dafür, dass er seine Veröffentlichung erwogen hat. Somit gehört »Eingedunkelt« zum festen Bestand seines dichterischen Werkes, wenn auch diese Texte viel später publiziert worden sind. Man kann den Herausgebern Bertrand Badiou und Jean-Claude Rambach durchaus zustimmen, wenn sie in ihrem editorischen Nachwort zu diesem letzten Buch Celans schreiben, sie möchten mit ihrer Ausgabe dem Leser vorerst die Chance geben, »vom Vorhandensein dieser Gedichte Kenntnis zu nehmen«23, denn erst nach der Realisierung dieser Vorbedingung beginnt ihr Leben im öffentlichen Bewusstsein.

21 Rolf Michaelis, a.a.O. 22 Ebenda. 23 Paul Celan. Eingedunkelt und Gedichte aus dem Umkreis von Eingedunkelt. Hrsg. von Bertrand Badiou und Jean-Claude Rambach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1991, S. 63.

Namenregister

Adorno, Theodor 55 Alac, Patrik 108 Allemann, Beda 19, 26, 68, 81, 121 Amthor, Wiebke 95, 99, 122 Andersen, Hans Christian 35 Antschel, Paul 16, 17, 18, 19, 96 Apollinaire, Guillaume 59 Ausländer, Rose 8 Bachmann, Ingeborg 10, 30, 50, 52, 101, 108 Bachtin, Michail Michajlowitsch 99 Badiou, Bertrand 38, 65, 74, 90, 97, 108, 120, 126 Bashan, Mykola Platonowytsch 9 Basil, Otto 20, 21, 22, 23, 26 Baudelaire, Charles 59 Baumann, Gerhart 92 Baumbach, Rudolf 15 Baur, Wolfgang Sebastian 41 Beckett, Samuel 119 Benjamin, Walter 101 Benn, Gottfried 36 Bergmann, Hugo 71 Bergson, Henry 71 Bermann Fischer, Gottfried 64 Bernhard, Thomas 85 Bienek, Horst 85 Bleicher, Adolf 101 Bleisch, Ernst Günter 109 Bloch, Ernst 71, 101 Blöcker, Günther 13 Bogen, Helene von 123

Bogumil (Bohumil-Notz), Sieglind 75, 78, 81, 88, 108, 112 Bollack, Jean 112 Böschenstein, Bernhard 64 Bouchet, André du 76, 96 Brancusi, Constantin 86 Brecht, Bertolt 80, 101 Buber, Martin 8, 41, 56 Buck, Theo 54 Buñuel, Luis 71 Bücher, Rolf 19, 26, 121 Büchner, Georg 59, 64, 101, 126 Camus, Albert 80 Caraion, Ion 18 Catull, Gaius Valerius 59 Cayrol, Jean 51 Celan, Eric 8, 37, 38, 65, 90, 97 Celan, François 37, 40 Celan, Paul passim Celan-Lestrange, Gisèle de 37, 38, 63, 64, 65, 66, 75, 84, 87, 90, 94, 95, 97 Chagall, Marc 59 Chalfen, Israel 10, 16 Chamisso, Edelbert von 100 Char, René 41 Chomed, Gustav 14 Cioran, Emil 37 Cocteau, Jean 30 Cohn-Bendit, Daniel 97 Colin, Amy-Diana 60, 111 Conrad, Joseph 126 Cooper, Jean C. 39 Corino, Karl 90, 93, 102, 103

128 Dan, Felix 15 Dante Alighieri 46, 51, 59 Demokrites 50, 51 Demus, Klaus 25, 42 Demus, Nani 42 Derrida, Jacques 41 Desnos, Robert 59 Dickinson, Emily 15 Dingelday, Helmut 31 Diogenes Laertius 50 Dmitrieva-Einhorn, Marina Dogà, Ulisse 123 Dor, Milo 22, 30 Dutschke, Rudi 97 Dvorˇak, Antonin 70

Namenregister

37, 51

Ebener, Ingo 123, 125 Ebers, Georg 15 Ebner-Eschenbach, Marie von 15 Eich, Günter 67 Eichendorff, Joseph von 61 Einhorn, Erich 37, 50, 51 Eisenstein, Sergej 71 Eluard, Paul 41, 42 Emmerich, Wolfgang 42, 65, 66, 68, 111 Empedokles 51 Engel, Peter 90 Engelmann, Peter 41 Enzensberger, Hans Magnus 59 Faller, Adolf 81 Federmann, Reinhard 22 Feldenkrais, Mosché 75 Ferber, Christian 124 Ficino, Marsilio 101 Figner, Wera 71 Fischbein, Mojsej Abramowytsch Fischer, Kai 76, 78, 81 Flavius, Josephus 80 Fontane, Theodor 15, 70 Forestier, George 36 Forster, Georg 59 Franz von Assisi 41, 60 Franzos, Karl Emil 15 Freud, Sigmund 59, 80, 101

9

Gadamer, Hans-Georg 67, 69 Gellhaus, Axel 8, 17, 19, 53, 121 George, Stefan 16 Géricault, Thèodore 86 Glenn, Jerry 22 Goethe, Johann Wolfgang 16, 35, 70, 124 Goldberg, Oskar 56 Goll, Claire 26, 37, 40, 46, 54, 87 Goll, Ivan (Iwan, Yvan) 37 Goßens, Peter 18, 20, 22, 30, 40, 65, 76, 88, 95, 108, 122 Grimm, Brüder 45, 59 Grunow, Sabine 90 Günther, Alfred 32 Günther, Joachim 74, 81 Günzel, Elke 67, 70 Gütersloh, Albert Paris 23 Gut¸u, George 19 Haas, Helmuth de 35 Hartung, Rudolf 76, 80, 87, 88, 98, 103, 115, 122, 125 Hasselblatt, Dieter 94, 95 Heidegger, Martin 63, 75, 76, 86 Heilmann, Markus 84 Heine, Heinrich 35, 59, 61 Heistermann, Walter Erwin 54 Helmlé, Eugen 38, 65, 90, 97 Heise, Hans-Jürgen 103, 115 Heißenbüttel, Helmut 104, 120 Heym, Georg 59 Heyse, Paul 15 Hildesheimer, Wolfgang 119 Hippokrates 81 Hirsch, Rudolf 47 Hofmannsthal, Hugo von 16, 42, 70, 99 Hohoff, Curt 13 Hölderlin, Friedrich 16, 41, 46, 51, 59, 88, 90, 91 Höllerer, Walter 36 Holthusen, Hans Egon 13, 36 Homer 70, 86, 126 Husserl, Edmund 101, 108 Jahnn, Hans Henny 70 Janz, Marlies 50, 55

129

Namenregister

Jean Paul 41, 45, 51, 70 Jené, Edgar 23, 24, 25, 29 Jens, Walter 31 Johnson, Uwe 119 Jokostra, Peter 102, 103, 116 Joyce, James 41 Just, Gottfried 80, 85, 86, 89, 90 Kafka, Franz 16, 21, 70, 80, 101 Kaukoreit, Volker 21 Kelletat, Alfred 45, 54 Kierkegaard, Søren Aabye 67 Kloos-Barendregt, Diet 30 Koch, Willi August 31 Köchel, Jürgen 14 Koelle, Lydia 114 Köppen, Wolfgang 119 Kraft, Ruth 8, 16, 17, 18 Krämer, Heinz Michael 124 Kraus, Karl 8 Krauss, Simon 103 Krolow, Karl 36, 67, 81, 104, 116, 119 Kruschwitz, Hans 121 Laschen, Georg 115, 116 Lasker-Schüler, Else 41 Lefebvre, Pierre 108 Lehmann, Jürgen 18, 30, 40, 56, 57, 59, 62, 65, 76, 88, 95, 108, 122 Lehmann, Wilhelm 67 Lenning, Walter 35 Lenz, Hanne (auch Hannah) 38, 39, 42, 43, 46 Lenz, Hermann 38, 39, 42, 43, 46 Lermontow, Michail Jurjewitsch 18, 29 Lestrange (Familie) 38 Lichtenberg, Georg Christoph 70 Liebknecht, Karl 71, 96 Loewenich, Helga von 4, 10 Lohr, Andreas 121 Lopata, Evgenia 10 Lückmann, Frau 23 Luther, Martin 35 Luxemburg, Rosa 71, 96 Mader, Helmut

78, 81

Mandelstam, Ossip 56, 57, 59, 60, 61, 126 Mann, Thomas 8 Margul-Sperber, Alfred 17, 18, 19, 20, 23, 24 Marlowe, Christopher 101 Marx, Karl 86 May, Markus 18, 30, 40, 59, 65, 66, 76, 88, 95, 108, 122 Mayer, Hans 51, 91 Mayer, Theresa 123 Mayer zu Schwabedissen, Shirin 123 Meinecke, Dietlind 45, 58, 65 Meister Eckhart 86, 92 Menninghaus, Winfried 78, 98, 100, 101 Meyer, Conrad Ferdinand 15 Michelangelo Buonarroti 58 Michaelis, Rolf 119, 122, 125, 126 Middel, Gudrun 39 Middel, Matthias 39 Modlmayer, Hans-Jörg 90, 91 Motzan, Peter 19 Mozart, Wolfgang Amadeus 59 Müller, Joachim 105 Neumann, Peter Horst 68, 69 Nietzsche, Friedrich 41, 51 Nolte, Jost 71 Nossack, Hans Eric 119 Odry, Anneliese 76 Olma, Johannes 104 Oppens, Kurt 58, 60 Orest, Mychajlo Kostjantynowytsch Ossietzky, Carl von 86 Otto, Rudolf 56 Parmenides 41 Pascal, Blaise 71 Patka, Marcus G. 22 Perels, Christoph 65 Perse, Saint-John 59 Petrarca, Francesco 59, 101 Picasso, Pablo 37 Piontek, Heinz 35, 36 Plato 80 Plotin 76

9

130

Namenregister

Pöggeler, Otto 40, 113 Puschkin, Alexander Sergejewitsch Quéval, Marie-Hélène

86

54

Rabbi Löw (Jehuda ben Bezel’el Löw) 60 Raddax, Ferry 85 Rambach, Jean-Claude 120, 126 Rausch, Jürgen 39 Reichel, Hans 101 Reichert, Stefan 19, 26 Rembrandt, Harmenszoon van Rijn 101 Reschika, Richard 108, 109, 112, 113 Resnais, Alain 51 Richter, Alexandra 108 Richter, Hans Werner 31 Rilke, Reiner Maria 8, 16, 35, 36, 41, 53, 59, 61, 64, 70, 108, 126 Rimbaud, Arthur 16 Rosenzweig, Franz 51, 56 Rychlo, Peter (Petro) 8, 17 Rychner, Max 20, 22, 25 Sachs, Hans 70 Sachs, Nelly 54, 56, 57, 59, 119 Sars, Paul 30 Schäfer, Hans Dieter 93 Schestov, Leo 71, 126 Schierke, Daniel 123 Schiller, Friedrich 16 Schlachtsiek-Freitag, Norbert 116, 117 Schmidt, Arno 70 Schmidt-Dengler, Wendelin 21 Schmull, Heino 38, 59, 64, 84 Schneider, Thomas 121 Schnorr, Simon 123 Scholem, Gershom 41, 56, 78, 79, 80 Scholl, Arnold Albert 36 Schönwiese, Ernst 20 Schreiber, Mathias 85, 116 Schulz, Georg Michael 71 Schultze, Sabine 87 Schwab, Gustav 41 Schwarzkopf, Michael 59 Schwedhelm, Karl 35 Schwerin, Christoph 48, 114

Segal, Hersch 17 Seng, Joachim 22, 25, 27, 34, 51, 52 Shakespeare, William 59, 70, 75, 101, 124 Shmueli (Schindler), Ilana 91, 103, 107, 110, 111, 114 Sienerth, Stefan 19 Silbermann (Horowitz), Edith 111 Silbermann, Jacob 17 Simonow, Konstantin Michajlowitsch 18, 29 Solomon, Petre 18, 33 Sparr, Thomas 31, 91, 103, 110 Sperber, Jessika (Jetti) 18 Spielhagen, Friedrich 15 Spinoza, Baruch (Benedikt) 80 Steinecke, Hartmut 75 Storm, Theodor 70 Strelka, Joseph Peter 75 Stus, Wasyl Semenowytsch 9 Sudermann, Hermann 15 Supervielles, Jules 76, 96 Sussmann, Margarete 56, 71 Tank, Kurt Lothar 90 Tati, Jean 101 Tawada, Yoko 54 Trakl, Georg 16, 35 Tschechow, Anton Pawlowitsch 18, 29 Tscherewatenko, Leonid Wasyljowytsch 9 Ungaretti, Giuseppe 76 Unseld, Siegfried 73, 88, 119, 120, 121 Van Gog, Vincent 70 Verlaine, Paul 16, 59 Villon, François 59, 60 Wallmann, Jürgen Peter 81, 86, 87, 102, 103 Walser, Martin 119 Weiss, Peter 119 Wertheimer, Jürgen 59, 64, 84 Wiedemann (Wiedemann-Wolf), Barbara 14, 17, 20, 32, 38, 46, 74, 112 Witte, Bernd 60 Wittgenstein, Ludwig 76

131

Namenregister

Wittkopp, Christiane 84 Wolfe, Thomas 126 Wolff, Julius 15 Wurm, Franz 91, 112 Xenophontes

59

Yeats, William Butler Zenon von Elea 80 Zschachlitz, Ralf 53 Zweig, Arnold 59 Zwetajewa, Marina 59

41

Бадью, Бертран 9, 10 Бахман, Інґеборґ 10 Відеман, Барбара 10 Гьоллер, Ганс 10 Рамбах, Жан-Клод 9 Рихло, Петро 7, 9, 10 Фріш, Макс 10 Халфен, Ізраель 10 Целан-Лестранж, Жизель Целан, Пауль 7, 9, 10 Цибенко, Лариса 10 Штоль, Андреа 10

10

Passages – Transitions – Intersections Paola Partenza / Andrea Mariani (eds.) Volume 8: Catherine Girardin La philosophie de l’histoire par le théâtre

L’œuvre dramatique de Johann Gottfried Herder (1764–1774) 2021. 372 Seiten, paperback € 45,– D ISBN 978-3-8471-1304-1

Volume 7: Michele Russo A Plurilingual Analysis of Four Russian-American Autobiographies Cournos, Nabokov, Berberova, Shteyngart 2020. 137 Seiten, paperback € 25,– D ISBN 978-3-8471-1201-3

Volume 6: Pier Carlo Bontempelli Alles ist nur Symbol

Symbolisches Kapital und implizite Soziologie in Buddenbrooks 2020. 128 Seiten, paperback € 25,– D ISBN 978-3-8471-1001-9

Volume 5: Paola Partenza (ed.) Sin’s Multifaceted Aspects in Literary Texts

Volume 4: Alessandro Giovannucci Perspectives historicoesthétiques dans l’œuvre de Fernando Liuzzi

2018. 118 Seiten, paperback € 25,– D ISBN 978-3-8471-0841-2

Volume 3: Greta Colombani A gordian shape of dazzling hue Serpent Symbolism in Keats’s Poetry 2017. 126 Seiten, paperback € 25,– D ISBN 978-3-8471-0775-0

Volume 2: Andrea Mariani Italian Music in Dakota

The Function of European Musical Theater in U.S. Culture 2017. 250 Seiten, paperback € 35,– D ISBN 978-3-8471-0655-5

Volume 1: Paola Partenza (ed.) Dynamics of Desacralization Disenchanted Literary Talents 2015. 179 Seiten, paperback € 35,– D ISBN 978-3-8471-0386-8

2018. 140 Seiten, paperback € 25,– D ISBN 978-3-8471-0852-8

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