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German Pages 313 [316] Year 1970
Thomas Weingartner · Stalin und der Aufstieg Hitlers
Beiträge zur auswärtigen und internationalen Politik Herausgegeben von
Richard Löwenthal und Gilbert Ziebura
Band 4
Walter de Gruyter & Co. vormals G. J . Gösdien'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit & Comp.
Berlin 1970
Thomas Weingartner
Stalin und der Aufstieg Hitlers Die Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale 1929 —1934
Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp.
Berlin 1970
Archiv-Nr. 477570/1
© Copyright 1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sdie Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · K a r l J . Trübner · Veit & C o m p . · P r i n t e d in G e r m a n y Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen 'Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: T h o r m a n n & Goetsch, Berlin 44
Geleitwort Die Frage, wieweit und warum die Politik der sowjetischen und deutschen Kommunisten in den Jahren der Weltwirtschaftskrise zum Untergang der Weimarer Republik und zur Machtergreifung Hitlers beigetragen hat, gehört bis heute zu den erregendsten Problemen der Zeitgeschichte. Gerade in den letzten Jahren sind eine Reihe von Studien erschienen, die sich teils mit der sowjetischen Deutschlandpolitik jener Jahre, teils mit der gleichzeitigen Entwicklung der Politik und Taktik der KPD und den zugrunde liegenden theoretischen Konzeptionen und praktischen Instruktionen der Kommunistischen Internationale beschäftigen. So gewiß diese Studien viele wertvolle Einsichten zutage gefördert haben, so haben sie uns doch einem Konsens über Ziele und Motive der damaligen sowjetischen und kommunistischen Politik nicht entscheidend näher gebracht: Nach wie vor begegnen wir einerseits der Interpretation, Stalin habe den Sieg Hitlers bewußt gewollt — als Etappe zur proletarischen Revolution in Deutschland, oder umgekehrt als Mittel ihrer Verhinderung, oder schließlich in der Hoffnung auf einen Krieg zwischen Deutschland und den Westmächten — und andererseits der Auffassung, Stalin habe mit Hitlers Sieg nie ernsthaft gerechnet und sei von ihm überrascht worden. Der bisher unbefriedigende Fortschritt in der Aufklärung dieser historisch so bedeutsamen Frage scheint nun aufs engste mit den spezifischen methodischen Schwierigkeiten zusammenzuhängen, vor denen die Deutung der sowjetischen Außenpolitik allgemein steht. Solche Schwierigkeiten ergeben sich einmal aus der Eigenart des kommunistischen Einparteiregimes, zum andern aus der Vielfalt des außenpolitischen Arsenals, über das dieses Regime verfügt. Man kann gewiß von der sowjetischen Außenpolitik wie von der Außenpolitik anderer Staaten sagen, daß sie zum Teil von den objektiven Zwängen der staatlichen Selbsterhaltung in einer gegebenen internationalen Konstellation, darüber hinaus aber von der Interpretation des Staatsinteresses durch die gesellschaftlichen Kräfte und geistigen Strömungen abhängt, die auf den politischen Entscheidungsprozeß einwirken. Doch in der Sowjetunion, und in kommunistischen Einparteistaaten allgemein, vollzieht sich diese Interpretation und Einwirkung ausschließlich im Rahmen der Ideologie und durch Vermittlung der Führungsorgane der
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herrschenden Partei, wobei wesentliche Vorgänge des Entscheidungsprozesses sich normalerweise im Verborgenen abspielen und allenfalls an H a n d ideologischer Dokumente zu erschließen sind. Die Ideologie aber rechtfertigt das kommunistische Herrschaftssystem als Vorläufer und Kraftreserve einer weltweiten gesellschaftlichen Umwälzung und begründet damit für ihre Gläubigen einen letztlich unüberbrückbaren Konflikt zur nichtkommunistischen Welt; und es ist von entscheidender Bedeutung, daß audi in Zeiten, in denen die weltweiten ideologischen Ziele nach der eigenen Ansicht der sowjetischen Staatsmänner nicht aktuell und daher ohne praktisch relevanten Einfluß auf ihre außenpolitischen Entscheidungen sind, das ideologische Weltbild weiterhin die Kategorien bestimmt, in denen sie die Vorgänge in der Außenwelt allein wahrzunehmen vermögen. Zu der Eigenart der Bestimmungsfaktoren der sowjetischen Außenpolitik tritt die Besonderheit ihres Instrumentariums: Die Sowjets haben sich, zusätzlich zu den traditionellen Mitteln staatlicher Diplomatie und Machtpolitik, von je her der Aktion und Propaganda kommunistischer Parteien und kommunistisch beeinflußter Massenbewegungen im Ausland bedient, und zwar keineswegs nur zur direkten Förderung revolutionärer Ziele, sondern mit wachsender Häufigkeit auch zur Durchsetzung ihrer jeweiligen außenpolitischen Interessen. Der internationale Charakter der kommunistischen Ideologie und Bewegung beeinflußt so nicht nur das Wirklichkeitsbild der sowjetischen Staatsmänner, sondern befähigt sie auch zur gleichzeitigen außenpolitischen Operation auf zwei Ebenen durch institutionell völlig getrennte Kanäle. Für die Wissenschaft bedeutet das, daß die adäquate Erforschung einer bestimmten Phase der sowjetischen Außenpolitik oder der internationalen kommunistischen Politik (mindestens für die Periode der Komintern, zum Teil aber noch darüber hinaus) grundsätzlich unmöglich ist, solange man sich auf das Studium der Quellen über die sowjetische Diplomatie, oder über die kommunistische Strategie und Taktik in dem betreffenden Lande, oder über die Interpretation dieser Phase in der damaligen ideologischen Literatur der Kommunisten beschränkt. N u r die koordinierte Verarbeitung alle drei Arten von Materialien kann den Forscher befähigen, über Inhalt, Motivation ud Formen der sowjetischen Politik gegenüber einem bestimmten Lande zu einer bestimmten Zeit gesicherte Aussagen zu machen. Die methodische Originalität der vorliegenden Untersuchung von Dr. Thomas Weingartner liegt nun darin, daß er erstmalig den Versuch unternommen hat, Stalins Politik in der Untergangsphase der Weimarer Republik in diesem Sinne allseitig zu erforschen, und auf dieser umfassen-
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den Basis zu einer kohärenten Deutung zu gelangen. Er hat also sowohl die Quellen für die offizielle Entwicklung der sowjetisch-deutschen und, soweit relevant, der sowjetisch-französischen und deutsch-französischen Beziehungen im behandelten Zeitraum, einschließlich der sowjetischen Pressekommentare, wie die öffentlichen und zum Teil internen Dokumente der Komintern und KPD über ihre Strategie und Taktik im damaligen Deutschland, wie die allgemeinen ideologischen Analysen der damaligen Entwicklung durdi Theoretiker der Sowjets und der Komintern vom Standpunkt einer einheitlichen Fragestellung überprüft. Als besonders fruditbar hat sich dabei seine Technik erwiesen, das auf verschiedenen Ebenen erschlossene Material nicht nur für die bearbeitete Periode im ganzen, sondern Etappe für Etappe zu konfrontieren, um herauszufinden, wieweit eine detaillierte Entsprechung von diplomatischen und parteitaktischen „Wendungen" und eine Anstoßrolle von Veränderungen sei es der internationalen, sei es der innerdeutschen Konstellation jeweils festgestellt werden kann. Auch die so gewonnenen Ergebnisse Dr. Weingartners sind gewiß nicht in allen Einzelheiten gesichert: Schon die Un Vollständigkeit der Quellen, insbesondere das Fehlen einer direkten Dokumentation der internen sowjetischen Entscheidungen und die daraus entspringende Notwendigkeit, häufig auf Interpretationen ideologischer Dokumente zurückzugreifen, schließt das aus. Dennoch glaube ich, daß es ihm gelungen ist, einige Grundlinien für die Beantwortung der umstrittenen Frage nach der Rolle Stalins beim Aufstieg Hitlers in überzeugender Weise klarzulegen. Erstens zeigt die Studie Thomas Weingartners, daß die sowjetische Außenpolitik während der ganzen behandelten Periode die Möglichkeit einer deutsch-französischen Annäherung als die außenpolitische Hauptgefahr in Europa, und die deutsche Sozialdemokratie als den wichtigsten innerpolitischen Träger einer solchen Annäherung ansah. Darum mußte die SPD für die deutschen Kommunisten der „Hauptfeind" bleiben; darum erschien auch ein Anwachsen der eine solche Verständigung bekämpfenden „nationalen Opposition", in deren Rahmen sich die NSDAP zur Massenbewegung entwickelte, den Sowjets zunächst als außenpolitisch nützlich. Dagegen finden sich in den Quellen keine Anzeichen, daß Stalin in jener Zeit auf einen deutsch-französischen Krieg spekuliert oder gar aktiv für ihn gearbeitet hätte: Er war — in der Zeit des ersten Fünf jahrplans und der Zwangskollektivierung aus guten Gründen — „risikoscheu". Zweitens ergibt sich aus der Untersuchung, daß Stalin und die Komintern die Fähigkeit der NSDAP zur Durchführung einer selbständigen Politik während der ganzen behandelten Periode hartnäckig unterschätz-
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ten, weil eine solche Rolle einer „kleinbürgerlich faschistischen Massenbewegung" nicht in ihr ideologisches Weltbild paßte. Daraus folgte, daß sie eine echte nationalsozialistische Machtergreifung weder wünschten noch ernstlich fürchteten, sondern für höchst unwahrscheinlich und die meiste Zeit sogar für unmöglich hielten. Eine Macht^eteiligung der NSDAP als „Massenbasis einer Fraktion der herrschenden Klasse" wurde von ihnen von einem bestimmten Zeitpunkt an für möglich gehalten. Ihre Konsequenzen wurden aber wesentlich danach beurteilt, in wessen „Schlepptau" sich ein Einzug der NSDAP in die Reichsregierung vollziehen würde: als Anhängsel des sowjetfreundlichen Schleicher und der Reichswehr wäre sie harmlos, als Stütze des antisowjetischen und profranzösischen v. Papen dagegen gefährlich. Drittens zeigen die internen Dokumente der Komintern und KPD, daß Moskau während der ganzen untersuchten Periode die Chancen einer „proletarischen Revolution" unter kommunistischer Führung in Deutschland realistischer, d h. niedriger einschätzte, als im Ton der kommunistischen Propaganda dieser Jahre zum Ausdruck kam. Zu keinem Zeitpunkt der Krise kamen aus Moskau Anweisungen und Berater zur Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes, wie das 1921 und 1923 geschehen war und wie es der damaligen internationalen Politik am Vorabend einer „akut revolutionären Situation" entsprach. Dagegen kamen von einem bestimmten Zeitpunkt an Anweisungen, die KPD solle sich auf die Illegalität, also auf ihr Verbot durch eine „faschistische" Regierung vorbereiten; die Art der Vorbereitung zeigte jedoch, daß man mit der „normalen" polizeistaatlichen Unterdrückung rechnete und keineswegs mit dem Terror eines NSDAP-Regimes. Schließlich zeigen die Dokumente, daß die Spekulation, eine Hitlerdiktatur werde sich als rascher Wegbereiter einer kommunistischen Revolution erweisen, in den letzten Jahren unter den entmutigten KPD-Mitgliedern verbreitet war, von der Führung der Komintern und der KPD aber ausdrücklich bekämpft wurde. So können wir der Arbeit von Thomas Weingartner entnehmen, daß Stalin die Machtergreifung Adolf Hitlers in der Tat nicht gewollt hat: Vielmehr hat er weder ihre Möglichkeit vorausgesehen noch ihre Gefährlichkeit begriffen. Weit entfernt, den Machtwillen und zerstörerischen Fanatismus der NSDAP zu erfassen, vermochte Stalin in ihr nur ein abhängiges Werkzeug kapitalistischer oder militärischer Machtgruppen zu sehen, mit denen eine Verständigung je nach ihren spezifischen Gruppeninteressen möglich oder unmöglich sein würde. Weit entfernt, sich auf die Abwehr einer Gefahr zu konzentrieren, die später so furchtbares Unheil auch über die Sowjetunion bringen sollte, war Stalin während der Auf-
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stiegsperiode Hitlers von den angeblichen Gefahren präokkupiert, die eine deutsch-französische Verständigung für die Sicherheit der Sowjetunion bringen würde. Nicht mit Wissen und Willen, sondern in dogmatischer Verblendung und gleichsam mit abgewandtem Antlitz hat Stalin so seinen bedeutsamen Beitrag zum Aufstieg Hitlers geleistet. Sein Verhalten von 1929 bis 1933, wie seine spätere verhängnisvolle Politik von 1939 bis 1941 mag uns als warnendes Beispiel dafür dienen, daß audi ein Machthaber, der die revolutionären Illusionen seiner Jugend längst hinter sich gelassen hat, dennoch der Gefangene seines ideologischen Weltbildes bleiben kann — mit Konsequenzen von weltgeschichtlicher Tragweite. Berlin, im Januar 1970
Richard Löwenthal
Inhaltsverzeichnis Geleitwort Abkürzungsverzeichnis Vorbemerkung
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I. Die linke Taktik der Komintern und ihre Bedeutung für die innersowjetischen Auseinandersetzungen II. Die deutsch-sowjetische Verstimmung und der Einfluß der Sozialdemokratie III. Die Modifizierung der Kominterntaktik im Frühjahr 1930
10 16 24
IV. Deutsch-sowjetisches Einvernehmen und kommunistische Befreiungspropaganda 1. Deutsch-sowjetische Zusammenarbeit 2. Der Beginn und die Bedeutung einer kommunistischen Befreiungspropaganda
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V. Der Faschismus, Wegbereiter einer Revolution? Die Komintern und die revolutionäre Perspektive
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VI. Die Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der Komintern im Zeichen der Zuspitzung der Krise in Deutschland 1931 1. Der Beginn einer sowjetischen außenpolitischen Zweigleisigkeit 2. Die Verschärfung des Kampfes der Komintern gegen die Sozialdemokratie und der „Rote Volksentscheid" 3. Die Vorbereitung der K P D auf die Illegalität
33 33
65 65 77 94
VII. Die Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der Komintern bis zum Ausgang der Ära Brüning 98 1. Die Lockerung der deutsch-sowjetischen Beziehungen 98 2. Die erneute Zuspitzung des Kampfes der Komintern gegen die Sozialdemokratie 104 3. Die Haltung der Komintern zur „nationalen Opposition" 111 VIII. Die Konsequenzen der Frühjahrswahlen von 1932 122 1. In Erwartung einer nationalsozialistischen Regierungsbeteiligung 122 2. Die Komintern über die außenpolitische Haltung der N S D A P 126 3. Der Beginn einer modifizierten Einheitsfronttaktik der Komintern und der K P D 130 IX. Die Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der Komintern zur Zeit der Kanzlerschaft Papens 139
Inhaltsverzeichnis 1. Die gefährdeten deutsch-sowjetischen Beziehungen unter Papen 2. Stabilisierung einer „faschistischen Diktatur" in Deutschland? 3. Die Einheitsfronttaktik der Komintern und der KPD und die Bedeutung der SPD und NSDAP für die Sowjetunion 4. Zur außenpolitischen Orientierung der Sowjetunion
XI 139 141 157 178
X. Die Ära Schleicher: Deutsch-sowjetischer Neubeginn und Rückbildung der „faschistischen Diktatur"? 182 XI. Die Reaktion der Sowjetunion und der Komintern auf die Machtergreifung Hitlers 1. Aufkommende Spannungen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen . . . . 2. Die außenpolitische Distanzierung der Komintern von Deutschland . . . . 3. Die Einschätzung der innenpolitischen Entwicklung in Deutschland nach der Machtergreifung 4. Zur Einheitsfronttaktik der Komintern 5. Die Haltung der Neumann-Remmele-Gruppe 1932/33 und die „Plattform" Remmeles (Exkurs) XII. Die Notwendigkeit einer Alternative 1. Die verstärkte Zweigleisigkeit der sowjetischen Außenpolitik 2. Die Lösung der Komintern von Deutschland
197 197 203 209 222 230 235 235 244
XIII. Der Weg in die Alternative 253 1. Die sowjetische Außenpolitik der freien Hand und die Anfrage an Deutschland 253 2. Der vollständige Orientierungswechsel in der außenpolitischen Haltung der Komintern 264 3. Die Wendung in der Kominterntaktik 269 Schlußbemerkung
275
Quellen- und Literaturverzeichnis
281
Personen- und Sachregister
289
Abkürzungsverzeichnis DGFP Inprekorr KI Mikrofilm PA Rundschau
Documents on German Foreign Policy Internationale Presse-Korrespondenz Die Kommunistische Internationale (Zeitschrift) Mikrofilme aus: Guides to German Records microfilmed at Alexandria, Va. No. 39. Part III Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung
Vorbemerkung Das Thema der vorliegenden Arbeit weist auf den Doppelcharakter hin, der dem sowjetischen Verhalten mit der Außenwelt eigentümlich ist. Seit der Machtergreifung Lenins und seiner Partei in Rußland war die sowjetische Außenpolitik bestimmt durch den Willen, einerseits die Revolution über die Grenzen Rußlands hinauszutragen, andererseits den eigenen Staat gegenüber anderen Staaten zu behaupten und zu sichern. Damit entstanden für die sowjetische Außenpolitik zwei voneinander verschiedene Handlungsebenen. Auf der einen Seite hatte sie es mit Staaten als außenpolitischen Partnern oder Gegnern zu tun, die für sie ein Handeln mit diplomatischen Mitteln notwendig machten, auf der anderen Seite war sie mit der Innenpolitik des jeweiligen Landes befaßt und die Partner oder Gegner waren politische Parteien und Gruppen. Auf staatlicher Ebene war das sowjetische Instrument der diplomatische Apparat, auf innenpolitischer die jeweilige Kommunistische Partei als eine Sektion der 1919 gegründeten und von der KPdSU beherrschten Kommunistischen Internationale (Komintern). Ausgestattet mit einem doppelten Instrumentarium für ein doppeltes Betätigungsfeld verfügte die Sowjetunion im Vergleich zu anderen Staaten über einen erhöhten Wirkungsradius. Sie konnte versuchen, über die Komintern die jeweilige Sektion des betreffenden Landes im außenpolitischen Interesse dazu einzusetzen, eine innenpolitische Situation in der Hoffnung auf außenpolitische Konsequenzen mitschaffen zu helfen. Damit ergeben sich für den Zeitraum von 1929—1934 die Fragen, ob die Komintern zu einem Instrument der sowjetischen Deutschlandpolitik wurde, inwieweit sie dazu beitrug, mit den ihr gemäßen Mitteln bestimmte sowjetische Absichten zu unterstützen und inwieweit eine Koordination gelungen oder vielleicht andere Ergebnisse als ursprünglich beabsichtigt erbracht wurden. Zwei besondere Probleme sind zu untersuchen. Es ist einmal die Frage zu stellen nach den Etappen des außenpolitischen Richtungswechsels der Sowjetunion von Deutschland fort zu Frankreich und, zum Völkerbund. Hier sind die Faktoren zu bestimmen, die einen Umorientierungsprozeß hervorgerufen, beschleunigt und schließlich entschieden 1
Weingartner
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Vorbemerkung
haben. Die zweite Frage muß sich mit dem Verhältnis der Komintern zur deutschen innenpolitischen Situation und Entwicklung beschäftigen, insbesondere mit ihrem Verhältnis zur deutsdien Sozialdemokratie und zum Aufkommen des Nationalsozialismus. Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Komintern sich vor und auch noch einige Zeit nach der Machtergreifung Hitlers im wesentlichen auf den Kampf gegen die Sozialdemokratie als ihrem Hauptfeind konzentrierte und es strikt ablehnte, diesen Kampf zugunsten einer scharfen Frontstellung gegen den Nationalsozialismus aufzugeben. Dieses Verhalten ist in der Literatur bisher sehr verschieden interpretiert worden. So erklärte man den Kampf der Komintern gegen die Sozialdemokratie entweder aus sowjetischen innenpolitischen oder außenpolitischen Gründen. Die Vernachlässigung des Kampfes gegen den Nationalsozialismus führte man entweder auf Hoffnungen der Sowjetunion auf ein revolutionäres Endstadium nach einer Machtergreifung Hitlers zurück oder auf die Absicht Stalins, ein nationalsozialistisches Deutschland in Konflikte mit dem Westen zu verstricken, um so ungestört das Programm der Industrialisierung und inneren Umwälzung der Gesellschaft durchführen zu können, vielleicht gar Frankreich und Deutschland durch gegenseitige Schwächung auch reif zur Revolution zu machen. Eine detaillierte Untersuchung der Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der Komintern zeigt, daß die genannten Interpretationsversuche teils erheblich modifiziert und differenziert, teils als unzutreffend zurückgewiesen werden müssen. Es wird sich herausstellen, daß 1928 die Kominterntaktik aus sowjetischen innenpolitischen Motiven geändert wurde, daß aber vornehmlich aus außenpolitischen am linken Kominternkurs festgehalten wurde. Der Kampf der Komintern gegen die Sozialdemokratie wegen ihrer außenpolitischen Orientierung und innenpolitischen Bedeutung in Deutschland wurde angesichts der Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen zum Hauptmotiv der Kominternpolitik. Die Taktik blieb im wesentlichen die gleiche, nur die Motive änderten sich und damit die Rolle, die die Komintern für die Sowjetunion spielte. Der Kominterntaktik lag aber nicht der Wunsch Stalins zugrunde, Hitler an die Macht zu bringen, weder als Wegbereiter einer proletarischen Revolution noch als sowjetisches Instrument zur Provozierung eines akuten deutsch-französischen Konflikts. Die innersowjetische Aggressivität im Zeichen des „Aufbaus des Sozialismus in einem Lande" ging einher mit einem besonders ausgeprägten außenpolitischen Risikobewußt-
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sein, das letztlich fruchtlose Revolutionsversuche wie auch Spekulationen auf einen europäischen Konflikt ausschloß. Eine Reihe von Gründen war dafür verantwortlich, daß Stalin trotz des anwachsenden Nationalsozialismus den Kampf gegen die Sozialdemokratie grundsätzlich vor und auch zunächst noch nach der Machtergreifung Hitlers nicht zugunsten der N S D A P aufgab. Die besondere Absicht der vorliegenden Arbeit ist es, diesen Gründen, die eng mit dem Verlauf der deutsch-sowjetischen Beziehungen verbunden sind, nachzugehen und verständlich zu machen. Eine Untersuchung der sowjetischen Außenpolitik muß in ihrer Methode dem besonderen Charakter dieser Außenpolitik gerecht werden. Da die Sowjetunion seit je eine Außenpolitik auf zwei Ebenen betrieb und betreibt, kann nur eine entsprechende Arbeitsmethode die Intentionen der sowjetischen Außenpolitik weitgehend aufdecken. Die Methode besteht darin, die Ebene der Diplomatie und die der Komintern zu untersuchen und zueinander in Beziehung zu setzen. In der vorliegenden Arbeit wird deshalb der gesamte Zeitraum in Phasen aufgegliedert, in denen jeweils die beiden Ebenen der sowjetischen Außenpolitik untersucht werden und nach ihrem Zusammenhang gefragt wird. Eine solche Methode bedeutet Ausweitung und Beschränkung zugleich: Es müssen sehr verschiedene Bereiche — außen- wie innenpolitische — in die Untersuchung hineingenommen werden, aber sie dürfen doch nicht eine solche Selbständigkeit erhalten, daß die besondere Fragestellung verloren geht. Die dadurch bedingte Reduzierung beispielsweise der deutsch-sowjetischen Beziehungen auf die für die Fragestellung wichtigen Gesichtspunkte darf allerdings nicht zu falschen Vereinfachungen führen. Aus dem Gesagten wird klar, daß diese Methode demnach ein entsprechendes Quellenstudium erfordert. Deshalb mußten zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Quellengruppen herangezogen werden. Einmal handelt es sich vornehmlich um gedruckte und ungedruckte Dokumente des Auswärtigen Amtes. So sind an ungedruckten diplomatischen Akten die Bestände des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes und einige Aktenstücke aus dem Koblenzer Bundesarchiv benutzt worden. Die zweite Quellengruppe stellen die Publikationen der Komintern und die der K P D dar. Daneben stand noch einiges ungedrucktes kommunistisches Material aus den Beständen des Reichssicherheitshauptamtes und des Berliner Polizei-Präsidiums zur Verfügung. Die Verwendung beider Quellengruppen wird allerdings nicht nur aus den oben genannten methodischen Erfordernissen zwingend, sondern auch aus der Tatsache, daß sowjetische ungedruckte Quellen fehlen und 1»
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bisher nur einige wenige Aktenstücke in Auswahl veröffentlicht sind, die dies Thema lediglich teilweise berühren. Da die deutschen Akten nur in beschränktem Maße die außenpolitischen Intentionen der Sowjetunion und die sowjetische Beurteilung der deutschen außenpolitischen Haltung wiedergeben, muß auch für die Einschätzung diplomatischer Vorgänge die jeweilige außenpolitische Haltung berücksichtigt werden, wie sie sich in der Presse der Sowjetunion und der Komintern widerspiegelt. Das Erfordernis, aus den eben genannten Gründen die Presse der Sowjetunion und der Komintern als Quelle für die Untersuchung heranzuziehen, gilt in noch stärkerem Maße für die Frage nach der Haltung der Sowjetunion und der Komintern zur jeweiligen innenpolitischen Situation in Deutschland. Weil die Sowjetunion konsequent auf eine äußere Trennung von sowjetischer Außenpolitik und Kominternpolitik bestand, kann man sowjetische Äußerungen zur deutschen innenpolitischen Situation und zur Einschätzung der innenpolitischen Kräftegruppierung in den Akten nur verhältnismäßig selten finden. Die Auswertung zweier so unterschiedlicher Quellengruppen wirft ein besonderes Interpretationsproblem auf: Die methodische Aufgabe besteht darin, die Ebene der Diplomatie und die der Komintern zueinander in Beziehung zu setzen. Da die „Sprache" auf beiden Ebenen verschieden ist, gilt es zu fragen, wie eine auf der diplomatischen Ebene erkennbare Intention auf die Kominternebene transponiert wird und in welcher „kominterngerechten" Form sie ihren Ausdruck findet und umgekehrt. Zwar bereitet die Interpretation diplomatischer Akten mannigfache Schwierigkeiten, doch sind sie im Falle kommunistischer Veröffentlichungen ungleich größer. Sie folgen nicht nur einer bestimmten Sprachregelung, sondern wollen neben der eigenen Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse sowohl einen propagandistischen und agitatorischen Zweck erreichen als auch die Motive des eigenen Verhaltens verschleiern. So besteht die schwierige Aufgabe darin, wirkliche Analyse vom propagandistischen Gehalt einer Aussage zu trennen. Im Allgemeinen kann man jedoch sagen, daß die Haltung der sowjetischen Presse und die der Komintern zu außenpolitischen Vorgängen die Haltung der Sowjetunion in spezifischer Weise ausdrückt. So sind diie Presseäußerungen oft gekennzeichnet durch besondere Radikalität, Zuspitzung und Überbetonung. Zumeist schlagen sich in einer solchen Sprache jedoch sowjetische außenpolitische Befürchtungen nieder. Zwar sind den offiziellen Presseäußerungen zur Außenpolitik natürlicherweise ganz bestimmte Grenzen gesetzt, dagegen können sie viel rücksichtsloser eine außenpolitische Haltung oder Einschätzung formulieren. Die richtige
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Interpretation muß eben durch die Berücksichtigung und Zusammenschau aller relevanten Faktoren gefunden werden. Zu diesen relevanten Faktoren gehört schließlidi auch die Frage, inwieweit die Haltung der Sowjetunion und der Komintern, damit audi die ihrer Presse „ideologisch" geprägt war und ist, und welchen Stellenwert dieser Prägung zuzumessen ist. Dieses Problem bedarf wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung einer gesonderten Überlegung. Wie für alle von einer Ideologie beherrschten Systeme muß audi für die Sowjetunion die grundsätzliche Frage nadi dem Verhältnis von Ideologie und Außenpolitik gestellt werden. Das Problem der Ideologie wird zumeist für die sowjetische Außenpolitik auf die Frage reduziert, in welchem Maße sie ideologische Ziele verfolgt, nämlich, den weltrevolutionären Prozeß vorwärts zu treiben. Hier kann das Verhältnis von Außenpolitik und Ideologie in zwei Formen auftaudien: Einmal mag die Außenpolitik eines von einer Ideologie beherrschten Staates der Erfüllung des von der Ideologie gesetzten Zieles dienen — im Falle der Sowjetunion der Ausbreitung der Revolution über ihre Grenzen hinaus. Hier hat die Außenpolitik nur die Funktion, den weltrevolutionären Prozeß zu fördern. Das nationale Interesse wird von seinen Interpreten, den Außenpolitikern, definiert als Pflicht zur Förderung der Weltrevolution. Es gibt in diesem Falle somit kein eigenständiges, ideologische Verpflichtungen mißachtendes Staatsinteresse. Sodann mag umgekehrt die Ideologie bloße Rechtfertigung staatlicher Machtpolitik sein, indem eine Machtausdehnung mit der Verpflichtung begründet wird, ideologische Ziele anstreben und durchsetzen zu müssen. So hat hier die Ideologie eine funktionale Bedeutung für ein eigenständiges Staatsinteresse, das u. a. darin besteht, die Wirksamkeit und propagandistische Vorteilhaftigkeit der Ideologie für Machtinteressen des eigenen Staates auszunutzen. Für die Sowjetunion wurde schon unter Lenin, dann aber ganz ausgeprägt unter Stalin eine Kombination beider extremer Möglichkeiten kennzeichnend: Staatsinteresse und Verpflichtung auf ein ideologisches Ziel wurden miteinander identifiziert. Indem eine starke staatliche Basis zur Voraussetzung erklärt wurde, ideologische Ziele verfolgen zu können, wurde die Stärke oder Schwäche der Sowjetunion als der „Basis der Weltrevolution" zum Maßstab für die Chancen, den weltrevolutionären Prozeß erfolgreich weitertreiben zu können. Theoretisch wurde also schließlich das Problem Ideologie-Außenpolitik durch Identifizierung gelöst: Das Nationalinteresse der Sowjetunion schloß weltrevolu-
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tionäre und staatliche Machtkomponente ein. In der Praxis entwickelte sich jedoch eine zunehmende Priorität des Staatsinteresses. Doch noch in ganz anderer Beziehung verknüpfte sich bei der Sowjetunion Ideologie und Außenpolitik. Die praktische Vertretung bloß staatlicher Interessen bedeutete nidit, daß für die Sowjetunion die Ideologie nunmehr zum bloßen Instrument eigenständiger staatlicher Interessen verkümmerte. Die Sowjetunion konnte die Verfolgung des von der Ideologie gesetzten Zieles eigenen spezifischen Interessen unterordnen, dennodi aber einer ständigen ideologischen Beeinflussung in ganz anderer Form ausgesetzt sein. Solange eine Ideologie noch eine echte Überzeugung ihrer Träger und Motor ihres politischen Handelns ist, bleiben diese auch überzeugt, Träger eines einzig wahren Geschichtsverständnisses zu sein und als einzige aus diesem Verständnis heraus die eigene geschichtliche Aufgabe bestimmen zu können, nämlich den objektiven historischen Verlauf zu beschleunigen oder eine Katastrophe zu verhindern. Da nun die Träger einer Ideologie zu ihrer Uberzeugung durch die Entdeckung eines spezifischen analytischen Verfahrens gelangt sind, müssen sie — zur politischen Macht gekommen und damit zur Beeinflussung des historisdien Prozesses fähiger — ständig das von der Ideologie zur Verfügung gestellte analytische Instrumentarium zur Aufnahme und Interpretation der sie umgebenden Wirklichkeit anwenden. Damit unterliegen sie einer permanenten ideologischen Sicht, da die Wirklichkeit ihren von der Ideologie behaupteten Gesetzen entsprechen muß. So dringt diese in einer spezifischen Brechung in das Bewußtsein der ideologischen Interpreten ein. Natürlich beherrscht eine ideologische Konzeption nicht nur einseitig ihre Träger, sondern diese entwickeln sie auch weiter, so daß ein gegenseitiger Beeinflussungsprozeß stattfinden kann 1 . 1
Die Ideologie liefert nicht nur das analytische Instrumentarium, sondern schafft audi weitergreifende Interessen, unterstützt oder weckt erst die Dynamik des politischen Willens zur Durchsetzung von Interessen und entwickelt so eine gewisse Eigengesetzlichkeit. Die Begründer und Verfechter einer Ideologie wiederum haben oft schon eine spezifische Persönlidikeitsstruktur, die sie zur Ideologisierung drängt. So hat schon J. E. Talmon auf den individuellen neurotischen Antrieb zur Ideologisierung bei Rousseau hingewiesen. Siehe Talmon, J. E. : Die Ursprünge der totalitären Demokratie. Köln und Opladen 1961, S. 34 ff. Siehe audi Maetze, Gerhard: Der Ideologiebegriff in seiner Bedeutung für die Neurosentheorie, in: Jahrbudi der Psychoanalyse. Beiträge zur Theorie und Praxis. Bd. I (1960), S. 124—144 und Bd. II (1961/62), S. 93—123. Maetze untersucht den Drang zur Ideologisierung als eine psychopathologisdie Erscheinung.
Vorbemerkung
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So wird eine Wirklichkeit von den jeweiligen Beobachtern verschieden interpretiert und darauf eine Politik aufgebaut. Da eine ideologische Sicht eine permanente und umfassende ist, ist sie nicht nur relevant bei der Interpretation innenpolitischer, sondern auch außenpolitischer Konstellationen und Prognosen. Insofern also der Inhalt des die Außenpolitik bestimmenden nationalen Interesses von den verantwortlichen Trägern des Systems formuliert wird, fließt die permanente ideologische Sicht in die Formulierung des Nationalinteresses ein und das außenpolitische Handeln wird damit auch zu einem von der jeweiligen Ideologie beeinflußten.2 So sehr also die sowjetische Diplomatie durch die Verleugnung ihrer Verbindung mit der, ideologischen Zielen verpflichteten Komintern versuchte, außenpolitisches und ideologisches Verhalten zu trennen, und so wenig sie selbst in der hier behandelten Phase durch die Komintern ideologische Ziele als aktuelle Aufgabe anstrebte, so wenig konnte sie sich schließlich ideologischer Beeinflussung in Permanenz entziehen.3 So wird auch in der vorliegenden Untersuchung die Frage gestellt werden müssen, ob und in welchem Ausmaß die ideologische Sicht der
Die Entwicklung einer Ideologie durch ihre Träger kann mindestens in drei verschiedene Richtungen gehen: Entweder erstarrt die Ideologie immer mehr zur Dogmatik, in der die Theorie kaum nodi Realitätsbezüge hat, oder sie verliert an Uberzeugungskraft für das Handeln der politisch entscheidenden Maditträger und Interpretatoren und verkümmert so zum bloßen Instrument der Herrsdi&ftsausübung. Herrsdiaft ist dann nicht mehr auch Mittel zur Durchsetzung ideologischer Postulate. Die Erfahrungen an der Realität können die Träger von Ideologien aber auch zur theoretischen Verarbeitung und Anpassung an die Wirklidikeit veranlassen. Je nach Anpassungsintensität kann es dann zu einer mehr oder weniger starken Erosion einer Ideologie, zur Zerstörung ihres Kerns kommen. Diese nunmehr „realistische Einsicht" muß dann ganz natürlich auch das ideologische Endziel fragwürdig erscheinen lassen, so daß dieses nun nicht mehr z. B. aus taktischen Gründen verschoben, modifiziert oder benutzt, sondern aufgegeben wird. 2
Hatte die Sowjetunion in dem oben genannten Fall bei der Bestimmung des Nationalinteresses theoretisch das Verhältnis von Ideologie und Staatsinteresse lösen, praktisch aber nach ihrem Staatsinteresse handeln können, wurde hier eine bewußte Grenzziehung zwischen ideologischem und staatspolitischem Inhalt bei dem formulierten Staatsinteresse unmöglich, da eine permanente ideologische Sicht in das Staatsinteresse „ungewollt", besser zwangsläufig einfloß.
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Siehe zu diesem Problem auch die Arbeit von Brzezinski, Zbigniew K . : Ideology and Power in Soviet Politics. Revised Edition. Frederick A. Praeger, New York — Washington — London 1967.
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Vorbemerkung
Sowjetunion Einfluß auf ihr außenpolitisches Verhalten und damit auf ihre Beziehungen zu Deutschland hatte. Die bisherigen Arbeiten über die Sowjetunion und die Komintern bzw. KPD, die sich mit dem hier untersuchten Zeitraum beschäftigen, leiden im wesentlichen alle unter der Einseitigkeit der Methode. So befassen sich die zwei jüngsten größeren Arbeiten von Karlheinz Niclauss4 und Harvey L. Dyck4 zur sowjetischen Deutschlandpolitik hauptsächlich mit der sowjetischen Diplomatie unter nahezu ausschließlicher Verwendung der verfügbaren diplomatischen Akten. Die Politik der Komintern wird hier nur am Rande behandelt. Neben den älteren Arbeiten Franz Borkenaus4 und Ossip K. Flechtheims4 zur Taktik der Komintern und der KPD stammen die wichtigsten neueren Arbeiten für diesen Bereich von Theo Pirker 4 und Siegfried Bahne.2 Sie stützen sich nur auf die Publikationen der Komintern und der KPD. Bahne legt den Akzent seiner Arbeiten vornehmlich auf die Haltung der KPD gegenüber der Sozialdemokratie. Der außenpolitische Bereich tritt ganz zurück und die Taktik der Komintern in all ihren Aspekten wird nicht in einzelnen Etappen mit der innen- und außenpolitischen Wirklichkeit Deutschlands verbunden. Sehr viel stärker gilt dies noch für die Arbeiten von Theo Pirker. Die Untersudhungen Georg von Rauchs4 suchen sowjetische Diplomatie und Kominternpolitik miteinander zu verknüpfen, doch glaubt der Verfasser, auch auf Grund neueren Materials und umfänglicheren Quellenstudiums zu anderen Ergebnissen kommen zu müssen. Die in der D D R über die deutsche Geschichte zwischen 1929 und 1933 erschienenen Untersuchungen bearbeitete kritisch Reinhart Beck in einer umfangreichen und gründlichen Studie.4 Die durchgängige These der ostdeutschen Geschichtsschreibung über einen gleichsam gesetzmäßig verlaufenden „Faschisierungsprozeß" der deutschen Politik bis zum Höhepunkt einer Hitler-Regierung wird in der hier vorgelegten Arbeit durch die kommunistischen zeitgenössischen Quellen selbst widerlegt. Allen denen, die mir bei der Arbeit an dieser Untersuchung, sei es durch Mitteilungen aus eigenem Erleben, sei es durch andere Hinweise und Informationen geholfen haben, möchte ich an dieser Stelle danken, so insbesondere Herrn Dr. Siegfried Bahne, Frau Babette Gross, Herrn Jules Humbert-Droz, Herrn Kurt Müller, Herrn Prof. Dr. Rudolf
4 5
Siehe die Angaben im Literaturverzeichnis. Entfällt.
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Schlesinger, Herrn Dr. Hermann Weber und Herrn Erich Wollenberg. Besonderen Dank schulde ich Herrn Prof. Dr. Richard Löwenthal, der diese Untersuchung anregte und mit unentbehrlichem Rat sowie notwendiger Kritik begleitete. Ihm und Herrn Prof. Dr. Gilbert Ziebura ist die Veröffentlichung der Arbeit in der Reihe „Beiträge zur auswärtigen und internationalen Politik" zu danken.
I. Die linke Taktik der Komintern und ihre Bedeutung für die innersowj etischen Auseinandersetzungen Die Taktik der Komintern hat seit dem Bestehen der Kommunistischen Internationale zwisdien den beiden taktischen Polen, einer „rechten" und „linken" Politik, geschwankt. 1928/29 vollzog die Komintern wiederum eine taktische Schwenkung von rechts nach links, die sich auf dem IX. Plenum des Exekutivkomitees (EKKI) im Februar 1928 ankündigte, auf dem VI. Weltkongreß im Juli-September 1928 in ihren wesentlichen Tendenzen bestimmt und auf dem X. Plenum des EKKI vom Sommer 1929 vervollständigt wurde.® Die neue Schwenkung wurde mit der Konstruktion einer sogenannten III. Periode in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft nach dem Weltkriege gerechtfertigt. Diese angeblich 1928 einsetzende III. Periode wurde gekennzeichnet durch eine zunehmende Erschütterung der „teilweisen kapitalistischen Stabilisierung" auf Grund der wachsenden Widersprüche innerhalb des Kapitalismus. Dies führte nach Ansicht der Komintern auf der einen Seite zu einer zunehmenden „Faschisierung" der Sozialdemokratie, auf der anderen Seite zu einer verstärkten Linksentwicklung in der Arbeiterschaft, zu einem neuen revolutionären Aufschwung.7 Taktisch bestand die neue Wendung in einer Verschärfung des Kampfes gegen die Sozialdemokratie, besonders gegen deren „linken Flügel" als dem gefährlichsten „Feind des Kommunismus in der Arbeiterbewegung und Haupthindernis für die Steigerung der Kampfaktivität der
• Zum IX. Plenum des EKKI und zum VI. Weltkongreß der Komintern vgl. The Communist International, 1919—1943. Documents. Sel. and ed. by Jane Degras. Oxford Univ. Press. London — New York — Toronto. Vol. II. 1960, S. 423 fi. und S. 446 ff. 7
Zur Periodisierung der Nachkriegsentwicklung vgl. das Referat Budiarins auf dem VI. Weltkongreß der Komintern, in: Protokoll des VI. Weltkongresses der Kommunistisdien Internationale. Bd. I. Hamburg-Berlin 1928, S. 26 ff.
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Arbeitermassen". 8 Für alle Sektionen der Komintern galt nunmehr die Losung der „Einheitsfront nur von unten". Der unmittelbare Appell der Kommunisten an die sozialdemokratischen Arbeiter über die Köpfe ihrer Führer und auch ihrer Funktionäre hinweg hatte nichts mit einer wirklichen Einheitsfronttaktik gemein. Die Losung der „Einheitsfront von unten" bedeutete die Ablehnung einer jeden Einheitsfront, denn das Ziel dieser Taktik war es, auf einem unmittelbaren Wege den Einfluß der Sozialdemokratie auf die Arbeiterschaft zu zerstören und diese auf die Seite der Kommunisten herüberzuziehen. Die neue kommunistische Gewerkschaftspolitik erstrebte den Bruch mit der Gewerkschaftsdisziplin. Wirtschaftskämpfe sollten unter der Losung „Klasse gegen Klasse" selbständig, d.h. gegen die „reformistische Gewerkschaftsbürokratie" geführt und zu politischen Massenkämpfen ausgeweitet werden. Darüber hinaus wurde die Aufstellung eigener „roter Listen" bei Betriebsrätewahlen gefordert. 9 Eine Gewerkschaftsspaltung stand in Deutschland zu Beginn des linken Kurses allerdings nicht auf der Tagesordnung. 10 Die aus den Gewerkschaften ausgeschlossenen Mitglieder sollten „an die Gewerkschaftsopposition des betreffenden Verbandes" (RGO) angeschlossen und nicht zu neuen selbständigen Organisationen zusammengefaßt werden. 11 Als eines der wichtigsten Motive des neuen linken Kurses der Komintern müssen jene Auseinandersetzungen innerhalb der KPdSU angesehen werden, die sich zwischen Stalin und den sogenannten Rechten, der Gruppe Bucharin-Rykow-Tomski, 1927/28 entwickelten.12 Der Konflikt entzündete sich, als Stalin beschloß, in der Sowjetunion den Weg einer raschen Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft einzuschlagen. Besonders die Frage, wie und wie schnell die Industrialisie-
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Thesen des X. Plenums des EKKI über Die internationale Lage und die nächsten Aufgaben der Kommunistischen Internationale, in: Internationale Presse-Korrespondenz 1929, Nr. 65 vom 26. 7., S. 1536. Internationale Pressekorrespondenz ab hier abgekürzt: Inprekorr. ® Vgl. die Thesen und die Resolution des X. Plenums des EKKI zur Gewerkschaftstaktik, in: Inprekorr 1929, Nr. 76 vom 13. 8., S. 1755. 10 Vgl. das Referat Thälmanns auf dem X.Plenum des EKKI, in: Inprekorr 1929, Nr. 85 vom 4. 9., S. 2005 ff. 11 So das Pol.-Sekretariat des EKKI. Vgl. Thälmann, ebda. S. 2010. 12 Uber den Beginn und Verlauf vgl. insbesondere Daniels, Robert V.: Das Gewissen der Revolution. Kommunistische Opposition in Sowjetrußland. Köln-Berlin 1962; Schapiro, Leonard: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Berlin 1961, S. 383 ff., 390, 396.
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rung durchgeführt werden sollte, wurde Gegenstand der Kontroverse. Hierbei verbanden sich personelle und sachliche Motive zu einer unlösbaren Einheit. Charakteristisch für das Verhalten der Kontrahenten des sich entwickelnden innersowjetischen Kampfes war das Bestreben, nach außen stets das Bild einer einigen und einheitlichen Parteispitze zu wahren. Stalin bediente sich hierbei folgender Taktik: Durch vorübergehendes Einlenken konnte er die Rechte zur Kompromißbereitschaft veranlassen, ließ aber zugleich im November 1928 von der gesamten Parteiführung eine noch anonyme redite Abweichung in der Partei verurteilen. Dadurch hatte Stalin die Möglichkeit, einen offenen Widerstand der Rechten mit dem Vorwurf der Fraktionsbildung verdammen zu können. 13 Ein ähnlicher Vorgang vollzog sich auch auf internationaler kommunistischer Ebene. Hier war auch eine internationale rechte Gefahr konstatiert worden. Jedoch war innerhalb der Komintern der Kampf Stalins mit der Bucharin-Gruppe auf dem VI. Weltkongreß und auch danach noch nicht beendet. 14 Die nächste Etappe des innersowjetischen Fraktionskampfes bildete das X. Plenum des EKKI im Sommer 1929. Mit ihm begann die öffentliche internationale Kampagne gegen Stalins innenpolitische Gegner, denn auf der 16. Parteikonferenz der KPdSU Anfang Mai war vor der Außenwelt immer noch der Schein einer geeinten Führung der Partei aufrechterhalten und nur die anonyme rechte Abweichung verurteilt worden. 15 An dieser nun öffentlichen Kampagne hatte die deutsche Delegation, vor allem vertreten durch Ernst Thälmann, Heinz Neumann und Walter Ulbricht, einen führenden Anteil, denn die Schwenkung der Komintern hatte innerhalb der KPD zu überaus zugespitzten Auseinandersetzungen geführt, die die Parteiführung besonders erbitterten. Bereits vor der eigentlichen Wendung der Kominterntaktik gab es innerhalb der KPD ls
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Vgl. Schapiro, S. 392 f., und Daniels, S. 347. Stalin vermied sorgfältig eine Auseinandersetzung an der Spitze „bis er seine künftigen Feinde ideologisch und organisatorisch entwaffnet hatte". So Daniels, ebda. S. 418. Vgl. auch Borkenau, Franz: World Communism. A History of The Communist International. The Univ. of Michigan Press 1962 (Reprint), S. 336; Schapiro, S. 504; Daniels, S. 787 ff., und Nollau, Günther: Die Internationale. Wurzeln und Erscheinungsformen des proletarischen Internationalismus. Köln-Berlin 1959, S. 90. So wurde die Entschließung der 16. Parteikonferenz der KPdSU Anfang Mai 1929, die Bucharin mit Namen nannte, nidit wie das übrige Material veröffentlicht. Vgl. Daniels, Fußnote 226, S. 587, und Schapiro, S. 398.
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im wesentlichen drei verschiedene Gruppierungen: einmal die eigentliche, Stalin ergebene Führungsgruppe unter Ernst Thälmann, dem späteren „Triumvirat" Thälmann-Remmele-Neumann, dann den rechten Flügel mit August Thalheimer und Heinrich Brandler als prominenteste Repräsentanten und schließlich die Gruppe der sogenannten „Versöhnler" mit Ernst Meyer an der Spitze, die Freunde Bucharins in Deutschland.1® In eben dem Maße, in dem sich die neue Taktik der Komintern immer deutlicher abzuzeichnen begann, verstärkten sich auch die Gegensätze zwischen der Thälmann-Führung, den Rechten, aber auch den Versöhnlern.17 Diese nahmen den Versuch Thälmanns, Unterschlagungen von Parteigeldern durch seinen engen Kampfgefährten John Wittorf, Pol-Leiter des Bezirks Wasserkante (Hamburg) 18 , zu decken, zum Anlaß, auf dem ZK-Plenum im September 1928 seine Absetzung zu erzwingen und damit zugleich eine politische Kursänderung in der Partei herbeizuführen. Das ZK schaltete jedoch sofort die Komintern ein, und auf Einspruch Stalins sprach das EKKI Thälmann sein Vertrauen aus und ordnete an, daß er weiter seine bisherigen Funktionen in der Partei ausüben solle.19 Nach diesem mißglückten Versuch einer „Palastrevolution" spitzten sich nunmehr rasch die Auseinandersetzungen zwischen der Thälmann-Führung und den Oppositionellen zu. Ende Dezember/ Anfang Januar 1929 wurden fast alle führenden Rechten der KPD aus der
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Vgl. dazu Tjaden, Karl-Hermann: Struktur und Funktion der „KPD-Opposition" (KPO). Eine organisationssoziologische Untersuchung zur „Rechts"-Opposition im deutschen Kommunismus zur Zeit der Weimarer Republik. Meisenheim am Glan 1964, S. 50 ff. Zu den Unterschieden in Auffassung und taktischem Verhalten der Rechten und Versöhnler vor der eigentlichen Wende, vgl. ebda. S. 64 ff. So waren auf dem VI. Weltkongreß auch die Versöhnler scharf angegriffen worden. Diese unterschieden sich zu dieser Zeit von der Thälmann-Gruppe und der Kominternlinie in der Einschätzung der III. Periode, der Gewerkschaftsarbeit, der Einschätzung der „linken Sozialdemokratie" und auch in Fragen der innerpolitischen Demokratie.
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Nach Mitteilung Hermann Webers an den Verfasser am 28. 4.1969 war Wittorf nicht ein Schwager Thälmanns, wie dies bisher in der Literatur angenommen wurde. Auf dem X. EKKI-Plenum hatte Kuusinen erwähnt, daß Budiarin auf dem AprilPlenum des ZK der KPdSU behauptet habe, Thälmann sei ein Schwager Wittorfs. Die deutsche Delegation, von Kuusinen befragt, bezeichnete dies als Lüge, und Remmele behauptete, daß.Bucharin wider besseres Wissen Wittorf als den Schwager Thälmanns bezeichnet habe. Siehe das Schlußwort Kuusinens auf dem X. EKKIPlenum, in: Inprekorr 1929, Nr. 79 vom 20. 8., S. 1887.
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Vgl. Tjaden, S. 83 f., und die Rede Heinz Neumanns auf dem 16. Parteitag der KPdSU im Sommer 1930, in: Inprekorr 1930, Nr. 58 vom 11. 7., S. 1344.
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Partei ausgeschlossen.20 Die beiden Versöhnler Ewert und Meyer unterwarfen sich der Parteidisziplin. Angesichts der Tatsache, daß die Schwenkung der Kominterntaktik innerhalb der KPD mit der Wittorf-Affäre einen solchen ernsten Konflikt ausgelöst hatte, war die deutsche Delegation auf dem X. Plenum des EKKI im Sommer 1929 geradezu prädestiniert, dieses Plenum durch ihre Diskussionsbeiträge in besonderem Maß zu einem internationalen Forum der Angriffe gegen die oppositionellen Strömungen innerhalb der KPdSU und ihrer internationalen Verflechtung auf Kominternebene zu machen.21 Das X. Plenum des EKKI bildete für den innersowjetischen Machtkampf deshalb eine neue Etappe, weil einerseits Bucharin offiziell als Leiter der Komintern abgesetzt, andererseits die zu etwa dieser Zeit in der Sowjetunion einsetzende öffentliche Kampagne gegen die BucharinRykow-Tomski-Gruppe auf internationaler kommunistischer Ebene parallelisiert bzw. koordiniert wurde. Damit beides möglich war, mußten schon vor dem X. Plenum des EKKI die organisatorischen Voraussetzungen in der Komintern durch die weitgehende Verdrängung und Ausschaltung der Anhänger oder potentiellen Anhänger Bucharins geschaffen werden. Diese Notwendigkeit ergab sich nicht zuletzt aus dem großen Unterschied zwischen dem formellen und tatsächlichen Verhältnis der Kommunistischen Internationale zur KPdSU. Formell war die Komintern als organisatorischer Zusammenschluß von kommunistischen Parteien das oberste Führungszentrum der kommunistischen Weltbewegung. Ihre Exekutivorgane hatten entscheidende Kompetenzen 22 , in die inneren Angelegenheiten und in die Gestaltung der politischen Linie und personellen Führung der Sektionen einzugreifen. Eine Reihe von Faktoren hatte jedoch dahin geführt, daß die KPdSU die beherrschende Sektion innerhalb der Komintern wurde und, praktisch ausgestattet mit den Kompetenzen der Exekutivorgane der Komintern, sich im Namen der Komintern die einzelnen Sektionen völlig unterwerfen konnte. Für die KPdSU war
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Vgl. Tjaden, S. 97 ff. Vgl. den Diskussionsbeitrag Heinz Neumanns auf dem X. Plenum des EKKI, in : Inprekorr 1929, Nr. 79 vom 20. 8., S. 1836; den Diskussionsbeitrag Thälmanns, in: Inprekorr 1929, Nr. 78 vom 19. 8., S. 1977, und den Walter Ulbrichts, ebda. S. 1977. Vgl. vor allem die „21 Bedingungen" für die Aufnahme in die Komintern von 1920. Wiederabgedruckt in: Weber, Hermann (Hrsg): Die Kommunistische Internationale. Eine Dokumentation. Hannover 1966, S. 55 ff. Vgl. audi die Statuten der Komintern von 1920, ebda. S. 48 ff.
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das Festhalten an der formellen Unterordnung aller Sektionen unter die Organisation der kommunistischen Weltbewegung trotz der veränderten tatsächlichen Situation wichtig, um sich die Kontrolle über die Sektionen zu sichern. Die Aufrechterhaltung der Fiktion, daß die KPdSU lediglieli eine Sektion der Komintern mit den gleichen Rechten und Pflichten wie alle anderen Sektionen war, mußte jedoch in dem Augenblick problematisch werden, in dem es faktisch keine einheitliche Führung der KPdSU gab, sondern in dem sich ein Machtkampf innerhalb der Führung vorbereitete. Theoretisch war eine Situation denkbar, in der diejenige Gruppe, die über einen größeren Einfluß innerhalb der Komintern verfügte, d.h. die Mehrheit besaß, gestützt auf die Kompetenzen der Komintern in den innerparteilichen Machtkampf der KPdSU in eigener Sache eingreifen konnte. Deshalb erforderte ein sich vorbereitender oder schon im Gange befindlicher Machtkampf vorherige, präventive Auseinandersetzung auf internationaler kommunistischer Ebene, um diese theoretische Möglichkeit nicht zur praktischen Wirklichkeit werden zu lassen. Die Notwendigkeit einer Kongruenz zwischen internationaler und innerparteilicher Ebene hatte sich für Stalin in seinem Kampf gegen Trotzki, gegen Sinowjew und auch gegen die Bucharin-Gruppe ergeben. Charakteristisch war in jedem Falle, daß eine solche Auseinandersetzung innerhalb der Komintern jeweils mit einer taktischen Schwenkung einherging. So nahm Stalin 1928 eine Wendung der Kominterntaktik vor, nicht, um die Komintern einer tatsächlich veränderten internationalen Situation anzupassen, sondern er konstruierte eine angeblich veränderte Situation zu dem Zweck, die Anhänger Bucharins und diesen selbst aus der Komintern vollständig auszuschalten.
II. Die deutsch-sowjetische Verstimmung und der Einfluß der Sozialdemokratie Die außenpolitische Aktivität, die Deutschland seit 1928/29 gegenüber dem Westen entwickelte, ließ in der Sowjetunion zunehmende Befürchtungen über die Rückwirkungen auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen aufkommen. Deutschlands Bestreben in diesen Verhandlungen mit dem Westen war darauf gerichtet, mit einer Neuregelung der Reparationsfrage zugleich die Voraussetzungen für eine Räumung der von ausländischen Truppen besetzten Rheinlande zu schaffen. Das Ergebnis dieser Ausgleichsverhandlungen bestand in der Ersetzung des Dawesdurch den Young-Plan. Ende Januar 1930 waren diese Verhandlungen mit der Unterzeichnung des Haager Schlußprotokolls diplomatisch abgeschlossen. Während der Verhandlungen um den Neuen Plan hatte Deutschland seine Beziehungen zur Sowjetunion vernachlässigt. Es unterließ nicht nur gegenüber der Sowjetunion jede außenpolitische Aktivität, sondern hatte darüber hinaus die im Frühjahr 1929 begonnenen deutsch-sowjetischen Kredit- und Zollverhandlungen und Besprechungen über weitere wirtschaftliche Nebenabkommen gerade mit dem Hinweis auf die Young-Planverhandlungen vertagt. 23 Die Haltung Deutschlands ließ in der Sowjetunion immer stärker den Eindruck entstehen, daß es vorerst das Interesse an der Sowjetunion verloren habe und daß es „gegenüber den Westmächten Bindungen eingegangen ist, die mit Notwendigkeit zu einer Eingliederung in den antisowjetischen Kurs der Westmächte führen" müßten. 24 So ließen die deutsch-westlichen Verhandlungen und die deutsche außenpolitische Abstinenz gegenüber der Sowjetunion seit 1928/29 eine ähnliche Situation entstehen, wie sie sich während der Locarno-Verhandlungen Deutschlands ergeben hatte. Audi damals beM
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Vgl. die Aufzeichnung Dirksens vom 19.1.1930, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Bonn), Büro RM, Ru, Bd. 23, 2860/D 561074—81. Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes ab hier abgekürzt: PA. Dirksen in seinem Brief vom 14. 2.1930 an Außenminister Curtius, in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 24, 2860/D 561196—205.
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fiirditete die Sowjetunion, daß sich Deutschland allzu stark an den Westen binden könnte und das östliche Gegengewicht vergäße.25 Der diplomatische Zwischenfall, der sidi wegen des Verlaufs der Feiern zum 1. Mai 1929 in Moskau ergab, störte zwar die deutschsowjetischen diplomatischen Beziehungen nicht wesentlich, hatte aber mittelbar unliebsame Auswirkungen für das gegenseitige Verhältnis. Während der Demonstrationen wurden in Moskau aufgeputzte Wagen mitgeführt, die Karikaturen deutscher Staatsmänner und Mitglieder der Regierung trugen. Zudem hielt Woroschilow während der Feiern vor den Truppen der Roten Armee eine stark klassenkämpferische Rede, wie sie dem Stil und Inhalt nach der radikalen Sprache der linken Kominternpropaganda entsprach. In dieser Rede äußerte er auch die Hoffnung, daß die KPD trotz des Demonstrationsverbots des Berliner Polizeipräsidenten Zörgiebel auf die Straße gehen werde. 26 Tatsächlich demonstrierte die KPD trotz des Verbots auf Weisung der Komintern, und es kam zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei. Die Rede Woroschilows und die Zwischenfälle in Berlin weckten in der deutschen öffentlichen Meinung ein sehr kritisches Echo, das sich in der zweiten Hälfte von 1929 und Anfang 1930 zu einer starken antisowjetischen Stimmung steigerte. Diese belastete mittelbar die deutsch-sowjetischen Beziehungen, vermutete man doch eine direkte Einflußnahme der Sowjetunion auf die deutsche Innenpolitik. Obgleich die Moskauer Zwischenfälle diplomatisch rasch bereinigt wurden, und die Sowjetunion ihre freundschaftlichen Gefühle gegenüber Deutschland immer wieder betonte 27 , geschah deutscherseits so gut wie gar nichts, um die gegenseitigen Beziehungen wieder zu beleben. Weitere Faktoren, wie der Tod Stresemanns und die deutsch-polnischen Verhandlungen über ein Liquidations- und Handelsabkommen, trugen 25
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Zu dieser Phase vgl. besonders Erdmann, Karl Dietridi: Das Problem der Ost- oder Westorientierung in der Locarno-Politik Stresemanns. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. 6. Jg. Heft 3. 1955, und Gatzke, Hans W.: Von Rapallo nach Berlin. Stresemann und die deutsche Rußlandpolitik. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. 4. Jg. Heft 1. 1956. Vgl. das Telegramm Dirksens vom 1.5.1929, in: PA, IV Ru, Politik 2, Bd. 13, L 622/L 197209—10, und die Aufzeichnung für den Herrn Reichsminister vom 6. 7. 1929, in: PA, IV Ru, Politik 2, Bd. 13, Blatt 193—199. Vgl. das Telegramm Dirksens vom 4 . 5 . 1 9 2 9 über ein Gespräch mit Karachan, in: PA, IV Ru, Politik 2, Bd. 19, L 622/L 197217—20, und den politischen Bericht Dirksens vom 10. 5.1929 gleichfalls über ein Gespräch mit Karachan, der das Bedauern Woroschilows über die Wirkung seiner Rede wiedergab. Ebda. L 622/L 197240—43.
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dazu bei, die Sorge der Sowjetunion über den künftigen Verlauf der gegenseitigen Beziehungen zu erhöhen.28 Vergeblich suchte die Sowjetunion, Deutschlands Augenmerk nach Osten zu lenken.29 Dagegen entzündete sich die öffentliche Meinung in Deutschland immer stärker an gewissen Auswirkungen der radikalen sowjetischen Innenpolitik, die man auch für die radikale Propaganda der Komintern verantwortlich machte. Daß es im Frühjahr 1930 zu deutsch-sowjetischen Verhandlungen kam, die die gegenseitigen Unstimmigkeiten ausräumen und zu einer Neubelebung der deutsch-sowjetischen Beziehungen führen sollten, war sicher nicht nur dem Drängen des deutschen Botschafters Dirksen in Moskau zuzuschreiben. Der Abschluß der diplomatischen Verhandlungen um den Young-Plan im Januar 1930 hatte Deutschland wieder eine gewisse außenpolitische Bewegungsfreiheit gegeben, die allerdings erst im Sommer nach der Räumung der dritten und letzten Rheinlandzone von fremden Truppen stärker zur Geltung kommen und zugleich eine gewisse Akzentverschiebung der deutschen Außenpolitik mit sich bringen sollte. In den deutsch-sowjetischen Ausgleichsverhandlungen des Frühjahrs 1930 wollte die Sowjetunion vor allem eine öffentliche Erklärung erreichen, in der sich Deutschland zu einer positiven Politik gegenüber der Sowjetunion bekennen würde. Der deutsche Außenminister Curtius war grundsätzlich zu einer solchen Erklärung bereit und wünschte die freundschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion fortzuführen bzw. wieder zu intensivieren. Deutscherseits stellte man jedoch die Vorbedingung, daß die Sowjetunion auf jede Propaganda in Deutschland verzichte, sich jeder Einmischung in deutsche innere Angelegenheiten enthalte und eine öffentliche Nichteinmischungserklärung abgebe.30 Diese Forderung wurde vor allem mit Rücksicht auf die öffentliche
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Vgl. die Aufzeichnungen Dirksens vom 1 9 . 1 . 1 9 3 0 , in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 23, 2860/D 561074—81, und das Telegramm Twardowskis vom 2 8 . 1 0 . 1 9 2 9 , in: PA, IV Ru, Politik 2, Bd. 14, L 622/L 197354—355.
28
So deutete Ende Oktober 1929 die sowjetische Regierung ihren Wunsch nach einem Besuch deutscher Industrieller an, der, wohl auch als politische Geste gedacht, Befürchtungen über einen außenpolitischen Kurswechsel Deutschlands zerstreuen und gleichzeitig die deutsch-polnischen Wirtschaftsverhandlungen kompensieren sollte. Vgl. dazu das Telegramm Twardowskis vom 2 8 . 1 0 . 1 9 2 9 , ebda., und das Telegramm Twardowskis vom 3 1 . 1 0 . 1 9 2 9 , in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 22, 2860/D 560818.
80
Vgl. die Aufzeichnung vom 5. 3 . 1 9 3 0 über das Gespräch zwischen Curtius und Krestinski am 5. 3. 1930, in: PA, Büro Staatssekretär, Akten betreffend politische Angelegenheiten der UdSSR, Bd. 26, 4562/E 160797—821.
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Meinung in Deutschland und auf die Parteien des Reichstages erhoben, vor denen der deutsche Außenminister das Bekenntnis zu einer aktiven deutschen Rußlandpolitik vertreten mußte.31 Deshalb hatte auch das zeitweilige Einhalten der Zwangskollektivierung durch Stalin im März 1930 32 eine sicher nicht entscheidende, jedoch fühlbare Bedeutung für den Fortgang der deutsch-sowjetischen Verhandlungen, da die Wirkung der innersowjetischen Entspannung auf die Öffentlichkeit Deutschlands die deutsche Diplomatie entlastete. In seinem Artikel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen" in der Prawda vom 2. 3. 1930 kritisierte Stalin Überspitzungen in der Durchführung der Zwangskollektivierung und warnte vor „abenteuerlichen Versuchen", alle Probleme des sozialistischen Aufbaus „,im Handumdrehen' lösen zu wollen". Stalin tadelte alle diejenigen, die der Entwicklung mit revolutionärem Ubereifer vorauseilten und alles und jedes vergesellschaften wollten. Dagegen betonte er das Prinzip der Freiwilligkeit bei der Kollektivierung und die „Berücksichtigung der Mannigfaltigkeit der Verhältnisse" in den verschiedenen Teilen der Sowjetunion. Schließlich wandte Stalin sich auch gegen Auswüchse der antireligiösen Kampagne. Diesem Artikel Stalins folgten entsprechende administrative Maßnahmen, und die innenpolitische Situation in der Sowjetunion entspannte sich ein wenig. Es blieb jedodi nur bei einer kurzen „Atempause". Schon auf dem 16. Parteitag der KPdSU im Sommer 1930 deutete Stalin wieder eine härtere Haltung gegenüber den Bauern an. Der Prozentsatz der Kollektivwirtschaften, der seit dem März stark gesunken war, hatte bald wieder fast seine alte Höhe erreicht.33 Die Gründe für die Atempause waren vor allem innenpolitischer Natur. Die überstürzte Zwangskollektivierung hatte die Gefahr einer Wirtschaftskatastrophe heraufbeschworen und Stalin zu einem kurzfristigen Einlenken genötigt. Trotz der innenpolitischen Beweggründe war die Einleitung einer Atempause aber deshalb von außenpolitischem
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Die Bemerkung von Curtius zu Krestinski am 5. 3., „eine gewisse Trübung des Verhältnisses sei nidit zu leugnen", zeigte, wie gering der deutsdie Außenminister die diplomatische Relevanz der Faktoren einschätzte, die von der deutsdien Öffentlichkeit und z. T. von Vertretern des A A für eine „Krise" in den gegenseitigen Beziehungen verantwortlich gemacht wurden. Vgl. ebda.
3!
Wiedergegeben in: Stalin, J . W . : Fragen des Leninismus. Moskau 1947, S. 363 ff.
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Vgl. ebda.
Vgl. dazu audi Schapiro, S. 408.
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Belang, da sie sowohl von der sowjetischen wie von der deutschen Diplomatie außenpolitisch genutzt wurde. 34 Im Laufe der deutsch-sowjetischen Verhandlungen erklärte Litwinow sich schließlich unter einem gewissen Druck des deutschen Botschafters zu der von Curtius aus innenpolitischen Erwägungen so dringend gewünschten Nichteinmischungserklärung bereit.35 In ihrem gemeinsamen Communiqué vom 13. Juni bekannten sich beide Regierungen zum Geiste des Rapallovertrages und der anderen zwischen ihnen bestehenden Verträge und verpflichteten sich zur Fortsetzung der auf diesen Verträgen beruhenden Politik. Beide Regierungen gingen davon aus, „daß alle Versuche einer aktiven Beeinflussung der inneren Angelegenheiten des anderen Landes zu unterbleiben" hätten. Vor dem Reichstag interpretierte Curtius am 25. Juni 1930 das deutschsowjetische Communiqué als eine Bestätigung der früheren Grundlage des gegenseitigen Verhältnisses und als eine Rückkehr zu dem, was war. Am Schlüsse seiner Stellungnahme erklärte er zum deutsch-sowjetischen Verhältnis:
s4
Vgl. das Telegramm Dirksens vom 8. 3.1930, in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 24, 2860/ D 561318—19. Über die außenpolitische Wirkung der innersowjetischen Entspannung in Deutschland vgl. die Aufzeichnung Staatssekretärs Schubert vom 16. 4.1930 über die Unterredung zwischen Curtius und Krestinski, in: PA, Büro Staatssekretär, Akten betreffend politische Angelegenheiten der UdSSR, Bd. 28, 4562 H / E 161620—39, und die Aufzeichnung Dirksens vom 13. 5. 1930 über eine Unterhaltung mit Litwinow, in: PA, Büro Staatssekretär, Akten betreffend politische Angelegenheiten der UdSSR, Bd. 30, 4562 H / E 161965—73. Wenn Dirksen eine dauerhafte innenpolitische Entspannung in der Sowjetunion für die Fortsetzung freundschaftlicher Zusammenarbeit zur Voraussetzung machte, so zeigt dies, wie stark sich die deutsche Diplomatie unter dem Druck der öffentlichen Meinung in Deutschland fühlte. Diplomatisch blieb diese Forderung jedoch, und dies zeigte auch die weitere Zukunft, nachdem Stalin die alte radikale Politik wieder aufgenommen hatte, belanglos. Curtius selbst war sich durchaus des temporären Charakters der Atempause Stalins bewußt. Vgl. die Aufzeichnung Schuberts vom 16.4.1930 über die Unterredung zwischen Curtius und Krestinski. Siehe die Angaben in Fußnote 34.
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„Fehlt der Schlußstein der diplomatischen Besprechungen und liegt lediglich eine Verlautbarung über (die) Anrufung der Schlichtungskommission vor, so werde ich im Reichstag einen sehr schweren Stand haben, da auf keinerlei Einigung mit den Russen Bezug genommen werden und die ganze Debatte infolgedessen einen Verlauf nehmen kann, der unseren Beziehungen zu Rußland nicht förderlich ist." So Curtius in einem Telegramm am 4. 6.1930 an Dirksen, in: PA, Büro Staatssekretär, Akten betreffend politische Angelegenheiten der UdSSR, Bd. 30, 4562 H / E 162037—40.
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„Wir alle wissen, daß ein großer Teil unserer künftigen politischen Aufgaben im Osten zu suchen ist. Wir müssen uns Rechenschaft davon geben, daß es für diese Aufgabe wesentlich auf die sorgsame Pflege der Beziehungen zu unseren Ostnachbarn, namentlich aber zu dem größten unter ihnen, der Sowjetunion ankommt. Wir sind uns dabei aber auch bewußt, daß unsere Zusammenarbeit mit Rußland
für ganz
Europa wichtig ist." M
Der besondere Akzent, den der deutsche Außenminister auf eine aktive Politik gegenüber der Sowjetunion setzte, war Bestandteil einer gewissen Neuformulierung der deutschen Außenpolitik. Stresemanns außenpolitische Orientierung war stark auf Frankreich gerichtet, um die drückendsten Bestimmungen des Versailler Vertrages — vor allem die Besetzung der Rheinlande — in diplomatischen Verhandlungen mit dem Westen zu beseitigen. Die entsprechenden Verhandlungen waren im Januar 1930 mit dem Haager Schlußprotokoll abgeschlossen worden und hatten es Deutschland leichter gemacht, eine neue Initiative zur Entspannung mit der Sowjetunion zu ergreifen. Als Curtius seine große Erklärung zur deutschen Außenpolitik vor dem Reichstag abgab, stand die Räumung der dritten und letzten Rheinlandzone von fremden Truppen unmittelbar bevor, und Curtius war entschlossen, nunmehr einen unabhängigeren, stärker nationalen außenpolitischen Kurs einzuschlagen, der eine besondere Pflege der deutsch-sowjetischen Beziehungen einschloß.37 Doch nicht nur die verbesserte außenpolitische Stellung Deutschlands gegenüber den Westmächten war für die Abkehr vom bisherigen außenpolitischen Kurs von Bedeutung, sondern besonders auch der Regierungswechsel vom März 1930, als das Kabinett Brüning die Koalitionsregierung des Sozialdemokraten Hermann Müller ablöste. Es kann als ganz gewiß angenommen werden, daß der Rücktritt der Müller-Regierung, neben der diplomatischen Entlastung im Westen, Curtius eine entscheidende Bewegungsfreiheit in seinen Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung gegeben hat. Während der Verhandlungen mit der Sowjetunion zeigte der nodi amtierende sozialdemokratisdie Kanzler eine an das Emotionale grenzende negative Einstellung zur Sowjetunion und lehnte die von der Sowjetunion geforderte „Rapallo-Erklärung" schroff ab.»8 ** Wiedergegeben in: Curtius, Julius: Sechs Jahre Minister der deutschen Republik. Heidelberg 1948, S. 157. 37
Ebda. S. 153 f. und S. 163.
38
Vgl. die Aufzeichnung Pünders am 17. 2 . 1 9 3 0 an Staatssekretär Schubert über eine Unterredung mit Reichskanzler Müller, in: Bundesarchiv, Reichskanzlei, R 43 1/138, Bd. 8, 6 1 1 / L 195651.
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Zweifellos stand Hermann Müller auch unter dem starken Druck seiner eigenen Partei. Nicht nur zur Zeit ihrer Regierungsbeteiligung, sondern audi nach ihrem Ausscheiden aus der Regierung war die Sozialdemokratie bestrebt, das AA zu einer schärferen Haltung gegen die Sowjetunion zu drängen, und forderte, die vertraglichen Grundlagen zur Sowjetunion zu überprüfen. 39 Darüber hinaus hatte aber auch die sozialdemokratische Presse neben der des Zentrums einen wesentlichen Anteil an der wachsenden antisowjetischen Stimmung in Deutschland. Für diese Entwicklung in der öffentlichen Meinung 1929/30 läßt sich nur schwer ein eindeutiges Motiv finden. Es ist fraglich, ob zu dieser Zeit wirklich etwa Befürchtungen über mögliche Erfolge der Kommunisten vor dem Hintergrund aufsteigender wirtschaftlicher Schwierigkeiten eine nennenswerte Rolle spielten, die dann von der Sowjetunion und der Komintern zur revolutionären Umgestaltung Deutschlands hätten ausgenutzt werden können.40 Besonders die Sozialdemokratie, die sidi, durch die gerade gegen sie gerichtete radikale Kominternpropaganda provoziert, in ihrer grundsätzlich antisowjetischen Haltung noch bestärkt fühlen mußte 41 , nutzte die lautstärkere Propaganda der Komintern und die enge Verbindung der Komintern mit der Sowjetunion innenpolitisch für ihre Agitation gegen die KPD aus und trug damit erheblich zur verschärften antisowjetischen Stimmung in Deutschland bei. Es war daher äußerst zweifelhaft, ob es Curtius gelungen wäre, den auch von ihm gewünschten
38
Zur Haltung der Sozialdemokratie vor dem Regierungswechsel gegenüber der Sowjetunion vgl. den Sozialdemokratischen Pressedienst vom 10. 3.1930, Fundort in: PA, Büro Staatssekretär, Akten betreifend politische Angelegenheiten der UdSSR, Bd. 26, 4562 H / E 161863—64. Zur Haltung der Sozialdemokratie nach dem Regierungswechsel vgl. besonders den Sozialdemokratischen Pressedienst vom 30. 4.1930, Fundort in: PA, Handakten Trautmann betreffend Rußland, Bd. 3, und den Sozialdemokratischen Pressedienst vom 15. 4.1930 (zum Gedenken des Rapallo-Vertrages), Fundort in: Pa, IV Ru, Politik 2, Bd. 15.
40
Es war wohl eher die Reaktion auf das Phänomen einer Revolution von oben, einer Enttäuschung darüber, daß die Sowjetunion sich nicht über die NEP-Politik hinaus „normalisierte", sondern eine ganz andere Richtung einschlug. Die antireligiöse Kampagne, die zu einem Protestschritt des Papstes führte, scheint in der Tat einen negativen Effekt z. B. beim Zentrum gehabt zu haben. Vielleicht griff die nicht sehr sowjetfreundliche öffentliche Meinung, d. h. des überwiegenden Teils, auch gerne bestimmte Auswirkungen der sowjetischen Innenpolitik als Mittel zum Zweck auf.
41
Krestinski selbst führte die antisowjetische Stimmung in Deutschland zu einem wesentlichen Teil auf den Kampf zwischen SPD und KPD zurück. Vgl. die Aufzeichnung Schuberts vom 17. 2.1930 über ein Gespräch mit Krestinski, in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 24, 2860/D 561218—33.
Deutsch-sowjetische Verstimmung
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Ausgleich mit der Sowjetunion unter einer Regierung Müller einzuleiten und herbeizuführen. Zwar stand der neue Kanzler Brüning, nicht zuletzt aus religiösen Gründen, der Sowjetunion äußerst reserviert gegenüber42, doch im Gegensatz zu der nach dem Westen hin orientierten Sozialdemokratie wollte Brüning außenpolitisch weder für West nodi für Ost optieren48, und Curtius vermochte es, Brünings Einverständnis zur Fortsetzung guter deutsch-sowjetischer Beziehungen zu erlangen.44
42
43
44
Vgl. Dirksen, Herbert von: Moskau, Tokio, London 1919—1939. Stuttgart 1949, S. 115 f. Siehe auch Fußnote 273 der vorliegenden Arbeit. Vgl. das Schreiben des Staatssekretärs in der Reichskanzlei Piinder an Curtius vom 15.5.1930 über entsprechende Äußerungen Brünings, in: PA, Büro Staatssekretär, Akten betreffend politische Angelegenheiten der UdSSR, Bd. 30, 4562 H/E 161957— 58, und die Notiz Pünders vom 16.5.1930, in: Bundesarchiv, Reichskanzlei, R 43 1/138, L 611/195795—97. Vgl. Curtius, S. 163.
ΠΙ. Die Modifizierung der Kominterntaktik im Frühjahr 1930 Die Annahme liegt nahe, zwischen dem seit 1928/29 zugespitzten Kampf der Komintern gegen die Sozialdemokratie und der Existenz der Koalitionsregierung Hermann Müllers einen Zusammenhang zu sehen, da die Young-Verhandlungen, von denen die Sowjetunion einen außenpolitischen Kurswechsel Deutschlands befürchtete, von der Koalitionsregierung eingeleitet und geführt wurden, die antisowjetische Haltung der SPD so besonders klar zutage trat und angesichts der Regierungsbeteiligung einflußreich sein mußte. Zwar hatte die tiefe Gegnerschaft zwischen den Kommunisten und Sozialdemokraten verschiedene Ursachen, und der Kampf der Komintern gegen die SPD, bei dem es ja jeweils nur um die „einheitsfronttaktisdie" Form ging, hatte schon sehr früh ein außenpolitisches Motiv, da die SPD nicht zuletzt aus ideologischen Gründen eine Orientierung Deutschlands auf die Sowjetunion ablehnte, dem kommunistischen propagandistischen Bild einer „interventionslüsternen" Partei allerdings nicht entsprach. Aber das außenpolitische Motiv des Kampfes der Komintern gegen die Sozialdemokratie wird man nicht als Hauptmotiv für den Beginn des linken Kominternkurses 1928 ansehen dürfen. Dieser Kurs wurde vorbereitet, bevor die Regierung Hermann Müller die gemäßigte Rechtsregierung Marx ablöste. Außerdem spielten die Angriffe der Komintern auf die außenpolitische Rolle der Sozialdemokratie zu Beginn des linken Kurses noch eine völlig untergeordnete Rolle. So darf man höchstens von einer Koordinierung der Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der Komintern 1928 gleichsam auf einem noch nicht aktuellen Nebengleis sprechen. Zu dieser Zeit hatte die Komintern für Stalin hauptsächlich eine innenpolitische Funktion. Bereits 1929/30 kündigte sich aber ein Wandel der Komintern vom innenpolitischen zum außenpolitischen Instrument der Sowjetunion an. Wenn auch der linke Kurs der Komintern den Zusammenhang mit der sowjetischen radikalen Innenpolitik sicher nicht ganz verlor, war doch der Kampf gegen die Rechten innerhalb der Sowjetunion und der Komintern im wesentlichen ausgefochten. Dafür traten außenpolitische Motive für das Festhalten am linken Kominternkurs stärker in den Vordergrund. Immer deutlicher
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richtete sich der Kampf der Komintern gegen die außenpolitische Orientierung und innenpolitische Bedeutung der Sozialdemokratie als der stärksten Massenpartei und stärksten Reichstagsfraktion in Deutschland. Entscheidend für einen Funktionswandel der Komintern vom innenpolitischen zum außenpolitischen Instrument der Sowjetunion in der hier untersuchten Phase waren die Erfahrungen der Sowjetunion mit den deutsch-sowjetischen Beziehungen während der Regierung der Großen Koalition. Diese Entwicklung der Komintern, die sich in der Folgezeit immer kräftiger durdisetzen sollte, wurde im Februar 1930 besonders augenfällig, als auf der Sitzung des Erweiterten Präsidiums des EKKI der Kampf gegen die Sozialdemokratie neu formuliert wurde. Die Regierung Müller wurde voll und ganz für die Young-Plan-Verhandlungen verantwortlich gemacht, und den Sektionen wurde die Aufgabe gestellt, den „internationalen Kampf aller revolutionären Arbeiter" gegen den sowjetfeindlichen Young-Plan zu organisieren. Das Präsidium rief besonders die kommunistischen Parteien Großbritanniens, Frankreichs und Italiens auf, den Kampf des deutschen Proletariats gegen den YoungPlan aktiv zu unterstützen. In der vom Erweiterten Präsidium des EKKI angenommenen Resolution zum Referat Manuilskys hieß es: „In Deutschland hat die Erfahrung in den \ λ /ι Jahren der Regierungsausübung durdi den Sozialfasdiismus gezeigt, daß er an der Spitze der Koalitionsregierung in Wirklichkeit den Willen der deutsdien Kapitalisten vollstreckt und sie bei der Durchführung ihrer P o l i t i k . . . sowie der Vorbereitung neuer Kriege unterstützt. Statt der versprochenen Festigung des F r i e d e n s . . . brachte die Politik des Sozialfasdiismus den Young-Plan hervor, d e r . . . die Einbeziehung Deutschlands in die sowjetfeindliche Front bedeutet." 45
Doch auch auf einer ganz anderen Ebene zog die Sowjetunion Konsequenzen aus ihren Erfahrungen mit Deutschland seit 1929. Die radikale sowjetische Innenpolitik und die linke Kominternpropaganda hatten in Deutschland und anderen Ländern die Annahme bestärkt, daß die Sowjetunion über die innenpolitische Umwälzung hinaus die Weltrevolution in den kapitalistischen Ländern vorantreiben wolle. Dieser Vorwurf traf die Sowjetunion zu Unrecht. Trotz des linken Kominternkurses, der verbal von der Aktualität der Weltrevolution, von der Behauptung einer neuen Welle revolutionärer Entwicklungen ausging, strebte die Sowjetunion keine Revolutionen in kapitalistischen Ländern an. Entsprechende Aktionen lehnte die Sowjetunion aber nidit deshalb ab, weil sie eine siegreiche Revolution in einem hochindustriali-
« Inprekorr 1930, Nr. 23 vom 7. 3., S. 548.
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sierten Lande wie etwa Deutschland aus machtpolitischen Gründen fürchtete, sondern weil sie an erfolgreiche Revolutionen u. a. angesichts der nichtrevolutionären Haltung der in der Sozialdemokratie oder den Gewerkschaften organisierten Arbeiter und der beschränkten Aktionsfähigkeit der kommunistischen Parteien nicht glaubte. Im Falle revolutionärer Unruhen, ζ. B. in Deutschland, rechnete die Sowjetunion zudem außenpolitisch mit einer Intervention Frankreichs, innenpolitisch mit dem Eingreifen der Reichswehr gegen das „entwaffnet(e)" Proletariat. 46 Die Politik des „Aufbaus des Sozialismus in einem Lande" war ja zu einem gewissen Grade eine Konsequenz aus dem Stagnieren des weltrevolutionären Prozesses. Fruchtlose Revolutionsversuche mußten aber die diplomatischen Beziehungen der Sowjetunion zu anderen Ländern beeinträchtigen und damit ihrem Sicherheitsbedürfnis entgegenstehen.47 Sicherheit nach außen wegen der innenpolitischen Schwäche war aber das oberste Ziel der sowjetischen Außenpolitik während der Phase des „Aufbaus des Sozialismus in einem Lande". Deshalb war die sowjetische Außenpolitik zu dieser Zeit auch von einem besonders ausgeprägten Risikobewußtsein getragen. So wechselte die Komintern seit 1929/30 in zunehmendem Maße von einem innenpolitischen Instrument der Sowjetunion zu einem außenpolitischen, ohne ein weltrevolutionäres zu sein, denn sie handelte während dieser Zeit nie, als ob sie an eine revolutionäre Situation in irgendeinem kapitalistischen Lande glaubte. Damit trat aber die „Entfremdung" der Komintern von ihrer ursprünglichen Aufgabe besonders kraß in Erscheinung. Nach wie vor hielt sie verbal am Ziel der Weltrevolution fest, sah aber keine Chance, ihm tatsächlich irgendwo näher zu kommen — in realistischer Einschätzung der objektiven Situation. Damit hatte sich die Komintern aber, gemessen an ihrer ursprünglichen Aufgabe, in Frage gestellt, wenn nicht überflüssig ge4
* So argumentierte Manuilsky in seinem Schlußwort auf dem X I . Plenum des E K K I im Frühjahr 1931. Das Schlußwort ist wiedergegeben in: Die Kommunistische Internationale, Heft 14/15 vom 23. 4 . 1 9 3 1 , S. 769 fi. (hier S. 777). Die Zeitschrift Die Kommunistische Internationale ab hier abgekürzt: K I . Thälmann erklärte im Februar auf einer Tagung des Z K der K P D : „Die Drohung
des französischen Imperialismus mit der Intervention im Falle einer
deutschen Revolution und die von der SPD daraufhin hervorgerufene Stimmung ist eine der objektiven Schwierigkeiten, mit der wir rechnen müssen." Siehe Thälmann, Ernst: Der revolutionäre Ausweg und die K P D . Rede auf der Plenartagung des Z K der K P D am 19. 2. 1932 in Berlin. Hrsg. von der Kommunistischen Partei Deutschlands. O. J . (1932), S. 27. Vgl. insgesamt zu dieser Frage audi das Kapitel V der vorliegenden Arbeit. 47
Vgl. audi das Kapitel V der vorliegenden Arbeit.
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macht. 48 Die Diskrepanz zwischen revolutionärer Propaganda und beschränktem Ziel wurde für die Komintern aber dadurch gelöst, daß die Zerschlagung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften durch die Kommunisten u. a. durchaus eine Voraussetzung erfolgreicher Revolutionen war. Sollte es den Kommunisten jemals gelingen, die Mehrzahl der sozialdemokratischen Arbeiter für revolutionäre Ziele zu gewinnen, wuchsen ja objektiv wieder die Chancen der Komintern, weltrevolutionäres Instrument der Sowjetunion zu sein.49 Innerhalb der Sektionen und insbesondere in der K P D führte jedoch der Widerspruch zwischen Propaganda und tatsächlichem Verhalten der Komintern wegen der Parallelität des linken Kurses und der durch die beginnende Weltwirtschaftskrise heraufziehenden Arbeitslosigkeit und Radikalisierung zu ultralinken Strömungen. Sie wurden im wesentlichen von Funktionären vertreten, die für Stalin die Kominternschwenkung in den Sektionen durchfechten halfen. Ihr durch die revolutionäre Propaganda der Komintern angetriebener Aktivismus drängte angesichts der Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit nach Taten und suchte durch Ubersteigerung der linken Kominternpropaganda, die sie allzu wörtlich nahmen, über die begrenzten Absichten Stalins hinaus, wirkliche Unruhe zu stiften. Als diese Strömungen stärker wurden, schritt die Komintern ein, zumal die Sowjetunion den Vorwürfen in Deutschland und anderen kapitalistischen Ländern über angeblich revolutionäre Absichten keine neue Nahrung geben wollte. So wurde im Oktober/November 1929 die Gruppe Fried aus der tschechoslowakischen Parteiführung abberufen und im November die Kommunistische Jugendinternationale, deren Mitglieder zu einem erheblichen Teil aus jugendlichen Arbeitslosen bestanden, wegen radikaler Tendenzen kritisiert. 50 Auf und nach der Sitzung des Erweiterten Präsidiums des E K K I im Februar 1930 wurde von der Komintern die Abwehr ultralinker Tendenzen internationalisiert und fand ihren vorläufigen Höhepunkt in Deutschland in der Ausschaltung Paul Merkers. Der „Kampf an zwei Fronten", gegen den „rechten Opportunismus" als nach wie vor bestehender Hauptgefahr und gegen die
48
Ihre Weiterexistenz war aber u. a. gerechtfertigt durch die außenpolitischen Interessen der Sowjetunion.
49
Ob sie es dann wirklich wurde, sollte noch von anderen Faktoren abhängen, wie ζ. B. vom aktuellen außenpolitischen Interesse der Sowjetunion.
50
Vgl. Remmele, H . : Schritt halten. W a r u m muß der Kampf gegen zwei Fronten gerichtet werden? Teil III, in: Die Internationale, Heft 8/9 vom 1. 5 . 1 9 3 0 , S. 220 ff. und S, 238 ff.
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Gefahr des „linken Sektierertums" wurde von der KPD in ihrer ZKSitzung vom 21./22. März übernommen. 51 Den linken Sektierern wurde vorgeworfen, die „Einheitsfront von unten" zur Loslösung der sozialdemokratischen Arbeiter von der SPDFührung zu vernachlässigen, die Arbeit der Kommunisten innerhalb der reformistischen Gewerkschaften zu unterschätzen und auf den Kampf um die Legalität der Kommunistischen Partei zu verzichten.52 Dagegen wurde nunmehr die Notwendigkeit betont, sich viel stärker als bisher auf die Herstellung der „Einheitsfronttaktik von unten" zu konzentrieren und dabei zwischen der „konterrevolutionären" Führung der SPD, den unteren Funktionären und den einfachen sozialdemokratischen Arbeitern zu differenzieren. Hermann Remmele polemisierte gegen die sogenannte „Theorie von den kleinen Zörgiebels", die audi die einfachen sozialdemokratischen Arbeiter zu „Sozialfaschisten" stempelte.53 Gegen die modifizierte Generallinie wandte sich sofort nach der ZKSitzung der KPD Paul Merker und mit ihm eine Gruppe von Parteimitgliedern der KPD. Merker protestierte bei der Komintern und soll nach Darstellung Remmeles die Abberufung derjenigen aus der Parteiführung verlangt haben, die die modifizierte Linie nunmehr vertraten. 54 Die Entschließung der Politbürositzung vom 5. April erklärte Merker zum Hauptvertreter des „linkssektiererisdien Opportunismus" und verurteilte seine politische Haltung sowie sein angeblich „fraktionelles" Vorgehen gegen die Parteiführung. Es wurde beschlossen, Merker seiner Funktionen im Sekretariat zu entheben und ihn aus der Gewerkschaftsabteilung des ZK abzuberufen. 55 Merker, der sich selbst als „Sünden51
Vgl. Uber die Tagung des Präsidiums des EKKI und die Aufgaben der KPD. Resolution des ZK der KPD, beschlossen in der Sitzung vom 21. und 22. 3.1930, in: Inprekorr 1930, Nr. 29 vom 28. 3., S. 713 ff. » Vgl. ebda. 53 Vgl. Remmele: Schritt halten . . . , Teil I, in: Die Internationale, 1930, S. 151 f. Zörgiebel war der Berliner Polizeipräsident, der seit den Maivorfällen von 1929 von den Kommunisten gleichsam als Inkarnation des „Sozialfasdiisten" angegriffen wurde. 84 Vgl. Remmele: Schritt halten . . . , Teil III, S. 244. 55 Vgl. Aus der Entschließung des Politbüros der KPD über den Kampf für die Durchführung der Parteibeschlüsse, in: Inprekorr 1930, Nr. 30 vom 11.4., S. 762. Nach Mitteilung Kurt Müllers (mündliche Mitteilung) habe Thälmann, weniger aus sachlidien als aus persönlichen Gründen, Paul Merker halten wollen. So soll sich Thälmann zur Zeit der Beschlußfassung nadi Hamburg zurückgezogen haben, so daß er nicht an der Politbürositzung vom 5. April teilgenommen habe. Die Resolution, die Merker verurteilte, soll Neumann verfaßt haben. Nadi Κ. M. habe Thälmann,
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bock" fühlte 56 , hatte wohl gegen die offizielle Linie verstoßen, seine eigene Haltung stand aber auch nicht mehr in Einklang mit der modifizierten Linie der Komintern und der der KPD. Wehner führt die Ausschaltung Merkers darauf zurück, daß Losowsky im Gefolge der vorgenommenen Modifizierung einen Rückschlag in Moskau erlitten habe.57 Ein Punkt der Kontroverse zwischen der Komintern und den Ultralinken in der KPD bestand wohl darin, daß Losowsky und Paul Merker für die Schaffung eigener kommunistischer Gewerkschaften eintraten, d. h. für die Umwandlung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition in eine Revolutionäre Gewerkschaftsorganisation.58 Die Bildung eigener kommunistischer Verbände ging zumindest hinsichtlich Deutschlands zunächst über den Rahmen des linken Kurses der Komintern hinaus.59 Daß es wenig später schließlich doch zu eigenen kommunistischen Verbänden in Deutschland kam, war wohl nicht nur einer kurzfristigen „ultralinken" Wendung der Roten Gewerkschafts-Internationale (RGI) im Sommer 1930 zu verdanken, sondern muß auch auf dem Hintergrund der wachsenden Arbeitslosigkeit in Deutschland gesehen werden. Die RGO wurde praktisch zu einer Art Auffangorganisation für Arbeitslose und diejenigen, die aus den reformistischen Gewerkschaften ausgeschlossen wurden. Dies konnte den Wunsch unterstützen, die RGO grundsätzlich
nachdem sich audi Losowsky, der mit Merker eng verbunden war, für diesen eingesetzt habe, den Beschluß indirekt wieder aufgehoben. So sei die Resolution gegen Merker nidit ausgeführt worden. Vgl. audi Die Rote Fahne über die Plenartagung des ZK der KPD vom 16717. Juli 1930, in: Inprekorr 1930, Nr. 61 vom 22.7., S. 1435. Danadi habe Merker schließlich der Politbüro-Resolution zugestimmt und sich zur öffentlichen Kapitulationserklärung bereit gezeigt. 56
So Wehner, Herbert: Notizen. 1946 (Manuskript), S. 25. " Vgl. ebda. 58 Für Paul Merker eine Andeutung in seinem Artikel: Lenin und der politische Massenstreik, in: Inprekorr 1930, Nr. 5 vom 14.1., S. 91. Im Zusammenhang mit der Anti-Merker-Kampagne wurde ζ. B. berichtet, daß seine Anhänger in Bremen eigene Gewerksdiaftsorganisationen gründen wollten. Vgl. Tagesordnung und Bericht an den 13. Bezirksparteitag Nordwest. Auf Mikrofilm 313; 2, 812282 ff. Die in der vorliegenden Arbeit benutzten Mikrofilme sind entnommen aus: Guides to German Records microfilmed at Alexandria, Va. No. 39 Records of the Reidi Leader of the SS and Chief of the German Police (Part III). Sie enthalten vornehmlich Material des Reichssicherheitshauptamtes, der Gestapo und des Berliner Polizeipräsidiums, aber audi kommunistisches Quellenmaterial im Original oder in Abschrift. M Vgl. das Referat Thälmanns auf dem X. Plenum des EKKI, in: Inprekorr 1929, Nr. 85 vom 4.9., S. 2005 ff.
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zur selbständigen Konkurrenzorganisation der Gewerkschaften zu machen. Dies um so eher, wenn für Paul Merker „der obere, mittlere und auch der untere Gewerkschaftsapparat — der untere ebenfalls bereits zu einem großen Prozentsatz" zu einem „durchaus sicheren Werkzeug in den Händen der Bourgeoisie zur Bekämpfung der Arbeiterklasse" geworden war. 60 Außerdem verlegte Paul Merker offensichtlich den Akzent seiner Streiktaktik auf die Erreichung wirtschaftlicher und weniger politischer Ziele. Dies konnte die Aussichten auf eine wirkliche Auslösung von Arbeitskämpfen erhöhen.®1 Ein dritter kontroverser Punkt war die Frage nach der Auswertung oder Beschränkung der Sozialfaschismustheorie. Losowsky und Merker nannten den gesamten Parteiapparat der Sozialdemokratie und den Gewerkschaftsapparat „sozialfaschistisch", ja weiteten die Sozialfaschismusthese praktisch auf sozialdemokratische Arbei-
60
So Paul Merker im Dezember 1929. Siehe Lehren und Aussiditen der Wirtschaftskämpfe. Referate und Schlußworte der Genossen H . Losowsky und Paul Merker, gehalten auf der VI. Session des Zentralrates der Roten Gewerkschafts-Internationale Dezember 1929. Moskau, Berlin 1930, S. 48. Der Gedanke, „rote Verbände" zu gründen, trat nach der Ausschaltung Merkers jedoch stärker hervor. So sprach sich der V. RGI-Kongreß im Sommer 1930 neben einer verstärkten Arbeit innerhalb der reformistischen Gewerkschaften audi für die Schaffung selbständiger Verbände unter bestimmten Bedingungen aus. Ende 1930 kam es zur Gründung des ersten „roten Verbandes" in Deutschland. Wohl auch nicht zuletzt wegen des Fehlschlags dieser Gründungen blieben die Forderung nadi Arbeit innerhalb der reformistischen Gewerkschaften und die Stärkung der RGO als Gewerksdiaftsopposition insbesondere seit 1931/32 die Hauptmerkmale kommunistischer Gewerkschaftspolitik in Deutschland. So wandte sich Thälmann, ohne allerdings die Existenz der „roten Verbände" infrage zu stellen, gegen die „falsche Gründung von lebensunfähigen, künstlich geschaffenen kleinen Verbändchen" aus. Siehe Thälmann: Der revolutionäre Ausweg . . ., S. 56.
61
Vgl. Merker, Paul: Lenin und der politische Massenstreik, in: Inprekorr 1930, N r . 5 vom 14.1, S. 91. Hier bezeichnete er Streikkämpfe mit der Forderung nadi dem Siebenstundentag, höheren Löhnen usw. als revolutionäre Kämpfe mit dem Schwerpunkt auf die Unorganisierten, Kämpfe, die dann, „über Nadit", in revolutionärpolitische Kämpfe umschlagen könnten. Dagegen fehlte der Hinweis auf die Verbindung der Teilforderungen mit der Parole von der Arbeiter- und Bauernregierung, wie es Manuilsky betont hatte, d. h. die unmittelbare Verknüpfung der Wirtschaftskämpfe mit dem Ziel der kommunistischen Machtergreifung. Vgl. auch Manuilsky: Fragen der Einheitsfronttechnik, in: Inprekorr 1930, N r . 29 vom 28. 3., S. 695. Inwieweit Merker die Tendenz hatte, Wirtschaftskämpfe so zum Selbstzweck zu machen, so daß seine Haltung ein anarcho-syndikalistisches Gepräge bekam, muß offen bleiben, wäre jedoch eine Konsequenz seiner Betonung der Wirtschaftskämpfe.
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ter aus, während die Komintern und die KPD nunmehr die SPD und die Gewerkschaften differenzierten. 62 Alle drei Punkte zusammengenommen ergaben eine politische Haltung, die Molotow mit dem Begriff einer „Ideologie des ,Radikalismus'" umschrieb, und deren Vertreter Remmele „verblendete Revolutionsromantiker" nannte. 63 Der Kampf an zwei Fronten und die leichte Modifizierung der Kominterntaktik standen in einem gewissen Zusammenhang mit dem zeitweiligen Abbremsen des radikalen innersowjetischen Kurses. Dieser Zusammenhang war jedoch zeitlich und sachlich nur ein mittelbarer, und der Bezug der Kominterntaktik zur sowjetischen Innenpolitik war nur noch ein lockerer. Während Stalins Atempause hauptsächlich innenpolitisch-wirtschaftliche Gründe hatte und nur eine kurze Zeit anhielt, hatte der Zweifrontenkampf der Komintern außenpolitische Gründe und einen langfristigen Charakter. So bestand zwischen der sowjetischen Innenpolitik und der Kominternpolitik in der Folgezeit eine deutlichere Kluft, da die Wiederaufnahme eines ultralinken Kurses in der Sowjetunion seit dem Sommer 1930 mit einer Kominterntaktik einherging, die außenpolitisch schädliche Unruhestiftung und Radikalität in kapitalistischen Ländern zu dämpfen trachtete und lediglich einen Druck auf die SPD und die Gewerkschaften ausüben wollte. So führte die leichte Modifizierung der Kominterntaktik vom Frühjahr 1930 auch zu keiner Abschwädiung des Kampfes gegen die Sozialdemokratie, sondern implizierte eine betonte Zuspitzung, denn die Differenzierung der SPD in einfache Anhänger, untere Funktionäre und „verräterische" Führung war die Voraussetzung der Anwendung der „Einheitsfronttaktik von unten", die gegen die sozialdemokratische Führung gerichtet war. Mit der Verschärfung des Kampfes gegen die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften vornehmlich aus außenpolitischen Gründen konnte die Komintern aber zugleich die Sektionen von allen ultralinken Bestrebungen ablenken, Bestrebungen, die ihre Hoffnungen vor allem auf die Unorganisierten und auf die sich radikalisierenden Arbeitslosen setzten.
62
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So sprach Merker im Dezember 1929 von 200 000 sozialdemokratischen Parteimitgliedern in Deutschland, „die fest in dem Staat-, Gewerkschafts- und Genossenschaftsapparat und in leitenden Stellen der kapitalistischen Produktion verwurzelt" seien. Mit dem Zuruf „42 000" erhob sich in der betreffenden Versammlung des Zentralrates der RGI bereits Widerspruch. Siehe : Lehren und Aussichten der Wirtschaftskämpfe . . ., S. 45. Rede Molotows auf dem 16. Parteitag der KPdSU im Sommer 1930, in: Inprekorr 1930, Nr. 58 vom 11. 7., S. 1322, und Remmele: Schritt halten . . ., Teil I, S. 157.
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Indem die Komintern es der KPD zur Auflage machte, als Voraussetzung siegreicher proletarischer Kämpfe zunächst die Mehrheit der Arbeiterklasse zu erobern, sich in den Betrieben, d. h. unter den beschäftigten und um ihren Arbeitsplatz bangenden weniger radikalen Arbeiter festzusetzen, lenkte sie die Aktivität der KPD gegen eine wohl kaum zerstörbare, organisatorisch sehr festgefügte und homogene Partei und ähnlich geartete Gewerkschaftsverbände.®4 Bei dieser kaum lösbaren Aufgabenstellung konnten alle Tendenzen innerhalb der Komintern, die die Sowjetunion im außenpolitischen Interesse nicht braudien konnte, erfolgreich abgelenkt werden. Mit diesem Ablenkungsmanöver konnte die Sowjetunion aber das erreichen, was sie anstrebte: den Druck auf die SPD und die Gewerkschaften. So ging die außenpolitisch motivierte Abwehr ultralinker Tendenzen mit einer ebenso motivierten Kampfstellung gegen die Sozialdemokratie Hand in Hand und dienten demselben Zweck, nämlicli den sowjetischen außenpolitischen Interessen zu nützen.
' 4 In der Kominternpresse wurde bis in das Jahr 1933 hinein immer wieder darauf hingewiesen, wie äußerst schwierig es sei, diese Organisation ernsthaft zu schwächen. So ist anzunehmen, daß die Komintern kaum wirklich die Zerschlagung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften erwartete.
IV. Deutsch-sowjetisches Einvernehmen und kommunistische Befreiungspropaganda 1. Deutsch-sowjetische
Zusammenarbeit
Das deutsch-sowjetische Communiqué und das klare Bekenntnis des deutschen Außenministers zu einer aktiven deutschen Ostpolitik leitete eine neue Phase deutsch-sowjetischer Beziehungen ein. Curtius' Absicht, die deutsche Außenpolitik nunmehr unabhängiger, weniger eindeutig westlich orientiert zu gestalten, bot der Sowjetunion neue Möglichkeiten, die sie auszunutzen gedachte. Sie suchte das „Selbständigkeitsstreben", die Emanzipation der deutschen Außenpolitik durdi Vertiefung des deutsch-französischen Gegensatzes zu fördern, eine gemeinsame deutschsowjetische Interessengemeinschaft gegen Frankreich zustandezubringen und schließlich die deutsch-sowjetischen Beziehungen durch verstärkte Bande wirtschaftspolitischer Art zu vertiefen und zu verankern. Die sowjetische Deutschlandpolitik in dieser alten Kombination lebte zwei Tage nach der Reichstagserklärung des deutschen Außenministers in der Rede Stalins auf dem 16. Parteitag der KPdSU wieder auf. In ihr wies Stalin auf die Verpflichtungen hin, die der Young-Plan Deutschland aufgebürdet habe und die Deutschland unmöglich erfüllen könne. Anschaulich illustrierte Stalin die deutsche Abhängigkeit von den Versailler Mächten durch den Neuen Plan und machte dafür Deutschlands Westorientierung verantwortlich. Ganz deutlich versudite er, die deutsche Verständigungspolitik gegenüber dem Westen als eine Politik des Verzichts auf außenpolitische Selbständigkeit, als Unterwerfungspolitik eines Besiegten unter die Botmäßigkeit der Sieger zu diskreditieren. 65 Stalins bekannter, in seiner Schärfe kaum zu überbietender Angriff auf Frankreich als die führende antisowjetische Macht68 ließ die These von Frankreich als dem Hauptorganisator einer kapitalistischen antisowjetischen Einheitsfront wieder aufleben und stand mit dem Versuch in Zu-
• 5 Die Rede Stalins ist wiedergegeben in: Inprekorr 1930, Nr. 55 vom 1. 7., S. 1213 ff. «« Ebda. S. 1217. 3 Weingartner
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Deutsch-sowjetische
Zusammenarbeit
sammenhang, den Gegensatz zwischen Deutschland und seinen „Unterdrückern" herauszustellen. Beides waren Bestandteile einer einheitlichen außenpolitischen Gesamtkonzeption der Sowjetunion: deutsdi-sowjetische Zusammenarbeit auf der Grundlage eines gemeinsamen Interessengegensatzes zu Frankreich. Mit dem offiziellen Glückwunsch, den Litwinow dem deutschen Außenminister am 3. Juli anläßlich der vollständigen Räumung des Rheinlandes von ausländischen Truppen sandte, wurde diese von Stalin wiederaufgenommene sowjetische außenpolitische Linie nunmehr diplomatisch fortgesetzt. In diesem Glückwunsch erinnerte Litwinow daran, daß allein die Sowjetunion stets gegen die Besetzung deutschen Bodens eingetreten wäre und öffentlich 1923 gegen die Besetzung eines Teiles von Deutschland protestiert hätte. Jetzt empfände sie eine besondere Befriedigung („particular satisfaction") darüber, daß die Rechte des deutschen Volkes im Rheinland wiederhergestellt worden wären. 67 Dieses Telegramm war eine demonstrative Geste, da sowohl Reichspräsident Hindenburg wie audi Curtius anläßlich der Rheinlandräumung den selbständigeren außenpolitischen Kurs unterstrichen und jeden Dank gegenüber Frankreich vermieden. 68 Litwinow wollte so mit seinem Telegramm die kühlere Haltung Deutschlands gegenüber Frankreich bestärken und den Gegensatz der Sowjetunion zu Frankreich und dem Versailler System unterstreichen. Diesem Bemühen der Sowjetunion kam die Gestaltung des deutschfranzösischen Verhältnisses auf Grund der innerpolitischen Entwicklung in Deutschland entgegen. Schon die „Undankbarkeit" Deutschlands auf diplomatischer Ebene verletzte Frankreich. Darüber hinaus riefen die nationalistischen Ausbrüdie, die in Deutschland die Rheinlandräumung begleiteten, in Frankreich erhebliche Mißstimmung hervor. Die ersten Bedenken gegenüber der deutschen revisionistischen Rechten tauchten auf. Nach der Rheinlandräumung wuchs die nationalistische Stimmung in Deutschland aber zu einer bedeutsamen „nationalen Rechten" mit ihren Hauptvertretern D N V P und NSDAP an, die ihre Agitation auf θ7
68
Telegramm Litwinows vom 3. 7. 1930, in: Soviet Documents on Foreign Policy. Sel. and ed. by Jane Degras. London-New York-Toronto. Vol. II, London 1952, S. 447. Der Aufruf des Reichspräsidenten und der Reichsregierung vom 30. Juni 1930 anläßlich der Räumung ist wiedergegeben in: Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte. Hrsg. von Ernst Rudolf Huber. Bd. III. Stuttgart 1966, S. 424 f. Curtius selbst hatte es im Einverständnis mit Brüning abgelehnt, einer Anregung des deutschen Botschafters in Paris, von Hoesdi, zu folgen und einen Dankesbesuch bei Briand abzustatten, was diesen sehr verletzte. Vgl. Curtius, S. 137.
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eine rücksichtslose Revisionspolitik konzentrierte. Sie forderte nicht nur die Verweigerung der Reparationszahlungen, sondern auch die vollkommene Aufhebung des Versailler Vertrages und seiner territorialen und militärischen Bestimmungen.69 Der gewaltige Erfolg der Nationalsozialisten in den Reichstagswahlen vom September 1930, die die Anzahl ihrer Mandate von bisher 12 auf 107 hinaufschnellen ließen, wirkte in Frankreich wie ein Schock.70 Briand fühlte sich durch das Wachsen des Revisionismus in Deutschland persönlich getroffen und in seiner innenpolitischen Stellung geschwächt, denn sein außenpolitischer Kurs des allmählichen Ausgleichs mit Deutschland wurde in Frankreich für den wachsenden Nationalismus in der deutschen Innenpolitik verantwortlich gemacht. 71 So leitete Frankreich einen neuen Kurs seiner Deutschlandpolitik ein, und die deutsch-französischen Beziehungen wurden „sehr reserviert". 72 Die Sowjetunion mußte die deutsch-französische Entfremdung um so mehr begrüßen, da sich ihre Beziehungen zu Frankreich in der zweiten Jahreshälfte von 1930 weiter verschlechterten.73 So verstärkte die Sowjetunion ihre Propaganda gegen Frankreich, betonte die gemeinsamen deutsch-sowjetischen Interessen und unterstützte propagandistisch deutsche Revisionswünsche, um zur Versteifung des deutsch-französischen Verhältnisses beizutragen.74 Auf diplomatischer Ebene kam es ihr darauf an, Deutschland zu einem Zusammengehen gegen Frankreich zu gewinnen. Ende Oktober, kurz vor der Eröffnung der Abrüstungsgespräche in Genf, äußerte Litwinow gegenüber Dirksen seine Hoffnung, daß Deutschland und die Sowjetunion in Genf eng zusammenarbeiten sollten. Die gemeinsamen Interessen, so führte er aus, könnten dieses
·* Im Zusammenhang mit den deutschen Reparationsverhandlungen 1929 hatten die D N V P und N S D A P Ende 1929 zum Volksbegehren gegen die Annahme des YoungPlans aufgerufen. 70
Vgl. Zimmermann, Ludwig: Deutsche Außenpolitik in der Ä r a der Weimarer Republik. Göttingen 1958, S. 402.
71
Zur Schwächung der innenpolitischen Stellung Briands vgl. das Schreiben R. H . Campbells (Paris) an Henderson vom 16. 9 . 1 9 3 0 , in: Documents on British Foreign Policy, 1919—1939. Ed. by E . L. Woodward and R. Buttler. Second Series. Vol. I. London 1947, S. 509 fi.
« Curtius, S. 170. 73
Durch Dekrete am 3 . 1 0 . 1930 hatte Frankreich praktisch ein französisch-sowjetisches Handelsembargo eingeleitet.
74
Zum Prozeß gegen die sogenannte Industriepartei in der Sowjetunion, der sich außenpolitisch scharf gegen Frankreich richtete, vgl. Schapiro, S. 415, und Fainsod, Merle: H o w Russia is Ruled. Cambridge, Mass. 1961, S. 363 f.
1»
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Mal wirksam zur Geltung gebracht werden, da Italien, die Türkei und auch England die gleichen Ziele verfolgten. Scharf nahm er bei dieser Gelegenheit gegen Frankreich Stellung. Es erstrebe die Vorherrsdiaft in Europa und unterdrücke andere Staaten. „Mit Frankreich", so meinte Litwinow, „könne man keine Politik machen.75 Litwinows Ziel war es, Frankreich und seine Verbündeten bei den bevorstehenden Genfer Abrüstungsverhandlungen zu isolieren. Programmatisch erklärte er bei seinem Zwischenaufenthalt in Berlin auf dem Wege nach Genf, daß die Grundlagen der sowjetischen Außenpolitik in der Freundschaft zu Deutschland und der Türkei, in guten Beziehungen zu Italien und Großbritannien und in der Bekämpfung der französischen Hegemonialbestrebungen bestünden. 78 Tatsächlich kam es auf der am 6. November 1930 in Genf zusammengetretenen Vorbereitenden Abrüstungskommission wieder zur praktischen deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit. Hier hatte Litwinow darauf verzichtet, auf dem alten sowjetischen Vorschlag einer totalen Abrüstung zu bestehen, und machte den Vorschlag, wenigstens bestimmte Einzelfragen, die durch einen deutschen Antrag in den Vordergrund gestellt worden waren, zu behandeln. 77 Im Laufe der Diskussionen bildete sich bald ein Block der sowjetischen, deutschen und italienischen Delegation gegen Frankreich, seine Verbündeten und Großbritannien. Die Sowjetunion unterstützte wie bisher die deutsche Haltung in der Abrüstungsfrage, und beide Staaten lehnten den Konventionsentwurf der Kommission ab. 78 Auch nach den Genfer Verhandlungen wollte die Sowjetunion eine gemeinsame deutsch-sowjetische Frontstellung, verstärkt durch Italien und die Türkei, gegen Frankreich als Grundlage ihrer Außenpolitik beibehalten.79 75
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Vgl. das Telegramm Dirksens vom 28.10. 1930 über ein Gespräch mit Litwinow, in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 26, 2860/D 561871—72. Vgl. die Niederschrift von Curtius vom 3. 6.1930 über sein Gespräch mit Litwinow, in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 26, 2860/D 561876—82. Vgl. auch Klein, Fritz: Die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zur Sowjetunion 1917—1932. Berlin 1952, S. 166, und Belofï, Max: The Foreign Policy of Soviet Russia 1929—1941. Vol. I. Oxford Univ. Press. London-New York 1949, S. 47 und 49. Vgl. Vogelsang, Thilo: Reichswehr, Staat und N S D A P . Beiträge zur deutschen Geschichte 1930—1932. Stuttgart 1962, S. 97 f. Vgl. den Bericht des Redaktionsmitgliedes der Deutschen Tageszeitung, Wilhelm Hack, über seine Moskauer Unterredung mit Litwinow und Worosdiilow im Dezember 1930, in: PA, IV Ru, Politik 2, Bd. 16, L 622/L 197549—56.
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Um ein engeres deutsch-sowjetisches Verhältnis stärker abzusichern, bemühte sich die Sowjetunion zu dieser Zeit auch, die Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland zu intensivieren. Ihr besonderes wirtschaftliches Interesse zeigte sie mit der Ernennung Tschintschuks zum Nachfolger Krestinskis im September 1930 als Botschafter in Berlin. Tschintsdiuk, der als Anhänger guter deutsch-sowjetischer Beziehungen galt, war selbst Wirtschaftsfachmann. Demzufolge sah er seine Aufgabe vornehmlich auf dem Gebiet des Ausbaus der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen.80 Dabei handelte es sich für die Sowjetunion vor allem darum, mehr Kredite für den Kauf von deutschen Waren zu erhalten und für die Kredite selbst eine Garantie der deutschen Regierung durchzusetzen.81 Die deutsche Wirtschaft hatte gerade wegen der Wirtschaftskrise ein besonderes Interesse am Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion, konnte man doch weiteren Stillegungen von Unternehmen entgegenwirken. 82 So ergab sich ein gemeinsames Interesse der Sowjetunion und deutscher Wirtsdiaftskreise, das seinen Eindruck auf die deutsche Regierung nicht verfehlte. Wenn auch innerhalb der Reichsregierung gewisse Befürchtungen über die möglichen reparationspolitischen Auswirkungen einer Kreditvergabe an die Sowjetunion geäußert wurden, so überwogen doch die positiven Stimmen. Nicht zuletzt sah man eine Intensivierung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen unter dem Gesichtspunkt, durch sowjetische Aufträge in gewissem Umfange die Arbeitslosigkeit verringern zu können. 83 Da die deutsche Regierung aber einem von der Sowjetunion gewünschten speziellen Kreditvertrag aus dem Wege gehen wollte, entschloß sich die Sowjetunion schließlich zu einem anderen Verfahren. Anfang Januar 1931 regte der Oberste Volkswirtschaftsrat der Sowjetunion einen Besuch von führenden Vertretern der deutschen Industrie in der Sowjetunion an.84 Ende Februar 1931 bereiste eine Reihe von Vertretern deutscher Industrie-
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Vgl. das Telegramm Twardowskis vom 26. 9.1930, in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 26, 2860/D 561852—53. Uber Wirtschaftsfragen im einzelnen vgl. Niclauss, Karlheinz: Die Sowjetunion und Hitlers Machtergreifung. Eine Studie über die deutsch-russischen Beziehungen der Jahre 1929—1935. Bonner Historische Forschungen, Bd. 29. Bonn 1966, S. 44 ff. Tatsächlich trugen die sowjetischen Aufträge während der Wirtschaftskrise dazu bei, einige wichtige deutsche Unternehmen vor Stillegung zu bewahren. Vgl. den Auszug aus der Niederschrift über die Ministerbesprediung vom 30. 3.1931, in: Bundesarchiv, Reichskanzlei, R 43 1/139, 1. 196063—69. Vgl. die Niederschrift von Curtius vom 13. 1. 1931 über eine Besprechung mit Tschintschuk, in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 26, 2860/D 561984—87.
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unternehmen die Sowjetunion. Die sich daran anschließenden Wirtschaftsverhandlungen führten am 14. April zum sogenannten PjatakowAbkommen. 85 Es sah vor, daß die Sowjetunion bei deutschen Firmen auf der Basis von Krediten für 300 Millionen RM Güter bestellen konnte. Die Reichsregierung übernahm für diese Kredite, die eine abgestufte Laufzeit von etwa einem bzw. zwei Jahren hatten, eine Garantie. 86 Insgesamt handelte es sich für die Sowjetunion um den Versuch, Deutschland außenpolitisch wie wirtschafts- und kreditpolitisch langfristig an die Sowjetunion zu binden. 87
2. Der Beginn und die Bedeutung einer kommunistischen Be freiungsp ropagan da Um die Mitte des Jahres 1930 trat audi die Kominternpolitik in Deutschland in eine neue Phase. Grundsätzlich hielt sie an ihrer bisherigen Taktik fest, bereicherte sie jedoch um eine neue Dimension und antwortete so auf eine innenpolitische Entwicklung, die unter den zunehmenden Druck des fortschreitenden nationalsozialistischen Aufstiegs geriet. Seit dem Herbst 1929 hatte die NSDAP auf Kommunalebene größere Wahlerfolge erringen können. In den thüringischen Landtagswahlen vom 8. Dezember z. B. war sie so stark geworden, daß sie erstmals mit Fridc als Innenminister in einer Landesregierung vertreten war. 88 Zum Kampf gegen die Nationalsozialisten hatte die Rote Fahne am 5. November die Losung Heinz Neumanns: „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft" herausgegeben89, und in der Folgezeit erschöpfte sich im wesentlichen die Reaktion der KPD gegen die NSDAP darin, terroristi-
85
Vgl. audi Niclauss, S. 47.
88
Das Abkommen ist wiedergegeben in: Soviet Documents..., Vol. III. London-New York-Toronto 1953, S. 490 f.
87
Die gegenseitigen militärischen Beziehungen ließen für die Sowjetunion zur gleichen Zeit nichts zu wünschen übrig. Siehe die Bemerkung Woroschilows zu Wilhelm Hack. Vgl. Fußnote 79.
88
Vgl. Bracher, Karl Dietrich: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtzerfalls in der Demokratie. Stuttgart und Düsseldorf 1957, S. 335.
89
Leitartikel in der Roten Fahne vom 9.11.1929.
Beginn und Bedeutung einer kommunistischen
Befreiungspropaganda
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sehen Angriffen der NSDAP mit gleichen Mitteln zu begegnen.90 Seit dem Frühjahr 1930 hatte die Komintern sich mehr dem Wachsen der NSDAP zugewandt, eine stärkere „ideologische Bekämpfung" dieser Partei und die Unterscheidung zwischen nationalsozialistischer Führung und Anhängern gefordert. Es war aber weniger das Wachsen der NSDAP an sich, das die Komintern nunmehr besonders beachtete, sondern vielmehr die Tatsache, daß Losowsky und Paul Merker mit ihrer Theorie von der „einheitlichen reaktionären Masse" Sozialfaschismus und Nationalsozialismus „in einen Topf" geworfen hatten. Die „Entdeckung" 91 des Nationalsozialismus war ein Element der taktischen Modifizierung der Komintern vom Frühjahr, die den Aktivismus Paul Merkers zurückdrängen sollte und deshalb mit einer schärferen Frontstellung gegen die Sozialdemokratie, nicht aber mit einer Absdiwächung des Kampfes gegen die SPD zugunsten des Nationalsozialismus einherging. Erst das Ergebnis der Landtagswahlen in Sachsen am 22. Juni 1930 überraschte die Komintern und KPD. Man hatte zwar mit einem nationalsozialistischen Zuwadis, nicht aber mit der Erhöhung der nationalsozialistischen Landtagsmandate fast auf das Dreifache gerechnet.92 Offensichtlich aufgeschreckt durch diesen Erfolg der NSDAP wurde nun die bisherige Unterschätzung der nationalsozialistischen Gefahr zugegeben.93 Das Ergebnis der Sachsenwahlen hatte gezeigt, daß das Volksbegehren Hugenbergs und Hitlers gegen den Young-Plan kein bloßer „Volksabstimmungsrummel" 94 ohne nennenswerte innenpolitische Be-
90
91 92
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94
Vgl. das Referat Thälmanns auf dem Plenum des ZK der KPD im Oktober 1929, in: Thälmann, Ernst: Reden und Aufsätze zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung. Bd. II. (Ost-)Berlin 1956, S. 261. So Tjaden, S. 178. Vgl. Bracher: Die Auflösung . . . , S. 335. Die Mandate der Nationalsozialisten hatten sich von 5 auf 14 erhöht. Dazu vgl. Berthold, Lothar: Das Programm der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes vom August 1930. (Ost-)Berlin 1956, S. 72, und Renner, R.: Die Sachsenwahlen und ihre Lehren, in: Die Internationale 1930, Heft 13/14 vom Juli, S. 404. „Wir sprechen es offen aus: Wir haben lange die Gefährlichkeit der nationalsozialistischen Bewegung unterschätzt. Es ist höchste Zeit, Versäumtes n a c h z u h o l e n . . S o Jakobs, H . : Das Ergebnis der sächsischen Landtagswahlen, in: Inprekorr 1930, Nr. 53 vom 24. 6., S. 1165. So auch gekennzeichnet in: Inprekorr 1930, Nr. 50 vom 13. 6., S. 1107. Im Juli 1929 hatten die D N V P unter Hugenbergs Führung und der Stahlhelm zum Volksbegehren gegen eine Annahme des Young-Plans aufgerufen, dem sich auch die
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Deutsch-sowjetische
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deutung gewesen war, sondern daß die rechtsradikale Opposition in Deutschland zu einem ernsthaften innenpolitischen Faktor wurde. Es gab aber unmittelbar nach den Sachsenwahlen noch nicht das geringste Anzeichen dafür, daß die Komintern ihre Propaganda und Kampfmethoden gegenüber der N S D A P neu formulieren wollte. Als am 18. Juli Brüning wegen der Ablehnung seiner Notverordnung durch den Reichstag das Parlament auflöste, wurde die Sowjetunion vor eine neue Situation gestellt, denn ihr bot sich die Chance, über die Komintern und die K P D unmittelbar während des bevorstehenden Wahlkampfes die deutsche innenpolitische Entwicklung zu beeinflussen. Da die Sowjetunion aber mit nationalsozialistischen Wahlerfolgen nun auch auf Reichsebene rechnete, war die Frage nach dem taktischen Verhalten gegenüber der N S D A P besonders dringlich. 95 Die Antwort bestand in der „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes", die die Rote Fahne am 24. August 1930 veröffentlichte und mit der die K P D in den Wahlkampf ging. 96 In diesem Programm griff die K P D die Regierungsparteien und die Sozialdemokratie an, „Hab und Gut, Leben und Existenz des werktätigen deutschen Volkes meistbietend an die Imperialisten des Auslandes" verkauft zu haben, und nahm für sich in Anspruch, allein sowohl gegen den Young-Plan als auch gegen den „Versailler Raubfrieden, dem Ausgangspunkt der Versklavung aller Werktätigen Deutschlands", und gegen alle daraus entstandenen Verträge gekämpft zu haben. Den Nationalsozialisten warf sie Verrat an den nationalen Interessen Deutschlands vor, da diese z.B. die Interessen der Südtiroler dem italienischen Faschismus geopfert hätten. Außenpolitisch verlangte sie insgesamt die „Zerreißung" des Versailler Friedens, die Annullierung der Reparationen und aller internationaler Schulden Deutschlands, die Durchsetzung des vollen Selbstbestimmungsrechtes aller Nationen, Sicherung der Möglichkeit, daß im Einvernehmen mit den revolutionären Arbeitern Frankreichs, Englands, Polens, Italiens und der Tschechoslowakei diejenigen deutschen Gebiete, die es wünschten, sich einem Sowjetdeutschland an-
N S D A P angeschlossen hatte. Als die erforderliche Anzahl von Unterschriften aufgebracht worden war, fand am 29. 12.1929 der Volksentscheid statt. Wenn er auch negativ ausging, so hatte diese Kampagne doch wesentlich zur Nationalisierung der innenpolitischen Stimmung und zu den wachsenden potentiellen Erfolgen der N S D A P beigetragen, ihr erst den Durchbruch in Deutschland ermöglicht. 95
Leitartikel der Iswestija vom 1 9 . 7 . 1 9 3 0 , in: Inprekorr 1930, Nr. 61 vom 22. 7., S. 1436. · · Auch abgedruckt in Thälmann: Reden und Aufsätze . . . , Bd. II, S. 530 ff.
Beginn und Bedeutung
einer kommunistischen
Befreiungspropaganda
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schließen könnten. Schließlich versprach sie im Falle ihrer „Machtergreifung" ein festes Bündnis zwischen Sowjetdeutschland und der Sowjetunion. Der außenpolitischen Programmerklärung schlossen sich sehr radikale innenpolitische Forderungen an, die in ihrer Formulierung stark auf die „antikapitalistische" Stimmung der nationalsozialistischen Wählermassen abgestimmt waren. Die K P D und Komintern wollten dieses sogenannte Befreiungsprogramm nicht als bloßes wahltaktisches Manöver aufgefaßt wissen. Uber den aktuellen Anlaß der Wahl hinaus sollten die in ihm niedergelegten Grundsätze zur „Achse" der kommunistischen Politik in Deutschland werden. So leitete das Befreiungsprogramm in Deutschland eine langfristige Taktik ein, die an die nationalbolsdiewistischen Traditionen der K P D wieder anknüpfte, denn das Programm erklärte nationale Befreiung und sozialistische Revolution für eine untrennbare Einheit: N a tionale Befreiung war nur durch eine sozialistische Revolution möglich, sozialistische Revolution wiederum war ein Mittel nationaler Befreiung und außenpolitischen Selbstbehauptungswillens. Je nach Bedarf konnte in der politischen Agitation und Propaganda dieser oder jener Aspekt betont werden. Mit diesem Programm glaubte die K P D ein wirksames Instrument in der Hand zu haben, um den Nationalsozialismus bekämpfen zu können. Sie hoffte nicht nur, in seine Front eindringen zu können, sondern auch für die potentiellen Wähler der N S D A P attraktiv zu werden. Voraussetzung für die Anwendung des Befreiungsprogramms schien aber, in dem nationalsozialistischen Wählerpotential ein positives Element für den revolutionären Kampf zu sehen, ein Element, das man ausnutzen sollte. Zudem waren nur dann Erfolge gegenüber den Nationalsozialisten möglich, wenn die K P D die N S D A P mit der Behauptung übertrumpfte, daß nur sie, die K P D , imstande und willens sei, für die nationalen Interessen Deutschlands einzutreten, während die N S D A P als Landsknechte des Kapitals ihre Wähler nur betröge. So beruhte die taktische Linie des Befreiungsprogramms auf dem Monopolanspruch der K P D , Deutschlands nationale Befreiung erkämpfen zu können. D a die K P D jedoch nunmehr als Konkurrenzpartei der N S D A P die Nationalsozialisten nicht durch Dämpfung nationalistischer Stimmungen, sondern durch deren Ubersteigerung zu bekämpfen suchte und darüber hinaus auch ihre weniger national-emotional eingestellten proletarischen Anhänger auf eine nationalistische Gesinnung verpflichtete, mußte es äußerst fragwürdig sein, ob das Befreiungsprogramm das geeignete Kampfmittel gegen die nationalsozialistische Bewegung sein würde.
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Deutsch-sowjetische
Zusammenarbeit
So war denn das entscheidende Motiv für die Proklamierung des Befreiungsprogramms auf einer anderen Ebene zu finden. Wenn auch das Programm wohl von Mitgliedern der KPD selbst ausgearbeitet worden war, so soll doch der entscheidende Anstoß von der Komintern, wenn nicht von Stalin persönlich gekommen sein.97 Zweifellos kann man hier von einem mittelbaren, wenn nicht unmittelbaren Eingriff der Komintern zum Zwecke einer Neuformulierung bzw. Ergänzung der kommunistischen Taktik in Deutschland sprechen98, die innerhalb der KPD allerdings auf starke Widerstände stieß.99 Die kommunistische Befreiungspropaganda entsprach vor allem dem außenpolitischen Interesse der Sowjetunion, die deutsch-französische Entfremdung zu vertiefen, denn die Sowjetunion hatte inzwischen den zunehmenden Einfluß der deutschen innenpolitischen Entwicklung auf die Gestaltung der außenpolitischen Verhältnisse und Beziehungen erkannt. Im Zusammenhang mit der Rheinlandräumung hatte sich ganz besonders deutlich gezeigt, in welchem Maße die nationalistisch-antifranzösische Agitation der Rechtsradikalen zu einer deutsch-französischen Verstimmung beigetragen hatte. Man geht sicher in der Annahme nicht fehl, in dem Glückwunsch Litwinows zur Rheinlandräumung die erste diplomatisch formulierte Andeutung einer kommunistischen Befreiungspropaganda sehen zu dürfen. Seine Erinnerung an den Einmarsch der Franzosen in das Ruhrgebiet 1923 sollte ö l in das Feuer der nationalen Stimmung gießen. So hatte die sowjetische Diplomatie in gewisser Weise die erst im August inaugurierte taktische Linie vorweggenommen.
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Vgl. Schiiddekopf, Otto-Ernst: Linke Leute von Rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik. Stuttgart 1960, S. 289. Nach Kurt Müller (mündliche Mitteilung) entstand das Programm vor allem auf Initiative Heinz Neumanns unter Zusammenarbeit mit Willy Münzenberg. Es war sicher nicht zufällig, daß Stalin auf dem 16. Parteitag der KPdSU die abhängige Stellung Deutschlands gegenüber dem Westen herausstellte, Heinz Neumann dagegen als Delegierter der K P D auf diesem Parteitag angesichts des Ergebnisses der Sachsenwahlen die Forderung nach einem neuen Verhältnis der K P D gegenüber den kleinbürgerlichen nationalsozialistischen Anhängermassen erhob. Die Rede Neumanns ist wiedergegeben in: Inprekorr 1930, Nr. 58 vom 11. 7., S. 1353 ff. So erklärte Thälmann noch im Februar 1932 auf der Plenartagung des ZK: „Es gab und es gibt heute noch die allergrößten Hemmungen in der Partei in dieser Frage", nämlich der „richtigen leninistischen Linie in der Frage der Außenpolitik, in der Frage des Versailler Systems und des Young-Plans, in der Frage des nationalen Freiheitskampfes . . S i e h e Thälmann: Der revolutionäre Ausweg . . . , S. 46.
Beginn und Bedeutung
einer kommunistischen
Befreiungspropaganda
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Die Sowjetunion hatte jedoch nicht nur an Hand der Resonanz in Frankreich die nationale Redite als Element deutsch-französischer Entfremdung schätzen lernen können. Sie sah in Deutschland eine politische Bewegung anwachsen, die in unversöhnlicher Haltung gegenüber Frankreich durch rücksichtslose Opposition und Propaganda versuchte, die deutsche Regierung an einer Aussöhnung mit Frankreich zu hindern und Konzessionen an Frankreich unmöglich zu machen. Darüber hinaus zeichnete sich schon deutlich die Tendenz ab, daß die deutsche Regierung durch die Agitation der Rechten noch stärker auf den Weg einer selbständigeren deutschen Außenpolitik gedrängt wurde. Tatsächlich beruhte das Verhalten Hindenburgs und des deutschen Außenministers anläßlich der Rheinlandräumung, das in Frankreich ein enttäuschtes Echo auch auf diplomatischer Ebene hervorgerufen hatte, teilweise auf der Einsicht, daß sich eine nationalere Politik audi aus innenpolitischen Gründen empfahl. 100 So kam es angesichts dieses Zusammenhanges der Komintern während des Wahlkampfes darauf an, vor allem die Sozialdemokratie zu schwächen, die sowohl von der KPD und von der NSDAP für den Young-Plan verantwortlich gemacht wurde. Zwar erklärte man die NSDAP zum zweiten Hauptfeind, doch zeigte die Komintern sich nicht daran interessiert, daß die SPD etwa von möglichen Kampferfolgen der KPD gegen die NSDAP profitieren sollte.101 Das Wahlergebnis vom September 1930 kam durch das Anwachsen der nationalsozialistischen Mandate von bisher 12 auf 107 einem innenpolitischen Erdrutsch gleich. Audi die Kommunisten konnten ihre Mandatszahl erhöhen. Gegen 54 im Jahre 1928 verfügten sie nun über 77 Mandate. Dagegen hatten die Sozialdemokraten Stimmenverluste erlitten, denn die Zahl ihrer Reidistagssitze war von 153 auf 143 gesunken. Die Erwartungen der Sowjetunion und der Komintern über den möglichen Erfolg der KPD wurden nicht sehr beträchtlich überboten. 102 Der Vor-
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Drei Wochen vor den Reichstagswahlen erklärte Brüning in der Kabinettssitzung vom 20. 8.1930, „daß die Außenpolitik durch die Nationalsozialisten in stärkstem Maße in den Vordergrund gerückt werde". Zitiert bei: Heibich, Wolfgang: Die Reparationen in der Ära Brüning. Zur Bedeutung des Young-Plans für die deutsche Politik 1930—1932. Berlin 1962, S. 15. Vgl. Neubauer, Th.: Die Sozialdemokratie im Wahlkampf, in: Inprekorr 1930, Nr. 74 vom 2.9., S. 1829. Hier hieß es, im Wahlkampf den Nationalsozialismus zurückzuschlagen, wäre von zweifelhaftem Wert, wenn der „Sozialf aschismus" die Früchte ernten und seine Positionen verstärken würde. Die KPD hatte etwas mehr als 4,6 Mill. Stimmen erhalten, während Pjatnitzki mit ungefähr 4 Mill, gerechnet hatte. Für die NSDAP hatte er keine Prognose gestellt.
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marsch der NSDAP aber war audi für sie, wie nidit anders zu erwarten, eine völlige Überraschung; wichtig war jedoch, wie dieser Erfolg interpretiert wurde. Ähnlich wie die Komintern äußerte die Prawda ihre Genugtuung über die „schwere Niederlage der Sozialdemokratie" und wies darauf hin, daß Millionen ihre Stimme der NSDAP als Kämpfer um die soziale Befreiung und das Abwerfen des Versailler Jodies gegeben hätten. 103 Damit anerkannte das Parteiblatt indirekt die außenpolitische Bedeutung dieser Wahlen, denn das Wahlergebnis wurde gleichsam als Votum gegen Frankreich und gegen eine deutsdi-französische Zusammenarbeit interpretiert. 104 So machte die Reaktion der Komintern und der Prawda deutlich, daß der Wahlsieg der Nationalsozialisten insofern für die Sowjetunion auch ein Erfolg war, da ein enges deutsdi-französisches Verhältnis für die deutsche Regierung angesichts einer so starken revisionistischen Bewegung jetzt schwieriger denn je sein würde. Doch wurden auch schon zu diesem Zeitpunkt sowjetische Stimmen laut, die die NSDAP nicht nur unter dem Aspekt des deutsch-französischen Verhältnisses sahen, sondern auf die gegen Frankreich und die Sowjetunion gerichtete außenpolitische Programmatik der NSDAP hinwiesen. In der Sowjetunion hatte man sich offenbar schon mit dem außenpolitischen Programm der NSDAP befaßt. So erklärten die Iswestija vom 18. September zum Wahlergebnis, daß eine Regierung mit Einschluß der NSDAP ein Bündnis mit Großbritannien und Italien suchen würde. Sie wiesen auf die antisowjetische Hetze der nationalsozialistischen Presse hin und meinten, daß ein Eintritt der NSDAP in die Regierung jedenfalls eine Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehungen zur Folge haben würde. 105 Damit wurden im sowjetischen Regierungsblatt durchaus deutliche, wenn auch begrenzte Befürchtungen
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Vgl. Pjatnitzki, O.: Alle Sektionen der Kommunistischen Internationale können und müssen zu wirklidien Massenparteien werden, in: Inprekorr 1930, Nr. 74 vom 2. 9., S. 1825. Prawda vom 16. 9.1930, in: Inprekorr 1930, Nr. 79 vom 19. 9., S. 1959. Der Leitartikel der KI deckte sich inhaltlich mit dem Artikel der Prawda. Vgl. Die historischen Wahlen, Leitartikel der KI, Heft 35 vom Oktober 1930, S. 1869 ff. Audi Thälmann hob in seiner Stellungnahme die internationale Bedeutung der Wahlen hervor. Außer in Italien würden in anderen kapitalistischen Ländern die Wahlen gewissermaßen als „Volksentscheid" gegen den Young-Plan und den Versailler Vertrag aufgefaßt. Vgl. Thälmann: Die K P D nach den Reidistagswahlen, in: KI, ebda. S. 1940 ff. Iswestija vom 18. 9.1930, in: PA, IV Ru, Politik 2, Bd. 16, L 622/Blatt 006
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Befreittngspropaganda
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vor einer Regierung mit Einschluß der N S D A P im Hinblick auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen angemeldet. Eine nationalsozialistische Regierungsbeteiligung schien so keinesfalls im außenpolitischen Interesse der Sowjetunion zu liegen. Wenige Monate später stellte Litwinow einem deutschen Journalisten die Frage: „Was wollen die Nationalsozialisten eigentlich außenpolitisch?" Er könne nicht verstehen, daß die N S D A P ebenso gegen Frankreich wie gegen die Sowjetunion orientiert sei. „Das schließe eine erfolgversprechende Außenpolitik doch aus." 106 Litwinow schien vor allem ratlos gegenüber einer f ü r ihn unverständlichen außenpolitischen Haltung der N S D A P und unsicher darüber, wie sich die Nationalsozialisten tatsächlich in der Regierungsverantwortung außenpolitisch verhalten würden. Eine fruchtbare Außenpolitik konnte er sich nur vorstellen in der Form der Alternative: mit Frankreich oder mit der Sowjetunion. In dieser gewissen auftauchenden Besorgnis und dem fragenden Zweifel Litwinows über eine künftige nationalsozialistische Ostpolitik kündigte sich schon sehr f r ü h die ambivalente Haltung gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung an, die f ü r die Sowjetunion charakteristisch bleiben, sich jedodi erst im Verlauf des Jahres 1932 immer deutlicher und bestimmter herauskristallisieren sollte. Dieses ambivalente Verhältnis ergab sich aus der antifranzösischen, antisowjetischen und militantaggressiven Einstellung der N S D A P , und die Sowjetunion stand jeweils vor der Frage, welcher Aspekt der ihr wichtigere war. Trotz des spektakulären Wahlerfolges der N S D A P stand bei der Sowjetunion damals der antifranzösische Aspekt im Vordergrund. Außer bei den Iswestija indirekt und bei Litwinow direkt wurde in allen anderen Äußerungen der Sowjetunion und der Komintern der Erfolg der N S D A P auf den steigenden antifranzösischen Revisionismus zurückgeführt. Die Frage, inwieweit die Massen auf Grund der antikommunistisch-antibolschewistischen Propaganda Hitlers zur N S D A P gestoßen waren, wurde zu dieser Zeit weder in der Prawda noch in der übrigen kommunistischen Presse gestellt. Dies war auch verständlich, da Hitler sich während des Wahlkampfes so gut wie ausschließlich auf den Kampf gegen den YoungPlan konzentriert hatte und alle anderen vornehmlich antimarxistischen Schlagworte in den Hintergrund hatte treten lassen. Der Kampf der nationalen Rechten, insbesondere die hemmungslose Agitation der N S D A P gegen den Young-Plan war, neben der beginnenden Wirt-
106
Siehe Fußnote 79.
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schaftskrise, doch das entscheidende Moment für den Durchbruch der NSDAP 1930. Zudem schien der Sowjetunion, der Komintern und audi der KPD ein Eintritt der NSDAP in eine Regierung nicht zuletzt aus außenpolitischen Gründen ganz unwahrscheinlich107, war dodi die Reaktion Frankreichs auf das Wahlergebnis heftig genug. Darüber hinaus gaben sich die Komintern und die KPD hinsichtlich des weiteren Anwachsens der NSDAP im Gegensatz zum Sommer einem betonten Optimismus hin. Dies lag offenbar nicht nur daran, daß es im Sommer noch keine nationalbolschewistische Linie gegeben hatte, sondern auch daran, daß man mit dem baldigen Zerfall der Bewegung angesichts ihrer heterogenen sozialen Zusammensetzung rechnete.108 Nach den Septemberwahlen wurde die kommunistische Befreiungspropaganda intensiviert und auf kommunistischer Ebene internationalisiert. Als im Oktober 1930 der neue Reichstag zusammentrat, stellten die KPD und die Rechtsparteien Anträge zum Young-Plan, die die Regierung aufforderten, eine Revision des „Neuen Plans" einzuleiten. Im Unterschied zur NSDAP, die „unverzügliche Schritte" der Regierung zur Aufhebung der Zahlungsverpflichtungen verlangte, forderte die KPD die sofortige Einstellung jeglicher Zahlungen. 109 Der Antrag der KPD war bereits vorher in gemeinsamen Besprechungen mit Vertretern der kommunistischen Fraktionen der französischen Kammer und des Reichstages erörtert und eine Koordinierung des gemeinsamen Kampfes gegen die Versailler Verträge abgesprochen worden. 110 So gab in der französischen Kammer Doriot für die kommunistische Fraktion ein ausdrückliches Solidaritätsbekenntnis für alle Erklärungen der KPD über die Forderung nach Annullierung des Versailler Vertrages und des Young-Planes ab. 111 107
Vgl. z.B. Radek, K.: Die Bilanz der Reichstagswahlen, in: Inprekorr 1930, Nr. 81 vom 26. 9., S. 1997 ff. ios Vgl. z. B. Hirsch, W.: Der Kommunismus im Vormarsch, in: Inprekorr 1930, Nr. 78 vom 16. 9., S. 1929 f. Die Rote Fahne vom 14. September schrieb sogar, daß mit dem 14. September der Höhepunkt der nationalsozialistischen Welle erreicht worden sei und daß dieser Wahl keine besseren für die NSDAP folgen würden. Vgl. Rote Fahne vom 14. 9. 1930. 10 » Vgl. Helbidi, S. 17. 110 Vgl. Inprekorr 1930, Nr. 85 vom 10.10., S. 2081. 111 Vgl. die Rede Doriots am 13. November 1930 in der französischen Kammer, wiedergegeben in: Inprekorr 1930, Nr. 98 vom 18.11., S. 2410 f. Während der österreichischen Wahlen im November solidarisierten sich gleichfalls die italienischen und österreichischen Kommunisten im Kampf gegen die „Sdiandver-
Beginn und Bedeutung
einer kommunistischen
Befreiungspropaganda
47
Verständlicherweise nahm der innenpolitische Druck sowohl der radikalen als audi der gemäßigten Rechten, aber auch der K P D in der zweiten Hälfte von 1930 auf die Regierung zu, um sie zu einer aktiveren Außenpolitik zu veranlassen. 112 Sowohl Brüning und Curtius mußten diesem Druck nun in noch stärkerem Maße nachgeben. Ihre zunehmenden, öffentlich dargelegten Zweifel an der Erfüllbarkeit des YoungPlans, ihr Streben nach militärischer Gleichberechtigung im Gewände der Forderung nach Abrüstung 113 , schließlich die, wenn auch im Verborgenen eingeleiteten deutsch-österreichischen Verhandlungen um eine gemeinsame Zollunion 114 waren größtenteils Reaktionen auf die innenpolitische Radikalisierung. Mit dem Bestreben, gegenüber Frankreich fordernder aufzutreten, wollte die Regierung der radikalen Rechten den Wind aus den Segeln nehmen. 115 Doch empfanden Brüning und Curtius den Rechtsradikalismus nicht nur als negativen Druck und als Einengung ihrer außenpolitischen Manövrierfähigkeit, sondern auch als eine indirekte Hilfe gegenüber dem Westen. Indem sie auf die innenpolitische Radikalisierung hinwiesen und sie zugleich verständlich zu machen suchten, wollten sie ihre westlichen Verhandlungspartner zu Konzessionen drängen. So sollte die innenpolitische revisionistische Bewegung gewissermaßen als indirekte Rückenstärkung für die deutsche Außenpolitik nutzbar gemacht werden. 116 Ein solcher Zusammenhang war der Komintern durchaus klar, und es bestand kein Zweifel, daß sie ihn in Rechnung stellte. 117 Insgesamt zeigte so die Intensivierung der kommunistischen träge" und bekannten sich für die nationale und soziale Befreiung Österreichs und für den Zusammensdiluß
„aller deutschsprechenden Völker". Vgl. Z K der
KP
Italiens an das Z K der K P D , in: Inprekorr 1930, N r . 93 vom 7 . 1 1 . , S. 2254. 112
Vgl. z. B. die Deutsche Allgemeine Zeitung vom 16. und 17. 9 . 1 9 3 0 ; Kreuzzeitung vom 19. 9 . 1 9 3 0 ; Deutsche Zeitung vom 15. 9 . 1 9 3 0 ; Lokalanzeiger vom 15. 9 . 1 9 3 0 . Entsprechende Zitate bei Heibich, S. 17. Unter der unmittelbaren Wirkung des Wahlergebnisses hatte Brüning den Fraktionsführer seiner Partei, den Prälaten Kaas, zu Curtius nach Genf gesandt, um diesen zum Abbruch des bisherigen Verständigungskurses zu bewegen. Der Widerstand von Curtius und offensichtlich ein Überdenken dieses raschen Entschlusses ließen Brüning jedodi bald von diesem Vorhaben Abstand nehmen. Vgl. Curtius, S. 171.
" » Vgl. Curtius, S. 189. 114
Uber die deutsche Zollunionspolitik und ihre Bedeutung siehe unten, S. 69 f., 72 f., 83 ff.
115 Vgl. Brünings Interview im Oktober 1930 und die Rede von Curtius vor dem Reichsrat im November 1930, beides in: Curtius, S. 176 ff. m
Vgl. Brüning, Heinridi: Die Vereinigten Staaten und Europa. Ein Vortrag, gehalten im Rhein-Ruhr-Klub Düsseldorf, Stuttgart 1954, S. 4.
117
Vgl. das Sdilußwort Manuilskys auf dem X I . Plenum des E K K I , in: K l , Heft 14/15 vom 32. 4 . 1 9 3 1 , S. 788.
48
Deutsch-sowjetische
Zusammenarbeit
Befreiungspropaganda in der zweiten Hälfte von 1930 durchaus gewisse für die Sowjetunion vorteilhafte Auswirkungen. Nicht zufälligerweise spielten die Iswestija vom 12. Januar 1931, die sich für eine Fortsetzung der guten deutsch-sowjetischen Beziehungen einsetzten und zugleich den deutschen Revisionismus unterstützten, auf diesen Zusammenhang an. Eine deutsche Regierung, so hieß es hier, die nicht gegen das Versailler Joch ankämpfe, werde sich in immer größeren Gegensatz zu den Volksmassen bringen. 118
118
Vgl. Iswestija vom 12.1.1931. Abschrift in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 26, 2860/ D 561981.
V. Der Faschismus, Wegbereiter einer Revolution ? Die Komintern und die revolutionäre Perspektive Die innenpolitische Entwicklung in Deutsehland in der zweiten Hälfte von 1930 begünstigte innerhalb der KPD eine Wiederbelebung ultralinker Strömungen, wie sie schon einmal 1929/30 in Zusammenhang mit den Auswirkungen der beginnenden Wirtschaftskrise zu beobachten gewesen waren. Nach den Reichstagswahlen vom September 1930 versdiärfte sich die Wirtschaftskrise in Deutschland, die bereits im Anwachsen des Rechtsund Linksradikalismus ihre ernsten politischen Folgen gezeigt hatte. Die deutsdie Wirtschaft arbeitete weitgehend mit ausländischen kurzfristigen Krediten. Nach den Wahlen begann das Ausland, mißtrauisch geworden durch die sichtliche politische Instabilität, diese kurzfristigen Kredite aus Deutschland zurückzuziehen. Die Folgen waren schwerwiegend. Es kam zu Börsenstürzen, die Finanzlage Deutschlands verschlechterte sich zusehends und die Zahl der Arbeitslosen stieg unaufhaltsam. Die Sanierungsmaßnahmen Brünings vermehrten in der Bevölkerung die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Kurs seiner Regierung.119 Auf dem Hintergrund dieser Vorgänge sdiuf die unpopuläre Notverordnung Brünings vom November 1930 für die KPD eine neue Situation. „Die faschistische Diktatur droht nidit mehr, sondern sie ist bereits da", schrieb die Rote Fahne vom 2. Dezember. Der deutsdie Kapitalismus bräche zusammen, und keine Diktatur, also auch keine faschistische, könne ihn retten. „Der Hauptfeind ist jetzt die faschistische Diktatur." Sie müsse durdi die Volksmassen beseitigt werden, nur eine proletarische Revolution könne sie stürzen.180
Es hatte den Anschein, als stehe man in Deutschland unmittelbar vor einer revolutionären Krise oder bald sogar vor einer revolutionären Situation. „Niemals", so behauptete die Rote Fahne, „hatte das revolutionäre Proletariat größere Aussichten als jetzt, zum wahren Führer einer Volksrevolution im Sinne von Karl Marx zu werden." 121 118 120 121
4
Vgl. audi Bracher: Die Auflösung . . . , S. 380. Rote Fahne vom 2.12.1930. Ebda. Weingartner
50
Der Faschismus,
Wegbereiter
einer
Revolution?
Die terroristischen Akte der Nationalsozialisten waren für die Rote Fahne qualvolle Niedergangswehen des deutschen Kapitalismus, die „die Katastrophe und die Wut der Massen nur steigern" konnten. 122 Heinz Neumann verglich die Situation in Deutschland mit der zur Zeit der Pariser Kommune. Heute, so schrieb er, sei eine ähnliche Gruppierung der Klassenkräfte anzutreffen, heute nahe wieder die Stunde einer wahren Volksrevolution. Die Hegemonie und unbedingte Führerrolle des Proletariats über alle anderen ausgebeuteten Schichten sei heute noch viel gesicherter. Die proletarische Revolution sei nicht nur zur Möglichkeit, sondern zur unausweichlichen Notwendigkeit geworden. 123 Die Hoffnung der KPD, in Deutschland eine breite Volksbewegung zum Sturz einer Regierung entfachen und auf die Errichtung einer proletarischen Diktatur erfolgreich hinarbeiten zu können, beruhte auf der Annahme, daß dem Faschismus, so wie man ihn verstand, eine bedeutsame Rolle für die Entwicklung des revolutionären Prozesses zukomme. So erklärte Thälmann auf dem XI. Plenum des EKKI im März/April 1931, daß die Entwicklung des Faschismus in Deutschland nicht ein Ausdruck der Stärke der Bourgeoisie und einer Schwäche oder Niederlage des Proletariats sei, sondern daß die Bourgeoisie zu ihrer äußersten Herrschaftsform, dem Faschismus, greifen müsse, um eine drohende proletarische Revolution zu verhindern. Die revolutionäre Entwicklung habe „mit ihrer höheren Entwicklung zugleich eine höhere Stufe der Konterrevolution" hervorgebracht. Wenn diese überwunden werde, so könne die revolutionäre Entwicklung zur höchsten Kraftentfaltung, d . h . zur Auslösung der proletarischen Revolution heranreifen. 124 Ähnlich verstand Hermann Remmele die Entwicklung in Deutschland zum Faschismus als einen dialektischen Prozeß zwischen Revolution und Konterrevolution:
122
Ebda.
123
Neumann, H.: Es lebe die Kommune, in: Rote Fahne vom 18. 3.1931. Dieser Artikel erschien, nachdem die Komintern bereits eingegriffen hatte, jedodi bevor auf dem XI. Plenum im März/April 1931 offiziell und ausführlich die Auffassungen der deutschen Delegation zurückgewiesen wurden. Siehe darüber unten, S. 55—63.
124
So Thälmann in seinem Referat auf dem XI. Plenum des EKKI, wiedergegeben in: Inprekorr 1931, Nr. 52 vom 5. 6., S. 1203, und so Thälmann auch fast wörtlich auf dem Plenum des ZK der KPD im Januar 1931. Vgl. Thälmann, Ernst: Volksrevolution über Deutschland. Rede des Genossen E. Thälmann auf der Tagung des ZK der KPD, 1 5 . - 1 7 . 1 . 1 9 3 1 . Hrsg. vom ZK der Kommunistischen Partei Deutschlands. Berlin o. J. (1931), S. 25 f.
Der Faschismus, Wegbereiter
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Revolutionf
51
„Der dialektische Prozeß ist der, daß der Drude, der von Seiten der Bourgeoisie auf die gesamte Masse des arbeitenden Volkes ausgeübt wird, den Gegendruck der Revolution erzeugt. Scheinbar kämpft das Proletariat in der Defensive. Aber in Wirklichkeit ist es die Offensive, die unter diesem Druck des Kapitalismus das Proletariat entfaltet."
Da der Angriff des Kapitals sich nicht nur gegen das Proletariat, sondern auch gegen die städtischen Mittelschichten und die kleinbürgerlichen Massen richte, bildeten diese die Reserven des Proletariats, die sogenannte Nachhut; sie werde im Verlauf der sich steigernden dialektischen Entwicklung zwischen Revolution und Konterrevolution in die revolutionäre Klassenfront hineinstoßen. „Das bedeutet, daß die Konterrevolution, die Reaktion, die Revolution auf eine höhere Stufe hebt, die Revolution ständig zu höherer Kraftentfaltung anspornt, der Revolution ständig neue Schichten, neue Massen zuführt, immer stärker die Nachhut, die Reserven des Proletariats zur Vorhut treibt." 125
Dieser Interpretation der Entwicklung in Deutschland lag somit der Gedanke zugrunde, daß eine immer stärkere Anwendung faschistischer Methoden durch die Bourgeoisie eine zwangsläufige Antwort auf den Druck des revolutionären Aufschwungs bedeute. Da Druck Gegendruck erzeugte, die Wirtschaftskrise die Lage der Bourgeoisie immer auswegloser machte, immer breitere Bevölkerungskreise erfaßte und radikalisierte, mußte demnach die Bourgeoisie zu immer stärkeren faschistischen Mitteln greifen, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, schwächte sich selbst aber immer empfindlicher durch den Verlust ihrer Massenbasis. Ungewollt, jedoch notgedrungen trieb die sich faschisierende Bourgeoisie dem revolutionären Lager selbst die Volksmassen zu. Der Faschismus wurde so nach den Vorstellungen der KPD zu seinem eigenen Totengräber, zu einem geradezu notwendigen Durchgangsstadium für den schließlichen Sieg einer proletarischen Revolution. Eine faschistische Diktatur — die äußerste Steigerung bourgeoiser Herrschaft — war damit zur letzten Herrschaftsform des Kapitalismus geworden. Deshalb war die Revolution „durch den Gang der Geschichte nicht nur zur Möglichkeit, sondern zur unausweichlichen Notwendigkeit" geworden. 126 Dieser „Theorie vom Faschismus als einem Wegbereiter der Revolution", oder, wie Remmele es nannte, als dem „Vater der Revolution", lagen somit folgende Annahmen zugrunde: 1. Die Wirtschaftskrise werde sich unaufhaltsam verschärfen und werde zum unausweichlichen Zusammenbruch des Kapitalismus in seiner fasdiistisdien Gestalt führen. 125
t2e
4»
Diskussionsbeitrag Hermann Remmeles auf dem X I . Plenum des EKKI, in: Inprekorr 1931, Nr. 69 vom 15. 7., S. 1539. Vgl. Neumann, H . : Es lebe die Kommune . . . Siehe Fußnote 123.
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2. Die faschistische Entwicklung bedeute lediglich eine Zerfallserscheinung des Kapitalismus. 3. Die sich radikalisierenden kleinbürgerlichen Massen seien revolutionäres Potential, Hilfstruppen der Kommunisten im Prozeß des revolutionären Aufschwungs.
Diese Vorstellungen machen den Optimismus der KPD Ende 1930 über die Aktualität der Revolution in Deutschland verständlich: Für sie hatte der Kapitalismus mit der „Errichtung einer faschistischen Diktatur" bereits einen hohen Zersetzungsgrad erreicht und stand kurz vor seinem rettungslosen Zusammenbruch.127 Da sich nach Auffassung der Roten Fahne diese „faschistische Diktatur" gegen die überwältigende Mehrheit des Volkes richtete, glaubte man, daß die Aussichten der KPD, zur Führerin einer Volksrevolution zu werden, niemals besser gewesen seien. Wie sich die KPD im einzelnen den Verlauf der „Volksrevolution" und den „Sturz der faschistischen Diktatur" vorstellte, ist nicht ganz gewiß. Das Verhälnis der KPD zu den anderen „Schichten des Volkes" im Rahmen einer Volksrevolution wurde als Hegemonie der KPD über sie oder auch als Bündnis mit ihnen verstanden.128 In jedem Falle, ob im Bündnis oder im Streben nach Hegemonie, trat der Gedanke der „Einheitsfront von unten" mit sozialdemokratischen Arbeitern zugunsten eines wie auch immer gearteten Zusammengehens oder Zusammenspiels mit nichtproletarischen Schichten in den Hintergrund. Ähnlich wie 1929/30 wollten Heinz Neumann und die Ultralinken innerhalb der KPD die Unorganisierten, Arbeitslosen und radikalisierten Massen zu wirklichen Aktionen ausnutzen. Heinz Neumann hatte selbst auf die große Bedeutung der Erwerbslosen hingewiesen und dachte offensichtlich an einen künftigen Erwerbslosenaufstand.129 Der Unterschied zwischen Paul Merker und Heinz Neumann bestand nur darin, daß die Unorganisierten und Erwerbslosen nunmehr, angesichts der veränderten Ver127 128
,2i
Vgl. Rote Fahne vom 2 . 1 2 . 1 9 3 0 und vom 1 . 1 . 1 9 3 1 . Vgl. Neumann, H . : Es lebe die Kommune . . . Siehe Die Internationale, Heft 1 vom Januar 1931, S. 27 zum Kampf gegen Faschisten-Diktatur: Gegen die Hrsg. von Agit-Prop Z K der KPD, o. J . (1930). 2,866759 f.
Fußnote 123; Koenen, W. in: f., und die Broschüre: Rüstet Hindenburg Notverordnung. Abschrift auf Mikrofilm 357;
Vgl. Neumann, H . : Es lebe die Kommune . . . Siehe Fußnote 129. Das erneute Auftreten ultralinker Tendenzen wird besonders verständlich, wenn man berücksichtigt, daß die K P D mehr und mehr zu einer Erwerbslosenpartei wurde. Der Anteil der Betriebsarbeiter an der Gesamtzahl der KP-Mitglieder sank ständig. Vgl. dazu audi Bahne, Siegfried: Die Kommunistische Partei Deutschlands. In: Das Ende der Parteien 1933. Hrsg. von Erich Matthias und Rudolf Morsey. Düsseldorf 1960, S. 661, und A. W. : Zu unseren Organisationsaufgaben, in : Inprekorr 1932, N r . 91 vom 1.11., S. 2921.
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Revolution?
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hältnisse, das nationalistische Stigma trugen. Paul Merker hatte „Sozialfaschismus" und Nationalsozialismus „in einen Topf geworfen", Neumann stand in Gefahr, beide Ismen so zu trennen, daß er den „Hauptstoß gegen den Faschismus" richtete und den Kampf gegen die Sozialdemokratie vernachlässigte, nicht, weil er eine konziliante Haltung zur SPD einnehmen wollte, sondern weil er im wesentlichen die nationalsozialistischen Anhänger für das ernstzunehmende „revolutionäre" Potential in Deutschland hielt. 130 Die Theorie vom Faschismus als dem Wegbereiter der proletarischen Revolution, die von der K P D 1930/31 so optimistisch auf die BrüningRegierung und die Situation in Deutschland zugespitzt wurde, stieß sofort auf den Einspruch der Komintern 131 und wurde auf dem XI. Plenum des EKKI im März/April 1931 als Ausdruck „revolutionärer Ungeduld" grundsätzlich zurückgewiesen, denn das Ziel der Revolution als aktuell erreichbare Aufgabe stand nicht im Blickfeld der Sowjetunion: „Läßt sich die Perspektive der Volksrevolution in Deutschland", so fragte Manuilsky, „außerhalb des komplizierten internationalen Komplexes und vor allem außerhalb der Frage der UdSSR betrachten oder nicht? Kann man sich auch nur einen Augenblick lang vorstellen, daß irgendeine große revolutionäre Bewegung in Mitteleuropa nicht Folgen in der Form eines großen internationalen Kampfes nach sich ziehen würde? . . . Wir haben ja doch heute nicht mehr das Jahr 1918/19. Auch haben wir nicht mehr das Jahr 1923. Heute kann keine einzige kommunistische Partei sich große Perspektiven stellen, wenn sie die UdSSR ignoriert." 432
130
Auch Bemerkungen Kurt Müllers (mündliche Mitteilung) lassen darauf schließen, daß Neumann sich sehr viel stärker auf die Gewinnung kleinbürgerlicher nationalsozialistischer Massen konzentrierte als auf die Gewinnung sozialdemokratischer Arbeiter, von denen er offensichtlich keine „Aktionen" erwartete. So soll Neumann direkten Kontakt zu einem SA-Sturm genommen haben. Rudolf Schlesinger bemerkt in einem Brief an den Verfasser vom 26. IV. 1966, daß Neumann die K P D „zur Konkurrenzorganisation der N S D A P " machen wollte.
131
Die Einschätzung der Roten Fahne vom 2. Dezember 1930 über die Brüning-Regierung als einer faschistischen Diktatur, die es zu stürzen gelte, wurde von der Komintern sofort als politisch falsch zurückgewiesen. Demgegenüber wurde sie von ihr und dann auch von der K P D als „Regierung der Durchführung der faschistischen Diktatur" charakterisiert, die es zu bekämpfen, aber nicht zu stürzen gelte. Gegen den Einspruch der Komintern hatte sich Heinz Neumann zunächst hartnäckig gesträubt, während Thälmann schwankte. Vgl. dazu Pjatnitzki, O.: Die Arbeit der Kommunistischen Parteien Frankreichs und Deutschlands und die Aufgaben der Kommunisten in der Gewerkschaftsbewegung. Rede auf dem X I I . Plenum des EKKI der Kommunistischen Internationale (September 1932). Moskau o. J., S. 18.
192
Schlußwort Manuilskys auf dem XI. Plenum des EKKI, in: KI, Heft 14/15 vom 23. 4.1931, S. 224.
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Manuilsky suchte den Sektionen verständlich zu machen, daß eine kommunistische Partei, die über eine begrenzte Zielsetzung hinaus sich eine revolutionäre Perspektive stellte und danach zu handeln trachtete, die außenpolitischen Interessen der Sowjetunion gefährdete. Da der Ausbruch von Unruhen in einem kapitalistischen Lande einen akuten Konflikt heraufbeschwören würde, in welchen die Sowjetunion notwendigerweise verwickelt sein mußte, konnte und durfte sie vom Standpunkt ihrer Sicherheitsinteressen solche Aktionen in kapitalistischen Ländern weder anstreben nach fördern. Die Komintern wies alle Tendenzen „revolutionärer Ungeduld" in der KPD aber zurück, nicht, weil sie eine Revolution in Deutschland fürchtete, sondern weil sie nach wie vor davon ausging, daß es in Deutschland eine objektive revolutionäre Krise nicht gäbe und für die nahe Zukunft auch keine geben würde. In der Praxis mußte die Politik der KPD lediglich zur Steigerung der terroristischen Atmosphäre in Deutschland beitragen, da die Ultralinken offenbar Zusammenstöße mit der Staatsgewalt geradezu herausforderten und dem nationalsozialistischen Terror mit gleichen physischen Mitteln entgegentraten. Eine solche Taktik konnte nicht zu einer proletarischen Revolution in Deutschland führen, und so waren die Argumente, mit denen die Komintern alle Prämissen der Ultralinken von 1930/31 zerpflückte, von einem bemerkenswerten Realismus bestimmt. Auf dem XI. Plenum des EKKI wurde die Frage nach dem Charakter des Faschismus zwar diskutiert, doch war deutlich das Bemühen spürbar, die Bedeutung dieser Frage herunterzuspielen. Von der Komintern wurde „Faschismus" als ein Phänomen umschrieben, das organisch aus der „bürgerlichen Demokratie" als einer Form der „verhüllten Diktatur der Bourgeoisie" hervorwachse und alle Unterdrückungs- und Knechtungsmethoden gegenüber der Arbeiterklasse verschärfe. Das faschistische Regime, so hieß es, verflechte sich mit Überresten der „bürgerlichen Demokratie" und werde von der Bourgeoisie „auf dem Wege der Zertrümmerung der Klassenorganisationen des Proletariats, des Verbots der kommunistischen Parteien, der Bildung besonderer militärisch-terroristischer Organisationen" von der Bourgeoisie errichtet, „unabhängig davon, ob die parlamentarischen Formen aufgehoben oder beibehalten werden". 133
133
Siehe die Thesen des X I . EKKI-Plenums: Über die Aufgaben der Sektionen der Kommunistischen Internationale im Zusammenhang mit der Vertiefung der Wirtschaftskrise und der Steigerung der Voraussetzungen der revolutionären Krise in einer Reihe v o n Ländern, in: Inprekorr 1931, N r . 38 v o m 24. 4., S. 948.
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Damit stand eine „faschistische Diktatur" nicht im Gegensatz zur „bürgerlichen Demokratie", sondern war lediglich eine Form der „Diktatur der Bourgeoisie", eine Herrschaftsmethode mit dem Ziel, die Arbeiterbewegung niederzuschlagen. Denn in dem Maße, in dem angesichts der Krise sich der Widerstand der Arbeiterbewegung gegen die „Diktatur der Bourgeoisie" verstärkte, in dem Maße griff — nach Auffassung der Komintern — die Bourgeoisie zu faschistischen, d. h. terroristisdien Mitteln gegen die Arbeiterklasse. Der „faschistische Charakter" einer Regierung wurde demnach an dem Intensitätsgrad gemessen, mit dem die Zerschlagung der „Organisationen des Proletariats" angestrebt wurde. So konnte die Brüning-Regierung zu einer „Regierung der Durchführung der faschistischen Diktatur" gestempelt werden, die einen faschistischen Kurs auch mit Hilfe der Sozialdemokratie durchführen könne, sich also nicht unbedingt auf die NSDAP parlamentarisch stützen oder sie in die Regierung mit einbeziehen müßte. 134 Manuilsky wandte sich allerdings grundsätzlich gegen alle „krampfhaften theoretischen Bemühungen, die Kriterien der faschistischen Art der bürgerlichen Herrschaft zu suchen". Dies verwirre nur und gebe Versuchen Auftrieb, Fasdiismus als neuen Staatstyp zu definieren.135 Solche Bemühungen wird man Neumann und Remmele nur sehr beschränkt zugestehen können. Ein Ansatz dazu war ihre Annahme, daß die „faschistische Diktatur", die auch sie als eine „Diktatur des Kapitals" zu dieser Zeit auffaßten, ein notwendiges Durchgangsstadium des Kapitalismus zur proletarischen Revolution sei. Damit wurde diese Diktatur zu einer Herrschaftsform eigener Prägung insofern, da sie Ausdruck einer „kapitalistischen Endzeit", unmittelbare und zwangsläufige Vorstufe einer proletarischen Revolution war. Demgegenüber erhob Manuilsky den Faschismus nicht zu einer notwendigen Etappe, nicht „zu einem irgendwie entscheidenden Faktor der revolutionären K r i s e . . . Vielmehr wird ihm die bescheidene Rolle eines der Symptome der Desorientierung (!) der herrschenden Klasse und ihres Bestrebens eingeräumt,
184
Terminologisch war sowohl die Komintern wie auch die K P D in der Anwendung des Begriffs „Faschismus" nicht sauber: Grundsätzlich waren „faschistische" Züge Züge der „Bourgeoisie", ob im parlamentarischen oder nichtparlamentarischen Gewände. Bisweilen wurde, aber nur terminologisdi ohne theoretische und taktische Konsequenzen, die N S D A P als „faschistische Bewegung", bzw. der Nationalsozialismus als „Fasdiismus" bezeichnet. Von der N S D A P hätte es also immer heißen müssen, daß die Partei ein „faschistisches Instrument" einer sich in ihren Herrschaftsmethoden „fasdiisierenden" Bourgeoisie sei.
135
So Manuilsky in seinem Schlußwort, S. 786. Siehe Fußnote 132.
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Wegbereiter
einer
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auf dem Wege der Unterdrückung der Arbeiterklasse einen Ausweg aus der Lage zu finden. Wir lehnen die Identifizierung der revolutionären Krise mit dem Faschismus a b . . . Wer so denkt ist ein Liberaler." 188 Gegen die „mechanische" Theorie der KPD über die Entwicklung Deutschlands zwischen Revolution und Konterrevolution zur proletarischen Revolution als Endresultat erklärte Manuilsky, daß der Faschismus keine bloße Verteidigung des Kapitalismus gegenüber einer Offensive des Proletariats sei, sondern daß er sowohl Elemente der Abwehr, aber audi der Offensive gegen das Proletariat in sich trage. So könne der Faschismus sowohl zum Siege des Proletariats als audi zu seiner Niederlage führen. Wie stark jeweils das Element der Offensive oder das der Abwehr sei, hänge vor allem vom subjektiven Faktor, d. h. von der Kampfkraft der Kommunisten selbst ab. In dem Faschismus lediglich eine Zerfallserscheinung des Kapitalismus zu sehen und eine Stärkung des revolutionären Lagers, hieße, die Entwicklung zur Revolution gleichsam einem objektiven geschichtlichen Prozeß anheimzustellen und die offensiven Elemente des Faschismus zu ignorieren.137 Sah die KPD Deutschland bereits einer Wirtschaftskatastrophe entgegengehen, die zum zwangsläufigen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems führen würde, sudite Manuilsky die Bedeutung der Wirtschaftskrise zu untertreiben. Jeden Gedanken, daß die Krise „unvermeidlich zur Revolution" führen müsse, lehnte er entschieden ab. Niemals sei die Lage der Bourgeoisie aussichtslos: „Was wir . . . fest wissen, ist das, daß der Kapitalismus, auch wenn er sich aus der gegenwärtigen akuten Phase der zyklischen Krise herauswindet, dabei noch weit mehr Haare lassen muß, als das nach dem Weltkrieg der Fall war." 138
Aufgabe der Kommunisten sei es, die gegenwärtige Wirtschaftskrise „wenigstens" dazu auszunutzen, um die Positionen des Kapitalismus und die der Sozialdemokratie zu erschüttern.139 So wie die Komintern die Hoffnungen der KPD auf eine Wirtschaftskatastrophe in Deutschland in Frage stellte, lehnte sie gleichermaßen die Ansicht der KPD über die kleinbürgerlichen, radikalisierten natio138 137
138 139
Ebda., S. 773. „Wenn der alte Guesde, als er noch Marxist war, sagte, daß der Krieg die Mutter der Revolution ist, müssen wir trotzdem sagen, daß der Faschismus nicht der Vater der Revolution ist." So Manuilsky in seinem Sdilußwort, S. 779. Ebda. S. 795. Ebda. — Auf die Bedeutung des X I . Plenums für den Kampf gegen die Sozialdemokratie soll an anderer Stelle eingegangen werden. Hier kommt es nur auf die Haltung der Komintern zur revolutionären Perspektive an.
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nalsozialistischen Anhänger als „revolutionärer Nachhut" der KPD ab. Richtig sei, so stellte die Komintern fest, im Anwachsen der NSDAP eine „Unzufriedenheit" der Massen mit der Politik des Monopolkapitals zu sehen. Es dürfe jedoch nidit übersehen werden, daß es den faschistischen Parteien gelungen sei, die Unzufriedenheit dieser Masse auf den Kampf gegen das Proletariat „umzustellen", und daß dies eine der Methoden der Bourgeoisie sei, um eine gewaltsame Unterdrückung der revolutionären Bewegung vorzubereiten. In dem Anwachsen der NSDAP lediglich ein Zeichen der politischen Krise zu sehen, sei eine „linke" Einschätzung mit der falschen Schlußfolgerung, den Faschismus leicht überwinden zu können 140 ; mit dieser Einschätzung der nationalsozialistischen Anhänger wies die Komintern jeden Gedanken zurück, im Rechtsradikalismus an sich ein revolutionsförderndes Element, einen „objektiven Verbündeten" des Kommunismus auf dem Wege zur proletarischen Revolution zu sehen. Radikalisierung bedeutete mithin nicht zugleich Revolutionierung. An dieser Auffassung hielt die Komintern audi fest, nachdem die NSDAP zur stärksten Partei in Deutschland geworden war. Darüber hinaus wies die Komintern auch auf den antikommunistischen Charakter der nationalsozialistischen Bewegung hin. So entkräftete Manuilsky selbst auf dem Plenum die These, die in der Literatur verschiedentlich aufgetaucht ist141, wonach Stalin und die Komintern im Nationalsozialismus den Vorboten einer proletarischen Revolution in Deutschland erblickt hätten. Zu diesem Zeitpunkt konnte Manuilsky zwar von einer Normalisierung der Verhältnisse in Deutschland, d. h. dem allmählichen Rückgang der nationalsozialistischen Bewegung ausgehen142, aber dennoch auf dem Plenum gleichsam die Situation 140
141
142
Vgl. den Leitartikel der K I : Zu den Ergebnissen des XI. Plenums, in: KI, Heft 14/15 vom 23.4.1931, S. 618. Diese These wird vor allem in den verschiedenen Arbeiten Georg von Rauchs vertreten. So sagte ζ. B. Manuilsky auf dem XI. Plenum gerade das Gegenteil von dem, was G. v. Rauch als Bestätigung des Berichtes eines gewissen F. Gerlich in der Zeitschrift Der Gerade Weg Manuilsky auf dem XI. Plenum in den Mund legen will. Vgl. Rauch, Georg von: Stalin und die Machtergreifung Hitlers. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. Jg. 1964, S. 19. Neuerdings wird diese These noch vertreten bei Bracher, Karl Dietrich: Die deutsche Diktatur. Entstehung. Struktur. Folgen des Nationalsozialismus. Köln — Berlin 1969, S. 217, und Ulam, Adam B.: Expansion and Coexistence. The History of Soviet Foreign Policy, 1917 — 67. Sedier & Warburg, London 1968, S. 191 f. Allerdings stellt Ulam richtig fest (S. 194), daß es 1933 keinerlei Anzeichen für Aufstandsvorbereitungen gab. Siehe unten, S. 63 f. Vgl. auch Fußnote 163.
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vom Januar 1933 und die künftige Haltung der Komintern gegenüber einer „faschistischen Diktatur", einer „Diktatur der Bourgeoisie" mit Einschluß der N S D A P vorwegnehmen: Für alle Sektionen der Kommunistischen Internationale, aber insbesondere für die K P D stellte Manuilsky fest, daß die Komintern nicht verlange, eine Entwicklung zur „faschistischen Diktatur" durch eine proletarische Revolution aufzuhalten, sondern lediglich fordere, ihrer Errichtung ζ. B. durch Verhinderung der eigenen Illegalität, durch Auslösung politischer Massenstreiks, durch Untergrabung der Massenbasis der Sozialdemokratie, d. h. durch Druck entgegenzuwirken. 143 Sollte in einem Lande, so führte Manuilsky aus, eine „faschistische Diktatur" errichtet werden und müßten die Kommunisten unter dem Ansturm der überlegenen Kräfte des Gegners zurückweichen, würde dies keine Niederlage, sondern ein notwendiger Rückzug sein, wenn die Kommunisten Schritt für Schritt um ihre Positionen kämpften. Die Errichtung einer „faschistischen Diktatur" war damit nicht der Auftakt zu einer proletarischen Revolution. 144 Der Rückzug der kommunistischen Vorhut war einkalkuliert, wesentlich war nur, wie er vonstatten ging. Vollzog er sich unter Kämpfen, die allerdings Rückzugskämpfe sein mußten und keine OfFensivkämpfe, so war die Ehre der Sektion gerettet, und eine Niederlage hatte dann nicht stattgefunden. Das moralische Prestige war gewahrt. 145 Als es im Januar 1933 zur Errichtung einer echten faschistischen Diktatur kam, nahm freilich die Komintern eine andere Haltung ein. Indem sie verbal die Formel vom „Faschismus als dem Vater der Revolution" partiell übernahm, wollte sie eine Niederlage verschleiern und damit der Gefahr einer Erschütterung der Komintern entgegenwirken. 143
Vgl. das Schlußwort Manuilskys, S. 783.
144
So erklärte auch Kuusinen auf dem X I I . EKKI-Plenum im August/September 1932, als die N S D A P , für die Komintern unerwartet, weiter angeschwollen w a r : „Aber daß die faschistische Bewegung als solche ein Zersetzungselement für den Kapitalismus wäre, vermag idi nicht anzuerkennen. Die faschistische Bewegung ist meiner Meinung nadi als die Waffe, das Kampfwerkzeug, die Faust der Klassengewalt der Großbourgeoisie gegen das revolutionäre Proletariat und nicht als ein Instrument der Zersetzung des Kapitalismus zu betrachten. Aber das faschistische Regime, die faschistische Diktatur hat zwei Seiten. Einerseits bedeutet es einen reaktionären, konterrevolutionären Versuch zur Konsolidierung der Lage der Großbourgeoisie. Aber andererseits ruft es eine Reihe Zersetzungsersdieinungen der kapitalistischen Klassenherrschaft hervor, vor allem die Schrumpfung der sozialen Basis der Diktatur der Bourgeoisie". Siehe das Referat Kuusinens auf dem X I I . .EKKI-Plenum, in: Inprekorr 1933, N r . 6 vom 1 7 . 1 . , S. 205.
145
Vgl. Schlußwort Manuilskys, S. 782 f.
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Revolution?
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Da aber die K P D 1930/31 den „Faschismus" als ein unvermeidbares Durchgangsstadium des Kapitalismus f ü r den Sieg einer proletarischen Revolution interpretierte, so konnte diese Deutung in letzter Konsequenz dazu führen, eine faschistische Entwicklung in Deutschland geradezu herbeizuwünschen und in den potentiellen oder schon tatsächlich radikalisierten Nationalsozialisten gleichsam objektive „Verbündete" der Kommunisten zu sehen, die von einer anderen Seite her die Grundlagen des Kapitalismus erschütterten.14® Es gibt jedoch nicht den geringsten Hinweis dafür, daß die KPD-Führung etwa eine Hitler-Regierung als den Höhepunkt einer faschistischen Entwicklung gewünscht und gewollt hätte, wenngleich in der schwierigen Entwicklungsphase der K P D 1931/32 unter den Anhängern der K P D der Wunsch wuchs, durch die Wahl der N S D A P die Entwicklung zur proletarischen Revolution zu beschleunigen. Es ist anzunehmen, daß die K P D zur Zeit, als die Theorie vom Faschismus als dem Vater der Revolution entwickelt wurde, den Eintritt der N S D A P in eine Regierung oder gar eine Hitler-Regierung nicht erwartete. Sie war sich aber sicher, daß im Falle einer „faschistischen Diktatur", die für die Rote Fahne ja sowohl eine Brüning-Regierung als auch eine Hitler-Regierung war, die nationalsozialistischen Anhängermassen zur K P D überlaufen würden, und daß das faschistische Stadium, in dem man sich zu befinden glaubte, dem revolutionären Fortschritt nur nützen würde. Damit konnte die proletarische Revolution für sie nicht mehr fern sein.147 Es darf wohl als sicher angenommen werden, daß die verschiedene Beurteilung politischer Tatbestände in Deutschland 1930/31 durch die K P D und die Komintern die Stellung Neumanns und auch Remmeles innerhalb der K P D schwächte und schließlich zu ihrer Ausschaltung führte. 148 Obgleich 1930/31 offenbar die gesamte KPD-Führung mehr oder weniger von der „revolutionären Ungeduld" ergriffen schien149, so
146
So etwa audi der indirekte Vorwurf Manuilskys in seinem Sdilußwort, der diesen Gedanken zur Formel: Je schlimmer, desto besser für die revolutionäre Perspektive, zuspitzte. 147 Vgl. auch die Rede Neumanns vor dem II. Reidiskongreß werktätiger Frauen in Berlin, in: Rote Fahne vom 25. 11.1930. Vgl. audi Rote Fahne vom 1.1.1931. 148 Vgl. a u c jj Kapitel XI. 5. der vorliegenden Arbeit. 149 Die Resolution des Politbüros des ZK der KPD über den Kampf gegen den Faschismus vom 4. Juni 1930 bezeichnete ausdrücklich „das stärkere Hervortreten des Faschismus in der gegenwärtigen Periode... als unvermeidliche (!) Begleiterscheinung des Heranreifens einer revolutionären Situation". Die Kräfte der proletarischen Revolution wüchsen „in noch stärkerem Maße, als die faschistischen Kräfte der
60
Der Faschismus, Wegbereiter einer
Revolution?
h a t t e N e u m a n n wohl zuerst zum Sturz der Brüning-Regierung aufgerufen und a m deutlichsten einen „revolutionären Optimismus"
an
den
T a g gelegt. Deshalb mußte sich die K r i t i k der K o m i n t e r n an der E i n schätzung und
den E r w a r t u n g e n
der K P D
vor
allem gegen
Heinz
N e u m a n n richten. 1 5 0 In der ersten ausdrücklichen Stellungnahme des Z K der K P D k u r z v o r der Eröffnung des X I . Plenums des E K K I
gegen
terroristisches Verhalten v o n Parteimitgliedern den Nationalsozialisten gegenüber m a g m a n eine deutlichere Distanzierung v o n einem E l e m e n t Neumann'scher Politik sehen. 1 5 1 F ü r H e i n z N e u m a n n und audi R e m m e l e w a r die A n n a h m e der nationalsozialistischen F o r d e r u n g zum physischen K a m p f ein wichtiger Bestandteil ihrer T a k t i k , die die politischen Leidenschaften in Deutschland immer höher zu entfachen suchte. 1 5 2 I m M ä r z / A p r i l 1 9 3 1 verschwanden dann die direkten Aufforderungen der Fahne
Roten
zu handgreiflichen Gegenangriffen der Kommunisten. Zweifellos
w u r d e jedoch die Stellung N e u m a n n s audi innerhalb der
Komintern
geschwächt, wenn nicht gefährdet. E n d e 1 9 3 0 , als die K o m i n t e r n den „revolutionären" Ubereifer N e u m a n n s kritisierte, w u r d e in der Sowjet-
150
151 152
Bourgeoisie". Allerdings wurde die „sdiematische Anwendung der Losung .Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!'" nunmehr als unzweckmäßig bezeichnet. Die Resolution ist abgedruckt in: Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung. Bd. 4. Von 1924 bis Januar 1933. (Ost-)Berlin 1966, S. 528 ff. Thälmann nahm die gleiche Haltung zu beiden Fragen auf dem X I . Plenum des EKKI ein. In einer beginnenden Distanzierung des Politbüros und Thälmanns vom „individuellen Terror" könnte man ein sachliches Element in einer beginnenden Unstimmigkeit innerhalb des „Triumvirats" der KPD sehen. Die Angriffe Manuilskys in seinem Schlußwort auf den Mißbraudi des Begriffs eines revolutionären Aufstandes, auf Tendenzen eines illusionistischen Revolutionarismus, auf das „Gerede von der .Gesamtkrise im Reichsmaßstabe', im Weltmaßstabe, auf die man Kurs nehmen" müsse, zielten ganz offensichtlich auf Neumann. Vgl. Rote Fahne vom 18. 3.1931. So bezeichnete es Neumann als einen der größten Fehler der Pariser Kommune, daß sie es versäumt habe, „ihre Feinde auszurotten". So Neumann, H.: Es lebe die Kommune . . . Siehe Fußnote 123. Am 19. 3. 1931 rief Neumann in einer Rede in Chemnitz aus: „Jeder Schlag gegen uns läßt die Reihen der Bolschewiken immer fester und angriffsmutiger zusammenschließen". Siehe Rote Fahne vom 20. 3.1931. In einer Rede Remmeles Anfang Februar 1931 hieß es: „Aber eines hat dies alles (der nationalsozialistische Terror und die „faschistische Pest") für sich: es fördert den baldigen Triumph der Revolution. Die tausendfachen Racherufe gehören mit zu den Voraussetzungen für die Befreiung des Proletariats . . . Jetzt erhalten auch die deutschen Proletarier diesen zum Kampf und Sieg notwendigen Haß." (Wie die Bolschewiki 1917.) Siehe Rote Fahne vom 6.2. 1931.
Der Faschismus, Wegbereiter einer Revolution?
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union etwa zur gleichen Zeit offiziell die oppositionelle LominadzeSyrzow-Schatzkin-Gruppe verurteilt. 153 Auf dem 16. Parteitag der KPdSU im Sommer 1930 war Lominadze nodi in das ZK der KPdSU gewählt und Syrzow Kandidat des Politbüros geworden. Im Dezember 1930 wurde plötzlich ihr Ausschluß aus dem ZK der KPdSU bekannt. Neumann war jedoch mit Lominadze eng verbunden. Beide hatten zusammen 1927 auf Anweisung Stalins den Aufstand in Kanton organisiert. Es ist deshalb anzunehmen, daß auch der Ausschluß Lominadzes aus dem ZK der KPdSU nicht ohne Einfluß auf die Stellung Neumanns geblieben ist, obgleich sich offenbar Lominadze politisch bereits von seinem Kampfgefährten entfernt hatte. 154 So wird bei der sich schwächenden Stellung Neumanns auch noch ein gewisser sowjetischer innenpolitischer Einfluß spürbar. Wenn sich auch die Komintern und die KPD in ihrer Einschätzung der revolutionären Chancen in Deutschland unterschieden, so gingen doch beide fehl in der Annahme, daß mit einem mehr oder weniger raschen Rückgang der nationalsozialistischen Bewegung zu rechnen sei. In dieser Annahme gab es zwischen der Komintern und der KPD zu diesem Zeitpunkt keine erkennbaren gegensätzlichen Auffassungen, gleichfalls nicht in der Frage einer nationalsozialistischen Regierungsbeteiligung. Diese wurde nach wie vor nicht zuletzt auch aus außenpolitischen Gründen für unwahrscheinlich gehalten, war auch tatsächlich zu dieser Zeit in Deutschland nicht aktuell. Für die KPD wiederholte Thäl-
153 Vgl. dazu Daniels, S. 435, Sdiapiro, S. 415, und den Leitartikel der KI: Rückblick und nächste Aufgaben, in: KI, Heft 11 vom 23.3.1931 (hier nur als LominadzeSdiatzkin-Gruppe bezeidinet). 154
Während die Gründe für die Kritik der Komintern an Neumann und Remmele klar zutage liegen, nennt Daniels die parallele Lominadze-Syrzow-Schatzkin-Affäre „rätselhaft" und „geheimnisvoll". In der Kommunistischen Internationale wurde diese Gruppe als „prinzipienloser .linker'" Block gekennzeidinet. Nach Schapiro (S. 415) wurden Lominadze und Syrzow beschuldigt, die Industrialisierungs- und Kollektivierungsmethoden Stalins kritisiert zu haben, d. h. sich offenbar einem „rechten" Standpunkt genähert zu haben. Es ist wahrscheinlich, daß Lominadze sich zu einem Gesinnungswandel entschloß, nachdem seine Stellung bereits erschüttert war. Jedenfalls haben sich Neumann und Remmele erst zu einer kritischen und grundsätzlichen Haltung gegen die gesamte Kominterntaktik in Deutschland aufgerafft, nachdem, sie ausgeschaltet waren. Sachliche Kritik und Kampf um den verlorenen Einfluß scheinen sich so zu einem untrennbaren Ganzen verknüpft zu haben. Kurt Müller weist in einem Brief an den Verfasser vom 28.12.1968 besonders stark auf den Einfluß der Ausschaltung Lominadzes auf die Stellung Heinz Neumanns hin.
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Der Faschismus, Wegbereiter
einer
Revolution?
mann auf dem X I . EKKI-Plenum die Ansicht der Roten Fahne vom 14. September, daß der Höhepunkt der nationalsozialistischen Bewegung überschritten, daß der 14. September „Hitlers bester Tag gewesen sei, dem keine besseren, aber schlechtere folgen werden". 155 Diese optimistische Prognose der KPD beruhte auf der Hoffnung, mit ihrer Befreiungspropaganda von außen auf den Zersetzungsprozeß beschleunigend einwirken zu können, dessen Beginn sie in der NSDAP zu beobachten glaubte. Seine hauptsächliche Ursache sah sie in der zunehmenden Enttäuschung unter den auf eine wirkliche Änderung des „Systems" hoffenden kleinbürgerlichen Anhängern über die Politik ihrer auf Anpassung und Anbiederung an die Bourgeoisie bedachten Führung.156 Im Abfall des Reichswehroffiziers Richard Scheringer von der NSDAP im März 1931 und in seinem Übertritt zum Kommunismus glaubte die KPD die ersten Früchte ihrer Befreiungspropaganda zu erkennen, die dann neuen Auftrieb erhielt und sich zum sogenannten „ScheringerKurs" ausweitete. Die KPD überschätzte nicht nur das Ausmaß von „Rebellionserscheinungen" innerhalb der NSDAP, sondern hoffte immer wieder auf eine Zersetzung. Ein Grund war der, daß sie die NSDAP auch unter organisatorischen Gesichtspunkten beurteilte. Im Gegensatz zu den Verhältnissen und Traditionen der SPD hielt sie das organisatorische Gefüge der NSDAP für so schwach und labil, daß sie jede Rebellion zur nahe zu erwartenden allgemeinen Parteikrise werden ließ. 157 Darüber hinaus ver-
155
Siehe Thälmanns Referat auf dem X I . Plenum des E K K I , in: Inprekorr 1931, N r . 52 vom 5.6., S. 1211 und 1205.
156
Neben den Ausführungen Thälmanns auf dem X I . Plenum vgl. auch das Rundschreiben Nr. 6 (der K P D ) vom 2 5 . 3 . 1 9 3 1 : Anweisungen des Sekretariats. Abschrift auf Mikrofilm 3 5 7 ; 2,866842. In diesem inoffiziellen Rundsdireiben hieß es, daß die K P D keinen Zweifel habe, daß die gegenwärtige Stagnation der NSDAP in einen direkten Rückschritt der nationalsozialistischen Bewegung überginge. Nidit zu Unrecht wies das Rundschreiben auf die Depressionserscheinungen und die Unzufriedenheit unter den Anhängern und den Mitgliedern der NSDAP hin. Ihre Enttäuschung führte das Rundsdireiben audi auf das bisher völlige Versagen der NSDAP zurück, die weder in die Regierung gekommen wäre, nodi Erfolge im Reidistag gehabt hätte. Damit deutete das Rundsdireiben die Erwartung an, daß die NSDAP sich auch zersetzen würde, weil sie n i â t in die Regierung gekommen war. So hoffte die K P D für beide Fälle — sowohl für den Fall einer Regierungsbeteiligung der N S D A P als auch für den Fall ihrer Niditbeteiligung — auf einen Enttäusdiungsprozeß ihrer Anhänger.
157
Vgl. Thälmanns Referat auf dem X I . Plenum des E K K I , in: Inprekorr 1931, Nr. 52 vom 5. 6., S. 1205 ff. (hier S. 1210 f.).
Der Fasàismus, Wegbereiter einer
Revolution?
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sicherte Thälmann auf dem XI. Plenum, über sichere Informationen zu verfügen, daß die Geldzuwendungen finanzkräftiger Kreise nicht mehr so stark der NSDAP, sondern in letzter Zeit eher dem „Stahlhelm" zuflössen. Seitens der Komintern konstatierten die Thesen des XI. Plenums des EKKI die Zurückdrängung der nationalsozialistischen Bewegung158 und Manuilsky selbst nahm auch ihren Rückgang, wenn audi nicht einen so raschen, an. 159 Wichtig war jedoch, welche Erwartungen sich an diese Annahmen knüpften: In ihren offiziellen Äußerungen gab sich die KPD überzeugt, daß es ihr gelingen werde, einen bedeutenden Teil der nationalsozialistischen Anhänger zu gewinnen, und nährte diesen Glauben zunächst auch weiter. Offiziell erklärte sie sich zum „Erben" des erwarteten nationalsozialistischen Zerfalls. 160 Über die Frage, welchen Parteien sich die überwiegende Anzahl der nationalsozialistischen Anhänger wieder zuwenden würden, schwiegen sich dagegen die Thesen des XI. Plenums des EKKI und auch Manuilsky aus. Dieser stellte ausdrücklich nur dem möglichen „Sieg" (!) der KPD über die NSDAP die mögliche Festigung der Brüning-Regierung und der SPD, sowie die Gefahr der Illegalität für die KPD entgegen161, und das XI. Plenum stellte fest, daß die Bourgeoisie auch die Möglichkeit habe, von faschistischen zu demokratischen Methoden zurückzukehren 162 , d.h. ihre Herrschaftsmethoden zu „normalisieren". Diese Haltung zeigt aber unmißverständlich, daß die Komintern unter einem Rückgang der NSDAP im Zeichen eines offiziell nur für „möglich" gehaltenen Normalisierungsprozesses in Deutschland zweifellos das Zurückfluten der
158
In den Thesen des XI. EKKI-Plenums hieß es lediglich, die faschistische Bewegung (NSDAP) sei in Deutschland zurückgedrängt -worden. Siehe Inprekorr 1931, Nr. 38 vom 24. IV., S. 949.
139
Siehe Fußnote 163.
160
Vgl. z. B. Rote Fahne vom 27. 3.1931 und die Fußnote 156. Zu diesen, möglicherweise nur nadi außen zur Schau getragenen Siegeserwartungen, die aber ihren Eindruck auf die Anhängermassen der KPD nicht verfehlte, siehe auch unten die Ausführungen im Zusammenhang mit dem „roten Volksentscheid", S. 87 ff. und im Zusammenhang mit der Vorbereitung der KPD auf die Illegalität, S. 95 f.
181
Siehe die Fußnoten 163, 206 und 263.
162
Siehe Inprekorr 1931, Nr. 47 vom 21. 5., S. 1124.
64
Der Fasebismus, Wegbereiter einer
Revolutionf
durch die Krise radikalisierten Massen zu den Parteien verstehen konnte, von denen sie zur N S D A P gestoßen waren. 183 So muß bei der KPD und der Komintern eine etwa umgekehrte Richtung der Erwartungen angenommen werden.
163
Manuilsky ging, gerade weil er wohl einen Sdirumpfungsprozeß aufgrund einer langsamen Uberwindung der Wirtschaftskrise annahm, von einem langsameren Abschwellen, aber einem Abschwellen der N S D A P aus: „Der Faschismus vom Schlage Hitlers kann die Krebskrankheit bekommen, anscheinend hat er diese Krankheit schon unter dem Einfluß der Aktivität unserer Partei bekommen" (Schlußwort, S. 781). — Dabei fügte er warnend hinzu: „Aber die sich faschisierende bürgerliche Diktatur in Deutschland, die von Brüning und der Sozialdemokratie verwirklicht wird, kann sich auch festigen, wenn man sich eine so paradoxe Lage vorstellt, daß sich das deutsche Proletariat mit seinem Siege (? !) über die Hitlerische Form der faschistischen Bewegung zufrieden geben würde." Dies kann wohl nur als verschleiertes Bekenntnis zu einer erwarteten Normalisierung in Deutschland gedeutet werden. Außer in diesen kurzen Sätzen seines SchlußWortes ging Manuilsky in seinem Referat oder das XI. Plenum sonst in seinen Thesen nicht auf eine zahlenmäßige Perspektive der N S D A P ein, auch die Presse der Komintern tat dies bis in die zweite Hälfte von 1931 hinein nicht. Dies zeigte eigentlich auch, daß die Sowjetunion, die ja die Zuspitzung der Sommerkrise 1931 nicht erwartet hatte, auch nicht die eine Wirkung dieser Krise, das weitere Anwachsen der N S D A P im Herbst 1931, erwartete. Siehe auch S. 95 f.
VI. Die Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der Komintern im Zeichen der Zuspitzung der Krise in Deutschland 1931 1. Der Beginn einer sowjetischen außenpolitischen
Zweigleisigkeit
Die sowjetische Deutschlandpolitik hatte seit etwa Mitte 1930 das Bestreben gezeigt, Deutschlands neugewonnene außenpolitische Bewegungsfreiheit und neuen Bewegungswillen für die deutsch-sowjetischen Beziehungen nutzbar zu machen, Deutschland zumindest auf der Linie einer Ausgleichspolitik zwischen West und Ost zu halten, wenn nicht die Bindungen Deutschlands zum Westen, insbesondere zu Frankreich zu lockern. Die Befreiungspropaganda der Komintern und der KPD sollte diese Absichten unterstützen, ohne jedoch die gegenseitigen Beziehungen durch eine Haltung „revolutionärer Ungeduld" zu stören. Daß die Sowjetunion diese außenpolitische Konstellation beibehalten wollte, zeigte sich auch im Zusammenhang mit den Anfang 1931 beginnenden deutsch-sowjetischen Gesprächen um die Verlängerung des im Sommer 1931 ablaufenden Berliner Vertrages. Als am 16. Februar der deutsche Botschafter erstmals die Frage einer Verlängerung gegenüber Litwinow anschnitt, zeigte sich dieser bereit, sofort Verhandlungen aufzunehmen.164 Darüber hinaus ließ die Sowjetunion gleich zu Beginn dieser Gespräche ihren Wunsch erkennen, den Berliner Vertrag zu erweitern und auszugestalten. Wie und in welchem Maße dies geschehen sollte, wurde allerdings nicht näher ausgeführt. 165 Doch wenig später zeigte die sowjetische Außenpolitik eine ganz neue Entwicklung. In seiner Rede vom 8. März 1931 auf dem VI. Sowjetkongreß der UdSSR brachte Molotow zwar den Wunsch nach Fortsetzung und Vertiefung des deutsch-sowjetischen Einvernehmens und der Aufrechterhaltung einer gegenseitigen „special relationship" zum Aus-
164
165
Vgl. das Telegramm Dirksens vom 6. 2.1931 über eine Unterredung mit Litwinow, in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 27, 2860/D 562018. Vgl. das Telegramm Dirksens ebda, und Telegramm vom 23. 2.1930 über eine Unterredung mit Litwinow, ebda. 2860/D 562062—64.
5 Weingartncr
66
Deutschlandpolitik
der Sowjetunion
und Komintern
Frühjahr/Sommer
1931
druck, bot aber zugleich Frankreich an, die gegenseitigen Beziehungen zu entspannen.166 Dies Angebot stellte ein Novum gegenüber der bisherigen sowjetischen Haltung zu Frankreich dar. 167 1930 war die Sowjetunion bemüht gewesen, die Spitze einer deutsdi-sowjetischen Zusammenarbeit gegen Frankreich zu richten, um es zu isolieren. Es war anzunehmen, daß die Sowjetunion auch wegen der schlechten sowjetisch-französischen Beziehungen an einem guten Verhältnis zu Deutschland stark interessiert war. Nunmehr verknüpfte Molotow ein vertieftes Verhältnis zu Deutschland und ein verbessertes zu Frankreich zu einer einheitlichen außenpolitischen Konzeption. Damit verlor die sowjetische Außenpolitik jedoch ihre einseitige Ausrichtung auf Deutschland zugunsten Frankreichs und wurde zweigleisig, da sie sich sowohl um Deutschland als auch um Frankreich bemühte. Die sowjetische außenpolitische Initiative gegenüber Frankreich und die bald einsetzenden Verhandlungen168 waren zugleich der Beginn einer vorsichtigen Rückversicherungspolitik gegenüber Deutschland. Obgleich die sowjetische Diplomatie besonders um die Jahreswende 1930/31 ihre ungetrübten Beziehungen zu Deutschland betonte, wurde dodi zur gleichen Zeit in der sowjetischen, aber stärker noch in der Presse der Komintern ein neues Mißtrauen gegenüber der außenpolitischen Orientierung Deutschlands wach.169 Gleichsam als publizistische Begleitmusik 1,6
Zwar griff Molotow zunächst in gewohnter Weise die sowjetfeindliche Außenpolitik Frankreichs an, angebliche französische Bemühungen um eine antisowjetische Wirtschaftsblockade und die Haltung Frankreichs auf der Vorbereitenden Abrüstungskonferenz, erklärte dann aber: „Nichtsdestoweniger sind wir bereit, unsere Anstrengungen zur Festigung unserer gegenseitigen Beziehungen fortzusetzen, wenn wir die aufrichtige Bereitschaft zur Festigung der sowjetrussisch-französischen Beziehungen auch von Seiten Frankreichs bemerken."
Molotow, W.: Der 5-Jahr-Plan siegt. Rede vom 8. März 1931 auf dem VI. Sowjetkongreß der UdSSR gehalten. Hamburg-Berlin 1931, S. 30. 167 Noch in seiner Rede im Januar 1931 hatte ein derartiger Hinweis gefehlt. Vgl. Molotows Bericht an das Zentralexekutivkomitee vom 4 . 1 . 1 9 3 1 , in: Soviet Documents . . . , Vol. II, S. 467. 188 Im März/April 1931 nahm man sowjetisch-französische Gespräche zur Beendigung des gegenseitigen Zollkrieges auf, und am 1.5. kam es zu einer sowjetisch-französischen Übereinstimmung über Verhandlungen zum Abschluß eines provisorischen Handelsabkommens und eines gegenseitigen Nichtangriffspaktes. Vgl. dazu Scott, William Evan: Alliance Against Hitler. The Origins of Franco-Soviet Pact. Duke Univ. Durban, North Carolina 1963, S. 11. 109 Vgl. die Meldung der Deutsdilandkorrespondentin der Iswestija (Kaith) vom 19. 12. 1930, in: PA, IV Ru, Politik 2, Bd. 16, L 622/Blatt 108. Vgl. audi den Leitartikel der Iswestija, wiedergegeben im Berliner Tageblatt vom 29.12.1930.
Beginn einer sowjetisâen
außenpolitischen
Zweigleisigkeit
67
zu den ersten deutsch-sowjetischen Kontakten wegen der Verlängerung des Berliner Vertrages wies die Internationale in einem Leitartikel darauf hin, daß die deutsche Bourgeoisie bei den beginnenden deutschsowjetischen Verhandlungen „an einem historischen Scheideweg" stehe. Die kommenden Verhandlungen würden den „Barometerstand für die Beziehungen zwischen der kapitalistischen Welt und der Sowjetunion" anzeigen.170 Mit dieser Feststellung war deutlich ausgesprochen, daß die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Gespräche auch Konsequenzen für die Beziehungen der Sowjetunion zu den nichtdeutschen kapitalistischen Staaten haben könnten. Die Formel vom „historischen Scheidewege" mochte dann nicht nur für Deutschland, sondern auch in gewissem Maße für die Sowjetunion gelten. Als Anfang Februar Litwinow den Wunsch nach Erweiterung und Ausbau der deutsch-sowjetischen vertraglichen Beziehungen erkennen ließ, hatte Dirksen jedoch sofort durchblicken lassen, daß die deutsche Regierung wohl nur eine unveränderte Vertragsverlängerung akzeptieren würde. 171 Da es der Sowjetunion darauf ankam, durch eine festere vertragliche Bindung Deutschlands an die Sowjetunion möglichen und erwarteten Gefahren einer stärkeren Westorientierung Deutschlands entgegenzuarbeiten, mußte sie angesichts der Reaktion Dirksens enttäuscht sein, weil eine Absage Deutschlands zu erwarten war. Hinzu kam, daß Curtius während der Etatberatungen im Reichstag wenige Tage später die deutsch-sowjetischen Beziehungen nur vorsichtig streifte, dagegen als den Angelpunkt der großen europäischen Fragen das deutsch-französische Verhältnis nannte und sich ziemlich eindeutig zur deutsch-französischen Zusammenarbeit bekannte; ein eindrückliches Bekenntnis zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen hingegen, wie es der deutsche Außenminister im Sommer 1930 und auch noch im November vor dem Reichsrat abgegeben hatte, fehlte nun. 172 Der aktuelle außenpolitische Hintergrund für die sowjetischen Befürchtungen und für das Verhalten Deutschlands waren die Veränderungen, die sich in der internationalen Situation Deutschlands 1930/31 abzuzeichnen begannen.
170
171 172
5*
Braun, P.: Genf oder Versailles, in: Die Internationale, Heft 2 vom Februar 1931. S. 59 ff. Siehe Fußnote 164. Vgl. Verhandlungen des Reichstages. V. Wahlperiode 1930. Stenografische Beridite, Band 444. Berlin 1931, S. 876 ff. (22. .Sitzung am 10. 2.). Zur Rede vor dem Reichsrat vgl. Curtius, S. 179 f.
68
Deutschlandpolitik
der Sowjetunion und Komintern
Frühjahr/Sommer
1931
Angesichts der Rückzüge kurzfristiger ausländischer Kredite nach den Septemberwahlen mußte sich Deutschland um neue Kredite aus dem Westen bemühen. Da Frankreich das einzige Gläubigerland war, das über einen Goldüberschuß verfügte, befürchtete die Kominternpresse, daß Frankreich über die Gewährung von Krediten auf Deutschlands Außenpolitik einen immer stärkeren Druck ausüben werde, um die deutsch-sowjetischen Beziehungen zu torpedieren. 173 Damit schlug sich bereits Anfang 1931 die Sorge nieder, die zum außenpolitischen Leitthema in der Presse der Sowjetunion und der Komintern werden sollte, daß Frankreich seine finanziellen Mittel zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele unter Ausnutzung zunehmender deutscher Schwierigkeiten einsetzen wollte. Neben der Befürchtung vor einer stärkeren allgemein außenpolitischen Anlehnungsbedürftigkeit Deutschlands an den Westen waren es aber auch wirtschafts- und kreditpolitische Erwägungen, die den Beginn der sowjetischen Rückversicherungspolitik bestimmten. Von Molotow wurde in seiner Rede am 8. März die aktuelle Gefahr weniger in einer militärischen Intervention, als vielmehr in einer Wirtschaftsblockade gesehen, wie sie sich mit dem französischen Oktoberdekret 1930 und der Antidumpingkampagne abzuzeichnen schien. So kam es der Sowjetunion darauf an, die Aufhebung der französischen Einfuhrbeschränkungen vom 3. Oktober zu erreichen, den französischen Markt zu erschließen und vor allem von Frankreich, dem „reichsten Land der Welt", Kredite zu bekommen.174 Man wird vielleicht einwenden, daß der Gedanke, Deutschland werde auf die Dauer das Kreditbedürfnis der Sowjetunion nicht befriedigen können, für die Entscheidung der Sowjetunion zur Annäherung an Frankreich kaum eine Rolle gespielt haben könnte, da etwa zu diesem Zeitpunkt der Besuch deutscher Industrieller in der Sowjetunion stattfand, der schließlich zum Pjatakow-Abkommen vom April 1931 führte. 173 Vgl. Peri, G.: Das französische Parlament und das Schreckgespenst der Revolution in Deutschland, in: Inprekorr 1931, N r . 15 vom 20. 2., S. 396; Neubauer, Th.: Sozialfasdiistischer Pakt mit Brüning, in: Inprekorr 1931, Nr. 12 vom 10. 2., S. 324, und Rote Fahne vom 1 2 . 2 . 1 9 3 1 und vom 8 . 2 . 1 9 3 1 . In der Ministerbesprechung vom 2 0 . 2 . 1 9 3 1 äußerte Curtius, daß Frankreich eine Verständigung mit Deutschland gegen die Preisgabe der Russen wolle. Vgl. den Auszug aus der Niederschrift über die Ministerbesprechung vom 20. 3 . 1 9 3 1 , in: Bundesarchiv, Reichskanzlei, R 43 1/139, L 196063. 174
So Krestinski zu Twardowski. Vgl. das Telegramm Twardowskis vom 5. 6. 1931 über eine Unterredung mit Krestinski, in: PA, Büro RM, Ru, Bd. 27, 2860/D 562119.
Beginn einer sowjetischen außenpolitischen Zweigleisigkeit
69
Jedoch ist zu bedenken, daß bereits Anfang 1931 von der Komintern die Politisierung der Kreditvergabe des Westens an Deutschland erkannt worden war. 175 Sicher hatte die Sowjetunion keine Zweifel an der Kreditwilligkeit, sondern eher aufkommende Besorgnis vor einer mangelnden Kreditfähigkeit Deutschlands. Es darf auch nicht übersehen werden, daß die Kreditvergabe an die Sowjetunion innenpolitisch ein negatives Echo seitens des Zentrums, der Sozialdemokratie und auch der NSDAP hervorrief. 176 Ursprünglich hatte die Sowjetunion in Zusammenhang mit ihren Kreditwünschen auf ein reguläres, vom Reichstag zu ratifizierendes Kreditabkommen gedrängt, um die Reichsregierung ostpolitisch festzulegen. Deutscherseits wurde dieser Wunsch mit dem Hinweis gerade auf die deutsche innenpolitische Konstellation abgelehnt. Außenpolitische, wirtschafts- bzw. kreditpolitische Erwägungen, die auch die innenpolitische Lage in Deutschland in Rechnung stellten, verknüpften sich so zu einem Motivbündel, das eine vorsichtige Rückversicherungspolitik sinnvoll erscheinen ließ. Die sowjetische außenpolitische Zweigleisigkeit war aber vor allem ein Prozeß von wechselnder Intensität. Die Bemühungen, neue außenpolitische Möglichkeiten zu erschließen, verstärkten sidi in dem Maße, in welchem das erste Gleis der sowjetischen Außenpolitik an Bedeutung verlor; ihr Erfolg hing aber von der Bereitwilligkeit Frankreichs ab, den sowjetischen Bemühungen entgegenzukommen. Der Fortgang einer sowjetischen außenpolitisdien Zweigleisigkeit wurde demnach von verschiedenen Faktoren in der weiteren Entwicklung außenpolitischer Konstellationen bestimmt: in Europa vom Dreieck Frankreich-DeutsdilandSowjetunion. Hier stand seit März 1931 dieses Beziehungssystems unter dem Einfluß des deutsch-österreichischen Zollunionsplans. Am 20. und 21. März 1931 wurde dieser Plan Deutschlands und Österreichs veröffentlicht. Seit Monaten in aller Stille vorbereitet, ohne genügende diplomatische Rückendeckung, wirkte die plötzliche Bekanntgabe wie eine Sensation.177 Um dem erwarteten Mißtrauen im Westen, insbesondere Frankreichs, 175 £) e r Vorwurf des Auslandes, daß Deutschland, das selbst Kredite brauchte, an die Sowjetunion audi unter außenpolitisdien Gesichtspunkten Kredite vergab, scheint jedoch erst etwas später aufgekommen zu sein. ΐ7β Vgl. Das neue Russengesdiäft, in: Neue Zürdier Zeitung vom 17. 5. 1931. 177 Zur Zollunion vgl. Krulis-Ruanda, Jan: Das deutsdi-österreidiische Zollunionsprojekt von 1931. Zürich 1955, und Hauser, Oswald: Der Plan einer deutsdiösterreidiischen Zollunion von 1931 und die europäische Föderation. In: Historische Zeitschrift. Bd. 179 (1955), S. 45 ff.
70
Deutschlandpolitik der Sowjetunion und Komintern Frühjahr!Sommer 1931
zu begegnen, behauptete man deutscherseits, der Unionsplan sei lediglich ein regionaler Beginn des von Briand angestrebten Paneuropa. Im Westen überwog aber dodi die Ansicht, daß es sich hier weniger um einen ersten Schritt zur wirtschaftlichen Einigung Europas, als vielmehr um die Einleitung einer ausschließlich deutschen Interessenpolitik mit dem möglichen Ziel des politischen Anschlusses Österreichs an Deutschland handele. Vor allem die französische Regierung ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß Deutschland mit seiner außenpolitischen Initiative die von Frankreich gesetzten Grenzen außenpolitischen Spielraums weit überschritt. In diesem Plan sah sie den ersten Schritt zum Anschluß Österreichs an Deutschland und war entschlossen, ihn mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu Fall zu bringen. Deutschland hatte als einzige Regierung die sowjetische von der bevorstehenden Veröffentlichung des Zollunionplans unterrichtet, hatte es aber im Gegensatz zu ihrer Haltung in der Öffentlichkeit aus guten Gründen vermieden, den Plan als „den Anfang einer mitteleuropäischen Zollvereinigung" darzustellen. 178 So sah die sowjetische Regierung die Union „ausschließlich als eine Frage machtpolitischer Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Deutschland" an. 179 Obwohl die Sowjetunion an der deutsch-französischen Entfremdung interessiert war, verharrten sie und die Komintern in wohlwollender Neutralität. 180 Für diese Haltung waren offensichtlich zwei Gründe maßgeblich. Eine diplomatische Unterstützung vertrug sich angesichts der zu erwartenden französischen Reaktion schlecht mit dem sowjetischen Bemühen um einen Ausgleich mit Frankreich und den sowjetisch-französischen Verhandlungen, die im März/April ihren Anfang genommen hatten. Darüber hinaus verliefen die deutsch-sowjetischen Gespräche über die Verlängerung des
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Vgl. die Aufzeichnung Staatssekretärs von Bülow vom 17. 3.1931, in: PA, Büro Staatssekretär, Akten betreffend Aufzeichnungen über Diplomatenbesuche, Bd. 2, 4602 H/384719, und Aufzeichnung Bülows vom 16. 3.1931 über eine Unterredung mit dem sowjetischen Botschafter, in: PA, IV Ru, Politik 2, Bd. 16, L 622/L 197573. So der sowjetische Geschäftsträger Bratman-Brodowski zu Bülow. Vgl. die Aufzeichnung Bülows vom 9. 4.1931 über eine Unterredung mit Bratman-Brodowski, in: PA, Büro Staatssekretär, Akten betreffend Aufzeichnungen über Diplomatenbesuche, Bd. 2, 4602 H/3847726—27. Vgl. die Aufzeichnung Staatssekretärs von Bülow vom 16. 3.1931 über eine Unterredung mit dem sowjetischen Botschafter, in: PA, IV Ru, Politik 2, Bd. 16, L 622/ L 197573. Zur Haltung der Komintern vgl. den Leitartikel der KI: Zu den Ergebnissen des XI. Plenums, in: KI, Heft 14/15 vom 23. 4. 1931, S. 622.
Beginn einer sowjetischen
außenpolitischen
Zweigleisigkeit
J\
Berliner Vertrages nicht ganz so, wie die Sowjetunion es erwartete, so daß ihr Argwohn über die deutsche außenpolitische Orientierung neuen Auftrieb erhalten mußte. Als Litwinow am 25. März mit Dirksen wieder das Thema der Vertragsverlängerung anschnitt, präzisierte dieser den deutschen Standpunkt dahingehend, daß sich die deutsche Regierung die Möglichkeit einer halbjährlichen, höchstens jährlichen Kündigung vorbehalten wolle. Litwinow schien dieser Vorschlag, vorbehaltlich der Zustimmung der sowjetischen Regierung, annehmbar, und er bemerkte darüber hinaus, daß die Sowjetunion nunmehr von ihrer ursprünglichen Absicht einer Ausgestaltung und Erweiterung des Vertrages Abstand nehme.181 Zwei Tage später erklärte er jedoch, die Sowjetunion wünsche, daß der verlängerte Vertrag erst nach Ablauf von fünf Jahren kündbar sein sollte. Er begründete das Verlangen der Sowjetunion vor allem mit dem Argument, man könne auch mit einer sowjetfeindlichen Mehrheit im Reichstag rechnen. Deshalb sei die Sowjetunion auch für eine schnelle Ratifizierung und eine schnelle Unterzeichnung des Verlängerungsprotokolls.182 Curtius erhob gegen die gewünschte fünfjährige Unkündbarkeit Bedenken und schlug dagegen vor, den Vertrag auf eine unbeschränkte Frist zu verlängern. Jedoch sollte eine Kündigung na