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German Pages 193 Year 2008
Staatswesen und rechtsstaatlicher Anspruch Ethische Fragestellungen zwischen Recht und Politik Von Jan C. Joerden
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
JAN C. JOERDEN
Staatswesen und rechtsstaatlicher Anspruch
Staatswesen und rechtsstaatlicher Anspruch Ethische Fragestellungen zwischen Recht und Politik
Von Jan C. Joerden
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12865-5 Gedruckt auf alterungsbesta¨ndigem (sa¨urefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort In diesem Band werden Überlegungen zum Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik zusammengeführt, die ich zum größten Teil auch schon anderenorts zur Diskussion gestellt habe. Soweit auf bereits publizierte Texte zurückgegriffen wurde, sind diese erheblich überarbeitet und ergänzt worden. Es liegt auf der Hand, dass daraus weder eine in sich geschlossene noch eine vollständige Staatstheorie entstehen konnte oder sollte. Dies zu leisten haben bereits andere unternommen, etwa Immanuel Kant, auf dessen Werk sich mehrere der hier diskutierten Thesen beziehen werden. Mir ging es demgegenüber darum, einige – wie mir scheint – wichtige Fragen zur rechtsstaatlichen Konstitution von Staatswesen aufzugreifen, die sonst eher am Rande allgemeiner Staatstheorien behandelt werden. Dass dabei nicht nur Grenzfragen, sondern immer auch Grundfragen der politischen Ethik zur Sprache kommen, wird sich dem Leser hoffentlich gleichwohl erschließen. Wenn auch jeder Autor auf möglichst breite Zustimmung hofft, rechne ich doch durchaus mit Widerspruch zu einigen der Thesen, die ich am Ende eines jeden Kapitels formuliert habe, und zu deren voraufgehenden Herleitungen. Sollte dies der Fall sein, wäre ich für die Übermittlung von Kritik sehr dankbar (ggf. auch per email: [email protected]). Bei der Herstellung dieses Bandes und seiner kritischen Durchsicht haben mich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lehrstuhls für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie und des Interdisziplinären Zentrums für Ethik an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) unterstützt. Ich danke dafür insbesondere Petra Döring, Christa Joerden, Dr. Daniela Lieschke, Susen Pönitzsch und Stefan Seiterle. Aber auch den Studentinnen und Studenten der Viadrina aus den drei hiesigen Fakultäten Rechtswissenschaften, Kulturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften danke ich für die engagierte Diskussion mancher der hier publizierten Thesen in Vorlesungen und Seminaren. Herrn Dr. Florian Simon bin ich für die Aufnahme des Buches in das Programm des Verlags Duncker & Humblot sehr zu Dank verpflichtet. Für die sorgfältige verlagsmäßige Betreuung der Drucklegung danke ich Herrn Lars Hartmann im Verlag Duncker & Humblot, Berlin. Last but not least danke ich der Alfried Krupp Wissenschaftsstiftung für meine Berufung als Senior Fellow im Akademischen Jahr 2007/08 an das Wissenschaftskolleg Greifswald, die es mir ermöglicht hat, neben meinem eigentlichen Forschungsprojekt am Kolleg letzte Korrekturen an der vorliegenden Publikation vorzunehmen. Greifswald im März 2008
Jan C. Joerden
Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Wann ist ein Politiker in seinem Amt nicht mehr tragbar?
11
I.
Der vorzeitige Politikerrücktritt im demokratischen Rechtsstaat . . . . . . . . . . . .
11
II.
Drei Arten von Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
III. Verhaltensregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verstöße gegen rechtliche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verstöße gegen ethische Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Umgang mit der Aufdeckung der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwei Arten von Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 16 17 19 21
IV. Zurechnungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Zurechnungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zurechnungsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eine Parallele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24 24 25 26
V.
Verfahrensregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einrichtung von „Ehrengerichtshöfen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beweislastregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verjährung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28 28 29 29
Ergebnisse des 1. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
2. Kapitel Weshalb müssen die drei Gewalten im Staat voneinander getrennt werden?
33
I.
Kants Thesen zur Gewaltenteilung in der Metaphysik der Sitten . . . . . . . . . . .
33
II.
Gewaltenteilung und moralisch handelndes Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
III. Gewaltenteilung und praktischer Syllogismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Ergebnisse des 2. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
8
Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel Sind „Rechtsstaat“ und „Unrechtsstaat“ kontradiktorische Begriffe?
47
I.
Zwischen Rechtsstaat und Unrechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
II.
Kants Staatstypologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
III. Kants Systematik und die Begriffe „Rechtsstaat“, „Unrechts-Staat“ und „Un-Rechtsstaat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
IV. Interpretation der Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
V.
Ist Kants Staatstypologie vollständig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
Ergebnisse des 3. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
4. Kapitel Unter welchen Bedingungen kann das Strafrecht einen Beitrag zur „Aufarbeitung“ der Verbrechen eines untergegangenen Unrechtsstaates leisten?
57
I.
Regimewechsel und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
II.
Die Thesen Nauckes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
III. Einwände gegen die Thesen Nauckes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Motivationslage der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Verzicht auf Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zum Antagonismus von Naturrecht und positivem Recht . . . . . . . . . . . . . . 4. Zur Trennung der Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zum Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65 65 66 67 68 70
Ergebnisse des 4. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
5. Kapitel Worauf kommt es bei der Beurteilung einer Kooperation mit einem Unrechtsstaat an?
75
I.
Kollaboration im Unrechtsstaat und Gefangenendilemma . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
II.
Das Gefangenendilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
III. Perspektiven der Denkfigur des Gefangenendilemmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
IV. Anwendung auf das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
V.
Welche Fragen sind zu stellen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Ergebnisse des 5. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
Inhaltsverzeichnis
9
6. Kapitel Wann überschreitet ein Staat beim Einsatz heimlicher Ermittlungsmaßnahmen die Grenzen zum Überwachungsstaat?
84
I.
Maßnahmen zur heimlichen Ermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
II.
Genereller Verzicht auf heimliche Ermittlungsmaßnahmen? . . . . . . . . . . . . . . .
85
III. Parameter möglicher Legitimierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
IV. Die Parameter im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Ergebnisse des 6. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
7. Kapitel Kann es ein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit geben?
97
I.
Vom Naturzustand zum Rechtszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
II.
Drei Ebenen des Denkens über Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedingungen der Möglichkeit für Gerechtigkeit (1. Ebene) . . . . . . . . . . . . 2. Gerechter Ausgleich entgegengesetzter Willensziele (2. Ebene) . . . . . . . . . 3. Ausgleich natürlicher Ungleichheiten (3. Ebene) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101 101 104 107
III. Kritik allgemeiner Prinzipien der Gerechtigkeit anhand der entwickelten Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Goldene Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Argument der Verallgemeinerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kategorischer Imperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Prinzip des Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110 110 112 113 115
Ergebnisse des 7. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
8. Kapitel Kann man die Zivilbevölkerung eines Staates im Krieg für das Handeln ihrer Staatsorgane verantwortlich machen?
119
I.
Kollateralschäden und Kollektivschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
II.
Zurechnung kollektiver Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
III. Zurechnungsprobleme beim Handeln und Unterlassen von Einzelpersonen . . 123 IV. Zurechnungsprobleme bei Gremienentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 V.
Kollektive Verantwortlichkeit der Bürger im Staat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Ergebnisse des 8. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
10
Inhaltsverzeichnis 9. Kapitel Darf der Staat unter bestimmten Umständen das Mittel der Folter einsetzen?
132
I.
Kants Begründung für ein absolutes Lügeverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Beispielsfall von Constant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwischen Notwehr und Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtspflicht oder Tugendpflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausnahmefeindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132 132 133 135 139
II.
Absolutes Lügeverbot und absolutes Folterverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Der Fall Daschner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Zur Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
III. Zur ethischen Begründung eines absoluten Folterverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 IV. Ausnahmen vom Folterverbot? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Prinzip der Verallgemeinerung als Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbedingungen des Prinzips der Verallgemeinerung . . . . . . . . . . 3. Anwendung des Prinzips auf die Folterproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Folter im „Privatgebrauch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149 149 151 154 154
V.
155 156 159 159 160 161
Folter durch Staatsorgane? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Folter im staatlichen Gewahrsam? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Parallelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Staatliches Eingreifen zur Verhinderung von Folter durch Private? . . . . . . 4. Vom Anwendungsverbot zum Androhungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Extreme Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI. Zum Vergleich der Leistungsfähigkeit von Prinzip der Verallgemeinerung und Kategorischem Imperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Ergebnisse des 9. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
1. Kapitel
Wann ist ein Politiker in seinem Amt nicht mehr tragbar? I. Der vorzeitige Politikerrücktritt im demokratischen Rechtsstaat In einer Anmerkung zu jenem berühmten Vademecum für Politiker, das Niccolò Machiavelli unter dem Titel Il Principe (Der Fürst) verfasst hat, findet sich folgende Anekdote:1 „Man pflegete vom Alexander dem VI. und dem Herzoge von Valentinois, seinem Sohne, zu sagen. Jener thäte niemals, was er sagete, und dieser sagete niemals, was er thäte; Beyde aber hätten den Grundsatz: Man müsse sein Wort iedermann geben, aber niemanden halten. Wenn ihnen vorgehalten ward, dass sie nicht Wort gehalten, so antworteten sie, sie hätten zwar geschworen; aber nicht versprochen, den Eid zu halten.“
Jener Papst Alexander VI. – übrigens ein zu seiner Zeit durchaus erfolgreicher Politiker: Er teilte im Jahre 1494 die Neue Welt durch Schiedsspruch zwischen Spanien und Portugal – und sein Sohn beherrschten offenbar perfekt die Kunst, sich herauszureden. Politikern unserer Zeit gelingt das – zum Glück – nur noch in begrenztem Maße. Die Frage, in welchen Fällen ein Politiker zurücktreten muss, eine Frage, die noch bei Alexander VI. bestenfalls auf Unverständnis gestoßen wäre, ist deshalb mehr als bloß akademisch. Sie bedarf allerdings zunächst der Eingrenzung und Präzisierung. Es sollen dabei nicht diejenigen Normen erörtert werden, die bei einem normalen Ablauf der Amtsperiode eines Politikers gelten und die bei zutreffender Anwendung zu seinem Rücktritt führen. Auch geht es nicht – jedenfalls nicht primär – um die Bestimmung derjenigen Regeln politischer Klugheit, die es einem Politiker nahelegen mögen, in bestimmten Situationen das Handtuch zu werfen und sich ins Privatleben (oder auf einen anderen Posten) zurückzuziehen. Vielmehr sollen hier diejenigen Normen diskutiert werden, die Auskunft darüber geben, ob ein Politiker, der sich ein Fehlverhalten (im weitesten Sinne) 1 Zitiert nach der Ausgabe: Nic. Machiavel, Regierungskunst eines Fürsten. Mit Herrn Amelots de la Houssaye historischen und politischen Anmerkungen, und dem Leben des Machiavels, Frankfurt und Leipzig 1745. Nachdruck in der Reihe „Die bibliophilen Taschenbücher“ mit einem Nachwort von Heiner Höfener. Die im Text wiedergegebene Anmerkung stammt von Amelots de la Houssaye (S. 140).
12
1. Kap.: Wann ist ein Politiker in seinem Amt nicht mehr tragbar?
hat zuschulden kommen lassen, zurückzutreten hat oder ob er im Amt bleiben kann. Es wird also primär nach kategorischen Imperativen gefragt und nicht nur nach hypothetischen Imperativen. Zudem soll diese Fragestellung lediglich vor dem vorausgesetzten Hintergrund eines demokratischen Rechtsstaates verfolgt und nicht etwa die – ohnehin regelmäßig müßige – Frage aufgeworfen werden, wann ein Diktator zurücktreten muss oder sollte. Dabei muss man allerdings voraussetzen, dass es überhaupt allgemeingültige Regeln gibt, die darüber Auskunft geben, wann in der soeben eingegrenzten Hinsicht ein Politiker im demokratischen Rechtsstaat zurücktreten sollte. Nun gibt es diese Regeln durchaus, sowohl geschriebene als auch ungeschriebene. Geschriebene insofern, als sie etwa die gesetzesförmigen Bedingungen für die Amtsenthebung eines Politikers (z. B. eines Ministers) normieren.2 Schwieriger ist es da schon mit den ungeschriebenen, wie es ja mit ungeschriebenen Regeln immer seine Schwierigkeiten hat: Wer kennt sie? Wer befolgt sie? Wer setzt sie durch? Auch insofern muss also eine Präzisierung der Fragestellung erfolgen: Es geht um diejenigen Regeln, die in einem politischen, öffentlichen Diskurs – sofern dieser Anspruch auf Rationalität erhebt – angewendet werden können, um einen Politiker zum Rücktritt zu bewegen. Die Frage dieses Kapitels müsste deshalb präziser, aber dadurch natürlich auch umständlicher, etwa wie folgt lauten: Welches Vorkommnis würde die öffentliche Meinung davon überzeugen, dass dieser oder jener Politiker zurücktreten muss? Und was würde demgegenüber noch als normales politisches Verhalten toleriert werden, das nicht zum Rücktritt zwingt? Der Zusammenhang dieser Fragestellung mit dem Strafrecht liegt nahe, wenn man sich vergegenwärtigt, dass viele Politiker gerade deswegen zurücktreten mussten, weil sie gegen strafrechtliche Normen verstoßen hatten. Denken mag man etwa an den in dieser Hinsicht wohl spektakulärsten Fall, den WatergateSkandal.3 Hier hatte der amerikanische Präsident Richard Nixon offenbar unter Verstoß gegen strafrechtliche Vorschriften seine politischen Gegner in der De2 Ein besonderes Amtsenthebungsverfahren für Minister gibt es auf Bundesebene nicht. Allerdings kann ein Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers, dem der Bundespräsident stattgeben muss, jederzeit und ohne Begründung entlassen werden, vgl. Art. 64 Abs. 1 GG. Zu Einzelheiten vgl. auch §§ 9 und 10 BMinG. Weder der Bundestag noch ein anderes Verfassungsorgan können eine Entlassung erzwingen. Teilweise anders sind die Regelungen auf Länderebene, hier gibt es z. B. in vielen Bundesländern das Institut der Ministeranklage, vgl. dazu z. B. Peter Badura, „Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister“, ZParl 1980, S. 573 ff., S. 578 f.; Klaus Kröger, Die Ministerverantwortlichkeit in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1972, S. 159 ff. In diesen Zusammenhang gehört auch (im Hinblick auf den Bundespräsidenten) Art. 61 GG. In den Vereinigten Staaten gibt es bekanntlich das Verfahren des „Impeachment“, vgl. dazu Ronald D. Rotunda/John E. Nowa/J. Nelson Young, Treatise on Constitutional Law: Substance and Procedure, St. Paul, Minn. 1986, Bd. 1, S. 448 ff.; Winfried Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, München 1993, S. 82.
II. Drei Arten von Regeln
13
mokratischen Partei ausspioniert. Soweit man weiß, gingen die Machenschaften bis zu einem Einbruch in die Geschäftsräume der Demokratischen Partei. Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland hat es durchaus Fälle mit strafrechtlichem Einschlag gegeben, man erinnere sich z. B. an die Flick-Parteispendenaffäre, in deren Verlauf der damalige Minister Otto Graf Lambsdorff zurücktrat, als die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen ihn unmittelbar bevorstand.4 Auf andere Fälle wird noch zurückzukommen sein. Aber abgesehen von diesen Fällen eines mehr vordergründigen Zusammenhanges mit dem Strafrecht, in denen bereits das fragliche Fehlverhalten des Politikers unmittelbar gegen das Strafrecht verstößt, gibt es einen bemerkenswerten Strukturzusammenhang zwischen den Regeln, die im Bereich der Fragestellung dieses Kapitels maßgeblich sind, und den Regeln, die für das Strafrecht von Interesse sind. Auch dies wird nun näher zu zeigen sein.
II. Drei Arten von Regeln Es müssen nämlich bei der Behandlung der vorliegenden Fragestellung – ganz ähnlich wie im Strafrecht – drei verschiedene Arten von Regeln auseinandergehalten werden: Erstens Verhaltensregeln, zweitens Zurechnungsregeln und drittens Verfahrensregeln. Verhaltensregeln geben darüber Auskunft, welches Verhalten – im vorliegenden Zusammenhang: eines Politikers – erwünscht ist und welches nicht. Im strafrechtlichen Kontext bilden diese Regeln die Vorschriften des sogenannten Besonderen Teils des Strafgesetzbuches. Aber auch für die Regeln der Ethik, etwa die Vorschriften des Dekalogs, gilt nichts prinzipiell anderes, zumal ja auch die meisten Regeln des Besonderen Teils des Strafrechts lediglich Konkretisierungen ethischer Verhaltensregeln sind. Es kann dabei keinem Zweifel unterliegen, dass auch Politiker an derartige Verhaltensregeln gebunden sind. Zum einen natürlich an die Regeln des Strafrechts, wie jeder andere Bürger auch. Zum anderen aber an möglicherweise weitergehende Vorschriften, die in vielen Punkten, z. B. mit dem Dekalog harmonieren mögen, sicherlich aber in manchen Punkten von ihm abweichen. Verhaltensregeln –
3 Vgl. dazu z. B. Der Spiegel, H. 21/1973, S. 93 ff., H. 30/1973, S. 52 ff., H. 19/ 1974, S. 90 ff., H. 33/1974, S. 50 ff. Es sei dazu und auch zu den im Folgenden jeweils herangezogenen Nachweisen in Presseveröffentlichungen darauf hingewiesen, dass es nicht darauf ankommt, ob ein Fall tatsächlich so geschehen ist, wie er in der Presse geschildert wurde, sondern darauf, in welcher Hinsicht er in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Deshalb wird für den Wahrheitsgehalt der Presseveröffentlichungen hier natürlich auch keine Gewähr übernommen. – Viele der hier erörterten Rücktrittsfälle und andere zusätzliche werden auch beschrieben in: Pascal Beucker/Frank Überall, Endstation Rücktritt, Berlin 2006. 4 Vgl. z. B. Der Spiegel H. 25/1984, S. 15 ff., H. 27/1984, S. 15 ff. Das Verfahren endete mit einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung.
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1. Kap.: Wann ist ein Politiker in seinem Amt nicht mehr tragbar?
ganz allgemein ausgedrückt – dienen einerseits zur Steuerung eines Verhaltens und andererseits als Maßstab für die nachträgliche Beurteilung eines Verhaltens. Von den Verhaltensregeln prinzipiell zu unterscheiden sind demgegenüber diejenigen Regeln, die man als Zurechnungsregeln bezeichnen kann.5 Regeln dieser Art haben ganz allgemein die Funktion, ein bestimmtes äußeres Geschehen in der Welt (für das Beispiel des Strafrechts: z. B. den Tod eines Menschen) mit einer Person in Zusammenhang zu bringen, die für dieses Geschehen verantwortlich gemacht wird. Dieses Herstellen einer Verknüpfung zwischen dem äußeren Ereignis in der Welt und der betreffenden Person bezeichnet man herkömmlich als Zurechnung. Im strafrechtlichen Zusammenhang gehören in den Rahmen der Zurechnungsregeln etwa die Vorschriften über die Differenz zwischen Täterschaft und Teilnahme, die allgemeinen Irrtumsregeln, weite Bereiche dessen, was der Strafrechtler als Entschuldigungsgründe bezeichnet, aber etwa auch die allgemeine Handlungslehre. Von den Verhaltensregeln unterscheiden sich diese Zurechnungsregeln fundamental dadurch, dass die Zurechnungsregeln überhaupt erst einmal den Gegenstand dessen bestimmen, was es dann anhand der Verhaltensregeln zu beurteilen und gegebenenfalls zu kritisieren gilt. Wenn – um ein strafrechtliches Beispiel zu nehmen – jemand dafür kritisiert werden soll, dass er einen anderen tödlich überfahren hat, muss vor dieser Kritik klargestellt sein, dass er es war, der diese Person überfahren hat. Dies mag noch relativ einfach sein, wenn es sich im konkreten Fall um den Fahrer des betreffenden PKW handelt. Aber schon dann, wenn es um die mögliche strafrechtliche Verantwortung des Beifahrers geht, wird deutlich, dass es hier offenbar bestimmter Zurechnungsregeln bedarf, um überhaupt einen Zusammenhang zwischen dem Tod des Opfers und dem Verhalten des Beifahrers herzustellen. Eine derartige Zurechnungsregel mag etwa darauf hinauslaufen, dass einem Beifahrer der Tod eines Unfallopfers auch dann angelastet werden kann, wenn er zwar, wie die Bezeichnung „Beifahrer“ ja schon sagt, nicht selbst gefahren ist, aber z. B. auf irgendeine Weise den Fahrer beim Fahren abgelenkt hat. Und vergleichbare Zurechnungsstrukturen existieren zunächst einmal vollkommen unabhängig davon, ob das fragliche Verhalten nun kritikwürdig ist oder nicht. So reden wir ja auch durchaus davon, dass jemand z. B. einen Kuchen backt oder dabei hilft, einen Kuchen zu backen, ohne dass wir – jedenfalls im Normalfall – auf die Idee kommen würden, dies kritisch zu beurteilen. Im Zusammenhang des vorliegenden Themas betrifft den Bereich der Zurechnungsregeln etwa die Frage, ob ein Politiker nicht nur für sein eigenes Verhalten – was ziemlich klar ist –, sondern eventuell auch (zumindest indirekt) für fremdes Verhalten haftbar gemacht werden kann. Um ein Beispiel zu nennen: Muss 5 Näher zum Unterschied zwischen den genannten Regelarten Joachim Hruschka, „Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln“, Rechtstheorie 22 (1991), S. 449 ff. m. w. N.
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dann, wenn ein Vollzugsbeamter der Polizei im Dienst ohne Rechtfertigungsgrund eine andere Person erschießt, der zuständige Innenminister zurücktreten oder nicht? Die dritte, von den beiden eben genannten Gruppen zu unterscheidende Regelgruppe bilden die Verfahrensregeln. Verfahrensregeln geben darüber Auskunft, durch wen und in welchen Formen die Verhaltens- und Zurechnungsregeln angewendet werden. Für den strafrechtlichen Zusammenhang geben hier das Gerichtsverfassungsgesetz und die Strafprozessordnung das maßgebliche Regelsystem an die Hand. Da es für den Themenbereich des Politikerrücktritts, abgesehen von den förmlichen Amtsenthebungsverfahren, keinen ausdrücklich fixierten Kodex vergleichbarer Art gibt, ist hier die zur Verfügung stehende Regelungsmaterie naturgemäß sehr schwer fassbar. Das heißt aber nicht, dass nicht eine ganze Reihe von Fragen, die aus dem Strafrecht bekannt sind, auch in diesem Zusammenhang virulent werden können. Um an dieser Stelle nicht zu weit vorzugreifen, nur eine kurze Andeutung: Gilt für die Frage eines Politikerrücktritts auch die im Strafverfahren heute ganz allgemein anerkannte Regel „in dubio pro reo“? Oder gilt nicht vielmehr eine gegen den in Verdacht geratenen Politiker gewendete Regel, die man etwa durch die Worte „in dubio contra reum“ umschreiben müsste? Und muss nicht – anders als im Strafverfahren – der Politiker sich zu einem gegen ihn gerichteten Verdacht äußern, ohne sich auf ein „Schweigerecht“ berufen zu können?
III. Verhaltensregeln Doch nun zu den fraglichen drei Regelungsbereichen im Einzelnen und dabei zunächst zu den Verhaltensregeln. Insoweit ist klar, dass es für den Bereich der politischen Verantwortlichkeit so gut wie keine geschriebenen Verhaltensregeln gibt, wie sie etwa für den Bereich des Strafrechts vorhanden sind.6 Gleichwohl gibt es offenbar eine Art von ethischem Kodex, der uns zumindest Kriterien an die Hand gibt, um in einer öffentlich geführten Diskussion darüber urteilen zu können, ob ein Politiker weiterhin in seinem Amt verbleiben kann oder nicht, ob er weiterhin „tragbar“ ist oder nicht. Allein schon, dass diese Diskussionen geführt werden, zeigt, dass es solche Verhaltensregeln gibt. Eine ganz andere Frage ist die nach ihrer Durchsetzung. Eine andere Frage ist es auch, inwieweit
6 Man wird allenfalls den Tatbestandsvoraussetzungen der in vielen Bundesländern bestehenden Möglichkeit der Ministeranklage Verhaltensregeln entnehmen können. So setzt z. B. eine erfolgreiche Ministeranklage in Niedersachsen voraus, dass der Minister „in Ausübung des Amtes vorsätzlich die Verfassung oder ein Gesetz verletzt“ (Art. 31 Abs. 1 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung); in Baden-Württemberg führt eine Ministeranklage bei „vorsätzlicher oder grobfahrlässiger Verletzung der Verfassung oder eines anderen Gesetzes“ (Art. 57 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg) zum Verlust des Amtes.
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1. Kap.: Wann ist ein Politiker in seinem Amt nicht mehr tragbar?
diese Regeln jeweils konsensfähig sind. Immerhin kann man versuchen herauszufinden, welche Regeln zumindest weitgehenden Konsens für sich in Anspruch nehmen können. 1. Verstöße gegen rechtliche Normen Dies gilt allemal im Hinblick auf die Vorschriften des Strafrechts: Ein Politiker, der gegen strafrechtliche Normen verstoßen hat, ist offenbar als Politiker nicht länger tragbar.7 Dies trifft allerdings nur auf Normverstöße von einigem Gewicht zu. So etwa bei einem strafrechtlich relevanten Verstoß gegen die Steuergesetze, wie der bereits angeführte Fall Lambsdorff gezeigt hat. Aber auch andere Strafrechtsverstöße kommen in Betracht. So z. B. die Falschaussage vor einem Gericht oder vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss – bekanntlich kein ganz seltener Fall. Man denke nur an den Fall des ehemaligen Ministers Friedrich Zimmermann, der wegen einer offenbar objektiv falschen Zeugenaussage auf das Amt des Bundestagsvizepräsidenten verzichten musste. Eine Anklage wegen zweifachen Meineids endete nur deswegen mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen, weil das Gericht Zimmermann eine durch einen „latenten Krankheitszustand . . . verminderte geistige Leistungsfähigkeit“ zugute hielt.8 Letzteres war dann interessanterweise kein Anlass mehr, an seinen politischen Fähigkeiten zu zweifeln. Ähnlich wie von Zimmermann wurde einmal im Zusammenhang mit einer möglicherweise falschen Aussage Helmut Kohls argumentiert: Heiner Geißler brachte die originelle Entschuldigungsformel vom „black out“ in die Debatte.9 Über den Vorwurf, eine falsche Aussage vor einem Untersuchungsausschuss gemacht zu haben, ist letztlich auch der SPD-Parteivorsitzende Björn Engholm gestolpert.10 Dies alles sind Fälle eines Verstoßes gegen strafrechtliche Normen, die im engen Zusammenhang mit der Tätigkeit als Politiker stehen. Aber auch bei anderen Strafrechtsverstößen sind schon Konsequenzen für das Amt gezogen worden. So musste der damalige Staatssekretär Otto Wiesheu in Bayern zurücktreten, weil er im betrunkenen Zustand fahrlässig einen Menschen tödlich überfahren hatte.11
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So z. B. auch Ingo v. Münch, „Rechtskultur“, NJW 1993, S. 1673 ff., S. 1677. Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 51/1960, S. 40 ff., H. 47/1965, S. 44, H. 51/1965, S. 34 f. 9 Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 9/1986, S. 17 ff. 10 Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 18/1993, S. 18 ff.; Cordt Schnibben, Der Spiegel H. 19/1993, S. 35 ff. 11 Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 44/1984, S. 75 ff. Ähnlich im Fall des Bau- und Verkehrsministers Reinhard Klimmt, der wegen einer Verurteilung wegen Beihilfe zur Untreue sein Amt aufgeben musste; vgl. dazu näher Beucker/Überall (ob. Fn. 3), S. 163 ff. 8
III. Verhaltensregeln
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2. Verstöße gegen ethische Normen Es gibt aber, wie gesagt, auch ethische Normen, die noch über das hinausgehen, was das Strafrecht fordert, und gegen die zu verstoßen gleichermaßen dazu führen kann, dass der betreffende Politiker als nicht mehr tragbar erscheint. Hier mag man etwa an die seltsamen Abrechnungsmethoden des seinerzeitigen Ministers Günter Krause denken, der angeblich auf Staatskosten einiges zur Verschönerung seines Privathauses getan hat und dann unter Einsatz seiner politischen Beziehungen auch noch zu einer günstig bezahlten Putzfrau kam.12 Die Fraktionsvorsitzende der F.D.P. im Berliner Abgeordnetenhaus, Carola von Braun, stolperte über einige Friseurrechnungen, die sie sich offenbar aus der Fraktionskasse erstatten ließ.13 Die SPD-Ministerin Heide Pfarr aus Hessen musste zurücktreten, weil sie überzogene Umzugskosten geltend gemacht haben soll.14 Unvergessen ist auch noch das Verhalten der halben CDU-Landesregierung von Sachsen-Anhalt, die sich anscheinend durch zweifelhafte Tricks ihr Gehalt hochgerechnet hatte.15 Aber auch Gewerkschaftsführer können gegen einen politisch-moralischen Kodex verstoßen: Franz Steinkühler musste als Chef der IG Metall zurücktreten, weil er Aktienspekulationen vorgenommen haben soll, die zumindest im Geruch eines unmoralischen Insidergeschäftes standen.16 Von dem Skandal um die „Neue Heimat“17 braucht man dabei gar nicht zu reden, weil hier schon wieder eindeutig der Verstoß gegen strafrechtliche Normen im Vordergrund stand. Wie man sieht, sind die jeweils zur Geltung kommenden Verhaltensregeln durchaus heterogen.18 Möglicherweise lassen sich diese unterschiedlichen Verhaltensregeln aber auch aus einer Quelle legitimieren. In seiner im Jahre 1795 erschienenen Schrift Zum ewigen Frieden schlägt Kant für moralisch akzeptables politisches Verhalten einen recht strengen Maßstab vor. So kann sich Kant „zwar einen moralischen Politiker, d.i. einen, der die Principien der Staatsklugheit so nimmt, dass sie mit der Moral zusammen bestehen können, aber nicht einen politischen Moralisten denken, der sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vortheil des Staatsmanns sich zuträglich findet.“19
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Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 13/1993, S. 24 ff., H. 14/1993, S. 27 ff., S. 30 ff. Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 6/1994, S. 18. 14 Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 20/1993, S. 22. 15 Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 48/1993, S. 26 ff., H. 49/1993, S. 27 ff. 16 Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 22/1993, S. 36 f. 17 Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 7/1982, S. 91 ff. 18 Selbst (erhebliche) Verstöße gegen Regeln politisch akzeptabler Redekunst können dazugehören. So führte z. B. eine als unangemessen empfundene Gedenkrede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zur Reichspogromnacht zu dessen Rücktritt, vgl. dazu Der Spiegel H. 46/1988, S. 22 ff. 19 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Akad.-Ausg., Bd. 8, S. 372. 13
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Der „moralische Politiker“, wie Kant ihn nennt, wird sein Verhalten dabei an einem Prinzip ausrichten, das Kant als „transcendentale Formel des öffentlichen Rechts“ bezeichnet und das er wie folgt näher bestimmt und begründet: „,Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.‘ . . . Denn eine Maxime, die ich nicht darf lautwerden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus verheimlicht werden muss, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne dass dadurch unausbleiblich der Widerstand Aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese nothwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende Gegenbearbeitung Aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht.“20
Kant gelingt es mit diesem „Princip der Publicität“ zwar, eine ganze Reihe von höchst unerfreulichen Verhaltensweisen mancher Politiker, wie etwa Bestechlichkeit, Falschaussage und Betrug, aus dem Kreis akzeptabler politischer Handlungen zu eliminieren. Realistisch betrachtet ist sein Maßstab jedoch viel zu streng, zumindest dann, wenn es um die relativ harte Sanktion eines Rücktritts geht. So würde jede – auch geringfügige – Unehrlichkeit dem Verdikt des Kantischen Prinzips unterfallen. Machte man Kants Prinzip daher konsequent zur Richtschnur, wäre kaum ein Politiker noch lange im Amt zu halten. Es muss deshalb eher darum gehen, herauszufinden, welches Bild von einem Politiker uns generell als noch akzeptabel erscheint und welches demgegenüber nicht mehr. Bei der Beurteilung eines Politikers mag auf den ersten Blick das vor allem in Preußen gepflegte Bild eines unbestechlichen Staatsdieners im Vordergrund stehen. Stammt doch das Wort Minister von dem lateinischen „ministrare“, was bekanntlich „dienen“ bedeutet. Es wäre indessen naiv, nicht zu sehen, dass die Zeit über diese ursprüngliche Wortbedeutung hinweggegangen ist. Mittlerweile ist ein Politiker eher ein Vertreter seiner politischen Partei bzw. der hinter ihm stehenden Interessengruppe. Dies ändert nichts daran, dass weiterhin von ihm, sofern er ein Staatsamt bekleidet, verlangt wird und auch verlangt werden kann, sich gegenüber jedermann unparteilich zu verhalten. Gleichwohl wird man sagen können, dass heute kaum noch ein Politiker in eine Position gewählt wird, um lediglich wie ein Beamter Gerechtigkeit zu üben gegen jedermann. Gerade soweit Politiker in Exekutive oder Legislative tätig sind, sind sie immer auch gestaltend tätig und vertreten dabei nicht zuletzt eine bestimmte politische Richtung. Dagegen ist im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie auch gar nichts einzuwenden, da diese ja darauf beruht, unterschiedlichen Interessenrichtungen die Möglichkeit zur Durchsetzung zu gewähren, sofern dies im Einklang mit der (repräsentierten) Mehrheit der Wahlberechtigten und nicht unter
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Kant, a. a. O. (ob. Fn. 19), S. 381.
III. Verhaltensregeln
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Verstoß gegen die Verfassung geschieht. Aufgabe des Politikers ist es, bei einer solchen Meinungsbildung mitzuwirken. Von dieser seiner Aufgabe hängt aber nun auch die Beantwortung der Frage ab, ob er seiner Aufgabe in ethisch akzeptabler Weise nachgekommen ist oder nicht. Als Beispiel mag hier das Lügen dienen. Lügen gilt ganz allgemein als verwerflich. Damit ist aber noch keineswegs ausgemacht, dass auch für einen Politiker Lügen verwerflich ist. Dabei sei einmal zugestanden, dass es Situationen geben kann, in denen eine so genannte Notlüge durchaus für jedermann erlaubt ist (Kant war in diesem Punkt allerdings anderer Ansicht; vgl. dazu noch näher im 9. Kapitel). Es geht aber darum, ob ein Politiker darüber hinaus nicht gelegentlich sogar dann lügen darf, wenn gar keine Notsituation im engeren Sinne besteht, die Lüge vielmehr eingesetzt wird, um eine bestimmte politische Option möglichst geschickt durchzusetzen. Wer immer sich von der Wahl eines Politikers etwas für die Durchsetzung seiner Interessen verspricht, wird kaum darauf hoffen, dass er einen allzu ehrlichen Makler ins Amt gebracht hat. Allerdings wird das übliche Bild des Politikers auch nicht durch den durchtriebenen Machiavellisten konstituiert. Allenfalls wird man – auch wenn dies einigermaßen zynisch klingt – festhalten können: Wenn schon Machiavellist, dann aber bitte auch erfolgreich. Hiermit dürfte es zusammenhängen, dass mitunter Politikern weniger das in Rede stehende Verhalten selbst übelgenommen wird, als vielmehr die Ungeschicklichkeit, mit der sie versuchen, dieses Verhalten zu verdecken. So war es etwa in der so genannten Einkaufswagenaffäre des damaligen Ministers Jürgen W. Möllemann.21 Hier musste ein Minister zurücktreten, weil er – Presseberichten zufolge – durch ein Empfehlungsschreiben die Firma eines Verwandten protegiert hatte, die kleine Plastikscheiben herstellt, mit denen – Pfandmarken vergleichbar – in Supermärkten Einkaufswagen bedient werden können. Dieses Fehlverhalten selbst erscheint relativ lässlich. Zur Affäre wurde die ganze Angelegenheit erst dadurch, dass der Minister es offenbar für nötig hielt, die kühne – und nachher nicht beweisbare – These aufzustellen, von seinen Bediensteten seien von ihm blanko unterschriebene Briefbögen verwendet worden, um eine Empfehlung für den Kauf dieser Plastikscheiben zu geben. Er habe von alledem nichts gewusst. Maßgeblicher Grund für seinen Rücktritt war dann nachher eher dieser ungeschickte Vertuschungsversuch als das fragliche Vorverhalten. 3. Der Umgang mit der Aufdeckung der Wahrheit Eng hiermit im Zusammenhang steht die Beurteilung der oftmals von Politikern an den Tag gelegten Ungeschicklichkeiten bei der Behandlung von Skandalen und Skandälchen. Hierzu zählt in aller Regel die lediglich dosierte Auf21
Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 53/1992, S. 21 ff., H. 1/1993, S. 18 ff.
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deckung des wahren Sachverhaltes. Bekannt geworden ist ein solches Vorgehen in der Presse unter dem Stichwort „Adventmethode“. Adventmethode deshalb, weil hier mit den Zugeständnissen nach dem Motto verfahren wird: erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht die Wahrheit vor der Tür. Dass diese Methode verwendet wird, hat natürlich einen naheliegenden Hintergrund. Der betreffende Politiker versucht, durch die scheibchenweise Aufdeckung der Wahrheit immer nur so viel zuzugeben, wie ohnehin bekannt geworden ist. Er fürchtet, dass die „ganze Wahrheit“ ein schwerer verdaulicher Brocken ist, als wenn man nur Teile zugibt, selbst wenn es schließlich darauf hinausläuft, dass die ganze Wahrheit ans Tageslicht kommt. Häufiger ist die ganze Wahrheit dann weniger belastend, als das lange Taktieren und Vorsichhinschieben der Details es vermuten lässt. Ein typisches Beispiel hierfür scheint der Rücktritt von Björn Engholm zu sein.22 Hätte dieser gleich, nachdem die Frage aufgetaucht war, zugegeben, seinerzeit die Unwahrheit gesagt zu haben, wären ihm möglicherweise die später dann doch unvermeidlichen Rücktrittskonsequenzen erspart geblieben. So aber hatte er zunächst die Wahrheit abgestritten und musste erst schrittweise „überführt“ werden. Dies hat der ganzen Angelegenheit einen Auftrieb gegeben, der ihr anderenfalls wohl kaum zugekommen wäre. Wenn diese Beobachtung zutrifft, dann wird an dem Beispiel auch etwas deutlich, was offenbar im Hintergrund der meisten Verhaltensregeln für Politiker steht. Durch die scheibchenweise Einräumung der Wahrheit und die damit verbundene inzidente oder auch ausdrückliche Leugnung der Wahrheit, wie sie nachher dann doch ans Licht kommt, zerstört der Politiker Vertrauen. Zwar nicht nach dem einfachen Motto der Alltagsmoral „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“, aber doch in der Weise eines Erosionsprozesses. Das in der öffentlichen Diskussion wohl am meisten verwendete Stichwort, das eine Forderung nach einem Politikerrücktritt begründen soll, ist das Stichwort des Vertrauensverlustes oder, noch etwas enger, das des Verlustes von Glaubwürdigkeit. Hat ein Politiker erst einmal hinreichend Vertrauen zerstört, ist er politisch nicht mehr tragbar. Es ist schon erstaunlich, dass die politische Kultur offenbar an dem Begriff des Vertrauens unverändert festhält, obwohl doch die allgemeine Meinung dahin zu tendieren scheint, dass einem Politiker ohnehin nicht zu trauen sei. Dies zeigt aber nur das auch für andere Regelungsbereiche typische 22 Vgl. dazu die Hinweise in Fn. 10. – Die Adventmethode ist natürlich erst recht dann nicht hilfreich, wenn die ganze Wahrheit so schwer wiegt, dass sie einen Rücktritt unumgänglich macht. Der wohl bekannteste Fall dieser Art ist der Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Karl Filbinger, vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 20/1978, S. 23 ff., H. 29/1978, S. 26 ff. Ebenfalls in diese Kategorie gehört der Rücktritt des Bundestagsabgeordneten Hans-Jürgen Uhl, der u. a. die Verantwortung dafür übernehmen musste, dass er in fünf eidesstattlichen Versicherungen wahrheitswidrig bestritten hatte, auf Kosten von VW die Dienste von zwei Prostituierten „entgegengenommen“ zu haben; vgl. Die Zeit, 21.6.2007, S. 29, in einem Bericht über die „Lustreisen-Affäre“, in die auch der ebenfalls zurückgetretene Personalvorstand von VW, Peter Hartz, verwickelt war.
III. Verhaltensregeln
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Auseinanderfallen von normativ-ethischen Regeln einerseits und der Wirklichkeit auf der anderen Seite. Korrigiert wird ein solches Regelsystem erst dann, wenn das Auseinanderfallen allzu weit ist. Es muss demnach immer noch hinreichend viele Politiker geben, die jenes Bild eines vertrauenswürdigen Sachwalters politischer Interessen rechtfertigen. 4. Zwei Arten von Vertrauen Unterscheiden kann man dabei allerdings zwischen zwei verschiedenen Bezugspunkten dieses Vertrauens. Man kann diese beiden Aspekte als internes Vertrauen einerseits und als externes Vertrauen andererseits bezeichnen. Externes Vertrauen betrifft die Glaubwürdigkeit eines Politikers für jedermann im Staat; also gerade nicht allein für den Parteigänger des Politikers. Die Anforderungen an dieses externe Vertrauen sind relativ niedrig. Dies hat zum einen mit der schon erwähnten (populären) These zu tun, dass man Politikern ohnehin nicht trauen sollte, zum anderen aber hat der Bürger gegenüber dem politischen Mandatsträger nur in relativ begrenztem Maße auch Anspruch auf Vertrauen. Nur bei wirklich gravierenden Einbrüchen bei der hier gemeinten Glaubwürdigkeit wird deswegen ein Politikerrücktritt erfolgversprechend gefordert werden können. Wer dagegen als Staatsbürger auf allgemeine Auskünfte, Wahlkampfversprechungen, Terminzusagen oder vergleichbare Verhaltensweisen eines Politikers vertraut, ist nur recht eingeschränkt schutzwürdig. Vertrauen darf der Bürger aber insbesondere darauf, dass der Politiker sich im Rahmen der Strafrechtsordnung hält. Überschreitet er diese Ordnung, so wird sein Rücktritt unumgänglich sein.23 Aber auch eine allzu große Nähe zum Vorwurf eines Delikts der Bestechlichkeit24 etwa zerstört schutzwürdiges externes Vertrauen, wie schon so mancher Amigo in Bayern und anderswo schmerzlich erfahren musste.25 Ähnliches gilt bei besonders groben Lügen, etwa der, mit der der damalige Minister Franz-Josef Strauß das Parlament im Rahmen der sog. SpiegelAffäre bedachte.26 Eine einfache Lüge – z. B. ein gebrochenes Wahlversprechen 23 Nichts prinzipiell anderes gilt in den Fällen, in denen ein Politiker einem diktatorischen Regime gedient und dies nicht offenbart hat, als er zur Wahl anstand. In diesen Zusammenhang gehören die Rücktritte der aus der Nazi-Zeit belasteten Politiker (z. B. Theodor Maunz, Theodor Oberländer) ebenso wie die Rücktritte der Stasi-belasteten Politiker (z. B. Ibrahim Böhme, Wolfgang Schnur). Dass im Zusammenhang dieser Konstellationen allerdings nicht schematisch vorgegangen werden darf, wird im 5. Kapitel näher erörtert. 24 Selbst dann, wenn es formal nicht verwirklicht worden sein sollte. 25 Zu den sog. Amigo-Affären in Bayern vgl. z. B. Der Spiegel H. 36/1993, S. 28 f., H. 12/1994, S. 27 ff.; in den Kreis dieser Fälle gehört auch die sog. Traumschiffaffäre des damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 2/1991, S. 28 ff., H. 3/1991, S. 24 ff. 26 Vgl. dazu Der Spiegel H. 48/1962, S. 42 ff., H. 7/1963, S. 18 ff. – Was auch immer die Ermittlungen im Fall des seinerzeitigen schleswig-holsteinischen Minister-
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– oder eine unzutreffende Ankündigung oder eine trickreiche Manipulation demgegenüber werden kaum mit Aussicht auf Erfolg zur Begründung der Forderung nach einem vorzeitigen Politikerrücktritt vorgebracht werden können.27 Von der Frage der externen Glaubwürdigkeit zu unterscheiden ist die der internen Glaubwürdigkeit. Hier geht es um die Glaubwürdigkeit gerade gegenüber der Gruppe, die den betreffenden Politiker gleichsam „entsandt“ hat. Dies wird in aller Regel eine Partei sein, es kann sich aber auch um eine sonstige Interessengruppe handeln. Um noch einmal auf den Fall des Gewerkschaftsführers Franz Steinkühler zurückzukommen: Hier wird deutlich, dass ihm kaum die externe Glaubwürdigkeit abhanden gekommen ist. Denn zweifelhafte Aktiengeschäfte zu betreiben, ist in dieser Gesellschaft weniger ein Makel, als unter bestimmten Umständen – d.h. vor allen Dingen dann, wenn man Erfolg damit hat – durchaus ein Kriterium zur positiven Beurteilung. Dies nicht allein unter dem – ethisch allerdings problematischen – Gesichtspunkt „Der Erfolg heiligt die Mittel“, sondern auch durchaus als ein Ausweis von Cleverness und Gerissenheit. Nur ist Franz Steinkühler seiner Rolle als Gewerkschaftsführer durch ein solches Verhalten natürlich nicht gerecht geworden. Gerade dieser Verstoß gegen das Kriterium der internen Glaubwürdigkeit war es, der ihn seine Stellung gekostet haben dürfte. In aller Regel wird es einen Verlust an interner Glaubwürdigkeit und weniger an externer Glaubwürdigkeit bedeuten, wenn jemand nach dem Motto verfährt, „Wasser zu predigen und Wein zu trinken“. Dass es hier primär nur um den Verlust interner Glaubwürdigkeit geht, wird dann deutlich, wenn man sich zunächst auf einen externen Standpunkt stellt, wobei ich hier eine argumentative Anleihe bei dem amerikanischen Strafrechtler Leo Katz mache:28 Von einem externen Standpunkt aus wird derjenige, der auch dafür ist, dass nur Wasser getrunken wird, froh sein, dass der Prediger wenigstens nicht auch noch das Weintrinken predigt. Aber auch der passionierte Weintrinker wird sich über den präsidenten Uwe Barschel noch ans Tageslicht bringen mögen, auch der Rücktritt Barschels war wohl schon wegen der – nachgewiesenen – Lügen im Rahmen der Aufklärung des „Waterkantgate“-Falles unumgänglich; vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 40/ 1987, S. 17 ff. – Zum Problem des Umgangs von Politikern mit der Lüge vgl. allgemein auch Julian Nida-Rümelin, „Mit der Wahrheit lügen. Politiker fühlen sich oft zur Unwahrheit genötigt. Damit gefährden sie die demokratische Willensbildung und behindern Reformen“, Die Zeit 3/2003, S. 33. 27 Trotz „Rentenlüge“ (Kabinett Schmidt) oder „Steuerlüge“ (Kabinett Kohl) musste nach einem gebrochenen Wahlversprechen noch keine Regierung zurücktreten. Besonders drastisch war der vor kurzem in Ungarn spielende Fall, in dem der Ministerpräsident in einer (mitgeschnittenen) Rede vor Gefolgsleuten explizit zugab, vor der Wahl gelogen zu haben. Dass es hier trotz tagelanger Proteste der Opposition nicht zu einem Rücktritt kam, ist angesichts der Drastizität des Vorgangs allerdings bemerkenswert. 28 Vgl. Leo Katz, „Evading Responsibility: The Ethics of Ingenuity“, Jahrbuch für Recht und Ethik 2 (1994), S. 191 ff., 213 f.
III. Verhaltensregeln
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scheinheiligen Prediger nicht wirklich beklagen können, muss er doch anerkennen, dass dieser wenigstens Wein trinkt, wenn er schon Wasser predigt. Wie viel weniger sympathisch wäre er, wenn er nun auch noch selbst bloß Wasser zu sich nähme. – Ganz anders sieht dies von einem internen Standpunkt aus, für denjenigen also, der sich selbst dazu zwingt, nur Wasser zu trinken, und auch will, dass die Botschaft, Wasser sei besser als Wein, möglichst weite Verbreitung findet. Für ihn ist der falsche Prediger ein Verräter, indem dieser sich selbst nicht an seine Predigten hält. Von einem internen Standpunkt aus wird man deshalb besonders allergisch auf das zweifelhafte Doppelspiel jenes Predigers reagieren. Er verliert das, was hier mit „internem Vertrauen“ bezeichnet wurde, und damit auch seine politische Basis; ihm bleibt, so er denn beim Weintrinken ertappt wird, nur der Rücktritt.29 Es dürfte hiermit zusammenhängen, dass es – wie bereits erwähnt – Politikern oftmals mehr schadet, wenn sie die Wahrheit über ein Fehlverhalten nicht gleich offenbaren, sondern nur scheibchenweise damit herausrücken. Auch hier wird gerade die interne Glaubwürdigkeit nachhaltig beeinträchtigt, weil nach einiger Zeit selbst die eigenen Parteigänger dem Politiker nicht mehr glauben – und, was vielleicht noch schlimmer ist: ihm nach einigen durch „Enthüllungen“ abgenötigten Zugeständnissen nahezu alles zutrauen. Besonders wichtig für einen Politiker dürfte es deshalb sein, den internen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust zu vermeiden; ein Verstoß gegen diese Verhaltensregel – durch welches konkrete Verhalten auch immer – wird in den meisten Fällen seinen Rücktritt nach sich ziehen. Allerdings ist diese Regel – das ist durchaus einzuräumen – eher ein hypothetischer Imperativ an den Politiker als ein kategorischer; so wie kategorische Imperative – von Strafgesetzen einmal abgesehen – in der politischen Ethik ohnehin eher selten vorkommen. So viel zu den politischen Verhaltensregeln; doch nun zu den Zurechnungsregeln.
29 „Verfehlungen“ von Politikern, die gegen die geltende Sexualmoral verstoßen, führen offenbar aus ganz ähnlichen Gründen – jedenfalls in puritanischen Ländern – zum Rücktritt; man denke etwa an den Fall des U.S.-amerikanischen Präsidentschaftsbewerbers Gary Hart; vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 20/1987, S. 151 ff.; und auch die Chancen des CSU-Politikers Horst Seehofer, Parteivorsitzender zu werden, dürfte es kaum verbessert haben, dass er kürzlich Vater eines nichtehelichen Kindes wurde, und zwar trotz seiner expliziten Bekenntnisse zu den Grundwerten von Ehe und Familie. Vgl. dazu auch den Beitrag von Stefan Kühl, „Lob der Heuchelei. Sie lügen, um glaubwürdig zu wirken, und opfern ihre Führungskräfte, sobald es nötig ist. Wie CSU, VW und Weltbank Krisen managen“, Die Zeit 39/2007, S. 14.
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1. Kap.: Wann ist ein Politiker in seinem Amt nicht mehr tragbar?
IV. Zurechnungsregeln 1. Die Zurechnungsproblematik Eine Zeitlang galt in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg das Amt des Justizsenators als eine Art von Schleudersitz. Immer dann, wenn ein Gefängnisinsasse aus dem Gefängnis ausbrach oder vom Hafturlaub nicht zurückkehrte, wurde die Forderung nach politischen Konsequenzen erhoben, und – regelmäßig – musste der Justizsenator auch zurücktreten.30 Inzwischen hat man sich etwas daran gewöhnt, dass ein Strafvollzug, der sich nicht auf das Wegschließen der Verurteilten beschränkt, auch die erhöhte Gefahr in sich birgt, dass Häftlinge die zwangsläufig entstandenen Lücken der Kontrolle für die Flucht ausnutzen. Seitdem ist in solchen Fällen der Ruf nach Politikerrücktritten etwas leiser geworden. Über den tagespolitischen Aspekt hinaus ist an diesen Fällen interessant, dass hier ganz die Problematik der Zurechnung von Verantwortlichkeit im Vordergrund der Problematik steht. Denn auf den ersten Blick hat der Justizsenator natürlich nichts damit zu tun, wenn ein Gefängnisbeamter zum Beispiel die Gefängnistüren nicht ordnungsgemäß verschlossen hat. Aber es taucht die Frage auf, ob ihm ein solches Fehlverhalten eines Gefängnisbeamten nicht doch (zumindest indirekt) zugerechnet werden kann. Die Redeweise, ein Politiker übernehme für diesen oder jenen Vorgang die „politische Verantwortung“ und trete deshalb zurück, scheint dafür zu sprechen. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt ist zurückgetreten, weil er die politische Verantwortung für den Fall Guillaume übernahm.31 Es hat zwar auch andere Mutmaßungen über Brandts Rücktrittsgründe gegeben; der Rücktritt stand jedoch fraglos im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Spionageaffäre, in der Brandt indes allenfalls das Opfer, jedenfalls nicht der Täter war. Trotzdem war es offenbar einleuchtend, ihm die politische Verantwortung zu geben, obwohl er kaum selbst für die mangelhaften Sicherheitsüberprüfungen Guillaumes verantwortlich sein konnte. Ein anderes Beispiel ist mit dem Fall „Bad Kleinen“ gegeben, in dem unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen u. a. der RAF-Täter Wolfgang Grams ums Leben gekommen ist. Im Zuge der reichlich chaotischen Aufklärungsarbeiten ist seinerzeit – nachdem schon der Generalbundesanwalt Alexan30 Siehe hierzu etwa den Rücktritt des Berliner Justizsenators Hermann Oxford, der seinen Hut nahm, nachdem vier Terroristinnen aus der Haft entflohen waren (vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 29/1976, S. 17 ff.; Ingo v. Münch (Fn. 7). – Etwas anders lag es im Fall des Hamburger Justizsenators Ulrich Klug, der zurücktrat, weil aus seiner Behörde Informationen über einen Richter an die Presse gegeben worden waren, die dessen Wahl zum Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht vereitelten, vgl. dazu Der Spiegel H. 10/1977, S. 68. Aber auch hier ging es letztlich um die Frage, ob Klug das Verhalten seiner Mitarbeiter zugerechnet werden konnte. 31 Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 19/1974, S. 17 ff., H. 20/1974, S. 19 ff.
IV. Zurechnungsregeln
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der von Stahl abberufen worden war – auch noch Innenminister Rudolf Seiters zurückgetreten.32 Warum dies eigentlich geschah, ist nie ganz klar geworden, zumal es in der Öffentlichkeit kaum Forderungen nach einem Rücktritt des Innenministers gegeben hatte. Vielleicht wollte Seiters einer entsprechenden Kampagne zuvorkommen; doch ist es schon im höchsten Maße ungewöhnlich, dass ein Politiker so schnell seinen Sessel räumt, wenn ihm noch nicht einmal persönliches Fehlverhalten vorgeworfen, geschweige denn nachgewiesen wurde. Jedenfalls hat Seiters mit seinem Schritt der Sache nach die politische Verantwortung für die Vorgänge übernommen, obwohl er selbst weder am Tatort war noch die Aufklärungsarbeit zu leisten hatte. 2. Zurechnungsmaßstäbe Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Beispiele stellt sich die Frage, wieweit die Zurechnung politischer Verantwortlichkeit reichen sollte. Die Rechtswissenschaft unterscheidet bekanntlich verschiedene Grade der Zurechnung von strafrechtlicher, aber auch von zivil- und öffentlichrechtlicher Verantwortung. Das eine Extrem ist die alleinige Zurechnung von persönlichem Verschulden des Täters, hier haftet der Handelnde (oder Unterlassende) nur für sein eigenes unmittelbares, schuldhaftes Verhalten. Das andere Extrem ist die lediglich erfolgsbezogene Zurechnung, d.h. völlig losgelöst vom persönlichen Verschulden des Betreffenden. Hier ist nur noch eine rein kausale Verbindung zwischen Täterverhalten und Erfolgseintritt erforderlich, um zur Haftung zu kommen. Die erste Konzeption finden wir vor allem im Strafrecht, aber auch dort nicht in ganz reiner Form, da auch im Strafrecht unter bestimmten Umständen, auf die es im vorliegenden Zusammenhang allerdings nicht ankommt, jemand (zumindest indirekt) für das Verhalten eines anderen verantwortlich gemacht werden kann, das er mitbewirkt hat. (Erwähnt seien hier nur die Stichworte „mittelbare Täterschaft“, „Mittäterschaft“, aber auch „Anstiftung“ und „Beihilfe“). Die andere Konzeption, die einer bloßen Erfolgshaftung, findet sich im Allgemeinen auch nicht in Reinkultur; akzeptiert ist im zivilrechtlichen Schadensersatzrecht immerhin die Struktur der sog. Gefährdungshaftung, etwa im Straßenverkehr. Zwar wird hier jemand (zivilrechtlich) auch für den bloßen Erfolgseintritt haftbar gemacht, weil er gleichsam die Gefahrenquelle (Kraftfahrzeug) eröffnet hat, aber eben auch das nicht völlig unbeschränkt: Zum einen ist ja schon die Notwendigkeit der Eröffnung einer Gefahrenquelle ein über die bloße Erfolgshaftung hinausgehendes Moment personaler Zurechnung und zum anderen wird auch bei der Haftung im Straßenverkehr dann wieder eine Einschränkung gemacht, wenn der schadenbringende Vorgang auf ein sog. unabwendbares 32
Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 27/1993, S. 24 ff., H. 28/1993, S. 18 ff.
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1. Kap.: Wann ist ein Politiker in seinem Amt nicht mehr tragbar?
Ereignis zurückzuführen war (die klassischen, schon aus der Fahrschule bekannten Beispiele sind: Kind, Kuh oder Blitzschlag). Wohl allein das Verwaltungsrecht bietet ein Beispiel reiner Erfolgshaftung: Der sogenannte Zustandsstörer ist lediglich aufgrund des Zustandes einer ihm gehörenden Sache zur Beseitigung der Störung verpflichtet; ein irgendwie gearteter Verschuldenszusammenhang ist dabei nicht erforderlich. So muss etwa der Eigentümer eines Grundstücks die von auf dem Grundstück ausgelaufenem Öl hervorgerufene Gefahr für das allgemeine Grundwasser selbst dann abwenden (bzw. abwenden lassen), wenn er in keiner Weise diesen Zustand seines Grundstücks verschuldet hat. Die Frage ist, ob sich eine vergleichbar strikte Zurechnungskonzeption auch auf die Problematik politischer Verantwortlichkeit übertragen lässt. Dies hätte zur Konsequenz, dass etwa ein Minister für nahezu jede Unregelmäßigkeit in seinem Amtsbereich mit dem Rücktritt zu haften hätte. Da es nicht auf sein eigenes Verschulden, sondern nur auf das negativ bewertete Vorkommnis in seinem Machtbereich ankäme, müsste der Minister seinen Hut nehmen, wenn beispielsweise einer seiner Beamten einen schwerwiegenden Fehler begeht. Der bereits erwähnte Gefängnisausbruch müsste in jedem Fall zum Rücktritt des zuständigen Ministers führen. Eine derart strenge Haftungskonzeption dürfte indes nicht angemessen sein. Denn sie würde auf einen extremen Verschleiß von Politikerpersönlichkeiten hinauslaufen und damit letztlich der Sache eines Staates und dessen Verwaltung erheblichen Schaden zufügen, jedenfalls dann, wenn man realistischerweise davon ausgeht, dass der Vorrat an guten Politikern in einer Gesellschaft begrenzt ist. Die fraglos notwendige „Selbstreinigung“ in einer Demokratie darf nicht dahin übertrieben werden, dass sie sich zu ihrem Schaden auswirkt. Deshalb sollte auch für die Zurechnung politischer Verantwortlichkeit der Grundsatz des persönlichen Verschuldenszusammenhanges im Vordergrund stehen. Allerdings auch nicht in der extremen Form einer nur an das eigene schuldhafte Verhalten des Politikers anknüpfenden Haftung, bei der dann überhaupt nur noch (unmittelbar) das je eigene Verhalten vorwerfbar wäre. 3. Eine Parallele Am ehesten scheinen daher die aus dem Recht der unerlaubten Handlung, also aus dem Zivilrecht (§§ 823 ff. BGB), bekannten Zurechnungsstrukturen (insbesondere auch die Zurechnungsfigur der Haftung für Verrichtungsgehilfen) – zumindest ihrem Ansatz nach – auf die Problematik der politischen Verantwortlichkeit übertragbar. Auch im Recht der unerlaubten Handlung haftet jeder zunächst einmal jedenfalls für sein eigenes schuldhaftes Verhalten. Schaltet er aber einen sog. Verrichtungsgehilfen ein, muss er sich dessen Fehlverhalten zurechnen lassen (§ 831 Abs. 1 BGB). Gleichwohl ist dies keine Haftung für fremdes Verschulden, sondern für eigenes Verschulden, wie die Exkulpations-
IV. Zurechnungsregeln
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möglichkeit des § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB deutlich macht: Derjenige, der einen Verrichtungsgehilfen einsetzt, haftet nur insoweit für dessen Verhalten, als er diesen (insbesondere) nicht sorgfältig genug ausgewählt hat. Letztlich bleibt es also bei der Haftung für eigenes Verschulden, nur eben hier für sog. Auswahlverschulden. Ähnlich sollte die Zurechnungsproblematik auch für den Bereich der politischen Verantwortlichkeit behandelt werden: Der Politiker haftet primär für sein eigenes schuldhaftes Verhalten. Für fremdes Verhalten haftet er nur insofern, als man aufzeigen kann, dass dieses auch auf eigenem Verschulden des Politikers beruht. Dieses eigene Verhalten des Politikers mag etwa darin seinen Ausdruck finden, dass der Politiker sich fahrlässig die falschen Mitarbeiter ausgesucht, sie unzureichend instruiert oder nicht ausreichend überwacht hat. Nur dann, wenn ihm insoweit auch ein eigenes Verschulden, das man im weitesten Sinne als „Organisationsverschulden“ bezeichnen kann, nachzuweisen ist, erscheint die Forderung nach einem Rücktritt – vorbehaltlich eines relevanten Verstoßes gegen politische Verhaltensregeln (vgl. ob. III.) – berechtigt.33 Wenn der vor einiger Zeit zurückgetretene Innensenator der Stadt Hamburg, Werner Hackmann34, für die Übergriffe seiner Polizeibeamten auf ausländische Mitbürger auch nicht selbst verantwortlich war, schon weil er die Beamten dazu weder angeleitet noch aufgefordert hatte, blieb er doch für das Geschehen auf den Revierwachen und darüber hinaus politisch verantwortlich, weil er offenbar nicht mehr in der Lage war, in der Innenbehörde hinreichend wirksam die Kontrolle auszuüben und für Abhilfe zu sorgen. Es spricht für ihn, dass er dies selbst gesehen und – vor allen öffentlich erhobenen Rücktrittsforderungen – die politischen Konsequenzen aus dieser Lage gezogen hat. Es mögen ähnliche Überlegungen gewesen sein, die Rudolf Seiters im Zusammenhang mit den oben bereits erwähnten Ereignissen von Bad Kleinen zum Rücktritt bewogen haben.35
33 Davon abweichend werden durchaus Haftungskonzeptionen für den Bereich der politischen Verantwortung vertreten, die auf eine Erfolgshaftung hinauslaufen; kritisch dazu aber z. B. Reinhold Zippelius, „Varianten und Gründe rechtlicher Verantwortlichkeit“, in: Ernst Joachim Lampe (Hrsg.), Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 14: Verantwortlichkeit und Recht, Opladen 1989, S. 257 ff., S. 263 ff. Gegen eine Überbetonung der persönlichen Verantwortlichkeit spricht sich z. B. Kröger (Fn. 2), S. 162 f. aus. – Ein Beispiel für eine Haftung für „Organisationsverschulden“ bietet der Rücktritt Werner Maihofers als Bundesinnenminister, vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 23/1978, S. 21 ff. 34 Vgl. dazu z. B. Der Spiegel H. 38/1994, S. 107 ff.; Kuno Kruse, Die Zeit 38/ 1994, S. 22. 35 Nur am Rande sei noch erwähnt, dass ein Rücktritt wegen der Übernahme politischer Verantwortung natürlich auch ein Schachzug in einem größeren Spielzusammenhang sein kann, und zwar das bekannte „Bauernopfer“, das z. B. den Vorgesetzten, die Regierung, die Partei etc. „entlastet“.
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1. Kap.: Wann ist ein Politiker in seinem Amt nicht mehr tragbar?
V. Verfahrensregeln 1. Einrichtung von „Ehrengerichtshöfen“? Wenn im Vorangehenden gelegentlich davon die Rede war, ein bestimmtes Verhalten müsse einem Politiker nachgewiesen werden, so deutet dies schon auf die dritte Gruppe von Regeln hin, die im Zusammenhang des Themas von Bedeutung ist, und zwar die Gruppe der Verfahrensregeln. Denn es stellt sich die Frage, wie zu verfahren ist, wenn sich ein Verdacht gegen einen Politiker, z. B. hinsichtlich einer Falschaussage vor einem Untersuchungsausschuss, nicht oder noch nicht beweisen lässt. Eine Vorfrage ist hier allerdings, wer überhaupt ein solches „Verfahren“ gegen einen Politiker durchführt. Sieht man einmal von den gesetzesförmig geregelten Amtsenthebungsverfahren ab, so bleibt die Frage, ob es eine spezielle Instanz gibt oder geben sollte, die über einen Politikerrücktritt zu befinden hat. Denkbar wäre eine Art von Schiedsstelle oder ein institutionalisiertes Tribunal, vor dem Politiker verklagt werden und sich verteidigen können. Alle Erfahrungen mit Schiedsstellen in Wahlkampfzeiten haben jedoch deutlich gemacht, dass dort nur die politische Auseinandersetzung mit anderen Mitteln weitergeführt wird. Man sollte sich deshalb von einem vergleichbaren „Ehrengerichtshof“ für Politiker nicht allzu viel versprechen. Es bleibt daher als Entscheidungsinstanz wohl nur die öffentliche und veröffentlichte Meinung mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten. Bemerkenswert ist, dass in einer Situation, als es um ein Fehlverhalten der niedersächsischen Umweltministerin Monika Griefhahn ging, der damalige Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Gerhard Schröder, eine unabhängige Untersuchung anordnete, um die erhobenen Vorwürfe zu klären. Der Ministerin wurde kein ungesetzliches, insbesondere kein strafwürdiges Verhalten vorgeworfen, wohl aber der Versuch standeswidriger Begünstigung ihres Ehemannes und des von ihm geleiteten Umweltinstitutes im Zusammenhang mit den Vorbereitungen der Weltausstellung EXPO 2000 in Hannover.36 Mit der Untersuchung beauftragt wurde der seinerzeit schon pensionierte Bundesverfassungsrichter Helmut Simon. Dieser verfasste zu seiner Arbeit einen sehr lesenswerten Bericht, aus dem hervorgeht, dass er keinen hinreichenden Grund sah, von Frau Griefhahn den Rücktritt zu verlangen. Über den Einzelfall hinaus ist hier von Bedeutung, dass die Einsetzung unabhängiger Ermittler offenbar zu einer gewissen Entkrampfung der öffentlichen Diskussion beitragen kann.
36 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Helmut Simon, „Berufsethische Verhaltensanforderungen an amtierende Politiker“, Neue Justiz 1997, S. 7 ff.; ders., Frankfurter Rundschau vom 12.4.1995; s. a. Matthias Geis, „Der Streit geht weiter“, Die Zeit 16/1995, S. 4.
V. Verfahrensregeln
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Interessant ist weiterhin ein Konzept, das schon vor einiger Zeit in Mexiko erörtert wurde.37 Um die Korruption einzudämmen, wurde dort vorgeschlagen, dass Bürgerrechtler Beamte oder ganze Ämter „adoptieren“. So beschlossen Mitglieder der mexikanischen Bürgerallianz, weil die „staatlichen Kontrollinstitutionen versag(t)“ hätten, die Beamten unter genaue Beobachtung zu nehmen: Wie gehen sie mit Bürgern um? Werden Steuergelder verschleudert? Inwieweit werden Wahlversprechen eingehalten? 2. Beweislastregeln Aber welche Beweislastregel soll nun in den hierzulande üblichen „öffentlichen Verfahren“ gelten? Etwa die aus dem Strafprozessrecht bekannte Regel „in dubio pro reo“? Wohl ja. Denn eine dem entgegengesetzte Regel, gleichsam „in dubio contra reum“, würde darauf hinauslaufen, dass es genügte, einen Politiker in einen Verdacht zu bringen, um ihn aus seinem Amt zu treiben; und dies völlig unabhängig davon, ob dieser Politiker nun an sich für das Amt geeignet ist oder nicht. Deshalb muss auch hier der Grundsatz der Unschuldsvermutung, gleichsam bis zum Beweis des Gegenteils, gelten; allerdings mit zwei wichtigen Einschränkungen: Sofern die erhobenen Anschuldigungen von einigem Gewicht sind und der Verdacht sich nicht ohne Weiteres von der Hand weisen lässt, muss der Politiker sein Amt bis zur Klärung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe ruhen lassen.38 Darüber hinaus wird man – anders als im Strafrecht – nicht von einem „Schweigerecht“ des in Verdacht geratenen Politikers ausgehen können. Er muss, um den Rücktritt zu vermeiden, selbst aktiv an der Aufklärung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe mitwirken, nicht zuletzt deshalb, weil er dies der Würde des öffentlichen Amtes schuldet, das er auf Zeit bekleidet. 3. Verjährung? Eine schließlich auch noch in den Rahmen der Verfahrensregeln gehörende Frage ist die nach einer eventuellen Verjährung politisch-relevanten Fehlverhaltens. Dies allerdings nicht im Sinne einer Verjährung, die – wie im Strafrecht – die Ermittlungsbehörden an der Verfolgung hindert, wenn der Täter erst geraume Zeit nach der Tat als Schuldiger festgestellt wird. Vielmehr geht es um die Frage, ob ein Politiker, der zurücktreten musste, nach einer Art von „Sperrfrist“ erwarten darf, wieder ein politisches Amt bekleiden zu können. Es gibt prominente Fälle, in denen eine solche Rückkehr auf einen politischen Posten gelungen ist. Franz-Josef Strauß etwa wurde, nachdem er einige Jahre zuvor das Parlament belogen hatte, erst Finanzminister, dann bayerischer Mi37 38
Vgl. dazu Der Spiegel H. 51/1994, S. 117. Man mag dies als eine Parallele zur Untersuchungshaft auffassen.
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1. Kap.: Wann ist ein Politiker in seinem Amt nicht mehr tragbar?
nisterpräsident und schließlich Kanzlerkandidat der Union. Graf Lambsdorff wurde, kaum dass er als Wirtschaftsminister zurücktreten musste, zum Parteivorsitzenden der F.D.P. gewählt – ein besonders schneller und offenbar auch erfolgreicher Fall von Resozialisierung. Der schon erwähnte Otto Wiesheu wurde einige Jahre, nachdem er wegen Trunkenheit im Straßenverkehr mit tödlicher Unfallfolge sein Amt verlassen musste, Wirtschafts- und Verkehrsminister in Bayern. Wie es scheint, war in diesen Fällen die „Verjährung“ deshalb erfolgreich, weil die betreffenden Politiker zwar das verloren hatten, was oben als externes Vertrauen bezeichnet wurde, aber offenbar nicht das interne Vertrauen ihrer Parteigänger. In solchen Lagen ist nach gewisser Zeit, in der gleichsam Gras über die Sache gewachsen ist, ein Comeback möglich. Vielleicht, so mag man vermuten, zeichnet es ja auch einen Politiker geradezu aus, wenn es ihm gelingt, trotz eines durch die öffentliche Meinung erzwungenen Rücktritts wenig später schon wieder den Weg zurück ins Licht der Öffentlichkeit zu finden, ohne dass die alten Schatten noch auf ihn fallen. Es wäre indes verfehlt, hierüber allzu sehr ins Moralisieren zu geraten, denn Politik hat bekanntlich – wie man spätestens seit Machiavelli zu wissen meint – nur sehr begrenzt etwas mit Moral zu tun. Aber selbstverständlich hat es auch immer schon andere Meinungen dazu gegeben (vgl. schon die oben wiedergegebene Ansicht von Kant zur Unterscheidung zwischen politischen Moralisten und moralischen Politikern). So hat sich etwa Friedrich II., um noch einmal auf Preußen zurückzukommen, in seinem Anti-Machiavel, den er noch als Kronprinz verfasste und im Jahre 1740 anonym von Voltaire herausgeben ließ,39 bitter über Machiavellis Buch beklagt, das er „als eines der allergefährlichsten Bücher“ bezeichnete, „so iemahls in der Welt ausgestreuet worden“.40 Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Friedrich der Große als Politiker viele Ratschläge Machiavellis durchaus erfolgreich in die Tat umgesetzt hat.41 Und schon in seinem Anti-Machiavel gibt es eine Stelle, die von viel Weisheit im Umgang mit Politikern zeugt und deshalb hier nicht unerwähnt bleiben soll: „Fürsten, die keine Philosophen sind, werden bald ungeduldig; sie entrüsten sich über die Schwachheiten ihrer Bedienten; sie danken sie mit Ungnade ab, und stürzen sie in das Verderben. Fürsten hingegen, die eine tiefere Einsicht besitzen, kennen die Menschen besser. Sie wissen, dass sie alle Menschen sind, dass nichts in der Welt vollkommen ist, 39 Hier zitiert nach der Ausgabe: Anti-Machiavel, oder Versuch einer Critik über Nic. Machiavels Regierungskunst eines Fürsten. Nach des Herrn von Voltaire Ausgabe ins Deutsche übersetzt; wobey aber die verschiedenen Lesarten und Abweichungen der rsten Haagischen, und aller andern Auflagen, angefüget worden, Frankfurt und Leipzig, 1745. Angebunden an die Ausgabe des in Fn. 1 bezeichneten Werks (S. 205 ff.). 40 Ebd., S. 214. 41 Vgl. dazu auch Heiner Höfener, Nachwort im Anhang zu dem in Fn. 1 zitierten Nachdruck (S. 12).
V. Verfahrensregeln
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dass große Eigenschaften mit großen Fehlern, so zu reden, im Gleichgewichte stehen, und dass ein Kluger sich alles zu Nutze machen muss. Deswegen behalten sie ihre Minister mit ihren guten und bösen Eigenschaften, die Treulosigkeit ausgenommen; und ziehen die, so sie recht genau haben kennen lernen, den neuen, die sie haben könnten, vor; fast so, wie geschickte Musikverständige lieber auf einem Instrumente spielen, dessen Stärke und Schwäche sie kennen, als auf einem neuen, dessen Güte ihnen noch nicht bekannt ist.“42
Ergebnisse des 1. Kapitels 1. These Bei der Beurteilung des Verhaltens eines Politikers, der vor einem Rücktritt steht, sind (zumindest) drei Arten von Regeln zu unterscheiden: Verhaltensregeln, Zurechnungsregeln und Verfahrensregeln. 2. These Die Verhaltensregeln geben darüber Auskunft, was der Politiker hätte unterlassen (bzw. tun) sollen. Dieses sind zumindest die Regeln des allgemeinen Strafrechts, können aber auch andere Regeln, wie etwa das Lügeverbot sein. Allerdings ist insoweit zwischen internem Vertrauen (von seinen Parteigängern) und externem Vertrauen (von Seiten der Allgemeinheit), das der Politiker eventuell enttäuscht hat, zu unterscheiden. In den meisten Fällen wird nur die Enttäuschung von internem Vertrauen zum Rücktritt des Politikers führen. 3. These Die Zurechnungsregeln normieren, ob der Politiker nicht nur für eigenes (unmittelbares) Verhalten haftbar gemacht werden kann, sondern auch die „politische Verantwortung“ für fremdes Verhalten übernehmen muss. Dabei bietet sich die Zurechnungsstruktur der Haftung bei unerlaubter Handlung im Zivilrecht zur Übernahme an, so dass der Politiker zum einen für eigenes Verschulden, dann aber zum anderen auch für (eigenes) Organisationsverschulden insoweit haftet, als er das Verhalten der ihm Unterstehenden nicht adäquat organisiert hat. 4. These Die Verfahrensregeln geben u. a. an, welche Beweislastverteilung bei der Feststellung der politischen Verantwortlichkeit zu gelten hat. Dabei scheint die aus dem Strafprozess bekannte Regel „in dubio pro reo“ auch hier maßgebend zu sein. Allerdings mit der Modifikation, dass der Politiker bei hinreichender 42
Wie Fn. 39, S. 356 f.
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1. Kap.: Wann ist ein Politiker in seinem Amt nicht mehr tragbar?
Schwere des gegen ihn bestehenden Verdachts sein Amt ruhen lassen muss, bis die Vorwürfe geklärt sind, und dass er jedenfalls kein „Schweigerecht“ hat. Schließlich ist auch die Möglichkeit der „Verjährung“ politischer Verantwortlichkeit als Verfahrensregel zu diskutieren.
2. Kapitel
Weshalb müssen die drei Gewalten im Staat voneinander getrennt werden? I. Kants Thesen zur Gewaltenteilung in der Metaphysik der Sitten Das Prinzip der Gewaltenteilung1 gilt uns heute als einer der unumstößlichen Grundsätze des Rechtsstaates. Nur selten wird allerdings danach gefragt, wie sich die auf Überlegungen insbesondere von Locke und Montesquieu2 zurück1 Oft auch – wohl präziser – als Prinzip der „Gewaltentrennung“ bezeichnet; vgl. etwa Hans Peters, „Die Gewaltentrennung in moderner Sicht“, in: Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, hrsg. von Heinz Rausch, Darmstadt 1969, S. 78 ff., m. w. N. 2 Vgl. John Locke, Two Treatises of Government (1690), hier benutzt: ed. Laslett, Cambridge 1990, 2nd Treatise, XlI. ff.; Charles de Montesquieu, De l’esprit des loix, 1748, hier benutzt: Vom Geist der Gesetze, Stuttgart 1980, insbes. XI., 6. Vgl. zu Montesquieus Thesen neuerdings vor allem den Sammelband Gewaltentrennung im Rechtsstaat. Zum 300. Geburtstag von Charles de Montesquieu, Vorträge und Diskussionsbeiträge der 57. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1989 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, hrsg. von Detlef Merten, Berlin 1989. Allgemein zur Geschichte des Gewaltenteilungsgedankens vgl. etwa Ernst Forsthoff, „Gewaltenteilung“, in: Ev. Staatslexikon, Stuttgart/Berlin 1966, Sp. 655 ff.; Kurt Kluxen, „Die Herkunft der Lehre von der Gewaltentrennung“, in: H. Rausch (Fn. 1), S. 131 ff.; Christoph Link, Herrschaftsordnung und Bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, Wien/Köln/Graz 1979, S. 183 ff.; Peter Selmer, „Gewaltenteilung“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1971, S. 1642 ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2: Staatsorgan, Staatsfunktionen, Finanz- und Haushaltsverfassung, Notstandsverfassung, München 1980, S. 513 ff.; Georg-Chr. von Unruh, „Grundlagen und Probleme der Verteilung der Staatsgewalt“, Juristische Arbeitsblätter, 1990, S. 290 ff.; Alfred Voigt, „Gewaltenteilung“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 3, Darmstadt 1974, Sp. 570 ff. jeweils m. w. N. – Zur Kritik von Rousseau an der Gewaltenteilungslehre Montesquieus im Contract social von 1762 vgl. insbes. Ernst v. Hippel, Gewaltenteilung im modernen Staat, Koblenz 1949, S. 18 ff., 32 f. Von Hippel weist hier darauf hin (S. 78), dass die monarchische Verfassung Frankreichs von 1791 den Gewaltenteilungsgedanken zum Ausgang nahm, während die republikanische von 1793 sich auf Rousseau bezog, der zur Gewaltenteilung meinte, diese sei „wie wenn man einen Menschen zerteilen, dem einen Willen, dem anderen Verstand, dem dritten das Gedächtnis geben wollte“. (Zitat nach Hippel, a. a. O.) Zumindest indirekt zeigt sich dabei, dass der Gewaltenteilungsgedanke letztlich von der Staatsform (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) unabhängig ist. Im Hinblick auf die nachfolgend noch darzustellenden Thesen Kants vgl. dazu auch Christian
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
gehende Teilung von gesetzgebender, ausführender und rechtsprechender Gewalt begründen lässt. Einen Versuch, die Notwendigkeit dieser Unterscheidung und damit auch die einer funktionalen Trennung jener drei Gewalten in einem Staatswesen darzulegen, hat Kant in der Metaphysik der Sitten unternommen. Dort heißt es insbesondere: „Alle jene drei Gewalten im Staate sind Würden und als wesentliche aus der Idee eines Staats überhaupt zur Gründung desselben (Constitution) nothwendig hervorgehend, S t a a t s w ü r d e n.“3 Nun bliebe dies eine bloße Behauptung, wenn sich nicht ein Grund dafür angeben ließe, warum die einzelnen Staatsgewalten voneinander unterschieden und zugleich getrennt werden müssen. Ohne den Begriff „Gewaltenteilung“ explizit zu verwenden4, sieht Kant den Grund für die Notwendigkeit einer Trennung der Gewalten in Folgendem: Die drei Staatsgewalten, und zwar die potestas legislatoria, die potestas executoria und die potestas iudiciaria5, „sind also e r s t l i c h einander, als so viele moralische Personen, beigeordnet (potestates coordinatae), d. i. die eine ist das Ergänzungsstück der anderen zur Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung; aber z w e i t e n s auch einander u n t e r g e o r d n e t (subordinatae), so daß eine nicht zugleich die Function der anderen, der sie zur Hand geht, usurpiren kann, sondern ihr eigenes Princip hat, d. i. zwar in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet; d r i t t e n s durch Vereinigung beider jedem Unterthanen sein Recht ertheilend.“6
Dass die drei Gewalten im Staat einander „beigeordnet“ sind, ist dabei noch relativ einfach verständlich. Weniger klar ist die These, dass sie auch einander „untergeordnet“ sein sollen. Für dieses wechselseitige Unterordnungsverhältnis wird zumindest eine nähere Begründung zu fordern sein. Plausibel ist es hier, wenn Kant feststellt, dass „(d)er Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) . . . nicht zugleich der R e g e n t sein“7 kann. Unter dem Regenten versteht Kant „diejenige (moralische oder physische) Person, welcher die ausübende Gewalt (potestas executoria) zukommt. . . . Als moralische Person betrachtet, heißt er das D i r e c t o r i u m, die Regierung“8. Wäre eine Regierung zugleich gesetzgebend, würde Kant sie als despotisch ablehnen, wobei hervorzuheben ist, dass Kant eine „väterliche“ Regierung „(regimen paternale)“ „als die am meisten Ritter, „Immanuel Kant“, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik. Politik. Naturrecht, hrsg. von Michael Stolleis, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1987, S. 341. 3 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 315. 4 Hierauf weist mit Recht hin Bernd Ludwig, Kants Rechtslehre. Mit einer Untersuchung zur Drucklegung kantischer Schriften von Werner Stark, in: Kant-Forschung, hrsg. von Reinhard Brandt und Werner Stark, Bd. 2, Hamburg 1988, S. 160, Fußnote 127; vgl. auch S. 164 mit Fußnote 138. 5 Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 318. 6 A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 316. 7 A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 317. 8 A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 316.
I. Kants Thesen zur Gewaltenteilung in der Metaphysik der Sitten
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despotische unter allen“ bezeichnet, weil sie ihre „Bürger als Kinder zu behandeln“ trachte. Ihm dagegen schwebt eine „vaterländische“ Regierung „(regimen civitatis et patriae)“ als der Idealfall vor, durch die „der Staat selbst (civitas) seine Unterthanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbstständigkeit, behandelt“, und damit „jeder sich selbst besitzt und nicht vom absoluten Willen eines Anderen neben oder über ihm abhängt.“9 Jedenfalls in einer Richtung wird damit das von Kant behauptete Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Regent und Gesetzgeber deutlich: Der Regent zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er „unter dem Gesetz“ steht und „durch dasselbe, folglich von einem Anderen, dem Souverän, verpflichtet“ wird.10 Wo aber von Verpflichtetem einerseits und Verpflichtendem andererseits die Rede ist, müssen zumindest diese Rollen eindeutig getrennt werden, wenn es nicht zu einem Selbstwiderspruch kommen soll. Im Zusammenhang mit einer etwas anderen Fragestellung, und zwar der, ob Pflichten gegen sich selbst überhaupt denkbar sind, bringt Kant diese Problematik ausdrücklich zur Sprache. So stellt er in § 1 der Tugendlehre fest, dass der „Begriff einer Pflicht gegen sich selbst . . . (dem ersten Anscheine nach) einen Widerspruch“11 enthalte. „Denn in dem Begriffe der Pflicht ist der einer passiven Nöthigung enthalten (ich werde v e r b u n d e n). Darin aber, daß es eine Pflicht gegen mich selbst ist, stelle ich mich als v e r b i n d e n d, mithin in einer activen Nöthigung vor (Ich, eben dasselbe Subject, bin der Verbindende); und der Satz, der eine Pflicht gegen sich selbst ausspricht (ich s o l l mich selbst verbinden), würde eine Verbindlichkeit verbunden zu sein (passive Obligation, die doch zugleich in demselben Sinne des Verhältnisses eine active wäre), mithin einen Widerspruch enthalten.“12
Kant löst diesen Widerspruch, indem er unter Rückgriff auf seine bekannte Zwei-Reiche-Lehre fordert, dass (auch) in diesem Zusammenhang der Mensch „in zweierlei Bedeutung betrachtet“ werden müsse: „Der Mensch nun, als vernünftiges N a t u r w e s e n (homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als U r s a c h e, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt, und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d. i. als ein mit innerer F r e i h e i t begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet . . .“13
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A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 317. Ebd. 11 A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 417. 12 Ebd. 13 A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 418. 10
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
Man wird diese Stelle in der Tugendlehre – trotz etwas missverständlicher Formulierungen – nur so verstehen können, dass Kant meint, der Mensch qua homo phaenomenon übernehme die Rolle des „Verbundenen (subiectum obligationis)“ während er als homo noumenon die des „Verbindende(n) (auctor obligationis)“14 ausfülle. Denn nur bei dieser Interpretation des § 3 der Tugendlehre scheint überhaupt jener oben von Kant aufgefundene Widerspruch, der in der Ineinssetzung von Verpflichtendem und Verpflichtetem läge, behebbar zu sein. Diese strikte Trennung, die zwischen der Rolle des Verpflichtenden einerseits und der des Verpflichteten andererseits vorzunehmen ist, findet auf der Ebene des Staates ihre Analogie in der Trennung von Gesetzgeber und Regierung. Die Unterscheidung zwischen den beiden Rollen im Staat – einerseits gesetzgebende Gewalt und andererseits ausführende Gewalt – hat nun auch die Konsequenz, dass die gesetzgebende Gewalt sich nicht Aufgaben der ausführenden Gewalt anmaßen darf. Dementsprechend fordert Kant, dass der Gesetzgeber zwar den Regenten absetzen oder seine Verwaltung reformieren könne, ihn aber nicht strafen dürfe. Er begründet dies damit, dass eine solche Bestrafung „ein Act der ausübenden Gewalt“ wäre, „der zu oberst das Vermögen dem Gesetze gemäß zu z w i n g e n zusteht, die aber doch selbst einem Zwange unterworfen wäre; welches sich widerspricht.“15 An dieser Argumentation ist zutreffend, dass die Durchführung von Bestrafung durchaus eine Aufgabe ausübender Gewalt ist und sich die Legislative eines Übergriffs in den Bereich der ausübenden Gewalt schuldig machen würde, wenn sie dazu überginge, selbst die Bestrafung vorzunehmen. Dies allerdings kann nicht bedeuten, dass sie nicht berechtigt wäre, im Rahmen allgemeingültiger Gesetze Vorschriften zu erlassen, die auch die (Mitglieder der) Exekutive verpflichten und sie im Falle eines Zuwiderhandelns mit Strafe bedrohen. Es bleibt der interessante Befund, dass die offenbar denknotwendige Differenzierung zwischen Verpflichtendem (obligatio activa) und Verpflichtetem (obligatio passiva) die entscheidende Grundlage für die Forderung nach Gewaltenteilung zwischen Gesetzgeber und Regierung bildet. Klärungsbedürftig bleibt das Verhältnis jener beiden Gewalten zu der dritten staatlichen Gewalt, der Rechtsprechung. Zur Begründung dafür, dass „weder der Staatsherrscher noch der Regierer“, also weder der Gesetzgeber noch die Exekutive, „richten“ könne, verwendet Kant zwei Argumente. Das erste Argument geht dahin, dass das „Volk . . . sich selbst durch diejenigen ihrer Mitbürger“ richten müsse, die „durch freie Wahl, als Repräsentanten“ des Volkes, „und zwar für jeden Act besonders dazu ernannt“ worden sind. Da weder der Gesetzgeber noch der Regierende das Volk selbst sei, könne keine dieser beiden Gewalten die Rolle der Judikative übernehmen. Daraus folgert Kant: „Also kann 14 15
A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 417. A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 317.
II. Gewaltenteilung und moralisch handelndes Subjekt
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nur das Vo l k durch seine von ihm selbst abgeordneten Stellvertreter (die Jury) über jeden in demselben, obwohl nur mittelbar, richten.“16 Als ergänzendes Argument führt er an, dass es zudem „unter der Würde des Staatsoberhaupts“ sei, „den Richter zu spielen, d. i. sich in die Möglichkeit zu versetzen, Unrecht zu thun und so in den Fall der Appellation (a rege male informato ad regem melius informandum) zu gerathen.“17 Zumindest dieses zweite Argument ist allerdings wenig überzeugend. Denn die von Kant benannte Gefahr, „in den Fall der Appellation zu gerathen“, wäre ja gebannt, wenn das Staatsoberhaupt die Position des obersten Richters einnähme. Dann würde die von Kant getroffene und kaum bestreitbare Feststellung gelten, dass „der Rechtsspruch des obersten R i c h t e r s (supremi iudicis) u n a b ä n d e r l i c h (inappellabel)“ ist, so wie – in Kants Worten – dementsprechend der „Wille des G e s e t z g e b e r s (legislatoris)“ „u n t a d e l i g (irreprehensibel)“ und das „Ausführungs-Vermögen des O b e r b e f e h l s h a b e r s (summi rectoris) u n w i d e r s t e h l i c h (irresistibel)“18 sind.
II. Gewaltenteilung und moralisch handelndes Subjekt Die Überlegungen Kants zum Prinzip der Gewaltenteilung erhellen einige wichtige Aspekte der Problematik, doch bleibt auch eine Reihe von Fragen offen. Weitgehend ungeklärt ist nach wie vor in erster Linie die Frage, ob die bezeichneten drei Gewalten tatsächlich als notwendig für ein Staatswesen aufgewiesen werden können, insbesondere auch was ihre institutionelle Trennung betrifft. Bei der weiteren Klärung dieser Problematik kann eine Parallele zwischen der Verfassung (Konstitution) eines Staates und der „Verfassung“, besser: Verfasstheit, einer moralisch handelnden Person hilfreich sein. So lassen sich auch innerhalb eines moralisch handelnden Subjekts drei verschiedene Rollen unterscheiden, die ganz ähnliche Funktionen wahrnehmen wie die drei Staatsgewalten und die auch von Kant durchaus als unterschiedliche und voneinander zu trennende Rollen gesehen werden, wenngleich er selbst den Zusammenhang mit der Gewaltenteilungsproblematik nicht explizit herstellt. Qua handelndes Subjekt wird die Rolle eines Ausführenden eingenommen. Dieser Rolle korrespondiert im Staat die Rolle der Exekutive. Auch die gesetzgebende Gewalt hat ihre Entsprechung im moralisch handelnden Subjekt. Bei Kant ist es die selbstgesetzgebende (praktische) Vernunft, die uns mit dem Kategorischen Imperativ das für rechtliches und moralisches Handeln gleichermaßen verbindliche Gesetz vorschreibt. Und schließlich gibt es im einzelnen Subjekt ein Vermögen, das der rechtsprechenden Gewalt im Staat korrespondiert. Kant 16 17 18
Ebd. A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 317 f. A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 316.
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
behandelt es unter dem Stichwort Gewissen, und nicht von ungefähr wird bei ihm das Gewissen als „innerer Gerichtshof“ charakterisiert: „Das Bewußtsein eines i n n e r e n G e r i c h t s h o f e s im Menschen (,vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen‘) ist das Gewissen.“19 Diese Parallele zwischen Gewaltenteilung im Staatswesen und Verfasstheit des moralisch handelnden Subjekts,20 soll im Weiteren näher beleuchtet werden. Es liegt auf der Hand, dass die bezeichneten Vermögen des handelnden Subjekts, einerseits moralischer Gesetzgeber, andererseits Ausführender zu sein und schließlich durch sein Gewissen über diese seine Handlungen nach Maßgabe der moralischen Gesetze urteilen zu können, stets von ein und derselben Person ausgeübt werden, und zwar von eben jenem moralisch handelnden Subjekt. Insoweit kann selbstverständlich von einer Teilung dieser „Gewalten“ im eigentlichen Sinne „innerhalb“ dieses moralisch handelnden Subjekts gerade keine Rede sein. Gleichwohl lassen sich mit Kant Gründe dafür finden, dass auch innerhalb des moralisch handelnden Subjekts die hier parallel zu den staatlichen Gewalten formulierten Rollen jedenfalls gedanklich deutlich voneinander getrennt werden müssen. Dabei wird sich zeigen, dass diese Trennung der drei verschiedenen Rollen Bedingung der Möglichkeit für moralisches Handeln überhaupt ist. In diesem Sinne ist die Trennung jener Rollen notwendige Voraussetzung einer jeden als moralisches Verhalten interpretierbaren Handlung des Subjekts. Auf die Trennung zwischen der Rolle des unmittelbar Handelnden einerseits und der desjenigen, der die moralischen Maßstäbe vorgibt, andererseits, ist bereits kurz eingegangen worden. Die Problematik wird – wie gesagt – bei Kant 19
A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 438. Auf diese Parallele weist zu Recht auch Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, Paderborn 2007, S. 309 ff. hin; ähnlich auch Christoph Möllers, Die drei Gewalten, Weilerswist 2008, etwa S. 118 f.; vgl. ferner Julius Ebbinghaus, Gesammelte Schriften, Band 1: Sittlichkeit und Recht, Praktische Philosophie 1929–1954, hrsg. von Hariolf Oberer und Georg Geismann, Bonn 1986, S. 9 (32), Fußnote 1, der hervorhebt, dass die Gewaltenteilungslehre von Kant auch auf seine Vorstellung von Gott übertragen wird, wobei dann allerdings keine Trennung der Gewalten mehr erforderlich ist. In der Vigilantius-Nachschrift, Akad.-Ausg., Bd. 27.2.1, S. 721, wird dies so ausgedrückt: „Nämlich wir nehmen an, Gott sey das Fundament unserer ganzen Moralität, er sey das belebende moralische Wesen, in Verhältnis gegen uns als seine Geschöpfe; so liegt ja hierin eine dreifache Zerteilung dieser idealischen Vorstellung: a) Gott als heiliger Gesetzgeber, ist Object der Achtung. b) Gott als gütiger Erhalter und Regierer, ist Object der Liebe. c) Gott als gerechter Richter, ist Object der Gottesfurcht.“ – Zu Kants Gewaltenteilungslehre vgl. weiterhin Ludwig (Fn. 4), S. 160 ff.; Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt a. M. 1992, insbes. S. 191 ff.; Ritter (Fn. 2), S. 339 ff.; Kenneth R. Westphal, „Kant on the State, Law and Obedience to Authority in the Alleged ,Anti-Revolutionary‘ Writings“, Journal of Philosophical Research 17 (1992), 383 ff., 396 ff.; Joachim Hruschka, „Praktische Vernunftschlüsse und die Dreiteilung der staatlichen Gewalt in Kants ,Rechtslehre‘ von 1797“, in: Fakultät der Universität Thessaloniki (Hrsg.), FS für Joannis Manoledakis, Bd. 3. 20
II. Gewaltenteilung und moralisch handelndes Subjekt
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insbesondere im Zusammenhang mit der Fragestellung diskutiert, ob es überhaupt Pflichten gegen sich selbst geben kann. Kant stellt dabei fest, dass der Verbindende (auctor obligationis) den Verbundenen (subiectum obligationis) jederzeit von der Verbindlichkeit (terminus obligationis) lossprechen könne, und dass deshalb, wenn beide ein und dasselbe Subjekt seien, jemand an eine Pflicht, die er sich selbst auferlegt, gar nicht gebunden sein könne, und schließt daraus mit Recht, dass dies auf den widersprüchlichen Begriff einer Pflicht ohne Bindung hinauslaufen würde.21 Diese „scheinbare Antinomie“22 kann nur gelöst werden, indem man sich die Rollen des Verbindenden und die des Verbundenen als voneinander getrennt vorstellt. Kant drückt dies durch die Unterscheidung zwischen dem Menschen als Sinnenwesen einerseits und als Vernunftwesen andererseits aus. Das Vernunftwesen lässt sich nach Kant „nur in moralisch-praktischen Verhältnissen“ erkennen, „wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich durch den Einfluss der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht.“23 Hier wird deutlich, dass die Rolle desjenigen, der die moralisch relevanten Maßstäbe bestimmt, niemals mit derjenigen des aktuell Handelnden in eins zusammenfallen darf. Geschähe dieses, und würde damit der prinzipielle Unterschied zwischen der Rolle des moralischen Gesetzgebers einerseits und der des Handelnden andererseits eingeebnet, wäre moralisches Handeln, jedenfalls im Kantischen Sinne, nicht mehr möglich. Denn dann wäre jedes Handeln nur noch der praktischen Zweckmäßigkeit unterworfen und könnte nicht mehr von Kriterien, die außerhalb bloßer Zweckmäßigkeit stehen, gelenkt werden. Dabei ist dieses außerhalb reiner Zweckmäßigkeit stehende moralische Kriterium im Rahmen von Kants Moralphilosophie natürlich der Kategorische Imperativ. Auch wenn es nach der Kantischen Moralauffassung so ist, dass der Mensch das positive Vermögen seiner Freiheit gerade dadurch wahrnimmt, dass er sich selbst das moralische Gesetz gibt (Autonomie)24, bleibt es doch dabei, dass die Rolle des Gesetzgebers und die desjenigen, dem das Gesetz vorgegeben wird, notwendig zu trennen sind. Dabei gibt Kants Zwei-Reiche-Lehre lediglich eine Methode an die Hand, sich diese Trennung der beiden unterschiedlichen Rollen in demselben Subjekt verständlich zu machen. Der Gedanke, wie er von Kant im Hinblick auf die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst ausdrücklich verwendet wird, ist nun auf alles moralische Handeln und damit auf alle in Frage kommenden Pflichten zu übertragen. Denn gerade dann, wenn man mit Kant von der Idee der Selbstgesetzgebung ausgeht, bleibt ja auch hinsichtlich der Pflichten gegenüber anderen problematisch, weshalb das handelnde Subjekt 21
A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 417. A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 418. 23 Ebd. 24 Vgl. vor allem Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 4, S. 432 f. 22
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
einerseits auf der Seite des Verbindenden und andererseits auf der Seite des Verbundenen stehen kann. Wieder ist es so, dass nur eine strikte Trennung der beiden Rollen überhaupt die Möglichkeit bietet, diesen Akt der Selbstgesetzgebung zu verstehen. Oder in Kants Worten: „Denn ich kann mich gegen Andere nicht für verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde: weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genöthigt werde, indem ich zugleich der Nöthigende in Ansehung meiner selbst bin.“25
Da es – jedenfalls im Rahmen der Kantischen Moralphilosophie – gerade der Akt der Selbstgesetzgebung ist, der Freiheit im positiven Verstande manifestiert,26 ist die (gedankliche) Trennung der Rollen von moralischem Gesetzgeber und verpflichtetem Handelnden denknotwendig, um jene sich in Autonomie ausdrückende Freiheit zu gewährleisten. Fielen die Rolle des moralischen Gesetzgebers und die des aktuell Handelnden in eins zusammen, könnte das Subjekt schon nicht mehr als frei betrachtet werden. Damit fehlte eine notwendige Bedingung moralischen Handelns überhaupt. Wie bereits angedeutet, übernimmt im moralisch handelnden Subjekt das Gewissen die Rolle der rechtsprechenden Gewalt. Allerdings impliziert Kants Interpretation des Gewissens als „Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“27 ein ganz ähnliches Problem wie das soeben besprochene. Denn wenn die Tätigkeit des Gewissens tatsächlich als „die Führung einer Rechtssache (causa) vor Gericht“ verstanden werden soll, dann bleibt die von Kant deutlich gesehene Schwierigkeit, „dass . . . der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde.“28 Dies ist – in Kants Worten – eine „ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren.“29 Kant spricht hier von einer „zwiefache(n) Persönlichkeit, in welcher der Mensch, der sich im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken“ müsse. „(D)ieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, andererseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in Widerspruch gerathe.“30
25
A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 417 f. Vgl. insbes. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a. a. O. (ob. Fn. 24), S. 446 ff.; Metaphysik der Sitten, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 221. 27 A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 438. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 439 (Anm.). 26
II. Gewaltenteilung und moralisch handelndes Subjekt
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Wieder ist dieser Widerspruch nur durch eine deutliche Trennung der beiden unterschiedlichen Rollen aufzulösen: Zwar bin „(i)ch, der Kläger und doch auch Angeklagter, . . . eben derselbe Mensch (numero idem); aber als Subject der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz unterthan ist, das er sich selbst giebt (homo noumenon), ist er als ein Anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch (specie diversus), aber nur in praktischer Rücksicht zu betrachten . . .“.31
Kant bezeichnet in diesem Zusammenhang den durch das Gewissen sprechenden Richter auch als „blos idealische Person“.32 Deutlich wird damit, dass die als Gewissensrichter vorgestellte „idealische Person“ eine von der Rolle des handelnden Subjekts selbst klar getrennte Rolle wahrnimmt. Und diese Trennung ist auch durchaus notwendig, wenn es nicht wieder zu einer Auflösung der Möglichkeit, moralisch zu handeln, kommen soll. Denn wenn nicht ein unabhängiger Richter über die Einhaltung des moralischen Gesetzes durch den Handelnden wacht, ist moralisches Handeln selbst nicht mehr gewährleistet. Würde hier wieder nach Kriterien etwa der Zweckmäßigkeit entschieden, mithin die Rolle des moralischen Richters (Gewissen) mit der des aktuell Handelnden in eins zusammenfallen, bliebe von einem moralischen Handeln nichts übrig. Ebenso wie die Trennung zwischen der Rolle desjenigen, der die moralischen Gesetze vorgibt, und der Rolle desjenigen, der aktuell handelt, eine Bedingung der Möglichkeit für moralisches Verhalten ist, ist es eine weitere Bedingung der Möglichkeit derartigen Verhaltens, dass die Überwachung der Frage, ob nun im Einzelfall moralisch richtig gehandelt wird oder nicht, einem als unabhängig gedachten Richter anvertraut ist. Es bleibt zu klären, wie das Verhältnis zwischen dem moralischen Gesetzgeber einerseits und dem die Rolle des Richters einnehmenden Gewissen andererseits zu bestimmen ist. Auch hier erscheint eine strikte Trennung der beiden Rollen als unerlässlich. Und dies nicht nur wegen des eher vordergründigen Gedankens, dass derjenige, der die Gesetze aufstellt, nicht derjenige sein kann, der über ihre Einhaltung wacht. Dass auch hier eine Trennung notwendig ist, ergibt sich vielmehr daraus, dass der moralische Gesetzgeber den Einzelfall nicht kennen kann und ihn notwendigerweise auch mit den von ihm gesetzten allgemeinen Gesetzen nicht in den Griff bekommt. Würde auch der Gesetzgeber stets allgemein und ohne Rücksicht auf den Einzelfall die Aufgabe des Gewissenrichters übernehmen, müsste dies zu einer Verfehlung der richterlichen Aufgabe des Gewissens führen. Es käme zu einem in Bezug auf die Verhältnisse zwischen den übrigen Rollen vergleichbaren Widerspruch, wenn die Setzung des allgemeinen Gesetzes und die Beurteilung des Einzelfalls, also die Anwendung des allgemeinen Gesetzes auf den Einzelfall, in eins zusammenfielen. 31
Ebd. A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 439. Kritisch zu dieser Konzeption Kants allerdings Jens Kulenkampff, „Kant und der ,unpartheische Zuschauer‘“, JRE 13 (2005), 237 ff., 252 ff. 32
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
Damit ist deutlich geworden, dass bereits innerhalb des moralisch handelnden Subjekts drei ganz unterschiedliche Rollen auseinander zu halten sind, und nicht nur dies, sie müssen auch strikt voneinander getrennt werden, wenn moralisches Verhalten überhaupt möglich sein soll. Von dem aktuell handelnden Subjekt sind einerseits der autonome Gesetzgeber und andererseits das als Gerichtshof interpretierbare Gewissen zu unterscheiden. Nun sind zwar die Bezeichnungen dieser Rollen durchaus Analogien zu den bekannten drei Gewalten im Staat und ihrerseits auch als Analogienbildungen zu jenen erst relativ präzise bestimmbar. Besonders deutlich ist dies hinsichtlich des „moralischen Gesetzgebers“ und hinsichtlich des „Gewissensrichters“. Insofern taugt der Unterschied zwischen den drei „Gewalten“, die sich im moralisch handelnden Subjekt finden, prima facie nicht viel dazu, etwas über die notwendige Gewaltentrennung im Staat auszusagen. Denn wenn jene „Gewalten“ nur durch Analogiebildung zu diesen gewonnen werden könnten, dann bliebe für Schlüsse in umgekehrter Richtung wenig Raum. Gleichwohl lassen sich die genannten drei Rollen innerhalb des moralisch handelnden Subjekts durchaus auch unabhängig von ihrer Bezeichnung und damit unabhängig von einer Analogie zu den Staatsgewalten unterscheiden und müssen auch unterschieden werden. Denn moralisches Handeln setzt voraus, dass aufgrund von moralischen Pflichten gehandelt wird und dass dieses Handeln ständig der Kontrolle daraufhin unterworfen wird, ob es tatsächlich mit diesen Pflichten übereinstimmt. Deshalb ist für moralisches Handeln die genannte Dreiteilung bereits denknotwendig angelegt: Einerseits bedarf es einer Instanz, die die Pflichten aufstellt, dann bedarf es einer Instanz, die diese Pflichten erfüllt, und schließlich bedarf es einer Instanz, die darüber wacht, ob diese Pflichten auch erfüllt werden. Und diese drei Instanzen müssen als unabhängig voneinander gedacht werden, soll es nicht zu einer Auflösung der Möglichkeit moralischen Handelns überhaupt kommen. Es erscheint deshalb legitim, den Gedanken der strikten Dreiteilung zwischen handelndem Subjekt, moralischem Gesetzgeber und Gewissensrichter auf die Ebene des Staates zurückzuübertragen und auch dort die Trennung zwischen den drei Gewalten als eine Bedingung der Möglichkeit eines sich als freiheitlich verstehenden Staatswesens zu interpretieren. Da zudem auf der Ebene des Staates nicht mehr die prinzipielle Schwierigkeit besteht, dass alle drei Rollen von derselben Person ausgeübt werden müssen, ist es nur konsequent, darüber hinausgehend zu fordern, dass die Ausübung der Rollen auch personell und institutionell getrennt wird. Denn erst dadurch kann die Separierung der Rollen wirklich sinnentsprechend durchgeführt werden. Hier lässt sich nun das umsetzen, was auf der Ebene des handelnden Individuums angesichts der faktischen Unmöglichkeit einer personellen Trennung der einzelnen Rollen bzw. ihrer Ausübung oftmals nicht möglich ist: Die Wahrung der wechselseitigen Unabhängigkeit der einzelnen Gewalten voneinander.33
III. Gewaltenteilung und praktischer Syllogismus
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III. Gewaltenteilung und praktischer Syllogismus Eine Abrundung und Bestätigung erfahren die vorangehenden Überlegungen dadurch, dass auch Kant in § 45 der Rechtslehre einen gewissermaßen denkgesetzlichen Hintergrund für die staatliche Gewaltenteilung angibt, indem er die drei Gewalten neben die Form des praktischen Syllogismus stellt. So enthalte „jeder Staat . . . drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die H e r r s c h e r g e w a l t (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die v o l l z i e h e n d e G e w a l t in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die r e c h t s p r e c h e n d e G e w a l t (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria) gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das G e s e t z jenes Willens, dem Untersatz, der das G e b o t des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Princip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den R e c h t s s p r u c h (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist.“34
So wie bei einem Syllogismus Obersatz, Untersatz und Schlusssatz voneinander getrennt sind und getrennt sein müssen, wenn überhaupt von einem Schluss die Rede sein soll, müssen in Analogie hierzu die drei Gewalten im Staat als getrennte gewährleistet sein; zugleich wird durch den Vergleich auch ihr Zusammenwirken und Ineinandergreifen besser verständlich. Durch die Reflexion 7673 aus Kants Nachlass wird diese Überlegung ergänzt: „Der Souverain muß Urtheilen was und wie eine Verfassung dem Willen des Gantzen Gemäs sey. Der Regent, was den besonderen Zwecken aller besonders gemäß sey, mithin sich unter einen allgemeinen Willen dem Zwecke nach subsumiren läßt, und der muß selbst eine Macht haben und nicht wiederum angewiesen werden zu Urtheilen. Endlich der Richter, welcher ob die Subsumtion des Zweckes des Einzelnen unter dem Gesetz der Freyheit aller recht sey oder nicht. Es ist also 1. Macht und Freyheit 2. Vermögen und Zweck 3. Zweck unter dem Gesetz der Freyheit.“35
Ein Syllogismus wird dann sinnlos, wenn die erste und die zweite Prämisse in eins zusammenfallen oder gar eine der Prämissen mit dem Schlusssatz identisch wäre. Ein wirklicher Schluss ist dann jedenfalls nicht gegeben. Gleichwohl
33 Dabei kann es hier nur um das Prinzip der Gewaltenteilung gehen. Dies schließt punktuelle Durchbrechungen des Prinzips und Verschränkungen der Gewalten in der Praxis nicht aus, sofern sich dafür überzeugende Gründe angeben lassen; näher zu diesen Fragen vgl. etwa Ulrich Fastenrath, „Gewaltenteilung – Ein Überblick“, Juristische Schulung 26 (1986), 194 ff., 200 f.; Hans-Jürgen Papier, „Gewaltentrennung im Rechtsstaat“, in: Merten (Fn 2.), S. 95 ff.; Hans-Peter Schneider, „Gewaltenverschränkung zwischen Parlament und Regierung“, in: Merten (Fn. 2), S. 77 ff.; Rolf Wank, „Gewaltenteilung – Theorie und Praxis in der Bundesrepublik Deutschland“, Juristische Ausbildung, 1991, S. 622 ff., jeweils m. w. N. 34 A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 313; vgl. auch Zum ewigen Frieden, Akad.-Ausg., Bd. 8, S. 352. 35 Reflexionen zur Rechtsphilosophie, Akad.-Ausg., Bd. 19, S. 485.
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
wäre dies nicht mehr als die Feststellung, dass in einem Syllogismus eben auch eine Dreiteilung erforderlich ist. Für das Problem der Notwendigkeit einer Dreiteilung der Gewalten indes wäre noch nicht mehr gewonnen als eine bloße Formenähnlichkeit, ein bloß parallel strukturiertes Beispiel. Wagte man hier einen Analogieschluss, für den auch materiale Aussagekraft reklamiert würde, wäre das nicht anders als die Behauptung, aus der Form der Spiralnebel am Sternenhimmel folge notwendig etwas für die Spiralförmigkeit des Wasserstrudels in einem Ausgussbecken. Bloße Formenähnlichkeit ist allenfalls ein Indiz für auch materiale Zusammenhänge, aber nicht mehr. Gefragt ist deshalb nach einer auch materialen Beziehung zwischen der Dreiteilung des praktischen Vernunftschlusses und dem Prinzip der Gewaltenteilung. Der Sinn eines praktischen Syllogismus, in der Form, in der Kant ihn verwendet, ist es, gesetzmäßiges Verhalten des Individuums zu garantieren. Jedes Verhalten soll als Einzelfall einer moralischen oder rechtlichen Regel – bei Kant: des Kategorischen Imperativs – begriffen werden, und der praktische Vernunftschluss dient der Kontrolle dieses Vorganges der Unterordnung (Subsumtion) des Einzelfalles unter die Regel. Der Syllogismus bringt gegenüber dem Einzelfall gerade das Allgemeine zur Geltung – und damit geschieht natürlich etwas ganz Entscheidendes, wenn man diesen Gedanken auf die Ebene des Staates zurücküberträgt: Erst dann, wenn auch das staatliche Handeln sich in der Form eines praktischen Vernunftschlusses vollzieht, kann die Allgemeinheit des Gesetzes sich gegen den Einzelfall durchsetzen und damit der „allgemeine Wille“ gegen den partikulären.36 Was ist damit gewonnen? Inhaltlich zunächst nicht viel, da es ja durchaus noch vom Inhalt der Gesetze abhängt, wie der einzelne Staatsbürger behandelt wird. Insoweit – d. h. bezogen auf den Inhalt der Gesetze – kann, zumindest nach Kant, nur die Kontrolle durch den Kategorischen Imperativ helfen (wobei man sicher streiten mag, ob diese Inhaltskontrolle überhaupt möglich ist oder nicht). Aber abgesehen davon bietet das Handeln des Staates in der Form des praktischen Syllogismus jedenfalls für zwei wesentliche Aspekte eines rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesens eine Garantie: Gewährleistet ist – zumindest der Idee nach –, dass gleiche Fälle prinzipiell gleich und ungleiche Fälle prinzipiell ungleich behandelt werden. Zum anderen ist – was eng mit dem ersten zusammenhängt – mit der Durchsetzung der Gesetzesförmigkeit staatlichen Verhaltens der Willkür ein Riegel vorgeschoben. Für beides bestünde keine Gewähr, wenn auch nur zwei der in Rede stehenden Gewalten im Staat in ein und derselben Hand zusammengefasst wären. Wäre der Richter zugleich Gesetzgeber, wäre er an seine Gesetze nicht gebunden, es sei denn auf die eher schizophrene Weise des Gewissensrichters, der 36
Vgl. dazu auch Kluxen (ob. Fn. 2), S. 146 f.
III. Gewaltenteilung und praktischer Syllogismus
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an das selbstgesetzte Recht gebunden ist. Dass im Fall des Individuums stets die nahe liegende Gefahr besteht, sich über die „Selbstbindung“ hinwegzusetzen, was ja moralisches Verhalten des Einzelnen auch immer wieder in Frage stellt, liegt auf der Hand. Dieser Gefahr muss beim staatlichen Handeln so gut wie möglich vorgebeugt werden, und dies ist maximal nur durch eine personelle und institutionelle Separierung der beiden staatlichen Funktionen zu erreichen. Wären Gerichtsbarkeit und Regierung in einer Hand, entfiele die Gewähr dafür, dass die Ausführung der Gesetze im Sinne der Subsumtion des Verhaltens im Einzelfall unter das allgemeine Gesetz auf seine Gesetzesförmigkeit hin überprüft würde. Das Gesetz könnte sich nicht durchsetzen. Der Richter wäre ein „Richter in eigenen Angelegenheiten“.37 Wieder bietet nur die Trennung der Funktionen Abhilfe. Würden schließlich die Aufgaben der Gesetzgebung und die der Regierung von derselben Person ausgeübt, wäre die Steuerung des Einzelfalles durch das allgemeine Gesetz nicht zu gewährleisten. Wer jederzeit die Gesetze selbst umwerfen kann, die er ausführen soll, ist an überhaupt kein Gesetz gebunden. Nur dann, wenn sich auch das staatliche Handeln in der Form eines praktischen Syllogismus vollzieht, wie Kant ihn vorgezeichnet hat, können Gesetzlichkeit und damit das Gleichbehandlungsgebot und das Willkürverbot eingehalten werden. Die personelle und institutionelle Trennung der Gewalten ist das wirksamste vorstellbare Mittel, um dies zu gewährleisten. Damit stellt sich auch heraus, dass der Gedanke der wechselseitigen Kontrolle der Staatsgewalten im Sinne einer „balance of powers“ eher vordergründig ist.38 Es geht bei der Trennung der staatlichen Gewalten um die Garantie der rechtsstaatlichen Essentialien von Gleichbehandlungsgebot und Willkürverbot. Erst vor dem Hintergrund dieser Garantie wird auch die Freiheit des Individuums möglich, wie sie sich nur in einem freiheitlichen Staatswesen behaupten kann. Oder in Kants Worten: „Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autorität hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält.“39 Ergebnisse des 2. Kapitels 1. These: Die gewaltentrennende Verfassung des Staates hat eine strukturelle Parallele in der Verfasstheit des moralisch handelnden Subjekts. Dabei korrespondiert die Funktion des staatlichen Gesetzgebers (Legislative) der Aufgabe des Selbstgesetzgebers im Subjekt. Die Exekutive entspricht dem handelnden Subjekt als 37 38 39
Auch dazu vgl. Kluxen (ob. Fn. 2), S. 140 ff. m. w. N. Ähnlich Kersting (ob. Fn. 20), S. 308 f. A. a. O. (ob. Fn. 5), S. 318.
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
solchem und die Rechtsprechung (Judikative) korrespondiert dem Gewissen(srichter) des Subjekts. 2. These Das handelnde Subjekt kann sich faktisch nicht in drei unterschiedliche Gewalten aufteilen. Und trotzdem sind der Selbstgesetzgeber, das handelnde Subjekt als solches und sein Gewissen(srichter) als je getrennte Rollen zu denken, wenn eine freiheitliche Verfasstheit des Subjekts und seines Handelns möglich werden soll. 3. These Der Gedanke der Dreiteilung der „Gewalten“ im Subjekt lässt sich zurückübertragen auf das Staatswesen, wo für eine freiheitliche Verfassung ebenfalls eine Gewaltentrennung erforderlich ist, die sich hier nun auch personell und institutionell realisieren lässt. 4. These Durch die Abbildung der Gewaltenteilung in einem (praktischen) Syllogismus, wie sie von Kant vorgeschlagen wird, wird deutlich, worum es dabei in erster Linie geht: Die Gewaltenteilung gewährleistet die Orientierung der staatlichen Einzelentscheidung an einem Gesetz und damit die allgemeine Gleichbehandlung gleicher Fälle und die Vermeidung von Willkür.
3. Kapitel
Sind „Rechtsstaat“ und „Unrechtsstaat“ kontradiktorische Begriffe? I. Zwischen Rechtsstaat und Unrechtsstaat Dem Begriff des Rechtsstaats wird üblicherweise der des Unrechtsstaats gegenübergestellt. Beide Begriffe werden als Gegensatzpaar verstanden. Dies kann in der Weise interpretiert werden, dass zwischen den beiden Begriffen ein kontradiktorischer Gegensatz besteht.1 Das würde bedeuten, dass jeder Staat entweder ein Rechtsstaat oder aber ein Unrechtsstaat ist – tertium non datur. Wenn demnach ein Staat kein Rechtsstaat ist, muss er notwendigerweise als Unrechtsstaat bezeichnet werden. Eine solche strikte Zweiteilung zwischen den unterschiedlichen Staatstypen wird teilweise als unbefriedigend empfunden. Dies zeigt sich etwa in Äußerungen wie der, man könne doch nicht alle diejenigen Staaten, die nicht in jeder Hinsicht Rechtsstaatlichkeit für sich beanspruchen können, in denselben Topf der Unrechtsstaaten werfen; vielmehr sei zu differenzieren. Es liegt deshalb nahe, eine reichere Begrifflichkeit zu fordern, die neben dem Rechtsstaat und dem Unrechtsstaat eine weitere Kategorie von Staatstypen zulässt. Eine solche reichere begriffliche Systematik ergibt sich, wenn man den Gegensatz zwischen Rechtsstaat und Unrechtsstaat nicht als kontradiktorischen Gegensatz, sondern nur als konträren Gegensatz versteht. Es wird dann sinnvoll, u. a. zwischen einem Begriff des Unrechts-Staates auf der einen Seite und dem eines Un-Rechtsstaates auf der anderen Seite zu unterscheiden.2 Sofern man diesem Ansatz folgt, ergibt sich eine Systematik der Be1 Hierauf deuten etwa Formulierungen hin, eine bestimmte Staatsordnung „sei das Gegenteil eines Rechtsstaats, nämlich ein Unrechtsstaat“; vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Artikel „Rechtsstaat“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, Sp. 332 ff., 337. 2 Vgl. in diesem Sinne etwa auch Ernst-Joachim Lampe, „Rechtswidriges Gesetz? Strafbarer Gesetzgeber?“, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Die Rechtseinheit, Arbeitskreis Strafrecht, Bd. II, Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, Köln/Berlin/Bonn/München 1993, S. 15 ff., 26. Zur weiteren – in ähnliche Richtung gehenden – Diskussion über den Begriff „Unrechtsstaat“ in jüngerer Zeit vgl. u. a. Horst Sendler, „Über Rechtsstaat, Unrechtsstaat und anderes“, Neue Justiz 45 (1991), S. 379 ff.; Jutta Limbach, „Recht und Unrecht in der Justiz der DDR“, Zeitschrift für Rechtspolitik 25 (1992), S. 170 ff.; Ingo Müller, „Die DDR – ein ,Unrechtsstaat‘“?, Neue Justiz 46 (1992), S. 281 ff.; Horst Sendler, „Die DDR ein Unrechtsstaat – ja oder nein?“, Zeitschrift für Rechtspolitik 26
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
griffe Rechtsstaat, Unrechts-Staat und Un-Rechtsstaat, bei der die Begriffe Rechtsstaat und Unrechts-Staat im Verhältnis des konträren Gegensatzes zueinander stehen, während die Begriffe des Nicht-Unrechtsstaats und des UnRechtsstaats ihrerseits einen subkonträren Gegensatz bilden. Dies folgt daraus, dass zwischen den Begriffen Rechtsstaat auf der einen Seite und Un-Rechtsstaat auf der anderen Seite ein kontradiktorischer Gegensatz besteht, ebenso wie zwischen den Begriffen Unrechtsstaat und Nicht-Unrechtsstaat. Außerdem gilt, dass jeder Rechtsstaat selbstverständlich kein Unrechts-Staat ist und jeder UnrechtsStaat ein Un-Rechtsstaat. Allerdings gelten diese Implikationsbeziehungen nicht umgekehrt. Damit bleibt Raum für einen selbstständigen dritten Staatstyp. Dieser Staatstyp sei vorerst nur durch die Definition gekennzeichnet, dass insoweit „weder ein Rechtsstaat noch ein Unrechts-Staat“ gegeben ist. Dieses Begriffsinstrumentarium bedarf allerdings einer inhaltlichen Ausfüllung. Es muss sich mit anderen Worten erst noch erweisen, ob es sinnvoll ist, neben den Begriff des Unrechtsstaates und den Begriff des Rechtsstaates einen weiteren Grundbegriff zu stellen und diesem einen anderen Inhalt als den beiden übrigen Begriffen zuzuweisen. Immerhin ist deutlich geworden, dass auf die dargelegte Weise jedenfalls die Möglichkeit dazu besteht und dass dies allenfalls in einem so vorstrukturierten Begriffssystem erfolgen kann, wenn man einmal von einer noch stärker ausdifferenzierten begrifflichen Systematik absieht.
II. Kants Staatstypologie In einem Beitrag zur Festschrift für Werner Krawietz weist Ulrich Klug3 auf eine etwas versteckte Passage in Kants Werken hin, in der sich dieser mit den „Grundzüge(n) der Schilderung des Charakters der Menschengattung“ befasst. Die Passage in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 4 von 1798 lautet in dem hier interessierenden Abschnitt: „Freiheit und Gesetz (durch welches jene eingeschränkt wird) sind die zwei Angeln, um welche sich die bürgerliche Gesetzgebung dreht. – Aber damit das letztere auch (1993), S. 1 ff. m. w. N. zur Begriffsgeschichte. Bedenken gegen eine undifferenzierte Verwendung des Begriffes „Unrechtsstaat“ anscheinend auch bei Steffen Heitmann, „Rechtsstaat West und Rechtsgefühl Ost“, Neue Juristische Wochenschrift 47 (1994), S. 2131 ff., 2132. Vgl. auch Chris Mögelin, Die Transformation von Unrechtsstaaten in demokratische Rechtsstaaten. Rechtlicher und politischer Wandel in Mittel- und Osteuropa am Beispiel Russlands, Berlin 2003, insbes. S. 45 ff. Zu den logischen Grundlagen dieser und der folgenden Begrifflichkeiten näher Joerden, Logik im Recht, Berlin 2005, S. 223 ff. 3 Ulrich Klug, „Anmerkungen zum Anarchie-Begriff bei Immanuel Kant“, in: Aulis Aarnio/Stanley L. Paulson/Ota Weinberger/Georg Henrik von Wright/Dieter Wyduckel (Hrsg.), Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geb., Berlin 1993, S. 591 ff. 4 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akad.-Ausg., Bd. 7, S. 117 ff., 330 f.
II. Kants Staatstypologie
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von Wirkung und nicht leere Anpreisung sei: so muss ein Mittleres5 hinzu kommen, nämlich Gewalt, welche, mit jenen verbunden, diesen Principien Erfolg verschafft. – Nun kann man sich aber viererlei Combinationen der letzteren mit den beiden ersteren denken: A. Gesetz und Freiheit ohne Gewalt (Anarchie). B. Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotism). C. Gewalt ohne Freiheit und Gesetz (Barbarei). D. Gewalt mit Freiheit und Gesetz (Republik). Man sieht, dass nur die letztere eine wahre bürgerliche Verfassung genannt zu werden verdiene; wobei man aber nicht auf eine der drei Staatsformen (Demokratie) hinzielt, sondern unter Republik nur einen Staat überhaupt versteht und das alte Brocardicon: Salus civitatis (nicht civium) suprema lex esto nicht bedeutet: Das Sinnenwohl des gemeinen Wesens (die Glückseligkeit der Bürger) solle zum obersten Princip der Staatsverfassung dienen; denn dieses Wohlergehen, was ein jeder nach seiner Privatneigung, so oder anders, sich vormalt, taugt gar nicht zu irgend einem objectiven Princip, als welches Allgemeinheit fordert, sondern jene Sentenz sagt nichts weiter als: Das Verstandeswohl, die Erhaltung der einmal bestehenden Staatsverfassung, ist das höchste Gesetz einer bürgerlichen Gesellschaft überhaupt; denn diese besteht nur durch jene.“
Für eine nähere Interpretation der Passage in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist zunächst zu klären, wie die Begriffe Gesetz, Gewalt und Freiheit von Kant wohl verstanden werden. Mit Gewalt scheint Staatsgewalt gemeint zu sein6, also die Möglichkeit, Gesetze oder auch den Willen eines „Oberhaupts“ – wie Kant anderweitig formuliert7 – durchzusetzen. Gesetz andererseits dürfte kaum so zu verstehen sein, dass allein positive Gesetze gemeint sind, sondern – wie sich insbesondere daraus ergibt, dass Kant auch für seinen Anarchiebegriff davon ausgeht, dass in einer Anarchie Gesetze bestehen können, – sind hier offenbar durchaus „natürliche Gesetze“8 mit umfasst. Daraus folgt im Übrigen auch, dass zwischen Anarchie und Republik die Grenze zwischen Naturzustand (status naturalis) und bürgerlichem Zustand (status civilis) im Sinne der geläufigen Kantischen Begrifflichkeit zu ziehen ist.9 Freiheit 5 Kant fügt hier eine Stern-Fußnote mit folgendem Inhalt an: „Analogisch dem medius terminus in einem Syllogism, welcher, mit Subject und Prädicat des Urtheils verbunden, die 4 syllogistischen Figuren abgiebt.“ 6 Im Hinblick auf weitere Überlegungen unter III. sei bereits darauf hingewiesen, dass Kant durchaus zwischen „Gewalttätigkeiten“ einerseits und „Gewalt“ im Sinne von Staatsgewalt andererseits unterscheidet; vgl. insbesondere Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 312 ff., und dort § 44 einerseits und § 45 andererseits. 7 Vgl. etwa Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 315, wo Kant von einem „allgemeinen Oberhaupt“ spricht und bemerkenswerterweise in Paranthese hinzufügt: „der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann“. 8 Vgl. die Kantische Differenzierung zwischen „positiven Gesetzen“ und „natürlichen Gesetzen“ in der Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 224. 9 Vgl. insbesondere Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 306 (§ 41).
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
schließlich dürfte so zu interpretieren sein, dass Kant hierunter primär äußere Freiheit versteht, also jedenfalls an dieser Stelle Freiheit im negativen Verstande meint. Dies schließt allerdings ein, dass durch die Verwirklichung äußerer Freiheit allererst die Möglichkeit zur Selbstbestimmung (Autonomie) im Sinne positiver Freiheit eröffnet wird und es Kant eben darauf in einem Staatswesen auch angekommen sein dürfte. Denn gerade an der Autonomie des Individuums fehlt es in der Despotie und in der Barbarei, was diese Staatstypen von den beiden anderen unterscheidet.
III. Kants Systematik und die Begriffe „Rechtsstaat“, „Unrechts-Staat“ und „Un-Rechtsstaat“ Für die vorliegende Fragestellung bedeutsam ist es nun, inwieweit man die Begriffe Rechtsstaat und Unrechtsstaat auf diese von Kant vorgeschlagene Systematik beziehen kann. Es liegt dabei nahe, den Begriff der Republik bei Kant mit dem moderneren Begriff des Rechtsstaates gleichzusetzen. Hierfür spricht nicht zuletzt, dass Kant selbst den Begriff der Republik offenbar so versteht, dass er nicht notwendigerweise mit der Staatsform der Demokratie zusammenfällt (vgl. obiges Zitat aus der Anthropologie). Auch eine Monarchie beispielsweise kann sich – zumindest grundsätzlich – als Rechtsstaat verwirklichen. Der Begriff der Barbarei wird von dem des Unrechts-Staates abgedeckt. Dabei könnte man allerdings fragen, ob die Barbarei überhaupt von Kant als Staatstyp angesprochen wird, oder nicht vielmehr den Zustand des Krieges aller gegen alle wiedergibt. Das scheint indes schon deshalb nicht der Fall zu sein, weil man den Parameter „mit Gewalt“ als „Staatsgewalt“ interpretieren sollte und nicht mit bloßer „Gewalttätigkeit“ verwechseln darf.10 Nur so bleibt auch verständlich, weshalb Kant „Gewalt“ als „ein Mittleres“ definiert, „welche, mit jenen [scil. Freiheit und Gesetz] verbunden, diesen Principien [scil. der Bürgerlichen Gesetzgebung] Erfolg verschafft.“
10 Vgl. dazu schon oben II. mit Fn. 6. – Gegen die Einstufung der Barbarei als Staatstyp könnte noch sprechen, dass Kant in seiner drei Jahre vor der Anthropologie verfassten Schrift „Zum ewigen Frieden“ nur zwei Staatstypen unterscheidet, und zwar nach der „Form der Regierung (forma regiminis)“. Diese „betrifft die auf die Constitution (den Act des allgemeinen Willens, wodurch die Menge ein Volk wird) gegründete Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht: und ist in dieser Beziehung entweder republikanisch oder despotisch.“ (Akad.-Ausg., Bd. 8, S. 352). Gleichwohl sollte an der im obigen Text vorgeschlagenen Trias von Staatstypen (Republik, Despotie, Barbarei) festgehalten werden; denn dies entspricht auch der Auffassung Kants jedenfalls in der Anthropologie, weil andernfalls keine konsistente Interpretation des Parameters „mit Gewalt“ mehr möglich wäre. Auch hinsichtlich des Anarchie-Begriffs hat Kant übrigens von seinem Essay „Zum ewigen Frieden“ bis zur Anthropologie offenkundig eine Umdefinition vorgenommen, worauf Klug, a. a. O. (ob. Fn. 3), S. 595 mit Recht hinweist.
IV. Interpretation der Systematik
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Und als dritter Grundtyp schließlich verbleibt die Despotie. Lediglich als Grenzbegriff fungiert dagegen die Anarchie, da sie gerade ohne (Staats-)Gewalt definiert ist und deshalb streng genommen keinen Staatstyp repräsentiert, sondern die Situation des Nicht-Staates.11 Damit stehen die von Kant verwendeten Begriffe und die modernere Terminologie wie folgt zueinander in Beziehung (in der von Kant im obigen Zitat gewählten Reihenfolge): A. Anarchie – kein Staat B. Despotism – Un-Rechtsstaat C. Barbarei – Unrechts-Staat D. Republik – Rechtsstaat Hinzuweisen ist noch einmal darauf, dass der Ausdruck „Un-Rechtsstaat“ (= Nicht-Rechtsstaat) sich auch auf die Kategorie C. Barbarei beziehen lässt, weil jeder Unrechts-Staat natürlich erst recht auch ein Un-Rechtsstaat ist.
IV. Interpretation der Systematik Im Hinblick auf die oben von Kant eingeführte Differenzierung lassen sich nun die Begriffe Freiheit und Gewalt auch als steigerungsfähige Begriffe auffassen. So kann ein Staatstyp mehr oder weniger individuelle Freiheit (Autonomie) ermöglichen, indem er mehr oder weniger äußere Freiheit gewährt. Ebenso kann der Grad der beim Staat gebündelten Gewalt größer oder geringer sein, je nachdem, wie weit die staatlichen Eingriffe in die Privatsphäre des Bürgers hineinreichen. Setzt man dies voraus, so können u. a. die beiden folgenden Thesen aus der Kantischen Systematik abgeleitet werden: (1) Je weniger (individuelle) Freiheit, desto mehr Un-Rechtsstaat und desto weniger Rechtsstaatlichkeit. und (2) Je mehr (staatliche) Gewalt, desto mehr Un-Rechtsstaat und desto weniger Rechtsstaatlichkeit. Daraus folgt für den Begriff eines optimalen Rechtsstaates, dass dieser ein Maximum an individueller Freiheit bei einem Minimum an staatlicher Gewalt verwirklicht. Dies bedeutet zugleich, dass der optimale Rechtsstaat gleichsam an der Grenze zu dem, was Kant Anarchie nennt, zu lokalisieren ist. 11 Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass Kant die Anarchie jedenfalls nicht als gesetzlosen Zustand ausweist (dazu noch unter V.), sondern als einen „mit Gesetz“. Dies kann nur so verstanden werden, dass hier eben jedenfalls das „natürliche Gesetz“ gilt.
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
Wenn man mit Kant die Grenze zwischen Rechtsstaat und Un-Rechtsstaat durch die zwischen den Parametern „mit Freiheit“ einerseits und „ohne Freiheit“ andererseits definiert, so bleibt doch noch erklärungsbedürftig, wie die Grenze zwischen Despotism und Barbarei (= Unrechts-Staat) näher beschrieben werden kann. Kant definiert sie durch die Parameter „mit Gesetz“ (Despotism) einerseits und „ohne Gesetz“ (Barbarei) andererseits. Was aber heißt in diesem Zusammenhang „mit“ bzw. „ohne Gesetz“? Nachdem auch die Anarchie nach Kant ein Zustand „mit Gesetz“ sein soll, ist deutlich, dass es nicht darauf ankommen kann, ob ein Gesetz im formellen (positiv-gesetzten) Sinne vorhanden ist. Denn in der Anarchie fehlt es gerade daran, wenn dieser Begriff überhaupt sinnvoll sein soll. Es kann demnach nur ein Gesetz in einem materiellen Sinne gemeint sein, zu dem eben auch das Naturrecht (verstanden im Sinne Kants) gehört. Ein Gesetz zudem, an das man sich hält, wenn man es denn befolgt, ohne dazu gezwungen zu werden. Wenn demgegenüber der Begriff der Barbarei sich nach Kantischer Auffassung von den drei übrigen von ihm diskutierten Begriffen dadurch unterscheidet, dass auf ihn das Prädikat „ohne Gesetz“ zutrifft, so bedarf es offenbar für seine Realisierung einer Lage, in welcher weder positives (gesetztes) Recht gilt noch Naturrecht wirksam ist. Dies ist nur dann vorstellbar, wenn im Falle dieses Staatstyps etwas mit dem Recht (bzw. dem Gesetz) geschieht oder geschehen ist, das es gleichsam aufgelöst hat. Es müssen m. a. W. in einem Staat solchen Typs Mechanismen wirksam sein, die das Gesetz schon seinem Begriffe nach zum Verschwinden bringen. Ein Beispiel bietet die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Zwar wird man kaum ernsthaft sagen können, dass in jenem Staat überhaupt kein Gesetz gegolten habe; und trotzdem war dieser Staat ein Unrechts-Staat, dem auch in Kantischer Ausdrucksweise durchaus der Begriff Barbarei zuzuschreiben ist. Denn maßgeblich für eine Klassifizierung als Unrechts-Staat ist es nicht, dass in dem betreffenden Staat auch einige Gesetze gelten, sondern dass gerade keine durchgängige Gesetzmäßigkeit des staatlichen Gebarens gewährleistet ist. Vielmehr konnte das Gesetz in jenem Staat jederzeit durch staatliche Willkürmaßnahmen durchbrochen und suspendiert werden. Nun würden punktuelle Durchbrechungen der Gesetze noch nicht ohne Weiteres das Prädikat „ohne Gesetz“ auslösen, da diese Durchbrechungen in nahezu allen Staatstypen gelegentlich vorkommen können. Entscheidend ist jedoch, dass im nationalsozialistischen Staat der „Führerwille“ zum Gesetz gemacht („Oberster Gerichtsherr“), also die Willkürentscheidung zum Prinzip erhoben wurde. Dabei steht im vorliegenden Zusammenhang nicht im Vordergrund, dass dieser Staat eine Diktatur war; dies kann auch bei dem Staatstyp der Despotie der Fall sein. Der zentrale Punkt ist vielmehr der, dass sich der „Führerwille“ im nationalsozialistischen Staat gerade nicht auf dem Wege über Gesetze manifestiert hat, sondern allenfalls über Befehle, die von Gesetzen,
IV. Interpretation der Systematik
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selbst wenn sie sich deren Form geben sollten, unterschieden werden können und müssen. Dies bedarf näherer Erläuterung. Konstitutiv für den Begriff des Gesetzes scheint es jedenfalls zu sein, dass das jeweilige Gesetz überhaupt befolgt werden kann. Diese Erkenntnis liegt bereits dem römisch-rechtlichen Spruch „ultra posse nemo obligatur“12 zugrunde. Einem Staat, der „Gesetze“ erläßt, die nicht befolgt werden können, und der daran – insbesondere strafrechtliche – Repressalien knüpft, kommt nur das Prädikat „ohne Gesetz“ zu. Berühmt ist das Beispiel von Kaiser Caligula, der seine Strafgesetz-Tafeln so hoch aufhängte, dass keiner sie lesen konnte, dann aber danach verurteilen ließ. Aber auch der Staat ist dem Typus der Barbarei im Kantischen Sinne zuzurechnen, der „Gesetze“ erlässt, die nicht an ein bestimmtes Verhalten, sondern an das bloße So-Sein einer Person Strafen oder sonstige Repressalien knüpft. Denn auch diesen „Gesetzen“ fehlt es an der elementaren Voraussetzung, dass sie „befolgt“ werden können. Ein Staat, der Mitglieder der Gesellschaft z. B. aufgrund rassischer Kriterien verfolgen oder gar vernichten lässt, will nicht das Verhalten dieser Menschen steuern, sondern zielt allein auf Ausgrenzung, gar Ausmerzung dieser Personen ab. Damit gibt er diesen aber nicht einmal die Möglichkeit, sich in dem Staatsgebilde durch ihr Verhalten anzupassen. Dieses Staatsgebaren ist bloße Gewaltausübung „ohne Gesetz“ (und natürlich erst recht „ohne Freiheit“). Dem steht es gleich, wenn ein Staat die Verfolgung von Menschen allein wegen deren religiöser oder politischer Gesinnung betreibt. Denn auch hier geht es dem Staat gar nicht mehr um Verhaltenssteuerung, sondern bloß um die Verfolgung Andersdenkender. Oder um eine Kantische Formulierung nutzbar zu machen: Ein Staat, der seine Bürger (oder auch einzelne von ihnen) mit Repressalien überzieht, die diese nicht einmal durch normgemäßes (angepasstes) Verhalten von sich fernhalten können, behandelt „seine Bürger“ nur noch als Mittel und in keiner Hinsicht mehr als Zweck.13 Ein Staat dagegen, der seinen Untertanen immerhin die Möglichkeit gibt, sich anzupassen, achtet wenigstens die eine elementare Voraussetzung, für die der Parameter „mit Gesetz“ steht. Dabei liegt es auf der Hand, dass ein Staat dadurch noch lange nicht zum Rechtsstaat wird. Aber es findet ein „qualitativer“ Übergang von der Barbarei (im Kantischen Sinne) zur Despotie statt. Ein Staat, der für seine Gesetze wenigstens den Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“ 12 Vgl. Dig. 50, 17, 185 (Celsus): „Inpossibilium nulla obligatio est.“ Der im Text zitierte Satz findet sich z. B. bei Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Akad.-Ausg., Bd. 8, S. 370. 13 Vgl. die sog. Zweck-Formel des Kategorischen Imperativs; „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 4, S. 429.
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
akzeptiert, kann immer noch ein schlimmer Unterdrückungsstaat, eben ein despotischer Staat, sein.14 Er ist deshalb auch noch Un-Rechtsstaat, aber der Ausdruck Unrechts-Staat sollte dem barbarischen Staat vorbehalten bleiben. So hatte etwa die DDR, gemessen an diesen Kriterien, zumindest in den ersten Jahren ihres Bestehens noch nicht den Übergang von der Barbarei zur Despotie gefunden; zumindest soweit die Verfolgung von Staatsbürgern allein wegen deren politischer Gesinnung auf der Tagesordnung stand. Demgegenüber bestand in den letzten Jahren auch in der DDR für jeden Staatsbürger die Möglichkeit, durch Abstinenz von (oppositioneller) politischer Betätigung in der Öffentlichkeit Repressalien des Staates auszuweichen. Das Bild von der „Nische“, die es prinzipiell für jeden gab, mag dies illustrieren. Dabei steht außer Frage, dass der Staat eine Despotie geblieben war, nicht zuletzt deshalb, weil er z. B. die jederzeitige Ausreise seiner Staatsbürger verhinderte. Aber hier war immerhin dem Einzelnen die Möglichkeit zu regelkonformem Verhalten eingeräumt, und die Kritik richtet sich zu Recht gegen die Regeln und deren Inhalt, nicht aber dagegen, dass „ohne Gesetz“ verfahren wurde. Es liegt dabei auf der Hand, dass der Übergang von einer Barbarei zur Despotie so wenig ein scharfer Übergang ist wie der zwischen Despotie und Republik oder zwischen Republik und Anarchie. In diesem Sinne erscheint auch der Parameter „ohne Gesetz“ als steigerungsfähig, so dass sich festhalten lässt: Je mehr „ohne Gesetz“, desto mehr Barbarei. Bzw.: Je mehr „mit Gesetz“, desto weniger barbarisch. Damit hat sich gezeigt, dass es zum Zwecke der präziseren Beschreibung der Unterschiede zwischen Staatstypen sinnvoll sein kann, neben dem Begriff des Unrechts-Staats, mit dem nur die Staaten bezeichnet werden sollten, die Kant als Barbarei bezeichnen würde, noch den Begriff des Un-Rechtsstaats zu verwenden, der zwar auch die Barbarei mitumfasst, aber mit der Despotie im Kantischen Sinne noch eine weitere Kategorie eröffnet, die sich von der Barbarei unterscheiden lässt.
V. Ist Kants Staatstypologie vollständig? In seinem bereits erwähnten Beitrag zur Festschrift für Krawietz hat Ulrich Klug mit Recht darauf hingewiesen15, dass die von Kant in der Anthropologie vorgeschlagene Systematik auch nach Maßgabe seiner eigenen Begriffswahl nicht vollständig ist. Sofern man nämlich die Begriffe Freiheit, Gewalt und Ge14 Vgl. auch hierzu Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 317, der dort die „väterliche“ Regierung „als die am meisten despotische unter allen“ bezeichnet, weil sie ihre „Bürger als Kinder zu behandeln“ trachte. Siehe ferner Kant, Gemeinspruch, Akad.-Ausg., Bd. 8, S. 290 f. 15 Klug (Fn. 3), S. 591 ff., 596 f.
V. Ist Kants Staatstypologie vollständig?
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setz als Parameter der fraglichen Kombinatorik auffasst, ergeben sich nicht nur vier, sondern insgesamt acht Grundtypen, die voneinander unterschieden werden können. In Fortsetzung der von Kant aufgestellten Reihe A. bis D. ergeben sich noch folgende Formen: E. Ohne Gesetz, aber mit Gewalt und Freiheit. F. Mit Gesetz, aber ohne Gewalt und ohne Freiheit. G. Ohne Gesetz und ohne Gewalt, aber mit Freiheit. H. Ohne Gesetz, ohne Gewalt, ohne Freiheit. Die Struktur E. kennzeichnet Klug16 als „eine utopische stochastische Republik, deren zufälliges Entstehen sicherlich nur zu kurzfristiger Existenz führen würde.“ Von der Struktur F. meint Klug, es handele sich um eine freiheitslose und dennoch zugleich gewaltlose paradoxe Legaldiktatur, eine Struktur, deren empirisches Auftreten sich allerdings schwer vorstellen lasse. Die Struktur G. versteht Klug als einen ungeregelten freiheitlichen gewaltlosen Zustand, den man eine stochastische Anarchie nennen könnte und der empirisch wohl nur bei kleinen Kollektiven denkbar wäre. Hinsichtlich des Typs H. schließlich geht Klug davon aus, dass es sich dabei um eine unrealistische, paradoxe Kombination handele, deren Verwirklichung man sich kaum vorstellen könne. Die Hinweise von Klug deuten darauf hin, dass Kant die neben den in der Anthropologie genannten Staatstypen noch verbleibenden Strukturen deshalb nicht erwähnt hat, weil sie wenig praktische Relevanz haben. Nun hat Kant allerdings allem Anschein nach mit den möglichen Kombinationen der Parameter Gesetz, Freiheit und Gewalt gewissermaßen experimentiert. Dies zeigen einige der in Kant’s handschriftlichem Nachlass überlieferten Reflexionen zur Anthropologie.17 In diesen Reflexionen kommt Kant durchaus auch auf Kombinationen zu sprechen, die in der Anthropologie fehlen, aber in der obigen ergänzenden Liste enthalten sind. Weitere Hinweise ergeben sich aus Immanuel Kants Menschenkunde (1831 „nach handschriftlichen Vorlesungen“ herausgegeben von Fr. Ch. Starke) und aus Immanuel Kants Anweisung zur Menschen- und Weltkenntniß („nach dessen Vorlesungen im Winterhalbenjahre 1790–1791“ ebenfalls herausgegeben von Fr. Ch. Starke).18 Die Auswahl der Kombinationen in der Anthropologie ist mithin auch bei Kant das Ergebnis einer schrittweisen Entwicklung der aus seiner Sicht maßgeblichen Aspekte.19 16
Klug (Fn. 3), S. 593. Hier vor allem relevant: Akad.-Ausg., Bd. 15 (2), Reflexionen 1468 (S. 647 f.), 1501 (S. 789 f.) und 1522 (S. 892 f.). 18 Beides auch im Nachdruck erschienen; Hildesheim/New York: Georg Olms, 1976. 19 Näher dazu Joerden, „From Anarchy to Republic. Kant’s History of State Constitutions“, in: Hoke Robinson (ed.), Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Memphis 1995, Milwaukee: Marquette University Press, 1995, Vol. I, Part 1: 17
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
Ergebnisse des 3. Kapitels 1. These Der Gegensatz der Begriffe „Rechtsstaat“ einerseits und „Unrechtsstaat“ andererseits muss nicht als kontradiktorischer Gegensatz verstanden werden. Vielmehr lässt er sich auch als konträrer Gegensatz interpretieren. 2. These Mit einer (nur) konträren Entgegensetzung von „Rechtsstaat“ und „Unrechtsstaat“ eröffnet sich die Möglichkeit, einen Staat als „weder Rechtsstaat noch Unrechtsstaat“ zu identifizieren. Diese Staaten sind per definitionem zwar keine Rechtsstaaten, sondern Nicht-Rechtsstaaten, oder: Un-Rechtsstaaten, sie sind aber auch (noch) keine Unrechts-Staaten. 3. These In seiner Anthropologie legt Kant ein vergleichbar strukturiertes begriffliches Instrumentarium zur Identifizierung von Staatstypen zugrunde, wenn er zwischen Republik (= mit Gesetz, mit [Staats-]Gewalt und mit Freiheit), Despotie (= mit Gesetz, mit [Staats-]Gewalt und ohne Freiheit) sowie Barbarei (= ohne Gesetz, mit [Staats-]Gewalt und ohne Freiheit) differenziert. 4. These Ein Staat, der – wie Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus – Menschen allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit, Religion, politischen oder sexuellen Orientierung, Hautfarbe etc. verfolgt, ohne ihnen eine Möglichkeit zu staatskonformem Verhalten zu belassen, ist sicherlich ein Unrechts-Staat (in Kants Terminologie: eine Barbarei). Ein Staat demgegenüber, der – wie etwa die DDR, zumindest in ihrer Spätphase – ihre Bürger immerhin dann unverfolgt lässt, wenn sie sich an die staatlichen Regeln halten, ist damit zwar noch kein Rechtsstaat (z. B. im Falle der DDR wegen der den Bürgern verweigerten Ausreisefreiheit, oder wegen einer Staatsorganisation ohne echte Gewaltenteilung etc.), in Kants Terminologie also noch keine Republik, aber nicht notwendig damit schon ein Unrechts-Staat, sondern ein Un-Rechtsstaat, den Kant als Despotie bezeichnet hätte.
Sections 1–2, S. 139 ff. Vgl. auch Heiner F. Klemme, Einleitung zu ders. (Hrsg.), Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis – Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Hamburg 1992, S. VII ff.
4. Kapitel
Unter welchen Bedingungen kann das Strafrecht einen Beitrag zur „Aufarbeitung“ der Verbrechen eines untergegangenen Unrechtsstaates leisten? I. Regimewechsel und Strafrecht Es war eine sehr erfreuliche Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass eine Reihe von Unrechtsstaaten1 in Rechtsstaaten umgewandelt werden konnten. In Europa betraf dies zunächst die Diktaturen in Griechenland, Spanien und Portugal, später (ab 1989) die kommunistischen Staaten jenseits des sog. eisernen Vorhangs. Ähnliches vollzog sich in mehreren Staaten Südamerikas, in Südafrika und in asiatischen Staaten. Jedes Mal stellte sich die Frage, ob die in den betreffenden Staaten in der Zeit ihres Unrechtsregimes begangenen Taten strafrechtlich gesühnt werden sollten. Dies war oftmals schon deshalb nicht möglich, weil es Teil des mit den Repräsentanten des untergegangenen Regimes ausgehandelten friedlichen Übergangs zum Rechtsstaat war, die Delikte der alten „Eliten“ „ruhen“ zu lassen und jedenfalls nicht strafrechtlich zu verfolgen. Typische Methode für dieses Vorgehen war die Amnestie; aber auch die zumindest teilweise Verlagerung in sog. Wahrheitskommissionen2 mit dem Angebot von Straffreiheit für Geständige kommt dem nahe. In vielen ehemals kommunistischen Staaten wurde die Frage nach einer strafrechtlichen Aufarbeitung – zumindest zunächst – gar nicht erst gestellt. Nur in wenigen Fällen eines Regimewechsels fand eine strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit statt. Dies vor allem immer dann, wenn die Möglichkeit dazu bestand, dies gleichsam „von außen“ zu organisieren. So installierte die „internationale Staatengemeinschaft“ eine Reihe überregionaler Gerichtshöfe, die sich mit der strafrechtlichen Aufarbeitung der Vergangenheit befassten (wohl bekanntestes Beispiel ist der internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien).3 Vorläufer und in gewisser Hinsicht auch Vorbild war das
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Zum Begriff näher im obigen 3. Kapitel und unten Fn. 56. Näher dazu etwa Gerhard Werle, „Alternativen zur Strafjustiz bei der Aufarbeitung von Systemunrecht – Die Amnestieverfahren der südafrikanischen Wahrheitsund Versöhnungskommission“, in: Hagen Hof/Martin Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht, Bd. III (2001), S. 291 ff. 3 Gerhard Werle, Völkerstrafrecht, Tübingen 2003, Rdn. 44 ff. 2
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
Kriegsverbrechertribunal von Nürnberg nach dem Ende des 2. Weltkrieges, das auch als von den Siegermächten geschaffene Einrichtung „von außen“ über die Verbrechen der Deutschen während der Zeit des Krieges urteilte. Die Einsetzung der genannten internationalen Gerichtshöfe und auch die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag im Rahmen des sog. Rom-Statuts sind gleichsam aus jenem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal hervorgegangen. Einen Sonderfall, der im Folgenden etwas näher diskutiert werden soll, bildete insofern die Aufarbeitung der in der ehemaligen DDR begangenen Taten. Denn hier waren es zwar Deutsche, die über die Taten von Deutschen urteilten, aber es waren eben Westdeutsche, die über Ostdeutsche Recht sprachen. Zentrales Problem war es deshalb, welches (Straf-)Recht überhaupt Anwendung finden konnte.
II. Die Thesen Nauckes Intensiv mit dieser Frage hat sich etwa Wolfgang Naucke in seinem Buch Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität auseinandergesetzt und dabei eine „strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das (deutsche) Strafrecht“ ausgemacht.4 Naucke hat das Buch offenkundig geschrieben mit einem großen Unbehagen gegenüber der Rechtsentwicklung, wie sie sich hinsichtlich der juristischen „Bewältigung“ der (von ihm treffend so benannten) staatsverstärkten Kriminalität in der ehemaligen DDR abzeichnete. Das Buch ist ein engagiertes Plädoyer für eine neue (strafrechtliche) Spur zur Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität,5 die sich von der üblichen Spur der Verfolgung und Bestrafung der Alltagskriminalität löst. Naucke beginnt mit der Wiedergabe eines kurzen Ausschnittes aus dem Text, den Honecker seinerzeit zu der gegen ihn erhobenen Anklage verlesen hat und in dem er sich darauf beruft, dass niemand in den alten Bundesländern das Recht habe, ihn und seine Mitangeklagten wegen Handlungen anzuklagen und zu verurteilen, die in Erfüllung staatlicher Aufgaben der DDR begangen worden seien.6 Diese Berufung auf einen „strafrechtsfreien Raum“, die beinahe auf den Satz princeps legibus solutus hinauslaufe, werde im heutigen Strafrecht zwar nicht anerkannt, wirke aber in ihrem Gehalt nach, und zwar als juristische Grundströmung, die sich andere Wege suche.7 Dadurch werde „die politischstaatlich abgeleitete Straftat gegenüber der bürgerlich-privaten Straftat besser(ge)stellt“. Dies liege u. a. daran, dass die in der „konfliktarmen Bundesrepublik“ entwickelte „undramatische Schönwetterdogmatik“ in Schwierigkeiten ge4 Wolfgang Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, Frankfurt a. M. 1996, S. 15. 5 A. a. O., S. 65 ff., 83. 6 A. a. O., S. 11. 7 A. a. O., S. 12/13.
II. Die Thesen Nauckes
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raten müsse, wenn sie auf Staatskriminalität angewandt werde.8 Die Strafgesetzbücher und die ihnen folgende Dogmatik kennten regelmäßig nur das „Grundmuster: ein Täter A gegen ein Opfer B“. Dies gaukele Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer vor. Hinsichtlich der Notwehr gehe diese Dogmatik sogar davon aus, dass das Opfer stärker sei als der Täter. Demgegenüber sei bei der staatsverstärkten Kriminalität das Opfer prinzipiell schwächer als im üblichen Grundmuster des StGB, da es dem zugreifenden Staat gegenüberstehe.9 Die Anwendung des üblichen StGB-Grundmusters auf die Fälle der staatsverstärkten Kriminalität führe deshalb zu deren Verharmlosung und stelle die Täter besser, als sie stehen dürften.10 Charakteristikum der staatsverstärkten Kriminalität sei ihre „Feigheit“; die Nutzung staatlicher Macht, um eine Straftat begehen zu können, sei im Prinzip eine feige Begehungsweise.11 Zudem sei staatsverstärkte Kriminalität ubiquitär und richte größeren und schmerzhafteren individuellen Schaden an als jede Privat-Kriminalität.12 Naucke vertritt die Auffassung, dass die Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität ein „naturrechtliches Problem“ sei, das allerdings von vielen Stimmen in der heutigen Strafrechtswissenschaft in die „Arbeitsformen des strafrechtlichen Positivismus gezwängt“ werde.13 Der Autor verwendet den Begriff „Naturrecht“ dabei im Sinne von „nicht-positiviertem Recht“ oder dem „Selbstverständlichen im Recht“, allerdings unter Beibehaltung des Terminus „Naturrecht“, „um die gegen die freiheitsüberwältigende Staatsmacht gerichtete Tradition zu nutzen, die im Naturrecht steckt“.14 Der „moderne Jurist“ gehe demgegenüber davon aus, dass es natürliche Rechte und natürlich-gerechte Bestrafung nicht gebe; Recht und Bestrafung gebe es danach nur aufgrund positiven Rechts.15 Doch nach den Regeln des Positivismus, die ein offenes Geschenk an ungerechte Staatsführungen seien, lasse sich staatsverstärkte Kriminalität nicht bestrafen, weil keine Staatsleitung die Forderungen des Positivismus erfüllen und Strafvorschriften und Verfahrensregeln schaffen werde, die ihre eigenen Handlungen exakt unter Strafe stellen und die Verfolgung sichern. Die Verteidigung eines Staatskriminellen brauche sich deshalb nur ernsthaft-positivistisch zu geben, um erhebliche juristische Vorteile zu haben.16 „Und so entsteht eines der kompliziertesten Probleme aktueller strafjuristischer Professionalität. Die naturrechtswidrigen Staatsverbrechen müssen gegen alle Erwartung einer 8
A. a. O., S. 15. A. a. O., S. 20. 10 A. a. O., S. 21. 11 A. a. O., S. 22. 12 A. a. O., S. 23. 13 A. a. O., S. 26 ff. 14 A. a. O., S. 26. 15 A. a. O., S. 27. 16 Ebd. 9
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
positivistischen Strafrechtslehre als positivrechtlich strafbar ausgewiesen werden.“17 Naucke meint jedoch, dass die angesichts dieser Problematik oft gebrauchte „Floskel, bei der Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität stoße das Strafrecht an seine Grenzen“, falsch sei. Das positive Strafrecht habe keine selbstverständlichen Grenzen. Dies sei sein (fast naturrechtliches) Grundbekenntnis. Wenn jene Floskel Inhalt bekommen solle, so müsse sie lauten, „das Strafrecht stoße bei der Verfolgung staatsverstärkter Kriminalität an eine Grenze, die gewollt sei“. Es sei diese gewollte Grenze, die die Täter staatsverstärkter Kriminalität privilegiere.18 Oder noch deutlicher: „Das positivistische Strafrecht hat staatstheoretisch und straftheoretisch nur die Grenze, die die Strafrechtler wollen.“19 Den Nachweis für diese These beginnt Naucke mit einem Rekurs auf die Straftheorielehren20 und zeigt, dass die Präventionstheorien mit der Problematik staatsverstärkter Kriminalität aus prinzipiellen Gründen nicht fertig würden (die Täter sind resozialisiert; negative Generalprävention gegen staatlich abgesicherte Täter eine Illusion, positive Generalprävention entweder empirisch ungesichert oder unnötig). Er folgert daraus, dass man „die Theorien des UnrechtsAusgleichs durch Strafe wieder in ihr Recht“ einsetzen müsse.21 Darin läge auch kein Verstoß gegen die „positivistische Strafrechtshaltung“.22 Zudem sei es staatstheoretisch gesehen die Aufgabe des Staates, Schutz vor einem bloß technizistischen (präventiv, zweckmäßigen) Strafrecht zu gewähren, und die Arbeitsformen des strafrechtlichen Positivismus müssten dazu dienen, diesen Schutz zu entfalten.23 Darüber hinaus gebe es einen strafrechtlichen Positivismus mit festen Grenzen und klar vorhersehbaren Ergebnissen nicht.24 Dies lasse sich insbesondere in drei Bereichen zeigen: a) Aufgeben der positivistischen Selbstbeschränkung; b) Ausdehnung der Radbruch-Formel;25 c) Unzuständigkeit des Rückwirkungsverbots bei staatsverstärkter Kriminalität.26 Schon bei der Frage, was die positiven Strafregeln der DDR sind, auf die Art. 315 EGStGB verweist, werde die strikt positivistische Auffassung (nur was in der 17
A. a. O., S. 28. A. a. O., S. 29. 19 A. a. O., S. 27. 20 A. a. O., S. 30. 21 A. a. O., S. 32. 22 A. a. O., S. 33. 23 A. a. O., S. 37. 24 A. a. O., S. 38. 25 Gustav Radbruch stellte die These auf, wonach Gesetzen die Rechtsverbindlichkeit dort abzusprechen sei, wo „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ Vgl. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, 1946, Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 3 (1990), S. 83, 89. 26 Vgl. a. a. O., S. 38 ff.; 44 ff., 47 ff. 18
II. Die Thesen Nauckes
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DDR wirksam war, ist positives Recht) mehr oder weniger verlassen (Restriktion auf das DDR-Recht, das sich bei korrekter Wortlautinterpretation ergebe, oder sogar Bereinigung des DDR-Rechts mit Hilfe der Radbruch-Formel).27 Man brauche sich im Übrigen nur an die völlig akzeptierten Verfahren eines modernen Positivismus zu erinnern, und alle jene Bedenklichkeiten fielen weg, ob man einen Staatsmann, der Regelhaftigkeit in „seinem“ Staat habe durchsetzen können, wegen der inhumanen Inhalte dieser Regelhaftigkeit denn wirklich auch bestrafen könne: „Objektive Auslegung der Anpassung des Rechts an geänderte Verhältnisse; Auslegung gegen den Wortlaut, wenn es nötig ist; Rechtsfortbildung durch verfassungskonforme Auslegung; Auflösung des positiven Rechts durch die positivrechtliche, in ihren Grenzen aber vage Vorschrift des § 34 StGB, . . .; Berücksichtigung von Entwicklungen jedweder Art bei der Konturierung des positiven Rechts (z. B. die Rspr. zur Veränderung der Promille-Grenze); Erfindung neuer juristischer Kräfte zur Umgestaltung des Bisherigen: die menschenrechtsfreundliche Auslegung . . . (als) gewichtigste(s) Beispiel aus neuerer Zeit.“28 Naucke folgert daraus, dass der praktizierte Positivismus dieser Epoche die Verbindung von Gesetzesform und Politik sei. Der Positivismus sei daher immer verbunden mit der Auflösung der Inhalte, die er gerade erreicht habe. Wenn diese Situation dazu führe, dass die Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität schwierig werde, dann sei dies nicht objektiv notwendig, sondern nur politisch gewollt.29 Durch die Abwahl der Alternative „Naturrecht“ oder „positives Recht“ zugunsten des positiven Rechts werde der Erkenntnis Rechnung getragen, dass Strafrecht relativ sei und deshalb positiv sein müsse. Das anerkenne auch die Radbruch-Formel, allerdings könne es so schreckliches Strafrecht geben, dass alle positivistischen Begründungen skandalös würden; dann müsse man „Naturrecht“ oder „überpositives Recht“ wieder zulassen, aber nur in ganz beschränktem Umfange (= gesetzliches Unrecht). Eine solide Begründung für diese nur geringfügige Zulassung der Alternative „überpositives Recht“ im Positivismus gebe es nicht. Die Einschränkung auf das „unerträgliche Maß“ von Ungerechtigkeit sei nicht einleuchtend, begünstige den Staatstäter, benachteilige den machtlosen Bürger in empörender Weise und zwinge den Strafjuristen zu fragwürdigen Entscheidungen.30 Würden Freiheit, Würde und auch Gleichheit der Bürger in Gesetzesform zu Privatzwecken der Machthaber genutzt und verbraucht, entstehe gesetzliches Unrecht. Es gebe keinen Grund, die RadbruchFormel nicht in dieser Weise auszudehnen. Eine solche Ausdehnung sei möglich – und man bleibe doch professioneller Positivist. Man nutze nur die Alter27 28 29 30
Vgl. a. a. O., S. 39/40. A. a. O., S. 43 mit diversen Beispielen in den Fußnoten. A. a. O., S. 43. A. a. O., S. 44/45.
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
nativen, die der moderne Positivismus stets bereithalte.31 Ansätze hierzu gebe es bereits in der Rechtsprechung zur naturrechtswidrigen Staatspraxis als Verfahrenshindernis und zur Bestrafung wegen Rechtsbeugung im Hinblick auf die Anwendung ungeschriebener, ungerechter, weil unverhältnismäßiger Regeln der Strafzumessung.32 Im Rückwirkungsverbot sieht Naucke die stärkste Rückversicherung für die staatsverstärkte Kriminalität, da es in diesem Bereich wie die princeps legibus solutus-Formel wirke.33 Abgesehen von dem Bereich staatsverstärkter Kriminalität werde das Rückwirkungsverbot indes positivrechtlich keineswegs ohne Wenn und Aber zur Geltung gebracht, vielmehr sei die Geschichte des Rückwirkungsverbots die Geschichte seiner Missachtung.34 So sei die Legitimierung der rückwirkenden Einführung der Todesstrafe im Verfahren gegen van der Lubbe 1933 drei bekannten Strafrechtslehrern mühelos gelungen, und auch in der neueren Strafgesetzgebung habe das Rückwirkungsverbot kein hohes Prestige.35 So halte sich die Rechtsprechung an das Rückwirkungsverbot nicht für gebunden, wenn sie ihre Entscheidungspraxis zu Lasten von „Normaltätern“ ändere, die Verjährungsfristen hinsichtlich der Verfolgung von NS-Gewalttaten verlängere und rückwirkend die Rechtfertigungsgründe, z. B. im Wege der Bestimmung der sog. sozialethischen Grenzen der Notwehr, einschränke. Für § 27 des DDR-Grenzgesetzes hätte man nach Ansicht Nauckes diese Praxis nur fortzuschreiben brauchen und man wäre zu professionell einwandfreien Ergebnissen gekommen.36 Weiterhin sei an die Ausschaltung des Rückwirkungsverbots im Bereich der Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 2 Abs. 6 StGB) zu erinnern.37 Naucke weist darüber hinaus auf die Art. 7 Abs. 2 MRK und Art. 15 Abs. 2 IPBPR hin, die ebenfalls Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot zulassen.38 Das Rückwirkungsverbot sei mithin kein selbstverständlicher Satz im positiven Strafrecht, im Gegenteil, es müsse sich zurückdrängen lassen, wenn es nicht passe.39 In einem separaten Abschnitt40 widmet sich Naucke der Problematik der Strafbarkeit einer Geldentnahme aus privaten Postsendungen durch Bedienstete des zuständigen DDR-Ministeriums. Naucke bezweifelt, dass es nicht doch Wege 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O.,
S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.
46. 47. 47. 48/49. 49. 50/51. 52. 53. 54. 59 ff.
II. Die Thesen Nauckes
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einer Bestrafung dieser Aktivitäten aus § 246 StGB (a. F.) hätte geben können. Die Problematik drehte sich bekanntlich um die Passage „sich zueignet“ in § 246 StGB, die möglicherweise bei den fraglichen Delikten nicht verwirklicht wurde, weil die Gelder unmittelbar in das DDR-Staatsvermögen überführt wurden. Naucke bemängelt, dass auch sonst bei § 246 StGB recht großzügig mit dem Wortlaut verfahren werde, wenn es um Delikte Privater, etwa die sog. Fundunterschlagung gehe. Hier nehme man, wenn schon nicht die „große“, so doch jedenfalls die „kleine berichtigende Auslegung“ hin.41 Auch wäre an die Möglichkeit zu denken gewesen, die Erlangung eines mittelbaren Vorteils festzustellen, was ja auch sonst nach ständiger Rechtsprechung des BGH für die Bejahung des „Sich-Zueignens“ ausreiche.42 Schließlich schlägt Naucke vor, im Hinblick auf die Verfolgung und Bestrafung der staatsverstärkten Kriminalität eine neue, „vierte Strafrechtsspur“ zu eröffnen.43 Nichts hindere daran, mit den Mitteln des Positivismus ein eigenes Rechtsgebiet „Verfolgung und Bestrafung der staatsverstärkten Kriminalität“ durch praktisches juristisches Handeln zu schaffen.44 Naucke sieht Veranlassung hierzu auf der Grundlage der rechtsgeschichtlichen Entwicklung der nationalen Rechte und des internationalen Rechts im Hinblick auf staatsverstärkte Kriminalität.45 Und zwar zeige sich in der Linie von Art. 227 des Versailler Vertrages über die Statuten des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg sowie Art. 7 Abs. 2 MRK und Art. 15 Abs. 2 IPBPR bis zu den Statuten des Jugoslawienund des Ruanda-Gerichtshofs eine Ergänzung und Erweiterung des strafjuristischen Denkens der neueren Zeit, ohne von diesem Denken revolutionäre Änderungen zu verlangen.46 Was das strafjuristische Denken in „Spuren“ betrifft, so konstatiert Naucke, dass dieses Denken seinen Ausgang von einem einheitlichen, reinen, rechtsstaatlichen Strafrecht nehme. Dieses sei eng, beschränkt auf die Beeinträchtigung der Freiheit des einzelnen Bürgers, gestützt auf den Schuldgrundsatz, strikt gesetzlich, dem Rückwirkungs- und Analogieverbot verpflichtet und gestützt auf richterliche Unabhängigkeit und den gesetzlichen Richter. Kern des Denkens in Spuren sei es, sich von den Beengungen dieser ersten Spur zu befreien, sofern die strafrechtlichen Bedürfnisse sich mit dieser nicht ausreichend
41
A. a. O., S. 60 f. Vgl. a. a. O., S. 61 f. Nach zwischenzeitlich geänderter Rechtslage ist die rechtstechnische Problematik heute weitgehend entschärft, da nunmehr auch die sog. Drittzueignungen in die Fassung des Tatbestandes von § 246 StGB einbezogen sind („. . . sich oder einem Dritten rechtswidrig zueignet . . .). 43 A. a. O., S. 65 ff. 44 A. a. O., S. 66. 45 A. a. O., S. 67 ff. 46 A. a. O., S. 72/73. 42
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
befriedigen lassen.47 So sei eine zweite Spur mit der Einführung von Maßregeln der Besserung und Sicherung entstanden. Die dritte Spur sei gekennzeichnet durch das Stichwort „Wiedergutmachung statt Strafe“ und bedeute Diversion, Verdrängung des traditionellen formgebundenen Strafrechts.48 Das hierin zum Ausdruck kommende „Spur-Denken im Strafrecht“ sei „eine Denkfigur, die die Minderung rechtsstaatlicher Konturen im Strafrecht akzeptierbar“ mache.49 Der Ausbau dieser Denkfigur zu einer vierten Spur – der Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität – sei nur folgerichtig und auch möglich, ohne dass man umfangreiche Handlungen des Gesetzgebers brauche.50 Dabei wolle diese vierte Spur nicht erst angewendet werden, wenn der Diktator gescheitert sei, sondern während er herrsche. Die vierte Spur enthalte das Recht der Bestrafung von staatsverstärkter Kriminalität, die zur Zeit ihrer Begehung strafbar war, deren Bestrafung lediglich tatsächlich, wegen des Schutzes des Täters durch die zufällig mächtige staatliche Organisation, nicht möglich war.51 Naucke wendet sich mit seiner Schrift dagegen, dass durch bestimmte juristische Annahmen die Verfolgung staatsverstärkter Kriminalität erschwert und zum Teil sogar verhindert werde, und zwar durch die Annahmen, die Kriminalität „müsse exakt positivrechtlich geregelt sein; unterstehe uneingeschränkt dem Schutz des Rückwirkungsverbots; werde durch naturrechtliche Argumente nicht erreicht“. Demgegenüber gelte im Alltag der Beurteilung strafrechtlichen Handelns das positive Recht als flexibel, setze man das Rückwirkungsverbot beiseite, wenn es zweckmäßig sei, fänden naturrechtliche Argumente in vielfältigen Verfremdungen Eingang in die strafjuristische Argumentation.52 Hierin sieht Naucke eine Inkonsequenz, indem das positivistische Strafrecht die Möglichkeiten bei der staatsverstärkten Kriminalität nicht nutze, die ihm sonst zu Gebote stünden. „Das Nicht-Nutzen dieser Möglichkeit(en) muss die Frage entstehen lassen, ob das nationale Strafrecht wegen seiner Nähe zur jeweiligen Staatsmacht unfähig ist, sich mit rechtlicher Schärfe gegen den menschenverachtenden politischen Machthaber zu wenden.“53 Nach Auffassung Nauckes müsste man zu einem strafrechtlichen Spezialgebiet der Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität kommen, in dem die rechtsstaatlichen Regeln den Staatskriminellen wie jeden anderen Bürger schützen, in dem die rechtsstaatlichen Regeln aber nicht zur Verhinderung von Strafverfahren missbraucht werden könnten.54 47 48 49 50 51 52 53 54
A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., Ebd.
S. S. S. S. S. S. S.
73. 74. 75. 76. 77/78. 42. 83.
III. Einwände gegen die Thesen Nauckes
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III. Einwände gegen die Thesen Nauckes Trotz des vorbehaltlos zu teilenden Ausgangspunktes Nauckes, dass viele der in der DDR seinerzeit begangenen Taten staatsverstärkter Kriminalität strafwürdig sind, bleibt doch die Frage, ob sich ihre Strafbarkeit so begründen lässt, wie Naucke dies vorschlägt. Die nachfolgenden Abschnitte versuchen dazu einige Einwände zu formulieren.55 1. Zur Motivationslage der Gerichte Naucke kritisiert der Sache nach, dass die Rechtsprechung, aber auch Teile der Literatur, sich bei der Beurteilung staatsverstärkter Kriminalität besonders rechtsstaatlich verhielten, während sonst ein eher laxer Umgang mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu beobachten sei. Das allerdings ist – wenn es denn so stimmt, wovon hier einmal ausgegangen sei – inkonsequent, und Naucke hätte mit seiner Kritik vollständig Recht, wenn es nicht doch um eine auch (richter-) psychologisch besondere Situation ginge. Die Bundesrepublik tritt in den fraglichen Verfahren als Rechtsstaat mit einem ganz besonderen Anspruch auf: Hier ist der Rechtsstaat, der über das zu urteilen hat, was im Unrechtsstaat56, also im Gegenentwurf zu dem, was hier praktiziert wird, geschehen ist. Eine Blöße darf man sich daher auf keinen Fall geben: dass man die Grundsätze des Rechtsstaates ausgerechnet dann über Bord wirft, wenn es um die Beurteilung von Repräsentanten eines Unrechtsstaates geht. Dies mag dazu beigetragen haben, wenigstens in bestimmten Fällen die rechtsstaatliche Latte sehr hoch zu hängen. Im Unterschied zu Naucke sollte man das allerdings nicht für einen Nachteil halten. Vielmehr hat diese besondere Situation der Verfolgung staatsverstärkter Kriminalität zur Schärfung des rechtsstaatlichen Bewusstseins beigetragen, und das sollte auf andere Bereiche des Strafrechts abfärben. Ganz so einfach wie bisher wird man es sich in Fällen „normaler Kriminalität“ jetzt jedenfalls nicht mehr machen können, wenn es z. B. um die Aushebelung des Rückwirkungsverbots (vgl. dazu allerdings auch noch unten Abschnitt 5.) oder um die Auslegung eines Begriffs wie „Sich-Zueignen“ geht.
55 Es liegt auf der Hand, dass im Folgenden auch Gedanken aufgegriffen werden, die so ähnlich schon von anderen Autoren geäußert wurden. Es würde den Rahmen aber sprengen, wenn hier in Einzelheiten gehende Nachweise gegeben würden. Stattdessen sei auch insoweit auf die umfangreichen Literaturangaben in der Schrift von Naucke verwiesen, die die einschlägige Diskussion umfassend dokumentieren. 56 Zur Auslegung dieses Begriffs vgl. im Einzelnen 3. Kapitel; hier ist genauer jeder Staat gemeint, der nicht Rechtsstaat ist, also jeder Un-Rechtsstaat.
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
2. Zum Verzicht auf Rechtsstaatlichkeit Der folgende Einwand hängt eng mit dem ersten zusammen. Dabei sei nicht übersehen, dass aus vielen Bemerkungen Nauckes zur strafjuristischen Praxis eine gehörige Portion Sarkasmus spricht und wohl auch sprechen soll. Der Tenor der Darstellung „strafjuristischer Professionalität“57 lautet doch: Wenn ihr wollt, verzichtet ihr gern einmal auf rechtsstaatliche Beschränkungen; warum also nicht auch hier, wo es um staatsverstärkte Kriminalität geht? Demgegenüber sollte Rechtsstaatlichkeit – was auch immer das im Einzelnen heißen mag – indes keinesfalls der Justiz als Dispositionsmasse freigegeben werden, und zwar weder versteckt noch offen. Die Stoßrichtung der Argumentation muss sich eben gegen kleine oder große „berichtigende Auslegungen“ wenden, gegen die Eröffnung von „Sonderspuren“ des Strafrechts, also eventuell auch gegen § 2 VI StGB (möglicherweise ja eine verfassungswidrige Norm)58, gegen eine Aufweichung des Rückwirkungsverbotes durch die Gerichte etc. Die Wissenschaft jedenfalls sollte Tendenzen gegen rechtsstaatliche Grundsätze nicht (positiv) sanktionieren, nicht einmal mit sarkastischem Unterton – das wird nur missverstanden. Muss man an die Aufweichungsbestrebungen im materiellen und formellen Recht aus Anlass der Terrorismusbekämpfung und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität erinnern? Es kann dabei sein, dass die Konsequenzen für eine eventuelle Strafbarkeit an sich strafwürdigen Verhaltens staatsverstärkter Kriminalität unbefriedigend sind. Aber diese Konsequenzen müssen dann ggf. ausgehalten werden (vgl. aber noch unten). Das alles schließt ja nicht aus, die Grenzen z. B. des Rückwirkungsverbots in rechtsstaatlich einwandfreier Weise neu zu bestimmen. Gerade im Hinblick auf die führenden Repräsentanten staatsverstärkter Kriminalität spricht sicher viel für eine Heranziehung von Rechtsfiguren, die etwa dem Gedanken der actio libera in causa verwandt sind. Aber man kann sich nicht einerseits dafür einsetzen, dass die actio-libera-in-causa-Problematik (endlich) eine gesetzesförmige Fixierung erhält, um dann, wenn man die Figur gut gebrauchen könnte, um strafwürdiges Verhalten zu sanktionieren, mit Blick auf das (wünschenswerte) Ergebnis die selbst aufgestellten Voraussetzungen über Bord zu werfen. Viel spricht dafür, dass auch Naucke in letzter Konsequenz die Kriterien der Rechtsstaatlichkeit nicht aufweichen will, was zumindest dann deutlich wird, wenn man den Schlusssatz seines Buches liest: „So könnte die Debatte über eine mangelnde rechtsstaatliche Qualität einer vierten Strafrechtsspur59 der Beginn der Neukonstruktion eines einheitlichen streng rechtsstaatlichen Strafrechts sein.“60 57
A. a. O., S. 28. Vgl. dazu auch Günter Gribbohm, StGB, Leipziger Kommentar, 11. Aufl., 1992, § 1 Rdn. 15 ff. m. w. N. 59 Gemeint ist die Behandlung staatsverstärkter Kriminalität. 58
III. Einwände gegen die Thesen Nauckes
67
3. Zum Antagonismus von Naturrecht und positivem Recht „Menschenrecht bricht Staatsrecht“.61 So lautet bekanntlich eine These in Adolf Hitlers Mein Kampf. Schon dies sollte gegenüber einer schlichten Berufung auf Naturrecht zumindest Vorsicht bewirken.62 Das ist selbstverständlich auch Naucke präsent, und doch scheint er sich von der Anwendung des Naturrechts eine Lösung der Problematik staatsverstärkter Kriminalität zu erhoffen. Dass Naucke dem Positivisten das Naturrecht „schmackhaft“ zu machen sucht, indem er ihm zeigt, dass der heute vertretene Positivismus im Grunde ein „naturrechtsoffener Positivismus“63 ist, der seine Naturrechts-Komponente nur nicht hinreichend nutzt, verschleiert die Fragestellung. Denn der Positivismus ist es ja nicht, den Naucke loben will; vielmehr würde er – so muss man seinen Text wohl verstehen64 – viel lieber gleich Naturrecht anwenden und die Problematik der Beurteilung staatsverstärkter Kriminalität aus den „Arbeitsformen des strafrechtlichen Positivismus“ befreien, in die sie „gezwängt“ ist.65 Das aber bedeutet, dass Naturrecht zur positiven Begründung von Strafbarkeit 66 verwendet wird; und genau das dürfte verkehrt sein. Man kann das Naturrecht – und zwar durchaus nur im Sinne eines intellektuell anspruchsvollen Vernunftrechts, das auch Naucke immer meint, wenn er von Naturrecht schreibt – als einen Rahmen (eine Art von Verfassung) verstehen, den der Gesetzgeber nicht überschreiten darf, ohne sich ins Unrecht zu setzen. In diesem Sinne darf (und muss) gegen eine Diktatur mit den Argumenten des Naturrechts gekämpft werden. Naturrecht (Menschenrecht) kann in diesem Sinne Abwehrrecht des Einzelnen gegen Staatseingriffe sein. Es ist das „gute Recht“ des Einzelnen, Eingriffe des Staates nur insoweit zu ertragen, als der Staat die Menschenrechte nicht missachtet. Dies schon deshalb, weil der Staat nicht mehr Recht gegen den Einzelnen haben kann, als ihm die Einzelnen qua (fiktivem) Gesellschaftsvertrag übertragen haben, und keiner freiwillig seine Menschenrechte weggibt um einer wie auch immer zu bestimmenden Staatsraison willen. Man kann deshalb sagen, dass ein positives Recht, soweit es gegen Menschenrechte verstößt, nicht „gilt“. Hier aber endet die Aufgabe des Naturrechts. Es ist nicht dazu da, eine an sich nicht bestehende Strafbarkeit zu einer 60
A. a. O., S. 81. Adolf Hitler, Mein Kampf, 176, 177. Auflage, München 1936, S. 105. 62 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Gernhuber, „Das völkische Recht. Ein Beitrag zur Rechtstheorie des Nationalsozialismus“, in: Tübinger Festschrift für Eduard Kern, 1968, S. 167, 193 ff. 63 A. a. O., S. 28. 64 A. a. O., insbes. S. 26–29. 65 A. a. O., S. 26, Überschrift. 66 Und nicht bloß von Strafwürdigkeit. 61
68
2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
doch bestehenden Strafbarkeit zu machen.67 Naturrecht hat allenfalls die Funktion, das Recht des Staates gegenüber dem Einzelnen zu begrenzen, nicht aber, es auszuweiten. Es hat seine Funktion deshalb gleichsam im „Ausnahmezustand“ des Unrechtsstaats, nicht aber im „Normalzustand“ des Rechtsstaats. Hiergegen ist es letztlich auch kein Einwand, dass in der Diktatur der mutige Richter doch das Recht haben müsse, mit Strafe gegen den Diktator und seine Helfershelfer vorzugehen, auch wenn das betreffende kriminelle Verhalten gerade durch das positive Recht von Strafe freigestellt ist. Wenngleich dieser Fall nur selten praktisch werden wird, bleibt er doch auf den ersten Blick ein neuralgischer Punkt für die soeben vertretene These, mit bloßem Naturrecht lasse sich Strafbarkeit nicht positiv begründen. Entscheidend dürfte allerdings sein, dass das hier betrachtete Verhalten des mutigen Richters gerade kein Akt der Rechtsanwendung (auch nicht des Naturrechts) ist, sondern ein Akt des Widerstands gegen das pervertierte positive Recht. Der Richter leistet eine Art von Nothilfe für die bedrängten Unterworfenen des positiven Rechts und hieraus leitet sich sein Recht zu strafen ab, weil er kraft Naturrechts das pervertierte positive Recht nicht zu achten braucht, ja es strenggenommen nicht einmal achten darf. Daraus folgt aber keineswegs, dass dieser (oder ein anderer) Richter nun nach Wegfall des pervertierten positiven Rechts, also nach Umwandlung des betreffenden Staates in einen Rechtsstaat, einfach weiter Naturrecht als (Straf-) Rechtsgrundlage verwenden darf. Diese Überlegung führt auf einen weiteren Einwand: 4. Zur Trennung der Gewalten Es deutet vieles darauf hin, dass die Weichen für eine eventuelle Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität der DDR zu einem Zeitpunkt falsch gestellt worden sind, zu dem eine rechtlich klare Lösung durchaus möglich gewesen wäre: Zum Zeitpunkt der Aushandlung bzw. des Abschlusses des Einigungsvertrages, respektive seiner parlamentarischen Behandlung. Die seinerzeit beschlossenen Regeln des Einigungsvertrages zum Strafrecht können ohne juristische Akrobatik kaum anders verstanden werden, als dass die sog. Alttaten nur dann auch im vereinigten Deutschland strafbar bleiben sollten, wenn sie sowohl nach DDRRecht als auch nach dem Recht der BRD strafbar waren bzw. sind (vgl. Art. 315 I EGStGB). Unter diese Alttatenregelung fallen nun auch die Taten staatsverstärkter Kriminalität, für die man im Einigungsvertrag aus politischen Gründen offenbar keine Sonderregelung treffen wollte oder konnte. Jedenfalls wirken sich die Regeln wie eine faktische Amnestierung staatsverstärkter Kriminalität 67 Zwar sehr vorsichtig abwägend, aber in Extremfällen dann doch für die Bestrafung aufgrund „naturrechtlicher Argumente“ plädierend, allerdings z. B. Walter Gropp, „Naturrecht oder Rückwirkungsverbot? – Zur Strafbarkeit der Berliner ,Mauerschützen‘“, Neue Justiz 1996, 393 ff., 397 m. w. N. zur einschlägigen Diskussion.
III. Einwände gegen die Thesen Nauckes
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aus, und es ist dieser Verzicht der Politik, eine klare gesetzliche Regelung zu treffen, der dann später die Schwierigkeiten bei der Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität aufgeworfen hat. Notwendig wäre eine deutliche gesetzliche (mit Blick auf Art. 103 II GG sogar richtigerweise: verfassungsändernde) Regelung gewesen, die sich mit der Problematik staatsverstärkter Kriminalität in der DDR befasst. Insofern – und das sei Naucke ausdrücklich zugestanden – war es verfehlt zu meinen, die Problematik staatsverstärkter Kriminalität ließe sich genauso (einfach) regeln, wie die der „Normalkriminalität“ in der DDR. Denn es standen ja im Hinblick auf die staatsverstärkte Kriminalität gerade die Schwierigkeiten eines (möglichen) Eingreifens des Rückwirkungsverbotes im Raum (dazu noch unten Abschnitt 5.). Nach Abschluss des Einigungsvertrages zu beobachtende Versuche, trotz jenes gesetzgeberischen Versäumnisses nun doch noch zur Strafbarkeit der staatsverstärkten Kriminalität in der DDR zu gelangen, sind notgedrungen „Reparaturversuche“ und schon von daher dubios: Der Weg über Art. 315 IV EGStGB iVm. § 7 I bzw. II StGB trägt nicht, weil Art. 315 IV EGStGB offenkundig eine Ausnahmeregelung sein sollte und nicht für nahezu alle Fälle von Alttaten konzipiert war; sonst würde ja Art. 315 I EGStGB praktisch leerlaufen. Der Weg über eine Umdeutung des DDR-Rechts (Stichwort: „menschenrechtsfreundliche Auslegung“) ist nicht überzeugend, weil er auf eine rechtshistorisch nicht mehr haltbare These hinauslaufen würde (so als hätte es im alten Rom keine gültigen Regelungen über die Sklaverei und den Umgang mit Sklaven gegeben, weil die diesbezüglichen römisch-rechtlichen Normen menschenrechtsfreundlich ausgelegt werden müssten). Und schließlich führt der Weg über eine Hinwegdefinition von § 27 Grenzgesetz der DDR als Rechtfertigungsgrund mit Hilfe der Radbruchschen Formel nicht weiter, weil so das Problem der fehlenden gesetzlichen Grundlage für die Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität nicht wirklich gelöst, sondern nur überspielt wird. Entsprechendes gilt für eine Berufung auf etwaiges Völkergewohnheitsrecht. Angesichts fehlender gesetzlicher Grundlage wären danach der Rechtsprechung eigentlich die Hände gebunden gewesen; eine Begründung für ihr Vorgehen ließe sich allenfalls auf sehr problematische Weise geben: Da der Gesetzgeber nicht gehandelt hat, aber eigentlich hätte handeln müssen, schließt die Rechtsprechung die als unerträglich auffallenden Lücken. Eine Berechtigung hierzu ließe sich wohl nur direkt aus der Verfassung herleiten (und das ist durchaus ein recht abenteuerlicher Gedanke); etwa mit dem Argument, der einfache Gesetzgeber sei von Verfassung wegen dazu aufgefordert, mit Diktatoren und ihren Helfershelfern strafrechtlich abzurechnen (und man müsste sich dabei schon mit recht allgemeinen Prinzipien begnügen, etwa dem, dass der Schutz der Menschenwürde die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist – Art. 1 I 2 GG). Soweit der Gesetzgeber dieser Verpflichtung nicht nachkomme, müsse in gravierenden Fällen die Justiz an seine Stelle treten. Der Vorbehalt einer gesetz-
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
lichen Regelung würde dann gleichsam durch die Verfassung gewährleistet. Es sei durchaus eingeräumt, dass dies schon fast eine Berufung auf Naturrecht darstellt. Aber die Verfassung ist immerhin geschriebenes Recht und damit Ausdruck des Willens der Legislative und nicht nur der Judikative. Folgt man diesem „Ausweg“ ebenfalls nicht, dann bleibt nur das Verdikt, dass das, was in Deutschland von der Rechtsprechung in Sachen staatsverstärkter Kriminalität gemacht wurde und wird, vielleicht vom Ergebnis her wünschenswert sein mag, aber keine gesetzliche Grundlage hat. Wer hier nicht den Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt zumindest im Strafrecht und damit die Trennung der Aufgaben von Legislative und Judikative über Bord werfen will, muss zu dem Schluss kommen, dass allein der Freispruch des fraglichen Täterkreises in Betracht gekommen wäre. 5. Zum Rückwirkungsverbot Es bleibt allerdings die Frage, ob der Gesetzgeber überhaupt etwas zur Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität hätte unternehmen können. Die Frage dürfte zu bejahen sein, und zwar – dies ist auch sonst schon verschiedentlich vorgeschlagen worden68 – durch ein ausdrücklich rückwirkendes Gesetz. Im Hinblick auf rückwirkende Strafgesetze gibt es allerdings (zumindest) zwei Fragen zu beantworten: 1. Sind sie im Lichte von Art. 103 II GG überhaupt zulässig? und 2. Welche Grenzen haben sie einzuhalten? Angesichts von Art. 103 II GG erscheint die Rechtslage eindeutig: Rückwirkende Strafgesetze sind unzulässig. Da die Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich Art. 7 II EMRK den bekannten Vorbehalt gemacht hat, wird man auch schwerlich Art. 103 II GG dahingehend teleologisch reduzieren können, dass er auf die Fälle der Bewältigung staatsverstärkter Kriminalität keine Anwendung findet. Damit bleibt nur eine ausdrückliche Ausnahme zu Art. 103 II GG, die durch eine Änderung des Grundgesetzes69, also mit verfassungsändernder Mehrheit im Parlament, hätte eingeführt werden müssen bzw. im Hinblick auf even68 Vgl. z. B. Martin Golding, „Retroactive Legislation and Restoration of the Rule of Law“, JRE 4 (1997), 169 ff.; Joachim Renzikowski, „Naturrechtslehre versus Rechtspositivismus“, ARSP 81 (1995), 335 ff.; Gerhard Werle/Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht, 1995, S. 39 f. jeweils m. w. N. Vgl. auch Gerhard Dannecker/ Kristian F. Stoffers, „Rechtsstaatliche Grenzen für die strafrechtliche Aufarbeitung der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze“, JZ 1996, 490 ff., 494; s. a. Volker Erb, „Die Schutzfunktion von Art. 103 Abs. 2 GG bei Rechtfertigungsgründen“, ZStW 108 (1996), 266 ff., 283. 69 Wenn man den Gedanken einer Rückwirkung erst einmal prinzipiell akzeptiert hat, dürfte auch kein letztlich durchschlagender Einwand darin liegen, dass ja auch eine solche Verfassungsänderung rückwirkenden Charakter hätte.
III. Einwände gegen die Thesen Nauckes
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tuell später auftretende Fälle noch eingeführt werden müsste. Die Regelung ließe sich z. B. ähnlich derjenigen in Art. 7 II EMRK formulieren, womit dann auch die Probleme einer vollständigen Übernahme dieser Konvention in bundesdeutsches Recht beseitigt wären. Wenn damit gleichsam die formale Hürde des Rückwirkungsverbotes bei staatsverstärkter Kriminalität genommen wäre, bliebe immer noch die Frage, welche Taten rückwirkender Strafgesetzgebung unterworfen werden dürfen. Art. 7 II EMRK verweist auf die „allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätze“. Diese Formulierung ist so vage, dass sie für eine Eingrenzung dessen, was noch von rückwirkender Strafgesetzgebung erfasst werden darf, kaum geeignet erscheint. Denn welches sind denn die zivilisierten Völker? Kommt es überhaupt auf die Völker an und nicht vielmehr auf die Staaten? Sollte rückwirkende Strafgesetzgebung unzulässig sein, wenn sich die Völker auf bestimmte Grundsätze nicht einigen können? Mit Bezug auf das DDR-Unrecht: Wie sieht es mit einer von allen zivilisierten Völkern akzeptierten Ausreisefreiheit aus? Wie vielschichtig die mit diesen Fragen aufgeworfene Problematik ist, mögen drei Beispiele zeigen, die zugleich deutlich machen, dass es jedenfalls mit der bloßen Forderung nach einer „Vierten Spur“ des Strafrechts nicht getan ist. Als die Briten nach Indien kamen und das Land für die Krone in Besitz nahmen, stellten sie bald fest, dass es eine von ihnen als besonders abstoßend empfundene Sitte gab: die Witwenverbrennung. Es war klar, dass diese Praxis ex nunc verboten werden musste. Aber sollte man berechtigt sein, sie ex tunc auch unter Strafe zu stellen? Prima facie liegt eine Verneinung dieser Frage nahe, und zwar deshalb, weil die kulturelle Entwicklung in Indien vor der Besetzung durch die Briten eine völlig andere war. Es erscheint verfehlt, Geschehnisse dieser Kultur mit der Elle „zivilisierten“ Strafrechts messen zu wollen. Ein auf die neuere Zeit bezogenes Beispiel ist (vorläufig) noch fiktiv, beleuchtet die Problematik aber von anderer Seite: Vorausgesetzt, es käme zur Vereinigung der Republik Irland mit Nord-Irland in einem Staat, dann wird die Frage virulent, ob die Vornahme von Abtreibungen bestraft werden dürfte. Dabei ist insbesondere an die in Nord-Irland unter dem Regime englischen Rechts vorgenommenen Abtreibungen zu denken; sollten sie rückwirkend unter Strafe gestellt werden dürfen, etwa weil sich vermutlich in der Republik Irland hinreichend Stimmen (gerade auch unter Juristen) dafür finden ließen, dass die Erlaubnis zur Abtreibung einen Verstoß gegen die „allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätze“ darstellt? Und schließlich ein drittes Beispiel: Die meisten „zivilisierten“ Staaten haben inzwischen die Todesstrafe abgeschafft. Nicht so die Vereinigten Staaten von Amerika. Soll dies bedeuten, dass nach (fiktiver) gewandelter Rechtsauffassung in den Vereinigten Staaten zu dieser Problematik die Henker mit rückwirkender
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
Strafbarkeit wegen Totschlags oder gar Mordes überzogen werden könnten? Ein naturrechtlicher Purist, der davon ausgeht – übrigens auch eine vertretbare These, obwohl in der Rechtshistorie eher das Gegenteil behauptet wurde –, dass die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe stets Unrecht ist, müsste wohl zur Bejahung dieser Frage kommen, zumal es sich aus seiner Perspektive durchaus um einen Fall „staatsverstärkter Kriminalität“ handelt. Die drei Beispiele geben zumindest die Richtung an, in der die Lösung der Problematik zu suchen ist: Das Rückwirkungsverbot ist zunächst einmal ein Identitätsgebot für den Rechtsstaat. Solange staatliche, und zwar rechtsstaatliche, Identität besteht, darf derselbe Rechtsstaat seine eigenen strafrechtlichen Vorgaben nicht durch rückwirkende (belastende) Gesetze konterkarieren, weil er sich andernfalls schlicht unglaubwürdig machen würde. Wer in einem Rechtsstaat darauf vertraut, dass ein bestimmtes Verhalten nicht bestraft wird, muss in diesem Vertrauen durch das Rückwirkungsverbot geschützt bleiben. Gehen wir davon aus, dass die Vereinigten Staaten cum grano salis ein Rechtsstaat sind, dann bedeutet das für die Vollstrecker der Todesstrafe, dass sie im Nachhinein nicht zur (strafrechtlichen) Verantwortung für ihr Handeln gezogen werden dürfen. Auch dann, wenn ein Rechtsstaat sich mit einem anderen zusammenschließt, wofür die Republik Irland und Nord-Irland ein (fiktives) Beispiel abgeben, muss das Vertrauen in die rechtsstaatlich zustande gekommene Strafrechtsordnung geschützt werden, so dass in jenem Beispiel die Abtreibungen, die in Nord-Irland vorgenommen wurden, in einem vereinigten Irland nicht mehr strafrechtlich verfolgbar wären. Diese Restriktionen bestehen jedoch dann nicht mehr, wenn es um Taten geht, die unter der Protektion von Unrechtsstaaten begangen wurden. Hier fehlt es an dem Tatbestand schutzwürdigen Vertrauens. Es kann deshalb für eine eventuelle Strafbarkeit nur noch auf die individuelle Möglichkeit zur Unrechtseinsicht ankommen. Eine rückwirkende Erfassung durch Strafgesetze bleibt jedoch grundsätzlich möglich. In dem oben genannten Beispiel Indiens wäre eine rückwirkende Strafgesetzgebung im Hinblick auf die Praxis der Witwenverbrennung deshalb grundsätzlich denkbar – eine Bestrafung der Individuen dagegen kaum vorstellbar, da diesen die erforderliche Unrechtseinsicht regelmäßig fehlen dürfte und auch nicht davon ausgegangen werden könnte, dass diese Unkenntnis vermeidbar war. Anders in einem Unrechtsstaat, in dem durch vorausgegangene „Zivilisierung“ von den betreffenden Personen bereits erwartet werden kann, dass sie die erforderliche Unrechtseinsicht gewinnen und sich klar darüber werden konnten, dass die menschenrechtswidrigen Gesetze des Unrechtsstaats für sie keine Verbindlichkeit entfalten.70 Hier bleibt nicht nur rückwirkende Strafgesetzgebung 70 Vgl. zu der Problematik etwa Hanno Siekmann, Das Unrechtsbewusstsein der DDR-„Mauerschützen“, Berlin 2005.
III. Einwände gegen die Thesen Nauckes
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möglich, es kann auch im Einzelfall zur Verurteilung wegen einer Straftat in diesem Zusammenhang kommen. Damit wird auch deutlich, dass eine verfassungsrechtliche Gestaltung rückwirkender Strafgesetzgebung sich darauf beziehen muss, dass die betreffenden Taten unter dem Schutz eines Unrechtsstaates begangen worden sind – insoweit also gerade im Rahmen der von Naucke treffend so bezeichneten staatsverstärkten Kriminalität. Es können hier keine präzisen Festlegungen für eine Ergänzung von Art. 103 II GG erfolgen. Immerhin sei ein Formulierungsvorschlag für eine derartige Regelung gemacht: „Die rückwirkende Bestrafung aufgrund eines Gesetzes ist möglich, sofern diese sich auf Taten bezieht, die zur Unterstützung oder mit der Unterstützung eines Unrechtsregimes begangen wurden und zum Tod oder zur schweren körperlichen oder seelischen Beeinträchtigung eines anderen geführt haben“.
Ergebnisse des 4. Kapitels 1. These Im Hinblick auf die eventuelle nachträgliche Bestrafung sog. staatsverstärkter Kriminalität ist – wie auch sonst im Strafrecht – zwischen Strafwürdigkeit und Strafbarkeit sorgfältig zu unterscheiden, wobei rechtsstaatliche Maßstäbe strikt einzuhalten sind. 2. These Eine Herleitung von Strafbarkeit lediglich aus Naturrecht oder Völkergewohnheitsrecht ist abzulehnen. Aufgabe des Naturrechts ist es, u. a. eine Rechtfertigung für widerständiges Verhalten gegen Unrechtsstaaten zu geben, nicht aber die Strafbarkeit von Verhalten über die Grenzen des positiven Rechts hinweg zu ermöglichen. 3. These Die rückwirkende Anwendung von Strafnormen auf Taten staatsverstärkter Kriminalität setzt eine ausreichend präzisierte positiv-rechtliche Rechtsgrundlage und ggf. eine Änderung der Verfassung (im Anklang an Art. 7 II EMRK) voraus. 4. These Sofern eine solche rückwirkende Anwendung von Strafnormen positiv-gesetzlich ermöglicht wurde, ist im Auge zu behalten, ob die handelnden (oder unterlassenden) Individuen die mögliche Strafbarkeit ihres Verhaltens hätten erkennen können. Hieran kann es etwa dann fehlen, wenn die entsprechende Verhaltensweise in der jeweiligen Kultur des untergegangenen Staates so „ver-
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2. Kap.: Weshalb Gewaltentrennung im Staat?
innerlicht“ war, dass man eine abweichende Bewertung nicht in Betracht ziehen konnte und musste. 5. These Die eventuell rückwirkende Anwendung von Strafgesetzen ist auf die Fälle einer Transformation von Unrechtsstaaten in Rechtsstaaten zu beschränken. Ein kontinuierlich andauernder Rechtsstaat verhielte sich selbst widersprüchlich, wenn er – selbst bei noch so gut begründeter Einsicht in die Strafwürdigkeit bestimmter Verhaltensweisen – das Strafrecht auf vergangene Taten rückwirkend anwenden würde.
5. Kapitel
Worauf kommt es bei der Beurteilung einer Kooperation mit einem Unrechtsstaat an? I. Kollaboration im Unrechtsstaat und Gefangenendilemma Für diejenigen, die, ohne es vermeiden zu können, unter dem Regime einer Despotie oder gar eines Unrechtsstaates leben müssen, stellt sich immer wieder die ethische Frage, wieweit sie mit diesem Staat zusammenarbeiten dürfen. Einerseits können sie es in der Regel nicht gänzlich vermeiden, weil sie auch Sorge tragen für ihre Familienangehörigen oder sonstige Schutzbefohlene, aber auch an sich selbst denken werden und deshalb Kompromisse mit dem Staat und seinen Organen schließen müssen. Andererseits ist natürlich jede Art von Kollaboration mit einem diktatorischen Staat per se problematisch, weil man zum einen auf diese Weise den Staat stabilisiert, der doch eigentlich abgelöst werden sollte, und zum anderen u. U. Personen in Gefahr bringt, in die Maschinerie des diktatorischen Staates zu geraten, wenn man deutlich werden lässt, dass man mit ihnen sympathisiert und dadurch den Staat auf sie aufmerksam macht. Symptomatisch für die um diese Thematik entstehenden Probleme war die Diskussion, die im wiedervereinigten Deutschland über die Rolle geführt wurde, die Manfred Stolpe – während der Zeit der DDR u. a. Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche, später dann Ministerpräsident des Landes Brandenburg – vor der Wende im Jahre 1989 gespielt hat. Einerseits wurde Stolpe als Agent der Staatssicherheit (Stasi), andererseits als Landesvater Brandenburgs mit untadeliger DDR-Vergangenheit dargestellt. Wie es wirklich war, konnte damals und kann auch hier nicht endgültig geklärt werden. Diskutiert werden kann aber, welche Fragen eigentlich gestellt und beantwortet werden müssten, wenn man einer Aufklärung und gerechten Bewertung des „Falles Stolpe“ näherkommen will. Dabei kann eine Denkfigur helfen, die in der Rechts- und Moralphilosophie unter dem Stichwort „Gefangenendilemma“1 bekannt geworden ist. Die Geschichte – man möchte fast sagen: das Gleichnis – 1 Vgl. insbes. Thomas Cornides, Rechtstheorie 19 (1988), 90 ff. m. w. N. auch zur Geschichte der Denkfigur. Vgl. weitere Nachweise zur einschlägigen Literatur auch bei Joerden, Logik im Recht, Berlin u. a. 2005, S. 366 ff.
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5. Kap.: Die Beurteilung einer Kooperation mit einem Unrechtsstaat
vom Gefangenendilemma wird auf verschiedene Weisen erzählt; eine davon lautet so:
II. Das Gefangenendilemma Zwei Diebe, A und B, haben gemeinsam 200 E entwendet und an einem sicheren Ort versteckt. Nachdem der Geldverlust entdeckt wurde, sind beide als Tatverdächtige verhaftet worden und werden nun getrennt voneinander und ohne die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme verhört. Es sei davon ausgegangen, dass – wie beiden bekannt ist – die staatliche Autorität auf ihr mögliches Verhalten beim Verhör wie folgt reagieren wird: A. Falls sie beide geständig sind, müssen sie die Beute abgeben und außerdem jeder eine Geldstrafe in einer Höhe von 100 E bezahlen (Verlust pro Person demnach: 200 E ). B. Falls der eine leugnet, der andere jedoch geständig ist, wird der Leugnende schwer bestraft: Er muss eine Geldstrafe von 400 E bezahlen und außerdem wird sein Beuteanteil eingezogen (Verlust für ihn: 500 E ). Der „Kronzeuge“ dagegen wird nicht bestraft und darf zur Belohnung seinen Beuteanteil behalten (Verlust für ihn: 0 E ). C. Falls beide leugnen, werden beide aus Mangel an Beweisen freigesprochen und können dementsprechend ihren Beuteanteil behalten; sie müssen allerdings, weil sie sich verdächtig gemacht haben, Gerichtskosten in Höhe von je 50 E tragen (Verlust für jeden: 50 E ). Wie wird sich in einer solchen Lage ein rational und egoistisch denkender Gefangener wohl verhalten: gestehen oder leugnen? Der rationale Egoist wird folgende Überlegungen anstellen: 1. Falls mein Mittäter leugnet, ist es für mich am günstigsten zu gestehen, denn dann verliere ich nichts, während der andere 500 E zahlen muss. 2. Falls mein Mittäter gestehen sollte, ist es auch für mich am günstigsten zu gestehen, denn dann verliert jeder von uns beiden nur 200 E . 3. Falls mein Mittäter gesteht und ich leugnen würde, wäre ich schlecht dran, da ich 500 E zahlen muss, während er ohne Verlust bleibt. 4. Falls mein Mittäter leugnet und ich ebenfalls leugne, erzielen wir beide ein passables Ergebnis, indem jeder nur 50 E verliert. Damit ist es, aus Perspektive des einzelnen Gefangenen G1 betrachtet, am günstigsten zu gestehen, denn damit wird – unabhängig davon, ob der jeweils andere Mittäter nun seinerseits gesteht oder leugnet – das für ihn jeweils beste Ergebnis erzielt: Gesteht G2, ist es für G1 günstiger zu gestehen als zu leugnen
III. Perspektiven der Denkfigur des Gefangenendilemmas
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– vgl. oben (2) mit (3); leugnet G2, ist es für G1 ebenfalls günstiger zu gestehen – vgl. oben (1) mit (4). Dieselbe Überlegung wird auch ein rationaler Gefangener G2 anstellen und dementsprechend ebenfalls gestehen. Das freut natürlich den Richter. Aber folgendes Dilemma der Gefangenen wird sichtbar: Es wäre für beide Gefangenen günstiger, wenn sie miteinander kooperieren würden, indem beide leugneten. Dann hätten sie jeder nur einen Verlust von 50 E . Wenn sie sich dagegen beide allein aus ihrer Perspektive rational verhalten, werden sie niemals in diese Zone relativ günstiger Ergebnisse kommen, sondern jeweils bei verweigerter Kooperation (= „Defektion“), also bei beiderseitigem Geständnis, das relativ ungünstigere Ergebnis erzielen, indem sie jeder einen Verlust von 200 E haben. Anders ausgedrückt: Kooperatives Verhalten ist zwar riskant, weil es die Gefahr in sich birgt, dass der andere defektiert, und damit den Kooperationsbereiten hereinlegt und einen großen Vorteil für sich erzielt (im Beispiel: keinen Verlust), während der Kooperationsbereite hohe Verluste erleidet (im Beispiel: 500 E ). Defektierendes Verhalten dagegen ist weniger riskant, weil die möglichen Verluste kalkulierbar niedrig bleiben, während bei kooperationsbereitem Gegner das defektierende Verhalten einen relativ großen eigenen Vorteil einbringen kann (im Beispiel: kein Verlust). Da indes beide so denken und dementsprechend defektieren, ist nie so viel an Vorteilen zu erzielen (bzw. an Verlust zu minimieren) wie bei beidseitigem kooperativen Verhalten zu erzielen wäre. Erst der Blick aus der überindividuellen Perspektive lässt dies jedoch deutlich werden.
III. Perspektiven der Denkfigur des Gefangenendilemmas Dieses Dilemma der Gefangenen lässt sich allgemein auf menschliches Verhalten in entsprechender Lage übertragen. So kann man versuchen, hierdurch den Sinn von Vereinbarungen oder ganz allgemein die Aufgabe von Normen zu erklären, die etwa darauf abzielen, die Einhaltung von (Kooperations-)Verträgen zu stützen und Vertragsbruch mit negativen Sanktionen zu belegen. Es kann ein Normensystem dabei auf durchaus unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlicher Zielrichtung in das Gefangenendilemma eingreifen. So mag es im Fall der beiden Gefangenen vom Standpunkt einer „Verbrechermoral“ aus klar sein, dass man zu leugnen hat und dadurch mit dem anderen kooperiert, weil sich ein solches Verhalten langfristig als vorteilhaft herausstellt. Hier wird es dann auch Sanktionen für den Fall des Verstoßes gegen diesen Verbrecherkodex geben. Umgekehrt wird der Staat versuchen, etwa durch „Kronzeugenregelungen“2 etc., den möglichen Gewinn bei unkooperativem Verhalten unter den Gefangenen zu erhöhen, um dadurch dem Verbrecherkodex entgegenzuwirken.
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5. Kap.: Die Beurteilung einer Kooperation mit einem Unrechtsstaat
Das Modell des Gefangenendilemmas lässt sich aber auch hinsichtlich der Zeitdimension erweitern: Man kann sich vorstellen, dass die Lage des Gefangenendilemmas sich für zwei Personen oder für zwei Gruppen von Personen immer wieder stellt, indem diese sich immer wieder fragen: sollte nun am besten kooperiert oder defektiert werden? Und dies durchaus auch unabhängig von einer der Verhörperson in der ursprünglichen Geschichte des Dilemmas entsprechenden übergeordneten Instanz. Mit Hilfe von Computersimulationen hat Robert Axelrod3 herausgefunden, dass in einem derartigen iterierten (d. h.: ständig wiederholten) Gefangenendilemma-„Spiel“ diejenige Strategie auf Dauer den größten Erfolg vorweisen kann, die eine Bereitschaft zeigt, zu kooperieren, und dadurch Vertrauen in den „Spielgegner“ investiert, aber dann auf die erste Defektion des Gegners ihrerseits mit Defektion reagiert und erst wieder zur Kooperation bereit ist, wenn auch der andere kooperiert. Kurz gefasst ist dieses die Strategie des bekannten und mehr oder weniger bewährten „Wie du mir, so ich dir“. Um erfolgreich zu sein, insbesondere auch im Hinblick auf solche Personen, die nach derselben Strategie handeln, setzt sie die Bereitschaft voraus, Vertrauen – freilich nicht „blindes Vertrauen“ – entgegenzubringen, und dies trotz des Risikos, dabei betrogen zu werden. Allerdings wird man das Risiko nach Möglichkeit dadurch zu minimieren suchen, dass man zunächst mit relativ geringem Einsatz „spielt“. So wird etwa ein Geschäftsmann, bevor er sich auf Millionengeschäfte mit einem ihm Unbekannten einlässt, sofern er kein Hasardeur ist, zunächst Erfahrungen mit dem anderen in Geschäften von geringerem Volumen sammeln. Aber nicht nur auf Geschäftspraktiken lässt sich das Gefangenendilemma beziehen, sondern auch auf fast jede Lage, in der sich zwei Parteien gegenüberstehen, die sich zwischen Kooperation und Defektion entscheiden können. So hat Axelrod etwa das Verhalten der Supermächte zur Zeit des Wettrüstens mit Hilfe des Gefangenendilemmas beschrieben. Da beide Supermächte kein Vertrauen zueinander hatten, verharrten sie in einer für beide letztlich unvorteilhaften, weil teuren Defektion, nämlich einer Fortsetzung des Wettrüstens. Erst als mit Gorbatschow die Bereitschaft entstand, Vertrauen zu investieren, gegebenenfalls einseitige Vorleistungen der Abrüstung im Hinblick auf positive Antworten des Gegners zu erbringen, konnte aus beidseitiger Defektion beidseitige Kooperation werden.
2 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Kronzeugenregelungen und Gefangenendilemma näher z. B. Till Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, Berlin 2004, S. 14 ff.; Joerden, „Der Trend zum Kronzeugen in Europa“, in: Joerden/Szwarc (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, Berlin 2007, S. 279 ff. 3 Robert Axelrod, Die Evolution der Kooperation, München 1987; dazu auch Cornides, a. a. O. (ob. Fn. 1).
IV. Anwendung auf das Problem
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Ähnliches „Kooperieren“ lässt sich sogar im Kriege beobachten, insbesondere bei sog. Stellungskriegen. Hier kann trotz andauernden Krieges ein „relativer Friede“ in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Bereich entstehen, weil beide Seiten darauf vertrauen, dass die andere nicht angreift, wenn auch man selbst sich still verhält: Auch hier ist Kooperation – zumindest zeitweise – vorteilhafter als Defektion. Dies kann sich natürlich schnell ändern, wenn der eine sich dem anderen gegenüber überlegen fühlt und diese Überlegenheit jetzt ausnutzt, um den Gegner zu überrumpeln und dessen Vertrauen in einen eigenen (großen) Vorteil zu verwandeln. Die Lage der beidseitigen Kooperation in einem Gefangenendilemma ist also immer auch instabil – ein zentraler Grund dafür, dass man sie z. B. durch Abkommen, deren Durchführung internationaler Kontrolle unterliegt, zu stabilisieren sucht.
IV. Anwendung auf das Problem Was hat das alles nun mit dem „Fall Stolpe“ zu tun? Man kann die Lage, in der sich die evangelische Kirche in der DDR befand, mit der Situation eines iterierten Gefangenendilemmas vergleichen. „Spiel“-Gegner war die DDR-Regierung bzw. ihr verlängerter Arm, die Staatssicherheit. Für die Kirche und ihre Repräsentanten bestand, soviel man darüber in den alten Bundesländern durch Presseberichte erfahren konnte, offenbar die Möglichkeit, zwischen zwei Alternativen zu wählen: Entweder man „verhandelte“ mit den Staatsorganen nur in einer Weise, die keine Kompromisse zuließ und allenfalls einen äußerlichen modus vivendi garantierte. Diese Form des Verhaltens, das man mit der Defektion im Gefangenendilemma gleichsetzen kann, war insofern konsequent und richtig, als es die Möglichkeit bot, den eigenen Grundsätzen treu zu bleiben. Wer sich nicht auf Kooperation einließ, war fraglos der überzeugendere Wahrer der kirchlichen Position, insbesondere dann, wenn man ex post in Rechnung stellt, dass der Gegner (der DDR-Staat) schließlich ohnehin zusammengebrochen ist. Nur war gerade diese Entwicklung alles andere als vorhersehbar. Kaum jemand – auch im gewöhnlich so gut informierten Westen – war der Auffassung, dass ein Ende der SED-Herrschaft schon für 1989 ins Haus stand. Welche Schlüsse konnten daraus von Repräsentanten der evangelischen Kirche gezogen werden, wenn sie die Absicht hatten, nicht nur beim status quo des sich feindselig Gegenüberstehens mit dem SED-Staat zu verharren und dabei die Chance zu verfehlen, etwas für die ihr nahestehenden Menschen zu erreichen? Wie beim Gefangenendilemma bestand die Gefahr, durch Kompromisse mit der SED-Diktatur viel zu verlieren, nicht zuletzt an Glaubwürdigkeit und an Vertrauen bei den eigenen Kirchenmitgliedern und der DDR-Opposition. Andererseits gab es aber auch die Chance, aus dem Stadium wechselseitiger Defektion in einen für „beide Seiten“ gewinnträchtigeren Bereich der Koopera-
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5. Kap.: Die Beurteilung einer Kooperation mit einem Unrechtsstaat
tion zu gelangen. Eine Konsequenz von Kooperation ist es nun allerdings, dass nicht nur man selbst, sondern auch die Gegenseite, der Konkurrent, dabei gewinnt. Im Fall der „Konfrontationspartner“ DDR-Staat und Kirche war zudem klar, dass die Kirche nur in dem Maße etwas würde für sich und ihre Mitglieder und Schützlinge „einhandeln“ können, in dem sie auch bereit war, etwas zu geben: Z. B. Informationen über die Willensbildung innerhalb der Kirche; „Befriedung und Mäßigung“ von stark engagierten Kritikern des Staates innerhalb der DDR-Opposition, soweit sie von der Kirche beeinflussbar waren, etc. Dadurch musste die Kirche allerdings zwangsläufig stabilisierend auch für das DDR-Regime wirken. Nicht anders übrigens als die verschiedenen Bonner Regierungen dies mit der Vereinbarung des Grundlagenvertrages, mit der Einräumung günstiger Swing-Kredite im innerdeutschen Warenverkehr, mit der Einbeziehung der DDR in die Vergünstigungen der EG-Regelungen, mit dem Empfang von Erich Honecker in Bonn, mit dem Freikauf von Gefangenen und nicht zuletzt mit dem von Franz-Josef Strauß eingefädelten Milliardenkredit auch getan haben. Jeder Kompromiss mit einem Gegner bringt nicht nur einem selbst, sondern auch ihm etwas. Manfred Stolpe hat für sich in Anspruch genommen, mit der Stasi verhandelt zu haben, um etwas „für die Menschen zu erreichen“. Die Gegenthese zu dieser Darstellung, die in mancher Hinsicht von den öffentlichen Äußerungen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU; sog. Gauck-Behörde) gestützt wird, geht davon aus, dass Stolpe nicht mit der Stasi zum Wohle der Kirche und der Menschen kooperiert hat, sondern ein in der Kirchenhierarchie installierter (sog. informeller) Mitarbeiter der Stasi war, mit der Aufgabe, im Interesse der Stasi Einfluss auf die Kirche und die mit ihr verbundenen Oppositionsgruppen zu nehmen. Diese beiden Thesen zu Motivation und Absichten von Stolpe haben sich in der öffentlichen Diskussion für längere Zeit unversöhnlich gegenübergestanden. Jede Seite versuchte, ihre These zu stützen – Stolpe dadurch, dass er sich Ehrenerklärungen von Kirchenführern geben ließ und einen Kreis von acht Personen des höheren Kirchenpersonals benannte, die angeblich ebenso wie er mit der Stasi verhandelt hatten. Auch sie (zumindest die meisten von ihnen) sollten – wie Stolpe selbst – ohne ihr Wissen von der Stasi als informelle Mitarbeiter geführt worden sein. Auf der anderen Seite wurden Papiere präsentiert, die Äußerungen Stolpes aus der DDR-Zeit wiedergaben, die ihn als zumindest dem Regime angepassten DDR-Kirchenfunktionär erscheinen ließen. Außerdem wurde auf die Verdächtigkeit seines konspirativen Umgangs mit der Stasi hingewiesen, und Stolpes Theorie von der „Gegen“-Stasi, die jene acht Kirchenmänner gebildet haben wollten, wurde in Zweifel gezogen und als „klassische Entschuldigungsthese“ vieler informeller Mitarbeiter zu entlarven versucht. Der Streit um die Motive und Absichtslage Stolpes bei seiner Kooperation mit der
V. Welche Fragen sind zu stellen?
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Stasi stand m. a. W. sozusagen „remis“. Es war und ist auch nicht zu erwarten, dass sich daran Wesentliches ändert. Allenfalls dann, wenn eine Verpflichtungserklärung Stolpes für das MfS aufgefunden werden sollte, könnte dies anders werden. Damit bleiben – vorerst – zwei unbewiesene Hypothesen bestehen: 1. Stolpe war (Einfluss-)Agent der Stasi in der Kirche, oder 2. Stolpe hat als „Agent“ der Kirche mit dem DDR-Staat, vertreten durch die Stasi, verhandelt.
V. Welche Fragen sind zu stellen? Anstatt in einem solchen Fall eine kaum je erfolgreiche Motivforschung zu betreiben, verspricht nur die Frage, welche objektiven Resultate die ja im Kern unbestrittene Zusammenarbeit von Stasi und Stolpe eigentlich gehabt hat, Aufklärung über die relevanten Aspekte. Allein diese Resultate vermögen etwas darüber auszusagen, ob Stolpe nun für die Stasi oder für die Kirche gearbeitet hat oder nicht. Wenn sich nämlich herausstellen sollte, dass überwiegend die Stasi von den Kontakten mit Stolpe profitiert hat, die Kirche dagegen überwiegend Nachteile davon hatte, so wäre Stolpe, zumindest politisch gesehen, etwa als Ministerpräsident des Landes Brandenburg untragbar gewesen. Denn dann hat in der Terminologie des Gefangenendilemmas eine ständige Defektion der Stasi stattgefunden, die auf einen kooperationsbereiten Stolpe traf. Dies wäre aber nur dadurch zu erklären, dass Stolpe entweder direkt für die Stasi gearbeitet hat oder dass er von ihr als nützlich missbraucht wurde. Hat also nur oder jedenfalls überwiegend die Stasi bzw. das DDR-Regime Vorteile von der Kontaktaufnahme mit Stolpe gehabt, wäre das Verhalten Stolpes zumindest politisch betrachtet desavouiert: Sowohl dann, wenn er so unklug war, sich über die Jahre ständig be- und ausnutzen zu lassen, als auch dann – natürlich erst recht –, wenn er direkt für die Stasi gearbeitet hat. Wenn auf der anderen Seite die Kirche bzw. ihre Mitglieder oder Schutzbefohlenen überwiegend von den Kontakten Stolpes mit der Stasi profitiert haben, dann liegt die These zumindest viel näher, dass Stolpe im Interesse nur der Kirche gehandelt hat und damit kein (Einfluss-)Agent der Stasi war; und dies selbst dann, wenn er sich der Stasi gegenüber als ein solcher ausgegeben haben sollte, um deren Vertrauen zu haben und auf diese Weise noch mehr erreichen zu können. Wenn Stolpe – in der Terminologie des Gefangenendilemmas – entweder selbst mit einer kooperationsbereiten Stasi im Interesse der Kirche kooperiert hat oder der kooperationsbereiten Stasi gegenüber defektiert hat (diese mit anderen Worten „über den Tisch gezogen“ haben sollte), dann kann er kein (Einfluss-)Agent der Stasi gewesen sein, sondern war „Agent“ der Kirche.
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5. Kap.: Die Beurteilung einer Kooperation mit einem Unrechtsstaat
Was demnach für eine angemessene Beurteilung des „Falles Stolpe“ erforderlich wäre, ist eine möglichst lückenlose Aufklärung der objektiven „Gewinne“ und „Verluste“ des DDR-Regimes bzw. der Kirche im Rahmen von Stolpes Stasikontakten. Es muss aufgedeckt werden, wodurch Stolpe der Kirche möglicherweise geholfen hat: Z. B. Gefangenenfreilassung, Gestattung bzw. Duldung von oppositioneller Betätigung, Schaffung von „Freiräumen“ für die Kirche, und zwar in den Einzelheiten, nicht als bloß pauschale Behauptung. Andererseits muss jeder, der Stolpe angreifen will, zeigen, inwieweit die Stasi durch die Kontakte mit Stolpe tatsächlich profitiert hat: Z. B. durch Kenntniserlangung über Interna der Kirche, die nicht ohnehin offene Geheimnisse waren bzw. von denen nicht ohnehin angenommen werden musste, dass sie durch andere Personen an die Stasi weitergegeben wurden, durch direkte Einflussnahme auf innerkirchliche Entscheidungen, durch Ausübung von Druck auf missliebige Kirchenmitglieder etc., und dies wieder nicht pauschal, sondern in Einzelheiten.4 Erst auf der Grundlage einer solchen Erfassung der Einzelfälle und ihrer Bewertung als schädlich oder nützlich für kirchliche Kreise über die Jahre von Stolpes Stasikontakten hinweg lässt sich zuverlässig sagen, ob Stolpe politisch akzeptabel gehandelt hat oder nicht. Alle sonstigen Mutmaßungen, Verdächtigungen und Bewertungen der Kontakte wären zumindest voreilig. Voreilig wäre auch eine Beantwortung der Frage, was bei Unklarheiten hinsichtlich der Tatsachenlage mangels hinreichender Aufklärungsmöglichkeiten zu geschehen hätte: Anwendung des strafprozessualen Grundsatzes „in dubio pro reo“ oder stattdessen eines „politischen Grundsatzes“ „in dubio contra reum“? Denn dies würde nur der Vernachlässigung der zu leistenden Aufklärungsarbeit Vorschub leisten. Lediglich eine offen geführte Diskussion über die Bewertung der tatsächlichen Resultate von Stolpes Stasikontakten verspricht zudem Klarheit über die Frage, ob eine Kooperation mit der Stasi bereits per se zu verurteilen ist. Dabei ist auch durchaus noch offen, ob nicht auch diejenigen Schuld auf sich geladen haben könnten, die sich aus ehrenhaften prinzipiellen Erwägungen einer Kooperation verweigert haben, dabei aber vielleicht die Chance versäumten, z. B. Unschuldige aus den Gefängnissen der DDR freizubekommen. Denn Prinzipientreue allein ist noch kein politisches Gütesiegel. Ergebnisse des 5. Kapitels 1. These Die Lage, in der man sich in einer Diktatur befindet, mit der man – etwa in politischer Hinsicht – im weitesten Sinne zusammenarbeiten muss, ist der Struktur eines (iterierten) Gefangenendilemmas vergleichbar. 4 Vgl. ähnlich auch Vittorio Hösle, Moral und Politik, Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München 1997, S. 978 ff.
V. Welche Fragen sind zu stellen?
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2. These Bei der externen Beurteilung des in einer solchen Lage an den Tag gelegten Verhaltens ist weniger nach den Motiven der handelnden Personen als vielmehr nach deren objektiven Erfolgen und Misserfolgen zu fragen. 3. These Wer in einer Diktatur im Interesse von Personen(gruppen) mit der Staatsmacht zusammenarbeitet, muss sich zwangsläufig „die Hände schmutzig machen.“ Das ergibt sich bereits aus der Alternative der Kooperation im Gefangenendilemma. Dies allein kann eine ethische Verurteilung deshalb noch nicht tragen. 4. These Entscheidend wird demgegenüber sein, ob man die – angeblich – angestrebten Erfolge auch tatsächlich erreicht hat. Denn nur dann unterscheidet sich das Verhalten substantiell von dem Verhalten desjenigen, der sich gar nicht erst mit der Staatsmacht eingelassen hat.
6. Kapitel
Wann überschreitet ein Staat beim Einsatz heimlicher Ermittlungsmaßnahmen die Grenzen zum Überwachungsstaat? I. Maßnahmen zur heimlichen Ermittlung Heimliche Ermittlungen gehören inzwischen zum Standardrepertoire der Maßnahmen vor dem und im Strafverfahren. Grund genug, immer wieder nachzufragen, welche Grenzen es dabei einzuhalten gilt. Dabei sind als „heimliche Ermittlungsmaßnahmen“ insbesondere zu nennen: die heimliche „Beschattung“ einer Person durch Polizeikräfte, die heimliche Überwachung der Telekommunikation, die Bestimmung des Aufenthaltsortes einer Person auf der Grundlage von Mobilfunkinformationen oder anderen Informationen von land- oder satellitengestützten Systemen, heimliche Ton- und Videoaufnahmen außerhalb und innerhalb von Wohnungen, also einschließlich der flächendeckenden Videoüberwachung im öffentlichen Raum, aber auch einschließlich des sog. (großen) Lauschangriffs in Wohnungen etc. Der Begriff der heimlichen Ermittlungsmaßnahmen umfasst aber auch den Einsatz sog. verdeckter Ermittler, einschließlich der Lockspitzelverwendung, auch die Einrichtung von sog. Hörfallen und die Einschleusung von Spitzeln in Gefängniszellen. In Deutschland zurzeit besonders in der Diskussion ist ferner die Einschleusung von sog. Trojanischen Pferden in online-geschaltete Computeranlagen, um dort heimlich Daten zu kopieren bzw. die Kommunikationsvorgänge auszuspähen und zu überwachen (sog. Bundestrojaner-Einsatz). Weiterhin in diesen Kontext gehören auch die Fragen, ob heimliche Wohnraumdurchsuchungen zulässig sein könnten (zur Zeit in Deutschland nicht der Fall), ab wann der Verdächtigte davon zu unterrichten ist, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, und schließlich die mehr oder weniger geheim ablaufende sog. Vorratsspeicherung der Daten von Telekommunikationsverbindungen und der Sammlung anderer Informationen über unbescholtene Bürger, auch im Rahmen von Schleier- und Rasterfahndungen etc. Aktuell in Deutschland (wieder) hinzugekommen ist die (eventuell auch heimliche) Abnahme von „Geruchsproben“ zu Fahndungszwecken. Es kann hier nicht darum gehen, alle diese heimlichen Ermittlungsmethoden im Einzelnen zu analysieren und zu bewerten, respektive Schranken für ihren Einsatz zu entwerfen; zumal dazu bereits eine fast unüberschaubare Spezialliteratur zu jeder der Methoden vorliegt. Im Folgenden kann deshalb nur der Ver-
II. Genereller Verzicht auf heimliche Ermittlungsmaßnahmen?
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such unternommen werden, einige Grundlinien einer (solchen) Schrankensystematik zu skizzieren, denn – und darüber gibt es jedenfalls zur Zeit wohl noch in allen Rechtsstaaten Konsens – eine schrankenlose Anwendung von heimlichen Ermittlungsmaßnahmen kommt jedenfalls nicht in Betracht. Dabei wird üblicherweise vor dem sog. Überwachungsstaat gewarnt, wobei es im Folgenden noch näher darum gehen wird, welche Kategorie hiermit eigentlich gemeint ist und was genau das Verwerfliche an einem solchen Überwachungsstaat wäre.
II. Genereller Verzicht auf heimliche Ermittlungsmaßnahmen? Man könnte in diesem Zusammenhang einen radikalen Standpunkt einnehmen, der jede Form heimlicher Ermittlungsmaßnahmen des Staates schon deshalb kategorisch verwirft, weil der Staat seinen Bürgern gegenüber gar nicht heimlich handeln sollte. Ein solcher extremer Standpunkt, der gleich durchaus noch zu relativieren sein wird, der aber zur argumentativen Lokalisierung der Problematik heimlicher Ermittlungen hilfreich ist, könnte sich etwa auf eine rechtsphilosophische Position berufen, wie sie von Immanuel Kant vorgezeichnet wurde. Nicht nur, dass dieser bekanntlich eine sehr strikte These zum Verbot der Lüge – selbst in Notsituationen – vertreten hat, auch seine rechtspolitische Philosophie bringt eine dem heimlichen Staatshandeln diametral entgegengesetzte Position zum Ausdruck. So formuliert Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden einen schon oben im 1. Kapitel einmal, allerdings in anderem Kontext, herangezogenen Satz, den er die „t r a n s c e n d e n t a l e F o r m e l des öffentlichen Rechts“ nennt: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.“1 und weiter heißt es zur Begründung dieses Prinzips der „Publicität“ des öffentlichen Rechts:2 „Denn eine Maxime, die ich nicht darf l a u t w e r d e n lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus v e r h e i m l i c h t werden muß, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht ö f f e n t l i c h b e k e n n e n kann, ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand Aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese nothwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende Gegenbearbeitung Aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht.“
Es ist nun allerdings einzuräumen, dass Kant selbst sein Publizitätsprinzip nicht auf die Problematik heimlicher Ermittlungsmaßnahmen anwendet, obwohl die Institution einer Geheimpolizei gerade in der Zeit des Absolutismus natürlich keine unbekannte Größe für ihn war. Aber wenn es trotz einer Reihe durch1 2
Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, Akad.-Ausg., Bd. 8, S. 381. Kant, a. a. O. (ob. Fn. 1).
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6. Kap.: Wann überschreitet ein Staat die Grenzen zum Überwachungsstaat?
aus subversiver Bemerkungen Kants in dieser Schrift Zum ewigen Frieden3 eine realistische Chance geben sollte, den Text durch die preußische Zensur zu bringen, dann konnte eine solche Frage natürlich nicht direkt thematisiert werden.4 Gleichwohl kann die These Kants jedenfalls als eine Wurzel des Gedankens angesehen werden, dass sich der Staat in seinem Handeln gegenüber Bürgern überhaupt nicht auf heimliche Maßnahmen einlassen sollte. Wenn etwa – wie von dem Strafrechtler Friedrich Dencker in einem ausführlichen Beitrag „Über Heimlichkeit, Offenheit und Täuschung bei der Beweisgewinnung im Strafverfahren“5 zu Recht in Erinnerung gerufen wird – das Reichsgericht noch im Jahre 1912 den polizeilichen Lockspitzeleinsatz klar als „unter allen Umständen“ unzulässig abgelehnt hat, so ist das Ausdruck einer solchen Grundhaltung. In der betreffenden Entscheidung des Reichsgerichts heißt es u. a., es sei „unaufrichtig und jedenfalls mit dem Ansehen der Behörden der Strafrechtspflege unvereinbar, wenn deren Beamte oder Beauftragte sich dazu hergeben, . . . zum Verbrechen anzulocken, und auch, wenn sie nur den Schein erwecken, als ob sie Täuschung oder sonstige unlautere Mittel in den Dienst der Strafrechtspflege stellten.“6
Nun wird sich allerdings eine Position, die auf heimliche Ermittlungsmaßnahmen des Staates vollkommen verzichtet, nicht mehr sinnvoll durchhalten lassen. Denn gerade im sich vereinigenden und zunehmend grenzfreien Europa ist ohne heimliche Ermittlungsmaßnahmen, die dabei auch die modernen technischen Möglichkeiten einbeziehen, zum Zwecke einer effektiven Strafverfolgung nicht auszukommen. Allerdings darf man sich nicht an den Gedanken „gewöhnen“, diese Effektivität der Strafverfolgung sei losgelöst von rechtstaatlichen Grundlagen zu verfolgen, etwa im Sinne eines staatlichen Handlungsutilitarismus7, dem bereits alles das legitim erscheint, was bei der „Verbrechensbekämpfung“ nützlich ist. Es darf nämlich nicht in Vergessenheit geraten, dass die Zulässigkeit von heimlichen Ermittlungsmaßnahmen allenfalls als Ausnahme zu dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Öffentlichkeit des Staatsgebarens konzipiert werden kann. Der legitimierende Grund für eine solche Ausnahme kann dabei nur darin liegen, dass sonst eine Beeinträchtigung von Rechtsgütern erfolgen würde, die auf andere Weise nicht geschützt werden können. Es drohen zwar allenthalben Rechtsgutseinbußen des Bürgers etwa durch eigenes Verschulden oder unter der Einwirkung von natürlichen Einflüssen. Doch geht es hier gerade um die grundsätzliche Pflicht des Staates, den Bürger vor der Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter durch andere Personen – seien es nun 3
Vgl. Kant, a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 373 mit der dortigen Fußnote. Vgl. auch den Hinweis auf die in Preußen herrschende Zensur bei Kant, a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 343. S. a. Akad.-Ausg., Bd. 7, S. 5 ff. 5 Friedrich Dencker, Strafverteidiger 1994, S. 667. 6 Reichsgericht bei Kohlrausch, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 33, S. 694 f.; vgl. dazu Dencker, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 667. 7 Vgl. Hamm, Strafverteidiger 2001, 81 ff., der diese Option zu Recht kritisiert. 4
III. Parameter möglicher Legitimierbarkeit
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Bürger dieses oder eines anderen Staates – zu schützen. Allerdings bedarf es dazu einer sorgfältigen Austarierung dieser grundsätzlichen Schutzpflicht mit der ebenso bestehenden Pflicht des Staates, den Bürger nicht übermäßig in seinen Rechten einzuschränken. Wenn daher etwa ein Leitprinzip der Europäischen Union lautet, einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu schaffen, so kann dies nicht durch Realisierung einer dieser Komponenten auf Kosten der anderen Komponenten funktionieren. Es geht immer um Sicherheit und Freiheit mit den Mitteln des Rechts. Das allerdings bedeutet auch, dass im Interesse der Sicherheit auch anderer Personen Einbußen an eigener Freiheit hinzunehmen sind, und umgekehrt, bloße Sicherheit ohne weitestgehende Freiheit nicht akzeptabel erscheint. Dabei geht es hier nicht – wie in der rechtspolitischen Diskussion manchmal polemisch der Eindruck erweckt wird – um die Freiheit, Verbrechen begehen zu können. Vielmehr ist jeder heimliche staatliche Eingriff in die Sphäre des Bürgers, auch wenn der Eingriff gegen einen Verdächtigen erfolgt, erst recht aber natürlich, wenn er eine Maßnahme bereits im Vorfeld eines Verdachts darstellt (z. B. Vorratssammlung von Daten), ein Vorgehen gegen einen de iure Unschuldigen. Das gilt formal für das (repressive) Strafverfahren schon im Hinblick auf Art. 6 II EMRK, hat seine Bedeutung aber auch im präventiven Bereich staatlicher Tätigkeit, indem auch hier der Grundsatz Geltung beansprucht, dass der Staat seine Bürger nicht unter Generalverdacht stellen darf. Andernfalls handelte es sich um einen Staat, der seine Bürger wie Unmündige und nicht wie Mündige behandelt, also offenkundig gerade um keinen Rechtsstaat, sondern um eine Despotie. Akzeptabel ist ein solches (heimliches) Vorgehen gegen prima facie Unschuldige daher nur, wenn man die Duldung des Eingriffs gleichsam als Ausdruck einer „Sozialbindung“ des einzelnen Bürgers im Interesse der Sicherheit aller Bürger verstehen kann, wobei es hier nicht darauf ankommt, ob man dies nun als „Sozialbindung“ oder als „Verhältnismäßigkeit“ bezeichnet. Dieser „Sozialbindung“ unterliegt nämlich nicht nur die Freiheit, die sich im Eigentum an materiellen Gütern äußert, sondern auch die Freiheit im Hinblick auf immaterielle Güter wie etwa das vom deutschen Bundesverfassungsgericht so bezeichnete „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ bzw. generell die Freiheit vor staatlicher Überwachung. Allerdings bedarf diese „Sozialbindung“ einer Konkretisierung und einer Präzisierung der Eingriffsschranken, insbesondere wenn es um heimliche Eingriffe geht.
III. Parameter möglicher Legitimierbarkeit Dazu zunächst zwei Vorbemerkungen, die kaum kontrovers sein dürften. Wenn man heimliche Ermittlungsmaßnahmen nicht bereits grundsätzlich ablehnt, sondern sie aus den soeben dargestellten Gründen jedenfalls ausnahmsweise für legitimierbar hält, so muss doch zumindest gewährleistet sein, dass
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6. Kap.: Wann überschreitet ein Staat die Grenzen zum Überwachungsstaat?
die betreffende Maßnahme akzeptabel wäre, würde sie offen durchgeführt. Anders formuliert: Eine heimliche Maßnahme wäre stets illegitim, wenn sich schon ein paralleler offener Eingriff nicht legitimieren ließe. Wo also offene Überwachung nicht zulässig wäre (etwa in der engsten Privatsphäre), wäre es die heimliche Überwachung erst recht nicht. Die zweite Vorbemerkung folgt gewissermaßen aus der ersten. Da der heimliche Eingriff, weil man sich gegen ihn strukturell nicht wehren kann, tendenziell der gegenüber dem offenen Eingriff gravierendere ist,8 ist eine heimliche Ermittlungsmaßnahme nicht akzeptabel, falls mit gleicher Effizienz eine offene Ermittlungsmaßnahme durchgeführt werden könnte. Wenn es etwa zur Kenntnisnahme vom Inhalt einer Computerfestplatte genügt, diese im Rahmen einer gerichtlich genehmigten Hausdurchsuchung offen zu beschlagnahmen, wäre eine heimliche Online-Ausspähung der Daten (etwa aus Gründen der Einfachheit oder Kostengünstigkeit des Vorgehens) demnach nicht zulässig. Über diese beiden Grundsätze hinaus geht es im Folgenden darum, die Debatte anhand einer Übersicht mit zehn wichtig erscheinenden Parametern einer möglichen Legitimierbarkeit heimlicher Ermittlungsmaßnahmen etwas zu strukturieren.9 Dabei wird diese Legitimierbarkeit durch die aufgezeigten Schranken eines heimlichen Ermittlungseingriffs näher bestimmt. Aus der Übersicht ist zunächst erkennbar, dass hier zwischen fünf Kategorien von Staaten unterschieden wird, denen die jeweilige Regelung, die sich in den genannten zehn Parametern widerspiegelt, zugeordnet ist. Dies soll nicht mehr heißen, als dass die betreffende Regelung, die die heimliche Ermittlungsmaßnahme begrenzt („Eingriffsschranke“), typischerweise in einem Staat vorkommt, den man in eine der in der Übersicht genannten fünf Kategorien einordnen würde. Diese fünf Kategorien sind (vgl. Spalten der Übersicht): 1. Willkürstaat, den man in diesem Kontext auch als „Überwachungsstaat“ bezeichnen könnte. 2. Nicht mehr Rechtsstaat, dessen Qualität also rechtsstaatlichen Ansprüchen nicht mehr gerecht wird.
8 Dieses Argument ist nicht ganz unproblematisch, weil man auch die gegenteilige These vertreten könnte, der heimliche Eingriff sei schon deshalb weniger gravierend, weil der Betroffene von ihm ja nichts merke. Und trotzdem scheint jedenfalls der Grad der Verunsicherung größer, der sich bei heimlich durchgeführten Eingriffen – und der steten Sorge, solchen eventuell ausgesetzt zu sein – einstellt, als der bei einem offen geführten Eingriff, gegen den man insbesondere rechtliche Maßnahmen ergreifen kann. 9 Vgl. dazu auch die Vorschläge zur rechtlichen Einhegung der Heimlichkeit von staatlichen Ermittlungsmaßnahmen bei Mark Zöller, „Heimlichkeit als System“, StraFo 2008, 15 ff.
vorbehaltlos
3. Eingriffs(rechts)grundlage
Anfangsverdacht
nur bei staatlich anerkannten „Vertrauenspersonen“ ausgeschlossen
3. noch Rechtsstaat
unbegrenzt
7. Eingriffsdauer
allenfalls Verwertbarkeit Feststellungsanspruch beschränkt
keine 10. nachträgliche „Rechtsmittel“ bei rechtswidriger Maßnahme
1 zusätzlich erlaubt
1–2 Tage
nicht im Privatbereich
Verwertbarkeit ausgeschlossen
bei jeder lang andauern- bei jeder rechtsden rechtswidrigen widrigen Maßnahme Maßnahme
nur bei Opportunität
9. nachträgliche keine Informationspflicht des Staates
2 zusätzlich erlaubt
mehrere zusätzlich erlaubt
max. 1 Woche
nicht in privateste „Intimsphäre“
8. Kombination mit stets zulässig anderen Eingriffen
länger andauernd
begrenzt nur bei Eingriff in „hoheitliche Sphäre“
unbegrenzt
6. Eingriffstiefe
nur bei schwerer Kriminalität
einschließlich „leichter Kriminalität“
unbegrenzt
5. Deliktsschwere
einschließlich „mittlerer“ Kriminalität
nur maßgeblich, falls erforderlich, es sei denn erforderlich, es sei „kostenneutral“ deutliche „Kosten“ der denn extreme „KosAlternative ten“ der Alternative
Staatsanwaltsvorbehalt
konkreter Tatverdacht
bei „Vertrauenspersonen“ ausgeschlossen
4. wehrhafter Rechtsstaat
4. Alternativlosigkeit irrelevant des Eingriffs
Verwaltungsvorbehalt Gesetzesvorbehalt
auch „vorsorglich“ abstrakter „leichter“ Verdacht
2. Verdachtsgrad
nur bei staatlichen Funktionsträgern ausgeschlossen
keine
2. nicht mehr Rechtsstaat
1. Begrenzung des Personenkreises
Staatsqualität Schrankenart ! 1. Willkürstaat #
Verwertbarkeit ausgeschlossen und Schadensersatz
stets
nie zulässig
nur punktuell
nur im öffentlichen Bereich
nur bei schwerster Kriminalität
stets erforderlich
Richtervorbehalt
hinreichender Tatverdacht
alle außer Tatverdächtiger ausgeschlossen
5. naiver Rechtsstaat
III. Parameter möglicher Legitimierbarkeit 89
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6. Kap.: Wann überschreitet ein Staat die Grenzen zum Überwachungsstaat?
3. Noch Rechtsstaat, der gerade noch rechtsstaatlichen Ansprüchen gerecht wird. 4. Wehrhafter Rechtsstaat, ein Staat, der unzweifelhaft Rechtsstaat ist, sich und seine Bürger aber auch durchaus zu verteidigen weiß. 5. Naiver Rechtsstaat, ein Staat, der rechtsstaatliche Grundsätze gewissermaßen um jeden Preis „hochhält“, dabei aber den Schutz seiner Bürger vernachlässigt. Es sei hier davon ausgegangen, dass die Bezeichnungsweise „Rechtsstaat“ im vorliegenden Kontext impliziert, dass ein faires Verfahren nur in einem Rechtsstaat garantiert wird, und ein Staat, der keine fairen Verfahren garantiert, auch kein Rechtsstaat mehr ist. Dies schöpft die Bandbreite der gängigen Formulierung vom „fairen Verfahren“ zwar nicht vollständig aus, bindet sie aber an die konturenschärfere Konzeption des Rechtsstaats bzw. des „rechtsstaatlichen Verfahrens“. Dabei ist natürlich klar, dass schon diese Einteilung viele – möglicherweise zu viele – Voraussetzungen macht, die hier nur angedeutet, keinesfalls aber ausdiskutiert werden können. Zum einen wird vorausgesetzt, dass der Begriff „Rechtsstaat“ ein steigerungsfähiger Begriff ist, etwa im Sinne von „mehr oder weniger Rechtsstaat“, obwohl man auch die These vertreten könnte, ein Staat sei entweder ein Rechtsstaat oder er sei eben kein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat. Letztere Vorgehensweise erscheint indes schon deshalb als unangemessen, da es sich mit dem Begriffspaar Rechtsstaat/Unrechtsstaat nicht wie mit dem Begriffspaar rechtmäßig/rechtswidrig verhält, die klarerweise keine Steigerung erfahren können, sondern eher wie mit dem Begriffspaar Recht/Unrecht, für das zumindest klar zu sein scheint, dass „Unrecht“ ein steigerungsfähiger Begriff ist, wie man an der üblichen Redeweise erkennen kann, ein Mord stelle ein größeres Unrecht dar als eine Sachbeschädigung. In diesem Kontext kann dann auch eine Strafverfahrensordnung mehr oder weniger rechtsstaatlich ausgestaltet sein. Weiterhin wird vorausgesetzt, dass natürlich nicht eine einzelne rechtsstaatswidrige Regelung einen Staat insgesamt zu einem Unrechtsstaat macht – andernfalls gäbe es wohl kaum einen Rechtsstaat auf der Welt. Vielmehr soll nur gesagt werden, dass eine der betreffenden Regelungen eher in der jeweiligen Staatskategorie angetroffen wird als in einer anderen. Auch lässt sich selbstverständlich in Frage stellen, ob gerade die Aufgliederung in fünf Staatskategorien hinreichend präzise ist. Man könnte dafür plädieren, weniger, aber auch dafür plädieren, mehr Kategorien zuzulassen. Dieser Vorschlag der Aufteilung in fünf Kategorien hat allerdings den Vorteil, relativ viele tatsächlich vorfindliche Regelungen abbilden zu können und gleichwohl noch hinreichende Trennschärfe zu bieten. Dies lässt aber natürlich die Möglichkeit einer weitergehenden Ausdifferenzierung völlig unberührt.
IV. Die Parameter im Einzelnen
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IV. Die Parameter im Einzelnen Wenn es um die zehn Parameter einer Legitimitätsbeurteilung heimlicher Ermittlungsmaßnahmen im Einzelnen geht (vgl. die Zeilen der Übersicht), so gilt strukturell Ähnliches. Wieder kann nicht behauptet werden, dass die Parameter vollständig wären (d. h. eventuell sind mehr als zehn Regelungsparameter denkbar und ggf. zu berücksichtigen). Auch lässt sich über ihre Binnenstrukturierung diskutieren, zumal man etwa die Regelung zu Eingriffstiefe und Eingriffsdauer in einen Parameter zur Eingriffsintensität zusammenfassen könnte. Weiterhin erscheint es vorstellbar, dass rechtsstaatliche Defizite bei der einen Regelung im Rahmen einer anderen Regelung gewissermaßen wieder ausgeglichen werden. Schließlich ist die Aufteilung der betreffenden Teilregelung auf die Staatskategorien mitunter möglicherweise etwas willkürlich, was aber nur die schon besprochene, notwendigerweise unstetig verlaufende Aufteilung der fünf Staatskategorien in den fünf Spalten der Übersicht reflektiert. Dies wird noch deutlicher werden, wenn die Parameter im Einzelnen näher betrachtet werden. Doch zunächst sei noch einmal hervorgehoben, dass es hier stets um die Frage gehen soll, inwieweit die betreffende heimliche Ermittlungsmaßnahme legitimierbar ist. Es geht also nicht um die jeweilige Ermittlungsmaßnahme generell, sondern gerade um den Aspekt der Heimlichkeit ihrer Durchführung und wie die heimliche Maßnahme angemessen, d. h. rechtsstaatlich angemessen und einem fairen Prozess gemäß, begrenzt bzw. rechtlich „eingehegt“ werden sollte. Deshalb wird hier auch nicht zwischen verschiedenen Ermittlungsmaßnahmen differenziert, deren Legitimierbarkeit natürlich getrennt und individuell zu untersuchen wäre, was hier aber nicht geleistet werden kann und soll, da es nur um die Heimlichkeit der Maßnahmen geht. Dabei sei eingeräumt, dass sich die Trennung der Aspekte – einerseits die Beurteilung der Schranken der Maßnahme als solche, andererseits die Beurteilung der Schranken der Maßnahmen bei heimlicher Durchführung – nicht immer wird klar durchführen lassen, aber ich sehe zu einem solchen Vorgehen keine ernsthafte Alternative, wenn man zu einem nachvollziehbaren Rahmen für eine Diskussion der Problematik kommen will. Aber nun einige Bemerkungen zu den möglichen Eingriffsschranken heimlicher Ermittlungsmaßnahmen, die hier als Parameter ihrer Legitimierbarkeit interpretiert werden, im Einzelnen (vgl. Zeilen der Übersicht). Eine sehr strikte Regelung im Rahmen des 1. Parameters könnte den Personenkreis, bei dem heimliche Ermittlungsmaßnahmen überhaupt durchgeführt werden dürfen, auf Tatverdächtige begrenzen. Eine solche Regelung wäre indes recht „blauäugig“, da etwa schon eine Telefonüberwachung in aller Regel zugleich auch nicht tatverdächtige Personen betrifft, die bei dem Verdächtigen aus völlig harmlosen Gründen anrufen oder vom Verdächtigen aus völlig harmlosen Gründen angerufen werden. Auch eine heimliche Computerausforschung (ein-
92
6. Kap.: Wann überschreitet ein Staat die Grenzen zum Überwachungsstaat?
mal vorausgesetzt, es gäbe für sie eine verfassungsgemäße gesetzliche Eingriffsgrundlage) ließe sich kaum sinnvoll auf Informationen aus der Sphäre des Verdächtigen begrenzen, da dieser sicherlich auch Informationen über andere Personen (etwa seine Ehefrau oder seine Kinder) auf seiner Festplatte gespeichert haben dürfte. Parallele Überlegungen gelten für den Einsatz verdeckter Ermittler etc. Es kann daher sinnvollerweise nur eine Regelung ins Auge gefasst werden, bei der konkret bestimmte Personen aus dem Kreis der Eingriffsadressaten ausgeschlossen werden. Dabei wird es sich insbesondere um „Vertrauenspersonen“ handeln, deren Kommunikation mit dem Verdächtigen besonderen Schutz beanspruchen kann. Die etwa zum sog. großen Lauschangriff geführte Diskussion, inwieweit Rechtsanwälte, Ärzte, Priester, Sozialarbeiter und/oder Journalisten zu diesem Personenkreis gehören sollten, kann hier nicht nachgeholt, sondern nur in Erinnerung gerufen werden. Man sollte allerdings danach differenzieren, wie „staatsnah“ oder „staatsfern“ die Bildung der Gruppen solcher „Vertrauenspersonen“ ist, bei denen der Eingriff nicht zulässig ist, wie das hier in der Übersicht angedeutet wird. Der 2. Parameter betrifft die Frage, bei welchem Grad eines Tatverdachts die heimliche Maßnahme angeordnet werden darf. Hier wird eine Staffelung nach Verdachtsgraden vorgeschlagen, die man natürlich auch anders gliedern könnte. Auch wird man diesen Parameter (wie auch andere) sicher in eine adäquate Relation zu der Art und Schwere des Eingriffs zu bringen haben. So mag bei Schwerstkriminalität bereits ein leichter Verdacht ausreichen, die heimliche Maßnahme zu begründen, anders als bei nur mittlerer Kriminalität. Sehr problematisch ist allerdings die heimliche Maßnahme, wenn noch gar kein Verdacht gegen den Bürger vorliegt, also etwa bei vorsorglichen Beschattungsmaßnahmen oder sonstigen Überwachungsmaßnahmen oder bei der in Deutschland zurzeit diskutierten Vorratssammlung von Daten über die Telekommunikationsverbindungen.10 Bei der heimlichen Überwachung kann hier allenfalls ein zeitlich eng umgrenzter Fall der Gefahrenabwehr in einer bestimmten Situation legitimierend wirken, kaum aber eine allgemein angenommene unspezifizierte „Terrorgefahr“ o. ä. Die Vorratsdatensammlung erscheint darüber hinaus überhaupt nur dann erwägenswert, wenn sie jedenfalls insoweit aus dem Bereich der Heimlichkeit herausgeholt wird, als allgemein bekannt gemacht wird, dass die jeweiligen Telekommunikationsdaten für eine gewisse Zeit vorrätig gehalten werden. Dann zumindest kann man eine Art von Einverständnis des Betreffenden als Legitimationsgrund annehmen, wenn der Betreffende in Kenntnis dieser Option des Staates die Kommunikationsanlage gleichwohl nutzt, wobei man 10 Zu dieser Diskussion vgl. etwa Peter Gola/Christoph Klug/Yvette Reif, „Datenschutz und presserechtliche Bewertung der ,Vorratsdatenspeicherung‘“, NJW 2007, 2599 ff. Vgl. dazu auch die jüngst veröffentlichte Entscheidung des BVerfG, mit der der verfassungsrechtliche Rahmen für Vorratsdatenspeicherungen recht restriktiv fixiert wurde: BVerfG, 1 BvR 256/08 vom 11.3.2008, http://www.bverfg.de.
IV. Die Parameter im Einzelnen
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sich über die geringe Belastbarkeit dieses Arguments durchaus im Klaren sein sollte. Der 3. Parameter bezieht sich auf die Frage, wie hoch man die Hürde für die Voraussetzung einer rechtlich-formalen Eingriffsgrundlage ansetzt. Nicht mehr einem Rechtsstaat angemessen erschiene es dabei, wenn man entweder gar keine Rechtsgrundlage für die heimliche Ermittlungsmaßnahme forderte, oder lediglich eine Verwaltungsanweisung für ausreichend erachtete. Da auch das vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Recht auf informationelle Selbstbestimmung einen grund- bzw. menschenrechtlichen Kern hat, ist das Mindeste, was man verlangen muss, eine gesetzliche (mit dem Verfassungsrecht im Einklang stehende) Rechtsgrundlage für den heimlichen Eingriff. Am Manko dieser Eingriffsgrundlage ist deshalb vor kurzem in Deutschland vor dem Bundesgerichtshof zu Recht das Vorhaben gescheitert, eine heimliche Computerausspähung zu organisieren.11 Über die gesetzliche Grundlage hinaus muss man bei schwerwiegenden Eingriffen dazu auch noch einen Richtervorbehalt vorsehen – oder zumindest eine staatsanwaltliche Anordnung. Eine Maßnahme nur dem Belieben der Polizei zu überlassen, erscheint in aller Regel nicht akzeptabel. Der 4. Parameter reflektiert erneut die Überlegung, dass eine heimliche Ermittlungsmaßnahme die Ausnahme bleiben sollte. Deshalb erscheint es wichtig, Maßnahmen dieser Art nur dann zuzulassen, wenn keine zumutbare Alternativmaßnahme (die nicht heimlich ist) in Betracht kommt. Wobei natürlich der Ausdruck „zumutbar“ schon das Problem kennzeichnet, da dies ein durchaus dehnbarer Begriff ist. Gemeint ist, dass die Alternative gewählt werden sollte, wenn sie ohne erhebliche „Kosten“ möglich ist, wobei zu den „Kosten“ nicht nur finanzielle, sondern auch Effizienzkosten bei der Verbrechensverfolgung im konkreten Fall zu zählen sind. Wenn also eine offene Beschlagnahme des Computers ohne größere Kosten (im soeben beschriebenen Sinne) möglich ist, sollte 11 Vgl. BGH NJW 2007, 930 ff. m. Anm. von Rainer Hamm (ob. Fn. 7), S. 932 f.; zur Diskussion um diese Problematik vgl. auch Brian Valerius, „Ermittlungsmaßnahmen im Internet. Rückblick, Bestandsaufnahme, Ausblick“, Juristische Rundschau 2007, S. 275 ff.; Klaus Geppert, „Zur Unzulässigkeit von heimlichen Online-Durchsuchungen eines Personalcomputers/Laptops“, Jura, JK 7/07, StPO § 102/3; Johannes Rux, „Ausforschung privater Rechner durch die Polizei- und Sicherheitsbehörden – ,Rechtsfragen der Online-Durchsuchung‘“, Juristenzeitung 2007, S. 285 ff.; Martin Kutscha, „Verdeckte ,Online-Durchsuchung‘ und Unverletzlichkeit der Wohnung“, Neue Juristische Wochenschrift 2007, S. 1169 ff.; Maximilian Warntjen, „Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gesetzliche Regelung der Online-Durchsuchung“, Jura 2007, S. 581 ff.; Gerhard Fezer, Anm. zu dem o. g. BGH-Beschluss, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2007, S. 535 f.; Stephan Beukelmann, „Die OnlineDurchsuchung“, StraFo 2008, 1 ff. – Vor Kurzem hat das BVerfG in einer viel beachteten Entscheidung den Möglichkeiten zur Durchführung von Online-Durchsuchungen enge verfassungsrechtliche Grenzen gezogen: BVerfG, 1 BvR 370/07 vom 27.2.2008, http://www.bverfg.de.
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6. Kap.: Wann überschreitet ein Staat die Grenzen zum Überwachungsstaat?
diese einer heimlichen Online-Ausforschung des Computers (soweit eine solche überhaupt zulässig ist; vgl. oben) vorgezogen werden. Der 5. Parameter betrifft die Frage der Deliktsschwere, wobei über die Skalierung möglicherweise wieder zu diskutieren wäre. Ein heimliches Vorgehen der Staatsorgane erscheint jedenfalls im repressiven Bereich bei leichter Kriminalität unverhältnismäßig und damit einem Rechtsstaat nicht angemessen zu sein. Dagegen dürfte mittlere Kriminalität (also etwa auch einschließlich von Wirtschaftsdelikten aller Art) grundsätzlich ein legitimes Anwendungsfeld für heimliche Ermittlungsmaßnahmen darstellen. Man kann diese These allerdings auch im Hinblick auf die Intensität des betreffenden Eingriffs durchaus für einschränkungsbedürftig halten (also etwa differenzierend zwischen einem Eingriff in den Schutz des Kommunikationsgeheimnisses bei der Telefonüberwachung einerseits und einem Eingriff sogar in die Unverletzlichkeit der Wohnung bei heimlicher Hausdurchsuchung – sofern man diese überhaupt als zulässig in Betracht ziehen kann – andererseits). Der 6. und der 7. Parameter beziehen sich auf die Intensität der heimlichen Ermittlungsmaßnahme, wobei der 6. Parameter eher die räumliche Dimension repräsentiert, während der 7. Parameter die zeitliche Dimension betrifft. Wieder wird über die Skalierung, die insbesondere bei der zeitlichen Dimension in der Übersicht eine etwas zufällige Streuung aufweist, zu diskutieren sein. Auch das, was hier als „Eingriffstiefe“ bezeichnet ist, bedarf näherer Ausfüllung, etwa dahingehend, was als Bereich unantastbarer Privatsphäre zu gelten hat.12 Einigkeit sollte in Rechtsstaaten allerdings darüber erzielt werden können, dass es überhaupt einen solchen unantastbaren Bereich der Privatsphäre gibt. Der 8. Parameter nimmt Bezug auf die Frage, ob die heimliche Ermittlungsmaßnahme mit anderen heimlichen Ermittlungsmaßnahmen kombiniert werden darf. Man wird hier etwa die Frage zu stellen haben, ob neben einer Telefonüberwachung auch noch ein verdeckter Ermittler eingesetzt und ggf. zusätzlich eine Videoüberwachung des Hauses vorgenommen werden darf etc. Letztlich ist dieser Parameter daher auch ein Kennzeichen für die Eingriffsintensität. Man mag zwar durchaus darüber streiten, ob dies überhaupt ein entscheidungserheblicher Parameter ist, aber die Frage danach muss jedenfalls gestellt werden. Der 9. und der 10. Parameter sind gleichsam dem Umfeld der heimlichen Ermittlungsmaßnahme zuzuordnen, indem sie auf Pflichten des Staates nach einer Durchführung der heimlichen Ermittlungsmaßnahme Bezug nehmen. Dabei geht es zum einen um die Pflicht des Staates zur nachträglichen Information des Betroffenen über die durchgeführte Maßnahme (9. Parameter) und zum an-
12 Zu aktuellen Bestrebungen des Bundesinnenministeriums, diese Sphäre immer enger zu interpretieren, vgl. etwa Christian Denso/Heinrich Wefing, „Kamera läuft. Darf der Staat ins Wohnzimmer schauen?“, Die Zeit Nr. 18 (2008), S. 5.
IV. Die Parameter im Einzelnen
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deren um die Frage nach den prozessualen Konsequenzen, falls diese Vorschriften über die Durchführung der Maßnahme nicht eingehalten wurden (10. Parameter). Dabei kann gerade dieser letzte Aspekt ein durchaus wirkungsvolles Movens bei der praktischen Durchsetzung des Regelungsrahmens sein. Denn wenn ein Verwertungsverbot eingreift, wird es sich die ermittelnde Instanz wahrscheinlich zweimal überlegen, ob sie zu der illegitimen (und auch illegalen) Vorgehensweise greift, oder nicht vielmehr die Ermittlungsergebnisse auf eine nachher auch verwertbare Weise zu beschaffen trachtet, um letztlich überhaupt mit der Verfolgung des Verbrechens erfolgreich sein zu können. Es liegt auf der Hand, dass diese Aufstellung von zehn Parametern, die zudem vermutlich nicht abschließend ist, in Relation zu den hier gebildeten fünf Kategorien von Staaten nicht als quasi-mathematische Tabelle missverstanden werden darf, aus der sich einfach ablesen ließe, wann eine Regelung in Bezug auf heimliche Ermittlungsmaßnahmen denn nun noch rechtsstaatlich akzeptabel erscheint und wann nicht mehr. Dies schon deshalb nicht, weil alle Parameter auch miteinander kombiniert gedacht werden müssen. Gezeigt werden sollte nur, dass angesichts von zum Teil sehr unterschiedlichen strafprozessualen Rechtstraditionen und auch angesichts recht unterschiedlicher Regelungen für heimliche Ermittlungsmaßnahmen in den einzelnen Staaten, eine Diskussion darüber erforderlich ist, was noch als rechtsstaatlich akzeptabel gelten kann und was nicht. Dies kann nicht pauschal und allgemein erfolgen, sondern muss sich möglichst konkret auf einzelne Parameter beziehen, wie sie hier exemplarisch dargestellt wurden. Ein solches Vorgehen garantiert zwar kein einheitliches Ergebnis, legt aber wenigstens die „Karten offen“, mit denen gespielt wird, und strukturiert so die Debatte. Wenn sich in dieser Debatte dann zumindest zu diesem Punkt ein einheitliches Bewusstsein von Rechtsstaatlichkeit im Strafprozess herausbildet, das man durchaus auch als Bewusstsein eines fairen Prozesses oder ähnlich bezeichnen kann, wäre für die Idee des Rechtsstaates und ihre praktische Umsetzung schon einiges erreicht. Ergebnisse des 6. Kapitels 1. These Heimliche Ermittlungsmaßnahmen im Strafprozess (bzw. oftmals auch schon davor), sind sinnvollerweise nicht prinzipiell abzulehnen. Es kommt daher bei ihrem Einsatz wesentlich auf ihre rechtsstaatsadäquate „Einhegung“ an. 2. These Dass heimliche Ermittlungsmaßnahmen grundsätzlich möglich sein müssen, lässt sich mit einer „Sozialbindung“ auch des „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“ erklären, führt aber dazu, dass entsprechende Eingriffe verhältnismäßig sein müssen.
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6. Kap.: Wann überschreitet ein Staat die Grenzen zum Überwachungsstaat?
3. These Die Debatte über mögliche Schranken von heimlichen Ermittlungsmaßnahmen kann anhand von Parametern strukturiert werden, die eine Schrankensystematik in den Zusammenhang der Klassifizierung von Staaten nach dem Grad ihrer Rechtsstaatlichkeit stellt. Über die Grade, Skalierung und Strukturierungstiefe mag dabei füglich diskutiert werden; ganz ohne eine solche Strukturierung der Debatte, bliebe diese allerdings voraussichtlich im Ungefähren stecken. 4. These Auseinanderzuhalten sind zumindest zehn Parameter für eine Schrankenbildung bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen. Außerdem lassen sich wenigstens fünf Staatskategorien unterscheiden, die durch jene zehn Parameter im Kontext der vorliegenden Problematik näher charakterisiert werden (vgl. dazu näher die obige Übersicht).
7. Kapitel
Kann es ein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit geben? I. Vom Naturzustand zum Rechtszustand Es mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, dass eine Erörterung, die einem rechtsethischen Gegenstand gewidmet ist, mit einem Zitat aus einem Kinderbuch beginnt. Einem Kinderbuch allerdings, das so poetisch ist, dass man es wohl auch in der Welt der Erwachsenen zitieren darf. Ich meine das Buch Lillebror und Karlsson vom Dach von Astrid Lindgren. Der siebenjährige Held dieses Buches „Lillebror“ (zu deutsch: „kleiner Bruder“) erträumt sich gleichsam seinen Anti-Helden „Karlsson“, der alle die Streiche machen darf, alle die Ausreden benutzen darf, die der brave Lillebror sich nicht erlauben kann. Wie ein roter Faden ziehen sich die Scharmützel zwischen den beiden, die gleichwohl beste Freunde werden (und bleiben), durch das ganze Buch hindurch (und seine beiden Fortsetzungen). Das Zitat, um das es hier geht, führt auf durchaus subtile und doch amüsante Weise zu einem zentralen Problem dieses Kapitels: „Hast du noch Bonbons übrig?“, fragte Karlsson. Lillebror kramte in der Hosentasche . . . und holte zwei Bonbons . . . hervor. Der eine war eine Kleinigkeit größer als der andere. „Gutmütig und bescheiden wie ich bin, lasse ich dich zuerst wählen“, sagte Karlsson. „Aber du weißt wohl“, fuhr er fort und sah Lillebror mit strengem Blick an, „Wer zuerst wählen darf, muß den Kleineren nehmen!“ Lillebror überlegte einen Augenblick. „Ich möchte, daß du zuerst wählst“, sagte er erfinderisch. „Na ja, wenn du so darauf bestehst“, sagte Karlsson und schnappte sich den größeren Bonbon, den er schleunigst in den Mund stopfte. Lillebror blickte auf den kleinen Bonbon, der noch in seiner Hand lag. „Na, nun hör mal, du hattest doch gesagt, wer zuerst wählen darf, muß den kleineren nehmen . . .“. „Paß mal auf, du kleine Naschkatze“, sagte Karlsson. „Wenn du hättest zuerst wählen dürfen, welchen würdest du dann genommen haben?“ „Ich hätte den kleineren genommen, bestimmt“, sagte Lillebror ernsthaft. „Was beschwerst du dich dann“, sagte Karlsson, „den hast du ja jetzt auch bekommen!“ Lillebror überlegte von neuem, ob es so etwas war, was Mama mit ,einem vernünftigen Gespräch‘ meinte.1 1 Astrid Lindgren, Lillebror und Karlsson vom Dach, hier zitiert nach der Ausgabe Hamburg 1958, S. 67 f.
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7. Kap.: Kann es ein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit geben?
Leider muss die Schilderung des Tricks, mit dem Karlsson dem Lillebror auch noch den zweiten Bonbon abnimmt, hier übersprungen werden, da sonst das Thema dieses Kapitels aus dem Blick gerät. Denn worum geht es zunächst? Um die Frage, die auch Lillebror bewegte, Karlsson dagegen offenkundig weniger, ob es überhaupt vernünftige Regeln gibt, die einem sagen, was in einer Entscheidungssituation gerecht ist und was nicht. In der Diskussion sind dabei rechtsethische Prinzipien oder Argumente, die zumindest den Anspruch erheben, einen allgemeingültigen Maßstab für sittlich richtiges und zugleich gerechtes Verhalten zu liefern. Hervorgehoben seien hier die zum Sprichwort gewordene sog. Goldene Regel („Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!“)2, das sog. Argument (auch: Prinzip) der Verallgemeinerung („Diejenigen Handlungen sind zu unterlassen, die, würde sie jeder vornehmen, zu negativen Konsequenzen führen würden!“ oder kurz: „Was wäre, wenn das jeder täte?“3), der Kategorische Imperativ Immanuel Kants („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“4) und das Prinzip des Utilitarismus („Das größte Glück der größten Zahl!“5). Hätte sich Karlsson, bevor er den größeren Bonbon nahm, diese Prinzipien nacheinander vergegenwärtigt, hätte ihm die Goldene Regel nahegelegt, den Bonbon nicht zu nehmen. Denn er selbst hätte es sicher nicht gewollt, dass Lillebror es ihm angetan hätte, sich den größeren Bonbon zu nehmen. Das Argument der Verallgemeinerung hätte ihm seine Handlung (wohl) nicht verboten, da zum einen kein ernsthafter Schaden zu erwarten wäre, wenn jeder in seiner Lage so handeln würde, und zum anderen ja gar kein anderer (hier: Lillebror) auch so handeln wollte. Auch der Kategorische Imperativ scheint nicht zu einem Verbot der Handlung Karlssons zu kommen, indem sich durchaus ein all2 Die Goldene Regel geht auf Formulierungen in der Bibel zurück; vgl. Matthäus, 7, 12; Lucas, 6, 31; Tobias, 4, 16. 3 Vgl. etwa Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt a. M. 1975 (Originalausg. 1961, 1971), S. 86 ff.; Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 2. Aufl., Freiburg, München 1977, S. 6; zu einer Quelle des Prinzips der Verallgemeinerung bei dem Naturrechtslehrer Johann Balthasar Wernher vgl. Joachim Hruschka, „Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeinerung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel des Kategorischen Imperativs“, Juristenzeitung 1987, 941 ff. 4 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1785, Akad.-Ausg., Bd. 4, S. 421. 5 Vgl. Francis Hutcheson, An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue, 1725, in: Collected Works of Francis Hutcheson, hrsg. von B. Fabian, Hildesheim 1969 ff., Bd. 1, S. 164; Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation 1789, in: The Collected Works of Jeremy Bentham, hrsg. von J. H. Bruns und H. L. A. Hart, London 1970, insbes. S. 11 ff. In seinem Beitrag „The Greatest Happiness Principle and Other Early German Anticipations of Utilitarian Theory“, Utilitas, Bd. 3 (1991), S. 165 ff. weist Joachim Hruschka darauf hin, dass sich eine ähnliche Formulierung des Prinzips auch schon bei Gottfried Wilhelm Leibniz findet.
I. Vom Naturzustand zum Rechtszustand
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gemeines Gesetz denken lässt, wonach man immer den größeren von zwei zur Wahl stehenden Bonbons nimmt. Zieht man schließlich das Prinzip des Utilitarismus heran, so dürfte auch dieses dem Handeln von Karlsson nicht entgegengestanden haben. Denn das Ausmaß an Unglück, das Lillebror empfunden haben mag, als er den Verlust des größeren Bonbons realisieren musste, dürfte bei weitem von der Freude Karlssons über eben seinen Gewinn aufgewogen werden. Jedenfalls wäre die (Gesamt-)Summe des Glücks nicht größer (sondern eventuell kleiner) gewesen, wenn Karlsson, der – anders als Lillebror – von Astrid Lindgren als gierig und unbescheiden beschrieben wird, mit dem kleinen Bonbon hätte Vorlieb nehmen müssen: So sehr wie Karlsson sich gegrämt hätte, hätte Lillebror sich gar nicht freuen können. Nachdem die genannten Prinzipien bzw. Argumente schon in diesem so einfachen „Fall“ offenbar zu teils übereinstimmenden, teils divergierenden Resultaten kommen, liegt die Frage nahe, ob man eines (oder auch mehrere) davon als besser begründet und daher vorzugswürdig hervorheben kann. Bevor diese Frage weiterverfolgt werden kann, soll zunächst gezeigt werden, dass beim Denken über Gerechtigkeit drei Ebenen auseinander gehalten werden müssen. Auf der Grundlage der Unterscheidung dieser drei Ebenen kann man dann die genannten rechtsethischen Prinzipien und Argumente im Hinblick genauer daraufhin untersuchen, inwieweit sie in der Lage sind, jene drei Ebenen des Denkens über Gerechtigkeit angemessen zu berücksichtigen. Dabei soll selbstverständlich nicht der Anspruch erhoben werden, auf diese Weise das Gerechtigkeitsproblem insgesamt lösen zu können. Es wird sich aber zeigen, dass man durch eine Unterscheidung der besagten drei Ebenen zumindest in die Lage versetzt ist, Defizite, aber auch Stärken jener Regeln bzw. Argumente präziser herauszustellen. Dabei sei zunächst von der folgenden Situation ausgegangen. Zwei Personen befinden sich, nach einer Schiffskatastrophe an Land gespült, auf einer einsamen kleinen Insel, und stehen nun vor dem Problem, wie sie ihre weitere Existenz auf dieser Insel bis zum Zeitpunkt einer eventuellen Rettung einrichten sollen. Sieht man zunächst einmal von der Möglichkeit einer Einigung, einer Verständigung, zwischen beiden Personen über ihre eventuell vorhandenen Interessengegensätze ab, dann ist es prinzipiell denkbar, dass jeder ggf. auftretende Interessenkonflikt faktisch dadurch entschieden wird, dass sich der (körperlich) Stärkere durchsetzt. Eventuell mag auch der Trickreichere, der mit „allen Wassern Gewaschene“ die Oberhand behalten. Der Zustand, in dem die Interessenkonflikte der beteiligten Personen gerade durch diese realen Kräfteverhältnisse entschieden werden, soll als Naturzustand bezeichnet werden. Es liegt auf der Hand, dass diese Situation für denjenigen auf Dauer sehr unbefriedigend ist, der faktisch unterlegen ist. Er in erster Linie wird daher nach einem Ausweg aus seiner misslichen Lage suchen. Aber auch der Über-
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7. Kap.: Kann es ein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit geben?
legene kann sich seiner Überlegenheit nicht auf Dauer gewiss sein. Er wird in ständiger Sorge leben müssen, dass sich die Verhältnisse einmal umkehren könnten und er in die Lage des Unterlegenen gedrängt wird, in der seine Interessen nicht mehr ausreichend zum Zuge kommen. Es gibt deshalb sowohl für den (noch) Unterlegenen als auch für den (noch) Überlegenen, aber potentiell Unterlegenen, im Naturzustand ein Motiv dafür, die Entscheidung über die Verwirklichung ihrer Interessen auf Dauer nicht dem „freien Spiel der Kräfte“ zu überlassen. Ein Ausweg aus diesem „freien Spiel der Kräfte“ muss notwendigerweise auf einem anderen Ansatz beruhen, auf einem Ansatz, der von den jeweiligen faktischen Kräfteverhältnissen unabhängig ist. Ein solcher Ausweg ist darin zu sehen, dass die eine Person in die Lage versetzt wird, der anderen Person in einer Konfliktsituation anstelle ihrer Faust ein Argument entgegenzuhalten. Dabei kann es allerdings von vornherein nicht um solche Argumente gehen, die ihrerseits wiederum auf die bestehenden Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Personen Bezug nehmen. Der Rat etwa: „Wenn du nicht willst, dass ich dich schlage, solltest du das und das lieber bleiben lassen!“, ist kein Argument, das sich qualitativ von dem „freien Spiel der Kräfte“ im Naturzustand abhebt. Denn ein derartiges Argument ist ein schlagendes Argument nur in der Hand desjenigen, der ohnehin der Stärkere, der Überlegene, ist. Es ist damit nicht prinzipiell von der direkten Ausübung faktischer Überlegenheit unterschieden. Einen qualitativ anderen Ansatz repräsentiert ein Argument erst dann, wenn derjenige, dem gegenüber das Argument verwendet wird, aus Gründen gezwungen ist, das Argument zu akzeptieren, die nicht von den realen Kräfteverhältnissen bestimmt werden. Nur Argumente dieser Art sind auch in der Hand des Schwächeren nicht machtlos, sondern sind – allerdings in einem übertragenen Sinne – schlagende Argumente. Nur Argumente dieser Art lassen sich als rechtsethische Argumente bezeichnen. Ein Zustand, in dem Interessenkonflikte mit Hilfe solcher rechtsethischer Argumente ausgetragen werden, soll – im Unterschied zum zuvor beschriebenen Naturzustand – Rechtszustand heißen. Damit fragt sich, unter welchen Bedingungen rechtsethische Argumente einer Person der anderen gegenüber zwingend sein können. Dies ist dann und nur dann der Fall, wenn der Argumentationsadressat mit den Argumenten selbst oder mit grundlegenderen Prinzipien, auf die sie sich zurückführen lassen, einverstanden ist. Denn wenn sich die Argumente aus Prämissen ergeben, mit denen (auch) der Argumentationsgegner einverstanden ist, muss er die verwendete Argumentation akzeptieren, will er sich nicht selbst wieder auf die Ebene des Naturzustandes zurückbegeben und damit letztlich seine rein faktische Überlegenheit ausspielen.
II. Drei Ebenen des Denkens über Gerechtigkeit
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II. Drei Ebenen des Denkens über Gerechtigkeit 1. Bedingungen der Möglichkeit für Gerechtigkeit (1. Ebene) Wenn demnach die Einigung zwischen beiden Personen der einzige Ausweg aus dem Naturzustand ist, dann müssen auf einer 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Einigung festgestellt werden. Diese werden gerade durch diejenigen Regeln umschrieben, die jede der beiden Personen bereits anerkannt haben muss, bevor es überhaupt zu einer Einigung über die inhaltliche Regelung des Zusammenlebens kommen kann. Dabei stehen zwei Regeln im Vordergrund. Die erste wird durch den bekannten Satz „pacta sunt servanda!“ („Verträge müssen gehalten werden!“)6 wiedergegeben, die zweite wird am treffendsten durch das Wort Ulpians „neminem laede!“ („Schädige niemanden!“)7 bezeichnet. Jede Einigung zwischen zwei (oder auch mehr) Personen setzt die Anerkennung dieser beiden Regeln durch die beteiligten Personen voraus. Diese Regeln können deshalb auf keinen Fall der Gegenstand einer Einigung sein. Besonders deutlich ist dies bei der Regel „pacta sunt servanda“. Denn zwei Personen können schlechterdings nicht miteinander vereinbaren, sich an ihre beiderseitigen Vereinbarungen zu halten, ohne nicht eben dies bereits vorauszusetzen. Umgekehrt könnten sich zwei Personen nicht einmal darüber einigen, den Satz „pacta sunt servanda“ außer Kraft zu setzen (etwa um ihn hernach durch Vereinbarung wieder einzuführen). Denn selbst diese Verständigung müsste wiederum eben diesen Satz voraussetzen. Der Satz „pacta sunt servanda“ konstituiert damit eine Bedingung der Möglichkeit, durch eine Verständigung zwischen den betreffenden Personen aus dem Naturzustand herauszukommen. Die Beachtung des Satzes ist zudem eine Voraussetzung dafür, nicht wieder in den Naturzustand zurückzufallen. Dies muss betont werden, weil man auf den Gedanken kommen könnte, die Geltung des Satzes sei gleichsam nur für eine erste Einigung zwischen den Personen vorauszusetzen und damit sei noch nicht ausgemacht, dass die Regel von nun ab generell und für alle weiteren zwischen den betreffenden Personen geschlossenen Vereinbarungen Gültigkeit beanspruchen könne. Dabei würde jedoch übersehen, dass die beiden Personen dem Naturzustand nur genau so lange entkommen sind, wie sie sich über alles, was geschehen soll, einig sind. Etwas ganz Entsprechendes wie für den Satz „pacta sunt servanda“ gilt auch für den Satz „neminem laede“. Dabei soll dieser Satz für den hier diskutierten 6
Vgl. etwa Dekretalen 1, 35, 1 summarium (Gregor IX). Vgl. Digesten 1, 1, 10, 1 (Ulpian): „Juris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“. Ebenso Inst. 1, 1, 3. 7
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7. Kap.: Kann es ein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit geben?
Zusammenhang über seinen reinen Wortlaut hinaus so verstanden werden, dass er es verbietet, gegen den Willen der jeweils anderen Person zu handeln. Eine davon zu unterscheidende Frage des Inhalts der Vereinbarung zwischen den betreffenden Personen ist es dann allerdings, welcher Wille der anderen Person überhaupt beachtlich sein soll, d.h. was die andere Person verlangen darf, wenn sie sich noch im Rahmen der hier vorausgesetzten Einigung halten will. Auf der 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit ist allein entscheidend, dass ein Einigsein jedenfalls nur dann möglich ist, wenn der Wille des jeweils anderen gewahrt bleibt. Da aber nun die Einigung zwischen den betreffenden Personen, die den Übergang vom Naturzustand zum Rechtszustand bewirkt, nicht als ein punktueller Akt, sondern als ein Kontinuum des Einigseins aufzufassen ist, bleibt auch der Satz „neminem laede“ stets verbindlich. Die beiden rechtsethischen Prinzipien „pacta sunt servanda“ und „neminem laede“ werden auf der 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit durch zwei weitere Regeln ergänzt. Die erste dieser beiden Regeln gestattet es, sich gegen rechtswidrige Übergriffe zu wehren. In der bekannten Formulierung Ulpians: „vim vi repellere licet“8, oder, wie man heute eher formulieren würde: „Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“9. Dies bedeutet, dass jedes unrechtmäßige, d.h. der wechselseitigen Vereinbarung widerstreitende, Verhalten einer Person zugleich ein Verstoß gegen das Prinzip „pacta sunt servanda“ und damit ein Rückfall in den Naturzustand ist. Diesen Rückfall zu verhindern, ist gerade der Sinn der Regel „vim vi repellere licet“. Wiederum ist auch diese Regel bereits eine Bedingung der Möglichkeit einer Einigung. Denn die mit einer Einigung verbundene Einräumung eines Rechts ist notwendig mit der Befugnis verbunden, es dem Verpflichteten gegenüber auch erzwingen zu dürfen. Anderenfalls gäbe es überhaupt kein Recht. Kant drückt diese Überlegung in der Metaphysik der Sitten folgendermaßen aus: „. . . wenn ein bestimmter Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d.i. recht; mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“10
Die zweite der beiden ergänzenden Regeln lautet „volenti non fit iniuria“11. Sie macht deutlich, dass von vornherein kein Verstoß gegen das Prinzip „nemi8
Digesten 43, 16, 1 § 27 a. A. (Ulpian unter Berufung auf Cassius). Vgl. etwa Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, Kommentar, 27. Aufl., München 2006, § 32 Rdn. 1. 10 Kant, Metaphysik der Sitten 1797, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 231. Vgl. auch S. 232: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei.“ 11 Digesten 47, 10, 1 § 5 a. E. (Ulpian). – Ausführlich dazu auch Ansgar Ohly, „Volenti non fit iniuria“. Die Einwilligung im Privatrecht, Tübingen 2002, passim, insbes. S. 63 ff. zu dem Satz als Gerechtigkeitsprinzip. 9
II. Drei Ebenen des Denkens über Gerechtigkeit
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nem laede“ gegeben sein kann, wenn z. B. die eine Person mit einem Eingriff in ihre Interessen einverstanden ist. Auch die Regel „volenti non fit iniuria“ gehört auf die l. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit. Denn auch sie ist eine Bedingung der Möglichkeit jeder Einigung, da man sie für jede Vereinbarung immer schon voraussetzen muss. Denn, wenn der Übergang vom Naturzustand zum Rechtszustand gerade darin besteht, dass man sich einigt, kann ein mit Einwilligung vorgenommener Eingriff nicht Unrecht sein. Dies heißt übrigens nicht, dass sich die betreffenden Personen nicht z. B. darauf verständigen könnten, dass bestimmte Rechtsgüter (etwa das Rechtsgut Leben) der Disposition des Einzelnen entzogen sind. Dies ist zumindest keine für die 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit relevante Frage. Denn es ist eine Frage der inhaltlichen Ausgestaltung dessen, was man im Rechtszustand wollen darf, und stellt dabei nicht den Grundsatz „volenti non fit iniuria“ als solchen in Frage. Denn auch die Festlegung, etwa das Rechtsgut Leben sei nicht disponibel, setzt eine Einigung der betreffenden Personen gerade hierüber voraus. Zu den bisher betrachteten Prinzipien kommt auf dieser 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit noch ein wichtiges Prinzip hinzu. Und zwar setzt eine jede Einigung zwischen zwei Personen notwendig einen wechselseitigen Zurechnungsakt voraus, der darin besteht, die jeweils andere Person als Person anzuerkennen. Zur Illustration kann das Beispiel Robinson Crusoe dienen. Solange Robinson sich nur mit seinem Hund auf der Insel befand, stellte sich die Frage einer „Einigung“ etwa über die Aufteilung der vorhandenen Nahrungsreserven gar nicht. Es stellte sich mithin auch die Frage eines Übergangs vom Naturzustand zum Rechtszustand nicht. Denn Robinson wäre kaum auf den Gedanken gekommen, es könnten andere Kriterien als solche der Über- bzw. Unterlegenheit für die Regelung seines Verhältnisses zu seinem Hund von Relevanz sein. Grundlegend gewandelt hatte sich die Lage jedoch, als Freitag auf die Insel kam. Denn Freitag war auch in den Augen Robinsons jemand, der grundsätzlich als Subjekt einer Verständigung über die Lösung eventueller Interessengegensätze in Betracht kam. Mag es auch zunächst so gewesen sein, dass Freitag sich dem Willen Robinsons einseitig unterwarf, und insofern von einem Rechtszustand im eigentlichen Sinne noch keine Rede sein konnte. Dies wohl vor allem deshalb, weil Freitag seinerseits Robinson auch nicht als seinesgleichen, sondern eher als einen allmächtigen Gott ansah. Andererseits aber war es Robinson klar, dass Freitag sich lediglich seiner Überlegenheit beugte, einer Überlegenheit, die allerdings nicht notwendig von Dauer sein musste. Im Unterschied zu Robinsons Hund war Freitag indes ein denkbarer Partner einer Einigung. Diese Erkenntnis nun involviert bereits den angesprochenen Zurechnungsakt. Dieser besteht darin, sein jeweiliges Gegenüber als jemanden anzusehen, der in prinzipieller Weise einem selbst gleich ist. Neben aller Unterschiedlichkeit der
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betreffenden Personen oder ihrer Situation im Übrigen liegt in einem solchen Zurechnungsakt jedenfalls ein Moment der Anerkennung von Gleichheit, und zwar gerade der Gleichheit, die die Subjektqualität des jeweiligen Gegenübers betrifft. Diese Annahme von Gleichheit in der Subjektqualität des betreffenden Gegenübers ist nun eine weitere Bedingung der Möglichkeit einer Einigung zwischen zwei Personen. Denn es ist schlechterdings unmöglich, sich mit einer anderen Person darüber zu einigen, sie sei ein Subjekt, mit dem man sich einigen könne. Und zwar gilt dies völlig unabhängig davon, welchen Inhalt die angestrebte Einigung auch immer haben mag. Dieses Prinzip der Gleichheit in der Subjektqualität hat nun zugleich eine wichtige Konsequenz für die Tragfähigkeit bestimmter Argumente im rechtsethischen Kontext. Es schneidet nämlich von vornherein die Möglichkeit ab, sich allein darauf zu berufen, man selbst sei ein Anderer als sein Gegenüber und man habe deshalb ein Recht zu einem bestimmten Verhalten. Es ist mithin ausgeschlossen, in einer rechtsethischen Diskussion eine Ausnahme für sich zu reklamieren, mit der alleinigen Begründung, ein Anderer zu sein. Eine Ausnahme oder eine Sonderregelung für sich kann man allenfalls dann beanspruchen, wenn man ein Argument anführt, das über die Behauptung, ein Anderer zu sein, substantiell hinausgeht, etwa indem man auf eine als rechtsethisch relevant behauptete Besonderheit der eigenen Person oder der eigenen Lage verweist. Damit ist schon auf der 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit klar, dass sich ein reiner Egoismus nicht als eine rechtsethische Position vertreten lässt. Denn Argumente wie „Gut ist, was mir nützt“ reklamieren inzident für die betreffende Person eine Ausnahme, die allein damit (scheinbar) begründet wird, dass diese Person eben ein Anderer ist. Durch die erläuterten Prinzipien „pacta sunt servanda“, „neminem laede“, „vim vi repellere licet“, „volenti non fit iniuria“ und das Prinzip der Gleichheit in der Subjektqualität wird die 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit konstituiert. Ohne die Anerkennung dieser Prinzipien ist eine gerechte Ordnung von vornherein undenkbar. Freilich ist eine Rechtsordnung, in der diese Prinzipien berücksichtigt sind, noch keineswegs eine in jeder Hinsicht gerechte Ordnung. Denn diese Prinzipien bezeichnen erst die Bedingungen der Möglichkeit einer gerechten Ordnung und es fehlt bisher noch an einer inhaltlichen Bestimmung des Gerechtigkeitsproblems. 2. Gerechter Ausgleich entgegengesetzter Willensziele (2. Ebene) Kehren wir zur Verdeutlichung der damit angesprochenen Problematik noch einmal gedanklich auf die Insel mit den beiden Schiffbrüchigen zurück. Bisher ist lediglich klar, dass sich ihnen eine qualitative Alternative zum Naturzustand dann und nur dann eröffnet, wenn beide bereit sind, die genannten Formprinzi-
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pien der 1. Ebene anzuerkennen. Wie der Rechtszustand inhaltlich gerecht auszugestalten ist, ist indes noch offen. Allerdings wird deutlich, dass die Antwort, die auf diese Frage zu geben sein wird, auf einer von der 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit prinzipiell unterschiedenen Ebene liegen muss, auf die jetzt näher einzugehen ist. Der Inhalt der Vereinbarung jener beiden Schiffbrüchigen wird zunächst nur davon bestimmt, was die beiden Personen wollen. Dabei ist die Übereinstimmung der Willen lediglich insoweit vom Inhalt abhängig, als gerade die Inhalte der beiden Willen kongruent sein müssen, ohne dass es – jedenfalls zunächst – darauf ankäme, um welchen konkreten Inhalt es sich jeweils handelt. Inhalt ihrer Verständigung ist dabei u. a. auch ein System der Bewertung von Gütern, auf die sich die Interessen der betreffenden Personen beziehen. Dies umfasst eine Hierarchie dieser Werte, wie man sie heute u. a. in einem Vorzug des Gutes Leben vor dem Gut Eigentum sehen würde. Freilich ließe sich – jedenfalls unter dem Aspekt der Gerechtigkeit – nicht dagegen argumentieren, wenn eine Gruppe von Personen eine andere Reihenfolge in der für sie maßgeblichen Werthierarchie festlegte. Dies scheint zu bedeuten, dass sich über den Inhalt der Willen nichts Allgemeingültiges aussagen ließe, jedenfalls nichts Allgemeingültiges, das für die Bildung eines Verständnisses von Gerechtigkeit nutzbar gemacht werden könnte. So ist es für die Frage des Gerechtigkeitsbegriffs in der Tat zunächst beliebig, worauf sich jene beiden Schiffbrüchigen nun tatsächlich einigen. Gesetzt den Fall, beide einigten sich darauf, dass die erste Person mit Ausnahme eines ganz kleinen Bereiches die gesamte Insel einschließlich der dort vorhandenen Ressourcen nutzen darf, während die zweite Person mit ihren Nutzungsrechten auf den kleinen restlichen Bereich der Insel beschränkt bliebe, so kann man – bei vorausgesetzter freier Willensbildung beider Personen – nicht sagen, dies sei ungerecht. Und zwar obwohl die vereinbarte Güterverteilung doch offenbar sehr ungleich ist. Nun ist es aber auch denkbar, und das dürfte sogar regelmäßig der Fall sein, dass sich die beiden Personen zunächst nicht einigen können. Für diese Fälle besteht offenbar ein Bedarf an Regeln, die Hinweise darauf geben, wie man sich so einigen könnte, dass beide Personen gerecht behandelt werden. Regeln, die dies leisten, sind nicht mehr Regeln der 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit. Es sind vielmehr Regeln auf einer anderen, inhaltlichen Ebene. Dabei sind allerdings zwei inhaltliche Ebenen auseinanderzuhalten, und zwar die hier so bezeichnete 2. und die 3. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit. Zunächst sei die 2. Ebene näher betrachtet. Hier geht es um Regeln, Argumente, Überlegungen, die eine Begrenzung der (zunächst) kollidierenden Willensziele auf der Grundlage der Gleichberechtigung der betreffenden Personen herbeiführen sollen. Als ungerecht wird hier ein Verhalten angesehen, das die unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung abgesteckten Grenzen der
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Interessensphären des Einzelnen überschreitet. Regeln, die in Bezug auf diese 2. Ebene formuliert werden, müssen – im Unterschied zu den Regeln der 1. Ebene – nicht von beiden Personen bereits vor ihrer Verständigung untereinander anerkannt werden. Von ihnen können die betreffenden Personen vielmehr auch abweichen, wenn und soweit sie sich darüber einig sind. Die Regeln, die in Bezug auf diese 2. Ebene Geltung beanspruchen, sind deshalb im Grunde nur Hinweise darauf, wie in einer Kollisionssituation ein Kompromiss, ein Ausgleich, gefunden werden kann, ohne dass die beiden Personen gerade zu diesem Kompromiss gezwungen wären. Falls sich hingegen die betreffenden Personen nicht auf andere Weise sollten einigen können, dann stecken die Regeln der 2. Ebene den Rahmen dessen ab, was die eine Person maximal von der anderen an Entgegenkommen verlangen kann. Es gibt nun eine ganze Reihe von Regeln, die auf einen gerechten Kompromiss zwischen den Interessen der als prinzipiell gleichberechtigt vorausgesetzten Personen hinwirken sollen. Diese Regeln können hier naheliegenderweise nicht sämtlich aufgezählt werden, es müssen einige Beispiele genügen. So ist etwa die Regel, man solle sich zum Zwecke einer Verständigung, zum Zwecke eines Kompromisses „auf der Mitte treffen“, gleichsam die Grundregel dieser 2. Ebene. Sie läuft darauf hinaus, die verfügbaren Güter gleichmäßig unter den betreffenden Personen aufzuteilen. Aber auch eine Regel wie „Der eine teilt, der andere wählt“12 hat Ähnliches im Auge. Sie zielt auf eine gleichmäßige Verteilung der relevanten Machtpositionen ab, um so darauf hinzuwirken, dass jedenfalls per saldo die Interessen der beteiligten Personen gleichberechtigt zum Zuge kommen. Um hier noch einmal auf die eingangs geschilderte Episode mit Lillebror und Karlsson zurückzukommen: Wenn beide sich darauf geeinigt haben, dass Karlsson als erster einen der beiden Bonbons nehmen darf, so ist – zumindest aus einer Perspektive der Gerechtigkeit – nichts dagegen einzuwenden, wenn er den größeren nimmt. Fein ist sein Verhalten deswegen noch lange nicht, jedenfalls aber nicht ungerecht. Auch die bekannte Regel „Qui prior est tempore, potior est jure“13, oder in der zum Sprichwort gewordenen deutschen Fassung „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“, verfolgt ähnliche Zwecke. Dieses Prioritätsprinzip zielt ebenfalls auf einen gerechten Interessenausgleich. Denn es gibt – jedenfalls grundsätzlich – beiden Personen die gleiche Chance zur Erlangung eines bestimmten Gutes. Wenngleich die Anwendung der Regel im Einzelfall auch dazu führt, dass diesmal nur die eine der beiden Personen begünstigt ist, und zwar diejenige, die die 12 Vgl. auch Andreas Wacke, „Der Jüngere stimmt zuerst – Der Ältere teilt, der Jüngere wählt“, JA 1981, S. 176 m. w. N. 13 Vgl. auch Andreas Wacke, „Wer zuerst kommt mahlt zuerst – Prior est tempore potior iure“, JA 1981, S. 94 ff. m. w. N.
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schnellere war, so bleibt doch der anderen Person die Möglichkeit erhalten, beim nächsten Mal schneller zu sein. Auf längere Sicht sind deshalb die Interessen der betreffenden Personen wieder ausgeglichen. 3. Ausgleich natürlicher Ungleichheiten (3. Ebene) Die Regeln der 2. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit sollen einen Ausgleich der Willensziele unter gleichberechtigten Personen erreichen. Demgegenüber geht es auf einer 3. Ebene um Überlegungen und Argumente, die sich auf einen Ausgleich der äußeren Gegebenheiten und der daraus erwachsenden relativen Bevorzugungen, respektive Benachteiligungen, der betreffenden Personen beziehen. Deutlich tritt dieser Unterschied zwischen der 2. und 3. Ebene hervor, wenn man in Abwandlung des Beispiels der beiden Schiffbrüchigen davon ausgeht, dass der eine Schiffbrüchige aus Gründen seiner körperlichen Konstitution zur lebenserhaltenden Nahrungsbeschaffung allein nicht fähig ist. Man könnte etwa daran denken, dass es notwendig ist, auf einen Baum zu klettern, um dessen nahrhafte Früchte zu erlangen, und die besagte Person sehr geschwächt und deshalb hierzu nicht in der Lage ist. Wird nun an den anderen Schiffbrüchigen, der die Nahrung durchaus für beide beschaffen könnte, die Forderung herangetragen, dem, der zu verhungern droht, zu helfen, dann liegt dieser Forderung nicht mehr der für die 2. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit bestimmende Gedanke einer gleichberechtigten Interessenbegrenzung zugrunde. Denn, wer dem einen der beiden Schiffbrüchigen zumutet, für den anderen mit zu sorgen, nimmt ihm etwas, das dieser nicht zu geben brauchte, hätte der andere Schiffbrüchige dieselben Fähigkeiten und Möglichkeiten wie er selbst. Ihm wird m. a. W. nicht nur – wie auf der 2. Ebene der Fall – zugemutet, den anderen nicht über die Grenze der auf der Basis von Gleichberechtigung abgesteckten Interessensphären hinaus durch Eingriffe zu belasten, es wird ihm vielmehr auf dieser 3. Ebene in bestimmten Fällen zugemutet, den anderen auf Kosten der eigenen Interessensphäre zu entlasten. Unter dem Aspekt allein der 2. Ebene liegt hierin eine Ungerechtigkeit gegenüber dem durch die Hilfspflicht Belasteten. Um diese Ungerechtigkeit auf der 3. Ebene wiederum zu rechtfertigen, bedarf es zusätzlicher Annahmen. So empfindet man es offenbar als ungerecht, dass mancher aufgrund bestimmter äußerer Umstände benachteiligt ist, ein anderer dagegen nicht. Wenn man daraus folgert, dass der Begünstigte dem Benachteiligten zu helfen habe, so denkt man dabei in gewisser Weise an eine aus der relativen Begünstigung folgende (Solidaritäts-)Pflicht, etwas von dem Glück, das man gehabt hat, zurückzugeben und einen Ausgleich hierfür zu schaffen. Der Ursprung für eine etwaige Ungerechtigkeit liegt deshalb auf der 3. Ebene nicht mehr – wie noch auf der 2. Ebene – im ungerechten, übermäßigen Wollen einer der beteiligten Personen,
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sondern in einer als ungerecht empfundenen Bevorzugung bzw. Benachteiligung durch Umstände, die außerhalb der willentlichen Beeinflussung durch eine der Personen liegen. Dabei mag dann fraglich sein, ob eine nach einem Ausgleich verlangende Ungerechtigkeit hinsichtlich der 3. Ebene auch dann gegeben ist, wenn man sich die relativen Vorteile durch eigenes Verdienst erworben hat. Es scheint viel dafür zu sprechen, dass man allenfalls unverdient empfangene Vorteile (und auch die nur teilweise) ausgleichen muss. So wie umgekehrt viel dafür spricht, dass nur dann eine Pflicht zur Hilfeleistung besteht, wenn der Hilfsbedürftige unverschuldet in Not geraten ist. Wie auch immer man hier im Einzelnen entscheiden mag, die Argumentation, die sich auf einen etwa durch Hilfeleistung zu erbringenden Ausgleich vorgegebener, äußerer Umstände bezieht, ist prinzipiell von einer Argumentation auf der 2. Ebene unterschieden, die eine Schlichtung des gerade auf den entgegengesetzten Willenszielen beruhenden Interessenkonflikts ins Auge fasst. Nicht von ungefähr war es deshalb lange Zeit durchaus umstritten, ob die hier als ein Thema der 3. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit angesprochenen Fragen überhaupt etwas mit Gerechtigkeit bzw. überhaupt etwas mit dem Recht zu tun haben. Es kann hier nur angedeutet werden, dass der aus der Naturrechtslehre überkommenen Differenzierung zwischen vollkommenen Pflichten, die dem Recht zuzurechnen seien, einerseits und den unvollkommenen Pflichten, die lediglich Gegenstand der Tugendlehre seien, andererseits ähnliche Überlegungen zugrunde liegen, wie sie hier für die Differenzierung zwischen der 2. und der 3. Ebene herangezogen werden. Eine Konsequenz dieser nicht zuletzt von Kant mit seiner Unterscheidung zwischen Rechtslehre und Tugendlehre fortgeführten Vorstellung war es bekanntlich, dass lange Zeit durchaus zweifelhaft war, ob insbesondere dem Strafrecht überhaupt eine Vorschrift über die allgemeine Pflicht zur gegenseitigen Hilfeleistung zumindest bei Unglücksfällen eingegliedert werden dürfe. Inzwischen ist man in vielen Strafrechtsordnungen zur Bejahung dieser Frage bereit (vgl. etwa § 323c StGB). Es liegt deshalb nahe, auch in der Frage der Hilfeleistungspflicht durchaus eine Frage der Gerechtigkeit zu sehen, die Frage allerdings eines gewandelten, genauer: eines erweiterten Gerechtigkeitsbegriffs. Zugleich hat sich damit auch die Grenze zwischen Recht und Moral verschoben, indem Forderungen, die ursprünglich nur als moralische Forderungen angesehen wurden, jetzt auch als Forderungen der Gerechtigkeit betrachtet werden. Wenn auf der 3. Ebene Gerechtigkeit für den Hilfebedürftigen verlangt wird, so ist ein solcher Ruf nach Gerechtigkeit offenkundig schwächer als die Forderung nach Gerechtigkeit auf der 2. Ebene. Denn der Vorwurf des Ungerechtbehandelt-Seins richtet sich auf der 3. Ebene primär gegen vorgegebene, äußere Umstände, nicht aber gegen die Willensbildung der je anderen Person. Hieraus wird verständlich, dass die benachteiligte Person nur in Ausnahmefällen ihre Lasten auf eine relativ besser gestellte Person abwälzen darf. Die Regel, einem
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anderen nach Kräften zu helfen, die z. B. Schopenhauer in der Formulierung „omnes, quantum potes, juva“14 neben dem Grundsatz „neminem laede“ zu einer Grundlage der Moral erklärt, ist deshalb nur eingeschränkt auch eine Regel der Gerechtigkeit. Denn allenfalls sehr erhebliche Ungerechtigkeiten werden auf der 3. Ebene ausgeglichen. Dem entspricht es, wenn die Vorschrift des § 34 StGB zum rechtfertigenden Notstand und der Sache nach auch die Vorschrift des § 323c StGB zur Hilfeleistungspflicht bei Unglücksfällen im deutschen Strafrecht eine Pflicht zur Aufopferung eigener Interessen nur dann aufstellen, wenn wesentlich höherwertige Interessen anderer Personen auf dem Spiele stehen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Differenz zwischen der 2. und der 3. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit jedenfalls nicht mit der überkommenen Unterscheidung von ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit identisch ist;15 vielmehr läuft die hier zugrunde gelegte Differenzierung eher quer zu jener Unterscheidung. Zwar gehören die Probleme ausgleichender Gerechtigkeit sämtlich auf die 2. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit. Überlegungen dagegen, die unter dem Stichwort der austeilenden Gerechtigkeit diskutiert werden, sind teilweise auf der 2. und teilweise auf der 3. Ebene angesiedelt. So wird beispielsweise die Frage einer Zuteilung öffentlicher Ämter nach der Fähigkeit der in Betracht kommenden Personen regelmäßig unter dem Stichwort der austeilenden, distributiven Gerechtigkeit diskutiert.16 Im Rahmen der hier vorgeschlagenen Einteilung gehört diese Frage auf die 2. Ebene, weil es Sinn und Zweck einer derartigen Regelung ist, einen Hinweis darauf zu geben, wie eine Ämterverteilung so erfolgen kann, dass die Interessen aller Beteiligten optimal gewahrt werden. Der Vorschlag, den Fähigsten in ein Amt zu berufen, etwa wenn zwei Personen dafür in Betracht kommen, zielt – jedenfalls der Idee nach – auf einen Interessenausgleich ab, auf den beide Personen aus wohlverstandenem Eigeninteresse sich sollten einigen können. Wenn demgegenüber – ebenfalls unter dem Stichwort der austeilenden Gerechtigkeit – die Frage aufgeworfen wird, ob man von einem körperlich schwächeren Menschen die gleiche Leistung erwarten darf wie von einem stärkeren, leistungsfähigeren Menschen, und insbesondere, ob eine allein an der erbrachten Leistung orientierte Entlohnung hier noch gerecht sei, so ist damit eine Frage aufgeworfen, die überhaupt erst auf der 3. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit sinnvoll gestellt werden 14 Vgl. Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, Zürcher Ausgabe, Bd. VI, § 7 f. 15 Zur Darstellung der auf Artistoteles, Nikomachische Ethik, 1130b ff., zurückgehenden Unterscheidung von ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit vgl. etwa Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., München 1994, § 16 II. 16 Vgl. Zippelius a. a. O. (ob. Fn. 15). Es geht hier nicht darum, die Einteilungsprinzipien von ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit zu kritisieren. An dieser Stelle ist nur wichtig zu zeigen, dass es sich dabei jedenfalls um einen anderen Differenzierungsgesichtspunkt handelt.
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7. Kap.: Kann es ein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit geben?
kann. Denn erst hier kann es darum gehen, ob und ggf. wie vorgegebene, hier: naturbedingte, Unterschiede gerechterweise auszugleichen sind.
III. Kritik allgemeiner Prinzipien der Gerechtigkeit anhand der entwickelten Systematik Die Unterteilung des Denkens über Gerechtigkeit in drei Ebenen kann nun dazu beitragen, Defizite, aber auch Stärken derjenigen Regeln präziser herauszustellen, die für sich in Anspruch nehmen, allgemeinverbindliche Prinzipien rechtsethisch richtigen Verhaltens zu sein. 1. Goldene Regel Eine Regel, die diesen Anspruch erhebt, ist die eingangs erwähnte Goldene Regel. Es sind dabei zwei Fassungen dieser Regel zu unterscheiden. Und zwar zum einen die sog. positive Fassung „Du sollst den anderen so behandeln, wie du willst, dass er dich behandelt“ und zum anderen die sog. negative Fassung in ihrer wohl bekanntesten, sprichwörtlich gewordenen Formulierung „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“17. Beide Fassungen der Goldenen Regel lassen ein wesentliches Element des Denkens über Gerechtigkeit unbeachtet. Und zwar lassen sie die Notwendigkeit außer acht, die in der Einigung zwischen den betreffenden Personen darüber besteht, was inhaltlich gewollt werden darf. Maßstab für eine gerechte Behandlung des anderen kann das, was man selbst gern hätte, nur dann sein, wenn man sich mit seinem jeweiligen Gegenüber einig ist, dass das, was man selbst gern hat, auch von diesem als positiv angesehen wird. Anderenfalls fordert etwa die positive Fassung der Goldenen Regel – beim Wort genommen – tatsächlich den Masochisten auf, andere Personen zu quälen. Und im Hinblick auf die negative Fassung würde die bekannte Kritik von Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten durchgreifen, wonach mit Hilfe der Goldenen Regel auch der Verbrecher gegen seinen strafenden Richter argumentieren könnte.18 Zu Recht wird deshalb gegen die Goldene Regel eingewandt, sie nehme lediglich auf die subjektiven Wünsche und Vorlieben des Einzelnen Bezug und führe daher zu untragbaren Konsequenzen. Selbst dann aber, wenn man einmal die Einigkeit der betreffenden Personen über die maßgeblichen Werte und deren 17 Zu den beiden Fassungen der Goldenen Regel vgl. schon Christian Thomasius, Fundamenta Juris Naturae et Gentium, 4. Aufl., Halle und Leipzig 1718 (Nachdruck Aalen 1963), Lib. I Cap. VI, §§ 41 u. 42. Weitere Hinweise zur Geschichte der Goldenen Regel bei Joachim Hruschka, „Die Goldene Regel in der Aufklärung – die Geschichte einer Idee“, Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), S. 157 ff. 18 Kant, a. a. O. (ob. Fn. 4), S. 430 Anm.
III. Kritik anhand der entwickelten Systematik
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Hierarchie voraussetzt, eine Einigkeit also, die – wie ausgeführt – für ein Denken über Gerechtigkeit auf der 2. und 3. Ebene erforderlich ist, führt die Goldene Regel im Hinblick auf Fragen, die ebenfalls auf der 2. und auf der 3. Ebene zu diskutieren sind, nicht weiter. So verlangt die beim Wort genommene positive Fassung der Goldenen Regel u. a., dass man alles das, was man selbst gern hat, letztlich dem anderen überlassen, respektive diesem aushändigen müsste. Soll die Regel freilich allgemein gelten, müsste sie der jeweils andere ebenso beherzigen. Das hätte zur Konsequenz, dass beide letztlich zugunsten des anderen auf alles verzichten müssten – ein offenbar absurdes Ergebnis. Ein Ergebnis, das im Übrigen zeigt, dass ein ganz konsequenter Altruismus gar nicht durchführbar ist. Denn gerade der strenge Altruist, der einem anderen etwas zukommen lassen will, muss voraussetzen, dass jener andere jedenfalls seinerseits kein strenger Altruist ist, sondern sich zumindest partiell egoistisch verhält, indem er durchaus auch etwas für sich haben will. Anderenfalls wäre das Vorhaben des Altruisten nämlich von vornherein unmöglich. Auch die negative Fassung der Goldenen Regel „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“ führt in vergleichbare Absurditäten. Gesetzt den Fall, es besteht zwischen zwei Personen Einigkeit über den Wert eines bestimmten Gutes, so liegt es in der Natur der Sache, dass – jedenfalls zunächst – beide es ganz für sich haben wollen, bzw. beide nicht wollen, dass der jeweils andere jenes Gut ganz oder auch nur teilweise bekommt. Nimmt man die Goldene Regel in ihrer negativen Fassung beim Wort, so würde sie sogar jeder der beiden Personen verbieten, einen Anspruch auf die Hälfte des hier als teilbar vorausgesetzten Gutes zu erheben. Vielmehr müssten beide vollständig auf das Gut verzichten. Denn, wenn man nicht will, dass einem der andere die Hälfte des als wertvoll betrachteten Gutes vorenthält, dann darf man sie der Goldenen Regel zufolge dem anderen auch nicht vorenthalten. Beim Wort genommen verhindert damit die Goldenen Regel eine durchaus sinnvolle und gerechte Teilung eines wertvollen Gutes zwischen zwei daran interessierten Personen. Wenn demnach die Goldene Regel auf der 2. und 3. Ebene letztlich nicht weiterhilft, so ist sie doch nicht vollkommen wertlos. Denn man kann ihr immerhin eine wesentliche Voraussetzung der 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit entnehmen, und zwar, was das Prinzip der Gleichheit in der Subjektqualität betrifft. Dieses Prinzip besagt – wie ausgeführt –, dass es zwischen zwei Personen von vornherein kein tragfähiges rechtsethisches Argument sein kann, sich – und sei es indirekt – darauf zu berufen, man selbst sei eine Ausnahme und man sei deshalb zu dem oder jenem Verhalten dem anderen gegenüber berechtigt. Die Goldene Regel bringt immerhin zum Ausdruck, dass die eigenen Interessen keinen Sonderstatus genießen, sondern dass die Interessen des jeweils anderen den eigenen prinzipiell gleichberechtigt gegenüberstehen. Denn wenn man die positive und die negative Fassung der Goldenen Regel zusam-
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7. Kap.: Kann es ein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit geben?
mennimmt, wird deutlich, dass es dieser Regel zufolge jedenfalls keinen rechtsethisch relevanten Unterschied ausmachen kann, ob man selbst etwas anderes will als der jeweils andere. Allerdings bleibt die so verstandene Goldene Regel immer noch im Allgemeinen stecken und gibt keinen Hinweis darauf, in welchen Fällen ein bestimmtes Vorhaben einer Person denn nun dadurch gekennzeichnet ist, dass es eine durch nichts gerechtfertigte Ausnahme gerade für die handelnde Person reklamiert. 2. Argument der Verallgemeinerung In diesem Punkt weiterzuführen, ist ein Anliegen des sog. Arguments der Verallgemeinerung. Diesem Argument zufolge ist ein Verhalten rechtsethisch dann nicht akzeptabel, wenn die Folgen davon, dass jeder dies Verhalten zeigte, negativ zu bewerten wären. Es findet sich in der Alltagsmoral in der Floskel „Was wäre wohl, wenn das jeder täte?!“ Mit Hilfe dieses Arguments etwa lässt sich recht gut zeigen, dass es ein allgemeines Tötungsverbot geben muss. Denn wenn jeder ungehindert einen anderen töten dürfte, wären die Folgen fraglos verheerend. Der durch das Argument verlangte Rekurs darauf, was wäre, wenn jeder die betreffende Handlung vornähme, also der Aspekt der Verallgemeinerung, gewährleistet, dass jedenfalls niemand eine Ausnahme gerade für sich beanspruchen kann, eine Ausnahme, die anderen in relevant gleicher Lage nicht zugestanden ist. Insofern bringt auch das Argument der Verallgemeinerung jenes für die 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit (mit-)konstitutive Prinzip der Gleichheit in der Subjektqualität zum Ausdruck. Es geht aber noch darüber hinaus, indem es eine durchaus inhaltliche Aussage dazu macht, in welchen Fällen ein Verstoß gegen dies Prinzip vorliegt, und zwar genau dann, wenn die Folgen, nähme jeder die Handlung vor, negativ zu bewerten wären. Aber gerade in Bezug auf diese inhaltlichen Fragen beginnen auch die Probleme des Arguments der Verallgemeinerung. Ähnlich wie die Goldene Regel führt es nämlich – beim Wort genommen – zu absurden Ergebnissen. So ist schon häufig eingewandt worden, das Argument der Verallgemeinerung müsse zu dem Verbot führen, z. B. den Beruf eines Schusters zu ergreifen.19 Denn täte dies jeder, wären die Folgen sicher unerfreulich, stünde dann doch niemand mehr für die sonstigen notwendigen Aufgaben in einer Gesellschaft zur Verfügung. Der amerikanische Moralphilosoph Marcus S. Singer hat deshalb vorgeschlagen, das Argument der Verallgemeinerung in solchen Fällen für unanwendbar zu erklären. Dies begründet er u. a. damit, dass das Argument sich in derartigen Fällen genauso gut umgekehrt verwenden lasse. Denn wenn niemand die Aufgaben eines Schusters übernähme, wären die Folgen zweifellos auch nicht gerade angenehm. Abgesehen davon, dass die Behauptung derartiger Ausnah19
Vgl. dazu Marcus G. Singer, a. a. O. (ob. Fn. 3), S. 97 m. w. N.
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men in der Anwendbarkeit die Allgemeingültigkeit eines Arguments bedenklich untergräbt, bleiben jedoch weitere Probleme bestehen. So muss man etwa fragen, ob es dann nicht jedenfalls verwerflich sei, z. B. ein professioneller Tennisspieler werden zu wollen. Denn dass dann, wenn jedermann ein Tennisprofi würde, die Konsequenzen für die Gesellschaft nicht eben erfreulich wären, liegt auf der Hand; aber sollte es deshalb verboten sein, ein Tennisprofi zu werden? Auch wird man hier keine Ausnahme in Bezug auf die Anwendbarkeit des Arguments im Sinne Singers machen können. Denn hieße dies doch, behaupten zu müssen, dass es verheerende Folgen für die Gesellschaft hätte, wenn niemand ein Tennisprofi würde. Dies Beispiel zeigt, dass das Argument der Verallgemeinerung u. a. daran krankt, auch dann Verbote auszusprechen, wenn gar keine Interessengegensätze zwischen den in Frage kommenden Personen bestehen, wenn m. a. W. von vornherein feststeht, dass es ohnehin nicht dazu kommen wird, dass jeder die betreffende Handlung – etwa Tennisprofi zu werden – vornimmt, und zwar deshalb, weil gar nicht jedermann Tag für Tag Tennis spielen will. Das Argument der Verallgemeinerung führt mithin gerade deshalb in bestimmten Fällen zu absurden Ergebnissen, weil es im Hinblick auf die 2. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit keinen sinnvollen Vorschlag für einen gerechten Interessenausgleich macht, sondern die rechtsethische Richtigkeit eines Verhaltens unabhängig von einer inhaltlichen Verständigung der beteiligten Personen zu bestimmen sucht. 3. Kategorischer Imperativ Kant hat mit dem Kategorischen Imperativ ein Rechts- und Moralprinzip entworfen, das ähnlich wie das Argument der Verallgemeinerung bei dem Gleichheitsprinzip der 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit ansetzt, indem es die Verallgemeinerbarkeit einer Handlung, bzw. genauer: die Verallgemeinerbarkeit der Maxime einer Handlung, zum Maßstab nimmt. Dabei kann an dieser Stelle nur auf die wohl bekannteste Formulierung des Kategorischen Imperativs eingegangen werden: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“20 Auch der Kategorische Imperativ gibt einen Hinweis darauf, wie man feststellen kann, ob ein bestimmtes Vorhaben letztlich darauf hinausläuft, für den Handelnden eine durch nichts zu rechtfertigende Ausnahme in Anspruch zu nehmen. Betrachten wir etwa jemanden, der beabsichtigt zu lügen. Er muss, will er mit seinem Plan, sein Gegenüber zu täuschen, Erfolg haben, voraussetzen, dass es ein allgemeines Gesetz gibt, wonach nicht gelogen werden darf, sondern die Wahrheit gesagt werden muss. Denn wenn das Lügen allgemein akzeptiert wäre, würde sich keiner von einer Lüge täuschen lassen. Von diesem Lügeverbot macht die be20
Kant, a. a. O. (ob. Fn. 4).
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7. Kap.: Kann es ein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit geben?
treffende Person gerade für sich und nur für sich eine durch nichts begründete Ausnahme. Nun liegt es aber im Begriff einer Ausnahme, dass sie nicht als ein allgemeines Gesetz taugt, weil sie dann keine Ausnahme, sondern die Regel wäre. In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass der Lügner gar nicht wollen kann, dass lügen zu dürfen ein allgemeines Gesetz wäre, weil er unter dieser Prämisse nicht mehr (erfolgreich) durch seine Lüge täuschen könnte. Ähnliches lässt sich etwa in Bezug auf den Plan eines Diebes sagen. Auch der Dieb beansprucht für sich eine Ausnahme von der Regel, wonach Eigentum geschützt ist. Denn er will ja seinerseits durchaus wie ein Eigentümer besitzen und entsprechenden Schutz genießen, muss also inzident die Geltung einer das Eigentum schützenden Regel, oder in Kants Worten: ein entsprechendes allgemeines Gesetz, voraussetzen, wenn sein Handeln überhaupt einen Sinn haben soll. Wieder liegt im Plan des Diebes ein Verstoß gegen das für die 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit (mit-)konstitutive rechtsethische Gleichheitsprinzip, indem der Dieb eine Ausnahme von der von ihm für die Durchführung seines Planes notwendig vorauszusetzenden allgemeinen Regel beansprucht. In diesem Sinne taugt seine Maxime von vornherein nicht zum allgemeinen Gesetz. Aber nicht nur das besagte Gleichheitsprinzip, sondern auch das ebenfalls für die 1. Ebene konstitutive Prinzip „neminem laede“ wird vom Kategorischen Imperativ gewahrt. So taugt eine Maxime, die den eigenen Willen über den des jeweils anderen setzt und die den schutzwürdigen Willen des anderen bricht, nicht als allgemeines Gesetz. Denn dann wäre der eigene Wille der betreffenden Person ebenso wenig geschützt wie der Wille desjenigen, dessen Wille gebrochen werden soll, und dies kann die betreffende Person schlechterdings nicht zugleich wollen. Entsprechendes lässt sich für das Prinzip „pacta sunt servanda“ zeigen. Obgleich sich mit Hilfe des Kategorischen Imperativs demnach die 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit recht präzise erfassen lässt, so treten doch auch bei diesem Prinzip Probleme auf, wenn man es auf die inhaltlichen Ebenen bezieht, für die es als universales Prinzip seiner Idee nach ebenfalls Anwendbarkeit beansprucht. Da es für die Anwendung des Kategorischen Imperativs – der kantischen Intention entsprechend – lediglich auf die Form der Maxime einer Handlung ankommen soll,21 nicht aber etwa auf die Folgen der betreffenden Handlung, respektive deren Bewertung, führt er stets dann zu einem Verbot, wenn jemand eine Ausnahme gerade für sich und sein Verhalten reklamiert. Dies selbst dann, wenn es durchaus im wohlverstandenen Interesse der beteiligten Personen liegen mag, dass eine solche Ausnahme gemacht wird.
21 Vgl. Kant etwa in der Kritik der Praktischen Vernunft 1788, Akad.-Ausg., Bd. 5, insbes. S. 27, 31.
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Auch der Kategorische Imperativ führt deshalb zu absurden Ergebnissen, weil er die 2. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit nicht in adäquater Weise berücksichtigt. Dazu das folgende Beispiel: Geht man einmal davon aus, dass es für eine funktionierende Wirtschaftsordnung erforderlich ist, dass einzelne Personen sog. Marktlücken erspähen und z. B. ihre Warenproduktion entsprechend einrichten. In Bezug auf die Überlegungen, die hier zur 2. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit angestellt worden sind, wird man – ggf. unter weiteren Voraussetzungen – durchaus von einer gerechten Ordnung sprechen können, die auf diesem Konzept beruht. Dies jedenfalls dann, wenn gewährleistet ist, dass prinzipiell jeder diesen Weg gehen könnte und dass per saldo alle von dieser Wirtschaftsordnung Vorteile haben. Gleichwohl verstößt die Form der Maxime einer Person, die eine derartige Marktlücke nutzen will, gegen den beim Wort genommenen Kategorischen Imperativ. Denn wer eine bestimmte Marktlücke auskundschaften und nutzen will, kann unmöglich zugleich wollen, dass es ein allgemeines Gesetz ist, Marktlücken zu nutzen. Denn wenn Marktlücken immer von allen genutzt würden, gäbe es gerade keine Marktlücken mehr, die genutzt werden könnten.22 Indem der Kategorische Imperativ mithin eine Maxime allein nach ihrer Form beurteilt, sie nur danach beurteilt, ob sie eine zur Regel ungeeignete Ausnahme darstellt, führt er auch dann zu Handlungsverboten, wenn es in Bezug auf die 2. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit durchaus für alle beteiligten Personen per saldo von Interesse ist, derartige Ausnahmen zuzulassen. 4. Prinzip des Utilitarismus Betrachtet sei schließlich die bekannte Formel des Utilitarismus, wonach es Sinn und Zweck gerechten Verhaltens sein soll, das „größte Glück der größten Zahl“ zu gewährleisten. Geht man einmal mit der Theorie des Utilitarismus von der durchaus – problematischen – Prämisse aus, Glück ließe sich gleichsam in Glückseinheiten messen und sei in diesem Sinne quantifizierbar, sowie von der weiteren Prämisse, in der Beförderung von Glück überhaupt liege das maßgebliche Kriterium für eine Bestimmung ethisch richtigen Verhaltens, so gibt die besagte Formel jedenfalls für die 2. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit eine durchaus akzeptable Regelung ab. Denn sie fordert inzident, dass die Interessen in der Weise gegeneinander abzugrenzen sind, dass im Prinzip jeder an den vor-
22 Hiergegen ist es auch kein durchgreifender Einwand, es gehe doch nur darum, ob es allgemein erlaubt sei, Marktlücken zu nutzen. Denn mit dieser Art von Interpretation des Kategorischen Imperativs ließen sich z. B. auch Notlügen rechtfertigen, indem man allein danach fragte, ob es ein allgemeines Gesetz geben könne, wonach es erlaubt sei, Notlügen zu verwenden. Denn weshalb sollte ein solches Gesetz denkunmöglich sein? Ein Ergebnis indes, das jedenfalls nicht mehr mit Kants Vorstellung einer Anwendung des Kategorischen Imperativs übereinstimmen würde (vgl. dazu auch noch 9. Kapitel).
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7. Kap.: Kann es ein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit geben?
handenen Gütern in gleicher Weise partizipieren kann. Um es wieder an dem Beispiel der beiden Schiffbrüchigen zu zeigen: Zwar mag es so sein, dass die Gesamtsumme des Glücks gleich ist, unabhängig davon, ob einer der beiden alle verfügbaren Güter besitzt und der andere keine oder fast keine, oder ob jedem die Hälfte jener Güter zur Verfügung steht. Doch wird dem zweiten Teil jener utilitaristischen Formel, die fordert, das Glück auf die größtmögliche Zahl von Personen zu verteilen, nur dann Genüge getan, wenn prinzipiell beide in gleicher Weise an den vorhandenen Gütern teilhaben. Auch für die 3. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit bietet die Formel des Utilitarismus eine Regelung. Das Problem besteht freilich gerade darin, dass – weil der Utilitarismus sich als eine universale Theorie behauptet – auf dieser 3. Ebene dieselben Maßstäbe gelten sollen wie auf der 2. Ebene. Ein strikt angewandter Utilitarismus würde deshalb auch für die Fragen, die auf der 3. Ebene zu stellen sind, Antworten implizieren, die auf eine völlige Nivellierung der Anteile der betreffenden Personen an den vorhandenen Gütern hinauslaufen. Zu kritisieren ist hier mithin, dass es dem reinen Prinzip des Utilitarismus nicht möglich ist, die 2. und die 3. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit auseinander zu halten, indem es nicht in der Lage ist, auf sie unterschiedliche Maßstäbe in Anwendung zu bringen. So hätte ein strikt durchgeführter Utilitarismus für das Strafrecht etwa zur Konsequenz, dass ein Notstandseingriff in die Interessen eines anderen nicht nur dann erlaubt werden müsste, wenn – wie § 34 des deutschen Strafgesetzbuches dies fordert – ein wesentliches Überwiegen des geschützten über das beeinträchtigte Interesse gegeben ist, sondern auch dann erlaubt sein müsste, wenn nur ein geringfügiges Überwiegen vorläge. Dies mag noch hinnehmen können, wer ohnehin der Auffassung ist, zwischen der 2. und der 3. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit dürften keine Wertungsunterschiede gemacht werden. Doch wird jene Formel des Utilitarismus vollends problematisch, wenn man die 1. Ebene in die Betrachtung einbezieht. Denn wenn die Maximierung von Glück den allein relevanten Maßstab für die Beurteilung von Handlungen abgeben soll, ist nicht gewährleistet, dass stets auch die Bedingungen der Möglichkeit von Gerechtigkeit überhaupt unangetastet bleiben. So ließen sich etwa die Übergriffe eines Sadisten gegenüber seinem Opfer unter Verstoß gegen das für die 1. Ebene (mit-)konstitutive Prinzip „neminem laede“ schon dann rechtfertigen, wenn das Vergnügen, also das Glück, des Sadisten ungleich höher zu veranschlagen wäre als das Leid, das Unglück, seines Opfers. Wer hier sagt, das Unglück des Opfers könne von vornherein und prinzipiell in der Summierung des Glücks vom Glücksempfinden des Sadisten niemals aufgewogen werden, hat schon eine andere (normative) Ebene der Überlegung betreten, die mit der ursprünglichen These des Utilitarismus nichts mehr zu tun hat. Damit wird nur bestätigt, dass der Utilitarismus in seiner reinen Form die 1. Ebene des Denkens über Gerechtigkeit vernachlässigt
III. Kritik anhand der entwickelten Systematik
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und deshalb teilweise zu ungerechten Ergebnissen führt, die der Ausschaltung durch modifizierende Zusatzannahmen bedürfen.23 Ergebnisse des 7. Kapitels 1. These Beim Denken über Gerechtigkeit sind (zumindest) drei Ebenen auseinander zu halten. 2. These Die genannten drei Ebenen unterscheiden sich wie folgt: Die 1. Ebene erfasst die Bedingungen der Möglichkeit, unter denen man überhaupt dem Naturzustand entkommen und in einen Rechtszustand gelangen kann. Die 2. Ebene betrifft die Regeln und Argumente, die auf einen Kompromiss zwischen den Willenszielen der betreffenden Personen unter der Voraussetzung von Gleichberechtigung hinwirken. Die 3. Ebene umfasst die Regeln und Argumente, die auf einen Ausgleich der als ungerecht empfundenen relativen Benachteiligungen bzw. Bevorzugungen der beteiligten Personen durch objektive, äußere Umstände abzielen. 3. These Keine der Regeln, die sich als universale Maßstäbe für gerechtes Handeln verstehen, also insbesondere die Goldene Regel, das Argument der Verallgemeinerung, der Kategorische Imperativ oder das Prinzip des Utilitarismus, berücksichtigen alle drei Ebenen in adäquater Weise. 4. These Jeder Versuch, alle drei Ebenen des Denkens über Gerechtigkeit mit Hilfe einer einzigen Formel angemessen in den Griff zu bekommen, muss scheitern, da die Gerechtigkeitsfrage auf den drei Ebenen unter einer je anderen Perspektive gestellt wird und daher auch einen jeweils anderen Kanon von Regeln erfordert. 23 Vgl. deshalb die Bemühungen, die Thesen des Utilitarismus etwa durch FairnessArgumente zu modifizieren, z. B. bei David Lyons, Grenzen der Nützlichkeit: Fairness-Argumente, in: Einführung in die utilitaristische Ethik, hrsg. von O. Höffe, München 1975, S. 163 ff. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Arbeit von Rainer W. Trapp, „Nicht klassischer Utilitarismus“. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1988, die sich mit der Aufgabe befasst, der Vernachlässigung von wichtigen Gerechtigkeitsforderungen im klassischen Utilitarismus durch die Entwicklung eines „Gerechtigkeitsutilitarismus (GU)“ Rechnung zu tragen; vgl. insbes. S. 27 ff., 54 ff. und 296 ff.
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7. Kap.: Kann es ein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit geben?
5. These Man wird daher nicht nach einer Formel für gerechtes Handeln zu suchen haben, sondern nach einem untereinander abgestimmten, ineinander greifenden Regelwerk, für das einige wesentliche Regeln im obigen Abschnitt II. angesprochen wurden.
8. Kapitel
Kann man die Zivilbevölkerung eines Staates im Krieg für das Handeln ihrer Staatsorgane verantwortlich machen? I. Kollateralschäden und Kollektivschuld Moderne Kriege werden zumindest de facto auch gegen die Zivilbevölkerung der miteinander verfeindeten Staaten geführt. Zwar gilt ein gezielter Angriff nur gegen die Zivilbevölkerung als Kriegsverbrechen, so dass insofern die Rechtslage eindeutig ist. Problematisch bleibt jedoch die Beurteilung der allenthalben für legitim gehaltenen, wenn auch zu vermeidenden, sog. Kollateralschäden, deren Rechtfertigung sich häufig wie eine Wiederkehr jener alten duplex-effectusLehre ausnimmt, die bekanntlich auf Thomas von Aquin zurückgeführt wird.1 Die Rechtfertigung sog. Kollateralschäden folgt dabei oftmals dieser Argumentationsstruktur: Zwar ist ihr Eintritt durchaus vorhersehbar, aber nicht gewollt, nicht beabsichtigt, sondern nur die Nebenwirkung einer durchaus legitimen Kriegshandlung, die eigentlich auf die Soldaten des Staates gezielt ist, gegen den Krieg geführt wird. Die Rechtfertigung erfolgt also strukturell ähnlich wie in den Fällen sog. indirekter Sterbehilfe, in denen der Arzt seinem Patienten ein Medikament verabreicht, das primär der Linderung schwerer Schmerzen dienen soll, aber durchaus das naheliegende Risiko einer Verkürzung des Lebens jenes Patienten in sich birgt. Obwohl hier der aktiv herbeigeführten Lebenszeitverkürzung kaum der Charakter einer Tötungshandlung abgesprochen werden kann und diese Tötungshandlung auch nicht durch eine Einwilligung des Patienten zu rechtfertigen ist, weil zumindest nach positivem Recht selbst die Tötung auf ausdrückliches Verlangen einer Person verboten und strafbar ist (vgl. § 216 StGB); obwohl also eine prima facie rechtswidrige Tötung vorliegt, hält eine auf die duplex-effectus-Lehre gestützte Auffassung das Verhalten des Arztes für legitim (und auch strafrechtlich gerechtfertigt). Dies deshalb, weil der Arzt etwas Gutes gewollt habe (nämlich die Schmerzlinderung) und die Tötung des Patienten nur eine nicht beabsichtigte Nebenfolge seines Handelns gewesen sei. 1 Näher dazu vgl. etwa Judith Bader, „Die Lehre von der Doppelwirkung und ihre Bedeutung für die Medizinethik“, in: Jan C. Joerden/J. N. Neumann (Hrsg.), Medizinethik 3, Frankfurt a. M. 2002, S. 35 ff. Zu Prägungen des aktuellen Strafrechts durch die duplex-effectus-Lehre vgl. auch Joerden, „Spuren der duplex-effectus-Lehre im aktuellen Strafrechtsdenken“, FS für Jakobs, Köln u. a. 2007, S. 235 ff.
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8. Kap.: Verantwortlichkeit der Zivilbevölkerung eines Staates im Krieg
Nun liegt die Sache bei den Kollateralschäden natürlich etwas anders, da man kaum wird behaupten können, dass für die Betroffenen etwas primär Gutes beabsichtigt war. Aber den Juristen ist schon länger – zumindest seit der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 – die Konstellation präsent, in der jemand sich gegen einen Angreifer wehrt und dabei versehentlich – auch – einen unbeteiligten Dritten trifft.2 Das Gesetzbuch von Kaiser Karl V. sah hier von Strafe für die – versehentliche – Tötung des Dritten ab, freilich ohne die duplex-effectus-Lehre ausdrücklich zu erwähnen; gleichwohl ist der strukturelle Zusammenhang mit ihr offensichtlich. Das wird auch dadurch deutlich, dass bereits Thomas von Aquin nicht den medizinethischen bzw. medizinrechtlichen Kontext im Auge hatte, als er jenes Argument verwendete, das als Quelle der Lehre von der Doppelwirkung gilt, sondern den Kontext der Notwehr.3 Allerdings gleichsam noch weiter zentriert auf die eigentliche Situation der Verteidigung gegen den Angreifer selbst. Das von Thomas diskutierte Problem war: Wie kann es mit dem uneingeschränkten Tötungsverbot des Dekalogs vereinbar sein, den Angreifer gegebenenfalls zu töten, wenn es denn nicht anders geht, um sich zu verteidigen? Wenn man hier zeigen kann, dass derjenige, der sich gegen einen Angriff verteidigt, eigentlich nur sein eigenes Leben retten will, und der Tod des Angreifers demgegenüber nur ein Nebeneffekt der Umsetzung dieser Absicht ist, dann wird der argumentative Nutzen der duplex-effectusLehre gerade für diesen Fall offenkundig. Die Tötung des Angreifers ist nunmehr erlaubt, weil sie nur ein gleichsam unbeabsichtigtes Nebenprodukt der grundsätzlich akzeptablen Absicht des Verteidigers darstellt, sein eigenes Leben zu erhalten. In diesem Sinne erleidet also nicht nur der unbeteiligte Dritte, sondern sogar der Angreifer selbst bloß einen „Kollateralschaden“, der als Nebenwirkung der beabsichtigten Selbstrettung des Angegriffenen interpretiert werden kann. Wenn man allerdings der Lehre von der Doppelwirkung nicht das Problemlösungspotential zuschreibt, das sie sich selbst zutraut, dann muss die Frage nach der Rechtfertigung von Kollateralschäden im Krieg offenbar ganz anders gestellt werden. Rechtfertigen ließen sich diese nun allenfalls dann, wenn man zeigen könnte, dass auch die Zivilbevölkerung in gewisser Hinsicht eine Mitverantwortung, eventuell sogar Mitschuld, für das trifft, was das Land, dem sie angehört, im Rahmen eines von diesem Land geführten Krieges tut oder zu tun
2 „So eyner inn rechter notweer eynen vnschuldigen wider seinen, des thätters willen entleibt. 145. Item so eyner inn eyner rechten bewisen notweer wider seinen willen eynen vnschuldigen mit stichen, streychen, würffen oder schiessen, so er den nöttiger meynt, treff vnd entleibt het, der ist auch von peinlicher straff entschuldigt“. – Zit. nach Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, 5. Aufl. des vormals von Gustav Radbruch herausgegebenen Werkes, Stuttgart 1980. 3 Vgl. Summa theologica, II-II, q. 64, art. 7.
II. Zurechnung kollektiver Verantwortlichkeit
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beabsichtigt. Es fragt sich m. a. W., ob und, wenn ja, wie weit die Zivilbevölkerung für das mithaftet, was in ihrem Namen das Kollektiv oder Repräsentanten dieses Kollektivs, also die Staatsorgane, mit Hilfe der von ihnen kommandierten Militärs, anrichten. Eine positive Antwort auf die Ausgangsfrage hätte dabei zwei Dimensionen. Denn es könnte jetzt die übliche Redeweise von der „unschuldigen Zivilbevölkerung“ zur Disposition stehen, zum einen mit der Konsequenz einer Rechtfertigung von Kollateralschäden mit dem Argument, die „unschuldige Zivilbevölkerung“ sei gar nicht so unschuldig, sondern habe vielmehr als „mitschuldig“ auch die Gegenschläge des Verteidigers zu ertragen; und zum anderen mit der Folge, dass auch die Zivilbevölkerung im Sinne einer Art von „Kollektivschuld“ für die Taten des Staates, dem sie angehört, verantwortlich zu machen wäre. Was dann natürlich nicht nur für die Zivilbevölkerung sogenannter Schurkenstaaten, sondern für die aller Staaten gelten würde. Damit ist die Problemstellung präzisiert: Ist die Verwendung des Ausdrucks „Kollektivschuld“ im vorliegenden Zusammenhang sinnvoll? Und, wenn ja, wieweit geht die Mithaftung des Einzelnen für die Taten des Kollektivs, etwa bei der Kriegsführung, und unter welchen Voraussetzungen ist eine solche Mithaftung plausibel zu machen? Nicht behandelt werden sollen dagegen die Fragen, ob das Führen von Kriegen überhaupt zu rechtfertigen ist, und – wenn man dies einmal voraussetzt – in welchen Fällen die Kriegsführung berechtigt ist und in welchen Fällen nicht. Insofern wird hier nur ein – allerdings zugegebenermaßen etwas naives – Verständnis vom verbotenen Angriffskrieg und vom grundsätzlich erlaubten Verteidigungskrieg vorausgesetzt, wohl wissend, dass die meisten modernen Kriege immer als Verteidigungskriege begonnen und geführt worden sind und sei es eben zum angeblichen Zweck der Präventivverteidigung.
II. Zurechnung kollektiver Verantwortlichkeit Bevor jedoch auf die Zurechnungsstrukturen in größeren Kollektiven wie denen des Staates zurückzukommen sein wird, ist es sinnvoll, zuerst nach der Zurechnung von Verantwortung in kleineren, überschaubaren Kollektiven zu fragen. Die kleinste als Kollektiv in Betracht kommende Einheit besteht dabei aus zwei Personen, die sich – um die Fragestellung zunächst auf einen strafrechtlichen Kontext zu beschränken – zur Begehung eines Delikts zusammengefunden haben. Wirken zwei Personen bei der Verwirklichung eines Deliktes zusammen, ist die strafrechtsdogmatische Figur der Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) einschlägig. Sinn und Zweck dieser Rechtsfigur ist es, die Zurechnung einzelner Tatbeiträge auch in Hinblick auf denjenigen der Mittäter zu ermöglichen, der sie selbst gar nicht erbracht hat. Dies aus der Erkenntnis heraus, dass das arbeitsteilige Zusammenwirken von zwei oder mehr Mittätern es diesen einerseits erleichtert, ein Delikt zu begehen, dies aber andererseits nicht dazu führen darf, dass die Mittäter gegenüber dem Alleintäter bei der Zurechnung besser stehen,
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8. Kap.: Verantwortlichkeit der Zivilbevölkerung eines Staates im Krieg
weil ihnen nur der von ihnen selbst bewirkte Anteil an der angelastet würde. Man kann diese wechselseitige Zurechnung wohl nur in der Weise begründen, dass man den Komplex der delnden Mittäter als ein Kollektiv auffasst, das gleichsam als Person handelt, eben als „Kollektivperson“.4
Deliktsbegehung von Tatbeiträgen arbeitsteilig hanein und dieselbe
Diese Kollektivperson lässt sich nun für alles das verantwortlich machen, was als Verhalten der Kollektivperson interpretiert werden kann; und das sind eben alle Tathandlungen der Einzelpersonen, die sich zu diesem Kollektiv verbunden haben. Die Verwendung der Zurechnungsfigur der Mittäterschaft hat dabei zumindest zwei Vorteile für den Rechtsanwender: Zum einen können Beweisschwierigkeiten überwunden werden, die zum Beispiel dann bestehen, wenn in einem Handgemenge, bei dem zwei Personen gemeinsam über das Opfer herfallen, nicht mehr aufklärbar ist, welche der beiden Personen letztlich das Opfer verletzt hat. Da ohnehin jeden der beiden Mittäter die volle Verantwortung für das trifft, was das Kollektiv ihrer Mittäterschaft angerichtet hat, bedarf es nur noch des Nachweises, dass die Verletzung des Opfers gleichsam aus der Mitte des Kollektivs herrührt. Zum anderen ist mit der Figur der Mittäterschaft klar, dass auch Teilleistungen einer Person innerhalb des Kollektivs zur vollen Verantwortlichkeit für das gesamte Delikt führen, indem jedem Mittäter das Verhalten auch des anderen Mittäters wie eigenes Verhalten zugerechnet wird. Wie so oft bei Rechtsfiguren ist indes deren Handhabbarkeit in der täglichen Rechtsanwendung erheblich einfacher als ihre theoretische Begründbarkeit. Denn es tauchen zumindest drei konstruktive Fragen auf: (1) Wie lässt es sich begründen, dass gleichsam jeder der Mittäter für den vollen Schaden haftbar gemacht wird, obwohl der Schaden doch nur einmal eingetreten ist? (2) Wie wird aus dem Einzelwillen der handelnden Personen das Wirken einer Kollektivperson, obwohl doch die Willensakte der Personen sich nicht miteinander vermischen, sondern letztlich vereinzelt bleiben? Und (3) Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit man von dem Vorhandensein einer solchen Kollektivperson und damit von Mittäterschaft ausgehen kann? Wobei insbesondere fraglich ist, ob neben dem arbeitsteiligen Handeln auch eine Art von Vereinbarung, ein gemeinsamer Tatentschluss, der Mittäter gegeben sein muss oder ob – wie Günther Jakobs dies formuliert hat – auch ein einseitiger „Einpassungsentschluss“ ausreicht.5
4 Vgl. Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, Berlin 1986, S. 78 ff. Kritisch dazu allerdings Urs Kindhäuser, „Handlungs- und normtheoretische Grundfragen der Mittäterschaft“, in: Joachim Bohnert et al. (Hrsg.), Verfassung-Philosophie-Kirche, Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geb., Berlin 2001, S. 627 ff. 5 Günther Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 2. Aufl. Berlin 1991, S. 618.
III. Zurechnungsprobleme beim Handeln und Unterlassen von Einzelpersonen 123
Diesen Fragen, die ohnehin nur einen Ausschnitt aus allen Problemstellungen der Mittäterschaft darstellen, kann hier allerdings nicht weiter nachgegangen werden. Das ist im vorliegenden Zusammenhang auch gar nicht erforderlich, weil klar geworden sein dürfte, dass jedenfalls die Zurechnungsfigur der Mittäterschaft erheblich zu eng ist, um die Frage zu lösen, die eingangs aufgeworfen wurde: Ob nämlich der Bürger eines Staates unter Umständen für das (mit-) verantwortlich gemacht werden kann, was von dem Staat auch im Namen seiner Bürger angerichtet wird. So kann schon von einem arbeitsteiligen Zusammenwirken des Bürgers mit seinem Staat kaum die Rede sein, geschweige denn von einem gemeinsamen Tatentschluss aller Bürger. Gleichwohl lässt sich aus der Zurechnungsfigur der Mittäterschaft eine Feststellung ableiten, die auch für die Frage einer möglichen Kollektivhaftung im staatlichen Kontext von Interesse ist: Offenbar bedarf es für die wechselseitige Zurechnung von Tathandlungen verschiedener Individuen des Konstrukts einer übergeordneten Einheit, die für die Rechtsfigur der Mittäterschaft als „Kollektivperson“ bezeichnet wurde. Erst über diesen Umweg kann man nunmehr die in dieser Kollektivperson miteinander verbundenen Individuen für das Verhalten der Kollektivperson und damit zugleich jeden für das Verhalten des jeweils anderen Mittäters verantwortlich machen. Allerdings gilt dies alles nur so weit, wie die Kollektivperson auch tatsächlich reicht. Das soll heißen, dass man nur insoweit von Mittäterschaft sprechen kann, als die individuellen Personen sich auch tatsächlich zu dieser Kollektivperson zusammen gefunden haben. Alles, was darüber hinausgeht, stellt einen Exzess dar, der nur dem Exzesstäter, aber nicht dem anderen Mittäter zuzurechnen ist. Haben daher etwa mehrere Täter einen gemeinsam durchzuführenden Diebstahl verabredet, bei dessen Durchführung der eine der Mittäter dann plötzlich und für die anderen Mittäter überraschend zusätzlich einen Mord begeht, so ist er dafür allein verantwortlich; die anderen Täter haften nur für den Diebstahl. Die Mithaftung reicht mithin immer nur so weit wie auch die Verabredung des Zusammenwirkens reicht.
III. Zurechnungsprobleme beim Handeln und Unterlassen von Einzelpersonen Nun gibt es aber auch im Strafrecht Fälle, bei denen man geneigt ist, von dieser Voraussetzung Abstriche zu machen und die handelnden Personen gleichsam als ein Kollektiv anzusehen, ohne dass diese Personen im engeren Sinne mittäterschaftlich handeln würden. Es sind dies die Fälle der so genannten alternativen Kausalität, von denen zunächst ein Fall aktiven Tuns herangezogen werden soll, um anschließend auf Fälle alternativer Kausalität bei Unterlassungsdelikten einzugehen, die dann auch den Zusammenhang mit dem Problem der Kollektivschuld im staatlichen Kontext ganz deutlich werden lassen. Doch
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8. Kap.: Verantwortlichkeit der Zivilbevölkerung eines Staates im Krieg
zunächst ein Beispiel für Fälle alternativer Kausalität bei Begehungsdelikten, also bei aktivem Tun der Täter.6 Schrotthändler S steht unter einem von einem Elektromagneten gehaltenen schweren Gewicht. In der Stromversorgungsleitung des Magneten liegen zwei Schalter in Reihe, die an unterschiedlichen Stellen des Schrottplatzes angebracht sind. Zwei voneinander unabhängige Personen P1 und P2 schalten gleichzeitig und ohne Wissen voneinander die beiden Schalter auf „aus“, um S zu töten. Sie haben Erfolg: S wird von dem schweren Gewicht erschlagen.
Das Zurechnungsproblem in diesem Fall besteht darin, dass man für eine vollständige Erklärung des Erfolgseintritts letztlich nur das Verhalten einer der beiden Personen braucht, das Verhalten der jeweils anderen Person ist dafür überflüssig. Denn es genügte für die Tötung des Schrotthändlers völlig, dass durch die Betätigung eines der beiden Schalter die Stromzufuhr des Magneten unterbrochen wurde. Allerdings gilt dies natürlich auch vice versa im Hinblick auf die jeweils andere Person. Diese Fälle einer Überdeterminierung des Kausalverlaufs stellen deshalb ein Zurechnungsproblem dar, weil von der Verursachung eines Ereignisses durch das Verhalten einer Person grundsätzlich nur dann sinnvoll die Rede sein kann, wenn das Verhalten dieser Person notwendige Bedingung (condicio sine qua non) dieses Ereignisses ist. Ist das Verhalten der Person zwar hinreichend zur Herbeiführung des Todes eines Opfers, nicht aber notwendig, ist es nicht sinnvoll, diese Person für den Tod des Opfers verantwortlich zu machen, wie etwa das folgende Beispiel zeigt: A injiziert dem B eine tödliche Dosis eines langsam wirkenden Giftes. Bevor das Gift jedoch gewirkt hat, wird der anscheinend wenig beliebte B von dem X erschossen.
A hat hier zwar eine hinreichende, nicht aber eine notwendige Bedingung für den Tod von B gesetzt, weshalb er sich allenfalls im Modus des Versuchs, jedenfalls aber nicht im Modus der Vollendung wegen eines Tötungsdelikts schuldig gemacht hat. Damit zeigt sich, wie prekär die Zurechnungsproblematik in jenem „Schrottplatzfall“ ist: Zwar ist der Schrotthändler tot, aber weder P1 noch P2 haben dafür eine notwendige Bedingung gesetzt, sofern man nur ihr je einzelnes Verhalten betrachtet. Die Konsequenz wäre, beide allenfalls wegen eines Totschlagsversuches bestrafen zu können. Die herrschende Meinung im strafrechtlichen Schrifttum7 sucht einen Ausweg aus dieser Lage, indem sie hervorhebt, dass zwar nicht das Verhalten jedes einzelnen der beiden Täter eine notwendige Bedingung für den Tod des Opfers S darstellte, aber durchaus der aus den Verhalten von P1 und P2 gebildete Bedingungskomplex für die Erklärung des Erfolgseintritts notwendig sei. Denn 6
Vgl. Joerden, a. a. O. (ob. Fn. 4), S. 152. Nachweise dazu vgl. bei Karl Lackner/Kristian Kühl, StGB, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 26. Aufl., München 2007, Vor § 13, Rdn. 11. 7
III. Zurechnungsprobleme beim Handeln und Unterlassen von Einzelpersonen 125
man kann aus einer vollständigen naturgesetzlichen Erklärung des Todes des Opfers zwar alternativ das Verhalten jeder der beiden handelnden Personen entfernen, da ja dann jeweils auf das Verhalten der anderen Person zur Erklärung des Erfolgseintrittes zurückgegriffen werden kann; nicht aber lässt sich das Verhalten beider Personen kumulativ aus der Erklärung des Erfolgseintritts weglassen. Leitet man nun aber aus diesem Befund die Konsequenz ab, dass beide Personen für den Tod des Opfers im Sinne einer Vollendung des Delikts verantwortlich sind, hat man die Zurechnung im Grunde von der individuellen Ebene auf eine kollektive Ebene gehoben, und das, ohne dass die Voraussetzungen von Mittäterschaft gegeben wären, da ja beide Personen vorausgesetztermaßen gerade nicht voneinander wissen und daher auch völlig unabhängig voneinander handeln. Dieser Sprung von einer auf die je einzelne Person bezogenen Zurechnungsebene auf die Ebene einer kollektiven Verantwortung, die dann anschließend wieder auf das Individuum gleichsam heruntergebrochen wird, macht diese Konstellation strukturell so interessant. Noch interessanter – weil in mancher Hinsicht lebensnäher als der zugegebenermaßen etwas konstruiert wirkende „Schrottplatzfall“ – ist die Lage dann, wenn man die Fälle alternativer Kausalität bei Unterlassungsdelikten in die Betrachtung einbezieht. Dazu möge die folgende Fallschilderung dienen, die Jürgen Rödig ersonnen hat:8 „In einem Wald befinden sich ein Wilderer und, einige hundert Meter von diesem entfernt, ein Philosoph. Plötzlich hören beide einen Mann um Hilfe schreien. Ein Waldarbeiter nämlich gab beim Fallen eines Baumes nicht acht. Er liegt jetzt unter dem Baum begraben. Die Säge ist zerstört, und der Baum ist so schwer, dass es der Anstrengung wenigstens zweier Männer bedarf, ihn zu heben. Der Wilderer eilt nicht herbei, weil er befürchtet, es könnten auch andere Leute an die Unglücksstelle kommen. Aber auch der Philosoph geht seines Weges. Er sinnt gerade über das Gute im Menschen und möchte seine Überlegungen nicht unterbrechen. Der Waldarbeiter ist nach einer halben Stunde tot. – Zur Rechenschaft gezogen, verteidigt sich der Philosoph wie folgt: Wäre er dem Ruf des Waldarbeiters gefolgt, so wäre der Waldarbeiter gleichwohl gestorben. Denn er, der Philosoph, habe allein den Baum nicht heben können. Der Wilderer, ebenfalls zur Rechenschaft gezogen, schließt sich der Argumentation des Philosophen an.“
Auch dies ist ein Fall sog. alternativer Kausalität, und zwar im Hinblick auf Unterlassungsdelikte, wobei man sich die Kausalitätsfrage bei Unterlassungsdelikten allerdings anders denken muss als beim aktiven Handeln bzw. beim Begehungsdelikt. Beim Unterlassen geht es jeweils um die Frage, ob der Pflichtadressat – hier der Adressat einer allgemeinen Hilfeleistungspflicht bei einem Unglücksfall (§ 323c StGB) – den Eintritt des schädigenden Erfolges – hier: 8 Jürgen Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, Heidelberg 1969, S. 136.
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8. Kap.: Verantwortlichkeit der Zivilbevölkerung eines Staates im Krieg
Tod des Waldarbeiters – durch eine von ihm vorzunehmende Rettungshandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte verhindern können (sog. hypothetische Kausalität). Ist das der Fall, kann man sagen, der Täter habe den Eintritt des Erfolges durch sein Unterlassen gleichsam „verursacht“. Das Problem des vorliegenden Falles ist es nun aber, dass weder der Philosoph noch der Wilderer jeweils allein den Tod des unter dem Baum liegenden Waldarbeiters hätten verhindern können. Denn der Baum war einfach zu schwer, als dass einer von beiden ihn allein hätte anheben können. Daher gilt das, was in allen Fällen alternativer Kausalität gilt: Für die Erklärung, weshalb es zu dem Tod des Waldarbeiters gekommen ist, genügt es völlig, das Unterlassen einer der beiden Personen (Philosoph bzw. Wilderer) in diese Erklärung aufzunehmen. Denn wenn auch nur eine der beiden Personen die Vornahme der ihr möglichen Rettungshandlung unterlässt, ist der Erfolgseintritt für die jeweils andere Person unvermeidlich; und das gilt auch wieder vice versa. Besonders deutlich wird dies, wenn man einmal davon ausgeht, dass der Wilderer sich definitiv entschieden hat, dem Waldarbeiter nicht zu helfen. Jetzt könnte der Philosoph noch so guten Willens sein, er könnte den Waldarbeiter – so wie der Fall ausgestaltet ist – gar nicht retten; und auch das gilt wieder umgekehrt, wenn der Philosoph sich gegen eine Rettung des Waldarbeiters entschieden hat. Damit steht man vor dem Problem, wen man für den Tod des Waldarbeiters verantwortlich machen kann. Dass es ein starkes Motiv dafür gibt, überhaupt jemanden von den beiden für den Tod des Waldarbeiters verantwortlich zu machen, ist klar, da ja vorausgesetztermaßen der Tod des Waldarbeiters durchaus vermeidbar gewesen wäre, wenn Philosoph und Wilderer zusammengearbeitet hätten. Wenn man demnach in diesem Fall Verantwortung zuschreiben will, dann ist taugliches Zuschreibungssubjekt letztlich nur das (gedanklich) aus Philosoph und Wilderer gebildete Kollektiv, dem man anlasten kann, dass es den Waldarbeiter nicht gerettet hat. Auf die einzelne Person herunterrechnen lässt sich diese Verantwortungszuschreibung aber im Grunde nicht, da ihre („einzelne“) Verantwortlichkeit von der Bereitschaft der jeweils anderen Person, auch mitzuhelfen, abhängig ist, wobei man sie für die fehlende Bereitschaft der jeweils anderen Person gerade nicht verantwortlich machen kann, da dies gar nicht in ihrer Entscheidungsmacht liegt. Strukturell ist die Lage damit ähnlich wie in den Fällen des (einfachen) Gefangenendilemmas, in denen es aus der Perspektive der je einzelnen Person jeweils unter rein egoistisch-rationalen Kriterien sinnvoll ist, nicht mit der anderen Person zu kooperieren, während eine gleichsam überindividuelle (kollektive) Rationalität den Weg zur Kooperation weist (vgl. dazu näher auch schon das 5. Kapitel). Im vorliegenden Fall gelingt die Zurechnung mit Blick allein auf das Individuum und seine Handlungsmöglichkeiten nicht, sondern nur, wenn man die gleichsam überindividuelle, auf die Handlungsmöglichkeiten des
IV. Zurechnungsprobleme bei Gremienentscheidungen
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Kollektivs gerichtete Perspektive einnimmt. Dabei ist allerdings durchaus noch offen, ob dies auch dazu führen kann, von der Verantwortlichkeit des Kollektivs für den Tod des Waldarbeiters auf die Verantwortlichkeit auch der Mitglieder dieses Kollektivs für diesen Erfolg zu schließen. Dies scheint sogar sehr problematisch,9 da anders als in den zuvor besprochenen Fällen einer Mittäterschaft im strafrechtlichen Sinn, für deren Vorliegen im Fall von Philosoph und Wilderer die Voraussetzungen einfach nicht gegeben sind, der Einzelne dem (gedachten) Kollektiv gerade nicht zurechenbar beigetreten ist und von ihm noch nicht einmal repräsentiert wird.
IV. Zurechnungsprobleme bei Gremienentscheidungen Was mit einer solchen Repräsentation gemeint sein kann, wird deutlicher, wenn man auf eine weitere Fallgestaltung übergeht, die im strafrechtlichen Schrifttum auch immer wieder im Kontext von Gruppen- bzw. Kollektivverantwortlichkeit diskutiert wird.10 Dabei geht es um die Zurechnung von Entscheidungen in Gremien, etwa in Gemeinderäten, die Beschlüsse gefasst haben, die nicht nur rechtswidrig sind, sondern auch (wirtschafts-)strafrechtliche Relevanz haben. Der Problemkreis ist vielgestaltig, und es können hier nur einige wenige Aspekte herausgegriffen werden. Für den vorliegenden Zusammenhang insbesondere von Interesse sind die Zurechnungsprobleme, die bei Mehrheitsentscheidungen entstehen. Dabei ist der Fall der Ein-Stimmen-Mehrheit noch der einfachste. Denn wenn die Entscheidung gerade mit der entscheidenden Stimme zustande gekommen ist, wird man alle die Mitglieder des Gremiums, die dafür gestimmt haben, für die Entscheidung verantwortlich machen können; die, die dagegen gestimmt haben, indes nicht. Schwieriger ist es schon bei den Enthaltungen, wenn man einmal davon ausgeht, dass derjenige, der sich enthalten hat, durch seine Gegenstimme die Entscheidung hätte verhindern können. Allerdings wird man dann im Regelfall sagen können, dass er jedenfalls durch Unterlassen für das Ergebnis verantwortlich ist (jedenfalls dann, wenn man eine entsprechende Rechtspflicht zur Verhinderung der betreffenden Beschlussfassung voraussetzt). Sehr problematisch wird es in den Fällen der Gremienentscheidung allerdings wieder in den Konstellationen der Überdeterminierung bzw. alternativen Kausalität, die hier zumindest in zwei Fallvarianten vorkommen kann. Zum einen ist der Fall relevant, in dem eine mehr als Ein-Stimmen-Mehrheit zustande gekommen ist, also etwa das Gremium sich mit deutlicher Mehrheit für eine Sa9
Vgl. näher dazu Joerden, a. a. O. (ob. Fn. 4), S. 154. Ausführlich z. B. Christoph Knauer, Die Kollegialentscheidung im Strafrecht, 2001; Alexander Schaal, Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen im Unternehmen, Berlin 2001. 10
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8. Kap.: Verantwortlichkeit der Zivilbevölkerung eines Staates im Krieg
che ausgesprochen hat, während die einfache Mehrheit genügt hätte. Betrachtet man hier nur das einzelne Gremiumsmitglied, das für den Beschluss gestimmt hat, so wird man ihm nicht vorhalten können, dass es das Zustandekommen des Beschlusses doch hätte verhindern können, indem es nicht mit „Ja“ gestimmt hätte. Denn eine Ja-Stimme weniger hätte an dem Beschluss gerade nichts geändert. Das gilt nun aber im Hinblick auf alle Ja-Stimmen, sofern man sie je einzeln betrachtet. Nur gleichsam das Kollektiv der Ja-Stimmen ist verantwortlich für den Beschluss, aber das Herunterrechnen auf die einzelne Ja-Stimme ist wieder nicht ohne weiteres möglich. Auch wird man hier kaum mit der Zurechnungsfigur der Mittäterschaft weiterkommen, da es dafür im Regelfall an den erforderlichen Voraussetzungen, insbesondere dem gemeinsamen Tatentschluss, fehlt. Allenfalls dann, wenn vorher eine Verabredung, z. B. innerhalb einer Fraktion, stattgefunden hat, gemeinsam mit „Ja“ zu stimmen, mag das anders sein. Bei einer geheimen Abstimmung, in der es keine Vorabsprachen gab, ist Mittäterschaft der mit „Ja“ Stimmenden jedoch schwerlich gegeben. Noch weniger ist dies bei denjenigen anzunehmen, die sich bei der Abstimmung der Stimme enthalten haben, es sei denn, dies wäre ausnahmsweise vorher verabredet worden. Nimmt man hier einmal eine Konstellation an, in der es für eine Abwendung des Abstimmungsergebnisses nicht ausgereicht hätte, wenn nur einer der Sich-Enthaltenden mit „Nein“ gestimmt hätte, so entsteht wiederum eine Konstellation alternativer Kausalität. Denn hier kann man dem Einzelnen, der sich enthalten hat, nicht vorwerfen, dass er nicht durch eine „Nein“Stimme das Abstimmungsergebnis verhindert habe. Denn ein geändertes Abstimmungsverhalten von ihm allein hätte an dem Abstimmungsergebnis gerade nichts geändert. Nur die Änderung des Abstimmungsverhaltens durch eine hinreichend große Anzahl aus dem Kollektiv der Sich-Enthaltenden hätte ein anderes Abstimmungsergebnis bewirken können. Damit steht man wieder vor dem Problem, dass man zwar dem Kollektiv gleichsam einen kollektiven Vorwurf machen kann, nicht aber diesen Vorwurf ohne Weiteres auf den einzelnen Abstimmenden herunterrechnen darf.
V. Kollektive Verantwortlichkeit der Bürger im Staat? Damit kann jetzt wieder die Ausgangsfrage in den Blick genommen werden, indem die Problematik auf die staatliche Ebene übertragen wird. Angesichts der allgemeinen Zurechnungsstrukturen wird man der übergroßen Mehrzahl der Bevölkerung eines Staates nicht unmittelbar vorwerfen können, was Staatsorgane in ihrem Namen anderen Staaten gegenüber an Unheil anrichten, da die Bürger dies nicht selbst tun. Dies wohl auch nicht einmal dann, wenn sie in einer Demokratie zunächst für die betreffende Regierung gestimmt haben, die nun zu unrechtmäßigen (z. B. völkerrechtswidrigen) Maßnahmen greift. Nur diejenigen, die aktiv mithelfen bei der Durchführung der Untaten des Regimes, sind direkt
V. Kollektive Verantwortlichkeit der Bürger im Staat?
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für den angerichteten Schaden verantwortlich und sind zu Recht mögliche Adressaten von Gegenmaßnahmen, wobei allerdings auch das nur vorbehaltlich eventuell eingreifender zusätzlicher Umstände gelten kann. Was aber ließe sich den sog. Mitläufern eines Regimes oder auch der „unschuldigen“ Zivilbevölkerung vorwerfen? Wobei einmal um des Arguments willen vorausgesetzt sei, dass es sich dabei nur um Personen handelt, die für ihr Verhalten grundsätzlich voll verantwortlich sind (also gerade nicht um Kinder usw.). Man könnte ihnen allenfalls vorwerfen, nichts gegen das Regime im eigenen Staat getan zu haben. Das aber ist nur plausibel im Hinblick auf die Einbeziehung mehrerer, wenn nicht sogar vieler Personen: Alleine wird man gegen ein staatliches Regime kaum jemals etwas ausrichten können. Und schon ist man wieder in dem argumentativen Dilemma, dass man zwar einerseits dem Kollektiv der Bevölkerung durchaus vorwerfen kann, nichts gegen das Regime und dessen Taten getan zu haben, andererseits aber diese Schuld des Kollektivs nicht ohne Weiteres auf den einzelnen Bürger herunterrechnen kann (vgl. obige Abschnitte III. und IV.). Es fragt sich deshalb, ob es gleichsam ein Maß dafür gibt, wann man eine Person für die dem Kollektiv zurechenbare Verantwortung auch individuell haftbar machen kann. Anscheinend ist dieses Maß in dem Grad der Freiwilligkeit zu sehen, mit dem das Individuum dem Kollektiv angehört. Je größer dieser Freiwilligkeitsgrad ist, desto eher oder desto stärker haftet das Individuum sekundär für das mit, was primär nur dem Kollektiv zugerechnet werden kann. Um es an den drei hier in erster Linie besprochenen Konstellationen zu zeigen: Der stärkste Grad von Freiwilligkeit einer Bindung an das Kollektiv ist offenbar in den Fällen der strafrechtlichen Zurechnungsfigur der Mittäterschaft gegeben. Hier sind es die Einzelpersonen selbst, die das Kollektiv wollen und es für ihre Zwecke einsetzen. Es erscheint deshalb plausibel, sie für alles das mithaften zu lassen, was das Kollektiv anrichtet. Dies hat indes seine klaren Grenzen – entgegen der herrschenden Meinung im strafrechtlichen Schrifttum auch in den Fällen alternativer Kausalität – dort, wo gerade kein gemeinsamer Tatentschluss das Kollektiv begründet hat. Einen Grenzfall bildet demgegenüber die Konstellation der Entscheidung in Gremien. Denn dem Gremium gehört dessen Mitglied in aller Regel freiwillig an. Es hat die jederzeitige Möglichkeit, sich einer Abstimmung zu entziehen, etwa indem es sein Amt niederlegt und aus dem Gremium ausscheidet. Auch in den Fällen, in denen man nicht sagen kann, dass zwischen den Abstimmenden eine mittäterschaftliche Verbindung besteht, begibt sich das Mitglied des Gremiums doch gewissermaßen freiwillig in die Gefahr der Mithaftung für die Beschlüsse des Gremiums und ist zumindest bei Abgabe einer Ja-Stimme, aber wohl auch einer Enthaltung, für die Beschlüsse des Gremiums und deren Folgen (mit-)verantwortlich.
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8. Kap.: Verantwortlichkeit der Zivilbevölkerung eines Staates im Krieg
Dies ist auf der Ebene des Staates anders. Einem Staat gehört man nicht in der Weise freiwillig an wie einem Beschlussgremium. Man wird zumindest in aller Regel in die Staatsbürgerschaft hineingeboren und hat auch selten einen nur annähernd vergleichbaren Einfluss auf das staatliche Gebaren wie im Fall des Gremiums. Zudem sind die Möglichkeiten zum Ausstieg aus der staatlichen Gemeinschaft beschränkt. Es bleibt daher durchaus eine Schuld des Kollektivs der Bürger insgesamt bestehen, wenn sie sich nicht gegen das eigene staatliche Regime, sofern es Unrecht tut, zur Wehr setzen, doch lässt sich diese Kollektivschuld nicht auf den einzelnen Bürger herunterrechnen. Eine Rechtfertigung für die Herbeiführung vorhersehbarer Kollateralschäden gibt der Aspekt der Mithaftung der Bürger für das Verhalten ihres Staates also keinesfalls her. Ob man die Verursachung sog. Kollateralschäden im Hinblick auf andere Gesichtspunkte wenigstens entschuldigen kann, muss an dieser Stelle offen bleiben.
Ergebnisse des 8. Kapitels 1. These Sofern man die Herbeiführung sog. Kollateralschäden in einem (Verteidigungs-)Krieg nicht bereits unter dem Einfluss der duplex-effectus-Lehre für akzeptabel hält, muss man nach einer Rechtfertigung fragen, die sich möglicherweise aus der kollektiven Verantwortlichkeit („Kollektivschuld“) eines Volkes für das (Angriffs-)Verhalten seiner Staatsorgane ableiten lässt. 2. These Die gleichsam kleinste Einheit kollektiver Verantwortlichkeit ist mit der strafrechtlichen Mittäterschaft gegeben. Jenseits dieser Figur gibt es im Rahmen sog. alternativer Kausalität die Versuchung, einer kollektiven Verantwortlichkeit das Wort zu reden, ohne dass dafür jedoch die strukturellen Voraussetzungen gegeben wären. 3. These Ähnliche Probleme bei der Zurechnung von Verantwortlichkeit ergeben sich im Rahmen sog. Gremienentscheidungen. Auch hier geht es darum, welches Abstimmungsverhalten als ursächlich für einen Erfolgseintritt angesehen werden kann und wieweit hier der Einzelne mit seiner Entscheidung für das Kollektiv mithaftet. 4. These Maßgebliches Kriterium für die Frage, bei welchem Kollektiv die Zurechnung nicht nur das Kollektiv, sondern auch die einzelne an diesem Kollektiv
V. Kollektive Verantwortlichkeit der Bürger im Staat?
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beteiligte Person erfasst, dürfte der Grad der Freiwilligkeit sein, mit dem die betreffende Person dem Kollektiv angehört. 5. These Am stärksten ausgeprägt ist dieser Grad der Freiwilligkeit bei der (strafrechtlichen) Mittäterschaft; bei Entscheidungen eines Gremiums ist zu berücksichtigen, dass das jeweilige Mitglied das Gremium (in aller Regel) jederzeit verlassen könnte. Im Staat ist der Freiwilligkeitsgrad, mit dem man diesem angehört, relativ am geringsten, da man in aller Regel weder in den Staat freiwillig hineingerät noch ihn ohne weiteres freiwillig wieder verlassen kann. Die Möglichkeit einer „Herunterrechnung“ möglicher Kollektivschuld einer Bevölkerung auf den einzelnen Bürger begegnet daher im Staat den größten Bedenken. Eine etwa daran anknüpfende (rechtliche) Mithaftung des Bürgers für die Untaten der Regierung des betreffenden Staates und eine daraus abgeleitete Rechtfertigung der den zivilen Bürger treffenden „Kollateralschäden“ ist daher nicht begründbar.
9. Kapitel
Darf der Staat unter bestimmten Umständen das Mittel der Folter einsetzen? Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass kein Repräsentant eines Staates, erst recht keines Rechtsstaates, das Mittel der Folter einsetzen darf, um ein Ziel zu erreichen – und sei dieses Ziel noch so positiv zu bewerten. Denn der Zweck heiligt nicht die Mittel, schon gar nicht, wenn diese Mittel so abscheulich sind wie die Anwendung von Folter. Dies spricht für die Begründung eines absoluten Folterverbotes. Bevor der Frage nachgegangen werden soll, ob ein solches Verbot nicht eventuell doch der Relativierung bedarf, insbesondere dann, wenn mit der Anwendung der Folter die Rettung von Personen verfolgt wird, soll zunächst ein recht bekanntes Beispiel für die Begründung eines absoluten Verbotes näher betrachtet werden, wie es Kant in seinem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797)1 diskutiert hat.
I. Kants Begründung für ein absolutes Lügeverbot 1. Der Beispielsfall von Constant „,Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat‘“.2 Vor allem gegen diesen Satz, den er einer erkennbar gegen ihn gerichteten Schrift von Benjamin Constant entnimmt,3 wendet sich Kant in seinem soeben genannten Aufsatz. Nach einer eher kleinlichen Zurechtweisung des Autors jenes Satzes, dass es hier nicht um die Wahrheit, sondern allenfalls um die „Wahrhaftigkeit (veracitas)“ gehen könne, argumentiert Kant, Constant habe nicht berücksichtigt, dass es „formale Pflicht des Menschen gegen Jeden“ sei, (auch) „in Aussagen, die man nicht umgehen kann“, wahrhaftig zu sein.4 Kant greift dabei das Fallbeispiel auf, dessen Urheberschaft ihm von Constant unterstellt wurde, was Kant als möglich einräumt.5
1 Immanuel Kant, Akad.-Ausg., Bd. 8, S. 425 ff. – Weiterführende Beiträge zu diesem Aufsatz Kants vgl. insbesondere in: Georg Geismann/Hariolf Oberer (Hrsg.), Kant und das Recht der Lüge, Würzburg 1986. 2 Vgl. Kant, a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 425. 3 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kant, a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 425 ff. 4 Kant, ibid., S. 426.
I. Kants Begründung für ein absolutes Lügeverbot
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Constant hatte dieses Fallbeispiel als Behauptung Kants formuliert, „daß die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde.“6 Kant bekräftigt nunmehr dieses Beurteilungsergebnis, indem er betont, dass man dann, wenn man diesem Mörder7 gegenüber unwahrhaftig sei, es bewirke, „daß Aussagen (Declarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird.“8 2. Zwischen Notwehr und Notstand Wohlmeinende Interpreten könnten die These vertreten, Kant habe hier schlicht die Möglichkeit übersehen, dass eine Rechtfertigung des auf die Frage des Mörders mit einer Lüge Antwortenden durch den Gedanken der Notwehrhilfe möglich sei. Diese Erklärung für Kants (dann allerdings verfehlte) These scheint indes wenig plausibel. Denn Kant kennt natürlich die Rechtsfigur der Notwehr. Zum einen wird sie von ihm insbesondere im Rahmen jener berühmten Stelle in der Metaphysik der Sitten in Bezug genommen, an der sich Kant mit der Frage eines Notstandsrechts auseinandersetzt, wobei er dieses (als Recht) bekanntlich ablehnt,9 wenn es dort heißt: „. . . denn es ist hier nicht von einem ungerechten Angreifer auf mein Leben, dem ich durch die Beraubung des seinen zuvorkomme (ius inculpatae tutelae), die Rede, wo die Anempfehlung der Mäßigung (moderamen) nicht einmal zum Recht, son-
5 Vgl. Kant, ibid., S. 425 (Fußnote): „Daß dieses wirklich an irgend einer Stelle, deren ich mich aber jetzt nicht mehr besinnen kann, von mir gesagt worden, gestehe ich hiedurch“; vgl. auch die aus demselben Jahr stammende Passage in der Tugendlehre, die allerdings einen Fall mit etwas anderer Struktur diskutiert und auf die sich Constants Aufsatz, der im Original schon im Mai 1796 erschien (vgl. Heinrich Maier, Anm. zu Akad.-Ausg. Bd. 8), nicht bezogen haben kann: Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 429 ff.; siehe dazu auch noch unten. 6 Vgl. Kant, a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 425. 7 Es sei mit Kant hier davon abgesehen, dass der Fragende natürlich noch nicht Mörder ist, wenn er fragt, sondern nur einen Mord an dem plant, den er sucht. 8 Kant, ibid., S. 426. 9 Kant, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 235 f.; zu dieser Passage näher: Alexander Aichele, „Was ist und wozu taugt das Brett des Karneades?“, JRE 11 (2003), 245 ff.; Joachim Hruschka, „Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe: Das Brett des Karneades bei Gentz und Kant“, Goltdammers’s Archiv 138 (1991), 1 ff.; Jan C. Joerden, „Das Notrecht“, Juristische Schulung 37 (1997), 725 ff.; Heinz Koriath, „Über rechtsfreie Räume in der Strafrechtsdogmatik“, JRE 11 (2003), 317 ff.; Wilfried Küper, Immanuel Kant und das Brett des Karneades, Heidelberg 1999, S. 29 ff.; Michael Pawlik, „Eine Theorie des entschuldigenden Notstandes: Rechtsphilosophische Grundlagen und dogmatische Ausgestaltung“, JRE 11 (2003), 287 ff.; Joachim Renzikowski, „Entschuldigung im Notstand“, JRE 11 (2003), 269 ff., jeweils m. w. N. Dort jeweils auch nähere Erläuterungen zum Unterschied zwischen Notstandsrecht und Notwehrrecht.
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
dern zur Ethik gehört, sondern von einer erlaubten Gewaltthätigkeit gegen den, der keine gegen mich ausübte“.10
Das ius inculpatae tutelae, also das „Recht des unschuldigen Schutzes“, ist gerade das Notwehrrecht, dessen Berechtigung Kant bei seiner Diskussion des Notstandsrechts – von ihm kurz als „Nothrecht (Ius necessitatis)“ bezeichnet – offensichtlich nicht in Zweifel gezogen wissen will. Zum anderen wird man die ebenfalls in der Metaphysik der Sitten aufgestellte These Kants „Das Recht ist mit der Befugniß zu zwingen verbunden“11 (zumindest auch) als Anerkennung des Notwehrrechts interpretieren können, wenngleich an dieser Stelle eher allgemein von der Durchsetzung des Rechts die Rede ist, wenn es heißt: „Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen. Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen: der Zwang aber ist ein Hinderniß oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als V e r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s d e r F r e i h e i t mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d. i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugniß, den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“
Denn diese Passage bedeutet zumindest auch, dass demjenigen, der der Freiheitsordnung durch seinen rechtswidrigen Angriff ein „Hinderniß“ entgegensetzt, rechtmäßigerweise seinerseits ein „Hinderniß“ entgegengesetzt werden darf,12 durch welches die Freiheitsordnung wiederum in ihr Recht eingesetzt wird. Aber nicht nur an diesen beiden Stellen in der Metaphysik der Sitten anerkennt Kant die Berechtigung des Notwehrrechts,13 sondern inzidenter auch in dem hier näher betrachteten Artikel Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen. Denn Kant konzidiert mit Blick auf jenes Beispiel des Mörders durchaus, dass
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Kant, ibid., S. 235. Kant, ibid., S. 231. 12 Ob man – im Zusammenhang mit anderen Passagen in Kants Werk – so weit gehen kann, sogar eine von Kant geforderte generelle Pflicht zur Notwehrausübung anzunehmen, wie Hruschka dies erwägt (vgl. „Die Notwehr im Zusammenhang von Kants Rechtslehre“, ZStW 115 [2003], 201 ff.), mag hier dahinstehen, da dies jedenfalls an einem Notwehrrecht nichts ändern würde. Der Klärung bedürfte in diesem Zusammenhang allerdings insbesondere die Frage, wie eine Notwehrpflicht mit dem Satz volenti non fit iniuria in Einklang zu bringen wäre. 13 Zu weiteren Stellen siehe die Nachweise bei Hruschka, a. a. O. (ob. Fn. 12), S. 208 ff. 11
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„ich zwar dem, welcher mich ungerechterweise zur Aussage nöthigt, nicht Unrecht thue, wenn ich sie verfälsche“, aber er fügt hinzu: „so thue ich doch durch eine solche Verfälschung, die darum auch (obzwar nicht im Sinne des Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten Stücke der Pflicht ü b e r h a u p t Unrecht . . .“.14
Dies wird man so zu interpretieren haben, dass durch das Rechtsinstitut der Notwehr zwar das Unrecht, das gegenüber dem Mörder, „der ungerechterweise zur Aussage nöthigt“, durch eine unwahrhaftige Auskunft verwirklicht würde, in Wegfall kommt, nicht aber das „Unrecht . . ., das der Menschheit überhaupt zugefügt wird.“15 „Denn sie [die Lüge] schadet jederzeit einem Anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.“16 Dass Kant sich hier inzident auf die sog. Zweckformel des Kategorischen Imperativs aus seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten („Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“)17 bezieht, ist offenkundig.18 3. Rechtspflicht oder Tugendpflicht? Man könnte nun meinen, es ginge bei jenem „Unrecht, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird“, um die Verletzung bloß einer Tugendpflicht. In der Metaphysik der Sitten hatte Kant Begriff und Problem der Lüge noch – abgesehen von einer hier nicht weiter interessierenden Anmerkung in der Rechtslehre19 – in der Tugendlehre erörtert, und zwar als „größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, blos als moralisches Wesen betrachtet (die Menschheit in seiner Person).“20 Der Lügner wird hier durch seine Lüge zwar ehrlos und „Ehrlosigkeit (ein Gegenstand der moralischen Verachtung zu sein), welche sie [die Lüge] begleitet, die begleitet auch den Lügner wie sein Schatten“21, aber eine Rechtsverletzung ist damit nicht verbunden. Der Mensch, der lügt, verletzt durch das „Laster“ der Lüge die „Würde der Menschheit in seiner eigenen Person; wobei der Schade, der anderen Menschen daraus entspringen kann, nicht das Eigenthümliche des Lasters betrifft 14
Kant, a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 426. Kant, ibid., S. 426. 16 Kant, ibid. 17 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akad.-Ausg., Bd. 4, S. 429. 18 Am Rande ist interessant, dass Kant in dem Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ offenbar die Verletzung einer Pflicht gegen die Menschheit mit der Verletzung einer Pflicht „gegen Jeden“ – a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 426 – gleichsetzt. 19 Vgl. Kant, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 238, Fußnote. 20 Kant, ibid., S. 429. 21 Kant, ibid. 15
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(denn da bestände es blos in der Verletzung der Pflicht gegen Andere) und also hier nicht in Anschlag kommt, ja auch nicht der Schade, den er sich selbst zuzieht; denn alsdann würde es blos als Klugheitsfehler der pragmatischen, nicht der moralischen Maxime widerstreiten und gar nicht als Pflichtverletzung angesehen werden können.“22
Und Kant fügt auf den Lügner bezogen hinzu: „Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde“.23 Auch in dem in vieler Hinsicht parallelen Beispiel in der Metaphysik der Sitten zum Thema der Notlüge geht es im Rahmen „Casuistische[r] Fragen“ nur um die Verletzung einer Tugendpflicht durch den Lügner: „In wirklichen Geschäften, wo es aufs Mein und Dein ankommt, wenn ich da eine Unwahrheit sage, muß ich alle die Folgen verantworten, die daraus entspringen möchten? Z. B. ein Hausherr hat befohlen: daß, wenn ein gewisser Mensch nach ihm fragen würde, er ihn verläugnen solle. Der Dienstbote thut dieses: veranlaßt aber dadurch, daß jener entwischt und ein großes Verbrechen ausübt, welches sonst durch die gegen ihn ausgeschickte Wache wäre verhindert worden. Auf wen fällt hier die Schuld (nach ethischen Grundsätzen)? Allerdings auch auf den letzteren, welcher hier eine Pflicht gegen sich selbst durch eine Lüge verletzt; deren Folgen ihm nun durch sein eigenes Gewissen zugerechnet werden.“24
Wenn Kant hier den „Dienstboten“ („auch“) für das verantwortlich macht, was der durch die Lüge faktisch geschützte „Hausherr“ anrichtet, so befindet er sich durchaus im Einklang mit der aus dem römischen Recht bekannten Lehre des versari in re illicita. In den Digesten heißt es dazu „Versanti in illicito (oder: in re illicita) imputantur omnia, quae sequuntur ex delicto“. – „Wer sich auf verbotenem Felde bewegt, dem werden alle schlimmen Folgen, die das mit sich bringt, zugerechnet.“25 Kant schließt sich dieser Tradition offenkundig an, zumal sie ganz seinen eigenen Vorstellungen von der Zurechnung von Folgen einer Handlung korrespondiert. Denn wer – wie Kant – die ethische Bewertung einer Handlung als „gut“ oder „schlecht“ nicht von der Bewertung der Folgen dieser Handlung abhängig machen will (vgl. etwa in der Grundlegung: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“;26 und: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder 22
Kant, ibid. Kant, ibid. – Hier verwendet Kant den Ausdruck „Menschenwürde“ einmal explizit, für dessen positivistische Normierung etwa in Art. 1 GG seine Überlegungen bekanntlich Pate gestanden haben. 24 Kant, ibid., S. 431. 25 Weitere Nachweise zu dieser Rechtsregel bei Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 6. Aufl., München 1998, S. 242 f., dem auch die Übersetzung der Digestenstelle entnommen ist. Weiterführend etwa Horst Kollmann, „Die Lehre vom versari in re illicita im Rahmen des Corpus juris canonici“, ZStW 35 (1914), 46 ff. 23
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ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte“27), kann gar nicht anders, als die Zurechnung der Handlungsfolgen von der Qualität der Handlung abhängig zu machen. Dem entspricht es, wenn Kant in der Metaphysik der Sitten schreibt: „Die guten oder schlimmen Folgen einer schuldigen Handlung – imgleichen die Folgen der Unterlassung einer verdienstlichen – können dem Subject nicht zugerechnet werden (modus imputationis tollens). Die guten Folgen einer verdienstlichen – imgleichen die schlimmen Folgen einer unrechtmäßigen Handlung können dem Subject zugerechnet werden (modus imputationis ponens)“.28
Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob diese Systematik der Folgenzurechnung vollständig ist (so könnte man fragen, was mit den „schlimmen Folgen“ einer „verdienstlichen Handlung“ und den „guten Folgen“ einer „unrechtmäßigen Handlung“ geschehen soll)29, entscheidend ist für den vorliegenden Kontext, dass Kant für die „schlimmen Folgen einer unrechtmäßigen Handlung“ klarstellt, dass sie dem Handlungssubjekt ohne weiteres zugerechnet werden können. Und dies liegt genau in der Konsequenz jener versari-in-re-illicitaLehre, wobei für Kant selbstverständlich ist, dass dieser Grundsatz nicht nur in der Tugendlehre, auf die sich das obige Beispiel von „Hausherr“ und „Dienstbote“ bezieht, sondern genauso in der Rechtslehre gilt, weshalb besagter Zurechnungszusammenhang zwischen Handlung und Folgen von ihm auch treffend zu den „Vorbegriffe[n] zur Metaphysik der Sitten. (Philosophia practica universalis.)“ gerechnet wird.30 Auch in seinem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen setzt Kant gerade eine solche Art der Folgenzurechnung voraus, wenn er mit Bezug auf das oben erwähnte Beispiel des Mörders, der sein Opfer sucht, feststellt: „Hast du nämlich einen eben jetzt mit Mordsucht Umgehenden d u r c h e i n e L ü g e an der That verhindert, so bist du für alle Folgen, die daraus entspringen 26
Kant, a. a. O. (ob. Fn. 17), S. 393. Kant, ibid., S. 394. 28 Kant, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 228. Unter einer „schuldigen Handlung“ versteht Kant dabei eine Handlung, bei der der Handelnde gerade das tut, was dem Gesetz „angemessen“ ist; vgl. a. a. O., S. 227. 29 Vgl. zur Folgenzurechnung bei Kant auch Norman Gillespie, „Wrongful Risks and Unintended Consequences“, JRE 5 (1997), 85 ff.; zum „subjectiven Grad der Zurechnungsfähigkeit (imputabilitas)“ (Kant, ibid.) vgl. Joerden, „Zwei Formeln in Kants Zurechnungslehre“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 77 (1991), 525 ff. 30 Vgl. Kant, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 221. 27
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
möchten, auf rechtliche Art verantwortlich. Bist du aber strenge bei der Wahrheit geblieben, so kann dir die öffentliche Gerechtigkeit nichts anhaben; die unvorhergesehene Folge mag sein, welche sie wolle.“
Und zur Bestätigung dieser These folgt eine Plausibilitätserwägung: „Es ist doch möglich, daß, nachdem du dem Mörder auf die Frage, ob der von ihm Angefeindete zu Hause sei, ehrlicherweise mit Ja geantwortet hast, dieser doch unbemerkt ausgegangen ist und so dem Mörder nicht in den Wurf gekommen, die That also nicht geschehen wäre; hast du aber gelogen und gesagt, er sei nicht zu Hause, und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewußt) ausgegangen, wo denn der Mörder ihm im Weggehen begegnete und seine That an ihm verübte: so kannst du mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden. Denn hättest du die Wahrheit, so gut du sie wußtest, gesagt: so wäre vielleicht der Mörder über dem Nachsuchen seines Feindes im Hause von herbeigelaufenen Nachbarn ergriffen und die That verhindert worden.“31
Anders als in der Metaphysik der Sitten sieht Kant in diesem Fall jedoch über das Beispiel von „Hausherrn“ und „Dienstboten“ hinausgehend in der Lüge nicht nur einen Verstoß gegen eine „Pflicht gegen sich selbst“, also gegen eine Tugendpflicht, sondern (was in der Metaphysik der Sitten durchaus am Rande als Möglichkeit zu erwähnen, aber im Rahmen der Tugendlehre nicht eigens zu thematisieren war) auch einen Verstoß gegen eine Rechtspflicht: „Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen Jeden“ – und in einer an das Wort „Jeden“ angefügten Fußnote ergänzt Kant: „Ich mag hier nicht den Grundsatz bis dahin schärfen, zu sagen: ,Unwahrhaftigkeit ist Verletzung der Pflicht gegen sich selbst‘. Denn dieser gehört zur Ethik; hier aber ist von einer Rechtspflicht die Rede. – Die Tugendlehre sieht in jener Übertretung nur auf die N i c h t s w ü r d i g k e i t, deren Vorwurf der Lügner sich selbst zuzieht.“32
Kant geht also davon aus, dass hier nicht nur eine moralische Pflicht (Tugendpflicht), sondern – auch in dem Mörderbeispiel – eine Rechtspflicht verletzt wird. Die Begründung dieser Pflicht ergibt sich zum einen aus einer Anwendung des Kategorischen Imperativs, weil eine Lüge nie verallgemeinerbar ist, da sie schon nicht als allgemeines Gesetz gedacht werden kann. Denn, damit eine Lüge als Täuschung überhaupt wirksam werden kann, muss bereits vorausgesetzt werden, dass Lügen kein allgemeines Gesetz ist, weil sonst jeder wüsste, dass er belogen werden soll und dementsprechend nicht auf die Lüge hereinfallen würde.33 Zum anderen hat die Lüge den Charakter der Verletzung
31
Kant, a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 427. Kant, ibid., S. 426 mit Fußnote. 33 Näher zur (quasi-logischen) Struktur dieses Arguments Joerden, „Was leisten Kants Beispiele bei der Anwendung des Kategorischen Imperativs?“, ARSP 79 (1993), 247 ff., 254 f. 32
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einer Rechtspflicht: „Denn sie schadet jederzeit einem Anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.“34 Sieht man daher mit Kant in dem Gebot, „in allen Erklärungen w a h r h a f t (ehrlich) zu sein“, „ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Convenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot“, „weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehen werden muß“35, so ist die Rechtslage im Beispielsfall klar: Zwar entfällt das Unrecht der Lüge gegenüber dem Mörder, der sein Opfer sucht, weil ihn zu belügen durch Notwehr(hilfe) gerechtfertigt ist, aber gegenüber der „Menschheit“ bleibt es bestehen. Es kann auch von vornherein dieser gegenüber nicht durch Notwehr(hilfe) gerechtfertigt sein oder werden, weil die „Menschheit“ keinen „ungerechten Angreifer“ abgibt, der durch Notwehr in seine Schranken verwiesen werden könnte. Für eine Rechtfertigung des Unrechts gegenüber der „Menschheit“ käme allenfalls ein „Nothrecht“, also eine Notstandsrechtfertigung in Betracht, die Kant aber gerade nicht zu akzeptieren bereit ist;36 ganz allgemein ist das „Nothrecht (Ius necessitatis)“ eben nur ein „vermeinte[s] Recht“37 und kein wirkliches Recht. Die betreffende Handlung (hier: die Lüge) kann daher „nicht etwa als u n s t r ä f l i c h (inculpabile), sondern nur als u n s t r a f b a r (impunibile)“38 beurteilt werden. 4. Ausnahmefeindlichkeit Dass Kant im Fall der Lüge gegenüber dem Mörder, aber eben auch in anderen Fällen – wie dem „Nothrechts“-Fall in der Metaphysik der Sitten –, kein Not(stands)recht anerkennen kann, ist aus seinem gesamten System heraus unvermeidlich. Denn konzipiert man alle Rechts- und Tugendpflichten der Form nach wie Naturgesetze, dann kann und darf es keine Ausnahme von ihnen geben. Und Kant verwendet den Ausdruck Naturgesetz durchaus nicht von ungefähr, wenn es in der zweiten Formulierung des Kategorischen Imperativs in der Grundlegung heißt: „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum a l l g e m e i n e n N a t u r g e s e t z e werden sollte“.39 Zwar steckt darin selbstverständlich zunächst der Anklang an das „ius naturae“ und dessen „natürliches Gesetz“, aber gerade die erklärte Ausnahmefeindlichkeit Kants macht deutlich, dass nach seinem Programm der Begründung von 34
Kant, a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 426. Kant, ibid., S. 427. 36 Einmal mehr sei an die Passage über das „Nothrecht“ in der Metaphysik der Sitten erinnert, in der Kant dieses als Rechtfertigungsgrund verneint. 37 Kant, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 235. 38 Kant, ibid., S. 236. 39 Kant, a. a. O. (ob. Fn. 17), S. 421. 35
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
Rechts- und Tugendpflichten der Charakter des Gesetzes („die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst“)40 im Vordergrund steht, die Form des Gesetzes genauer gesagt, die sich ebenso wie bei beschreibenden Naturgesetzen auch bei vorschreibenden ethischen Gesetzen soll finden lassen. In solchen Gesetzen, dem Modell des naturwissenschaftlichen Gesetzes nachgebildet, ist selbstverständlich kein Platz mehr für Ausnahmen. Noch einmal dazu Kant: „. . . weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehen werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird.“41
In modernisierter Redeweise hat man es folglich bei der Lüge mit der Beeinträchtigung zweier Rechtsgutsträger zu tun: dem Belogenen und (in Kantischer Lesart) der „Menschheit“ („Jedem“). Gegenüber dem Belogenen ist, sofern dieser „unrechtmäßig angreift“, eine Rechtfertigung durch Notwehr(hilfe) möglich; gegenüber der „Menschheit“ könnte die Rechtfertigung allenfalls unter dem Gesichtspunkt des Notstands („Nothrecht“) erfolgen, da die „Menschheit“ nicht „unrechtmäßig angreift“. Anders als Kant würden wir heute, wenn man einmal Kants These einer Verletzung des Rechts der „Menschheit“ durch eine Lüge folgt, zu einer Rechtfertigung kraft Notstandsrechts kommen, weil dabei – bezogen auf das Mörderbeispiel – das Recht auf Leben des von dem Mörder Verfolgten als wesentlich höherwertig einzuschätzen wäre als das durch diese eine Lüge beschädigte allgemeine Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Aussagen. Aber einen Zugang zu einer solchen Argumentation konnte Kant nie finden, weil dies die Orientierung an den Folgen einer Handlung voraussetzen würde. Wer – wie Kant – die Folgen einer Handlung bei deren Bewertung schlicht ignoriert, kann keine Ausnahme wegen Notstands von einer Regel zulassen. Er bleibt in seinen eigenen Voraussetzungen gefangen und muss allen Ernstes die These verteidigen, man müsse dem Mörder wahrhaftig Auskunft über den Aufenthaltsort seines (künftigen) Opfers geben. Dabei ist das Problematische an Kants Position weniger darin zu sehen, dass das Verhalten des Lügners als rechtswidrig zu bezeichnen wäre, da man dieses Urteil ja noch durch eine Entschuldigung gleichsam relativieren könnte. Das ganz und gar Unfassbare ist, dass Kant offenkundig meint, man solle dem Mörder den Aufenthaltsort seines (künftigen) Opfers wahrheitsgemäß benennen, selbst wenn dem Mörder dadurch sein Vorhaben entscheidend erleichtert wird. Was wir heute u. U. (bei zumindest Eventualvorsatz) als strafbare (intellektuelle) Beihilfe zu einem Mord beurteilen würden, wird von Kant als geboten dargestellt.
40 Kant, ibid., S. 401. Etwas später heißt es dann auch: „Die Imperativen nach der vorigen Vorstellungsart, nämlich der allgemein einer N a t u r o r d n u n g ähnlichen Gesetzmäßigkeit der Handlungen . . .“; ibid., S. 431. 41 Kant, a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 427.
II. Absolutes Lügeverbot und absolutes Folterverbot
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II. Absolutes Lügeverbot und absolutes Folterverbot 1. Der Fall Daschner Aus Anlass eines Falles, der sich unlängst in Frankfurt am Main ereignet hat (Fall Daschner),42 wird zur Zeit in Deutschland in vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen43 die Frage diskutiert, ob zur Rettung von Menschenleben 42 LG Frankfurt/Main, NJW 2005, 692; s. a. LG Frankfurt/Main, StV 2003, 325 f. und 327 f. 43 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Willy Burgmer, „Der ,Fall‘ Daschner“, Kriminalistik 2004, 334 ff.; Heinz Düx, Meinungen zur Folterdiskussion, ZRP 2003, 180; Klaus Ellbogen, „Zur Unzulässigkeit von Folter (auch) im präventiven Bereich – Zugleich Besprechung des Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main vom 20.12.2004“, Jura 2005, 339 ff.; Volker Erb, „Nicht Folter, sondern Notwehr“, Die Zeit, 9. Dez. 2004, S. 15; ders., „Nothilfe durch Folter“, Jura 2005, 24 ff.; Christian Fahl, „Angewandte Rechtsphilosophie – ,Darf der Staat foltern?‘“, JR 2004, 182 ff.; Kurt Gintzel, „Die ,unlösbare‘ Pflichtenkollision – ein Beitrag zur ,Folterdiskussion‘ und zugleich eine Abgrenzung von Verwaltungszwang und Aussageerpressung“, Die Polizei 2004, 249 ff.; Heinrich Götz, „Das Urteil gegen Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes“, NJW 2005, 953 ff.; Rainer Hamm, „Schluss der Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot!“, NJW 2003, 946 f.; Günter Haurand/Jürgen Vahle, „Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen“, NVwZ 2003, 513 ff.; Wolfgang Hecker, „Relativierung des Folterverbots in der BRD?“, KJ 2003, 210 ff.; Rolf Dietrich Herzberg, „Folter und Menschenwürde“, JZ 2005, 321 ff.; Eric Hilgendorf, „Folter im Rechtsstaat?“, JZ 2004, 331 ff.; Günter Jerouschek/Ralf Kölbel, „Folter von Staats wegen?“, JZ 2003, 613 ff.; Günter Jerouschek, „Gefahrabwendungsfolter – Rechtsstaatliches Tabu oder polizeirechtlich legitimierter Zwangseinsatz?“, JuS 2005, 296 ff.; Florian Jeßberger, „,Wenn Du nicht redest, füge ich Dir große Schmerzen zu‘“, Jura 2003, 711 ff.; Jörg Kinzig, „Not kennt kein Gebot? – Die strafrechtlichen Konsequenzen von Folterhandlungen an Tatverdächtigen durch Polizeibeamte mit präventiver Zielsetzung“, ZStW 115 (2003), 791 ff.; Bernd Kretschmer, „Folter in Deutschland: Rückkehr einer Ungeheuerlichkeit?“, RuP 2003, 102 ff.; Klaus Lüderssen, „Die Folter bleibt tabu – kein Paradigmenwechsel ist geboten“, FS für Rudolphi, Neuwied 2004, S. 691 ff.; Jan O. Merten, „Folterverbot und Grundrechtsdogmatik – Zugleich ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Menschenwürde“, JR 2003, 404 ff.; Olaf Miehe, „Nochmals: Die Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot“, NJW 2003, 1219 f.; Wolfgang Mitsch, „Strafrechtsschutz gegen gewaltsame Verhinderung eines Mordes?“, Die Polizei 2004, 254 ff.; Ali B. Norouzi, „Folter in Nothilfe – geboten?“, JA 2005, 306 ff.; Harro Otto, „Diskurs über Gerechtigkeit, Menschenwürde und Menschenrechte“, JZ 2005, 473 ff., 480 f.; Walter Perron, „Foltern in Notwehr?“, FS für U. Weber, Bielefeld 2004, S. 143 ff.; Ralf Poscher, „,Die Würde des Menschen ist unantastbar‘“, JZ 2004, 756 ff.; Klaus Rogall, „Bemerkungen zur Aussageerpressung“, FS für Rudolphi, Neuwied 2004, S. 511 ff.; Claus Roxin, „Kann staatliche Folter in Ausnahmefällen zulässig oder wenigstens straflos sein?“, FS für Eser, München 2005, S. 461 ff.; Frank Saliger, „Absolutes im Strafprozeß? – Über das Folterverbot, seine Verletzung und die Folgen seiner Verletzung“, ZStW 116 (2004), 35 ff.; Hans Christoph Schaefer, „Freibrief“, NJW 2003, 947; Wolfgang Schild, „Folter(androhung) als Straftat“, in: Gehl (Hrsg.), Folter – Zulässiges Instrument im Strafrecht?, 2005, S. 68 ff.; Friedrich-Christian Schroeder, „Meinungen zur ,Folterdiskussion‘“, ZRP 2003, 180; Wolfgang Steinke, „Kann die Androhung von Gewalt straflos sein?“, Kriminalistik 2004, 325 ff.; Thomas Weigend, Anmerkung zu LG Frankfurt a. M. (StV 2003, 325 ff.), StV 2003, 436 ff.; Harald Welsch, „Die Wieder-
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unter Umständen Methoden der Folter eingesetzt werden dürfen. In dem Fall in Frankfurt am Main hatte der stellvertretende Polizeipräsident Wolfgang Daschner dem im Gewahrsam der Polizei befindlichen (seinerzeit mutmaßlichen) Entführer (Magnus Gäfgen) des 11-jährigen Bankierssohns Jakob von Metzler Folter androhen lassen, um den Entführer zur Preisgabe des Verstecks seines Opfers zu veranlassen. Zwar nannte der Entführer daraufhin das Versteck seines Opfers, aber das Kind war zu diesem Zeitpunkt bereits tot, weil es schon zuvor von seinem Entführer ermordet worden war. Die Problematik der Folterandrohung hat in zwei sich anschließenden Prozessen eine Rolle gespielt, zum einen in dem Prozess gegen den Entführer,44 vor allem unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit des bei der Polizei erwirkten Geständnisses; zum anderen in einem Prozess u. a. gegen den Vizepolizeipräsidenten Daschner wegen Verleitung eines Untergebenen (§ 357 I StGB) zu einer Nötigung (§ 240 I StGB).45 Die Problematik, die sich in dem ersten Prozess stellte, ist in Deutschland grundsätzlich klar geregelt: Ein durch Folter oder deren Androhung erwirktes Geständnis ist prozessual nicht verwertbar (vgl. § 136a StPO), kann also nicht als Beweismittel verwendet werden. Dass es gleichwohl zu einer Verurteilung des Entführers wegen Mordes kam, lag in dem hier erörterten Fall zumindest
kehr der Folter als das letzte Verteidigungsmittel des Rechtsstaats?“, BayVBl. 16 (2003), 481 ff.; Fabian Wittreck, „Menschenwürde und Folterverbot“, DÖV 2003, 873 ff.; Andreas Zimmermann, „Darf man foltern – wenigstens im Ausnahmefall?“, Neue Kriminalpolitik 2003, 48; Lackner/Kühl, Strafrecht Kommentar, 26. Aufl., München 2007, Rdn. 17a m. w. N.; Reinhard Merkel, „Folter und Notwehr“, FS für G. Jakobs, Köln u. a. 2007, S. 375 ff.; ders., „Folter als Notwehr“, Die Zeit, 6. März 2008, S. 46; dazu Klaus Günther, „Folter kennt keine Grenze“, Die Zeit, 13. März 2008, S. 46. – Dieser Debatte zum Fall Daschner zeitlich vorausgegangen ist eine insbesondere von Winfried Brugger (erneut) angestoßene Debatte um die Zulässigkeit einer ausnahmsweisen Durchführung der Folter durch Staatsorgane in extremen Notfällen; vgl. insbes. Brugger, „Vom unbedingten Verbot der Folter zu bedingtem Recht auf Folter?“, JZ 2000, 165 ff.; und auch schon ders., „Darf der Staat ausnahmsweise foltern?“, Der Staat 1996, 67 ff. Siehe dazu auch Matthias Kaufmann, „Gefahr und Chance durch Grenzüberschreitung. Tabus und Tabuverletzungen im Recht“, ARSPBeiheft 84 (2003), 23 ff.; Matthias Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, Frankfurt a. M. 2004, insbes. S. 509 ff.; Luís Greco, „Die Regeln hinter der Ausnahme. Gedanken zur Folter in sog. ticking bomb-Konstellationen“, GA 2007, 628 ff., mit Kommentar von Bernd Schünemann, a. a. O., S. 644 ff. 44 LG Frankfurt/Main, StV 2003, 325 f. und 327 f. mit Anm. Weigend, a. a. O. (ob. Fn. 43); vgl. auch BVerfG NJW 2005, 656 f. Der angeklagte Entführer Gäfgen wurde rechtskräftig wegen Mordes in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge und wegen falscher Verdächtigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung in zwei Fällen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. 45 LG Frankfurt/Main, NJW 2005, 692. Der Angeklagte und sein mitangeklagter Untergebener wurden in dem Prozess für schuldig befunden, und gegen beide Angeklagten wurde eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen. Das Urteil ist rechtskräftig. Zum Tatbestand der Aussageerpressung vgl. im Kontext des vorliegenden Falles insbes. Rogall, a. a. O. (ob. Fn. 43); s. a. Roxin, a. a. O. (ob. Fn. 43).
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auch daran, dass der Entführer im Prozess sein Geständnis (diesmal nicht mehr unter dem Eindruck einer Folterandrohung)46 wiederholt hat,47 weshalb seine Verurteilung auf dieses („erneuerte“) Geständnis gestützt werden konnte.48 Dem ist hier jedoch nicht weiter nachzugehen. Im Mittelpunkt der weiteren Überlegungen soll vielmehr die Frage stehen, ob dem Entführer überhaupt Folter angedroht werden durfte bzw. ob er darüber hinausgehend möglicherweise sogar hätte tatsächlich gefoltert werden dürfen. Dabei sei der Fall insoweit in tatsächlicher Hinsicht vereinfacht, als angenommen sei, dass das Entführungsopfer noch am Leben war, als der Entführer durch die Androhung von Folter zur Offenbarung des Verstecks des Opfers gebracht wurde.49 Die Frage, ob Folter zum Zwecke der Rettung des Entführungsopfers angewandt werden durfte, lässt sich trennen von der Frage, ob Folter angedroht werden durfte. Wird die erste Frage bejaht, ist – erst recht – auch die zweite Frage zu bejahen. Sollte die erste Frage dagegen zu verneinen sein, ist damit die zweite Frage durchaus noch offen. Sie sei daher vorerst zurückgestellt. Geht es mithin zunächst darum, ob der Entführer hätte gefoltert werden dürfen, um den Aufenthaltsort des Entführungsopfers zu ermitteln, so sei weiterhin vorausgesetzt, dass dies aus objektiver ex-ante-Perspektive die einzige erfolgverspre-
46 Zu fragen ist allerdings, ob denn die zweite Aussage wirklich „frei“ war, wenn der Angeklagte – wie hier – nicht ausdrücklich über die Unverwertbarkeit der ersten Aussage belehrt wurde; vgl. dazu ausführlich Weigend, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 438 ff. 47 Vgl. LG Frankfurt/Main, StV 2003, 325 f. und 327 f. 48 Eine hier nicht weiter zu erörternde Frage bleibt allerdings, ob die auf Grund der ersten (erzwungenen) Aussage des Angeklagten aufgefundenen Beweismittel, wie etwa die Leiche und daran feststellbare Spuren, als „fruits of the poisoned tree“ nicht hätten verwertet werden dürfen. Die Rechtsprechung bejaht grundsätzlich die Verwertbarkeit, während wichtige Stimmen in der Literatur zur Unverwertbarkeit wegen der sog. Fernwirkung des Verstoßes gegen das Beweiserhebungsverbot des § 136a StPO kommen. Vermittelnd wird eine „Abwägungsthese“ vertreten (zum Teil auch vom BGH akzeptiert), die sich an dem Maß des Verfahrensverstoßes einerseits und der Schwere der Strafverfolgungsinteressen andererseits orientiert. Auch zu dieser Problematik im Hinblick auf den vorliegenden Fall näher Weigend, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 439 f. 49 Sofern die tatsächlichen Voraussetzungen eines (hier zu prüfenden) Rechtfertigungstatbestandes nur irrtümlich angenommen werden, kommt – zumindest nach herrschender Meinung im deutschsprachigen strafrechtlichen Schrifttum – allenfalls die Bestrafung wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts in Betracht (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB, der für derartige Fallkonstellationen zumindest analog herangezogen wird). Im vorliegenden Fall waren die Ermittler und – unwiderlegt – auch der Vizepolizeipräsident Daschner zumindest von der Möglichkeit ausgegangen, dass der Entführte noch lebte, was sich dann erst im Nachhinein als Irrtum herausstellte. – Zur Vereinfachung des Falles und damit Problemverschärfung sei schließlich auch vorausgesetzt, dass die (angedrohte) Maßnahme nur in einem solchen Grad erfolgversprechend ist, dass von keinem mehr die Bejahung des in der Tat unscharfen Begriffs „Folter“ in Abrede gestellt wird. Zur Schwierigkeit einer Abgrenzung zwischen bloßer Schmerzzufügung und Folter vgl. etwa Hilgendorf, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 338.
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
chende Möglichkeit war, das Opfer (noch) zu retten,50 das ohne die von der Polizei ergriffenen Maßnahmen verhungert, verdurstet oder auf sonstige Weise zu Tode gekommen wäre. 2. Zur Rechtslage Legt man nun – zunächst rein positivistisch betrachtet51 – die Rechtslage in Deutschland zugrunde, so spricht viel für die Geltung eines absoluten Folterverbots. Herkömmlich wird dieses aus Art. 1 des deutschen Grundgesetzes abgeleitet, das der staatlichen Gewalt aufgibt, die Menschenwürde zu schützen. Ein Folterverbot findet sich zudem in Art. 104 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes, der ein Verbot der körperlichen und seelischen Misshandlung festgehaltener Personen aufstellt. Aber auch die Europäische Menschenrechtskonvention und diverse internationale Pakte, denen Deutschland beigetreten ist,52 verbieten die Folter. Dies deutet zunächst darauf hin, dass das Folterverbot als ein absolutes Verbot zu verstehen ist. Das heißt aber noch nicht, dass es ein absolutes Verbot des Folterns oder auch nur überhaupt ein Verbot des Folterns geben sollte. Der damit aufgeworfenen Begründungsfrage eines Folterverbots soll daher im Folgenden näher nachgegangen werden. Was es rechtlich bedeutet, ein absolutes Folterverbot aufzustellen, lässt sich jedenfalls anhand der vorangehenden Überlegungen zu Kants Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen recht gut illustrieren: Gilt das Folterverbot (ebenso wie nach Kant das Lügeverbot) absolut, so ist es jedenfalls nicht damit getan zu zeigen, dass möglicherweise im Hinblick auf den gefolterten Entführer kein Unrecht begangen wird, wenn man ihn foltert, um eine für den Entführten lebenswichtige Information von ihm zu erhalten. Vielmehr kann diese – möglicherweise – unter dem Gesichtspunkt der Notwehr gegebene Rechtfertigung allenfalls erklären, dass der Eingriff in die Rechtsgüter des Entführers (durch Folter) erlaubt ist; damit
50 Ob dies in dem Fall Daschner auch so war, ist durchaus zweifelhaft. Denn immerhin wurde erwogen, ob nicht die Gegenüberstellung des Entführers mit der Schwester des Opfers zu einer Aussage hätte führen können; kritisch zu diesem Vorschlag im konkreten Fall Daschner allerdings zu Recht Jerouschek, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 301 m. w. N. Wäre ein solches Vorgehen aussichtsreich gewesen, läge schon deshalb kein Not(wehr)fall vor, weil dann zunächst die „mildere“ Handlungsmöglichkeit zu erproben gewesen wäre, sofern dafür die Zeit bis zum Tod des Opfers noch ausreichend erschien. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Fahl, a. a. O. (ob. Fn. 43), der die Möglichkeit erörtert, ein „Wahrheitsserum“ einzusetzen (S. 190). 51 Zu Versuchen einer nicht-positivistischen Begründung des Folterverbots vgl. noch im Folgenden. Vorschläge zu einer rechtsethischen oder rechtsphilosophischen Grundlegung der Problematik etwa auch bei Fahl, a. a. O. (ob. Fn. 43); Hilgendorf, a. a. O. (ob. Fn. 43); Lüderssen, a. a. O. (ob. Fn. 43). 52 Vgl. etwa die Darstellung der Einzelheiten bei Kinzig, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 798 ff.; s. a. Merten, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 405 ff.; Jeßberger, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 713.
II. Absolutes Lügeverbot und absolutes Folterverbot
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aber ist noch nicht der mit dem Foltern notwendig verbundene Eingriff gerechtfertigt, der – in Kants Worten – „ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird“.53 Denn ein absolutes Verbot repräsentiert gerade eine „formale Pflicht des Menschen gegen Jeden“54, so dass der Verstoß gegen ein solches Verbot im vorliegenden Fall auch nicht etwa allein durch den Gedanken der Notwehr gegenüber dem Entführer gerechtfertigt werden könnte.55 Im Hinblick auf die „Menschheit“ als Rechtsgutsträger käme mithin allenfalls eine Rechtfertigung qua Notstand in Betracht, die aber bei einem als absolut verstandenen Verbot der Folter natürlich ebenso ausgeschlossen wäre, wie Kant sie schon im Hinblick auf eine Notlüge für ausgeschlossen hält, und zwar nach kantischer Denkweise völlig unabhängig davon, welche Folgen ein Verzicht auf die Folter für das Entführungsopfer hätte. Aber selbst unsere heutige für Folgenorientierungen ja prinzipiell offene Notstandsregelung gem. § 34 StGB könnte hier keine Ausnahme vom Folterverbot begründen, weil das Leben des Entführungsopfers gegenüber dem „Schutz der Menschenwürde“ jedenfalls nicht als „wesentlich überwiegendes Rechtsgut“ i. S. d. § 34 StGB angesehen werden könnte56 – und gerade dieses Ergebnis ist natürlich durch die These vorgezeichnet, das Folterverbot gelte absolut. Für eine strafrechtliche Beurteilung des hier zugrunde gelegten Entführungsfalles wäre damit klar, dass sich der Folternde rechtswidrig verhielte, und es 53
Kant, a. a. O. (ob. Fn. 8). Kant, a. a. O. (ob. Fn. 4). 55 Dabei überspringe ich hier alle Probleme, die mit einer solchen Rechtfertigung durch Notwehr i. S. d. § 32 StGB im vorliegenden Entführungsfall gegeben sind: So muss man insbesondere die Vorenthaltung der für das Entführungsopfer lebensrettenden Information durch den Entführer als „Angriff“ im Sinne der Notwehrvorschrift (vgl. § 32 StGB) interpretieren, was wohl nur denkbar erscheint, wenn man sich auf die problematische Rechtsfigur eines „Angriffs durch Unterlassen“ einlässt; eher plausibel erscheint es, wenn man von der Rechtsfigur des Dauerdelikts ausgehend einen andauerndem (aktiven) Angriff des Entführers in der Aufrechterhaltung der Entführung sieht (allerdings ist auch dies strukturell eher ein Unterlassen der Freilassung als ein aktives Festhalten). Hruschka hat in seinem Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl., Berlin 1988, S. 154 ff. mit Fußnote 147, darauf hingewiesen, dass in Fällen der Erzwingung einer Handlung strukturell die Rechtsfigur der Selbsthilfe gem. § 229 des deutschen BGB angemessener zu sein scheint als die Notwehrvorschrift des § 32 StGB. 56 Selbst wenn man annähme, ein solches „wesentliches Überwiegen“ sei durchaus gegeben, weil die Pflicht „gegenüber der Menschheit“ nur eine formale Rechtsposition darstelle, müsste die h. M. im strafrechtlichen Schrifttum die Rechtfertigung spätestens an der Angemessenheitsklausel des § 34 S. 2 StGB scheitern lassen, da diese insbesondere dazu da sein soll, menschenwürdewidrige Eingriffe aus dem Bereich möglicher Notstandsrechtfertigung zu verbannen; vgl. etwa Ulfrid Neumann, „Die Moral des Rechts“, JRE 2 (1994), 81 ff., 88 f.; zu einer anderen Deutung der Angemessenheitsklausel vgl. Joerden, „§ 34 S. 2 StGB und das Prinzip der Verallgemeinerung“, GA 138 (1991), 411 ff. 54
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
bliebe nur noch die Frage zu erörtern, ob er möglicherweise entschuldigt werden kann. Eine Entschuldigung gem. § 35 Abs. 1 StGB scheidet dabei erkennbar aus, da der Folternde nicht sich selbst und auch keine ihm nahestehende Person i. S. d. § 35 I StGB schützt, sondern das ihm (im Rechtssinne) nicht nahestehende Entführungsopfer. Greifen andere Gesichtspunkte einer möglichen Entschuldigung (z. B. unvermeidbare Verbotsunkenntnis gem. § 17 StGB) nicht ein, so bleibt allenfalls der Rückgriff auf die Figur des so genannten übergesetzlichen entschuldigenden Notstands, deren Begründung und Grenzen jedoch so ungewiss sind, dass diese Möglichkeit einer „rechtlichen Erledigung“ der Problematik an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden soll.
III. Zur ethischen Begründung eines absoluten Folterverbots Aber es stellt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, ein absolutes Verbot der Folter zu etablieren. Und jeder, der meint, Folter sei zumindest unter bestimmten Bedingungen zu rechtfertigen, hat das Folterverbot bereits relativiert.57 Allerdings lassen sich zwei verschiedene Arten der Relativierung unterscheiden. Zum einen kann man das Folterverbot in bestimmten Fällen von vornherein für nicht anwendbar halten und zum anderen kann man es in bestimmten Fällen in seiner (grundsätzlich gegebenen) Anwendbarkeit ausnahmsweise einschränken. Im Ergebnis läuft eine solche Freistellung vom Folterverbot zwar auf dasselbe hinaus, doch wird klarer, worum es geht, wenn man in der bezeichneten Weise zwischen den Gründen für die besagte Freistellung differenziert.58 Denn wieder wird man zwischen einer eventuellen Ausnahme vom Folterverbot, die durch Notwehr gerechtfertigt ist, und einer solchen, die ihre Legitimität allenfalls aus dem Gesichtspunkt des Notstands herleiten kann, unterscheiden müssen. Allerdings setzt die nähere Explikation dieser Fragen voraus, dass zunächst geklärt wird, wie sich ein Folterverbot (sei es nun absolut oder relativ) über den im vorangehenden Abschnitt angesprochenen positivistischen Ansatz hinausgehend überhaupt begründen lässt. Da das Folterverbot herkömmlich primär auf den Gedanken des Menschenwürdeschutzes gestützt wird, liegt es nahe, seine Begründung zunächst in der Zweck-Formel des Kategorischen Imperativs59 zu suchen. Und in der Tat wird man schwerlich bestreiten können, dass die Folterung eines Menschen diesen zu einem bloßen Objekt herabwürdigt, das 57 So wie übrigens auch das scheinbar absolute Tötungsverbot durch die Annahme der Möglichkeit einer Rechtfertigung (und sei es durch Notwehr) relativiert wird. 58 Zu einer parallelen Differenzierung vgl. auch Hruschka, „Extrasystematische Rechtfertigungsgründe“, FS für Dreher, 1977, S. 189 ff. 59 Vgl. das Zitat bei ob. Fn. 17.
III. Zur ethischen Begründung eines absoluten Folterverbots
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„bloß noch als Mittel“, keinesfalls aber mehr „zugleich als Zweck“ benutzt, sondern „unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt“60 wird. Und: Auch eine Anwendung der ersten Formel des Kategorischen Imperativs („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“61) führt offenkundig zu einem Folterverbot. Denn Folter ist der extreme Fall einer Nötigung, deren Maxime schon im Fall einer einfachen Nötigung nicht verallgemeinerbar ist: Wer es sich zur Maxime macht, den Willen eines anderen zu brechen, kann nicht ernstlich zugleich wollen, dass diese Maxime ein allgemeines Gesetz wäre, da er dann seinen Willen gerade nicht einem anderen aufzwingen könnte, weil dann eben auch sein eigener Wille stets gebrochen würde.62 Kant hat die parallele Anwendung des Kategorischen Imperativs gerade auch für eine Begründung des Lügeverbots genutzt; die bekannteste Passage ist dabei die insbesondere in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten explizierte Begründung des Verbots, ein falsches Versprechen abzugeben.63 Nimmt man den oben bereits erwähnten Gedanken Kants hinzu, dass die Lüge „jederzeit . . . der Menschheit überhaupt (schadet), indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht“, so kann wohl kaum in Abrede gestellt werden, dass dies für die Folter erst recht gilt, und zwar nicht nur in dem vordergründigen Sinne, dass eine durch Folter erzwungene Aussage keine verlässliche (Wahrheits-)Quelle für die Rechtsfindung mehr darstellt, sondern durchaus auch in dem Sinne, dass die Folter Recht überhaupt unmöglich macht, indem sie per se menschenwürdeverachtend ist, und damit das in Abrede stellt, was zu schützen das Recht nach kantischer Auffassung überhaupt angetreten ist: Die Gewährleistung der Differenzierung zwischen dem bloßen Preis eines Menschen und dessen Würde.64 Nur die Behandlung des Menschen zugleich als Person, also als eines mit Würde und nicht lediglich mit einem Preis versehenen Wesens, wird dem Kategorischen Imperativ gerecht, aus dem Kant dann in der Metaphysik der Sitten (§ C) das „Allgemeine Princip des Rechts“ herleitet.65
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Kant, Die Metaphysik der Sitten, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 331. Kant, a. a. O. (ob. Fn. 17), S. 421. 62 Vgl. hierzu Joerden, a. a. O. (ob. Fn. 33), S. 255 f., Fußnote 31. 63 Kant, a. a. O. (ob. Fn. 17), S. 422. Allgemein zur Verwendung des Kategorischen Imperativs vgl. auch Christian Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium der Richtigkeit des Handelns, Tübingen 1989, und dazu Joerden, a. a. O. (ob. Fn. 33) mit einigen Erwägungen, die Verwendung des Kategorischen Imperativs trotz der Kritik von Schnoor zu „retten“. 64 Kant, Grundlegung, a. a. O. (ob. Fn. 17), S. 434. 65 Den Herleitungszusammenhang zwischen Kategorischem Imperativ und Allgemeinem Prinzip des Rechts stellt Kant etwa in der Einleitung in die Tugendlehre dar, wo es im Abschnitt X. lautet: „Im moralischen Imperativ und der nothwendigen Voraussetzung der Freiheit zum Behuf desselben machen das G e s e t z , das V e r m ö g e n (es zu erfüllen) und der die Maxime bestimmende W i l l e alle Elemente 61
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
Nun könnte man meinen, dass alle Verbote, die mit Hilfe des Kategorischen Imperativs zu begründen sind, absolute Verbote sein müssten. Hierfür spricht, dass Kant selbst dies durch seine Formulierungen, die Ausnahmen von kategorischen Verboten ausschließen, und durch die Bezugnahme auf die Form von Gesetzen als „Naturgesetze“ (vgl. oben) nahelegt. Und doch wird man annehmen müssen, dass bestimmten Verboten, die mit Hilfe des Kategorischen Imperativs begründet werden, aus kantischer Perspektive durchaus eine besondere Qualität zukommt. Im Hinblick auf das Lügeverbot ist dies gerade der Aspekt, dass die Lüge „die Rechtsquelle unbrauchbar macht.“ Das wird man so zu interpretieren haben, dass die Lüge einem wesentlichen Aspekt des Rechts zuwiderläuft, den man mit Kant als Prinzip der „Wahrhaftigkeit“ zu identifizieren hat. Die Lüge macht es gleichsam von vornherein unmöglich, dem elementaren Rechtsprinzip des pacta sunt servanda66 gerecht zu werden. Wenn man das aber für die Lüge anerkennt, dann dürfte für die Folter Entsprechendes gelten: In der Negierung der Menschenwürde nicht nur des Gefolterten, sondern damit zugleich des Prinzips der Menschenwürde überhaupt, verstößt sie gegen die Idee des Rechts, indem sie es gleichsam von vornherein unmöglich macht, dem elementaren Rechtsprinzip des neminem laede67 gerecht zu werden. So wie Kant das Prinzip pacta sunt servanda als wesentliches Rechtsprinzip ausweist, so stellt er dies auch für das Prinzip neminem laede heraus, so dass es wenig plausibel erschiene, zwischen den Wirkungen dieser beiden Rechtsprinzipien zu differenzieren und der Lüge gleichsam mehr rechtsvernichtende Kraft zuzumessen als der Folter. Wenn Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) deutlich macht, dass bestimmte Handlungen selbst im Kriege verboten sein sollten, um einen nachfolgenden Frieden nicht unmöglich zu machen, so bringt er zumindest indirekt zum Ausdruck, dass nicht allein die Lüge „die Rechtsquelle unbrauchbar macht“, sondern auch andere Mittel denkbar sind, die von Kant hier als „höllische Künste“ bezeichnet werden und „da sie an sich selbst betrachtet niederträchtig sind, wenn sie in Gebrauch gekommen, sich nicht lange in der Grenze des Krieges halten, . . ., sondern auch in den Friedenszustand übergehen und so die Absicht desselben gänzlich vernichten würden.“68 Auch bei der Erörterung der Grenzen des „ius talionis“ als „Princip des Strafrechts“ meint Kant beispielsweise, dass es Verbrechen gebe, „die keine E r w i e d e r u n g zulassen, weil diese entweder an sich unmöglich, oder selbst ein strafbares Verbrechen an aus, welche den Begriff der Rechtspflicht bilden. (Kant, a. a. O. [ob. Fn. 5], S. 396. Vgl. auch ders., a. a. O., S. 239 I.) 66 Vgl. auch Kant, Die Metaphysik der Sitten, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 219. – Allgemein zur Bedeutung des Prinzips pacta sunt servanda vgl. auch 7. Kapitel, Abschnitt II.1. 67 Kant, ibid., S. 236. – Auch hierzu näher 7. Kapitel, Abschnitt II.1. 68 Kant, Akad.-Ausg., Bd. 8, S. 346 f.
IV. Ausnahmen vom Folterverbot?
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der M e n s c h h e i t überhaupt sein würden, . . .“69 Es gibt also offenbar für Kant durchaus neben der Lüge andere Verhaltensweisen, die absolut verboten sind; und es ist nicht zu sehen, weshalb die von Kant hier nicht explizit genannte Folter nicht dazugehören sollte. Es führt demnach kein Weg daran vorbei, dass bei Zugrundelegung der kantischen Rechtsphilosophie ein absolutes Folterverbot ebenso anzunehmen wäre wie ein absolutes Lügeverbot. Und ein solches absolutes Folterverbot wäre auch unabhängig davon zu konstatieren, ob nun ein Privatmann die Folter ausführt, um sein Leben zu retten (Beispiel: A foltert den B, um ihn dazu zu bewegen, die Art des Giftes, mit dem B zuvor den A vergiftet hat, preiszugeben, um das richtige Gegengift einnehmen zu können)70, oder ob ein Repräsentant des Staates die Folter ausführt, um das Leben eines Staatsbürgers zu retten (Beispiel: Polizist P foltert den Gefangenen G, um ihn zur Preisgabe des Aufenthaltsortes des Entführungsopfers zu bewegen). Wer auch immer zu welchem Zweck auch immer foltert, würde, mag er auch dem Gefolterten kein Unrecht zufügen, jedenfalls der „Menschheit“ Unrecht zufügen, so wie in Kants Beispiel aus dem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen derjenige, der lügt, und sei es auch, um ein Menschenleben zu retten, der „Menschheit“ Unrecht tut. Es erweist sich einmal mehr, dass ein absolutes Folterverbot eben keiner wie auch immer begründeten Differenzierung hinsichtlich seiner Befolgung im Einzelfall zugänglich ist, und zwar gerade deshalb, weil es sonst kein absolutes Verbot mehr wäre.
IV. Ausnahmen vom Folterverbot? 1. Das Prinzip der Verallgemeinerung als Alternative Wem die Rigorosität dieses Ergebnisses nicht einleuchtet, wird sich jenseits einer kantischen Begründung von Rechtsvorschriften nach anderen Möglichkeiten der Normbegründung umsehen müssen. Soll dabei keine bloße Kasuistik betrieben werden, muss man nach einem allgemeinen Prinzip Ausschau halten, das als einheitliche Richtschnur für die Beurteilung aller hier in Betracht kommender Fallvarianten dienen kann. Will man zudem den Gedanken nicht aufgeben, dass das Folterverbot ein „starkes“ Verbot ist, d.h. ein Verbot, bei dem Ausnahmen nur schwer vorstellbar erscheinen, so dürfte es sinnvoll sein, wenigstens in der Nähe der kantischen Begründungsansätze zu bleiben. Joachim
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Kant, Die Metaphysik der Sitten, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 363. Wobei es hier nicht darauf ankommt, ob der Privatmann handelt, um sein eigenes Leben oder das Leben eines Dritten zu retten. 70
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
Hruschka71 hat gezeigt, dass und wie Kant seinen Kategorischen Imperativ aus zwei vor ihm bereits ausführlich diskutierten Grund-Sätzen entwickelt hat: der sog. Goldenen Regel und dem Prinzip der Verallgemeinerung. Während die Goldene Regel (sprichwörtlich: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“)72 sich – worauf bereits Kant hinweist73 – zur Begründung von Rechtsvorschriften schon deshalb wenig eignet, weil ihr der Gedanke der Allgemeinheit des Gesetzes fehlt, ist das Prinzip der Verallgemeinerung ein insoweit eher in Betracht kommender Grund-Satz. Das Prinzip der Verallgemeinerung74 (sprichwörtlich: „Was wäre wohl, wenn das jeder täte?“) setzt zum einen voraus, dass man die Folgen einer Handlung in ethisch75 relevanter Hinsicht bewerten kann,76 und zum anderen, dass die Bewertung der Folgen einer Handlung einen Rückschluss auf die ethische Be71 Hruschka, „Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeinerung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel von Kants kategorischem Imperativ“, JZ 42 (1987), 941 ff. 72 Vgl. Tobias, 4, 16, Matthäus, 7, 12 und Lucas, 6, 31. – Näher zur Goldenen Regel vgl. aus neuerer Zeit etwa Hans Reiner, „Die ,Goldene Regel‘. Die Bedeutung einer sittlichen Grundformel der Menschheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung 3 (1948), 74 ff.; Marcus G. Singer, „The Golden Rule“, Philosophy 38 (1963), 293 ff.; Günter Spendel, „Die Goldene Regel als Rechtsprinzip“, FS für Fritz von Hippel, Tübingen 1967, S. 491 ff.; Fumihiko Takahashi, „The Confucian Golden Rule: Chu Hsi’s Neo-Confucian Interpretation and the Critical Arguments by Japanese Confucianists in the Seventeenth and Eighteenth Centuries“, JRE 8 (2000), 315 ff.; HansUlrich Hoche, „Eine wollenslogische Weiterentwicklung des Universellen Präskriptivismus und die Begründung der Goldenen Regel“, JRE 9 (2001), 325 ff.; Hruschka, „Die Goldene Regel in der Aufklärung – die Geschichte einer Idee“, JRE 12 (2004), 157 ff.; jeweils m. w. N. Vgl. auch 7. Kapitel, Abschnitt III.2. 73 Kant, a. a. O. (ob. Fn. 17), S. 430, Fußnote. 74 Hruschka zeigt in seinem ob. Fn. 71 zitierten Aufsatz (S. 945), dass sich eine erste präzise Formulierung des Prinzips der Verallgemeinerung in den Elementa Juris Naturae et Gentium von Johann Balthasar Wernher (Wittenberg 1704) findet; dort lautet es: „Quicquid ita comparatum, ut, si ab omnibus hominibus omitteretur, generi humano pereundum esset, illud per legem Naturae a Deo praeceptum. Quicquid ita comperatum, ut, si ab omnibus hominibus fieret, generi humano pereundum esset, illud naturaliter a Deo prohibitum.“ – „Was so beschaffen ist, daß, wenn es von allen Menschen unterlassen würde, dem menschlichen Geschlecht den Untergang brächte, das ist durch das Gesetz der Natur von Gott geboten, und was so beschaffen ist, daß, wenn es von allen Menschen getan würde, dem menschlichen Geschlecht den Untergang brächte, das ist von Natur aus von Gott verboten.“ (Die Übersetzung vgl. auch bei Hruschka, a. a. O.). Vgl. zum Prinzip bzw. Argument der Verallgemeinerung auch oben 7. Kapitel, Abschnitt III.2. 75 Der Ausdruck „ethisch“ sei hier als Oberbegriff zu „rechtlich“ und „moralisch“ verwendet. 76 Nur am Rande sei erwähnt, dass anscheinend auch Kant immerhin von der Möglichkeit einer solchen Bewertung von Handlungsfolgen ausgeht, wenn er in der oben bereits zitierten Passage der Metaphysik der Sitten zwischen „guten“ und „schlimmen Folgen“ einer Handlung differenziert; vgl. Kant, a. a. O. (ob. Fn. 28); allerdings verweigert sich Kant der These, dass es auf diese Folgenbewertung für die Bewertung der Handlung ankäme.
IV. Ausnahmen vom Folterverbot?
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wertung eben dieser Handlung selbst zulässt. Insofern ist das Prinzip der Verallgemeinerung ein konsequentialistisches Prinzip. Im Unterschied zu einem Prinzip, das die Konsequenzen der je einzelnen Handlung bewertet und davon die Bewertung der Handlung direkt abhängig macht, so wie dies beispielsweise der sog. Handlungsutilitarismus tut (wobei dann die „Nützlichkeit“ der jeweiligen Folgen das maßgebliche Bewertungskriterium abgibt), nimmt das Prinzip der Verallgemeinerung einen weiteren Gedanken hinzu. Es fragt nicht nach den Folgen der je einzelnen Handlung, sondern nach den Folgen einer hypothetischen allgemeinen Praxis der betreffenden Handlung und nach der Bewertung dieser (hypothetischen) Folgen.77 Durch die Frage nach der allgemeinen Praxis wird zunächst dem Gedanken der Allgemeinheit eines (auf die Beantwortung der Frage gestützten) Gesetzes Rechnung getragen. Durch die Frage nach den Folgen einer Handlung und nach der Bewertung dieser Folgen kommt dann zur Geltung, dass eine Handlung (anders als Kant dies gesehen hat) nicht nur eine abstrakte Entität, sondern einen konkreten Eingriff in die Wirklichkeit der Lebenszusammenhänge darstellt. 2. Anwendungsbedingungen des Prinzips der Verallgemeinerung Es kann hier nicht darum gehen, die Vor- und Nachteile des Prinzips der Verallgemeinerung zu erwägen.78 Vielmehr sollen die bei seiner Anwendung zu 77 Weshalb das Prinzip der Verallgemeinerung auch – im Unterschied zum oben erwähnten „Handlungsutilitarismus“ – als Prinzip des „Regelutilitarismus“ bezeichnet wird, wobei diese Bezeichnung allerdings nur dann exakt zutrifft, wenn als Kriterium der Folgenbewertung deren „Nützlichkeit“ (wofür auch immer) genommen wird; näher hierzu vgl. z. B. Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, Freiburg/München, 2. Aufl. 1977, insbes. S. 24 ff. Hoerster unterscheidet (S. 6, 29 ff.) zudem treffend zwischen zwei Arten regelutilitaristischer Prinzipien, von denen das erste danach fragt, ob die Ausführung einer Handlung im Allgemeinen schlechte Folgen hat (Regelutilitarismus 1), während das zweite danach fragt, ob die allgemeine Ausführung einer Handlung schlechte Folgen hat (Regelutilitarismus 2). Nur die zweite Art ist das hier gemeinte Prinzip der Verallgemeinerung. Dieses Prinzip der Verallgemeinerung ist wegen seiner Bezugnahme auf eine hypothetische allgemeine Praxis eben gerade auch kein krudes Prinzip einer reinen Interessenverrechnung. Während ein bloßes (handlungsutilitaristisches) Interessenverrechnungsprinzip sich etwa in jenem bekannten Beispiel der fünf Personen, von denen eine ein neues Herz, eine eine neue Lunge, eine eine neue Leber und zwei eine neue Niere benötigen, um weiterleben zu können, für die Tötung einer sechsten, als „Organspender“ geeigneten Person entscheiden müsste, um die fünf anderen retten zu können, fragt das Prinzip der Verallgemeinerung darüber hinaus nach den Konsequenzen einer allgemeinen Praxis (bzw. einer allgemeinen Erlaubnis) einer solchen Verhaltensweise – und die wären in der Tat verheerend, weil dann keiner seines Lebens mehr sicher wäre, da er jederzeit damit rechnen müsste, zur Rettung anderer getötet zu werden, weshalb die hier in Betracht gezogene Tötungshandlung zu verbieten ist. 78 Vgl. dazu etwa Marcus G. Singer, Generalization in Ethics, New York 1961 (dt.: Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt/Main 1975); Hoerster, a. a. O. (ob. Fn. 77), S. 41 ff.; s. a. das 7. Kapitel, Abschnitt III.2.
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
durchlaufenden Schritte noch einmal kurz zusammengestellt werden,79 um dann zu fragen, wie sich daraus die Strukturen eines angemessenen Folterverbots entwickeln lassen. Die für eine Anwendung des Prinzips der Verallgemeinerung maßgeblichen Schritte sind (zumindest) die folgenden fünf: (1) Identifizierung der Handlung, die es zu beurteilen gilt, und Bewertung der Folgen, die diese Handlung hätte; sind diese Folgen wesentlich negativ, ist die Vornahme der Handlung verboten (bzw. zu verbieten); ist dies nicht der Fall, ist der nächste Schritt erforderlich; (2) Hypothetische Vorstellung einer allgemeinen Praxis der betreffenden Handlung (d.h.: Was wäre, wenn jeder – bzw. hinreichend viele80 – diese Handlung vornähme?); (3) Feststellung, ob überhaupt die konkrete Wahrscheinlichkeit (Gefahr) einer solchen allgemeinen Praxis besteht (d.h.: Wollen überhaupt hinreichende viele diese Handlung vornehmen?); (4) Bewertung der (hypothetischen) Folgen einer solchen konkret wahrscheinlichen allgemeinen Praxis81; (5) Sind die Folgen wesentlich negativ zu bewerten, ist die Vornahme der betreffenden Handlung verboten (bzw. ihre Unterlassung ist geboten); sind die Folgen dagegen wesentlich positiv zu bewerten, ist die Vornahme der betreffenden Handlung geboten (bzw. ihre Unterlassung ist verboten); sind die Folgen demgegenüber im Wesentlichen „neutral“ zu bewerten, ist die Vornahme der betreffenden Handlung (aber auch ihre Unterlassung) erlaubt. Zum besseren Verständnis dieser Schritte mögen die folgenden Erläuterungen dienen: Ad (1) Hier geht es um die Identifizierung der Handlung in ihrem relevanten Kontext, d.h. unter Berücksichtigung aller relevanten tatsächlichen Umstände.82 So wäre etwa mitzuteilen, ob die Handlung z. B. in einer Notwehrsituation vorgenommen wird oder nicht etc., allerdings natürlich unabhängig von der Frage, ob man sich in Notwehrsituationen gegen einen Angriff wehren darf oder nicht. 79 Vgl. zu einem Gerichtsurteil, das diese Schritte implizit durchführt, Joerden, Anmerkung zu OLG Frankfurt/M. (JR 1992, 255 f.), JR 1992, 256 ff. 80 Dies ist natürlich eine offene Größe, die präzise zu bestimmen hier nicht möglich ist. Auch ist diese Beschreibung hinsichtlich des Zeitfaktors offen. 81 Wernhers Kriterium (vgl. ob. Fn. 74) war der „Untergang des menschlichen Geschlechts“. Heute würde eher von „wesentlich negativ zu bewertenden Folgen“ zu reden sein, wobei hier offenbleiben muss, wie diese genau zu quantifizieren wären. Es kann hier nur um die Struktur des Arguments und nicht um seine Ausbuchstabierung für jeden Einzelfall gehen. Vgl. auch noch den nachfolgenden „Schritt“ und unten ad (4). 82 Es sei eingeräumt, dass sich natürlich schon in die Bestimmung des Kontextes normative Größen „einschleichen“ können. Das ist aber ohnehin unvermeidlich.
IV. Ausnahmen vom Folterverbot?
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– Ad (2) Eine „allgemeine Praxis“ ist dabei nicht nur dann gegeben, wenn jeder die Handlung vornähme, sondern – insbesondere in Fällen begrenzter Ressourcen – wenn hinreichend viele die Handlung vornähmen. Trägt beispielsweise ein Fahrstuhl, vor dem 20 Personen stehen, nur genau 5 Personen, und will nun einer der vor dem Fahrstuhl Stehenden klären, ob er den Fahrstuhl betreten darf, so muss er lediglich danach fragen, was wohl wäre, wenn 6 Personen einstiegen, nicht aber, was geschähe, wenn alle 20 Personen (oder gar die gesamte Menschheit) einstiegen.83 – Ad (3) Wiederum insbesondere in Fällen begrenzter Ressourcen ist die Vorstellung einer hypothetischen allgemeinen Praxis dann nicht erforderlich, wenn gar nicht die konkrete Wahrscheinlichkeit besteht, dass hinreichend viele Personen die betreffende Handlung vornehmen wollen. Stehen etwa vor besagtem Fahrstuhl nur 4 Personen, muss man vom Einsteigen nicht etwa deshalb Abstand nehmen, weil der Fahrstuhl beim Zusteigen von 6 Personen ausfallen würde. – Ad (4) Die hiermit verbundenen Probleme sind bereits angedeutet worden. Während J. B. Wernher noch darauf Bezug nahm, ob das „gesamte Menschengeschlecht“ bei einer allgemeinen Praxis den Untergang zu erleiden hätte,84 wird man richtigerweise auf „wesentlich negativ zu bewertende Folgen für hinreichend viele Personen“ abzustellen haben, wobei sicherlich auch diese Formulierung weiteren Konkretisierungs- und Präzisierungsbedarf aufweist, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden muss, da – wie sich zeigen wird – schon diese recht allgemein gefasste Formulierung für die vorliegend diskutierte Problematik ausreichende Präzision bietet. – Ad (5) Da es bei Zugrundelegung des Prinzips der Verallgemeinerung bei der ethischen Beurteilung einer Handlung gerade auf die Folgen einer hypothetischen allgemeinen Praxis ankommt, ist klar, dass insoweit negativ zu beurteilende Handlungen verboten sind (bzw. werden müssen).85 Dass „neutral“ zu bewertende Handlungen als (absolut) erlaubt zu gelten haben, ist danach auch unproblematisch. Eher fraglich ist es, ob dann, wenn die Folgen der hypothetischen allgemeinen Praxis positiv zu bewerten sind, ein Gebot dieser Handlung abgeleitet werden kann. Zumindest erscheint hier die These denkbar, dass der Staat nicht gehalten ist, die betreffende Handlung zu gebieten; sie mag lediglich ethisch geboten sein. Jedenfalls aber wird man von Handlungen dieser Art sagen können, dass sie zumindest (relativ) erlaubt sind.
83 Natürlich wird in diesem Beispiel inzidenter vorausgesetzt, dass es eine überwiegend schlechte Folge wäre, wenn 6 Personen in den Fahrstuhl stiegen und dieser daraufhin z. B. mit den 6 Personen in die Tiefe stürzte. 84 Vgl. ob. Fn. 74 und 81. 85 Dabei formuliert das Prinzip der Verallgemeinerung nicht nur einen Imperativ an den Einzelnen, sondern auch an den Staat, sofern er die (legitimen) Interessen seiner Bürger schützt.
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
3. Anwendung des Prinzips auf die Folterproblematik Auf der Basis dieser Überlegungen und Festlegungen für die Anwendung des Prinzips der Verallgemeinerung kann man nun versuchen, die Frage der Zulässigkeit von Folter zu erörtern. Dabei ist zunächst klar, dass die Handlung des Folterns als solche, d.h. ohne dass einschränkende Sonderbedingungen (z. B. eine Notwehrlage) hinzukämen, verboten sein muss. Denn eine (hypothetische) allgemeine Praxis dieser Art von Handlungen, hätte ohne Frage erhebliche negative Folgen für viele einzelne Personen und auch für das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt. Wie z. B. auch das (nicht in einer Rechtfertigungslage vorgenommene) Töten, sonstige Körperverletzungen, das Betrügen, der Diebstahl, ist daher das Foltern zu verbieten. Anders als der Kategorische Imperativ, der angesichts seiner quasi-naturgesetzlichen Konzeption ausnahmefeindlich ist (vgl. oben I.4.), schließt das Prinzip der Verallgemeinerung Ausnahmen von festgestellten Regeln nicht von vornherein aus, wenn es Begleitumstände einer Handlung gibt, die entweder die Folgen einer hypothetischen allgemeinen Praxis der betreffenden (durch jene Umstände modifizierten) Handlung als nicht überwiegend negativ erscheinen lassen, oder wenn gar nicht erst die Gefahr einer solchen allgemeinen Praxis besteht.86 Darüber hinaus lässt natürlich das Prinzip der Verallgemeinerung – wiederum anders als der Kategorische Imperativ – eine Abwägung der verschiedenen Handlungsfolgen untereinander prinzipiell zu. Hat also eine hypothetische allgemeine Praxis unterschiedlich zu bewertende Handlungsfolgen (positive und negative), so kann man einen Saldo bilden und die Beurteilung der Handlung an der Bewertung dieses Saldos orientieren (wovon der Kategorische Imperativ schon deshalb keine Kenntnis nehmen kann, weil er den Handlungsfolgen keinerlei Bedeutung für die Beurteilung der diese Folgen hervorbringenden Handlung zumisst). 4. Folter im „Privatgebrauch“ Fragt man nun, ob der einzelne Bürger ggf. das Mittel der Folter einsetzen darf, um sein Leben (oder das eines Dritten) zu retten, so ist zu klären, ob eine hypothetische allgemeine Praxis in entsprechenden Fällen zu überwiegend negativen Konsequenzen führen würde. Dabei ist klar, dass die Fälle, in denen eine Notwehrrechtfertigung von Foltermaßnahmen überhaupt in Betracht kommt, eher selten sind. Denkbar sind sie aber durchaus, wie folgender (oben bereits kurz erwähnter) Fall zeigt: B hat dem A ein relativ langsam wirkendes, aber tödliches Gift injiziert. A ist des B habhaft geworden und will nun von ihm wissen, welches Gift er ihm injiziert hat, um ein (vorausgesetztermaßen) wirk86
Vgl. obige Voraussetzung (3) und ad (3).
V. Folter durch Staatsorgane?
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sames Gegengift einzunehmen. B verweigert die Auskunft, die er leicht erteilen könnte. Wenn A in einem solchen Fall Mittel der Folter einsetzt, um B zu einer Auskunft zu bewegen, so ist nicht einzusehen, warum dieses Verhalten des A nicht durch Notwehr gerechtfertigt sein sollte. Denn der Staat, der aufgerufen ist, und letztlich überhaupt nur daraus seine Existenzberechtigung herleiten kann, die Rechte seiner Bürger zu schützen, muss jedenfalls dann, wenn er nicht rechtzeitig eingreifen kann, um diese Rechte tatsächlich zu schützen, es trotz seines grundsätzlichen Gewaltmonopols dem Bürger überlassen, sich zu verteidigen, soweit dies erforderlich ist.87 Hier ergibt sich auch bei Anwendung des Prinzips der Verallgemeinerung nichts anderes: Wenn jeder Bürger seine Rechte in einer Notwehrlage so verteidigt, dass (maximal) das jeweils erforderliche Mittel – und sei dies auch die Folter – eingesetzt wird, hätte dies keine überwiegend negativen Folgen. Zwar könnte es zu einigen (seltenen) Fällen von (privater) Folteranwendung kommen, aber zum einen kann dadurch auch das angegriffene Rechtsgut gerettet werden (im obigen Beispiel das Leben des A) und zum anderen besteht keine Gefahr einer allgemeinen Praxis, eben weil die Fälle selten sein, vereinzelt bleiben und sich nicht zu einer über diese Einzelfälle hinaus sich ausweitenden Praxis verdichten werden. Das gilt übrigens nicht nur im Hinblick auf Fälle privater Notwehr, sondern auch in Bezug auf Fälle privater Notwehrhilfe. Auch hier bieten die wenigen in Betracht kommenden Fälle keinen hinreichenden Anlass, eine sich daraus entwickelnde allgemeine Praxis des Folterns zu befürchten.
V. Folter durch Staatsorgane? Man könnte nun meinen, dass dann auch in den Händen von Staatsorganen die Folter erlaubt sein müsse, sofern etwa ein dem obigen Fall Daschner entsprechender (vereinfachter) Fall gegeben ist.88 Handelt es sich der Struktur nach doch um einen Fall der Notwehrhilfe des betreffenden Staatsorgans für die angegriffene Person (in diesem Fall: für den Entführten). Dafür spricht vordergründig die These, dass etwas, das dem Polizisten als Privatmann erlaubt sei, ihm doch nicht als Polizist verboten sein könne. Und in der Tat: Sofern etwa ein Polizist in die im obigen Beispielsfall geschilderte Lage käme, sein eigenes Leben nur dadurch vor dem Vergiftungstod retten zu können, dass er den Giftbeibringer foltert, um auf Grund der von diesem zu erlangenden Information 87 „Erforderlich“ bedeutet dabei, dass das jeweils schonendste Mittel einzusetzen ist, das eine erfolgversprechende Abwehr des Angriffs bedeutet. Man mag allenfalls darüber nachdenken, inwieweit hier ein fortdauernder Angriff des B im Sinne des Notwehrrechts (vgl. § 32 StGB) vorliegt, da der (aktive) Angriff des B ja bereits mit der Giftbeibringung abgeschlossen ist. Vgl. dazu auch schon ob. Fn. 55. 88 So im Ergebnis z. B. Erb, a. a. O. (ob. Fn. 43). Ähnlich auch Herzberg, a. a. O. (ob. Fn. 43).
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
das angemessene Gegengift einsetzen zu können, wird man ihm das (Notwehr-) Recht, dies zu tun, nicht verweigern dürfen. Was das Prinzip der Verallgemeinerung betrifft, gelten insoweit keine anderen Überlegungen als im Falle der „privaten“ Notwehr.89 1. Folter im staatlichen Gewahrsam? Eine wesentlich andere Situation ist jedoch – wie zu zeigen sein wird: gerade auch im Lichte des Prinzips der Verallgemeinerung – dann gegeben, wenn die Person, um deren mögliche Folterung es geht, sich (wie im Fall Daschner) in den Händen des Staates, d.h. genauer: in dessen Gewahrsam,90 befindet. In einem solchen Fall darf die Folter nicht erlaubt werden, und zwar gerade wegen der Folgen einer hypothetischen allgemeinen Praxis. Anders als in den vereinzelten Fällen der Privaten, die sich durch Folter u. U. wehren dürfen, würde sich eine Folterpraxis des Staates nicht wirksam eingrenzen lassen. Alle histori89 Dies gilt auch bei einer Notwehrhilfe, die ein Polizist „privat“ ausübt, d.h. sofern er nicht dienstlich mit dem Fall befasst ist. 90 Gegen ein generelles Folterverbot wird gelegentlich das Argument verwendet, es sei bei einer Geiselnahme – falls erforderlich – nach allg. Ansicht sogar ein Todesschuss auf den Geiselnehmer (sog. finaler Rettungsschuss) erlaubt und daher nicht einzusehen, warum nicht erst recht – falls erforderlich – ein (tendenziell milderes Mittel, und zwar ein nicht-tödlicher) Schuss, der dem Geiselnehmer nur Schmerzen zufügt, erlaubt sein sollte; vgl. zu einer solchen Argumentation z. B. Otto, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 480; etwa bei Götz, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 956 f., findet sich auch im Hinblick auf die oben im Text diskutierten Fälle der Ausdruck „Rettungsfolter“, offenbar in Analogie zum Begriff des Rettungsschusses; vgl. auch Hilgendorf, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 334 m. w. N. in Fußnote 30. Der entscheidende Unterschied zwischen einem Fall, bei dem der Geiselnehmer so durch einen Schuss getroffen wird, dass er erhebliche Schmerzen erleidet und deshalb die Geisel freigibt, und einem Fall, der dem (hier vereinfachten; vgl. oben) Fall Daschner entspricht, besteht aber gerade darin, dass sich im zuerst genannten Fall der Geiselnehmer nicht im Gewahrsam des Staates befindet. Wollte man zu dem zuletzt genannten Fall wirklich eine Parallele zu dem Fall des sog. finalen Rettungsschusses konstruieren, dann müsste man über eine Situation nachdenken, in der eine Geisel nur dadurch gerettet werden kann, dass man den im Gewahrsam der Polizei befindlichen Geiselnehmer tötet, etwa weil dann sein bisher unbekannter Komplize die Geisel freigeben wird. Wer auch in einem solchen Fall noch meint, die Tötung sei erlaubt, hat auch mit der „Rettungsfolter“ sicher keine (rechtlichen) Schwierigkeiten mehr. Vgl. hierzu auch Greco (ob. Fn. 43), S. 631 Fn. 15. – Eine weiter unten noch einmal aufzugreifende Frage ist es, ob der Staat eingreifen muss, wenn er – in einer Situation wie sie obigem „Giftfall“ entspricht – durch seine Organe zur Kenntnis nimmt, dass ein Privatmann mittels Folter Notwehr übt. Konsequenterweise muss man eine solche Eingriffspflicht (und auch ein Eingriffsrecht) verneinen, solange der private Verteidiger in den Grenzen der Notwehr, also insbesondere, was die Erforderlichkeit betrifft, handelt. Das Eingreifen des Staates (mit der Konsequenz, dass der „Angreifer“ vor der Folter durch den Privaten geschützt wäre) stellt auch kein „milderes Mittel“ i. S. d. Notwehrrechts dar, weil es mutmaßlich weniger erfolgversprechend zur „Abwehr des Angriffs“ sein wird. Weshalb hier auch der Private nicht etwa den Staat zu Hilfe rufen muss. Tut er es gleichwohl und gelangt nunmehr der „Angreifer“ in den Gewahrsam des Staates, gelten die im Text genannten Regeln.
V. Folter durch Staatsorgane?
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sche Erfahrung zeigt, dass ein Staat, dem das Mittel der Folter zu Gebote steht, dieses vornehmlich einsetzt, um die Macht der Staatsorgane zu sichern und die Bevölkerung zu unterdrücken, nicht aber allein, um vereinzelte Notwehrfälle zu „lösen“. Das liegt u. a. daran, dass eine Institutionalisierung der Folter in staatlicher Hand eine letztlich unkontrollierbare Eigendynamik entwickelt, die sich zu einem nahezu beliebigen Einsatz für Staatszwecke ausweitet. „Hier gibt es kein Halten – außer am Anfang“.91 Es ist dabei durchaus voraussehbar und wahrscheinlich, dass Vergleichbares auch künftig geschehen würde, wäre dem Staat das Mittel der Folter in die Hand gegeben. Dies gleichsam rechtlich „einzuhegen“ und auf die (wenigen) Fälle, die dem Fall Daschner vergleichbar wären, zu begrenzen, erscheint als illusionär. Denn der Bedarf des Staates, Informationen zu erlangen, die – tatsächlich oder auch nur vermeintlich oder gar lediglich angeblich – geeignet sind, Menschen oder den Staat zu schützen, ist unerschöpflich. Es kommt hinzu, dass eine Verwendung der Mittel der Folter durch den Staat oder seine Bediensteten bzw. Organe eine Institutionalisierung erfordern würde. Es müsste also ein Apparat von speziell geschulten Folterern und Ärzten aufgebaut werden, der die fraglichen Maßnahmen durchführen würde. Dieses dürfte nicht insgeheim geschehen, sondern müsste quasi öffentlich organisiert (und überwacht) werden. Ist aber erst einmal eine derartige Maschinerie eingerichtet, ist es nahezu ausgeschlossen, sie effektiv zu begrenzen. Folge dessen wäre die zumindest naheliegende Gefahr, dass Folter auch auf weitere in Betracht kommende Fälle erstreckt würde. Eine weitere Konsequenz wäre, dass niemand mehr im Gewahrsam des Staates sicher sein könnte, nicht gefoltert zu werden. Denn die Behauptung einer zumindest subjektiv gegebenen Situation,92 wonach der Gefolterte möglicherweise (lebens-)wichtige Informationen preisgeben könnte, ist im Rahmen der präventiven, aber auch der repressiven Verbrechensbekämpfung so einfach zu erheben, dass sie mit Sicherheit immer wieder erhoben (und geglaubt) werden würde.
91 So zu Recht Christoph Gusy, „Wiedergelesen: ,Christian Thomasius‘: Über die Folter, 1705“, JZ 2005, 239 ff., 241. Ähnlich im Hinblick auf die Gefahr eines „Dammbruches“ argumentiert z. B. auch Roxin, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 468. Vgl. zum historischen Aspekt der Folter auch z. B. Jerouschek, a. a. O. (ob. Fn. 43); Hilgendorf, a. a. O. (ob. Fn. 43). Allgemein zur Argumentation mit dem Gedanken des „Dammbruches“ vgl. Frank Saliger, „Das Dammbruchargument in Medizinrecht und Medizinethik“, JRE 15 (2007), S. 633–642 m. w. N. und danach zu Anwendungsbeispielen in Medizinethik und Medizinrecht, S. 642 ff. 92 So ja auch im Fall Daschner, wo man kaum anderes annehmen konnte, als dass dem Vizepolizeipräsidenten subjektiv eine Gefahrabwendungsmöglichkeit durch Folter des Entführers vor Augen stand (objektiv war wegen des Todes des Entführten ohnehin keine Information mehr möglich, die das Leben des Entführten hätte retten können).
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
Aus gutem Grund ist daher selbst in Kriegszeiten die Folter von Kriegsgefangenen völkerrechtlich verboten, obwohl gerade hier es doch sehr naheliegt, dass durch die Folter wichtige Informationen erlangt werden könnten, die zur Rettung von Menschenleben der eigenen Truppen oder der Zivilbevölkerung geeignet wären. Auch hinter diesem Verbot steht die allgemein moralphilosophische Erwägung, dass eine hypothetische allgemeine Praxis verheerende Folgen hätte, die nicht nur die gegnerischen Kriegsgefangenen träfe, sondern auch die eigenen Kombattanten, die in fremde Kriegsgefangenschaft geraten.93 Noch einmal sei an das oben bereits erwähnte (genau genommen durchaus folgenorientierte und daher eigentlich „unkantische“) Argument erinnert, das Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden verwendet: Man muss bei seinem Handeln auch die Folgen für einen späteren Nach-Kriegszustand bedenken.94 Um ein aktuelles Beispiel heranzuziehen: Immerhin besteht weltweit Einigkeit darüber, dass Foltervorgänge, wie sie aus Gefängnissen im Irak bekannt geworden sind, nicht zu rechtfertigen sind, auch nicht etwa mit dem Argument, diese hätten dazu geführt, dass durch die erfolterten Informationen Menschenleben hätten gerettet werden können. Presseberichten zufolge hat der amerikanische Präsident die Vorgänge in Abu Ghraib als „unamerikanisch“ („unamerican“) bezeichnet, was man wohl getrost als Steigerungsform von „rechtswidrig“ auffassen kann. Jedenfalls ist – soweit ersichtlich – nicht auch nur ansatzweise der Versuch unternommen worden, die Übergriffe als jedenfalls effizient im Hinblick auf (lebenswichtige) Informationsbeschaffung zu rechtfertigen. Bei der hier dargelegten Argumentation mit dem Prinzip der Verallgemeinerung ist nun selbstverständlich auch auf die Menschenleben Bezug zu nehmen, die ggf. durch den Einsatz der Folter durch staatliche Behörden gerettet werden könnten. Diese Bezugnahme ist Teil jeder konsequentialistischen Erwägung, die nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Resultate einer (hypothetischen) allgemeinen Praxis zu berücksichtigen hat. Aber selbst die Berücksichtigung dieser positiven Folgen einer allgemeinen staatlichen Praxis der Folter kann die insgesamt negative Einschätzung der (hypothetischen) Folgenbilanz nicht verändern. Denn die Fälle, in denen durch Folter tatsächlich ein Mensch gerettet werden kann, dürften in ihrer Anzahl gering sein. Die Gefahr einer Ausweitung der Praxis der Folter auch auf Unschuldige ist demgegenüber erheblich höher. Es sind daher auch und gerade die potentiellen unschuldigen Folteropfer, die durch das generelle Verbot staatlicher Folter geschützt werden.
93 In gewisser Hinsicht steckt darin natürlich auch eine Anwendung der Goldenen Regel; s. o. bei Fn. 72. 94 Dabei soll nicht die Frage aufgeworfen werden, ob sich die Staaten an das Folterverbot auch immer halten. Denn dass Normen durchbrochen werden, ändert (zumindest prima facie) nichts an ihrer Gültigkeit.
V. Folter durch Staatsorgane?
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2. Parallelen Eine gewisse Parallele zu dieser Problematik ist mit der Frage gegeben, ob der Staat gegenüber Entführern bereit sein sollte, z. B. Lösegeld zu bezahlen, um die Entführten zu retten.95 Auch hier steht die Rettung der Entführungsopfer in Rede und doch spricht im Hinblick auf die Folgen einer (hypothetischen) allgemeinen Praxis von Lösegeldzahlungen bei Entführungen viel dafür, die Zahlung von Lösegeld zu unterlassen. Zumindest besteht kein moralischer oder rechtlicher Anspruch der Entführten auf diese Lösegeldzahlungen. In Deutschland ist es einem Privaten – wohl96 – nicht verboten, ein Lösegeld zu zahlen; die Zahlung von Lösegeld wird aber jedenfalls von staatlichen Stellen – zumindest offiziell – nie als ein Mittel zur Klärung dieser Konfliktsituation eingesetzt, und zwar gerade wegen der zu befürchtenden Folgen einer (hypothetisch) allgemeinen Praxis. Z. B. in Italien wird einer Lösegeldzahlung (etwa durch Angehörige des Entführungsopfers) per Gesetz entgegengewirkt, gerade auch, um eine sich entwickelnde allgemeine Praxis der Lösegeldzahlung zu verhindern, die weitere Entführungen begünstigen würde.97 3. Staatliches Eingreifen zur Verhinderung von Folter durch Private? Dies alles spricht dafür, die Folter als Mittel in der Hand des Staates generell zu verbieten,98 und damit zwischen einer Regelung für Private (vgl. oben) und einer Regelung für staatliche Organe zu differenzieren. Es liegt auf der Hand, dass es hierbei zu Abgrenzungsproblemen kommen kann. So wird etwa dann, wenn ein staatlicher Bediensteter (z. B. ein Polizist) Kenntnis von der Folterung durch einen Privaten in Notwehr hat, die Frage auftauchen, ob der staatlich Bedienstete eingreifen muss (oder zumindest eingreifen darf), um die Folterungen99 zu verhindern. Dies ist jedoch nicht der Fall. Da die Handlungen des Privaten bei Vorliegen der Voraussetzungen der Notwehr gerechtfertigt sind, dürfen sie auch nicht staatlicherseits unterbunden werden. Daher besteht erst recht
95 Ausführlich zu dieser Problematik Küper, Darf sich der Staat erpressen lassen? Zur Problematik des rechtfertigenden Nötigungsnotstandes, Heidelberg 1986. 96 Arzt meint allerdings, dass es bereits de lege lata verboten sei, in vergleichbaren Fällen ein Lösegeld zu zahlen. Vgl. Gunther Arzt, „Zur Strafbarkeit des Erpressungsopfers“, JZ 2001, 1052 ff., 1054. 97 Vgl. Arzt, ibid., 1057, mit Fußnote 24. – Eine andere Frage ist es natürlich immer, ob die Lösegeldzahlung, falls rechtswidrig, zumindest entschuldigt werden kann. 98 Das schließt im Einzelfall eine Entschuldigung des staatlichen Bediensteten, der zur Rettung eines Menschen foltert, nicht a limine aus. Allerdings sind auch insofern die Grenzen eng zu ziehen. 99 Es sei hier wieder vorausgesetzt, dass diese Folterungen im Sinne des Notwehrrechts (vgl. § 32 StGB) „erforderlich“ sind.
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
keine Pflicht zum Eingreifen. Auf der anderen Seite darf aber ein staatliches Organ sich nicht der Hilfe Privater zur Durchführung von Foltermaßnahmen bedienen, weil dem Staat auch solches Hilfsverhalten Privater als eigenes zuzurechnen ist. Erst recht darf der Staat eine in seinem Gewahrsam befindliche Person nicht an einen Privaten „ausliefern“, damit der Private die Folterungen vornimmt. (Im obigen Entführungsfall könnte man etwa auf die – abzulehnende – Idee kommen, dass die Polizei, wenn sie den Entführer schon nicht selbst foltern darf, ihn dann den Angehörigen des Entführungsopfers übergibt, damit diese die gesuchte Information durch Folter von ihm zu erlangen suchen.) 4. Vom Anwendungsverbot zum Androhungsverbot Zu erörtern bleibt noch die Frage, ob dann, wenn dem Staat die Anwendung der Folter verboten ist, ihm nicht wenigstens deren Androhung erlaubt sein könnte (im Fall Daschner war es zur Anwendung der Folter nicht gekommen). Hier stellt sich zunächst die allgemeine Frage, ob man mit einer Handlung, die man nicht ausführen darf, überhaupt drohen darf. Diese Frage wird man jedenfalls nicht a limine verneinen können, denn es gibt Fälle, in denen dies offensichtlich erlaubt sein muss. So etwa in folgendem Beispiel: Der Nichtschwimmer N sitzt in einem Ruderboot, das auf einem See schwimmt, aber – weil leck geschlagen – unterzugehen droht. Am Ufer des Sees steht sein Bruder B, ein Rettungsschwimmer, der leicht zu dem Boot hinschwimmen und den N rechtzeitig ans rettende Ufer holen könnte. B tut aber nichts, da er die vom Vater der beiden zu erwartende Erbschaft nicht teilen will. N hat eine Pistole bei sich und richtet diese auf B mit der Drohung, B zu erschießen, wenn er ihn nicht retten komme. Hier liegt auf der Hand, dass N seine Drohung, B zu erschießen, nicht ausführen darf, da dies kein geeignetes Mittel zu seiner Rettung wäre und schon deshalb keine „erforderliche Verteidigung“ gegen den „Angriff durch Unterlassen“ des B darstellte; denn mit der Tötung von B wäre überhaupt keine Rettungshandlung durch ihn mehr möglich. Gleichwohl erscheint es rechtlich durchaus akzeptabel, dass N den B mit dem Tode bedroht, um seine Rettung zu bewirken. Diese Drohung ist auch durchaus wirksam, weil B nicht weiß, ob N seine Drohung (rechtswidrigerweise) wahr macht oder nicht. B kann zwar davon ausgehen, dass N sich dann rechtswidrig verhielte, was B aber wenig hilft, wenn N sich gegen das Recht entscheidet. Es ist daher kein Grund ersichtlich, weshalb es dem N a limine verboten sein sollte, (wenn überhaupt eine Situation vorliegt, in der er drohen darf) mit einer Handlung zu drohen, die er nicht durchführen darf.100 100 Ähnlich insoweit auch Herzberg, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 325, 328, der zutreffend auf die vergleichbare Situation des sog. Warnschusses hinweist, dessen „Warnung“ ggf. nicht realisiert werden darf; anders dagegen Roxin, a. a. O. (ob. Fn. 43), S. 464, der die Effizienz einer Drohung bestreitet, die nicht ausgeführt werden darf.
V. Folter durch Staatsorgane?
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Bei der Androhung von Folter dagegen liegt es anders als in dem soeben erörterten Fall. Jedenfalls dann, wenn man der m. E. zutreffenden Ansicht folgt, dass bereits die Androhung von Folter selbst als Folter zu bezeichnen ist. Denn dann droht der Staat (bzw. sein Organ) nicht nur mit der Vornahme einer rechtswidrigen Handlung (Vornahme der Folter), sondern er übt bereits Folter aus, indem er – wenngleich nicht physisch, so doch – psychisch auf den Adressaten der Drohung einwirkt und schon dadurch „große seelische Schmerzen oder Leiden“ hervorruft, deren Bewirkung zumindest nach völkerrechtlich üblichen Maßstäben bereits als Folter zu werten sind.101 Abgesehen davon wird man gerade auch unter dem Gesichtspunkt des Prinzips der Verallgemeinerung zu diesem Ergebnis kommen. Denn würde es den Organen des Staates erlaubt, mit der Folter zu drohen, die aber nicht ausgeübt werden dürfte, so könnte sich leicht eine (insgesamt negativ zu beurteilende) Praxis einstellen, die – um der Drohung, wo sie angesichts des allgemein bekannten Verbots der Durchführung der angedrohten Folter wenig Wirksamkeit hätte, doch mehr Nachdruck zu verleihen – sich über eben jenes Verbot der Durchführung der Folter hinwegsetzte. Wiederum spricht viel dafür, ein solches in mancher Hinsicht selbstwidersprüchliches Verhalten des Staates („Ich drohe dir mit einer Handlung, von der wir beide wissen, dass ich sie nicht durchführen darf.“) schon deswegen generell zu verbieten, weil die Gefahr besteht, dass die rechtliche Trennung zwischen bloßer Androhung und Durchführung der angedrohten Folter sich in der Praxis auf Dauer nicht würde aufrecht erhalten lassen. 5. Extreme Fälle Hier bisher nicht erörtert ist die Frage,102 ob die Folter nicht wenigstens dann von Staats wegen eingesetzt werden dürfte, wenn durch ihre Anwendung im Einzelfall eine sehr große Zahl von Menschen gerettet werden könnte. Darf etwa der Staat – um ein bekanntes Beispiel aufzugreifen – eine Person dann foltern, wenn diese Person als einzige weiß, wie man den Zeitzünder einer deponierten Atombombe entschärfen kann, die im Falle ihrer Explosion eine Millionenstadt vernichten würde? Grundsätzlich gilt das oben näher begründete Folterverbot des Staates auch hier. Im Unterschied zu dem Fall des Einzelnen, dessen Leben ggf. durch die Folter zu retten wäre (vgl. oben), könnte man hier allenfalls wegen der großen Zahl der potentiellen Opfer eine Ausnahme erwägen. Eine solche Erwägung ist auch dem Prinzip der Verallgemeinerung nicht völlig fremd, und zwar schon deshalb nicht, weil es ja durchaus alle Folgen einer Handlung in deren Bewertung einbezieht.
101
Vgl. näher dazu Gerhard Werle, Völkerstrafrecht, Tübingen 2003, Rdn. 695 ff. Aufgeworfen wurde diese Frage bereits von Ernst Albrecht, Der Staat – Idee und Wirklichkeit, 1976, S. 174; wiederaufgegriffen von Brugger, a. a. O. (ob. Fn. 43). 102
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
Obwohl es im Hinblick auf die meisten Handlungen, deren allgemeine Praxis überwiegend schlechte Folgen hat, in aller Regel unproblematisch so ist, dass sie verboten werden sollten (vgl. oben), kann es doch Handlungen geben, bei denen es einerseits dann, wenn jeder sie vornähme, zu einer negativ zu bewertenden Situation käme, bei denen aber auch dann, wenn keiner sie vornähme, eine solche negative Situation heraufbeschworen würde. Ein „klassisches“ in diesem Zusammenhang oft erörtertes Beispiel103 ist das Vorhaben, Nahrungsmittel zu produzieren. Denn wenn jeder Nahrungsmittel produzierte, hätte das offenkundig sehr negative Folgen für das betreffende Gemeinwesen, weil dann keiner mehr für andere wesentliche Aufgaben zur Verfügung stünde. Andererseits hätte es natürlich auch negative Folgen, wenn keiner Nahrungsmittel produzierte. Man könnte daher für Handlungen dieser Art, bei denen m. a. W. sowohl die allgemeine Praxis einer Vornahme dieser Handlung als auch die allgemeine Praxis einer Unterlassung derselben Handlung zu negativen Konsequenzen führen würden, die These vertreten, diese Handlungen seien weder zu verbieten noch zu gebieten, sondern vielmehr zu erlauben.104 Bezieht man diese Überlegungen nun auf den hier zu erörternden Fall, dann spricht viel für eine Erlaubnis. Denn einerseits hätte eine allgemeine Praxis des Folterns durch den Staat die oben diskutierten erheblich negativen Folgen, aber andererseits wären natürlich auch die Folgen eines Verbots dieser Handlung in der beschriebenen Situation verheerend.105 Dies scheint dazu zu führen, dass man hier einen entsprechenden Rechtfertigungstatbestand bereitstellen müsste.106 Und doch entzieht sich der Fall m. E. einer angemessenen Verrechtlichung durch positiv-gesetzliche Normen. Denn zum einen ist unklar, ab welcher Zahl von potentiellen Opfern eine Ausnahme zu machen wäre. Schwer abzuschätzen ist zudem, ob eine rechtsförmliche Öffnung des generellen Folterverbots in der Hand des Staates nicht doch zu einer (abzulehnenden) allgemeinen Praxis des Folterns führen könnte, bevor überhaupt ein solcher – hoffentlich immer theoretisch bleibender – Fall der Atombombendrohung tatsächlich vorkommt. Daher scheint es am ehesten angemessen, diesen sehr speziellen Fall ungeregelt zu lassen, was bedeutet, dass es bei dem generellen Verbot bliebe. Allerdings dürfte gleichwohl klar sein, dass ein Täter, der in einem solchen Fall durch sein Handeln eine große Zahl von Personen rettet, nicht gegen das Recht
103 Vgl. etwa Marcus G. Singer, a. a. O. (ob. Fn. 78), dt. Ausgabe, S. 97 m. w. N. Vgl. auch schon ähnliche Fragestellungen im 7. Kapitel. 104 Vgl. auch Marcus G. Singer, ibid., S. 97 ff., der allerdings eher zu einer generellen Unanwendbarkeit des Prinzips bei einer solchen allgemeinen Formulierung der Handlung („Nahrungsmittel produzieren“) tendiert. 105 Und zwar wären im Unterschied zu dem Fall des Alleinbetroffenen die Folgen für sehr viele verheerend. 106 Das fordert dementsprechend konsequent auch insbesondere Brugger, a. a. O. (ob. Fn. 43).
VI. Prinzip der Verallgemeinerung und Kategorischer Imperativ
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verstößt und daher auch nicht bestraft werden sollte. Würde ein solcher Fall tatsächlich einmal eintreten, dann müsste ein damit befasstes Gericht von einem ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund ausgehen. Es erscheint auch nicht erforderlich und wegen der oben genannten Gefahren einer allgemeinen Praxis im Hinblick auf nicht so extrem gelagerte Fälle auch nicht angeraten, demjenigen, der sich möglicherweise einmal als Staatsbediensteter in einer derartigen Fallkonstellation wiederfindet, schon im Vorwege einen geschriebenen Rechtfertigungsgrund zur Verfügung zu stellen. Denn die Motivationskraft rechtlicher Regelungen wird – in welcher Richtung auch immer – in einer solchen Lage ohnehin minimal sein.107
VI. Zum Vergleich der Leistungsfähigkeit von Prinzip der Verallgemeinerung und Kategorischem Imperativ Nach diesen Erwägungen zur Begründung des Folterverbots und seiner möglichen Ausnahmen lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf das Prinzip der Verallgemeinerung und den Kategorischen Imperativ zu werfen, um sich Klarheit über deren Leistungsfähigkeit bei der Begründung von Normen zu verschaffen. Da der Kategorische Imperativ seinem Anspruch nach gerade nicht auf die Folgen einer Handlung, auch nicht auf die Folgen einer (hypothetischen) allgemeinen Praxis der betreffenden Handlung, bezogen ist, kann er, was bei Kant auch explizit108 geschieht, nur auf die Form der Handlung, d.h. die Tauglichkeit der zugrunde liegenden Maxime zur Verallgemeinerung, abstellen. Lügen z. B. ist deshalb verboten, weil erfolgreiches Lügen eine allgemeine Regel voraussetzen muss, wonach Lügen verboten ist. Der Lügner macht daher eine durch nichts zu rechtfertigende Ausnahme von dieser Regel für sich selbst. Die Maxime zu lügen ist nicht verallgemeinerbar 109 – anders als die Maxime, immer die Wahrheit zu sagen. Die Frage nach einer so verstandenen Verallgemeinerbarkeit ist daher bereits in ihrem Ansatz ausnahmefeindlich, da die Form (eines allgemeinen Gesetzes) 107 Es ist daher auch sehr zu bezweifeln, ob es eine gute Idee war, den möglichen Abschuss eines von Terroristen gelenkten Flugzeuges mit (auch) darin sitzenden unschuldigen Passagieren durch § 14 III Luftsicherheitsgesetz ausdrücklich zu erlauben; vgl. zu dem Problem dieser Regelung etwa Pawlik, „§ 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – ein Tabubruch?“, JZ 2004, 1045 ff.; Arndt Sinn, „Tötung Unschuldiger auf Grund § 14 Luftsicherheitsgesetz – rechtmäßig?“, NStZ 2004, 585 ff.; Klaus Lüderssen, „Kriegsrecht in Deutschland?“, StV 2005, 106 f. (Letzterer allerdings durchaus kritisch zu einem „Offenlassen“ einer Regelung.) Zumindest vorerst wurde dieser Regelungsplan ja dann auch vom Bundesverfassungsgericht kassiert; vgl. BVerfG NJW 2006, 751 ff. 108 Vgl. Kant, Grundlegung, a. a. O. (ob. Fn. 17), S. 444. 109 Zu weiteren Beispielen bei Kant siehe Schnoor, a. a. O. (ob. Fn. 63).
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
gerade keine Ausnahme verträgt.110 Schon die Integration des Notwehrrechts in diese Systematik gelingt Kant nur schlecht und eher am Rande, indem er auf die Realisierung des Rechts durch die Ausübung von Zwang Bezug nimmt („Hinderniß des Hindernisses der Freiheit“), um einem Ausnahmecharakter der Notwehr aus dem Wege zu gehen.111 Was bei der Notwehr (als Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff) noch akzeptabel sein mag, versagt bei allen sonstigen Ausnahmen von der Regel. Kant kann denn auch – durchaus konsequent – das Not(stands)recht nur als ein „vermeintes“ Recht ansprechen.112 Plausibel ist das allerdings nicht mehr, was gerade der Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen hat deutlich werden lassen (vgl. oben). Kant hat aus dem schon vor ihm allgemein diskutierten113 Prinzip der Verallgemeinerung lediglich den Gedanken der Verallgemeinerung übernommen und ihn als allein maßgebliches Kriterium für die Beurteilung einer Handlung(smaxime) beibehalten. Dies mag für eine abstrakte Welt und für eine abstrakte Begründung von Normen genügen, es genügt aber nicht für eine konkrete Welt, in der Handlungen auch konkrete Folgen haben. Hier kann es Gründe geben, die zu Ausnahmen von der Regel (Rechtfertigungsgründe) drängen. Anders als der Kategorische Imperativ ist das Prinzip der Verallgemeinerung durchaus in der Lage, auf diese Realität der konkreten Welt angemessen einzugehen. Denn man kann sowohl die allgemeine Regel an diesem Prinzip messen und die allgemeine Regel auf diese Weise begründen als auch eventuelle Ausnahmen zu dieser allgemeinen Regel erwägen und ggf. begründen.114 So kann man etwa zeigen, dass es generell verboten sein sollte zu lügen, weil eine (hypothetische) allgemeine Praxis des Lügens überwiegend negative Folgen nach sich zöge: Allgemeiner Vertrauensverlust, Unmöglichkeit von Vertragsabschlüssen etc. Aber es kann auch gezeigt werden, dass eine allgemeine Praxis der „Notlüge“ in (möglichst) klar definierten Grenzen keinesfalls zu überwiegend negativen Folgen führen würde, und zwar nicht nur deshalb, weil echte „Notfälle“ relativ selten auftreten, sondern auch deshalb, weil die ggf. positiven Folgen der Notlüge (etwa die Rettung von Menschenleben in dem kantisch/constantschen Beispiel) in die Bewertung einzubeziehen sind und es eben nicht so ist, dass Lügen in „Notfällen“ zu einem allgemeinen Vertrauensverlust führt (wie wir täglich erfahren). Zumindest gibt es einigermaßen wirk110
Es sei noch einmal an die Analogie zu den Naturgesetzen erinnert. Bei Kant gibt es – wie gesagt – keine explizite Erörterung des Notwehrrechts. 112 Vgl. Metaphysik der Sitten, a. a. O. (ob. Fn. 5), S. 235 und eben den Aufsatz zum „vermeinten“ Recht zu lügen. 113 Vgl. oben bei Fn. 71, 74. 114 Dazu, dass auch die Anwendung des Prinzips der Verallgemeinerung keineswegs unproblematisch ist – zumindest dann, wenn man nicht (wie hier) versucht, einschränkende Bedingungen zu formulieren – vgl. das 7. Kapitel, Abschnitt III.2. 111
VI. Prinzip der Verallgemeinerung und Kategorischer Imperativ
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same „Gegenmittel“ wie den Ratschlag: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“; wobei dieser Ratschlag zu Recht eben nicht lautet: „Wenn du einmal belogen worden bist, glaube niemandem mehr“. Wie das Beispiel der Folter gezeigt hat, erlaubt es das Prinzip der Verallgemeinerung sogar, zwischen verschiedenen Akteuren hinsichtlich ähnlicher Handlungen zu differenzieren (hier Private, dort Staatsbedienstete), da – wie oben gezeigt – die Folgen einer (hypothetischen) allgemeinen Praxis durchaus differenziert erwogen werden können. Es liegt dabei auf der Hand, dass über die Einschätzung der möglichen Folgen einer Handlung durchaus Streit bestehen wird, da man bei Prognosen (Folgen einer hypothetischen allgemeinen Praxis) notwendig Aussagen über die Zukunft trifft, deren Wahrheitsgehalt nicht gewusst, sondern allenfalls eingeschätzt werden kann. Insofern mag es auch sein, dass das Prinzip der Verallgemeinerung zumindest in der Form, in der es vor Kant diskutiert wurde, noch zu grobschlächtig ist und der Verfeinerung und Ergänzung durch geeignete Prognoseinstrumente bedarf.115 Nur eines wird man festhalten können: Indem Kant aus dem Prinzip der Verallgemeinerung allein den Gedanken der Verallgemeinerbarkeit extrahierte und den Gedanken der Folgenbewertung einer hypothetischen allgemeinen Praxis ausklammerte, hat er der sich ihm anschließenden moralphilosophischen Debatte keinen guten Dienst erwiesen. Zumindest für die Erwägung möglicher Ausnahmen von Regeln ist ohne Konsequenzenbewertung nicht sinnvoll auszukommen. Ergebnisse des 9. Kapitels 1. These Der Vergleich mit Kants Versuch, ein absolutes Verbot der Lüge zu begründen, hat gezeigt, dass auch ein absolutes Verbot der Folter, so gut es per se auch begründet sein mag, letztlich nicht überzeugt. 2. These Den Gebrauch der Folter zur privaten Notwehr – wenn deren Voraussetzungen tatsächlich vorliegen – kann der Staat schlechterdings nicht verbieten, wenn er selbst nicht in der Lage dazu ist, die gefährdeten Rechtsgüter rechtzeitig zu schützen. 3. These Befindet sich die betreffende Person dagegen im Gewahrsam des Staates, ist die Anwendung der Folter generell verboten. Das ergibt sich nicht nur rein 115 Vorschläge dazu vgl. etwa bei Rainer Werner Trapp, „Nicht-klassischer“ Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1998; zu Trapp vgl. auch Brugger, a. a. O. (ob. Fn. 43), Der Staat 1996, 91 ff.
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9. Kap.: Darf der Staat das Mittel der Folter einsetzen?
positiv-rechtlich, sondern ist auch ethisch begründet, wenn man zur Beurteilung dieser Frage das Prinzip der Verallgemeinerung heranzieht. Dabei sind allerdings dessen Anwendungsbedingungen zu präzisieren. 4. These Die Androhung von Folter ist grundsätzlich ebenso zu beurteilen wie deren Anwendung. 5. These In extremen Fällen – wenn sehr viele Menschenleben auf dem Spiel stehen – kann die gefahrabwendende Folter nicht uneingeschränkt als rechtswidrig bezeichnet werden. Allerdings ist eine vorauslaufende Verrechtlichung der Problematik nicht zu empfehlen. 6. These In der Konkurrenz zwischen Kategorischem Imperativ und Prinzip der Verallgemeinerung hat sich zumindest in diesem Problembereich der Kategorische Imperativ wegen seiner grundsätzlichen Ausnahmefeindlichkeit als ungeeignet gezeigt, zu sinnvollen Lösungen zu kommen, während das Prinzip der Verallgemeinerung eher zu problemadäquaten Lösungen führt.
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Namenverzeichnis Aarnio, Aulis 48 Aichele, Alexander 133 Albrecht, Ernst 161 Alexander VI. 11 Aristoteles 109 Arzt, Gunther 159 Axelrod, Robert 78 Bader, Judith 119 Badura, Peter 12 Barschel, Uwe 22 Bentham, Jeremy 98 Beucker, Pascal 13, 16 Beukelmann, Stephan 93 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 47 Böhme, Ibrahim 21 Bohnert, Joachim 122 Brandt, Reinhard 34 Brandt, Willy 24 Braun, Carola von 17 Brugger, Winfried 12, 142, 161 f., 165 Burgmer, Willy 141 Caligula 53 Cassius 102 Celsus 53 Constant, Benjamin 132 f. Cornides, Thomas 75, 78 Crusoe, Robinson 103 Dannecker, Gerhard 70 Daschner, Wolfgang 141 ff., 155 ff., 160 Dencker, Friedrich 86 Denso, Christian 94 Düx, Heinz 141
Ebbinghaus, Julius 38 Engholm, Björn 16, 20 Erb, Volker 70, 141, 155 Fahl, Christian 141, 144 Fastenrath, Ulrich 43 Fezer, Gerhard 93 Filbinger, Hans Karl 20 Flick, Friedrich Karl 13 Forsthoff, Ernst 33 Friedrich II. 30 Gäfgen, Magnus 142 Gauck, Joachim 80 Geis, Matthias 28 Geismann, Georg 38, 132 Geißler, Heiner 16 Geppert, Klaus 93 Gernhuber, Joachim 67 Gillespie, Norman 137 Gintzel, Kurt 141 Gola, Peter 92 Golding, Martin 70 Gorbatschow, Michail 78 Götz, Heinrich 141, 156 Grams, Wolfgang 24 Greco, Luís 142, 156 Gregor IX. 101 Gribbohm, Günter 66 Griefhahn, Monika 28 Gropp, Walter 67 Gründer, Karlfried 47 Guillaume, Günter 24 Günther, Klaus 142 Gusy, Christoph 157
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Namenverzeichnis
Hackmann, Werner 27 Hamm, Rainer 86, 93, 141 Hart, Gary 23 Hartz, Peter 20 Haurand, Günter 141 Hecker, Wolfgang 141 Heitmann, Steffen 48 Herzberg, Rolf Dietrich 141, 155, 160 Hilgendorf, Eric 141, 143 f., 156 f. Hippel, Ernst von 33 Hitler, Adolf 67 Hoche, Hans-Ulrich 150 Hoerster, Norbert 98, 151 Hof, Hagen 57 Höfener, Heiner 11, 30 Höffe, Otfried 117 Honecker, Erich 58, 80 Hösle, Vittorio 82 Houssaye, Amelots de la 11 Hruschka, Joachim 14, 38, 98, 110, 133 f., 145 f., 150 Hutcheson, Francis 98 Jahn, Matthias 142 Jakobs, Günther 122 Jenninger, Philipp 17 Jerouschek, Günter 141, 144, 157 Jeßberger, Florian 141, 144 Kant, Immanuel 17 ff., 30, 33 ff., 48 ff., 85 f., 98, 102, 110, 113 ff., 132 ff., 163 ff. Karl V. 120 Katz, Leo 22 Kaufmann, Arthur 120 Kaufmann, Matthias 142 Kersting, Wolfgang 38, 45 Kindhäuser, Urs 122 Kinzig, Jörg 141, 144 Klemme, Heiner F. 56 Klimmt, Reinhard 16 Klug, Christoph 92 Klug, Ulrich 24, 48, 54 f.
Kluxen, Kurt 33, 44 f. Knauer, Christoph 127 Kohl, Helmut 16, 22 Kölbel, Ralf 141 Kollmann, Horst 136 Koriath, Heinz 133 Krause, Günter 17 Krawietz, Werner 48, 54 Kretschmer, Bernd 141 Kröger, Klaus 12, 27 Kruse, Kuno 27 Kühl, Kristian 124, 142 Kühl, Stefan 23 Kulenkampff, Jens 41 Küper, Wilfried 133, 159 Kutscha, Martin 93 Lackner, Karl 124, 142 Lambsdorff, Otto Graf 13, 16, 30 Lampe, Ernst Joachim 27, 47 Leibniz, Gottfried Wilhelm 98 Lenckner, Theodor 102 Limbach, Jutta 47 Lindgren, Astrid 97, 99 Link, Christoph 33 Locke, John 33 Lubbe, Marinus van der 62 Lucas 98, 150 Lüderssen, Klaus 141, 144, 163 Ludwig, Bernd 34, 38 Lyons, David 117 Machiavelli, Niccolò 11, 30 Maier, Heinrich 133 Maihofer, Werner 27 Matthäus 98, 150 Maunz, Theodor 21 Maus, Ingeborg 38 Merkel, Reinhard 142 Merten, Jan O. 141, 144 Metzler, Jakob von 142 Miehe, Olaf 141
Namenverzeichnis Mitsch, Wolfgang 141 Mögelin, Chris 48 Möllemann, Jürgen W. 19 Möllers, Christoph 38 Montesquieu, Charles de 33 Müller, Ingo 47 Münch, Ingo von 16, 24 Naucke, Wolfgang 58 ff. Neumann, Josef N. 119 Neumann, Ulfrid 145 Nida-Rümelin, Julian 22 Nixon, Richard 12 Norouzi, Ali B. 141 Nowa, John E. 12 Oberer, Hariolf 38, 132 Oberländer, Theodor 21 Ohly, Ansgar 102 Otto, Harro 141, 156 Oxford, Hermann 24 Papier, Hans-Jürgen 43 Paulson, Stanley L. 48 Pawlik, Michael 133, 163 Perron, Walter 102, 141 Peters, Hans 33 Pfarr, Heide 17 Poscher, Ralf 141 Radbruch, Gustav 60 f., 120 Reif, Yvette 92 Reiner, Hans 150 Renzikowski, Joachim 70, 133 Ritter, Christian 34, 38 Ritter, Joachim 47 Rödig, Jürgen 125 Rogall, Klaus 141 f. Rotunda, Ronald D. 12 Rousseau, Jean-Jacques 33 Roxin, Claus 141 f., 157, 160 Rux, Johannes 93
Saliger, Frank 141, 157 Schaal, Alexander 127 Schaefer, Hans Christoph 141 Schild, Wolfgang 141 Schmidt, Helmut 22 Schneider, Hans Peter 43 Schnibben, Cordt 16 Schnoor, Christian 147, 163 Schnur, Wolfgang 21 Schopenhauer, Arthur 109 Schröder, Gerhard 28 Schroeder, Friedrich-Christian 141 Schulte, Martin 57 Schünemann, Bernd 142 Seehofer, Horst 23 Seiters, Rudolf 25, 27 Selmer, Peter 33 Sendler, Horst 47 Siekmann, Hanno 72 Simon, Helmut 28 Singer, Marcus G. 98, 112 f., 150 f., 162 Sinn, Arndt 163 Späth, Lothar 21 Spendel, Günter 150 Stahl, Alexander von 25 Stark, Werner 34 Starke, Friedrich Christian 55 Steinke, Wolfgang 141 Steinkühler, Franz 17, 22 Stern, Klaus 33 Stoffers, Kristian F. 70 Stolleis, Michael 34 Stolpe, Manfred 75, 79 ff. Strauß, Franz-Josef 21, 29, 80 Takahashi, Fumihiko 150 Thomas von Aquin 119 f. Thomasius, Christian 110 Tobias 98, 150 Trapp, Rainer Werner 117, 165
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Namenverzeichnis
Überall, Frank 13, 16 Uhl, Hans-Jürgen 20 Ulpian 101 f. Unruh, Georg-Christoph von 33 Vahle, Jürgen 141 Valerius, Brian 93 Vigilantius, Johann Friedrich 38 Voigt, Alfred 33 Voltaire (François Marie Arouet) 30 Wacke, Andreas 106 Wandres, Thomas 70 Wank, Rolf 43 Warntjen, Maximilian 93 Wefing, Heinrich 94 Weigend, Thomas 141 ff.
Weinberger, Ota 48 Welsch, Harald 141 Werle, Gerhard 57, 70, 161 Wernher, Johann Balthasar 150, 152 f. Westphal, Kenneth R. 38 Wiesheu, Otto 16, 30 Wiesner, Till 78 Wittreck, Fabian 142 Wright, Georg Henrik von 48 Wyduckel, Dieter 48 Young, Nelson J. 12 Zimmermann, Andreas 142 Zimmermann, Friedrich 16 Zippelius, Reinhold 27, 109 Zöller, Mark 88
Sachverzeichnis Abrüstung 78 Absolutes Folterverbot 132, 141 ff. Absolutes Lügeverbot 132, 141 ff. Abstimmungsergebnis 128 Abstimmungsverhalten 130 Abtreibung 71 f. Abu Ghraib 158 Actio libera in causa 66 Adventmethode 20 Affäre(n) 19 ff. Agent 81 Aktienspekulation 17 Allgemeine Handlungslehre 14 Allgemeine Praxis 151 ff. Allgemeine Prinzipien der Gerechtigkeit 98, 110 ff. Allgemeiner Wille 44 Allgemeines Gesetz 114 f., 163 Allgemeinheit des Gesetzes 44, 150 Alltagskriminalität 58 Alltagsmoral 112 Alternative Kausalität 123, 125 ff., 130 Altruismus 111 Amigo 21 Amnestierung 68 Amt, Ämter 29, 109 Amtsbereich 26 Amtsenthebung(sverfahren) 12, 28 Amtsperiode 11 Analogieverbot 63 Anarchie 49, 51 f., 54 f. Androhung von Folter 160, 166 Androhungsverbot 160 Anfangsverdacht 89 Angemessenheitsklausel 145 Angriff durch Unterlassen 145, 160
Angriffskrieg 121 Ankläger 40 Anstiftung 25 Anti-Machiavel 30 Anwendungsverbot 160 Appellation 37 Argument (Prinzip) der Verallgemeinerung 98, 112 f., 117, 145, 149 ff., 163 ff. Aristokratie 33 Atombombendrohung 161 f. Auctor obligationis 36, 39 Aufarbeitung 57 ff. Aufklärung 29 Ausgleich 106 f. Ausgleichende Gerechtigkeit 109 Ausgrenzung 53 Auslegung, berichtigende 63, 66 Auslegung, menschenrechtsfreundliche 61, 69 Ausnahme(regelung) 69, 114, 139, 154 Ausnahmefeindlichkeit 139 f., 166 Ausnahmen vom Folterverbot 149 ff. Ausnahmezustand 68 Ausreisefreiheit 56 Aussageerpressung 142 Austeilende Gerechtigkeit 109 Auswahlverschulden 27 Autonomie 39, 50 f. Bad Kleinen 24, 27 Balance of powers 45 Barbarei 49 f., 51 ff., 56 Bauernopfer 27 Beamte, Beamter 18, 29 Bedingung der Möglichkeit 38, 41, 101 ff., 116 f.
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Sachverzeichnis
Bedingung, notwendige 124 Befehl(e) 52 Begrenzte Ressourcen 153 Beihilfe 25, 140 Berichtigende Auslegung 63, 66 Beschattung 84 Bestechlichkeit 18, 21 Betrug 18 Beweiserhebungsverbot 143 Beweislastregeln 29 Beweislastverteilung 31 Bewertung von Gütern 105 Black out 16 Bundesinnenminister 27 Bundeskanzler 24 Bundesland, -länder 58 Bundesrepublik 58 Bundestagspräsident 17 Bundestrojaner 84 Bundesverfassungsrichter 28 Bürger 128, 154 Bürgerallianz 29 Bürgerliche Gesellschaft 49 Bürgerliche Gesetzgebung 50 Bürgerlicher Zustand 49 Bürgerrechtler 29 Civitas 35, 45 Comeback 30 Computerausforschung, -ausspähung 84, 91, 93 Condicio sine qua non 124 Constitutio Criminalis Carolina 120 Dammbruch 157 Dauerdelikt 145 DDR 54, 56, 58, 60 ff., 68 f., 75, 79 ff. DDR-Grenzgesetz 62, 69 Defektion 77 ff. Dekalog 13 Demokratie 18, 33, 49 f. Demokratie, parlamentarische 18
Der eine teilt, der andere wählt 106 Der Erfolg heiligt die Mittel 22 Despotism(us), Despotie, despotisch 49 ff., 56, 87 Diktator(en) 64, 68 f. Diktatur 57, 67 f., 82 Direktorium 34 Distributive Gerechtigkeit 109 Diversion 64 Doppelwirkung, Lehre von der 119 f., 130 Drei Gewalten 33 Duplex-effectus-Lehre 119 f., 130 Effizienzkosten 93 Ehrengerichtshöfe 28 Eigentum 114 Eingriffsdauer 91 Eingriffsgrundlage 93 Eingriffsintensität 91, 94 Eingriffsschranke(n) 87 f. Eingriffstiefe 91, 94 Einigung 101 ff., 110 Einigungsvertrag 68 Einkaufswagenaffäre 19 Elite(n) 57 Entführung 159 Enthüllungen 23 Entschuldigender Notstand, übergesetzlicher 146 Entschuldigungsgründe 14 Erfolgshaftung 25 ff. Ermittler, verdeckter 84, 92, 94 Ermittlungsbehörde 29 Ermittlungsmaßnahmen, heimliche 84 ff. Ethischer Kodex 15 Europäische Menschenrechtskonvention 144 Europäische Union 87 Exekutive 18, 36 f., 45 Exkulpationsmöglichkeit 26 Exzesstäter 123
Sachverzeichnis Fahndungszwecke 84 Faires Verfahren 90 Fairness-Argumente 117 Fall Daschner 141 ff. Fall Stolpe 75 ff. Falschaussage 16, 18 Fehlverhalten 11, 26 Fernwirkung 143 Finaler Rettungsschuss 156 Finanzminister 29 Folgen einer Handlung, Handlungsfolgen 136 f., 140, 154 Folgenbewertung (s. a. Konsequenzenbewertung) 150 f. Folgenorientierung 145 Folgenzurechnung 137 Folter 132 ff. Folter durch Private 159 f. Folterandrohung 142 f. Folterverbot 132, 141 ff. Form der Handlung 163 Form der Maxime 114 Form der Regierung 50 Form des Gesetzes 140 Forma regiminis 50 Formprinzipien 104 f. Fraktionskasse 17 Fraktionsvorsitzende 17 Freiheit 35, 39, 49 ff., 54 ff., 102 Freiheit, negative 50 Freiheit, positive 50 Freiheitsberaubung 142 Freiheitsgesetze 45 Freiheitsordnung 134 Freispruch 70 Freiwilligkeit(sgrad) 129, 131 Friede(nszustand) 79, 148 Fruit of the poisoned tree 143 Führerwille 52 Gebot 43 Gefährdungshaftung 25 Gefangenendilemma 75 ff.
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Gefängnis 24 Gegensatz, kontradiktorischer 47 f. Gegensatz, konträrer 47 f. Gegensatz, subkonträrer 48 Gegenstimme 127 Geheimpolizei 85 Geiselnahme 156 Gemeinschaft, staatliche 130 Gemeinwesen 44 Generalbundesanwalt 24 Generalprävention, positive 60 Generalverdacht 87 Gerechtigkeit 97 ff., 109 ff., 138 Gerechtigkeit, ausgleichende 109 Gerechtigkeit, austeilende 109 Gerechtigkeit, distributive 109 Gerechtigkeit, öffentliche 138 Gerechtigkeitsbegriff 105 Gerechtigkeitsutilitarismus 117 Gerichtsbarkeit 45 Gerichtshof (innerer) 38, 40, 42 Gerichtshof, -höfe 57 f., 63 Gerichtsverfassungsgesetz 15 Geruchsprobe(n) 84 Gesellschaft 49, 113 Gesellschaft, bürgerliche 49 Gesellschaftsvertrag 67 Gesetz der Freiheit 43 Gesetz(e) 37 f., 41, 43, 49 ff., 54 ff., 114 f., 140, 163 Gesetz(e), natürliche(s) 49, 139 Gesetz, allgemeines 114 f., 163 Gesetz, moralisches 41 Gesetzesform 44 f., 61 Gesetzesvorbehalt 89 Gesetzgeber 34 ff., 37 ff., 42 ff., 69 Gesetzgeber, autonomer 42 Gesetzgeber, moralischer 39, 40 ff. Gesetzgebung 41 Gesetzliches Unrecht 61 Gesetzmäßigkeit der Handlungen 140 Gesinnung 53
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Sachverzeichnis
Geständnis 142 Gewahrsam, staatlicher (des Staates) 156 f., 160, 165 Gewalt 36, 40 ff., 49, 51, 54 ff. Gewalt, ausführende 36 Gewalt, gesetzgebende 36 Gewalt, rechtsprechende 40, 43 Gewalt, vollziehende 43 Gewalten, drei 38, 42 Gewaltenteilung, Gewaltentrennung 33 f., 36 f., 42 f., 46, 56, 68 Gewaltmonopol 155 Gewalttätigkeit(en) 49 f. Gewerkschaftsführer 17, 22 Gewissen 38, 40 ff. Gewissensrichter 41 f., 44, 46 Glaubwürdigkeit 20 ff., 140 Glaubwürdigkeit, externe 22 Glaubwürdigkeit, interne 22 f. Gleichbehandlung(sgebot) 45 f. Gleichberechtigung 105, 107, 117 Gleichheit(sprinzip), Prinzip der Gleichheit 104 f., 111 ff. Glück 98 f., 115 f. Goldene Regel 98, 110 ff., 117, 150, 158 Gott 38 Gremienentscheidungen 127 f., 130 Grenzgesetz der DDR 62, 69 Großer Lauschangriff 84, 92 Grundgesetz 70 Grundlagenvertrag 80 Gruppenverantwortlichkeit 127 Güterverteilung 105 Handlung, unerlaubte 26 Handlungsfolgen, Folgen einer Handlung 136 f., 140, 154 Handlungsmöglichkeit 126 Handlungssubjekt 137 Handlungsutilitarismus 86, 151 Hausdurchsuchung 94 Heimliche Ermittlungsmaßnahme(n) 84 ff. Herrschergewalt 43
Hilf(eleistung)spflicht, Pflicht zur Hilfeleistung 107 ff., 125 Hindernis der Freiheit 102, 134, 164 Höchstes Prinzip der Gerechtigkeit 97 ff. Homo noumenon 35 f., 41 Homo phaenomenon 35 f. Hörfalle 84 Hypothetische allgemeine Praxis 151 ff. Hypothetische Kausalität 126 Hypothetischer Imperativ 23 Identitätsgebot 71 Impeachment 12 Imperativ, hypothetischer 23 Imperativ, Kategorischer 23, 39, 44, 53, 98, 113 ff., 117, 138 f., 146 ff., 150, 154, 163 ff. Impunibile 139 In dubio contra reum 15, 29, 82 In dubio pro reo 15, 29, 31, 82 Inculpabile 139 Indirekte Sterbehilfe 119 Informeller Mitarbeiter 80 Inhaltskontrolle 44 Innenbehörde 27 Innenminister 15, 25 Innensenator 27 Insidergeschäfte 17 Interessenausgleich 109, 113 Interessenbegrenzung 107 Interessengegensätze 113 Interessengruppe 18, 22 Interessenkonflikt(e) 99 f., 108 Interessensphäre(n) 106 f. Interessenverrechnung 151 Irrtumsregel(n) 14 Ius inculpatae tutelae 133 Ius necessitatis 139 Ius talionis 148 Judikative 36, 46, 70 Jurist 135 Jury 37
Sachverzeichnis Justiz 69 Justizsenator 24 Kabinett 22 Kanzlerkandidat 30 Kasuistik 149 Kategorischer Imperativ 23, 39, 44, 53, 98, 113 ff., 117, 138 f., 146 ff., 150, 154, 163 ff. Kausalität, alternative 123, 125 ff., 130 Kausalität, hypothetische 126 Kirche 75, 79 ff. Kläger 41 Kollaboration 75 Kollateralschäden 119 ff., 130 f. Kollektiv 126 ff. Kollektive Verantwortung (Verantwortlichkeit) 121, 125 ff., 130 Kollektivhaftung 123 Kollektivperson 122 f. Kollektivschuld 119 ff., 130 f. Kollisionssituation 106 Kombattanten 158 Kommunikationsgeheimnis 94 Kompromiss 106 Konsequenzenbewertung (s. a. Folgenbewertung) 165 Konstitution (Constitution) 34, 37, 50 Kooperation 75 ff. Krieg(sführung) 79, 121, 148 Kriegsgefangene 158 Kriegsverbrechen 119 Kriegsverbrechertribunal 58 Kriminalität, mittlere 92 Kriminalität, staatsverstärkte 58 ff. Kritik 14 Kronzeuge 76 ff. Lauschangriff, großer 84, 92 Legaldiktatur 55 Legislative 18, 36, 45, 70 Legislator 37 Legitimierbarkeit 87 ff.
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Lehre von der Doppelwirkung 119 f. Lockspitzelverwendung, -einsatz 84, 86 Lösegeld(zahlung) 159 Luftsicherheitsgesetz 163 Lüge(n) 19, 21 f., 85, 113 f., 132 ff., 163 ff. Lügeverbot 31, 113, 132, 141 ff. Lustreisen-Affäre 20 Machiavellist 19 Machtbereich 26 Machthaber 61 Machtposition 106 Makler, ehrlicher 19 Mandatsträger 21 Marktlücke 115 Maßregeln der Besserung und Sicherung 62, 64 Mauerschützen 68, 72 Maxime 113 f., 147, 163 Mehrheitsentscheidung 127 Meineid 16 Menschengattung 48 Menschengeschlecht, gesamtes 153 Menschenliebe 132 ff., 144, 149, 164 Menschenraub 142 Menschenrecht 67 Menschenrechtsfreundliche Auslegung 61, 69 Menschenrechtskonvention, europäische 144 Menschenwürde 136, 144 ff., 148 Menschenwürdeschutz 146 Menschheit 35, 135, 139 f., 145, 147, 149 Militär 121 Militärtribunal 63 Minister 12, 15 f., 18 f., 26, 31 Ministeranklage 12, 15 Ministerpräsident 21 f., 28, 75 Mitbürger 36 Mitschuld 120 Mittäterschaft 25, 121 ff., 130
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Sachverzeichnis
Mittelbare Täterschaft 25 Mittlere Kriminalität 92 Mitverantwortung 120 Mobilfunkinformation 84 Möglichkeit, Bedingung der – 38, 41, 101 ff., 116 f. Monarchie 33, 50 Moralist, politischer 17, 30 Moralphilosophie 39 f., 75 Moralprinzip 113 Motivationskraft 163 Naiver Rechtsstaat 89 f. Nationalsozialismus 52, 56 Naturgesetz(e) 139 f., 148 Natürliche(s) Gesetz(e) 49, 140 Naturordnung 140 Naturrecht 52, 59, 61, 67, 70, 73 Naturwesen 35 Naturzustand 49, 97 ff., 102 ff., 117 Nebenwirkung 119 f. Negative Freiheit 50 Neminem laede 101 f., 104, 109, 114, 116, 148 Neue Heimat 17 Nicht-Rechtsstaat 51 Nische 54 Normalkriminalität 68 Notfall 164 Nötigung, aktive 35 Nötigung, passive 35 Notlüge 19, 115, 136, 164 Notrecht 134, 139 f. Notstand 109, 133 ff., 145 f. Notstand, rechtfertigender 109 Notstand, übergesetzlicher entschuldigender 146 Notstandsrecht(fertigung) 133 f., 139 f., 164 Notwehr(hilfe) 59, 62, 68, 120, 133 ff., 139 f., 144 f., 155 f., 159, 164 f. Notwehrlage, -situation 152 ff. Notwehrrecht(fertigung) 134, 154, 164
Notwendige Bedingung 124 NS-Gewalttaten 62 Nützlichkeit 151 Nutzungsrecht 105 Oberbefehlshaber 37 Oberhaupt 49 Obersatz 43 Oberster Gerichtsherr 52 Obligatio activa 36 Obligatio passiva 36 Obligation, aktive 35 Obligation, passive 35 Öffentliche Gerechtigkeit 138 Öffentliches Amt 109 Öffentlichkeit 30, 86 Omnes, quantum potes, juva 109 Online-Ausforschung, -Ausspähung, -Durchsuchung, -Überwachung 84, 88, 93 f. Opposition 22, 80 Organisationsverschulden 27, 31 Ostdeutsche 58 Pacta sunt servanda 101 ff., 114, 148 Parlament 29 Parteigänger 31 Parteispendenaffäre 13 Parteivorsitzender 23, 30 Person 41, 103 Person, idealische 41 Pflicht zur Hilfeleistung, Hilfeleistungspflicht, Hilfspflicht 107 ff., 125 Pflicht, unvollkommene 108 Pflicht, vollkommene 108 Pflicht(en) gegen sich selbst 39, 138 Pflichtverletzung 136 Politik 61, 68 Politiker 11 ff., 16 ff., 30 Politiker, moralischer 17 f., 30 Politikerrücktritt 11, 15, 20 Polizei 142 Polizist 155
Sachverzeichnis Positive Freiheit 50 Positive Generalprävention 60 Positivismus 59 ff., 67 Potestas executoria 34, 45 Potestas iudiciaria 34, 43, 45 Potestas legislatoria 34, 43, 45 Potestas rectoria 43 Präventionstheorien 60 Präventivverteidigung 121 Princeps legibus solutus 58, 62 Prinzip (auch: Argument) der Verallgemeinerung 98, 112 f., 117, 145, 149 ff., 163 ff. Prinzip der Gleichheit, Gleichheitsprinzip 104 f., 111 ff. Prinzip der Publizität 18 Prinzip der Subsumtion 43 Prinzip des Rechts 147 Prinzip des Strafrechts 148 Prinzip des Utilitarismus 98, 117 Prinzip(ien) der Gerechtigkeit 97 ff., 110 ff. Prinzipien der Staatsklugheit 17 Privater 165 Privatgebrauch 154 Privatsphäre 51, 88, 94 Privilegierung 58 Publizität, Prinzip der 18, 85 Qui prior est tempore, potior est iure 106 Radbruch(sche)-Formel 60 f., 69 Rasterfahndung 84 Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 87 Recht auf informationelle Selbstbestimmung 87, 93, 95 Rechtfertigender Notstand 109 Rechtfertigung(sgrund, -gründe) 62, 69, 119, 130, 139 f., 163 Rechtsanwendung 68 Rechtsauffassung 71 Rechtsfindung 147
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Rechtsfortbildung 61 Rechtsgrundlage 73, 93 Rechtsgut, -güter 103, 165 Rechtspflicht 135 ff., 139 f. Rechtsprechung 36, 46, 69 f. Rechtsprinzip(ien) 113, 148 Rechtsquelle 135, 139, 147 f. Rechtssache 40 Rechtsspruch 43 Rechtsstaat 11 f., 33, 47 ff., 51, 65 f., 72, 74, 85 ff., 89 ff., 132 Rechtsstaat, optimaler 51 Rechtsstaatlichkeit 47, 51, 66, 95 f. Rechtstradition 95 Rechtsverletzung 135 Rechtszustand 97, 100, 102 f., 117 Redekunst 17 Regel, Goldene 98, 110 ff., 117, 150, 158 Regeln der Ethik 13 Regeln des Strafrechts 13 Regeln politischer Klugheit 11 Regelutilitarismus 151 Regent, Regierer 34 ff., 43 Regierung 36, 45 Regime 128 f. Regimen civitatis et patriae 35 Regimen paternale 34 Reichspogromnacht 17 Religion 56 Rentenlüge 22 Repräsentant 36 Repressalien 53 Republik, republikanisch 49 ff., 56 Resozialisierung 30 Rettungsfolter 156 Rettungshandlung 126 Rettungsschuss, finaler 156 Richter 37, 43, 45, 68 Richter in eigenen Angelegenheiten 45 Richter, oberster 37 Richteramt 40 Richtervorbehalt 89, 93
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Sachverzeichnis
Rom-Statut 58 Rücktrittsgründe 24 Rückwirkende Strafgesetzgebung 70 ff. Rückwirkungsverbot 60, 62 ff., 66, 69 ff. Salus civitatis suprema lex esto 49 Satz des Widerspruchs 102, 134 Schiedsstelle 28 Schleierfahndung 84 Schlusssatz 43 Schrankensystematik 84, 96 Schurkenstaat 121 Schweigerecht 15, 29, 32 Schwerstkriminalität 92 SED-Herrschaft 79 Selbstbestimmung 50 Selbstbindung 45 Selbstgesetzgeber 45 f. Selbstgesetzgebung 39 f. Selbsthilfe 145 Selbstreinigung 26 Selbstwiderspruch 35 Sentenz 43, 49 Sinnenwesen 39 Skandal 19 Sklaverei 69 Solidaritätspflicht 107 Sonderregelung 68 Sonderstatus 111 Souverän 35, 43 Souveränität 43 Sozialbindung 87, 95 Sozialethische Grenzen der Notwehr 62 Sperrfrist 29 Spiegel-Affäre 21 Spionageaffäre 24 Spitzel 84 Spur des Strafrechts (s. a. Strafrechtsspur) 71 Staat 45 Staatengemeinschaft, internationale 57 Staatliche Gemeinschaft 130
Staatlicher Gewahrsam 156, 160, 165 Staatsanwaltsvorbehalt 89 Staatsbediensteter 163, 165 Staatsbürger 21, 35, 44, 54 Staatsbürgerschaft 130 Staatsdiener 18 Staatseingriffe 67 Staatsform 33, 50 Staatsführung(en) 59 Staatsgewalt(en) 34, 37, 42, 49 ff. Staatskategorien 90, 96 Staatskriminalität 59 Staatsmacht 59, 83 Staatsmann 17, 61 Staatsoberhaupt 37 Staatsorgan(e) 79, 119, 121, 128, 155 Staatsorganisation 56 Staatspraxis 62 Staatsraison 67 Staatsrecht 67 Staatssekretär 16 Staatssicherheitsdienst, Stasi 21, 75, 79 ff. Staatstyp(en), Staatstypologie 47 ff., 54 ff. Staatsverbrecher 59 Staatsverfassung 34, 49 Staatsvermögen 63 Staatsverstärkte Kriminalität 58 ff. Staatswesen 34, 38, 42, 45 f., 50 Staatswürden 34 Stasi 21 Status civilis 49 Status naturalis 49 Stellvertreter 37 Sterbehilfe, indirekte 119 Steuergelder 29 Steuergesetze 16 Steuerlüge 22 Strafbarkeit 65, 67 f., 73 Strafgerichtshof, internationaler 57 f. Strafgesetz(e) 23, 53, 70 Strafgesetze, rückwirkende 70
Sachverzeichnis Strafjuristen 61 Strafprozess 95 Strafprozessordnung 15 Strafrecht 13 ff., 57 ff., 70, 108 f., 116 Strafrechtsfreier Raum 58 Strafrechtslehre 60 Strafrechtspflege 86 Strafrechtsspur 63, 66 Straftheorielehren 60 Strafverfahren 15, 64, 84 Strafverfolgung, effektive 86 Strafvorschriften 59 Strafwürdigkeit 67, 73 f. Subiectum obligationis 36, 39 Subjekt 35, 37 f., 42, 45 f., 103 f. Subjektqualität 104, 111 f. Subsumtion 43 f. Summus rector 37 Supremus iudex 37 Syllogism(us) 43 f., 46, 49 Syllogismus, praktischer 43 f., 46 Täterschaft 14 Tatverdacht 89 Teilnahme 14 Telefonüberwachung 91, 94 Telekommunikation, Überwachung der 84 Telekommunikationsverbindung(en) 84, 92 Terminus obligationis 39 Terrorgefahr 92 Terrorismusbekämpfung 66 Todesstrafe 62, 71 f. Tonaufnahmen 84 Tötung auf Verlangen 119 Tötungshandlung 119 Tötungsverbot 112, 120 Transformation 48, 74 Transzendentale Formel des öffentlichen Rechts 18, 85 Traumschiffaffäre 21 Trennung der Gewalten (s. a. Gewaltentrennung, Gewaltenteilung) 68
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Tribunal 28 Trojanisches Pferd 84 Tugendpflicht 135 ff., 139 f. Überdeterminierung des Kausalverlaufs 124, 127 Übergesetzlicher entschuldigender Notstand 146 Überpositives Recht 61 Überwachung, heimliche 88 Überwachung der Telekommunikation 84 Überwachungsmaßnahme 92 Überwachungsstaat 84 ff., 88 Ultra posse nemo obligatur 53 Umweltministerin 28 Unerlaubte Handlung 26 Ungerechtigkeit 108 Ungleichheiten, natürliche 107 Unglücksfall 108 f., 125 Unrecht 135 Unrechtseinsicht 72 Unrechtsregime 57, 73 Unrechts-Staat 47 f., 51 f., 54, 56 Un-Rechtsstaat 47 f., 51, 54, 56, 65 Unrechtsstaat 47 ff., 65 f., 72, 74, 75 ff., 90 Unschuldige(r) 87, 158 Unschuldsvermutung 29 Unstrafbar 139 Unsträflich 139 Unterdrückungsstaat 54 Untersatz 43 Untersuchungsausschuss, parlamentarischer 16 Untersuchungshaft 29 Untertanen 34 f. Untreue 16 Unverletzlichkeit der Wohnung 94 Unvollkommene Pflicht 108 Unwahrhaftigkeit 138 Ursache 35 Utilitarismus 98, 116 f.
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Vaterländische Regierung 35 Väterliche Regierung 34 Veracitas 132 Verallgemeinerbarkeit 113, 165 Verallgemeinerung, Argument (Prinzip) der – 98, 112 f., 117, 145, 149 ff., 163 ff. Verantwortlichkeit (Verantwortung) 20, 31 f., 121, 125 ff., 130 Verantwortlichkeit (Verantwortung), kollektive 121, 125 ff., 130 Verantwortlichkeit (Verantwortung), politische 20, 25 ff., 31 f. Verantwortung (s. Verantwortlichkeit) Verbindender 36, 39 f. Verbindlichkeit 35, 39 Verbot, absolutes 132, 141 ff. Verbotsunkenntnis 146 Verbrechen 148 Verbrechensbekämpfung 86, 157 Verbrechermoral 77 Verbundener 36, 39 f. Verdächtige(r) 87 Verdachtsgrad 92 Verdeckte(r) Ermittler 84, 92, 94 Verfahrensregeln 13, 15, 28 f., 31 f., 59 Verfasstheit 37 f., 45 f. Verfassung 19, 37, 67, 69 f., 73 Verfassungsänderung 70 Verfassungsrecht 93 Verfolgung Andersdenkender 53 Verhaltensregeln 13 ff., 20, 23, 27, 31 Verhaltenssteuerung 53 Verhältnismäßigkeit 87 Verjährung 29 f., 32 Verjährungsfristen 62 Verkehrsminister 30 Verleitung eines Untergebenen 142 Vermeintes Recht 132 ff., 164 Vernunft 35, 37 Vernunft, selbstgesetzgebende 37 Vernunftgebot 139 Vernunftrecht 67
Vernunftschluss 44 Vernunftwesen 39 Verpflichtender 35 f. Verpflichteter 35 f. Verrechtlichung 162, 166 Verrichtungsgehilfe 26 Versailler Vertrag 63 Versari in re illicita 136 Verschulden 25 Verschuldenszusammenhang 26 Verstandeswohl 49 Verteidigungskrieg 121 Vertrauen 20 ff., 30 f., 78 Vertrauen, externes 21, 30 f. Vertrauen, internes 21, 23, 31 Vertrauensverlust 164 Vertuschungsversuch 19 Verwaltung 36 Verwertbarkeit 142 Verwertungsverbot 95 Videoaufnahmen 84 Videoüberwachung 84, 94 Vim vi repellere licet 102, 104 Volenti non fit iniuria 102 ff. Volk 37, 49 f. Völkergewohnheitsrecht 73 Volkszugehörigkeit 56 Vollkommene Pflicht 108 Vorratsdatensammlung 92 Vorratsdatenspeicherung, Vorratsspeicherung von Daten 84, 87 Wahlkampfzeiten 28 Wahlversprechen 21, 29 Wahrhaftigkeit 132, 139, 148 Wahrheit 20, 132, 138, 163 Wahrheitskommission 57 Wahrheitsserum 144 Warnschuss 160 Wasser predigen und Wein trinken 22 Watergate-Skandal 12 Waterkantgate-Fall 22
Sachverzeichnis Wehrhafter Rechtsstaat 89 Weltbank 23 Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht 19 Wer zuerst kommt, mahlt zuerst 106 Werthierarchie 105 Westdeutsche 58 Wettrüsten 78 Widerspruch 35, 40 f., 102, 134 Widerstand 68, 134 Wiedergutmachung 64 Wille, allgemeiner 44 Willensbildung 105, 108 Willensziel(e) 104 ff. Willkür 44, 46 Willkürentscheidung 52 Willkürmaßnahme(n) 52 Willkürstaat 88 f. Willkürverbot 45 Wirtschaftsdelikt 94 Wirtschaftsminister 30
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Wirtschaftsordnung 115 Witwenverbrennung 71 f. Wohnraumdurchsuchung 84 Wortlautinterpretation 61 Würde 147 Zensur 86 Zivilbevölkerung 119 ff., 158 Zurechnung (von Verantwortlichkeit) 24, 121, 126 Zurechnung, erfolgsbezogene 25 Zurechnungsakt 103 Zurechnungsmaßstäbe 25 Zurechnungsregeln 13 ff., 23 f., 31 Zurechnungsstrukturen 26, 121 Zurechnungszusammenhang 137 Zustandsstörer 26 Zweck-Formel 53, 146 Zweckmäßigkeit 39 Zwei-Reiche-Lehre 35, 39
Nachweise Die einzelnen Kapitel beruhen auf folgenden Vorarbeiten, die für den vorliegenden Band allerdings zum Teil erheblich überarbeitet und ergänzt worden sind: 1. Kapitel: In welchen Fällen muß ein Politiker zurücktreten? Thesen zur Beurteilung, Zurechnung und Feststellung politischer Verantwortlichkeit. – In: Hans N. Weiler (Hrsg.), Antrittsvorlesungen der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) 2 (1995) 147–166. – Gekürzte Fassung in: Neue Justiz 49 (1995) 347–352. 2. Kapitel: Das Prinzip der Gewaltenteilung als Bedingung der Möglichkeit eines freiheitlichen Staatswesens. – Jahrbuch für Recht und Ethik 1 (1993) 207–220. 3. Kapitel: (1) Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaats. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie. – Jahrbuch für Recht und Ethik 3 (1995), 253–265. – (2) From Anarchy to Republic. Kant’s History of State Constitutions. – In: Hoke Robinson (ed.), Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Vol. I. 1., Memphis 1995, Marquette University Press, Milwaukee (1995) 139–156. 4. Kapitel: Wird politische Machtausübung durch das heutige Strafrecht strukturell bevorzugt? Zugleich eine Besprechung von Wolfgang Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. – Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 144 (1997) 201–213. 5. Kapitel: Gerechtigkeit im „Fall Stolpe“? Die Denkfigur des „Gefangenendilemmas“ als Beitrag zur Versachlichung einer bisher vorwiegend politisch geführten Debatte. – In: Guiseppe Orsi, Kurt Seelmann, Stefan Smid, Ulrich Steinforth (Hrsg.), Rechtsphilosophische Hefte II, Gerechtigkeit (1993) 87–94. 6. Kapitel: Keine publizierten Vorarbeiten. 7. Kapitel: Drei Ebenen des Denkens über Gerechtigkeit. Dargestellt am Beispiel einiger rechtsethischer Regeln und Prinzipien. – Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 74 (1988) 307–330. 8. Kapitel: Probleme der Zurechnung bei Gruppen und Kollektiven. – In: Matthias Kaufmann, Joachim Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, Peter Lang, Frankfurt/Main (2004) 135–145. 9. Kapitel: Über ein vermeintes Recht (des Staates) aus Menschenliebe zu foltern. – In: Philosophia Practica Universalis, Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag, Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005) 495–525.