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German Pages [273] Year 2019
Günter Rager
Sri Aurobindo Philosophie der Person
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817780
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B
Günter Rager Sri Aurobindo Philosophie der Person
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
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Günter Rager
Sri Aurobindo Philosophie der Person
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Günter Rager Sri Aurobindo Philosophy of the Person Sri Aurobindo was one of the most important Indian philosophers of the 20th century. One of his fundamental achievements is the concept of the divine and the human person. This book investigates if this concept of person is compatible with western thinking on the one hand and Indian philosophical tradition on the other hand. The concept of consciousness is intimately connected with personhood and plays a most important role in Sri Aurobindos philosophy. It is discussed how it relates with the concept of consciousness as it is used in European philosophy, in neurosciences and in philosophy of mind. The integral yoga of Sri Aurobindo shows many similarities with Christian mysticism. Sri Aurobindo rejects pantheism. His own philosophy is close to panentheism which is intensively discussed at present. In a similar manner as with Teilhard de Chardin evolution leads to the manifestation of the divine reality which has its highest and most beautiful appearance as the personal trinity of Existence, Consciousness and Bliss (Saccidānanda).
The author: DDr. Dr. h. c. Günter Rager is emeritus professor and director of the Institute of Anatomy and Embryology at the University of Fribourg/ Switzerland. He obtained a doctorate in Philosophy and Indology at the University of Munich. After his studies of Medicine he obtained a doctorate in Medicine at the University of Göttingen. He carried out his research in Neurosciences and Embryology first at the MaxPlanck Institute for Biophysical Chemistry in Göttingen and then at the University of Fribourg. During eight years he also was Director of the Institute for Interdisciplinary Research of the Görres Society. In 2005 he was awarded the honorary doctor of the Faculty of Theology of the University of Freiburg/Germany, in 2014 he was awarded the honorary ring of the Görres Society. In his philosophical dissertation he investigated the philosophy of Sri Aurobindo.
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Günter Rager Sri Aurobindo Philosophie der Person Sri Aurobindo ist einer der bedeutendsten indischen Philosophen und Weisen des 20. Jahrhunderts. Durch seine gründliche Kenntnis der westlichen Literatur und Kultur einerseits und der philosophischen und spirituellen Tradition Indiens andererseits ist er zum hervorragenden Vermittler zwischen westlichem und indischem Denken geworden. Im Zentrum seiner Philosophie steht die Person. In diesem Buch wird untersucht, ob sein Personbegriff vereinbar ist sowohl mit dem westlichen Denken als auch mit den Schriften der klassischen indischen Tradition. Mit dem Personbegriff ist auch der Begriff des Bewusstseins eng verknüpft, weshalb sich ein Vergleich mit der modernen Bewusstseinsdiskussion in der Philosophie und in den Neurowissenschaften aufdrängt. Der integrale Yoga von Sri Aurobindo lässt viele Gemeinsamkeiten mit der christlichen Mystik erkennen. Sri Aurobindo lehnt den Pantheismus ab. Seine Philosophie steht am ehesten dem Panentheismus nahe. Ähnlich wie bei Teilhard de Chardin führt die Evolution zur Offenbarung der göttlichen Wirklichkeit, die ihren schönsten und höchsten Ausdruck in der personalen Dreiheit von Sein-Wissen-Seligkeit (Saccidānanda) findet.
Der Autor: Prof. DDr. Dr. h. c. Günter Rager ist emeritierter Ordinarius und Direktor des Instituts für Anatomie und Embryologie an der Universität Fribourg/Schweiz. Promotion in Philosophie und Indologie an der Universität München, Promotion in Medizin an der Universität Göttingen. Forschung im Bereich der Neurowissenschaften und der Embryologie, zuerst am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen, dann an der Universität Fribourg/Schweiz. Während acht Jahren leitete er das Institut für interdisziplinäre Forschung der Görres Gesellschaft. 2005 wurde ihm der Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Deutschland verliehen, 2014 der Ehrenring der Görres Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Er hat bereits seine philosophische Dissertation der Philosophie von Sri Aurobindo gewidmet.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverfoto: © Günter Rager, Mont Blanc Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48994-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81778-0
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Inhalt
Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
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Kapitel I: Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa) . . . . 1 Natur (Prakṛiti) . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die niedrigere Natur (aparā prakṛiti) . . . 1.2 Māyā . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die höhere Natur – parā-prakṛti . . . . . 2 Geist (Puruṣa) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Puruṣa . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das natürliche Individuum (ahaṃkāra-ego) 2.3 Das geistige Individuum . . . . . . . . . 2.4 Verhältnis von Natur und Geist . . . . . . 3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel II: Gott und der göttliche Bereich (Parardhā) . 1 Namen und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Gottheit und die Götter, Vāsudeva . . 1.2 Brahman . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Saccidānanda . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Īśvara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Das Höchste Wesen, Puruṣottama, Person 2 Brahman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Brahman als das Absolute . . . . . . . . 2.2 Die allgegenwärtige Wirklichkeit . . . . . 3 Saccidānanda . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Sat oder reines Sein . . . . . . . . . . . . 3.2 Cit oder Bewusstseins-Kraft . . . . . . . 3.3 Ānanda oder Seligkeit . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Transzendentes, universales und individuelles göttliches Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Universalität als geistige Selbst-ausdehnung des Höchsten Wesens . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Pantheismus, Theismus, Panentheismus . . . . 4.5 Dreiheit als grundlegende Struktur . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel III: Supermind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Weg zum Supermind . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der metaphysische Ort und das Wesen des Supermind . 2.1 Das vermittelnde Prinzip . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Einheit von Idee und Wirklichkeit . . . . . . . . . 2.3 Schöpfer, Herr, Gott . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Dreifaches Wirken und dreifacher Zustand des Supermind 3.1 Das um-fassende Bewusstsein . . . . . . . . . . . 3.2 Das er-fassende Bewusstsein . . . . . . . . . . . . 3.3 Vielheit in der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel IV: Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins 1 Die niedrigere Hemisphäre (aparārdha) . . . . . . . . . 1.1 Die weitere Bewegung des Bewusstseins . . . . . . 1.2 Die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Mind – Leben – Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Mind und Erkenntnislehre . . . . . . . . . . . . . 2.2 Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Materie und Substanz . . . . . . . . . . . . . . . 3 Siebenfacher Akkord des Seins . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Substanz und Prinzipien der Limitation . . . . . . . 3.2 Involution und Evolution . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Selbst-Limitation und Siebenfacher Akkord des Seins 4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Kapitel V: Mensch und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Vier Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Mensch in seinem Jetzt und die Frage nach der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Oberfläche und Innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Seele als Repräsentation von Ānanda . . . . . . . . 3.2 Begründung der Sonderstellung der Seele im Verhältnis zu Mind, Leben, Materie . . . . . . . . 3.3 Wesensbeschreibung der Seele . . . . . . . . . . . 4 Psychische Entität und Jīvātman . . . . . . . . . . . . . 4.1 Psychische Entität . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Jīvātman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die individuelle Person . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das »individuelle göttliche Sein« (individual Divine) 5.2 Liebe und Ānanda: das Wesen der Person . . . . . . 5.3 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Unendliche Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Vollkommene Rückkehr zu sich selbst . . . . . . . 5.6 Integration dieser Momente im gnostischen Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die transzendente Person . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Einzel-Aspekt – endlose Fülle – ER . . . . . . . . . 6.2 Personphilosophie als Verschränkung von Intellekt und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Evolution, Wiedergeburt und Transformation . . . . . . 7.1 Allgemeine Evolution – der Mensch als Wendepunkt 7.2 Die Lehre von der Wiedergeburt . . . . . . . . . . 7.3 Das Karma-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Die dreifache Transformation . . . . . . . . . . . . 7.5 Das supramentale Individuum . . . . . . . . . . . 7.6 Das Ideal einer geeinten Menschheit . . . . . . . . 7.7 Gnade – Glaube – Erlösung . . . . . . . . . . . . . 8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Kapitel VI: Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Das vorrangige Kennzeichen der Philosphie . . . . . . 1.1 Im Westen: die Anstrengung des Begriffs . . . . . 1.2 Bei Sri Aurobindo: die Anstrengung der Erfahrung 2 Sri Aurobindos Methode und eine Skizze seines Lebens 3 Systematische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . 3.1 Anfang und Ziel menschlicher Erkenntnis . . . . 3.2 Kritik des Verstandes . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Drei besondere Fehlerquellen des Verstandes . . . 3.4 Vervollkommnung der Methode durch den Supermind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Sri Aurobindos integrale Philosophie . . . . . . . 4 Diskussion dieses Standpunktes . . . . . . . . . . . . 4.1 Philosophie und Philosophieren: Ziel und Weg . . 4.2 Ist Kritik möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Integralität der Methode . . . . . . . . . . .
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Kapitel VII: Versuch einer Kritik und Würdigung . . . . . . . . 1 Mögliche Missverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Transzendentes, universales, individuelles göttliches Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die individuelle Person . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Freiheit und Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . 2.4 Das Verhältnis zu Christus und zur christlichen Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Sri Aurobindo und die westliche Philosophie . . . . . . 4 Das Verständnis von Bewusstsein . . . . . . . . . . . . 4.1 Bewusstsein in der europäischen Philosophie . . . . 4.2 Bewusstsein in den Neurowissenschaften . . . . . . 4.3 Bewusstsein bei Sri Aurobindo . . . . . . . . . . . 4.4 Bewusstsein und Evolution . . . . . . . . . . . . . 5 Integraler Yoga und christliche Mystik . . . . . . . . . 6 Würdigung der Philosophie von Sri Aurobindo . . . . . 6.1 Im Verhältnis zur indischen Tradition . . . . . . . 6.2 Philosophie aus der Erfahrung . . . . . . . . . . . 6.3 Bedeutung dieser Philosophie für uns . . . . . . . .
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Inhalt
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur
251
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister
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Aussprache
Zur Aussprache der indischen Wörter: Vokale werden etwa wie im Deutschen gesprochen, doch sind die hellen Vokale i und e etwas dünner (palataler). Dabei ist zu beachten, dass ṛ ein vokalischer r-Laut ist, etwa wie »er« in »Helfer«, e und o sind im Sanskrit immer lang, a, i, u wenn lang, bekommen einen Strich, z. B. ā usw. Palatale (Gaumenrand-Laute): c wird wie tsch, j wie dsch gesprochen. Zerebrale (Gaumendach-Laute): ṭ ṭh ḍ ḍh werden gesprochen, indem man die Zunge so weit wie möglich zurückbiegt und an das Gaumendach presst. Halbvokale: y ist wie deutsches j in Jagd, v wie englisches oder französisches v zu sprechen. Zischlaute: ś ist palatal, etwa wie deutsch »schön«, ṣ zerebral, etwa wie deutsch »Schrei«, nur ist die Zunge weiter zurückgebogen, s ist ein dentaler Zischlaut wie ein scharfes deutsches s. Aspirate: kh, gh, ch, jh, th und dh, ṭh und ḍh sind mit deutlich nachfolgendem Hauchlaut zu sprechen, wie z. B. »Backhuhn«, »Bethaus«, »erdhaft« usw. Der Hauchlaut ḥ ist sehr scharf zu sprechen mit leichtem Nachklang des dem Laut vorausgehenden Vokals. Nasale: n ist dental, ähnlich wie im Deutschen, nur ist die Zunge näher bei den Zähnen, ṅ ist guttural wie in »ging«, ñ ist palatal, etwa wie im spanischen cañon, ṇ ist zerebral (mit zurückgebogener, an das Gaumendach gepresster Zunge zu sprechen), ṃ wird im Süden Indiens als summender m-Laut, im Norden nasal gesprochen.
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Ich nenne es das, was vor allem gewusst werden soll und aus dessen Kenntnis das ewige Leben entspringt; das ist das Höchste Brahman ohne Anfang, von dem weder Sein noch Nicht-Sein ausgesagt wird […] es ist frei von allem, aber trägt alles, es hat keine Macht, erfreut sich aber an allem. In allem und außerhalb von allem, unbeweglich und alles bewegend, fein, nicht fassbar, entfernt und zugleich nahe. Unteilbar, aber in den Geschöpfen scheinbar geteilt, hält es alles im Sein, zerstört es und schafft es von neuem. Es ist selbst das Licht aller Lichter, man sagt, es sei jenseits der Finsternis; […] 1
»Dicam id quod est super omnia sciendum cuius cognitione vita aeterna oritur; illud est Supremum Brahman sine initio, de quo nec Esse nec non-Esse dicitur […] ab omnibus liber, sed omnia portans, potentiis nullis, sed omnibus fruens. Intra omnia et extra, immobilis omnia movens, subtilis, extra captum, longe est simul et prope. Indivisibilis, sed in creaturis divisus apparet, sustentat omnia, destruit et denuo creat. Luminum omnium Ipse Lumen, ultra tenebras dicitur; […]«, aus Cyrillus B. Papali: Hinduismus. Collegium Internazionale OCD, Roma 1960, 100, übersetzt von Günter Rager.
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Vorwort
In der gegenwärtigen Zeit bedeutet es für einen Europäer immer noch ein Wagnis, sich mit einer zunächst so fremden Geisteswelt wie der indischen einzulassen. Es ist noch zu wenig philosophische Vorarbeit geleistet, die uns den rechten Einstieg vermitteln könnte und uns die richtigen Methoden und Kategorien an die Hand lieferte. Und dennoch muss das Wagnis unternommen werden, weil wir uns auch in der Philosophie auf die Begegnung der Kulturen und auf das Zustandekommen der Einen Welt vorbereiten müssen. Die Epoche eines bloß abendländischen Denkens geht auf ihr Ende zu. Wie können wir aber das Wagnis bestehen? Nur indem wir einen vorgängigen Verzicht leisten auf unsere eigenen Methoden und Aprioris und erst einmal genau hinhören und hinblicken auf das uns neu Begegnende. Je besser uns das gelingt und je tiefer wir uns in den Gang des anderen Wahrheitsweges einlassen, umso wertvoller wird die Frucht dieses Bemühens sein, umso sicherer werden wir feststellen, wo die Größe und wo die Grenze desselben liegt. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, in dieser Richtung voranzuschreiten. Sie will Sri Aurobindo aus ihm selbst verstehen und nicht unter den Perspektiven der Sekundärliteratur oder unseres europäischen Denkens. Wenn dennoch europäische und christliche Gedanken immer wieder auftauchen, dann dienen sie zumeist der Erläuterung. Selbst die Kritik will versuchen, nicht von außen zu beurteilen, sondern von innen her weiterzudenken und zu sehen, wie das Von-außen von innen, d. h. von den Fundamenten Sri Aurobindos selbst her, aufgenommen werden kann. Was ist das Anliegen dieser Untersuchung über Sri Aurobindo, den bedeutendsten Philosophen, den Indien in der letzten Zeit hervorgebracht hat? Ich will keinen systematischen Vergleich zur indischen Tradition oder zu unserem europäischen Denken herausarbeiten, sondern versuchen, Sri Aurobindo als Größe in sich zu betrachten und zu verstehen, ihn als einen Denker dieser geschichtlichen Stunde zu zeigen, der uns Heutigen in der Bewältigung der für 15 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Vorwort
unsere Zeit neu gestellten Probleme der Philosophie und des Lebens helfen soll. Insofern wendet sich der Blick mit Sri Aurobindo nicht zuerst zurück auf die Vergangenheit, sondern richtet sich auf die Bewältigung des Heute und der Zukunft. Für Sri Aurobindo war z. B. die supramentale Herabkunft kein bloßer Schlussstein im Gewölbe einer Theorie, sondern eine Aufgabe des Lebens, die er mit wenigstens ebenso viel Ausdauer und Hingabe verfolgte, wie es ein Physiker tut, der sich der experimentellen und theoretischen Erforschung der Natur widmet. Unser Interesse an Sri Aurobindos Philosophie erwacht nicht nur durch die Nähe zur Erfahrung des Geistes und zu den heute anstehenden Problemen des Lebens, sondern besonders dadurch, dass er als Inder und mit indischen Denkmitteln eine Philosophie der Person hervorbringt. Der Titel dieser Arbeit sagt deshalb ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Philosophie und Person aus: Die Philosophie musste als ganze aufgezeigt werden, weil Person nicht ein Seitenweg, sondern ihre Mitte ist und deshalb ohne das Ganze des Wirklichen ebenso wenig verstanden werden kann wie das Ganze des Wirklichen ohne die Person. Dieses Verhältnis mündet in die Synthese einer Philosophie der Person. Zu diesem Ziel gehen wir folgenden Weg: Das erste Kapitel beginnt mit den einfachen Gegebenheiten der Erfahrung, erwirbt Klarheit über grundlegende Begriffe und steigt auf zur Einheit von Natur (Prakṛti) und Geist (Puruṣa), welche den Menschen charakterisiert und welche in der göttlichen Natur gründet. Das zweite Kapitel handelt von Gott und dem göttlichen Bereich, von welchem durch die Vermittlung des Supermind (III. Kapitel) die Welt (IV. Kapitel) geschaffen wird. Nach dieser Vorbereitung, in welcher implizit schon sehr viel über Person gesagt wird, macht das V. Kapitel die Frage nach der transzendenten und individuellen Person zum Thema und handelt zugleich von der anthropologischen Schichtung im Menschen, von Wiedergeburt, Transformation und vom Endzustand des gnostischen Individuums. Im VI. Kapitel wird es unerlässlich, Sri Aurobindo nach seiner Methode zu befragen, zu deren Darstellung die biographische Schilderung seiner Geist-Erfahrung gehört. Dieses Kapitel setzt viele inzwischen geklärte Begriffe voraus, weshalb es an so später Stelle gebracht wird. Die Kritik und Würdigung im VII. Kapitel endlich stellt einen Versuch dar, einige wichtige Probleme zu diskutieren ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Frage nach Freiheit und Schuld zu. Zudem 16 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Vorwort
werden Beziehungslinien zur westlichen Philosophie, zur christlichen Mystik und zur Bewusstseinsforschung in der modernen Philosophie und in den Neurowissenschaften sowie zur gegenwärtigen Debatte über den Panentheismus hergestellt. Um dem Leser den Zugang zu den Begriffen zu erleichtern, wurde den Kapiteln I bis V jeweils eine Zusammenfassung wichtiger Begriffe angefügt. Es sei aber darauf hingewiesen, dass Sri Aurobindo seine Begriffe nicht immer in eindeutiger Weise gebraucht. Ein Glossar soll helfen, die Bedeutung der verwendeten Sanskrit-Begriffe rasch nachzuschlagen. Dieses Buch ist entstanden auf der Grundlage meiner Dissertation 1, mit der ich 1965 an der Philosophischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München promoviert habe. Parallel zu den Vorlesungen und Seminaren an der Universität durfte ich als Gast an der Philosophischen Hochschule in Pullach während drei Jahren studieren, wofür ich den Professoren dieser Hochschule danke. Ich danke meinem Freund Prof. Dr. Raymundo Panikkar, der meine Arbeit während vieler Jahre mit wertvollen Gesprächen begleitet hat. Ich verdanke sehr viel Dr. Matthias Vereno, Dr. Carlo Huber S.J. und vielen anderen Freunden, der Teilnahme an den Seminaren von Prof. H. Fries, Prof. R. Lauth und Prof. H. Krings. Vor allem danke ich meinem Lehrer Prof. Dr. Max Müller sowohl für die anregenden Seminare, Vorlesungen und persönlichen Gespräche als auch für seine Großzügigkeit, welche mir den wissenschaftlichen Ausgriff in das indische Denken ermöglichte. Herrn Prof. Dr. H. Hoffmann danke ich für die Einführung in die Indologie und für das Interesse, welches er dieser eigentlich philosophischen Untersuchung entgegenbrachte. Dass ich jetzt noch den Mut fand, diese Arbeit aufzugreifen und zu einem Buch weiter zu entwickeln, verdanke ich in erster Linie Andreas Mascha, der die Dissertation in einer Bibliothek fand und auf Grund seiner Kenntnis der Philosophie von Sri Aurobindo meinte, die Arbeit müsse unbedingt veröffentlicht werden. Schon die erste Phase der Umsetzung war sehr mühsam. Es galt, den Offset-Druck eines Schreibmaschinentextes in eine Word-Datei zu überführen. Dabei hat mir meine Frau Dr. Ute Rager in entscheidender Weise geholfen. Frau Ute Ziegenhain verdanke ich wertvolle Ratschläge für die Transkription der Sanskrit-Begriffe und für die Erstellung der Rager, Philosophie von Sri Aurobindo. Siehe auch Rager, Personbegriff; Rager, Selbsterfahrung.
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Vorwort
Register. Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Lukas Trabert, Leiter des Alber Verlags, der mit großem Engagement die Veröffentlichung dieses Buches unterstützt hat. Mit dem Dank verbinde ich die Hoffnung, diese Arbeit möge dem geistigen Gespräch zwischen Indien und Europa förderlich sein.
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Kapitel I: Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa) 1
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Natur (Prakṛiti)
Der Mensch ist »’Puruṣa in ’Prakṛti« (E 394) 2, Seele in Natur, oder, um mit Karl Rahner zu formulieren: »Geist in Welt«. Damit sind zwei Grundbegriffe gegeben, die aus dem philosophischen System des Sāṃkhya übernommen wurden, aber über dieses System hinaus Einfluss auf die ganze indische Philosophie gewonnen haben und für Sri Aurobindo von großer Wichtigkeit sind. Erst aus ihrem genaueren Verständnis werden wir die Grundlage gewinnen, auf der dann der Personbegriff entsteht.
1.1 Die niedrigere Natur (aparā prakṛiti) Allgemeinbegriff der Natur Befassen wir uns zunächst mit der prakṛti. Im Sāṃkhya bedeutet dieser Begriff Urmaterie oder Urnatur 3, Erzeugerin 4. Sri Aurobindo In diesem ersten Kapitel folge ich vorwiegend den »Essays on the Gita«, weil wir hier am leichtesten den Anschluss an die indische Tradition gewinnen können. 2 Die in Klammern stehenden Abkürzungen nach den Zitaten werden am Ende des Buches im Verzeichnis »Abkürzungen« erklärt. Die Sanskrit-Worte werden nach der allgemein anerkannten Lautumschrift geschrieben. Wenn sie jedoch innerhalb eines unmittelbaren Zitats aus Sri Aurobindo gebracht werden, dann werden sie so geschrieben wie dort. Sri Aurobindo bringt die Sanskrit-Ausdrücke meist so, dass sie ohne Vorverständnis richtig ausgesprochen werden können; andernfalls kennzeichnet er sie durch Kursivdruck. Es kommt häufig vor, dass Sri Aurobindo bei einzelnen Begriffen mit der Groß- und Kleinschreibung variiert, z. B. mind oder Mind. Das großgeschriebene Wort bedeutet das Allgemeine oder das Prinzip, das kleingeschriebene ein Besonderes, Individuelles. Ich hebe in Anlehnung an Heinz Kappes die im Englischen großgeschriebenen Worte in Zitaten durch ein Hochkomma vor dem Wort hervor, z. B. ’Prakṛti. 3 Frauwallner, Geschichte der indischen Philosophie, Band I, 297, 300, 304 ff. Ähnlich Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 157, 171, 205 ff. 1
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
folgt dem Wortgebrauch in der Gita 5, der zwar aus dem Sāṃkhya kommt, aber doch selbständig verwendet und im Sinne des Vedānta interpretiert wird. Die Gita ist eine Synthese aus Sāṃkhya, Yoga und Vedānta (E 90–1). »Ihr Sankhya ist das umfassende und vom Vedanta überformte Sankhya, wie wir es in seinen ersten Prinzipien und Elementen in der großen vedantischen Synthese der Upanishaden und in den späteren Entwicklungen der Puranen finden.« (E 93) Dieses Verhältnis der drei Systeme wird in zwei Kapiteln untersucht. 6 Die Sāṃkhya-Lehre vertritt nicht nur einen Dualismus zwischen prakṛti (Natur) und puruṣa (Geist, Seele), sondern darüber hinaus eine unaufhebbare Vielheit von puruṣas. Demgegenüber überwindet die Gita – nach der Deutung Sri Aurobindos – sowohl den Dualismus zwischen den Prinzipien Materie und Seele als auch die absolute Vielheit von puruṣas. Es gibt nur den einen Puruṣottama (puruṣa uttama, die höchste göttliche Person), welcher als Einheit die Vielheit in sich begreift. Diese Andeutung mag genügen. Es kommt uns nicht darauf an, ob Sri Aurobindo in allem die Gita richtig interpretiert, ob er die Systeme richtig einander zuordnet. Uns interessiert zuerst, welchen Begriff von prakṛti er selbst aus der Gita gewinnt, da wir ja sein System erforschen wollen. Es mag uns die Feststellung genügen, dass die »Essays« nicht nur großes Aufsehen in Indien erregten, sondern auch weithin Anerkennung fanden. 7 Prakṛti ist zunächst einmal gleichbedeutend mit Natur 8. Sie ist »die ursprüngliche oder wurzelhafte Energie, mūla prakṛti« (H 29) 9, »das ursprüngliche Prinzip und die Substanz der Dinge und zugleich die schaffende Energie, die Physis der Griechen« (H 23). Prakṛti »umfasst in sich drei Guṇas oder Konstituenten, d. h. die Substanzen des Lichten, Leichten, Freudigen (sattva), des Beweglichen, Anregenden,
Frauwallner, Band I, 317. Prakṛti wurde als weiblich empfunden. Das männliche Gegenprinzip wurde bei Pañcaśikha puruṣa, der Mann, die Seele, da im Wort ātman das Männliche und Einzelpersönliche nicht so zum Ausdruck kam. Das Wort puruṣa bedeutete »in alter Zeit das Seelenmännchen« und »hatte auch in der Lehre vom Urmenschen eine Rolle gespielt«. So wurden die beiden großen Prinzipien des Kosmos als weiblich und männlich verstanden. 5 Gītā als Abkürzung für Bhagavadgītā, künftig mit einfachem i geschrieben. 6 »Sankhya and Yoga«, E 90–108; »Sankhya, Yoga and Vedanta«, E 109–126. 7 Vgl. hierzu u. a. Radhakrishnan, Die Bhagavadgītā, 24. 8 Z. B. E 130 »Prakriti or Nature-force« et passim; E 47 »it is Prakriti, it is Nature […]«. 9 Diese mūla prakṛti ist die erste Substanz, pradhāna. 4
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Natur (Prakṛiti)
Leidenschaftlichen (rajas) und des Dunklen, Schweren, Hemmenden (tamas).« 10 Prakṛti ist Energie 11 und »Kraft des Hervorgehens (power of process)« (E 340). »Die eine ursprüngliche und ewige Gegebenheit ist die Energie der ’Natur, die Kraft und Beschaffenheit des Seins, die sich so durch die Sinne der Seele offenbart (manifests)« (E 365). Energie aber wird wieder gleichgesetzt mit Materie (matter) (E 96), wobei Materie nicht im groben Sinne verstanden wird, sondern eher in dem Sinne der modernen Naturwissenschaft. 12 Es wird über sie weiterhin gesagt: »Materie, Körperlichkeit (body) ist nur eine zusammengeballte (massed) Bewegung der Kraft des bewussten Seins; diese ist Ausgangspunkt für die verschiedenen Beziehungen des Bewusstseins, welche durch die Kraft der Sinne wirken.« (E 206) In der Materie wohnt ein ideatives Vermögen: »Es muss hier ein verborgenes ideatives Vermögen der universalen Energie geben, vijñāna […] 13, welches die mathematischen Funktionen (the mathematics) festlegt und die Resultate dieser äußeren Entfaltungen (dispositions) beschließt: dieses ist die allmächtige Idee des Geistes, welche diese Pläne erfindet und von ihnen Gebrauch macht.« (E 576)
Im vitalen und mentalen Bereich tritt diese Idee immer offener zu Tage. Der Geist im strengen Sinn ist im Gegensatz zur Natur jeder Determination enthoben (E 576). So durchläuft der Naturbegriff eine Reihe von anderen Begriffen: Materie, Vitales, Mentales, Energie. Schließlich ist noch zu unterscheiden zwischen der den Sinnen zugänglichen Natur und avyaktam, wörtlich dem Unentfalteten, oder dem »verborgenen (unmanifest) Prinzip der ursprünglichen ’Prakṛti« (E 591). Mit diesem Allgemeinbegriff haben wir zunächst nur die »niedrigere Prakṛti« (lower Prakṛti) eingefangen. Zum Begriff der Natur gehört aber auch die »höchste Prakriti« (parā prakṛti), die gleichbedeutend ist mit der göttlichen Natur, wie wir später sehen werden. 14
Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 206. Z. B. E 94, 365, 70 »world-energy«. 12 Vgl. E 575 »matter is rather substance or act of energy than energy a motive-power of self-existent material substance […]«. 13 Vijñāna wird uns später wieder als Supermind begegnen. 14 Die »lower Nature« heißt im Fachausdruck des Sanskrit aparā prakṛti, die »higher or supreme Nature« parā prakṛti. Vgl. IU 58; OYII.T1 289. 10 11
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Die drei Eigenschaften der niedrigeren Natur Die niedrigere Prakṛti ist die »große Kraft mit ihren drei Weisen des Wirkens« (E 47), den »drei wesentlichen Qualitäten oder Modi der Welt-Energie« (E 70). Damit sind die drei guṇas gemeint (traiguṇya) (E 71). Sie bedeuten die Eigenschaften der Urmaterie. Diese sind tamas (Finsternis), rajas (Leidenschaft), sattva (Güte). Gemäß der Deutung von Sri Aurobindo ist »Tamas das Prinzip der Trägheit« (E 578), »Rajas das Prinzip des schöpferischen Strebens, Bewegens und Antreibens« (E 579), »Sattwa das Prinzip des verstehenden Erkennens und der übereinstimmenden Anpassung, des Maßes und des Gleichgewichts […]« (E 579). 15 Aus den guṇas folgen weitere Kennzeichen der niedrigeren prakṛti, nämlich Unwissenheit (ignorance), Ichheit (ego), Begierde (desire) und Leiden (passion – auch Leidenschaft). Ignorance meint Unwissenheit in Bezug auf die wahren Zusammenhänge im Kosmos, im Verhältnis von Gott und Kosmos, ein Unwissen über unsere eigene Natur und das Ziel unseres Seins. »Das Siegel der Unwissenheit ist der Egoismus« (E 170). »Ego« ist dementsprechend im Sinne von Egoismus gemeint. Wir werden darüber noch genauer zu handeln haben. »Desire« kann am ehesten als concupiscentia, als Begierde verstanden werden, »welche die ganze Wurzel des Übels und des Leidens ist« (E 134). Leiden (passion) ist das Ergebnis von Unwissenheit, Ichheit und Begierde und zugleich Zeichen dafür, wie sehr der Mensch in der Verhaftung an das Endliche steht. Die Dasheiten (tattvas) der niedrigeren Natur Gemäß der Gita und der Interpretation von Sri Aurobindo gehen aus der niedrigeren prakṛti dreiundzwanzig tattvas hervor. Diese tattvas
Es finden sich im Gesamt-Werk weitläufige Ausführungen, z. B. LD 737–9; OYI 266–78. Die drei guṇa werden so charakterisiert: 1. Tamas: Prinzip der Dunkelheit und Trägheit. Es hat seinen Platz im »physical mind«. 2. Rajas: Prinzip der Leidenschaft und Aktivität: im »vital mind«. 3. Sattva: Prinzip des Lichts, der Ausgeglichenheit, der Harmonie: im »mental ego«. Durch die Transformation durch den Supermind wird sattva zu jyoti oder »authentic spiritual light«, rajas zu tapas oder »tranquilly intense divine force« und tamas zu śama oder »divine quiet«. OYII.T2 306.
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Natur (Prakṛiti)
oder Dasheiten sind »kosmische Prinzipien« 16 Die zehn objektiven tattvas sind die »elementaren Bedingungen der Energie oder Materie« (E 96). Da diese für unser Thema nicht so wichtig sind, verzichten wir auf ihre Darstellung. Dreizehn andere Prinzipien konstituieren den subjektiven Aspekt (subjektive tattvas) der kosmischen Energie. »Buddhi oder Mahat, Ahankara, Manas und seine zehn Sinnesfunktionen, fünf des Erkennens, fünf des Tuns. Manas, mind ist der ursprüngliche Sinn, welcher alle Gegenstände wahrnimmt […]. Er besondert seine grundlegendsten Aufnahmefunktionen mit Hilfe der fünf wahrnehmenden Sinne des Hörens, Berührens, Sehens, Schmeckens und Riechens […] und gewisse notwendige Lebensfunktionen des Reagierens mit Hilfe der fünf aktiven Sinne, welche wirksam sind für Rede, Bewegung, Ergreifen von Dingen, Ausscheiden und Erzeugen.« (E 97) Manas oder sense-mind könnte also auch als innerer Sinn oder sensus communis verstanden werden. Das höchste Prinzip im Bereich der prakṛti ist buddhi (Erkennen, Vernunft). »Buddhi, das unterscheidende Prinzip, ist zugleich Intelligenz und Wille; es ist jenes Vermögen in der Natur, welches unterscheidet und zusammenordnet.« (E 97) Es ist das Organ des Philosophen und leistet die »intellektuelle und philosophische Unterscheidung«, über ihr steht die spirituelle Erkenntnis, »das vedantische Erkennen der Einheit« (E 268). Dennoch ist der Yoga »des intelligenten Willens oder der Buddhi« geeignet, um aus dem Unwissen herauszuführen und zu den Anfängen der spirituellen Erkenntnis hinzuleiten (E 127–141). Ahaṃkāra [wörtlich: Ich-Macher], »der Ich-Sinn (ego-sense), ist das subjektive Prinzip in Buddhi, durch welches der Purusha veranlasst wird, sich selbst mit Prakriti und ihren Tätigkeiten zu identifizieren.« (E 97) Beide Arten von tattvas, subjektive wie objektive, sind also mechanische Prinzipien einer unbewussten Energie. Um dies einsichtiger zu machen, erinnert Sri Aurobindo an die Schlussfolgerungen der modernen Naturwissenschaften.
Vgl. auch das Schema bei Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band II, 214. Das 1. Prinzip ist der puruṣa, das 2. Prinzip ist die prakṛti. Zusammen mit den genannten 23 tattvas ergeben sich die 25 Prinzipien des Sāṃkhya-Systems. Die fünf Sinnesfunktionen des Erkennens werden im Sāṃkhya-System auch als tanmātra (subtile Eigenschaften der Energie oder Materie) bezeichnet.
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»Sogar im mechanischen Tun des Atoms gibt es eine Kraft, die man nur als unbewussten Willen bezeichnen kann; in all den Werken der ’Natur handelt dieser überall vorhandene Wille unbewusst intelligent. Was wir mentale [verständige] Intelligenz nennen ist seinem Wesen nach genau dasselbe […]«. (E 98) 17
1.2 Māyā In der indischen Geschichte bedeutet māyā wörtlich: Kunst, wunderbare Kraft, Zauberkraft 18. Die Welt ist für die Upaniṣaden das Zauberstück des Gottes. Māyā ist gleich Natur. Mit māyā ist noch kein Illusionismus gemeint. 19 In der buddhistischen Schule der Yogācāra und im System des Vedānta wird jedoch māyā im Sinne von Illusion und Traum verstanden. 20 Für Sri Aurobindo ist māyā in Anlehnung an die Gīta »die Kraft des unendlichen ’Bewusstseins« (E 20). Maya und prakṛti sind deshalb »nur komplementäre Aspekte der einen und selben bewirkenden Kraft göttlichen Bewusstseins« (E 207). 21 Māyā »ist das göttliche Bewusstsein in seiner Kraft, das eigene Sein in verschiedener Weise selbst darzustellen, während ’Prakriti die bewirkende Kraft dieses Bewusstseins ist; diese wirkt, um jede solche Selbst-Darstellung herauszuarbeiten entsprechend ihrem eigenen Gesetz und der ihr zugrunde liegenden Idee, svabhāva und svadharma«. (E 208)
Māyā und prakṛti leiten sich also beide vom göttlichen Bewusstsein ab. Dieses Bewusstsein ist ein schöpferisches Vermögen, das als māyā das eigene göttliche Sein in verschiedenen Formen sich selbst vorstellt. Als prakṛti erwirkt es für jede dieser Vorstellungen des eigenen Seins ein eigenes Gesetz des Seins und des Handelns, svabhāva 22 und Zum Thema »prakṛti« vgl. auch Strauss, 127 (bzw. 118–133). Strauss, Indische Philosophie, 22. Vgl. auch: Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 74, 157. 19 Strauss, ebd. 72; Glasenapp, ebd. 164, 173, 183. 20 Strauss, ebd. 222, 244 f. Bei Śaṃkara ist jedoch – nach Strauss – die Welt wirklich und nur dem im höchsten Wissen Lebenden ein Nichts (244 f.). Wenn wir etwas nicht gleich richtig erkennen, dann liegt es nicht am Illusionscharakter der Welt, sondern an einem subjektiven Irrtum, an einem Fehler in der Auffassung (247). Glasenapp, 183 ff., 195. Vgl. zum māyā-Begriff auch LD 120/1. 21 »various self-representations of its being« 22 Svabhāva könnte im Sinne eines Limitationsprinzips verstanden werden. 17 18
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Natur (Prakṛiti)
svadharma. Die so entstandene Vielheit von Seiendem existiert aber nicht losgetrennt für sich. Sie lebt in der göttlichen Bewusstseinskraft gleichsam als verschiedene Zentren des Eigenseins, eingebettet in dem umfassenden einen Sein. Daraus leitet sich, wie wir später sehen werden, jener Gottesbegriff ab, der das und der Eine ist, aber zugleich als eine Mannigfaltigkeit existiert: der Eine in dem Vielen und das Viele in dem Einen. Damit ist grundsätzlich auch der Schöpfungsbegriff angedeutet. Wir werden später ausführlicher sehen, wie eng der Zusammenhang zwischen prakṛti – māyā einerseits und puruṣa – Person andererseits sein wird. Māyā hat also hier nicht den Charakter der Illusion. »Maya ist nicht ihrem Wesen nach Illusion – das Element oder der Anschein der Illusion kommt nur durch das Unwissen (ignorance) der niedrigeren ’Prakriti herein, der ’Maya mit den drei Qualitäten der ’Natur« (E 207–8), oder, wie es an anderer Stelle heißt, der traiguṇya mayī māyā (E 311). Zwar schafft Gott durch seine māyā die Vielfalt der jīva (Individuen) durch svabhāva, aber diese Individuen verwirklichen sich auch in der Welt der guṇas. Dadurch entsteht Unwissen und »Maya der drei Qualitäten«. Gott »stellt seine eigene wirkende Natur, seine ’Prakriti […] hinaus (puts forth); diese wird manifest im ’Jiva, herausgestaltet durch svabhava, das Aus-sich-zu-sich-selbst-Werden (own-becoming), von jedem ’Jiva, und zwar entsprechend dem Gesetz des göttlichen Seins in ihm […]; aber sie wird auch herausgestaltet in der ich-haften Natur durch das verwirrende Spiel der drei Gunas übereinander, guṇā guṇeṣu vartante.« (E 310–1)
An einer anderen Stelle wird der scheinbare Illusionscharakter der traiguṇya mayī māyā genauer gedeutet. »Damit ist nicht gemeint, dass alles nicht existiert oder der Unwirklichkeit angehört, sondern dass sie unser Erkennen verwirrt, falsche Wertungen erzeugt, uns in Ich-haftigkeit, Verständigkeit (mentality), Sinnliches und Physisches einhüllt und dabei vor unseren Augen die höchste Wahrheit unseres Existierens verbirgt.« (E 369–70)
Der Fehler liegt also in der Verwirrung unserer Erkenntnis, die nicht mehr das Ganze sieht, sondern sich mit Teilen identifiziert und dadurch zu falschen Ergebnissen kommt. »Die einzige täuschende (illusive) ’Maya ist die Unwissenheit (ignorance) der niedrigeren ’Prakriti; diese schafft nicht nicht-seiende Dinge auf dem unfassbaren Hintergrund des ’Einen und ’Absoluten, sondern verfälscht für
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den menschlichen Verstand infolge seines […] begrenzten Wirkens durch die Gestalt des Ich und andere unangemessene Gestalten von Verstand (mind), Leben und Materie den größeren Sinn und die tieferen Wirklichkeiten des Daseins (existence).« (E 462) 23
Auf dem Hintergrunde einer realistischen Auffassung der Welt der prakṛti und der māyā setzt sich Sri Aurobindo fortwährend mit dem Illusionismus auseinander, als dessen Hauptvertreter er den Māyāvāda des Śaṃkara angreift. Inwieweit er damit Śaṃkara selbst gerecht wird, soll hier nicht untersucht werden. Jedenfalls darf man sagen, dass im populären Vedānta die māyā meist die Bedeutung von Illusion und Unwirklichkeit angenommen hat. Wenn eine so stark herrschende Richtung von Sri Aurobindo widerlegt und die Welt als Wirklichkeit verstanden wird, dann bedeutet dies eine großangelegte Wende gegenüber einer langen Tradition, eine Wende mit vielen, noch zu schildernden Konsequenzen. Die yogamāyā ist grundsätzlich »das göttliche Bewusstsein in seiner Kraft, das eigene Sein in verschiedener Weise selbst darzustellen« (E 208). »Es gibt einen Yoga der göttlichen Kraft, me yoga aiśvara, durch diesen schafft der Höchste Erscheinungsformen seiner selbst in einer geistigen, nicht materiellen Selbst-Formulierung seiner eigenen ausgedehnten Unendlichkeit, eine Ausdehnung, von der die materielle nur ein Abbild ist.« (E 420)
Der Trennungsstrich zwischen yogamāyā und niedrigerer māyā verläuft also entsprechend der Unterscheidung zwischen höchster und niedrigerer prakṛti, »’Sein und Werden, Existieren in und aus sich selbst, ātman, und davon abhängiges Existieren, bhūtani […].« 24 »Aber die höchste Wahrheit dieser zwei Beziehungsträger 25 und die Auflösung ihrer Antinomie muss gefunden werden in dem, was sie überschreitet; dies ist die höchste ’Gottheit, die sowohl das enthaltende und aufnehmende (containing) Selbst wie dessen enthaltene und aufgenommene Vgl. auch E 595: Maya »only as a bewildering partial consciousness which loses hold of the complete reality, lives in the phenomenon of mobile nature and has no sight of the Spirit of which she is the active power, me prakṛtiḥ. When we transcend this Maya, the world does not disappear, it only changes its whole heart of meaning […] all is Vasudeva. The world for the Gita is real, a creation of the Lord […].« 24 »Being and becoming, existence in itself, ātman, and existences dependent upon it, bhūtani […]«. 25 Eigentlich »relations« = Beziehungen. 23
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Natur (Prakṛiti)
Erscheinungen (phenomena) manifestiert durch die Kraft seines geistigen Bewusstseins, yogamāyā.« (E 420–1)
Diese etwas vorschnell erscheinende Synthese wird verständlicher werden, wenn wir den Gottesbegriff erörtern. 26
1.3 Die höhere Natur – parā-prakṛti Mit diesem kurzen Aufriss der menschlichen Vermögen sei die Darstellung der »niedrigeren Natur« abgeschlossen. Wir müssten aber in dieselbe unheilbare Antinomie zwischen Selbst (puruṣa) und kosmischer Natur (prakṛti) wie das Sāṃkhya verfallen, wenn es über diese prakṛti und māyā der drei guṇas hinaus nichts gäbe. »Aber es gibt noch etwas anderes, ein höheres Prinzip, eine Natur des Geistes, parā prakṛtir me. Es gibt eine höchste Natur 27 des Gottes, welche die wahre Quelle, die grundlegende schöpferische Kraft und die bewirkende Energie der kosmischen Existenz ist […]«. Diese höchste prakṛti ist nicht »das avyakta der Sankhyas« oder im Sinne des Vedānta; sie ist nicht das Unentfaltete der Ur-Materie. »Sie ist die höchste Bewusstseinskraft (conscious-power) des höchsten ’Wesens, cit-śakti, welche hinter dem Selbst und dem Kosmos ist. […] Die höchste Natur oder parā-prakṛti ist die ursprüngliche und ewige Natur des ’Geistes und seine transzendierende und begründende ’Shakti […]«. (E 357–359)
Śakti bedeutet Kraft oder Fähigkeit, cit-śakti ist die Kraft des Bewusstseins, »conscious-power«. Diese »göttliche Śakti« wird hier und an anderer Stelle mit parā-prakṛti in eins gesetzt. (E 502) Höhere und niedrigere Natur sind innerlich miteinander verbunden. Erstere ist nach einem etwas äußerlichen Gleichnis der Gita wie die Schnur einer Perlenkette, die alles Seiende durchdringt und zusammenhält. Der tiefere Sinn ist wohl der: »Die abgestuften Kräfte und Vermögen (values) der niedrigeren ’Prakriti leiten sich ab von den absoluten Kräften und Vermögen der höchsten ’Shakti und müssen zu dieser zurückkehren, um ihre eigene Quelle und Wahrheit zu Vgl. zur māyā-Auffassung der Gita auch die Schilderung bei Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band I, 464–5. 27 An dieser Stelle wie auch an anderen Orten gebraucht Sri Aurobindo den Ausdruck »höchste Natur« (supreme nature, supreme Prakriti). In der Regel spricht er aber von der »höheren Natur«. 26
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
finden […]«. (E 363) So gilt zum Beispiel von den Sinnen: »Das ’Höchste Wesen selbst in seiner ’Para Prakriti ist die grundlegende Energie 28 der verschiedenartigen sinnlichen Beziehungen […]. Jeder Sinn ist das ’Höchste Wesen in seiner dynamischen Bewusstseinskraft.« (E 364–5) Es wird unterschieden zwischen der »wesentlichen Qualität und den phänomenalen Ableitungen (derivations) der niedrigeren Natur, zwischen dem Ding an sich (thing itself) in seinem reinen Wesen und dem Ding in seinen niedrigen Erscheinungen […]«. Ersteres ist Gott selbst, letzteres ist er nicht, aber er ist in ihnen (E 366–7). Damit ist gemeint, »dass die wahre und höchste geistige Natur des Gottes dort nicht eingefangen (imprisoned) ist; diese [die Seienden der niedrigeren Natur] sind nur Phänomene in seinem Sein, aus ihm heraus geschaffen durch das Wirken des Ich und des Unwissens (ignorance)«. (E 369) Es wird hier eine sehr wichtige Unterscheidung vollzogen in der Art, wie der Gott (the Divine) gegenwärtig ist. Er ist nicht einfach alles in allem. Zwischen Gott selbst und dem, was nur in ihm, aber nicht identisch mit ihm ist, besteht ein wichtiger Unterschied. 29 Allerdings versucht Sri Aurobindo dann wieder – vor allem in der Theorie der Vibhūti und des Vāsudeva – zu einem Advaita-Vedānta zu kommen, der in der Einheit die Verschiedenheit umschließt. Wie später im Kapitel VI (Methode) gezeigt wird, ist zum Begreifen dieses Advaita die spirituelle oder supramentale Erkenntnis gefordert. In einem Rückblick auf das Gesagte und in einem Vorgriff auf die Erörterungen über Brahman können wir festhalten: Prakṛti in einem allgemeinen Sinn ist die Natur des Höchsten Wesens, dessen Bewusstseinskraft. Diese Natur hat drei Aspekte: māyā schafft alle Dinge »dem Entwurfe nach« (conceptively creative), prakṛti – jetzt im strengen Sinn – führt das so Entworfene in dynamischer Weise aus, śakti »schafft alle göttlichen Werke sowohl dem Entwurfe nach als auch in der dynamischen Erzeugung«. (LD 368) 30 Māyā und »Energy at the basis of the various sensory relations«. Später wird versucht werden, auch dieses räumlich gebundene Denken des »in« zu überwinden. Für unseren Verstand bedeutet diese Unterscheidung sehr viel, für den Sachverhalt an sich nicht; denn im rein geistigen Sein gibt es nicht mehr Raum und Zeit. Vgl. die späteren Ausführungen über die Transzendenz und Universalität des Gottes. 30 In OYI 717 wird ebenfalls »Nature« als übergeordneter Terminus zu prakṛti, māyā, śakti gebraucht. Diese »Nature« »ist Prakriti an ihrer am meisten äußerlichen Seite, wo sie dem Purusha entgegengesetzt zu sein scheint […]. An ihrer anderen inneren 28 29
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Geist (Puruṣa)
prakṛti sind wiederum zweifach zu verstehen: vidya māyā, parāprakṛti und cit-śakti sind die Natur des Höchsten Wesens; avidya māyā (traiguṇya mayī māyā) und aparā-prakṛti sind die davon abgeleitete niedrigere Natur, welche sich uns als Welt manifestiert. Der Gegensatz zwischen niedrigerer und höherer prakṛti ist nicht nur in der Theorie überwindbar, sondern auch im menschlichen Leben. Die menschliche Natur muss in die göttliche verwandelt werden. Um den Widerspruch zwischen dem, »was wir innerlich und was wir äußerlich sind« (E 624), zwischen der inneren Freiheit und Erkenntnis einerseits und der naturgebundenen Handlung andererseits, zu überwinden, müssen wir im »integralen Yoga« und durch völlige Übergabe an Gott (»complete surrender«) den jetzigen Zustand überschreiten. Diese Verwandlung ist nur möglich, weil die guṇas der niedrigeren Natur letztlich nicht aus sich selbst handeln, weil letztlich kein Dualismus zwischen Natur und Geist besteht. »Die wirkliche bewegende Kraft ist ein göttlicher geistiger ’Wille, welcher gegenwärtig diese niedrigeren Bedingungen benützt, selbst aber nicht von den Gunas begrenzt, beherrscht und zu mechanischer Tätigkeit verurteilt ist (mechanised) wie der menschliche Wille.« (E 628) »Denn alles in der niedrigeren gewöhnlichen Natur ist abgeleitet vom […] ’Purushottama« (E 629), dem persönlichen Gott.
2
Geist (Puruṣa)
Prakṛti ist die Natur, die ausführende Kraft des Geistes; der Geist selbst aber, das bewusste Sein (conscious Being) ist puruṣa. Beide sind eine Zweieinheit. Sie gehören unzertrennlich zusammen. Der Dualismus des Sāṃkhya wird im Sinne eines Advaita-Vedānta 31 zu einer Einheit gebracht.
Seite, wo sie sich näher zur Einheit mit Purusha hinbewegt, ist sie Maya […]. Beide sind Seiten ein und derselben Sache, Shakti, der Seins-Kraft des Geistes […]«. 31 Vgl. hierzu den bheda-abheda-vāda im Bhāskara-bhāṣya zum Brahma-Sūtra. Er meint die Lehre von der Verschiedenheit und Nichtverschiedenheit. Einheit und Vielheit sind gleicherweise real. (Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band II, 496–7). A-dvaita heißt nicht Monismus, sondern Nicht-Zweiheit. Der Advaita-Vedānta kann deshalb auch die Ausprägung des bheda-abheda-vāda haben oder – diesem sinngemäß gleich – ein Viśiṣṭādvaita sein, wie ihn besonders Rāmānuja vertrat. Vgl. auch Strauss, Indische Philosophie, 249.
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
2.1 Der Puruṣa Wort- und Bedeutungsgeschichte in der ältesten Tradition Zum besseren Verständnis sei zuerst eine kurze Bedeutungsgeschichte des Wortes puruṣa für die ältere Zeit gegeben. Wörtlich heißt puruṣa: Mann. Zum ersten Mal taucht dieses Wort im Lied vom puruṣa in den Hymnen des Ṛg-Veda auf. Dort bedeutet er »Urmensch«. Dieser puruṣa wird geopfert. »Während drei Viertel des Purusha […] als das Unsterbliche im Himmel verbleiben, wandelt sich ein Viertel von ihm zur Welt.« 32 In den ältesten Upaniṣaden wird von den drei Zuständen des puruṣa berichtet: Wachen, Traumschlaf und Tiefschlaf. Im Traumschlaf ist die Seele das mythische und mystische Männchen, das aus der Welt des Wachens das Material für die Träume nimmt; »das Licht aber, das im Wachen die Sonne spendet, erzeugt sie nun selbst, denn ihre Natur ist Licht«. 33 In den jüngeren Upaniṣaden ist Gott die Einzelseele, »wohnt als Puruṣa im Herzen, wandert entsprechend den Taten von Geburt zu Geburt, und ist doch wieder nicht die Einzelseele, die ihm, dem Absoluten, als der ›andere‹ gegenübersteht«. 34 In der Maitrāyana-Upaniṣad wird die Sāṃkhya-Philosophie stark ausgebaut. Der puruṣa ist jetzt der »Kenner des Feldes« (kṣetrajña) und steht als solcher dem Feld (kṣetra), der prakṛti gegenüber. Wir haben schließlich zwei selbständige Prinzipien, die im klassischen Sāṃkhya dualistisch nebeneinandergestellt werden. Durch Pañcaśikha, einen der wichtigsten Begründer des Sāṃkhya, bekamen die beiden Termini puruṣa und prakṛti ihre feste philosophische Bedeutung und wurden nicht nur für das Sāṃkhya, sondern auch für die weitere indische Philosophiegeschichte sehr wirksam. »Und so kam es, dass in Indien das erkennende Prinzip dauernd als männlich, das schaffende Prinzip als weiblich aufgefasst wurde. Und damit steht es letzten Endes in Zusammenhang, dass noch in religiösen Systemen der Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 30; Strauss, Indische Philosophie, 52; vgl. Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band I, 87. 33 Strauss, ebd. 52; vgl. auch Frauwallner, Geschichte der indischen Philosophie, Band I, 317. Hier wären sehr wichtige Vergleiche zu ziehen zur Mystik des Westens und zur Tiefenpsychologie, besonders zu C. G. Jung; dort tritt dieses Männchen als Symbol des Selbst auf und wird als solches von den Patienten erfahren und gezeichnet. 34 Strauss, ebd. 72. 32
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Geist (Puruṣa)
späteren Zeit der göttliche Geist als männlich, seine Schöpferkraft als weiblich gedacht ist und die Einheit dieses göttlichen Paares die Gottheit bildet.« 35
Die »weibliche« Seite des Gottesbegriffs bei Sri Aurobindo haben wir bereits als māyā, parāprakṛti und śakti kennengelernt; die »männliche« wird uns jetzt begegnen als puruṣa. 36 Die Einheit beider Seinsweisen aber ist im puruṣottama, in der Person des Höchsten Wesens, verwirklicht. Im Sāṃkhya wird die Einheit noch nicht gesehen. Wie bereits gesagt, stehen sich nicht nur puruṣa und prakṛti als völlig selbständige Prinzipien gegenüber, sondern die puruṣa selbst sind wiederum viele, unabhängige Einzelseiende. Die Erkenntnis ist zwar Leistung der buddhi, kommt also von der prakṛti, ist aber nur möglich, weil sich der Erkenntnisvorgang im reinen Geist, im puruṣa, spiegelt und von dort das Licht empfängt. Die genaue Durchführung dieses Gedankens wechselt in den einzelnen Perioden des Sāṃkhya. 37 Im Yogasūtra des Patañjali ist der absolute Gott und Herr (īśvara) ein besonderer puruṣa. 38 Er ist verschieden von den vielen anderen puruṣa, er ist der Herr des Yoga. Aber die Abhebung seiner Besonderheit und die Eingliederung in ein metaphysisches System gelingen nicht deutlich. 39 Im Brahmasūtra schließlich wird die Einheit von puruṣa und prakṛti gesucht, welche in den späteren Vedānta-Richtungen ausgebaut wird. Damit wird der Dualismus des Sāṃkhya überwunden. 40 Frauwallner, ebd. Band I, 317. Vgl. auch Glasenapp, ebd. 171, 206 ff. Nach Radhakrishnan, Indische Philosophie Band I, 85 ist bereits im Ṛg-Veda das Gegensatzpaar puruṣa-prakṛti aufgestellt, jedoch mit umgekehrten Bedeutungen wie im Śāṃkhya. Puruṣa ist »das aktive schöpferische Prinzip«, prakṛti »die passive chaotische Materie«. 36 Wie bei der prakṛti verstehen wir unter dem Terminus puruṣa ein Zweifaches: 1. Eine allgemeine Bedeutung: das Prinzip des Geistes, des bewussten Bei-sich-seins schlechthin. 2. Eine strenge Bedeutung: dieses Geistprinzip in Abgrenzung zu ātman und īśvara. 37 Vgl. Frauwallner, ebd. Band I, 396 ff.; Strauss, 77–81; E 94–5, 98–9; Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band II, 218–221, 224–231. 38 Yogasūtra I. 24: »Īśvara ist ein besonderer puruṣa, unberührt von Leid, Taten, deren Wirkungen, und von Wünschen«. Übertragen von Vivekānanda in Rāja-Yoga. 39 Vgl. Strauss, Indische Philosophie, 192–3. 40 Vgl. Strauss, ebd. 233, 257. Zum Verhältnis von Sāṃkhya, Yoga und Vedānta in der Gita vgl. die Deutung Sri Aurobindos in den beiden Kapiteln der E »Sankhya and Yoga« und »Sankhya, Yoga and Vedanta«. 35
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
Bei Sri Aurobindo Sri Aurobindo geht aus von der Bedeutung des puruṣa, wie er in der Gita besonders unter dem Einfluss der Sāṃkhya-Kārikā von Īśvara – Kṛṣṇa vorliegt (E 91). Die Gita überwindet den absoluten Pluralismus der puruṣa; dann führt sie eine Einheit von puruṣa und prakṛti herbei, welche im puruṣottama möglich wird. Der Puruṣottama ist die absolute Person und als solche die aufhebende Vereinigung von kṣara und akṣara (veränderlichem und unveränderlichem Selbst) in sich als dem umfassenden und höheren Dritten. Sri Aurobindo nennt dies die große Leistung und den zentralen Gedanken der Gita. Der Begriff puruṣa wird also von Sri Aurobindo für Gott und die Geist-Seele gebraucht. Er meint Individualität, Geist, Unsterblichkeit. »In der niedrigeren Natur erscheint jedes Seiende als das ego, in der höheren ist es der individuelle ’Purusha […] Diese individuelle Seele bin ich selbst […]«. (E 107) Der puruṣa ist das unveränderliche Selbst (E 112), die wahre Freiheit (E 299–301), die »geistige Person« (E 598). Als solche steht er in Distanz zur Natur; er ist freier Beobachter, unberührt von der Gesetzlichkeit der Natur und des Karma; »denn Prakriti ist das Feld der gesetzmäßigen Prozesse (field of law and process), aber die Seele, der Purusha, erteilt erst seine Zustimmung (giver of the sanction, anumantā) […]« (LD 964). Unsterblich ist der puruṣa nicht in dem Sinne, dass er den Tod überlebt, sondern dass er die Gegensätze Leben und Tod überhaupt transzendiert (E 82, 570). Er wird nicht in seiner unsterblichen Ewigkeit berührt durch die Annahme eines Körpers (E 570–1). Unsterblichkeit heißt aber deshalb nicht »Auflösung des individuellen geistigen Seins in ein unoffenbares, undefinierbares oder absolutes ’Brahman«. (E 571 Anm.) Die Individualität als solche ist unsterblich. 41
2.2 Das natürliche Individuum (ahaṃkāra-ego) In der Geschichte Der puruṣa meint die geistige Individualität, das »ego«, die Individualität der Natur. Das »ego« wird gebildet durch den »ego-sense« oder ahaṃkāra. Ahaṃkāra ist eigentlich ein substantiviertes Tun»Eternal individual«, wie immer wieder betont wird, und zwar besonders in dem Kapitel: »The Three Purushas«, E 588–607.
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Geist (Puruṣa)
Wort und bedeutet wörtlich: »Ich-Macher«. Er taucht zuerst in der Śvetāśvatara–Upaniṣad auf und wird den beiden anderen Vermögen buddhi und manas in unklarer Weise zugeordnet. In der Praśna-Upaniṣad tritt er deutlich hervor. Seine Funktion ist der »Wahn« (abhimāna), der den an sich freien puruṣa denken lässt, er sei identisch mit dem Leib. 42 Im Mokṣadharma des Mahābhārata tritt der ahaṃkāra in zweifacher Bedeutung auf: erstens als kosmisches Prinzip der Individuation, zweitens als psychologisches Prinzip der Eigenliebe, des Egoismus. 43 Ahaṃkāra wird dort auch als eine Substanz angesehen, da er »die materielle Ursache anderer Substanzen ist«: Ursache des manas und der fünf Sinnesorgane und Ursache der tanmātras, der fünf feinstofflichen Elemente 44, aus denen die fünf grobstofflichen Elemente 45 entstehen. 46 Obwohl Ahamkāra schon früher auftritt, wird er doch erst bei Pañcaśikha als eigenes Organ betrachtet. 47 Bei Sri Aurobindo Sri Aurobindo deutet diesen ahaṃkāra des Sāṃkhya gleichlautend: »Ahankara, der Ich-Sinn, ist das subjektive Prinzip in ’Buddhi, durch welches der ’Purusha verleitet wird, sich selbst mit ’Prakriti und deren Tätigkeiten zu identifizieren.« (E 97) 48 Er unterscheidet das »ego« deutlich von puruṣa, jīva, ātman und Person. Das »ego« ist das Prinzip des Egoismus, der Verhaftung, der Beschränktheit. »Personality« ist gleichbedeutend mit diesem »ego«. Das »ego« ist ein Instrument für das Wirken der prakṛti (E 151, 170–72). »Durch das ›ego‹ unterscheidet der Verstand die Gesamtheit des Wirkens der ’Natur auf ’unser Denkorgan (mind), unseren Willen, unsere Sinne und unseren Leib von dem Wirken auf die Denk- und Wollensvermögen […]
Vgl. Strauss, ebd. 80. Vgl. Strauss, ebd. 128, 135. Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band II, 210–1. 44 Gehör, Gefühl, Geruch, Gestalt oder Farbe, Geschmack. 45 Äther, Luft, Feuer, Wasser, Erde. 46 Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band II, 211. Siehe auch den Abschnitt über die Dasheiten (tattvas). 47 Frauwallner, Band I, 309–312, 318. Die Bedeutung im klassischen Sāṃkhya ist ebenso: ebd. 353–4. Weiteres vgl. Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 157, 207. 48 Nach OYI 739 hat das »innere Instrument, antaḥ-karaṇa, die ›conscious mentality‹« vier Grundkräfte oder Vermögen: »citta or basic mental consciousness; manas, the sense mind; buddhi, the intelligence; ahankāra, the ego-idea«. (OYI 739) Ahaṃkāra hat aber wieder seinen unmittelbaren Ursprung in buddhi (OYI 745–6). 42 43
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
anderer; und Leben bedeutet für uns nur die Weise, in der die Natur unser ›ego‹ affiziert und in der unser ›ego‹ auf ihre Berührungen antwortet.« (E 342)
»Ego« und »ego-sense« sind der Bezugspunkt, das koordinierende Zentrum für die sonst unzusammenhängende Flut von Erfahrungen; in dieser Konzentration werden sie bekräftigt durch das Ich-Gedächtnis (»ego-memory«), aber nicht konstituiert (LD 617). Diese unsere »ego-personality« »ist ein Geschöpf der ’Natur, nicht […] unser freies Selbst« (E 343). Sie ist von der Natur in praktischer Absicht geschaffen und nicht grundlegend wirklich in sich selbst (LD 436). Das Selbst als geistiges Individuum und unvergängliche Wirklichkeit wird als jīva bezeichnet. Nicht nur ontisch, sondern auch in der Entwicklung der SelbstErkenntnis ist das »ego« nur etwas Vorläufiges, und zwar aus drei Gründen: 1. weil sich das Wissen nur auf unsere oberflächliche, mentale Aktivität erstreckt und vom weiten Rest unseres Werdens nichts weiß, 2. weil es nur das Sein und das Werden des individuellen Selbst kennt und die übrige Welt als Nicht-Selbst betrachtet, 3. weil es nicht die wahre und vollkommene Beziehung zwischen Sein und Werden ausarbeiten kann, sondern sie nur in einer bruchstückhaften Erkenntnis sieht (LD 620–1). Der erste Schritt aus dem Egoismus heraus besteht deshalb darin, den Wert der anderen zu erkennen, ferner darin, die Natur und die göttlichen Kräfte in ihr wahrzunehmen. Der nächste Schritt ist die Erkenntnis, »dass das Selbst in uns und in den anderen ein Sein ist (one being) und dass dieses Selbst etwas Größeres ist als das ›ego‹ […]«. Der letzte Schritt besteht in der Erkenntnis des Puruṣottama, »der einen ’Gottheit«, »jenem höchsten und unaussprechlichen ’Gott, der zugleich das Endliche und das Unendliche, das eine Selbst und die Vielen ist […]« (E 172). 49
Dieser Weg wird in den »Essays« immer wieder diskutiert. Diese Stelle verdient deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil besonders deutlich auf die mitmenschlichen Beziehungen hingewiesen wird.
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Geist (Puruṣa)
2.3 Das geistige Individuum In der schrittweise sich vertiefenden Selbst-Erkenntnis und verinnerlichenden Umwandlung wird der Mensch zu dem, was er immer schon ist, zu seinem Wesen, zu seinem Selbst. Von diesem »geistigen Individuum« (spiritual individual) als ātman, svabhāva und jīva haben wir jetzt zu sprechen. Ātman Etymologisch ist das Wort ātman verwandt mit Atem. 50 Es kommt zuerst vor im Ṛg-Veda. Dort bedeutet es bald Atem als Ein- und Ausatmen, »bald Lebensodem, bald das eigene Selbst im leiblichen und seelischen Sinne. Im fortschreitenden Gebrauch zeigt sich dann, dass Ātman vor allem das Selbst im Gegensatz zum Nichtselbst bezeichnet […]« 51. Er steht neben den Organen des Körpers, ohne eine eigene Funktion zu haben. So eignet er sich zur »Bezeichnung für die geheimnisvolle Einheit im Menschen«. Später kommt es zu einer Identifikation von brahman und ātman. »Der Priester, der einerseits die magische Kraft des Brahman, d. h. des Weltprinzips, in sich fühlte, und andererseits das Prinzip seines eigenen Wesens in dem Begriff Atman zusammenfasste, wird zu der Erkenntnis gedrängt, dass der Atman das Brahman ist.« 52 Diese Lehre ist in den Brāhmaṇas angedeutet, wird aber erst in den Upaniṣaden ausgebaut. 53 Im Vedānta erlangt ātman eine große Bedeutung. 54 Er wird dort verstanden als das innerste Wesen von allem Seienden, welches eins mit Brahman ist; Brahman ist alles. Deshalb ist jedes Einzelne in Identität mit allem Seienden, aber als Einzelnes auch verschieden von ihm. 55 »Was diese feinste Essenz ist, das hat die ganze Wirklichkeit als innerstes Prinzip. Das ist die Wahrheit. Das ist der Ātman. Das bist du, Śvetaketu!« 56 Strauss, Indische Philosophie, 38; Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 36. Strauss, ebd. 39. 52 Strauss, ebd. 39. 53 Strauss, ebd. 39. 54 Genauere Darlegung des Verhältnisses brahman-ātman in den einzelnen geschichtlichen Perioden findet sich passim bei Radhakrishnan, Indische Philosophie; z. B. für die Upaniṣaden Band I, 144–147 etc. 55 Der Māyāvāda behauptet darüber hinaus eine absolute Identität, gegenüber welcher alles Vielfältige nur Illusion, Māyā, ist. 56 Chāndogya-Upanishad VI, 10,1, zitiert aus Bäumer, Upanishaden, 185. Weiteres 50 51
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
Sri Aurobindo interpretiert den ātman meistens als akṣara (wörtlich: unbeweglich, unveränderlich) oder, in anderen Worten, als unvergängliches Selbst. 57 Der ātman meint das Sein (being) im Gegensatz zum Gewordenen (becoming, bhūtani). 58 Er ist »das aus sich selbst Seiende (existence in itself)« (E 420), »Swayambhu« (H 21). »Atman, unser wahres Selbst, ist identisch mit ’Brahman; es ist reines unteilbares ’Sein, aus sich selbst heraus leuchtend (selfluminous), in sich selbst versammelt in Bewusstsein, Kraft und Seligkeit. Seine Existenz ist Licht und Freude. Es ist zeitlos, raumlos und frei.« (IU 54) Hier fällt bereits auf, dass von ātman und von brahman bald in persönlicher, bald in unpersönlicher Form gesprochen wird. 59 Es sei jetzt vorweggenommen, dass dies zwei Gründe hat. Der erste Grund liegt in der zweifachen Bedeutung von »persönlich« als individuelle (kṣara, wörtlich: beweglich, veränderlich) und transzendente Person. Die transzendente Person schließt auch akṣara, das unpersönliche Selbst, ein. Der zweite, mit dem ersten eng zusammenhängende Grund liegt in der indischen Auffassung vom Neutrum. Das Sächliche widerspricht nicht dem Personalen, schließt es nicht aus, sondern transzendiert die Endlichkeit und eröffnet den Raum für die unendliche Person, in welcher »Dieses« (Tat) und »Er« (Sah), Natur und Freiheit, identisch sind. 60 Innerhalb dieses grundsätzlich Gültigen aber weist Sri Aurobindo doch sowohl brahman wie ātman mehr den Charakter des Unpersönlichen zu 61, während jīva die individuelle, puruṣottama und īśvara die transzendente Person ausdrücken. Svabhāva Der aus sich selbst seiende ātman, svayambhu, wird durch svabhāva zum einzelnen Seienden. Svabhāva ist das Prinzip des Eigen-Seins über ātman siehe Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 149–53. Vgl. Smet, Indiens Beitrag, in: Kairos 3–4/1961, 179. Interessant ist auch die Wirkung der Ātman-Lehre auf C. G. Jung. Vgl. Hauer, Der Yoga, 450. Ein sehr tiefes Verständnis des Ātman finden wir bei Boss, Indienfahrt eines Psychiaters, 177. Im Schlusskapitel zeigt Boss, wie Psychotherapie Erhellungstherapie sein und den Menschen zu seinem Ātman-Wesen hinführen solle. 57 Vgl. E 158 u. Anm. 58 E 210, auch E 158. 59 Ātman ist maskulin, brahman ein Neutrum. 60 Vgl. IU 71. 61 Z. B. E 623.
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Geist (Puruṣa)
und des eigenen Tuns, der Träger jedes Einzelwesens, es ist »own becoming« (E 310); aber es geht hervor aus dem Selbst, dem ātman, dem akṣara. 62 Es leitet sich ab von der »Bewusstseinskraft des höchsten ’Seienden, cit-śakti«, von der parā prakṛti. Es ist dann das »selfprinciple« alles Werdenden, »das inhärente Prinzip und die göttliche Kraft hinter deren phänomenaler Existenz« (E 358). 63 Folgerichtig wird es auch zur »wesentlichen Kraft« des jīva. »Es ist Kraft der höchsten göttlichen ’Natur, es ist der bewusste Wille des Seins des ’Höchsten, welches Sein sich ausgestaltet 64 in verschiedener wesentlicher und geistiger Kraft der Beschaffenheit im ’Jīva: diese wesentliche Kraft ist das swabhava des ’Jiva.« (E 373) Svabhāva ist das Prinzip der Person (E 392–3). Darauf müssen wir noch zurückkommen. Neben der je besonderen Individualität gibt es vier generelle Typen des Selbstseins, die später veräußerlicht und etwas missverstanden im Kastenwesen festgelegt wurden: 65 »der Mann der Erkenntnis«, im Kastensystem der Brahmane, »der Mann der Macht« (kṣatriya), »der produktive Mann des Lebens« (vaiśya) und »der Mann der niedrigen Arbeit und des Dienstes« (śūdra). 66 Svabhāva, das Prinzip des Selbst-seins, des Handelns nach der eigenen Natur, nach dem eigenen inneren Antrieb (svadharma), schafft den jīva, der eins ist mit dem puruṣottama. »Der ’Jiva ist im Ausdruck seiner selbst (self-expression) ein Teil (portion) des ’Purushottama. Er vergegenwärtigt in der ’Natur die Kraft des höchsten ’Geistes […]. Dieser Jiva ist selbst Geist und nicht das natürliche ›ego‹ […]. Die wahre Kraft (force) dessen, was wir sind und sein können, liegt in dieser höheren geistigen ’Macht (Power) […]. Die geistige ’Natur, die diese vielfache Persönlichkeit (personality) im Universum geworden ist, parā prakṛtir jīvabhūtā, ist der grundlegende Stoff (basic stuff) unserer Existenz […]; jede Seele ist eine Kraft des Selbstbewusstseins, welches eine Idee des ’Gottes in ihr formuliert und durch diese Idee ihr Handeln und ihre Entwicklung zum Ziele führt […]. Das ist unser ’Swabhava, unsere eigene wirkliche Natur […]. Das durch dieses ’Swabhava bestimmte Gesetz des Handelns ist unser richtiges Gesetz der Selbst-Gestaltung […], unser ’Swadharma.« (E 705)
E 158, Anm. Ähnlich E 366, 414. 64 Wörtlich: throws itself out. 65 Vgl. das Kapitel: »Swabhava and Swadharma«, E 688–713. 66 E 708–11; vgl. auch OYI, Part four, Chapter XV, Soul-Force and the fourfold Personality. 62 63
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
Aus diesem wichtigen Zitat erfahren wir eine ganze Ableitung unseres Seins, unseres Personseins. Svadharma ist die Selbstverwirklichung des in uns angelegten Eigenen durch das Tun. Es fließt aus dem Prinzip des Eigenseins, svabhāva. Svabhāva ist aber unsere eigene wirkliche Natur, unmittelbar ausgehend von der Kraft des SelbstBewusstseins, der höchsten prakṛti, der göttlichen Natur. Die parā prakṛti wird durch das svabhāva-Prinzip jīvabhūta, d. h. sie wird zu den vielen Einzelindividuen. Weil also svabhāva ein Prinzip der parā prakṛti ist und als solches den jīva bildet und der jīva selber ist, ist der jīva seinerseits Geist und verschieden von der natürlichen Individualität, dem »ego«. Er ist die Vergegenwärtigung des höchsten Geistes in der Natur. Das Prinzip des svabhāva gilt nicht nur für den Menschen, sondern generell für alles im Kosmos (E 706). Darum können wir es passend als Limitationsprinzip bezeichnen. Aus dem svabhāva leiten die Gita wie auch Sri Aurobindo die Pflicht ab, dem je eigenen Gesetz des Handelns zu folgen. »Unser Tun soll mit der Wahrheit in uns übereinstimmen […]«. 67 Die Gita sagt: »Wie sie auch sei, die eigene Pflicht (svadharmaḥ) ist besser stets als fremde Pflicht; Bleibt man treu dem eigenen Wesen (svabhāva – niyatam karme), dann bleibt man frei von aller Schuld. Tat, die mit dir geboren ist, wenn sie auch sündig, gib nicht auf!« 68
Jīva Jīvaḥ ist ein Adjektiv und bedeutet ursprünglich: lebendig, Leben. Es meint die Beseelung von Mensch, Tier und Pflanze. 69 Im Mahābhārata ist er die Seele, das, was in den Sinnesorganen empfindet. »Die Vorstellung, dass in jedem Menschen eine eigene Seele wohnt und dass diese zahlreichen Einzelseelen voneinander vollkommen verschieden sind, ist nämlich alt und naheliegend. Die Einzelseelen als Teile der Weltseele zu betrachten, ist das jüngere und erst ein Ergebnis der vedischen Entwicklung, das dadurch zustande kommt, dass die Seele als Teil eines lebentragenden Elementes gedeutet wird, das seinen eigentlichen Bereich außerhalb des Menschen hat.« 70 E 713 und viele andere Stellen. Gita XVIII, 47 a+b, 48a. Übersetzung nach Leopold von Schroeder, Düsseldorf 1955. Radhakrishnan, Die Bhagavadgītā, 422–3. 69 Vgl. Strauss, Indische Philosophie, 112. 70 Frauwallner, Geschichte der inischen Philosophie, Band I, 131. 67 68
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Geist (Puruṣa)
Es gibt also zwei Entwicklungsströmungen: 1. Die Upaniṣaden der vedischen Zeit lehren die Einheit von Brahman und Ātman. Hierher gehört auch der Vedānta als späte Fortsetzung. 71 2. In der älteren naturphilosophischen Richtung, mit regem Interesse an der Außenwelt, gibt es zahlreiche Einzelseelen statt der Weltseele. Hierher gehören besonders das Vaiśeṣika, die Jaina und das Mahābhārata. 72 Unter dem Einfluss des Vedānta meint jīva den puruṣa in seiner Verbundenheit mit dem psychischen Organismus, der prakṛti. 73 Im Brahmasūtra sind Universal-ātman und Einzel-ātman (= jīva) getrennt. Der jīva ist weder eine Umwandlung (vikāra) noch ein Teil (avayava) des höchsten ātman. »Der höchste Atman ist wie der Raum (ākāśa), die Einzelseelen wie der Raum in einzelnen Töpfen (Leibern). Überall ist derselbe Raum, der Unterschied wird nur durch die Topfbegrenzung hervorgerufen, – so gibt es nur einen Atman in den vielen Leibern. Und Lust und Leid ist doch in den verschiedenen Seelen verschieden!« 74
Denn in einem Topf kann Staub, im anderen Rauch sein, ohne dass der Raum im Topf beeinflusst wird. Zur weiteren Erläuterung wird im bheda-abheda-vāda gesagt: Die Einzelseelen können nicht vollkommen verschieden sein von brahman, »denn dann wäre ihre Natur nicht Geistigkeit, – aber ebenso wenig vollkommen nicht-verschieden von ihm, da sie dann nicht voneinander unterschieden werden könnten; die Einzelseele muss also in gewissem Sinne von Brahman verschieden und gleichzeitig in gewissem Sinne mit ihm identisch sein.« 75
Der Darstellung der Begriffsgeschichte wurde hier deshalb breiterer Raum gegeben, weil dadurch bereits Licht auf den für unser Thema so wichtigen Begriffsgebrauch bei Sri Aurobindo fällt. Bei der Darstellung des Limitationsprinzips svabhāva bei Sri Aurobindo haben wir ein sehr wichtiges Zitat interpretiert, das den Zusammenhang zwischen svabhāva und jīva aufzeigt. Danach ist 71 72 73 74 75
Frauwallner zählt auch Vedānta und Buddhismus dazu. Frauwallner, ebd. Band II, 15. Strauss, ebd. 191; Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band II, 250–2. Strauss, ebd. 241. Strauss, ebd. 249.
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
svabhāva Prinzip und wesentliche Natur des jīva; der jīva aber ist unterschieden vom »ego«, das – wie wir früher zeigten – durch den Ich-Sinn oder ahaṃkāra 76 gebildet wird. Der jīva ist Geist, Teil der göttlichen Natur, ein Teil, »portion«, des puruṣottama, oder wie es in der ’Gita heißt: mamaivāmśah, ein Teil – amśa – von mir, dem personalen Gott. Es wird mehrfach gesagt, dass der jīva dem Wesen nach 77 eins mit Gott ist. Der Herr, der īśvara, wird durch seine Natur, die prakṛti, zum jīva. (E 106) Die göttliche Natur individualisiert sich und wird zur individuellen Seele, die in der »niedrigeren Natur« als »ego« erscheint. 78 Bei der Lehre über den Avatar geht Sri Aurobindo sogar so weit, den Jīva mit dem Gottessohn des Christentums zu vergleichen, der aus der jungfräulichen Mutter, der höheren göttlichen Natur (prakṛti), geboren wird. Der Herr (Father, Lord) und der Sohn (jīva) sind »eines Wesens im Sein«, aber dennoch Individuen. Der Sohn wird als jīva zum Avatar, er steigt als der göttliche Mensch herab zur Erde, nimmt einen sterblichen Leib an. Der Geist dagegen ist das reine Selbst, das Brahman-Bewusstsein, welches Vater und Sohn eint. Er ist das, worin beide geeint sind (E 218–9). Sind jīva und Gott eins, so sind sie es ihrer wesentlichen Natur nach, nicht aber in jeder Hinsicht. Denn jīva generell ist kṣara, d. h. die göttliche Natur in ihrer Vielfalt und Aktivität, nicht in ihrer Universalität und Transzendenz. 79 Der jīva ist »immer eins mit dem ’Höchsten Wesen in seinem Sein, verschieden von ihm nur in der Kraft (power) des Seins, – die Verschiedenheit besteht nicht darin, als wäre es überhaupt nicht dieselbe Kraft, sondern ist in dem Sinn aufzufassen, dass er die eine Kraft nur unterstützt in einem partiellen, vielfach individualisierten Wirken.« (E 361)
Ganz deutlich wird dieser Unterschied an einer anderen Stelle zum Ausdruck gebracht. Es wird da gesagt, dass der jīva die geistige Basis für das vielfältige universale Werden im Kosmos ist. Dabei wird dasselbe einmal für die göttliche Natur festgestellt, ein andermal für den puruṣottama, der »als individuelle geistige Existenz in all den Formen des Kosmos erscheint.« Der Unterschied zwischen der höchsten
Man könnte dies als Individuationsprinzip bezeichnen. »in his spiritual essence« E 433. 78 E 107, weitere Stellen E 372–3. 79 E 373. Die parā-prakṛti wird zum jīva, um Aktivität, pravṛtti, auszuüben. Pravṛtti bedeutet auch Vorwärtsbewegung, aktive Tugend. 76 77
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Geist (Puruṣa)
prakṛti bzw. dem puruṣottama und dem jīva liegt nun darin: Die höchste prakṛti »ist nicht ihrem Wesen nach Jiva, jīvātmakām, sondern sie ist zum Jiva geworden, jīvabhūtām; und in diesem Ausdruck ist impliziert, dass sie hinter ihrer Offenbarung als ’Jiva hier ursprünglich etwas außerdem und darüber hinaus ist, sie ist die Natur des einen höchsten ’Geistes. Der ’Jiva […] ist der ’Herr, īśvara, aber in seiner teilhaften (partial) Offenbarung, mamaivāmśa; auch die Vielfalt alles Seienden im Universum […] könnte in ihrem Werden nicht das einheitlich-ganze ’Göttliche (integral Divine) ergeben, sondern nur eine Teiloffenbarung des Unendlich-Einen.« (E 360–1)
Das Integral alles Seienden in der Schöpfung ergibt also nicht den Gott, darum ist der Jīva Gott gleich und doch verschieden von ihm. Auf Grund dieser Verschiedenheit innerhalb der Einheit kann auch noch sinnvoll von Relationen gesprochen werden. 80 »Wenn wir befreit sind von der Ich-Persönlichkeit, dann können wir die Beziehung des wahren Individuums zum ’Puruṣottama auffinden.« (E 374) Diese Relationalität ist besonders zum Ausdruck gebracht in der Liebe (bhakti) und in der völligen Hingabe (complete surrender). Beide sind ermöglicht nicht nur durch die Personalität des Höchsten Wesens, puruṣottama, sondern auch durch die Verschiedenheit von jīva und īśvara. Umgekehrt ist das Vorhandensein der bhakti Hinweis auf die Personalität. »Denn in der bhakti ist immer das Element, ja die Grundlegung der Persönlichkeit, da ihre bewegende Kraft die Liebe und Anbetung der individuellen Seele, des ’Jiva, gegenüber dem höchsten und universalen ’Sein ist.« (E 379) Wir werden von der bhakti ausführlicher bei der »Person« handeln. Hier kam es nur auf die Relation an. 81 Vom jīva ist noch zu sagen, dass er nicht nur den Menschen konstituiert: »Jede Seele, jedes Seiende ist in seiner geistigen Wirklichkeit das ’Höchste Wesen selbst (the very Divine) […]. Jeder sich manifestierende Geist, jeder der Vielen, ist ein ewiges Individuum (eternal individual), eine ewige, nicht geborene und nicht sterbende Kraft der einen ’Existenz. Wir nennen diesen manifestierenden Geist ’Jiva, weil er hier als eine lebende Kreatur erscheint […], und wir sprechen von diesem Geist im Menschen als der
E 434: »operative difference and many deep relations with God in Nature and God above cosmic Nature«. 81 Weitere Stellen: E 419–21, 422–3 (!), 745–47. 80
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
menschlichen Seele und denken über ihn nur in den Begriffen des Menschseins.« (E 602)
Der Jīva ist größer als unsere gegenwärtige Erscheinungsform. Der Mensch hat ungeheure Entwicklungsmöglichkeiten vor sich solange, bis er selbst zum jīva, zu seinem eigenen Wesen geworden ist. Das ist es, was mit »Übermensch« in Wahrheit gemeint ist. Er ist der von allen Fesseln der Unwissenheit und des Egoismus in den jīva und puruṣa hinein befreite Mensch. Er ist der Erlöste, Umgewandelte, und zwar bis ins körperliche Geschehen hinein. Er ist der Zielpunkt der menschlichen Entwicklung. 82 Diese Gedanken kommen dann in voller Wucht in »The Life Divine«, »The Human Cycle«, »On Yoga«, »The Supramental Manifestation« zum Tragen. Vom »eternal individual« her kann erst verstanden werden, was Unsterblichkeit meint. Nicht der Leib, nicht die Ich-Persönlichkeit, nicht manas und buddhi sind unsterblich, sondern allein der jīva, das »ewige Individuum«. Dieser jīva ist aber auch gegenüber dem Unendlichen unvergänglich. Er wird nicht mit ihm vermengt, in ihm aufgelöst. Der höchste Zustand der Seele muss vielmehr als ein »Wohnen im ’Purushottama« bezeichnet werden (E 602–3). Hier wird sogleich sichtbar, wie die Lehre von der Wiedergeburt zu verstehen ist. 83 Der jīva nimmt immer neue Formen von Leib und Seele an, ebenso wie der Kosmos, der durch ständige Zyklen der Entfaltung und der Zerstörung geht. Im jīva ist es das Höchste Wesen (Divine) als Individuum, im Kosmos als Universalität, welches die Ewigkeit im ständigen Wechsel garantiert (E 569–71). Damit wären wir bei der Person angelangt. Inhaltlich haben wir bei der Erörterung von puruṣa, ātman, svabhāva und jīva schon sehr viel vorweggenommen. Formal steht sie noch aus. Doch da das Personsein in erster Linie Gott zukommt und da Gott und Mensch hinsichtlich ihrer Personalität nicht streng getrennt behandelt werden können, müssen wir uns zuerst noch den vollen Gottesbegriff erarbeiten. Auf dem Weg dazu bleibt uns gemäß der von uns gewählten aufsteigenden Linie noch darzustellen, wie sich puruṣa und prakṛti zueinander verhalten und in welcher Relation sie zum puruṣottama stehen. Bei diesem Gedankengang wird man unwillkürlich an Teilhard de Chardin erinnert. 83 Wenn der Mensch im rechten Wissen von Gott und seiner Inkarnation in Kṛṣna lebt, dann hat er die Wiedergeburt überwunden. Vgl. E 194. 82
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Geist (Puruṣa)
2.4 Verhältnis von Natur und Geist Natur und Geist sind eins An mehreren Stellen sind wir diesem Problem schon begegnet. Es wurde gesagt, dass der jīva wesenseins ist mit der höchsten prakṛti, dass er aus ihr hervorgeht durch svabhāva und durch dieses Prinzip die Vielfalt des Seienden im Universum darstellt. 84 Ganz klar wird es in einem weiteren Satz: »Die geistige ’Natur, die zu dieser Vielfalt von einzelnen Seienden (multiple personality) im Universum geworden ist, parā prakṛti jīva bhūta, ist der grundlegende Stoff (basic stuff) unserer Existenz: alles übrige ist eine niedrigere Ableitung und äußere Gestaltung von einer höchsten, verborgenen Wirksamkeit des Geistes.« (E 705)
Der Ausdruck »basic stuff« kommt wörtlich oder sinngemäß mehrmals vor. 85 Damit ist gesagt, dass es nur eine Natur, nur einen Geist gibt, für Gott und Mensch. Der Unterschied besteht nur in der Individuierung. Puruṣa und prakṛti sind eins. Prakṛti ist die Kraft des Selbstbewusstseins des puruṣa, der puruṣa selbst in seinem Tun. »Es gibt eine höchste Natur des ’Gottes, welche die wahre Quelle der kosmischen Existenz ist […]. In dieser höchsten dynamis sind ’Purusha und ’Prakriti eins. ’Prakriti ist da nur der Wille und die ausführende Kraft des ’Purusha, die Aktivität seines Seins, nicht ein getrenntes Seiendes, sondern er selbst in seiner ’Macht.« (E 357) 86
In anderer Weise wird diese Einheit wiederkehren, wenn von der Einheit des puruṣa und der śakti, des Männlichen und Weiblichen in Gott, oder vom nirguṇa und saguṇa brahman 87 gesprochen wird. Gott ist beides. Er ist das Tun wie auch die Ruhe, welche Grundlage des Tuns ist. 88
E 705; vgl. Interpretation bei jīva. Z. B. E 107, 373. 86 Dass mit dem puruṣa Gott gemeint ist, zeigen uns zwei weitere Stellen: »Nature is and can be nothing else than a power of the divine consciousness« (E 203), und »Nature is not a separate principle but the power of the Supreme going forth in cosmic creation« (E 347). 87 Besonders in »The Life Divine«. 88 Vgl. zum ganzen Absatz auch E 359. 84 85
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
Der zweifache Puruṣa der Upaniṣaden Die Upaniṣaden drückten dieses Verhältnis aus in dem symbolischen Bild von den zwei Vögeln auf einem Baume. Sie bedeuten die zwei Zustände des puruṣa. »Einer der Vögel ist das ewig schweigende, ungebundene ’Selbst oder ’Purusha; durch ihn ist all diese Ausdehnung entstanden; er betrachtet den durch ihn zur Ausdehnung gebrachten Kosmos, aber ist selbst getrennt von ihm; der andere ist der in die ’Prakriti eingehüllte ’Purusha« (E 105). Letzterer ist also Ausdruck der Vielheit.
Die drei Puruṣa in der Gita Die Gita hingegen spricht von drei puruṣa »oder besser von einem dreifachen Zustand des ’Purusha« (E 104). Sie fügt den zwei puruṣas der Upaniṣaden noch einen dritten höchsten hinzu, den puruṣottama. »So gibt es drei, den ’Kshara [= vergänglichen], den ’Akshara [= unvergänglichen], den ’Uttama [= höchsten]. Kshara, der bewegliche, vergängliche, ist die Natur, svabhāva […], der Purusha ist hier die Vielfalt des göttlichen Seins. (E 105) […] Akshara, der unbewegliche, unveränderliche, ist das schweigende und tatenlose Selbst, ist die Einheit des göttlichen ’Seins […] frei von der ’Prakriti und ihren Werken. Der ’Uttama ist der ’Herr, das höchste ’Brahman, das höchste ’Selbst, welcher sowohl die unveränderliche Einheit wie die veränderliche Vielheit besitzt.« (E 106) Er ist also zugleich Transzendenz und Immanenz. Die drei Zustände des puruṣa sind Grundthema der ganzen »Essays«. 89 Wir begegnen ihnen auch dort, wo von Gott in drei Aspekten gesprochen wird: »transcendental«, »universal«, »individual«, »God, Nature and Jiva« (E 413–4). Sri Aurobindo hat den »drei Purushas« (E 588–607) ein eigenes Kapitel gewidmet, welchem wir wegen seiner Wichtigkeit etwas ausführlicher folgen wollen. Denn der eine zentrale Gedanke der Gita »ist die Idee von einem dreifachen
Z. B. E 168–9, 394, 588–607. Wenn hier gesagt wurde, als akṣara sei der Gott frei vom Wirken der prakṛti, dann handelt es sich um eine ungenaue Ausdrucksweise. Es müsste heißen: frei von der prakṛti in ihrer Vielheit, nicht von der prakṛti schlechthin. Denn Gott ist immer eins mit seiner eigenen Natur, der parā-prakṛti, wie wir zuvor gesehen haben. Vgl. auch E 188.
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Geist (Puruṣa)
Bewusstsein – drei und doch eins, vorhanden in der ganzen Skala des Existierens« (E 588). Wir stellen zunächst Vielheit, Bewegung, Natur fest, welche mechanisch wirken und in ihrem Wirken nichts von dem in ihnen wohnenden Geist wissen. »Und jede Seele, die in ihrem [= der Natur] Wirken an die Oberfläche kommt, ist der Erscheinung nach unwissend […]. Doch die innewohnende ’Kraft ist anders als sie zu sein scheint; […] sie ist ’Kshara, die universale ’Seele, der Geist in der Veränderlichkeit der kosmischen Erscheinung und des Werdens, eins mit dem ’Unveränderlichen und dem ’Höchsten.« (E 589) Dass wir diesen Geist in der Natur, kṣara, nicht sogleich entdecken, kommt daher, dass »die ’Gottheit durch die ’Maya […] verborgen ist« (E 589). Außer Kṣara entdecken wir auch Akṣara, den ewigen, unveränderlichen, unpersönlichen, raum- und zeitlosen Geist, verborgen in der Natur. Er ist das reine Selbst und nur dieses. Er ist ein unbewegter, teilnahmsloser Zuschauer (E 590). »Der ’Kshara-Geist ist für uns sichtbar als jede natürliche Existenz und als die Gesamtheit alles Existierenden; als solcher bewegt und handelt er […] im unbeweglichen und ewigen ’Akshara […]. Dieses ’Akshara ist das Selbst, höher als buddhi […]. Dieses Selbst ist in seinem höchsten Zustand, param dhāma, nicht manifest und als solches auch jenseits des nicht-manifesten Prinzips der ursprünglichen kosmischen ’Prakriti, ’Avyakta […]«. (E 591)
Kṣara und Akṣara »sind dann die zwei Arten des Geistes, die wir in der Welt sehen; der eine Geist tritt hervor in seinem Wirken, der andere verbleibt dahinter, unverwandt in ewigem Schweigen, aus welchem das Wirken kommt und in welchem alle Taten aufhören und in ein zeitloses Sein verschwinden, in ’Nirvana.« (E 591)
Damit scheint ein Gegensatz gesetzt, der im Sāṃkhya zu einer ursprünglichen und ewigen Zweiheit von puruṣa und prakṛti und weiter zu einer Vielheit von individuellen puruṣas geführt hat. »Aber […] die letzte Erfahrung ist die der Einheit von allem Seienden, welche nicht nur eine durch Erfahrung begründete Gemeinschaft bedeutet […], sondern eine Einheit im Geist, eine unermessliche Identität des bewussten Seins jenseits all dieser endlosen Vielfalt der Bestimmtheit […]. Die Gita hat ihren Standpunkt in dieser höchsten geistigen Erfahrung 90. Sie Es ist zu beachten, in welchem Maße hier immer wieder von »Erfahrung« ausgegangen wird.
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
scheint in der Tat eine ewige Vielheit von Seelen anzunehmen, welche einer ewigen Einheit unterworfen und durch diese getragen sind […]; sie gebraucht auch […] keinen Ausdruck, der ein absolutes Verschwinden, laya, eine Annullierung der individuellen Seele im Unendlichen andeuten könnte. Aber zur selben Zeit behauptet sie mit starkem Nachdruck, dass ’Akshara das eine Selbst all dieser vielen Seelen ist, und es ist deshalb evident, dass diese zwei Weisen des Geistes (two spirits) ein zweifacher Zustand des einen ewigen und universalen Daseins sind.« (E 592–3)
Für Erfahrung und Logik erscheinen kṣara und akṣara zunächst als Widerspruch. Dieser Widerspruch wird gelöst durch ein neues Einheitsprinzip, den puruṣottama. Für die Erfahrung ist der puruṣottama Einheitsprinzip deshalb, weil durch Einung mit seinem Wesen im integralen Yoga und besonders in der bhakti die Aufhebung dieser Erlebniswidersprüche geschieht. Er ist Einheitsprinzip für die Logik. 91 Somit könnte man das Verhältnis von kṣara, akṣara und puruṣottama am ehesten als dialektische Dreiheit von These, Antithese und Synthese verstehen. »Der ’Akshara ist para, der höchste in Bezug auf die Elemente und das Wirken der kosmischen ’Natur. Er ist das unveränderliche ’Selbst von allem, und das unveränderliche ’Selbst von allem ist der ’Purushottama […], ist er in seiner Freiheit des Aus-sich-selbst-seins, unberührt von seiner eigenen Kraft (power) in der ’Natur […]. Das ist aber nur ein Aspekt […] des integralen Wissens. Der ’Purushottama ist gleichzeitig größer als ’Akshara, weil er mehr ist als diese Unveränderlichkeit und weil er auch durch den höchsten ewigen Zustand seines Seins nicht begrenzt ist, param dhāma […]. Er ist sogar mehr als ein höchstes nicht-manifestes ’Akshara, mehr als irgend ein negatives ’Absolutes, neti neti 92, weil er ebenso als höchster ’Purusha erkannt werden muss, der dieses ganze Universum in seinem eigenen Dasein zur Ausdehnung bringt.« (E 596–7)
So ist der puruṣottama auch Herr in kṣara, »im Herzen jeder Kreatur, ’Ishwara […] ist manifest in seinen zahllosen ’Vibhutis […]. Er ist beides, ’Akshara und ’Kshara, und doch ist er anders, weil er mehr und größer ist als jeder dieser Gegensätze.« (E 597) Krishna drückt diesen Gedanken in der Gita so aus:
Wir müssen uns auch hier bewusst machen, dass dieser Logik wieder Erfahrung, »supreme vision« (E 595), zugrunde liegt. »Logik« wird hier unausgesprochen als Aufhellung der Widerspruchsfreiheit verstanden (vgl. E 596). 92 Das ist gesagt in Abwehrstellung gegenüber dem Māyāvāda des Śaṃkara und dem Nirvaṇa des Buddhismus. 91
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Geist (Puruṣa)
»Es gibt zwei Personen (puruṣa) auf der Welt: die vergängliche und die unvergängliche; die vergängliche sind alle diese Wesen, und die unveränderliche ist die unvergängliche.« (Gita, Kapitel XV, Vers 16) »Ein anderer als diese aber ist der höchste Geist, der als das höchste Selbst bezeichnet wird und als unvergänglicher Herr in die drei Welten eingeht und sie erhält.« (Gita, Kapitel XV, Vers 17) »Da ich das Vergängliche übersteige und höher selbst als das Unvergängliche bin, werde ich in der Welt und im Veda als die höchste Person (puruṣottama) gefeiert.« (Gita, Kapitel XV, Vers 18) 93
Der wirkliche A-dvaita (Nicht-Zweiheit) Am Ende des Kapitels fragt sich Sri Aurobindo, ob dies der wirkliche Advaita sei, »der keine letzte Spaltung im einen ewigen Dasein schafft« (E 607). Ja, es ist der wirkliche Advaita, denn »dieser äußerste, nicht zerteilende ’Monismus sieht das Eine als das Eine gerade in der Vielfalt der ’Natur, in allen Aspekten, ebenso in der Wirklichkeit des Selbst und des Kosmos wie in der größten Wirklichkeit des Überweltlichen, welches die Quelle des Selbst und die Wahrheit des Kosmos ist […]«. (E 607)
Aber weil die Vielheit in der Einheit zugelassen ist, ist es ein Viśiṣṭādvaita in der Art des Rāmānuja, ohne gleich eine Identität beider Systeme aufstellen zu dürfen. 94 Viśiṣṭādvaita ist ein »Nicht-Dualismus, jedoch mit einer Qualifikation (viśesa), nämlich: dass er eine Vielheit zulässt, indem der höchste Geist in einer Mannigfaltigkeit von Gestaltungen als Seelen und Stoff besteht.« 95 Diese Systembezeichnung wird uns helfen, auch Sri Aurobindo selbst besser einzuordnen. Wenn wir einen einigermaßen geeigneten Vergleich zur abendländischen Philosophie ziehen wollen, dann wäre kṣara das viele Mannigfaltige, die Vielheit des Seienden, akṣara jenes, worin diese Vielheit eins ist, das Sein des Seienden oder das Seiende als solches, der puruṣottama schließlich das subsistierende Sein, esse subsistens.
Radhakrishnan, Die Bhagavadgītā, 380–2. Vgl. E 603. 95 Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band II, 486; weiter: Band I, 28. Viśiṣṭa kommt von der Wurzel śiṣ (p.p.), welche Auszeichnung, Unterscheidung besagt. A-dvaita heißt Nicht-Zweiheit. 93 94
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I · Natur und Geist (Prakṛti und Puruṣa)
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Zusammenfassung
Natur (prakṛti) wird unterschieden in niedrigere Natur (aparāprakṛti) und höhere Natur (parā-prakṛti). Die niedrigere Natur hat drei Weisen oder Konstituenten (guṇas) des Wirkens: sattva (Lichtes, Leichtes, Freudiges), rajas (Bewegendes, Anregendes, Leidenschaftliches) und tamas (Dunkles, Schweres, Hemmendes). Aus der niedrigeren Natur gehen 23 tattvas oder Dasheiten oder kosmische Prinzipien hervor. Die 10 objektiven tattvas sind die elementaren Bedingungen der Energie oder Materie. Die 13 subjektiven tattvas sind buddhi (Vernunft), ahaṃkāra (Ich-Macher) und manas (Verstand, innerer Sinn). Manas hat 10 Sinnesfunktionen, nämlich 5 des Erkennens und 5 des Tuns. Durch svabhāva bewirkt prakṛti die verschiedenen Formen des Seins, durch svadharma das eigene Gesetz des Handelns dieser Seienden. Māyā leitet sich ebenso wie prakṛti vom göttlichen Bewusstsein ab. Wie bei prakṛti wird eine niedrigere māyā (māyā der Unwissenheit, avidya māyā) von einer höheren, göttlichen māyā (māyā des Wissens, vidya māyā) unterschieden. Die niedrigere māyā ist ebenso wie die niedrigere Natur mit den drei Eigenschaften (guṇa) ausgestattet (traiguṇya mayī māyā). Die yogamāyā ist wie die vidya māyā das göttliche Bewusstsein in seiner Kraft, das eigene Sein in verschiedener Weise darzustellen. Die höhere Natur (parā-prakṛti) ist die Natur des Höchsten Wesens. Sie hat drei Aspekte: māyā schafft dem Entwurfe nach, prakṛti führt das so Entworfene in dynamischer Weise aus, śakti schafft alle göttlichen Werke sowohl dem Entwurfe nach als auch in der dynamischen Erzeugung. Auf der Ebene des Höchsten Wesens entsprechen sich vidya māyā, parā-prakṛti und cit-śakti, in der niederen Hemisphäre (Welt, Kosmos) sind es avidya māyā und aparā-prakṛti. Śakti, die Seinsmacht des Geistes, operiert und schafft auf allen Ebenen des Seins, im Überbewussten, im Bewussten und im Unterbewussten. Geist (puruṣa) ist das individuelle, geistige Selbst, die Person. Als Bezeichnung für Gott ist der puruṣa das höchste Selbst, die höchste Person, puruṣa uttama oder puruṣottama. Die menschliche Selbsterfahrung beginnt beim Ich oder Ego, das durch den Ich-Macher (ahaṃkāra) gebildet wird. Im Fortschreiten der Selbsterkenntnis kommt der Mensch zu seinem Selbst, dem geistigen Individuum, ātman, svabhāva und jīva. Ātman ist unser wahres Selbst, identisch 48 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Zusammenfassung
mit Brahman. Svabhāva ist das Prinzip des Eigenseins, durch welches aus dem ātman die einzelnen Seienden werden. Es schafft den jīva. Jīva ist die individuelle Seele in ihrer Verbundenheit mit dem psychischen Organismus, der prakṛti. Seinem Wesen nach ist er eins mit Gott, aber verschieden von ihm in der Kraft des Seins. Der jīva ist nicht nur für den Menschen konstituiert, sondern ist die Seele von jeder lebenden Kreatur. Kṣara meint den Aspekt des Vergänglichen, Beweglichen, akṣara den Aspekt des Unvergänglichen, Unbeweglichen. Beide sind dialektisch geeint im puruṣottama.
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Kapitel II: Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
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Namen und Begriffe
Das unaussprechliche Geheimnis, das letztlich unerkennbare Absolute, das »Höchste Wesen« (The Divine, Brahman) ist es, das sich als Herr der Welt, dieser zugewandt, entbirgt, aber in seinem reinen Ansich der unzugängliche Grund des Seins und des Seienden bleibt. Als es selbst ist es undefiniert und undefinierbar, unerkennbar und unaussprechlich. »Wir können auf es nur verweisen, aber es nicht wirklich beschreiben.« (KU 100) Unsere Erkenntnis ist keine vollständige. Wir können Brahman nicht in den Griff bekommen mit unserem »mind«, sondern müssen uns über unsere Denkart erheben durch »Idee-Symbole«. »Der mind kann nur widerspiegeln in einer Art höchsten Verstehens und indem er die Form und das Bild des ’Höchsten zum Erwachen bringt als welches ’Er ’Sich selbst unserem Denken (mentality) zeigt.« (KU 104–5) Dieses unaussprechliche Geheimnis offenbart sich unserem Denken als ein dreifaltiges 1: als Transzendenz, Universalität und Individualität (OYI 34–5). Jeder der drei Termini enthält verborgen oder offen die beiden anderen (LD 458); die Transzendenz jedoch ist als gründender Grund vorgängig zu Universalität und Individualität. Dieses dreifaltig-eine Sein, in welchem alles Wirkliche enthalten ist, das sich in tausend Bildern manifestiert, hat viele Namen, welche entweder einen besonderen Aspekt oder die Wirklichkeit in ihrer Fülle zum Ausdruck bringen sollen.
In OYII.T1 484 vergleicht Sri Aurobindo diese Dreiheit mit der christlichen Trinität, allerdings zu Unrecht, wie in Kapitel VII gezeigt wird.
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Namen und Begriffe
1.1 Die Gottheit und die Götter, Vāsudeva Gott ist die Gottheit (godhead), und nicht die »gods«, die Götter des Veda, die nur Symbole für sein Wirken in der Natur sind, nicht die vibhūti, die ähnlich wie die »gods« göttliche Kräfte des Werdens (Becoming) bedeuten. 2 Deva, der eine »God«, ist das »allgegenwärtige, allwissende, allmächtige, doch stets transzendente Wesen […]« (E 62). Gott ist das eigentliche Selbst (self), Vāsudeva. Vāsudeva ist der Name für Krṣṇa-Viṣṇu 3 und steht im Mittelpunkt eines monotheistischen Kreises im westlichen Indien 4, der Bhāgavata-Religion 5. Zwar ist er als persönlicher, geoffenbarter Gott und als der allem innewohnende Herr vorgestellt 6, aber dennoch gewinnt er bei Sri Aurobindo auch einen universalen Aspekt, denn er meint zugleich den Gott, der alles in allem ist, »das allgegenwärtige Sein (Being)« (E 382). »Vāsudeva, der ewige ’Seiende, ist alles, wie die Gita sagt.« (E 414) Er ist alles »kraft der weltdurchdringenden, allem innewohnenden, alles erstellenden ›master powers‹ seines Werdens, vibhūtayaḥ […]« (E 482). 7 »Das ’Göttliche ’Sein ist alles, vāsudevaḥ sarvam, aus diesem Grunde gilt: wenn Gott völlig in all seinen Kräften und Prinzipien erkannt ist, dann ist alles erkannt, nicht nur das reine ’Selbst, sondern auch die Welt und das Wirken und die ’Natur.« (E 355)
1.2 Brahman Die universale, allgegenwärtige Wirklichkeit Gottes ist Brahman. Brahman leitet sich ab aus der Wurzel barh, welche bedeutet: Anwachsen, Sich-entfalten. Daraus ergibt sich als der beste Wortsinn für Brahman: Das Sich-entfaltende-Wachsen-lassen, das Ins-Seinkommen-lassen 8, die Wirklichkeit des Wirklichen oder das Sein des Seienden, das Esse entis. Geschichtlich gesehen meint Brahman im Ṛg-Veda »das mit
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Z. B. E 486. Macdonell, Sanskrit Dictionary. Strauss, Indische Philosophie, 121. Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band I, 414. Ebd. 411, 415, zum Ganzen Band I, 413–23. Ähnlich E 498, 543. Vgl. dazu die tiefsinnige Darlegung bei Boss, Indienfahrt eines Psychiaters, 172–3.
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II · Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
geheimnisvoller Kraft erfüllte Wort«, »die magische Formel« 9, den »heiligen Spruch« 10, die heilige Silbe OM. In den Brāhmaṇas liegt die Kraft nicht nur in der heiligen Formel, sondern erfüllt auch den einzelnen Brahmanen und seine ganze Kaste. 11 Brahman ist zunächst das erstgeborene Geschöpf des Prajāpati 12, dann gewinnt es seinen Platz neben dem Weltschöpfer, »um endlich als brahma svayam-bhu (das durch sich selbst seiende brahman) zum Urprinzip des Alls zu werden«. 13 Im Śatapathabrāhmaṇa erfüllt Brahman nicht nur das Jenseits, sondern als Name und Gestalt (nāma-rūpa) auch die ganze Welt. Später kommt es zur Einheit von Brahman und Ātman. Als absolutes, aus sich selbst seiendes Sein wird Brahman dominant in der Geschichte der indischen Philosophie, und zwar besonders im Vedānta. 14 Sri Aurobindo gebraucht das Wort vorwiegend im Sinne der allgegenwärtigen Wirklichkeit. Schließlich ist Gott Geist, »Spirit«. Die grundlegende Natur von allem ist die Natur des Geistes (E 361).
1.3 Saccidānanda Die Saccidānanda (Sein-Wissen-Wonne) sind eine Vereinigung substantivierter Tunwörter: Sat bedeutet Sein (Esse) oder »das Sich-ereignen-von-Sein« 15, Cit Wissen (verum esse) oder »das ungegenständliche Ereignis des ursprünglichen, aufgehenden Erhellens« 16, Ānanda Wonne oder Freude des Wissens und des Seins, die Freude des Sich-Eröffnens des Seins als Wahrheit (bonum esse). »Diese Wahrheit«, dass Gott Sein-Wissen-Wonne ist, »wurde in Indien viel klarer erkannt als in Griechenland.« Sat-cit-ānanda »ist wohl der
Strauss, Indische Philosophie, 17, 28, 35, 37. Ebd. 35. 11 Ebd. 35. 12 Im Veda ist Prajāpati »Herr der Geschöpfe«, der die Welt aus sich entlassen hat. Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 35. 13 Strauss, Indische Philosophie, 35. 14 Weitere Hinweise für die Begriffserklärung und -geschichte von Brahman vgl. Radhakrishnan, Indische Philosophie, passim; Glasenapp, 31, 36, 149, 163; Panikkar, Das Brahman der Upanishaden, in: Kairos 3–4/1961, 182–88; Hauer, Yoga, 23 ff., 146 f. 15 Boss, Indienfahrt eines Psychiaters, 173. 16 Boss, ebd. 175. 9
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Namen und Begriffe
schönste Name, der je für Gott geprägt wurde« 17, und die größte Errungenschaft der indischen Philosophie. 18 Saccidānanda gehören zu den ältesten Überlieferungen und gehen dem Sinn nach zurück bis auf die Bṛhadāranyaka (3.9.28) und Taittirīya-Upaniṣad. 19 Als eigener Begriff kristallisieren sie sich in den späteren Upaniṣaden. 20 Radhakrishnan verweist auf die Nṛsiṃhatāpani-Upaniṣad. 21 Für Śaṃkara drücken Saccidānanda die Wirklichkeit am besten aus. 22 Der Begriff zieht sich durch die ganze indische Philosophiegeschichte und wird im Werk von Sri Aurobindo eine ganz zentrale Gestalt einnehmen. 23
1.4 Īśvara Das absolute Brahman, in seinem An-sich unerkennbar und frei gegenüber der Welt, steht doch in einem engen Verhältnis zu dieser: denn es ist der Herr der Welt, īśvara. Īśvara ist im Sanskrit einmal adjektivisch und bedeutet: fähig zu etwas. Das maskuline Substantiv ist zu übersetzen mit: Eigentümer, Herrscher, Herr. Im Yogasūtra des Patañjali spielt der Īśvara eine bedeutende Rolle, wird dort aber mehr oberflächlich hinzugefügt als philosophisch eingegliedert. 24 Im Vedānta des Śaṃkara ist er die der Welt zugewandte Offenbarung des sonst unzugänglichen brahman. 25 Er bedeuStaffner, Der Kult im Hinduismus, 42. Vgl. Maitra, The Meeting of the East and the West in Sri Aurobindo’s Philosophy, 9–10, 223–4. 19 Maitra, ebd. 10, 223. 20 Maitra, ebd. 223. 21 Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band II, 418. 22 Śaṃkara (788–820 n. Chr.), der große Philosoph des Advaita Vedanta, »weiß, dass selbst die Definition des Brahman als Saccidānanda unzureichend ist, obwohl sie die Wirklichkeit auf bestmögliche Weise ausdrückt«. Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band II, 418. 23 In der Gita und in den »Essays« ist dieser Begriff nur in den Elementen vorhanden, nicht als eigener Begriff. Sat E 667, cit als cit-śakti E 358, ānanda E 486, 687; drei an sich unpersönliche Ausdrücke, die aber in ihrer Vereinigung als Saccidānanda die höchste Person meinen. Das wird in »The Life Divine« auch durch den Gebrauch entsprechender persönlicher Fürwörter gekennzeichnet (he, whom etc.). 24 Fraunwallner, Geschichte der indischen Philosophie, Band I, 424 ff.; Strauss, Indische Philosophie, 192; Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 223; Yogasūtra I. 24. 25 Strauss, ebd. 258; Glasenapp, ebd. 190, 196; Panikkar, Der Īshvara des Vedānta und der Christus der Trinität, in: Antaios, Band II, Nr. 5, 446–55. 17 18
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II · Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
tet dort den persönlichen Gott und stellt als solcher nicht das höchste Wesen Gottes dar. Das höchste Wesen ist das nirguṇa-brahman. 26 Für Sri Aurobindo ist der īśvara stets gleichbedeutend mit dem höchsten Herrn, »supreme Lord«. In Anlehnung an die Gita wird er gleichgesetzt mit dem puruṣottama (E 123–4). Der īśvara ist der »Kenner des Veda und der Urheber des Vedānta, vedavid vedāntakṛt« (E 124). Als Herr im Herzen eines jeden, iśvaraḥ sarvabhutānām hṛddeśe (OYI 917), ist er die wahre Quelle des Wissens. Die heiligen Schriften sind nur eine äußere Wortform dieses inneren Wissens, des inneren Veda (E 125). Deshalb ist er auch der innere Lehrer, der wahre guru (OYI 68–74). »Der Herr aller Welten ist der Freund aller Geschöpfe, sarva lokam aheśvaram suhṛdam sarva bhūtānām.« (OYI 645)
1.5 Das Höchste Wesen, Puruṣottama, Person Insbesondere drei Begriffe offenbaren die Gottheit in ihrer ganzen transzendenten und universalen Fülle: »The Divine«, puruṣottama und Person. »The Divine« lässt sich nach einem Vorschlag von Heinz Kappes 27 gut mit »Höchstes Wesen« übersetzen. Damit soll der Vereinigung von persönlich und unpersönlich entsprochen werden. Wenn wir jedoch den christlichen Gottesbegriff philosophisch und theologisch von allen Anthropomorphismen reinigen, was ja auch Sri Aurobindo will, dann dürfen wir legitimerweise für »The Divine« auch »Gott« setzen. Dasselbe gilt von der Person. Auch hier müssen alle sinnlichen Vorstellungen weggelassen werden, um jenes höchste Geheimnis zu denken. Dann können wir im selben Sinne wie Sri Aurobindo diesen Begriff gebrauchen, der Person stets von »personality« oder »ego« unterscheidet. Gott ist also Person und er ist puruṣottama. Das Wort setzt sich zusammen aus puruṣa und uttama und heißt höchster puruṣa. Zwar taucht der puruṣottama bereits in
Vgl. Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band II, 419–28; die Bedeutung bei Rāmānuja: Band II, 487–8; 508–9. 27 Heinz Kappes war evangelischer Theologe in Karlsruhe. Er war nach langem Studium der Schriften von Sri Aurobindo etwa eineinhalb Jahre im Ashram zu Pondicherry, wurde dann mit der deutschen Übersetzung der Werke beauftragt und Vorstand der Sri Aurobindo-Gesellschaft Deutschland, außerdem Herausgeber der Zeitschrift »Integraler Yoga« mit Übersetzungen aus dem Werk von Sri Aurobindo und der »Mutter«. 26
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Brahman
den Upaniṣaden auf 28, zu seiner vollen Bedeutung aber gelangt er erst in der Gita. Dort ist er Anfang und Ende des Seins wie des Yoga. Er ist der höchste Ausdruck dessen, was man über Gott überhaupt sagen kann. Als solcher ist er untrennbar mit Person verbunden.
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Brahman
Nachdem wir uns einige grundlegende Begriffe erarbeitet haben, ist es uns jetzt möglich, in die Systematik des Denkens von Sri Aurobindo einzusteigen. Beginnen wir mit Brahman.
2.1 Brahman als das Absolute Brahman zeigt sich grundlegend in zweifacher Weise: als Absolutes und als »allgegenwärtige Wirklichkeit«. Es ist das Absolute im strengen Sinn, auch der westlichen Metaphysik, 29 und meint suprakosmische Transzendenz 30, Aus-sich-selbst-Existieren (Self-Existence) 31 und Unabhängigkeit von allem Relativen (LD 387). Es ist jenseits von Stabilität und Bewegung, von Einheit und Vielheit (LD 93), von persönlich und unpersönlich, kurz jenseits von nirguṇa und saguṇa, d. h. von allen Gegensätzen. Es kann durch den »mind« 32 und seine Begriffe nicht bestimmt und erfasst werden (LD 376), nur im Supermind wird es erkannt.
2.2 Die allgegenwärtige Wirklichkeit »Eine allgegenwärtige Wirklichkeit ist die Wahrheit von allem Leben und Dasein, sei es absolut oder relativ, körperlich oder körperlos, belebt oder unbelebt, mit oder ohne Intelligenz; und in all ihren unendlich variierenden und sogar stets einander entgegengesetzten ’Ausdrucksweisen ihrer selbst […] ist die ’Wirklichkeit eine einzige und nicht eine Summe […]. Von dieRadhakrishnan, Indische Philosophie, Band I, 198; E 124 Anm. LD 384; Maitra, ebd. 88–9. 30 LD 384, 386. 31 LD 384, 387. 32 Weil dieses Wort nicht adäquat übersetzt werden kann, soll es auf Englisch gebracht werden. Dasselbe geschieht mit Overmind und Supermind. 28 29
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II · Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
ser Wirklichkeit her beginnt alle Verschiedenheit, in ihr besteht sie und zu ihr kehrt sie zurück […]. Alle Antinomien stehen gegeneinander, um die eine ’Wahrheit in ihren gegensätzlichen Aspekten erkennen zu lassen und auf dem Wege des Streits ihre gegenseitige ’Einheit zu umfassen.« (LD 41)
Diese Wirklichkeit ist Brahman. »Brahman ist das ’Alpha und das ’Omega. Brahman ist das ’Eine, neben welchem nichts anderes existiert.« (LD 41) Diese Wirklichkeit ist die Wahrheit (LD 41) und der Geist 33. Selbst die Materie ist nur Phänomenon jener an sich raum-zeit-losen geistigen Wirklichkeit. Das Phänomenon selbst ist kein Scheingebilde, sondern die substantielle Form der Wahrheit (LD 40), die substantielle Form in Raum und Zeit. Wenn wir die Betonung mehr auf die Omnipräsenz dieser Wirklichkeit legen, dann kann gesagt werden, dass Brahman alles in allem sei. Alles ist Brahman, insofern es ist. Brahman ist unteilbar in allen Dingen und doch wieder so, als wäre es geteilt. 34 Es ist nicht nur Ursache, sondern auch Material der Welt, ihre Grundlage und ihr Inhalt. 35 Das darf man jedoch nicht als Material-Ursache im ursprünglichen Sinn verstehen, denn vorher wurde definiert, diese Wirklichkeit sei Geist. 36 Als Wirklichkeit, d. h. insofern die Welt wirklich ist, ist sie Brahman; denn Brahman ist das Sein der Welt, das Sein alles Seienden. In diesem Sinne ist hier »Materialursache« zu verstehen. Weiter heißt es: Brahman ist zwar all diese Dinge, aber »keines der Dinge ist Sein absolutes Sein« (LD 290). So besteht eine Spannung in dem Begriff des Brahman. Als höchstes Brahman ist es absolut und frei von allen Beziehungen und Bestimmungen (LD 370). Als »allgegenwärtige Wirklichkeit« ist es alles Seiende, insofern es ist. Dementsprechend ist Brahman ein Begriff mit einem weitest-möglichen Umfang und einem größt-möglichen Inhalt. Dieser Inhalt soll im Folgenden nach einigen grundlegenden Aspekten hin entfaltet werden.
33 34 35 36
LD 279–81. LD 39, 86–7, 165. LD 39, 289 u. a. Vgl. auch LD 289–90.
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Saccidānanda
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Saccidānanda
Brahman entfaltet sich uns als eine Dreiheit (Trinity): Selbst-Sein, Bewusstseins-Kraft, Seligkeit des Seins oder in Sanskrit-Termini: Sat-cit-ānanda. Damit sind wir bei dem zentralen Gottesbegriff Sri Aurobindos angelangt, der in den »Essays on the Gita« nur impliziert ist, in »The Life Divine« aber zum Ausgangspunkt der philosophischen Überlegungen gemacht wird. Zwar decken sich bei Sri Aurobindo Brahman und Saccidānanda inhaltlich 37, aber von der Tradition des späteren Vedānta her wurde doch Brahman in Richtung des Es, der Wirklichkeit, des Seins geprägt. Bei Sri Aurobindo erfährt Brahman zumeist eine Einengung auf den Aspekt des Selbstseins, während Saccidānanda als Name bereits das Wesen Gottes in umfassender Weise zum Ausdruck bringt. Darum erscheint es als der grundlegendere Begriff. 38
3.1 Sat oder reines Sein Wenn wir über uns hinaus auf das Gesamt der Dinge und Wesen blicken, dann nehmen wir eine unendliche Energie eines unendlichen Existierens wahr, im Ameisenhügel wie im Sonnensystem. Wir würden der Illusion des quantitativen Denkens erliegen, wenn wir nun meinten, im Ameisenhügel sei weniger an Energie und Dasein vorhanden als im Sonnensystem. Umgekehrt würden wir dem Irrtum des qualitativen Denkens verfallen, wenn wir behaupteten, der Mensch sei mehr als die ganze unbelebte Natur zusammen. »Wenn wir dahinter zurückgehen und nur die Intensität der Bewegung prüfen, von welcher Quantität und Qualität nur Aspekte sind, dann erkennen wir, dass Brahman gleicherweise in allen Dingen wohnt.« Es wäre nun wieder ein Fehler quantitativen Denkens zu sagen, es sei gleicherweise verteilt in seiner Energie. »Brahman wohnt in allem, unteilbar, und doch so, als wäre es […] zerteilt. […] Für Brahman gibt es kein Ganzes und keine Teile; jedes Ding ist es ganz […]. Qualität und Quantität sind verschieden, das Selbst ist gleich.« (LD 86) Wir Vgl. LD 69. Hier wird eine Übereinstimmung mit dem alten Vedānta festgestellt: »die Natur von Brahman als Sachchidananda«. 38 Maitra bezeichnet Saccidānanda als Notanker in der Philosophie Sri Aurobindos. The Meeting of the East and the West in Sri Aurobindo’s Philosophy, 224. 37
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Einzelnen sind also ein untergeordneter Aspekt der Bewegung einer allmächtigen und unendlichen Energie. Diese Bewegung ist selbst wieder ein untergeordneter Aspekt eines anderen, nämlich einer großen zeit- und raumlosen »Stabilität«, welche ein In-sich-stehen meint. Die Stabilität »wirkt nicht, obwohl sie alles Wirken enthält; sie ist nicht Energie, sondern reines Dasein« (LD 88). Man kann dagegen nicht argumentieren, dass man in der Welt nur Energie und Bewegung wahrnehme und diese eine lückenlose Kette bilden; denn damit verbleiben wir in Raum und Zeit. Der reine Verstand (pure Reason) aber zeigt, dass Raum und Zeit Kategorien unseres Bewusstseins sind, Bedingungen, unter welchen wir das Phänomenon wahrnehmen. »Wenn wir auf die Existenz als sie selbst (in itself) blicken, dann verschwinden ’Raum und ’Zeit.« (LD 89) Wenn trotzdem noch Ausdehnung und Dauer vorhanden sind, dann sind diese rein psychologische Gegebenheiten und als solche nur Symbole, »welche für den ›mind‹ etwas vergegenwärtigen, was nicht in intellektuelle Ausdrücke übersetzt werden kann, nämlich eine Ewigkeit, welche uns als derselbe alles-enthaltende und stets neue Moment erscheint, eine Unendlichkeit, welche sich als derselbe alles umfassende und alles-durchdringende Punkt ohne Größe zeigt«. (LD 89)
Das macht deutlich, dass wir in ein Jenseits von mind und Sprache gelangen, wenn wir diese Realität erfassen wollen. Wenn wir nun Raum und Zeit durchbrochen haben, entschwindet uns dann nicht auch die Existenz in das Nichts, indem sie sich als Fiktion des Intellekts herausstellt? Nein, denn von keinem Phänomenon und auch nicht von dem grundlegenden Phänomenon der Bewegung überhaupt können wir in absoluter Weise sagen: es ist. »Der Begriff der Bewegung selbst trägt in sich die Möglichkeit der Ruhe und verrät sich selbst als die Aktivität eines Existierens; die eigentliche Bedeutung der Aussage: Energie im Wirken (energy in action) schließt die andere Bedeutung in sich: Energie in Enthaltung von Wirken (energy abstaining from action); und eine absolute Energie, welche nicht Aktion ist, ist schlicht und rein dasselbe wie absolute Existenz.« (LD 89–90) 39
Es folgt an dieser Stelle eine Auseinandersetzung mit dem Nichts der Buddhisten. Überhaupt ist es Sri Aurobindo sehr angelegen, jede Art von Nihilismus und Illusionismus (z. B. LD Vol. II, Part I, Chapter 5 und 6 und viele andere Stellen) zu widerlegen. Denn Sat ist und Nirvaṇa kann nur ein Durchgang zur letzten Wirklichkeit, Saccidānanda, sein. (Vgl. Heideggers Nichts als Schleier des Seins.)
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Saccidānanda
Dieses raum- und zeitlose Existieren ist notwendigerweise ein reines Absolutes. Es überschreitet Form, Quantität und Qualität. Das reine Existieren ist das Eine, was wir hinter diesen Phänomena begreifen können. Es ist ein Absolutes. Die Bewegung dagegen ist das Feld des Relativen. Doch die Definition des Relativen besagt, dass »alle Dinge in der Bewegung das Absolute enthalten, im ’Absoluten enthalten sind, das ’Absolute sind«. Es besteht eine »Identität in Differenz zwischen ’Absolutem und Relativem« (LD 91). 40 Bisher sind wir den Weg des reinen Verstandes (pure Reason) gegangen. Das Ergebnis erfährt seine Bestätigung durch Intuition und Erfahrung. Wenn wir hinter unser Oberflächendasein zurückgehen, dann finden wir, dass Bewegung und Veränderung nur ein Modus unseres Seins ist. Unser Sein als es selbst ist nicht dem Werden unterworfen, sondern beständig und ewig in uns. Wir können uns dorthin zurückziehen und von dorther eine völlige Änderung unseres äußeren Lebens bewirken. »Diese Stabilität, in der wir so leben können, ist genau dasselbe, wohin uns der reine ’Verstand bereits geführt hat.« (LD 93) So ist das reine Existieren eine grundlegende Wirklichkeit und kein bloßer Begriff. Mit dem reinen Existieren haben wir die grundlegende Vorhandenheit alles Seienden gefunden, nicht aber das Absolute als es selbst. »Stabilität und Bewegung […] sind nur unsere psychologischen 41 Vergegenwärtigungen des ’Absoluten […]. Das ’Absolute ist über Stabilität und Bewegung ebenso hinaus wie über Einheit und Vielheit.« (LD 93) Aber da wir das Absolute rein in sich selbst nicht beschreiben oder ausdenken können, müssen wir uns mit der Zweiheit von Bewegung und reinem Existieren zufriedengeben und uns bemühen, diese zu erforschen.
Unter Voraussetzung des vorher Gesagten stimmt das. Es wurde ja nur festgestellt, Bewegung könne nicht sein ohne ihren tragenden Grund. In dieser Hinsicht schließt Bewegung immer den Grund in sich. Wenn nun der Grund als Absolutes verstanden wird, dann kann gefolgert werden, dass die Bewegung das Absolute enthält. Hierbei ist das Absolute noch nicht im vollen Sinne verstanden, sondern meint die Absolutheit des Existierens. 41 Das soll heißen: an unsere Geistesverfassung gebunden. 40
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Ātman, Puruṣa, Īśvara Das reine Existieren, das reine Sein oder Sat ist zwar nicht das Absolute in seiner ganzen und explizierten Fülle, aber es ist absolutes Dasein. Das Sein-aus-sich-selbst (Self-Existence) zeigt sich als ein Dreifaches: ātman, puruṣa und īśvara. 42 Der Ātman ist das Selbst. 43 Im Hinblick auf Welt ist er die Erscheinung des Höchsten Wesens als das Selbst alles Seienden. Als solcher ist er individuell, kosmisch-universal und transzendent, das Universum übersteigend. »Er ist allgegenwärtig, derselbe in jedem, unendlich, rein und unberührbar.« (LD 412) Puruṣa ist das »Conscious Being«, das bewusste Seiende. Er ist »das ’Selbst als Begründer (originator), Zeuge […] und Herr der Formen und Werke der ’Natur. […] So ist der ’Puruṣa-Aspekt charakteristischerweise universal-individuell und zuinnerst verknüpft mit der ’Natur, auch und gerade dann, wenn er von ihr getrennt ist.« (LD 413) Durch diesen Bezug zur Natur gewinnt der Puruṣa einen mehr persönlichen Aspekt, obwohl er gleichzeitig seine Unpersönlichkeit, Ewigkeit (Zeitlosigkeit) und Allgemeinheit (Universality) bewahrt. Sein Bezug zur Natur drückt sich in der Wechselseitigkeit der Beziehung aus: Er ist ihr Herr, er gibt die Bewilligung zu ihrem Tun und erfreut sich daran. 44 Im Gegensatz zur Auffassung des Sāṃkhya ist der Puruṣa als bewusstes Sein »einer in allen und eins in seinem eigenen wesentlichen Dasein«, aber »vielfältig in seinen individuellen Seelen« (LD 415). Īśvara ist der dritte Aspekt des Höchsten Wesens (Divine Being), der »Herr und Schöpfer der Welt«. »Hier kommt die höchste ’Person zu Gesicht, der ’Seiende, welcher dem Bewusstsein und der Kraft nach transzendent und kosmisch ist« (LD 417), allmächtig, allwissend, allgegenwärtig, die »All-Person«, von der sich jede Personalität 45 ableitet. Sie ist Schöpfer, Vater, in ihrer Bewusstseinskraft (Conscious Force) die göttliche Mutter, der Freund aller Geschöpfe. »In einem gewissen Sinn […] ist dies der umfassendste und inhaltsreichste (the most comprehensive) Aspekt der ’Wirklichkeit, da hier alle Aspekte in LD 374, 384; IU 53: »Brahman is, subjectively, Atman […]«. LD 170, 269, 374, 383. 44 LD 413–4. Wenn der Puruṣa sich in Zweieinheit mit Prakṛti befindet, dann sind wir an die transzendentale Beziehung zwischen Form und Materie beim Menschen erinnert. 45 »Personality« bedeutet eigentlich Persönlichkeit. 42 43
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Saccidānanda
einer einzigen Formulierung vereinigt sind; denn der Ishwara ist über- wie innerweltlich; ’Er übersteigt jedes Individuum, wohnt in ihm und erhält es; ’Er ist das höchste und universale ’Brahman, das ’Absolute, das höchste ’Selbst, der höchste Purusha.« (LD 417–8)
Er ist weder der Gott populärer Religionen noch das Saguṇa oder Nirguṇa Brahman. Diese sind nur Aspekte und Darstellungen des einen Īśvara. »Ishwara ist ’Brahman als die ’Wirklichkeit, das ’Selbst, der ’Geist; er ist geoffenbart als Herr (possessor), als sich über seine eigene Existenz Freuender, als Schöpfer der Welt und als mit ihr eins, ’Pantheos, All-Gott, AllPerson, und doch über sie hinaus; er ist das ’Ewige, ’Unendliche, ’Unsagbare, die ’Göttliche ’Transzendenz.« (LD 418)
3.2 Cit oder Bewusstseins-Kraft Ātman, Puruṣa und Īśvara sind die drei Aspekte Brahmans unter dem Blickpunkt des Seins-aus-sich-selbst (Self-Existence). Wodurch aber wird Brahman zum Universum und zum Individuum, zur Vielheit des Seienden? »Brahman, der ’Ishwara, ist all dies durch seine ’Yoga-Maya, durch die Macht seiner ’Bewusstseins-Kraft« (LD 385), welche das Nicht-manifeste manifestiert. Die Bewusstseins-Kraft ist der Existenz, also Brahman, inhärent. Brahman und BewusstseinsKraft sind eins. Māyā ist der Möglichkeit nach (potentially) ewig im ewigen Sein. 46 »Wie wir nicht das ’Feuer von der Kraft des ’Feuers trennen können, […] so können wir auch nicht die ’Göttliche ’Wirklichkeit und ihre ’Bewusstseins-Kraft, ’Chit-Shakti, voneinander trennen.« (LD 412) Brahman ist aber nicht seiner Kraft, welche seine Natur ist, unterworfen, sondern »logisch vorgängig« zu Śakti oder Māyā (LD 100). So haben wir eine Zweiheit für den Verstand und den Begriff, eine Einheit aber in der Wirklichkeit selbst. Deshalb sprechen wir besser von Zwei-Einheit (biune) (LD 412), was andersherum Nicht-Zweiheit, a-dvaita, heißt. Damit sind wir beim Grundgedanken des Advaita-Vedānta: Māyā als Ursache und damit Repräsentantin der Welt und Brahman sind nicht zwei und nicht eins, sondern bilden eine Zwei-Einheit oder Nicht-Zweiheit.
46
LD 39, 98–9.
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Māyā – Prakṛti – Śakti Wie die Selbst-Existenz, so hat auch die Bewusstseins-Kraft Brahmans drei Aspekte: Māyā, Prakṛti und Śakti. Māyā »ist die Kraft des Selbst (self-force) dieses Bewusstseins (d. h. der Consciousness-Force), welche alle Dinge dem Entwurfe nach schafft« 47; Prakṛti, die Natur oder Kraft (Force) »führt in dynamischer Weise aus, arbeitet alle Dinge heraus unter dem beobachtenden Auge des ’Bewussten ’Seins, des ’Selbst oder des ’Geistes«; Śakti »ist die bewusste ’Kraft des ’Göttlichen ’Wesens […]; sie schafft alle göttlichen Werke sowohl dem Entwurfe nach als auch in der dynamischen Erzeugung« (LD 386). Diese drei Aspekte umfassen das Ganze des Seins: Transzendenz, Welt und Individuum. Sie bilden eine Drei-Einheit (triune) in der einen Wirklichkeit. Während Māyā und Śakti verschiedentlich Brahman, Ātman oder dem Īśvara zugeordnet werden, ist Prakṛti der streng zu Puruṣa korrespondierende Begriff 48. Wie schon vorhin grundlegend eine Zwei-Einheit von Selbst-Sein und Bewusstseins-Kraft ausgesagt wurde, so gilt das in entsprechender Weise auch für die einzelnen Begriffspaare wie etwa ātman-māyā, puruṣa-prakṛti, īśvara-śakti. Auch hier wird der Dualismus des Sāṃkhya überwunden, welcher puruṣa und prakṛti, Geist und Natur, unüberwindbar trennte. 49 Der puruṣa- und der prakṛti-Aspekt entsprechen immer einander in jeder Stufe des Seins. »Im höchsten Zustand ist der ’Geist das höchste ’Bewusste ’Seiende, Puruṣottama, und die ’Bewusstseins-Kraft ist seine höchste ’Natur, Para-Prakṛti.« (LD 416) 50 Cit heißt eigentlich Bewusstheit, Geist, Intellekt, Wissen, Entbergen des Seins als Wahrheit. Warum übersetzt Sri Aurobindo dieses Wort mit Conscious- oder Consciousness-Force? Warum Force, wobei Force Kraft, Energie, Macht bedeutet? »Conceptively creative«: Die Bedeutung dieses Begriffs muss wie bei vielen anderen Termini aus dem Kontext erschlossen werden. Er steht im Gegensatz zu »dynamically executive«, was mit »dynamisch ausführend« übersetzt wird. In diesem Zusammenhang könnte auch noch übersetzt werden: »dem Begriff nach schaffend«, was in etwa dasselbe meint wie der Entwurf. 48 Sāṃkhya und Gita. 49 LD 414–6; vgl. auch Kap. I. 50 Unter anderer Rücksicht sind die grundlegenden Bestimmungen des absoluten Bewusstseins Erkennen und Wollen (vgl. LD 374), welche eigentlich in dem Begriff der Bewusstseins-Kraft zusammengefasst sind und erst in māyā, prakṛti und śakti eine weitere Entfaltung finden. 47
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Saccidānanda
In allem phänomenalen Seienden, in der Materie, im Vitalen und selbst in den Vorgängen der Psyche und des Verstandes ist Bewegung, Kraft, Energie das Grundelement. Da ein Dualismus zwischen Kraft und Existenz einen Widerspruch bedeutet, muss gesagt werden, dass die Kraft notwendig der Existenz inhäriert, ob sie sich nun in Ruhe oder in Bewegung befindet. Die Ruhe wäre zu verstehen als eine Konzentrierung der Kraft auf sich selbst in einer unveränderlichen Existenz, die Bewegung als die Entfaltung. Man könnte nun nicht fragen nach dem Warum solcher Konzentration auf sich selbst und solcher Entfaltung, wenn Existenz und Kraft ohne Bewusstsein wären. Wird aber Existenz als bewusstes Sein gedacht, dann muss impliziert sein, dass die Existenz logisch vorgängig zu ihrer Kraft ist. Die Existenz kann nicht ihrer eigenen Kraft unterworfen sein. Was ist nun Bewusstsein und wie ist das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Kraft? Keinesfalls ist Bewusstsein identisch mit unserem »mentalen Wachbewusstsein«. Es gibt im Traum und selbst in unserem Wachzustand viel weitere Bewusstseinsbereiche, als wir wissen und leben. Wir sind immer nur an einem Oberflächenpunkt unseres bewussten Seins. Es gibt einen subliminalen oder unterbewussten 51 mind, »welcher den größeren Teil unseres Wesens ausmacht und Höhen und Tiefen enthält, welche noch niemand bisher ausgelotet […] hat« (LD 101). Aus diesem Grunde muss endlich die vulgäre Idee von Bewusstsein aus dem philosophischen Denken verschwinden. Man kann auch nicht behaupten, wie es der Materialismus tut, das Bewusstsein sei das Ergebnis der physischen Organe. Es ist vielmehr umgekehrt: Die Kapazität unseres Bewusstseins übersteigt weit jene unserer Organe. Unser physischer Organismus erklärt das Bewusstsein nicht besser als eine Maschine ihre Antriebskraft. 52 Die Kraft ist vor dem physikalischen Instrument. Konsequenterweise muss weiter gefragt werden, ob nicht auch in Tier, Pflanze und selbst im rein materiellen Bereich eine Art von Bewusstsein vorhanden sei. Vielleicht gleicht sein Vorhandensein
Das ist nicht einfach gleichbedeutend mit dem Unbewussten der westlichen Tiefenpsychologie. 52 Die Maschine ist das notwendige Instrument zur Entfaltung der Kraft, aber nicht ihr Produzent, ihre Ursache, ihr Erklärungsgrund. 51
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dem Schlaf, einer einwärts gerichteten Konzentration. Aber es ist doch da. 53 »Auch wenn kein bewusster oder überbewusster Purusha allen Formen einwohnt, so gibt es doch in solchen Formen eine bewusste Kraft des Seins […].« (LD 105) Die Identifizierung des Bewusstseins mit »mentality« muss dazu aufgegeben werden. Das subliminale 54 Bewusstsein hat nicht nur eine unermesslich höhere Kapazität, sondern ist auch in seiner Art vom Wachzustand unserer Mentalität verschieden. Es birgt in sich sowohl das Überbewusste (superconscient) wie das Unterbewusste (subconscient). »Mentality« ist nur ein mittlerer Bereich zwischen dem Unterbewussten, womit die Bewegung des Vitalen und Materiellen gemeint ist, und dem Überbewussten, dem supramentalen Bereich. Das eine und selbe Bewusstsein, welches Unterbewusstes, Bewusstes und Überbewusstes zusammenschließt, muss jetzt verstanden werden als eine »selbst-bewusste Kraft der Existenz« (self-aware force of existence) (LD 105). Das ist aber genau der Begriff »Cit«. Bewusstsein schließt immer eine Art von Intelligenz, Absicht, Zielstrebigkeit und Wissen-um-sich-selbst ein. Wir stellen aber in der ganzen unbelebten und belebten Natur eine verborgene oder offenbare Intelligenz, Zielstrebigkeit und Absicht fest, und zwar in ebenso universaler Weise wie die Kraft selbst. Dies berechtigt uns, eine universale Bewusstseins-Kraft zu konstatieren, die stets bewusst und zielstrebig wirkt. Gegen die allgemeine Intelligenz und Absichtlichkeit des Geschehens könnte man die Verschwendung und Vergeblichkeit in der Natur ins Feld führen. Aber dieser Einwand entspringt der Begrenztheit unseres Gesichtskreises und hat keinen wirklichen Hintergrund. 55
Es soll hier nicht der Nachweis wiederholt werden, den Sri Aurobindo für die Bereiche der Materie und des Lebens bringt. Hier wird gleichsam induktiv vorgegangen (vgl. auch OYI 907–9). An anderer Stelle – wie wir z. B. bei der Erörterung des Brahman gesehen haben – kommen wir deduktiv zu der Aussage: Brahman ist die allgegenwärtige Wirklichkeit und diese ist Geist und Bewusstseins-Kraft. Deshalb hat alles Wirkliche diese Seinscharaktere, also auch Materie, Pflanze, Tier und Mensch. 54 Subliminal meint nicht »unterschwellig« im Vergleich zum wachenden mind, sondern »hinter der Verhüllung« (behind the veil) (LD 268–9). 55 Vgl. LD 95–107, 250–59. 53
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Saccidānanda
3.3 Ānanda oder Seligkeit Brahman als dem Selbst-Sein (sat) inhäriert die Bewusstseins-Kraft, zu beiden aber gehört notwendig die Seligkeit des Seins, ānanda. Sie ist der alleinige Grund des Seins wie der Schöpfung. Die Absolutheit bewussten Daseins ist eo ipso unbegrenzte Seligkeit; denn Bewusstsein und Existenz in absoluter Weise besagen notwendig absolute Seligkeit über die Absolutheit von Bewusstsein und Existenz. Alle Unendlichkeit, alle Absolutheit ist reine Seligkeit. 56 Diese Seligkeit hat wiederum drei grundlegende Bestimmungen, welche eine Dreieinheit bilden: Liebe, Freude und Schönheit (LD 374). »Wenn wir nun den Prozess der Selbst-Manifestation weiter verfolgen, werden wir sehen, dass jeder dieser Aspekte« in seiner weiteren Entfaltung oder Selbstbestimmung »auf einer Triade oder Dreiheit fußt; denn ’Erkenntnis beruht notwendigerweise auf der Dreiheit von ’Erkennendem, ’Erkanntem und ’Erkennen; ’Liebe findet sich vor in einer Dreiheit von ’Liebender, ’Geliebter ’und ’Liebe; […] das ’Selbst erscheint notwendigerweise […] in einer Dreiheit von ’Selbst als Subjekt, ’Selbst als Objekt und Selbstgewahrsein (self-awareness), welches das ’Selbst als Subjekt-Objekt zusammenhält.« (LD 374) Auf diese Weise schreitet die Entfaltung der einen Wirklichkeit voran. Die Seligkeit (ānanda) bildet in unendlicher Weise mit dem Existieren (sat) und dem Bewusstsein (cit) eine Einheit. 57 Das kann aus drei Gründen gesagt werden: 1. Die Absolutheit einer bewussten Existenz ist selbst notwendig unbegrenzte Seligkeit dieser bewussten Existenz. 2. Da die unendliche Existenz unendliches Bewusstsein ist, ist sie notwendig auch Selbst-besitz. Selbst-Besitz aber sagt nichts anderes als Seligkeit über sich selbst (self-delight). 58 3. Das reine Existieren ist frei gegenüber seiner ausführenden Kraft und damit gegenüber der Schöpfung, d. h. ihrer eigenen Entfaltung. Wenn sie nun doch bewegt, gestaltet, schafft, dann kann dies nur aus reiner Freude (delight) und seligem Überfluss geschehen. 59
Vgl. LD 109. LD 108–9, 119, 169–70. 58 Diese Konklusion steht nicht ausdrücklich da, ergibt sich aber notwendig. 59 LD 108–9, 120. Die Tatsache des Übels angesichts der unendlichen Seligkeit des Existierens wird 56 57
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II · Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
Allem Seienden liegt also eine Dreieinheit zugrunde: reines Existieren, die Bewusstseinskraft und die unendliche Seligkeit: Saccidānanda. Saccidānanda sind deshalb in allem und alles von allem. Sie sind das Eine, welches alles ist (LD 113). Die Welt und alle Dinge sind Saccidananda. 60
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Transzendentes, universales und individuelles göttliches Sein
Brahman und Saccidānanda sind das eine unaussprechliche Höchste Wesen, alle Gegensätze schaffend und sie zugleich übersteigend. Dieses manifestiert sich in unserem Denken und unserer Erfahrung als absolute Transzendenz, als Universalität und als Individualität.
4.1 Transzendenz Gott existiert aus sich selbst, svayambhu, und nicht durch irgendein Relatives. 61 Er ist das reine Absolute, die suprakosmische Transzendenz. Transzendenz und Welt Als wissender Selbstbesitz des Seins, als seliges Wissen um das reine Existieren, als existierende Seligkeit des Wissens sind Saccidānanda sich selbst genug, sind sie aus und in sich selbst. Ihre Transzendenz versteht sich aus ihrem eigenen Wesen, aber auch im Hinblick auf Welt und Schöpfung. Saccidānanda wurden ja aus der Welt erkannt. Nun wird ihnen eine Unabhängigkeit von und eine Jenseitigkeit zur hauptsächlich durch die Begrenztheit erklärt, Begrenztheit des Verstehens und der Kontaktnahme mit dem uns Begegnenden. Dass das Übel in Wahrheit Heilssituation sein kann, zeigt die Biographie Sri Aurobindos. Als er ins Gefängnis gebracht worden war, erinnerte er sich nach einer Weile des Unverständnisses daran, dass er von Gott bereits vorher die Aufforderung zur stillen Einkehr bekommen habe. Damals hatte er sie ausgeschlagen, jetzt aber erkannte er sie und nützte die Zeit. So wurde der Aufenthalt im Alipore-Gefängnis zur grundlegenden Wende in seinem Leben. 60 LD 120–3, 133–6. 61 LD 384, 387, 823.
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Transzendentes, universales und individuelles göttliches Sein
Welt zugeschrieben. »Die Welt lebt durch ’Dieses 62, aber ’Dieses lebt nicht auf Grund von Welt.« (LD 27) Die Welt ist geschaffen in und aus der ewigen Wahrheit des Selbstseins. Ihr Inhalt, ihr Ursprung und ihre Substanz sind wesentlich »Dieses«, aber die wesentliche Wahrheit der unendlichen Existenz ist nicht Welt. 63 Als geistige Selbstausdehnung sind Saccidānanda Grund und Inhalt der Vielfalt der Welt, sind sie der weltschaffende Supermind. 64 Aber in ihrem »unitarian Consciousness« sind sie rein für sich und transzendent (LD 174). Die Transzendenz ist das Jenseits zur geistigen Selbstausdehnung und zur Substanz. Jenseits der bewussten Differenzierung in Subjekt und Objekt ist sie absolute Identität (LD 289). Erst durch das Wirken der Bewusstseins-Kraft in ihren drei Aspekten: māyā, prakṛti, śakti wird es als das Absolute zur Vielfalt der Welt, des Universums. Deshalb sind Saccidānanda alle Dinge, obgleich keines von diesen ihr absolutes Sein ist (LD 290). Die Transzendenz ist die Wesentlichkeit von Universum und Individuum. 65 Brahman nimmt als Saguṇa alle Formen, Eigenschaften, Gestalten der Welt an. Als Nirguṇa transzendiert es in einem ersten großen Schritt diese Eigenschaften hin zu einem schweigenden, in sich ruhenden Sein; doch die noch größere Transzendenz lebt jenseits von Saguṇa und Nirguṇa, indem sie beide begründet und in sich aufhebt. 66 Dieses Brahman nennen wir das Höchste, param bhāvam (OYI 181). Absolutheit und Transzendenz besagen ein Jenseits von Welt und zugleich Freiheit gegenüber der Schöpfung und dem Akt der Schöpfung. Das Höchste Wesen ist frei von allen Bindungen an das Relative, aber auch frei zu schaffen. 67 Es ist das Jenseits aller Gegensätze, das Eine, 68 das Eine ohne ein Zweites 69, völlig in sich versammelt. 70
Dieses = That = Brahman = Absolutes = transzendente Saccidānanda. LD 108, 121. 64 Vgl. auch LD 156. Auch der Supermind ist nicht das Höchste Wesen in seinem absoluten Existieren-aus-sich-selbst, sondern in seinem Wirken als Herr und Schöpfer. 65 LD 452, 1219–21. 66 LD 369–77. 67 LD 100, 108, 113, 446–8. 68 LD 93, 146, 151, 170, 172, 181, 454–6 etc. 69 LD 30, 113, 151. 70 LD 151, 170. 62 63
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II · Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
Transzendenz in den »Essays on the Gita« Wenn wir denselben Gedanken noch einmal gemäß der Darstellung in den »Essays« verfolgen, finden wir auch da, dass Gott unabhängig vom Geschaffenen und mehr als dieses ist. 71 Sri Aurobindo widmet sich wiederholt und systematisch der Frage nach Transzendenz und Pantheismus. 72 »Das höchste Sein des ’Gottes ist jenseits aller Manifestation: sein wahres, dauerndes Bild ist nicht geoffenbart in der Materie, wird nicht erfasst durch das Leben und ist auch nicht erkennbar durch den Verstand (mind), acintyarūpa, avyaktamūrti. Was wir sehen, ist nur eine aus dem Selbst geschaffene Form (rūpa), nicht die ewige Form der Gottheit, svarūpa.« (E 418–9)
Er, der Gott, ist anders als das Universum, »unaussprechlich«, »unausdenkbar«. »All die Vielfalt von endlichen Wesen (mass of becomings) […] kann ihn weder in ihrer Summe noch in ihrer gesonderten Existenz enthalten. Er ist nicht in ihnen; […] ’Gott ist nicht das ’Werdende (Becoming). Sie sind vielmehr in ihm […]; sie sind sein Werden (becomings), er ist ihr Sein.« (E 419)
Dieser sehr wichtige Gedankengang ist uns schon begegnet bei der Erörterung der »niedrigeren Natur« und ihrem Verhältnis zur »höchsten Natur«. »Aber auch wenn wir von Gott sagen, dass alles in ihm existiert, haben wir noch nicht die volle Wahrheit […], nicht die vollkommene Wirklichkeit der Beziehung erfasst: Denn wir reden dann von ihm in räumlicher Vorstellung. ’Gott aber ist raum- und zeitlos.« (E 419–20) Durch yogamāyā, »durch die Kraft seines geistigen Bewusstseins« (E 421), »schafft der Höchste die Erscheinungsformen seiner selbst (phenomena of himself), indem er sich selbst zu seiner eigenen ausgedehnten Unendlichkeit in geistiger, nicht in materieller Weise formuliert. 73 Dies ist eine Ausgedehntheit, von der die materielle nur ein Abbild ist […]. In diesem unendlichen Sich-selbst-sehen, welches nicht seine ganze Schau ausmacht, ist er zugleich eins mit allem Seienden und übersteigt es dennoch – die Identität zwischen Gott und Universum beim Pantheisten bedeutet im Vergleich Grundsätzliche Hinweise dafür: E 188, 189, 397. Diese Stellen besagen: Gott ist kein unbestimmter ungeformter Stoff, aus welchem die Gestalten der Welt gebildet wurden, sondern ein unum in se et distinctum a quolibet alio. Frei gegenüber der Schöpfung, ist Gott dieser doch gegenwärtig und in Beziehung zu ihr. 72 Besonders in dem Kapitel: »The Divine Truth and Way«, E 418–32. 73 »in a spiritual, not a material, self-formulation of his own extended infinity«. 71
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Transzendentes, universales und individuelles göttliches Sein
dazu einen noch eingeschränkteren Gesichtspunkt –, aber er ist auch noch anders als dieses Selbst oder diese ausgedehnte Unendlichkeit des geistigen Seins, welches das Universum enthält und übersteigt.«
Diese Unendlichkeit selbst »ist wiederum aufrechterhalten (upheld) als ein Sich-selbst-begreifen (self-conception) durch die überweltliche Wirklichkeit der »Gottheit, welche alle unsere Begriffe (terms) von Welt, Sein und Bewusstsein überschreitet. Das ist das Geheimnis seines Seins, dass er überweltlich (supracosmic), aber nicht in irgendeinem ausschließenden Sinn außerweltlich (extracosmic) ist.« (E 420) Die Transzendenz meint Gott in seinem eigentlichsten Sein. Die Transzendenz ist voll geleistet, da sie nicht nur über die Welt als solche, sondern auch über »die geistig ausgedehnte Unendlichkeit« hinaus liegt, d. h. über alles Manifestierte, sei es materiell oder geistig. Weil aber die Überweltlichkeit nicht in einem ausschließenden Sinn Außerweltlichkeit besagt, darum ist der transzendente Gott zugleich auch das Sein und Existieren in und aus sich selbst in den Geschöpfen, ātman; die Geschöpfe aber sind Werde-Wesen (Becomings, bhūtani) und als solche abhängig von ihm. Gott ist außerweltlich »nur in dem Sinn, dass er in seiner Überweltlichkeit nicht im Kosmos enthalten ist […], aber nicht in dem Sinne, dass seine Geschöpfe außerhalb seines Seins wären: denn es gibt nichts außerhalb des einen Ewigen und Wirklichen.« (E 421–2) Das ist gleichsam eine metaphysische Darlegung. Ihr folgt eine andere aufgrund geistiger Erfahrung, die jedoch Grundlage auch für erstere bildet (E 421). Auch hier wird der Pantheismus abgelehnt. Zwar ist alles für uns Offenbarung der göttlichen Wirklichkeit. Aber »wenn diese Erfahrung ausschließlich wird, dann bekommen wir die pantheistische Identität, das ’Eine, welches alles ist: aber die pantheistische Schau erfasst nur einen Teil (partial seeing). Dieses ausgedehnte Universum ist nicht alles das, was der ’Geist ist; es gibt ein ’Ewiges, größer als das Universum; durch dieses allein ist die Existenz des Universums möglich.« (E 424) Erst wenn die verschiedenen geistigen Erfahrungen richtig einander zugeordnet werden, dann entsteht ein wirklichkeitsgerechtes Bild von Gott. Noch einmal heißt es: »Als überweltliche ’Gottheit ist Gott nicht in den existierenden Wesen und diese sind auch nicht in ihm.« (E 428) Auf das überweltliche absolute Sein treffen die Begriffe von Raum und Zeit nicht mehr zu; deshalb kann auch nicht mehr vom »Wohnen in Gott« die Rede sein. Dort entfällt auch die Unterscheidung zwi69 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
II · Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
schen Sein (Being) und Werden (Becoming); diese ist »nur anwendbar für die Manifestation im phänomenalen Universum. In der überweltlichen Existenz ist alles das ewig Seiende.« Die Ausdehnung in Raum und Zeit ist erst durch Gottes yogamāyā geschaffen. Erst in dieser Ausdehnung erscheint der Gott als ein Selbst, das alles Seiende trägt. Durch dieses allgegenwärtige Selbst trägt das höchste Selbst, der paramātman, das Universum; »er ist die unsichtbare geistige Grundlage und die verborgene geistige Ursache des Werdens von allem Seienden« (E 428). 74 »Das göttliche ’Selbst enthält alles Existierende nicht dem Wesen nach materiell, sondern in jenem ausgedehnten geistigen Begreifen (conception) des Selbst-Seins«, welches wir als materiellen oder Ätherraum denken, da wir in den sinnlichen Begriffen unseres physischen Verstandes (physical mind) denken (E 428–9). Ohne Zweifel ist damit ein strenger Begriff von Transzendenz und Geist gegeben. Die Unerkennbarkeit des Absoluten Die absolute Transzendenz ist notwendig für den Menschen unerkennbar und unbestimmbar, weil sie alle Erkenntnisbestimmungen überschreitet. 75 Auch die Unterscheidung in Sat-cit-ānanda ist zwar in ihr grundgelegt, aber erst für unseren Verstand eine Verschiedenheit, die vereinigt werden muss (LD 149). So wird die Transzendenz identisch mit dem strengen Begriff des Absoluten (LD 384). Dieses Absolute kann weder auf dem Weg der Negation – neti, neti – noch auf dem Weg der Affirmation – iti, iti – erreicht werden. Es ist nur sich selbst und für eine Erkenntnis durch Identität (knowledge by identity) evident. 76 Wir unterschieden deshalb zwischen einem absoluten, rein aus sich und für sich seienden Brahman, welches nicht erkannt, sondern nur angedeutet werden kann, und einem der Welt zugewandten Brahman; letzteres ist das »Brahman-Bewusstsein«, »der ewige Hinblick des ’Absoluten auf das Relative« (KU 54), der Supermind, die höchste Manifestation. 77
In der Scholastik heißt es: »Spiritus sensu stricto est id quod neque est materia neque materia indiget tamquam principio vel subiecto in essendo vel agendo.« (Brugger, De anima humana, 88). 75 LD 37–8, 93–4, 376, 446. 76 LD 382–3. 77 KU 53–4, 62–3. 74
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Abwehr des Pantheismus »Alle Deutungen des Daseins, welche Halt machen vor der ’Transzendenz und sie ignorieren, bleiben notwendig unvollständige Darstellungen der Wahrheit des Seins. Die pantheistische Schau der Identität ’Gottes und des ’Universums ist eine Wahrheit, denn alles, was ist, ist ’Brahman: aber sie macht Halt vor der ganzen Wahrheit, wenn sie die überweltliche ’Wirklichkeit vernachlässigt oder auslässt.« (LD 788)
Auch das Individuum ist identisch mit dem Höchsten, insofern es einen ewigen Teil desselben (eternal portion) darstellt. Aber weder Kosmos noch Individuum sind die grundlegenden Wahrheiten der Existenz; »denn beide hängen ab von und existieren durch das transzendente ’Höchste ’Wesen« (LD 789). Überwindung des Nihilismus Die absoluten, transzendenten Saccidānanda sind jenseits von nirguṇa-saguṇa, sat und asat, Seiendes und Nichts. 78 Sie sind eine letzte Wirklichkeit, eine höchste Form des Seins. Alles Nichts, alles Nirvaṇa bleibt nur ein Vorletztes, nur eine Negation des konkreten Seienden. Durch diese Negation hindurch geht der Weg zum absoluten, reinen Sein. 79 Das letzte Wort heißt nicht Nichts, sondern Saccidānanda. Diese Aussagen werden stets in Konfrontation mit dem Buddhismus 80 und dem Māyāvāda gemacht. Sie werden gestützt durch Interpretation des älteren Vedānta der Upaniṣaden und der Veden. Insofern sind sie nicht nur für uns von großer Bedeutung, sondern sie repräsentieren zugleich einen wichtigen Vorgang in der Geschichte der indischen Philosophie.
4.2 Universalität als geistige Selbst-ausdehnung des Höchsten Wesens Gegen Nirguṇa und Nirvaṇa stellt Sri Aurobindo die absolute Transzendenz (tat) (HG 86), gegen den Māyāvāda und jede Art von Illusionstheorie erklärt er die Welt als wirklich. Das Wirklichsein der LD 34–6; »Being« und »Non-Being«. Das Esse ist ebenfalls eine Negation aller Konkretion, alles metaphysisch Zusammengesetzten. 80 Buddha selbst wird anders interpretiert, vgl. LD 37. 78 79
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Welt gründet in der Aussage von der Universalität Gottes. Wir haben im vorigen Abschnitt immer wieder gehört, dass Gott nicht das Integral alles Seienden ist. Aber das Seiende ist wirklich, weil er als universale Existenz in ihm ist. »Alle universalen und partikulären Dinge sind Gott (Divine) und sonst nichts.« Dann folgt eine wichtige Einschränkung: »significative of him«, auf ihn hindeutend, »und nicht völlig ’Dieses in irgendeinem Teil oder in der Summe ihrer Erscheinung, aber sie könnten nicht auf ihn hinweisen, wenn sie außer ihm noch etwas und nicht Ausdruck (term) und Stoff der göttlichen Existenz wären. ’Dieses ist das Wirkliche; aber sie sind seine es ausdrückenden Wirklichkeiten.« (E 424) 81
Die Universalität ist im Grunde die geistige Selbst-Ausdehnung des Höchsten Wesens durch seine Bewusstseinskraft, durch seine yogamāyā. Dadurch entsteht eine Einheit zwischen Gott und allem Geschaffenen, das ja aus und in dieser yogamāyā, aus und in der parāprakṛti existiert. 82 Gott ist das Universum durch parā-prakṛti. Dieser Standpunkt unterscheidet sich vom Pantheismus, weil das Höchste Wesen auch Transzendenz ist. In diesem Sinne darf man sagen: vāsudevaḥ sarvam iti, »die ’Gottheit ist alles, was das Universum ist, was im Universum und was mehr als das Universum ist« (E 425). »Die universale Existenz ist allesdurchdringend und unendlich und gleicherweise auch die ’Selbstexistenz, aber die als Selbst existierende (self-existent) Unendlichkeit ist fest, statisch, unveränderlich, das Universale ist eine alles durchdringende Bewegung« (E 429). Es wird also, wie wir schon gesehen haben, ein Unterschied gemacht zwischen dem Selbst als unveränderlichem, in sich einem, und dem Universalen als dem Vielen, dem Veränderlichen, der Summe aller Existenzen. Das Selbst ist »der grundlegende, tragende und unveränderliche ’Geist« (E 429). Es ist Brahman. Wir verstehen also unter Universalität ein Zweifaches: jenes, worin alles Seiende geeint ist, das Sein des Seienden, ātman, die Manifestation schlechthin oder die geistige Selbst-Ausdehnung des Absoluten, und zweitens die Gemeinsamkeit (commonalty) alles Seienden zusammen.
Der Wechsel zwischen »Dieses« und »Er« erscheint zunächst verwirrend. Aber »Dieses« meint Brahman, die Wirklichkeit, »Er« den personalen Gott. 82 E 418–21, 427–9. 81
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4.3 Individualität Die Individualität des Menschen Das Individuum ist die individuelle Vergegenwärtigung des Kosmischen, Universalen; aber damit erschöpft es sich nicht. Es hat seine Wurzel in der Transzendenz, ist ein ewiger Teil derselben. Das Individuum partikularisiert nicht nur das Universale, sondern repräsentiert zugleich in einmaliger Weise das Höchste Wesen. Die Wahrheit von Individuum und Universum gründet in je gleicher Weise in dem transzendenten göttlichen Sein. 83 Es ist aber nicht die Individuation der Natur, Ich, »ego« und »personality« 84, sondern die Individuation des Geistes, jīva, puruṣa, »spiritual individual«, individuelle Person, welche uns begegnet als »individual Divine«, als Gott in individuierter Weise, eins mit der Transzendenz durch die Natur des Geistes, parā prakṛti, eins mit ihr in der Wesentlichkeit des Seins (essentiality). »Geistige Individualität meint, dass jedes individuelle Selbst […] ein Zentrum für die Schau des eigenen Selbst und des All ist; der Umkreis […] dieser Schau mag derselbe für alle sein, aber das Zentrum ist verschieden […].« Jedes einzelne Wesen in dieser Welt sieht dieselbe Welt, aber von einem je verschiedenen Gesichtspunkt her: »denn jedes will seine eigene Wahrheit aus dem Unendlichen manifestieren […]«. Alle Menschen wissen um die kosmischen Dinge auf die eine menschliche Weise, aber jeder einzelne doch wieder innerhalb des Gemeinsamen individuell unterschiedlich. »Das geistige Individuum handelt aus seinem eigenen Zentrum der einen ’Wahrheit und in Entsprechung zu seiner eigenen Natur, aber auf einer gemeinsamen Basis« (LD 407), in Koexistenz und Gemeinschaft mit dem fremden Selbst, dem Anderen. Die Individualität der Natur, ego, ahaṃkāra, muss streng unterschieden werden vom geistigen Individuum. Das Ich (Ego) ist eine praktische Zentralisation der Tätigkeiten unserer Natur, nicht unser wahres Selbst. Hinter dem Ich lebt ein Puruṣa, die Person. Er ist nicht begrenzt und determiniert durch seine Individualisation, sondern determiniert, unterstützt und überschreitet diese, bildet mannigfache Personformen (personalities). Er wählt aus seiner gesamten WeltLD 52–3, 440–1, 550, 788–9, 827–8, 917, 1159, 1219–21; OYI 338; OYII.T1 59; IU 38. 84 »Personality« bedeutet bei Sri Aurobindo die Selbstdarstellung und die erfahrbaren Eigenschaften eines Menschen. Sie ist Ergebnis der prakṛti, nicht des puruṣa. 83
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erfahrung aus, um die gegenwärtige Synthese, unsere jetzige Individualisation zu errichten. »Diese zwei Kräfte, ’Person und ihr Weltmaterial, sind beide notwendig für unsere gegenwärtige Erfahrung von Individualität.« (LD 437) In einem weiteren Schritt sehen wir, dass dieser Puruṣa das ganze Welt-sein umfasst als die bewusste Ausdehnung seiner selbst. Damit werden das Ich und die oberflächliche Individualisation transzendiert, mit welcher wir uns identifiziert haben. Doch der Puruṣa existiert jetzt nicht als Welt-Puruṣa, sondern er individualisiert noch, während er dieses weitere Bewusstsein umfasst. Damit bekommt die Individualität einen neuen Sinn. »In diesem neuen Bewusstsein nimmt das geistige Individuum wahr, dass sein wahres Selbst im Sein eins ist mit der ’Transzendenz […]; es hält fürderhin seine konstruierte Individualität nicht für mehr als eine Gestaltung, um Welt-Erfahrung zu gewinnen. […] Unsere Einheit mit dem Welt-sein ist das Bewusstsein von einem ’Selbst, welches sich in derselben Zeit zugleich kosmisch ausdehnt in der Welt (›cosmicises in the world‹) und durch den individuellen Purusha individualisiert.« (LD 438)
Die Einheit ist das Selbst in seinem Sein, die vielfache Individualität ist das Selbst in der Kraft seines Seins. Wenn wir also die Einheit mit dem Selbst erlangen, dann auch mit dessen Kraft. So ist die Vielheit nicht ausgelöscht. Man kann sich zwei Arten der Vereinigung und Einheit vorstellen: eine aktive (differentiated unity oder unity in difference) und eine »absorbierende« (absorbing unity). 85 In der »differentiated« oder »waking« oder »active unity« mit dem Selbst bleibt das Individuum bestehen, »obgleich es das kleine trennende Ich überschreitet«. »Der Purusha weiß um alle anderen Individuen als ›Selbste‹ seiner selbst.« (LD 439) Aber in besonderer und direkter Weise ist er mit dem Wirken des »Divine« in ihm befasst, während er das Wirken des Höchsten Wesens in den anderen in universaler, d. h. indirekter Weise erfasst, indem er sich mit diesen und dem Höchsten Wesen vereinigt. Es gibt keinen Grund für die »absorbing unity«, da das Höchste Wesen selbst die Vielheit will, ohne sich darin zu verlieren. 86 Dieser Ausdruck wurde von mir geprägt, wird aber dem Sinn des Textes völlig gerecht: es heißt dort einmal »absorbed identity« (LD 439). 86 Sri Aurobindo schätzt deshalb die Samādhi-Trance nicht hoch ein im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Yoga-Praxis. Der Supermind ist höchstes Licht der Erkenntnis, welches alles in uns umwandelt und uns befähigt zur wachen Einung, zur bewussten Begegnung mit dem Höchsten Wesen; denn das vorher Überbewusste ist herab85
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Individuum und Welt sind Werdende des seienden Selbst. Weltsein schließt immer das Individuum ein und dieses die Welt. Deshalb sind beide aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Kosmos und Individuum sind Manifestationen eines transzendenten Selbst, welches unteilbar ist, obwohl es gleichsam als zerteilt erscheint. Als Unteilbares ist es überall. »Deshalb ist alles in jedem und jedes in allem und alles ist in ’Gott und ’Gott ist in allem.« Die Gegenseitigkeit (mutuality) der Individuen untereinander und in ihrem Verhältnis zum Höchsten Wesen gründet in der Einheit. Gegenseitigkeit und Einheit sind deshalb »das ganze Geheimnis der göttlichen Existenz in ihrer vollkommenen Manifestation« (LD 442). Individuum im wahren Sinn meint also »eine bewusste Kraft des Seins des ’Ewigen, welche stets durch Einheit existiert, stets der wechselseitigen Beziehung fähig ist« (LD 443). Jetzt wird verstehbar, dass das Individuum im Sein und Wesen eins ist mit der Transzendenz, in der Erfahrung aber doch Beziehungen haben kann mit ihm und den anderen Individuen. »Der Mensch ist hier auf Erden die höchste Kraft des dritten Terminus, des Individuums« (LD 458). Er ist der »kritische Wendepunkt« der Involution und Evolution des göttlichen Bewusstseins und steht so zwischen Unwissen (Ignorance) und Wissen (Knowledge). Das »Ego« als Ausdruck der Unwissenheit muss aufgegeben werden. Das geistige Individuum aber verdankt sein Dasein nicht einem Irrtum des Absoluten und ist kein untergeordnetes, zielloses Moment im göttlichen Spiel (Līlā); es hat die Rechtfertigung seiner individuellen Existenz darin, dass es sich selbst transzendieren und in sich das göttliche Licht, die göttliche Kraft und Freude der transzendenten Saccidānanda entfalten kann. Das ist die wahre Absicht der göttlichen Līlā. Aber bei dieser Umwandlung bleibt es immer das Individuum; es muss nicht vernichtet werden. Sonst gäbe es keinen Grund, warum es überhaupt existiert hätte. Wäre aber das Individuum und die Welt, aus der es sich befreien soll, Illusion – wie der Māyāvāda will –, dann wäre auch die Notwendigkeit der Befreiung von der Illusion illusorisch. Das geistige Individuum ist wirklich und ewig, weil es das Höchste Wesen in seiner individuellen Weise vergegenwärtigt. Darum soll sich die »Befreiung« (mukti, liberation) in
gekommen und hat unser Bewusstsein transformiert, es befähigt zu dieser unendlichen geistigen Schau. Die aktive Einung, in welcher eine Einheit-in-Verschiedenheit bleibt, ist darum die größere Möglichkeit und das eigentliche Ziel.
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der Welt vollziehen, indem das Individuum die Schöpfung als göttliches Werk annimmt und an ihrer Vollendung mitwirkt. 87 Die Lehre von den Vibhūti Der puruṣa »offenbart sich im Veränderlichen und dort sehen wir ihn als das Endliche, als die Vielen, als alles Seiende, sarvabhūtani. Er tritt uns entgegen als die endliche Persönlichkeit dieser unzählig vielen Geschöpfe mit ihren unendlichen Verschiedenheiten und verschiedenen Beziehungen: hinter diesen aber begegnet er uns als die Seele und Kraft des Wirkens der Götter, – d. h. ’der kosmischen Kräfte und Eigenschaften des Gottes, welche […] für unsere Wahrnehmung verschiedene allgemeine Formen der einen ’Existenz oder auch – wenn wir so wollen – verschiedene Selbstdarstellungen der einen höchsten ’Person in Form der Persönlichkeit sind.« (E 168) Die verschiedenen Formen der individuellen Gegenwart des Höchsten Wesens werden dargestellt in der Lehre von den vibhūti. 88 Die vibhūti sind die Götter und ihre göttlichen Kräfte. Jede endliche Form ist ein Symbol einer solchen göttlichen Kraft (E 486). Und obwohl alle Formen den gleichen Gott offenbaren, gibt es gleichzeitig auch eine aufsteigende Ordnung der Formen wie der vibhūti. Gott erscheint besonders in dem, was von hervorragendem Wert ist. Dieses Hervorragende ist »in einem besonderen Sinn Vibhūti« (E 489). So ist Gott die endlose Zeit, der Raum, der schöpferische, erhaltende und zerstörende Geist, »das Oberste, das Größte an Qualität in jeder Klasse« (E 480). »Diese Wahrheit von der dynamischen Allgegenwart der göttlichen ’Macht des Seins ist die Begründung der Theorie von den Vibhūti.« (E 502) Die Vibhūti bedeuten die Gegenwart der einen göttlichen Śakti. Immanenz Dass Gott Individualität ist, bedeutet zugleich seine Immanenz. Die Immanenz meint »eine Beziehung der universalen Existenz zu ihren eigenen Formen« (E 430).
Weitere Textstellen hierzu: LD 45–50; IU 123; SM 85–6. Vibhūti ist im Ṛg-Veda ein Adjektiv und bedeutet: überreich, mächtig. Im klassischen Sanskrit wird es zum femininen Substantiv und bedeutet: Entwicklung, überfließender Reichtum, Offenbarung von Kraft und Macht.
87 88
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»Da die göttliche ’Natur nie von ’Gott getrennt sein kann, muss in allem, was sie erschafft, die ’Gottheit immanent sein. Das ist eine Beziehung, die zwar nicht die ganze Wahrheit des göttlichen Seins ausschöpft, aber dennoch dürfen wir diese Wahrheit nicht ignorieren. Gott wohnt auch im menschlichen Leib. […] Der verborgene Geist im Menschen […] ist dieselbe unaussprechlich-glanzvolle Herrlichkeit wie wir sie jenseits als höchste ’Gottheit verehren […]. Alles ist hier seiner inneren Beschaffenheit nach nichts anderes als das eine ’Höchste Wesen, alles ist Vasudeva […].« (E 431–432)
Die Äußerlichkeit ist nur durch die Zerteilung, durch die Begrenzung in Unwissenheit, Egoismus und Verlangen von Gott getrennt. Gott west in allem Seienden durch svabhāva, die Real-Ideen, durch welche er sich in die Vielheit entfaltet. 89 Immanenz und Transzendenz Als ganz »nah vorhandene immanente Gegenwart« (close immanent presence) ist Gott der Herrscher und Lenker der Welt, loka-maheśvara. Er regiert »nicht nur von innen, sondern auch von oben, von seiner höchsten Transzendenz. Der Kosmos kann nicht regiert werden von einer ’Macht, die den Kosmos nicht transzendiert.« (E 472) So weisen Immanenz und Transzendenz auf eine »theistische Schau des Universums« (E 473). Es gibt letztlich keine automatischen und mechanischen Gesetze und Kräfte. Über ihnen steht der allmächtige Lenker und Herr der Welt. »Alles, was wir tun, ist getan […] für den Purushottama und in Wirklichkeit durch ihn getan durch seine universelle Shakti.« (E 731) Avatar Weil Gott also im Herzen aller Wesen wohnt, ist er der īśvara, der Herr. Dieser Gedanke wird in stets neuen Abwandlungen wiederholt. 90 Der geheime innere Lenker und Lehrer zeigt den inneren Veda, die innere Offenbarung. Als äußere Offenbarung Gottes haben
Identität von »individual Divine« und Immanenz beweisen weiter folgende Stellen: OYI 296; LD 360–1, 371–3, 380 etc. 90 E 124–5, 178, 310–1, 435, u. a. 89
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wir die śruti 91 und den Avatar. 92 Inwiefern ist die Offenbarung Gottes im Avatar verschieden von der in jedem einzelnen Seienden? Der Avatar kann in zweifacher Weise auftreten: einmal als Gottgeburt von oben in der Form der Herabkunft (descent) und zweitens als »Geburt des Menschen in die ’Gottheit hinein«, d. h. in der Form des Aufsteigens (ascent) und der Neugeburt (second birth) (E 199). Die Gita unterscheidet nun zwischen der Geburt der gewöhnlichen Kreatur und der Gottgeburt. Die gewöhnliche Kreatur gehört zu den bhūtani, zum Werden; der Avatar hingegen ist ātmā, ein selbst-bewusstes, aus sich selbst existierendes Sein. »In beiden Fällen ist Maya das Mittel der Schöpfung oder Offenbarung, aber in der Gottgeburt geschieht es durch die Maya des Selbst (self-Maya), ātmāmāyayā« oder auch yogamāyā. Das bedeutet nicht die Einhüllung Gottes in »die niedrigere Maya des Nichtwissens (ignorance), sondern das bewusste Handeln der aus sich selbst existierenden ’Gottheit in ihrer Selbstvergegenwärtigung innerhalb der Erscheinungswelt (phenomenal self-representation) […]. In der gewöhnlichen Geburt wird die Yogamaya von ’Gott benützt, um sich selbst einzuhüllen und vor dem niedrigeren Bewusstsein zu verbergen; so wird die Yogamaya für uns zum Mittel der Unwissenheit, avidyā-māyā; aber dieselbe Yogamaya bewirkt es auch, dass in der Rückkehr unseres Bewusstseins zum ’Höchsten Wesen die Selbsterkenntnis ebenfalls offenbar gemacht wird; dann ist sie das Mittel des Wissens, vidyā-māyā;«
in der göttlichen Geburt wirkt sie stets als vidyā-māyā (E 210). Der Unterschied zwischen den beiden Geburten ist klar. Nur muss man sich fragen: Warum umhüllt sich der Gott mit der avidyā-māyā, warum verbirgt er sich vor dem niedrigeren Bewusstsein? Das niedrigere Bewusstsein kommt doch auch aus ihm, lebt durch und in ihm. Wir werden später Genaueres über die »Unwissenheit« erfahren, aber diese Frage wird dennoch offen bleiben. Der Avatar darf nicht einfach identifiziert werden mit der Offenbarung Gottes durch seine Kräfte, durch seine vibhūti (E 215). Er ist auch nicht bloß gleichbedeutend mit einem Menschen, der zeitweise völlig von Gott ergriffen ist, so dass er in diesen Zeiten »der Herr selbst« wird, so wie es beispielsweise Chaitanya war. 93 Der höchste Die Offenbarung oder Heilige Schrift, wörtlich: das Gehörte. Avatar kommt vom Verbum ava-tṛ, herabsteigen. Avatāra als maskulines Substantiv heißt dann: Herabkunft, Inkarnation, Offenbarung. 93 E 217–20. 91 92
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Begriff von Avatar meint, dass »der ’Herr (Lord) selbst geboren wird«, und zwar in »vielen Geburten«. In der Gottgeburt kann nicht mehr unterschieden werden zwischen Lord und jīva, zwischen dem Vater im Himmel und dem Gottessohn, es gibt nur noch »den ’Herrn und seine ’Prakriti« (E 220). Von der Transzendenz unterscheidet sich der Avatar dadurch, dass er in der Natur offenbar ist, von der Immanenz, weil er die Natur nicht vom Verborgenen her lenkt. Der Avatar ist also offenbar und die Natur weiß um die göttliche Gegenwart, die sich stets als ihr Herr manifestiert. »Der Avatar ist immer ein zweifaches Phänomen aus Gottheit und Menschheit« (E 221). Er muss die menschliche Begrenztheit auf sich nehmen, um zu zeigen, wie sie überwunden werden kann. 94 Er muss zweitens das dharma, das Recht und den Glauben wieder-herstellen (E 197).
4.4 Pantheismus, Theismus, Panentheismus Im höchsten Begriff und Wesen Gottes finden wir eine Synthese von Transzendenz und Immanenz. In ihm sind auch Pantheismus und Theismus »aufgehoben«. Der transzendente Herr erschafft nicht aus nichts, sondern aus sich selbst, wird zur Immanenz alles Seienden. »Diese Wahrheit lässt die pantheistische Schau der Dinge zu und überschreitet sie zugleich. Vasudeva ist alles, vāsudevaḥ sarvam, aber Vasudeva ist alles im Kosmos Erscheinende, weil er auch all jenes ist, was nicht im Kosmos erscheint, was nie manifestiert wird. Sein Sein ist keineswegs begrenzt durch sein Werden; er ist in keiner Weise gebunden durch die Welt der Beziehungen. Gerade indem er zu allem wird, ist er doch ’Transzendenz […]. Die ’Natur, Prakriti, ist in ihrem Wesen seine eigene geistige Kraft, die Kraft seines Selbst (self-power), ātmaśakti; diese geistige Kraft seines Selbst entwickelt unendliche primäre Qualitäten des Werdens 95 in der Innerlichkeit der Dinge und wendet diese in eine äußerliche Oberfläche der Form und des Handelns.« (E 469) »Das höchste Geheimnis von allem, uttamam rahasyam, ist der Purushottama. Dieser ist das höchste göttliche ’Wesen (Divine), der ’Gott (God), der sowohl das Unendliche wie das Endliche besitzt; in ihm treffen sich Persönliches und Unpersönliches, das eine ’Selbst und die vielen existierenden Wesen, Sein und Werden, welthaftes Tun und überweltliche Ruhe, pravṛtti
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E 200, 222. Siehe svabhāva.
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II · Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
und nivṛtti; in ihm sind sie vereinigt; er besitzt sie alle zusammen und in jedem von ihnen jedes. In ’Gott finden alle Dinge ihre verborgene Wahrheit und ihre absolute Versöhnung.« (E 168–9)
Die Gegensätze in unseren Begriffen und in der Wirklichkeit helfen uns, das Absolute tiefer zu verstehen und zu durchdringen. Die positiven Aussagen stellen das Absolute unserem Bewusstsein vor; »die negativen bringen den Rest seiner absoluten Positivität ein«, weil durch sie die mit den positiven Aussagen gegebene Begrenzung verneint wird. In jedem Begriffspaar, wie unendlich – endlich, unbedingt – bedingt, ohne Eigenschaften – mit Eigenschaften, ist im Negativen das entsprechende Positive mit enthalten und umgekehrt. Deshalb besteht hier kein wirklicher Gegensatz. »Das Universale besondert sich selbst im Individuum; das Individuum enthält in sich all das Allgemeine (›all the generalities‹) des Universalen.« (LD 449) Im Kosmos und im Individuum gegenwärtigt sich die Transzendenz durch Manifestation, in der Transzendenz existieren in nicht manifester Weise Kosmos und Individuum. »Kosmos und Individuum gehen auf etwas im ’Absoluten zurück, welches die eigentliche Wahrheit der Individualität und des kosmischen Seins ist […].« (LD 450) So enthält jeder Terminus, verborgen oder offen, die beiden anderen. 96 Das transzendente, universale und individuelle Höchste Wesen machen die ganzen Saccidānanda, die vollkommene Wirklichkeit Gottes aus. Diese Auffassung könnte als Panentheismus beschrieben werden. 97
4.5 Dreiheit als grundlegende Struktur Lineare und dialektische Dreiheit Im bisherigen Gang unserer Untersuchung haben wir gefunden, dass Brahman sich aufschließt in der Dreieinheit des Selbst-Seins, der Bewusstseins-Kraft und der Seligkeit des Seins. Jedes Glied dieser Dreiheit hat drei Aspekte, jeder dieser Aspekte bestimmt sich weiter in einer Triade. Als Dreiheiten begegnen uns oder werden sich uns noch zeigen:
96 97
LD 458; OYI 279. Siehe Diskussion des Schöpfungsbegriffs in Kapitel VII.
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Transzendentes, universales und individuelles göttliches Sein
Das Höchste Wesen: transzendent – universal – individuell, die niedrigere Hemisphäre: Mind – Leben – Materie, die Eigenschaften der niedrigeren Natur (guṇa): tamas – rajas – sattva, Bewusstsein: Unterbewusstes – Bewusstes – Überbewusstes, kṣara – akṣara – puruṣottama, puruṣa – prakṛti – puruṣottama, Eins – Vieles – Vieleinheit, die dreifache Struktur des Supermind (um-fassend, er-fassend, Einheit in Vielheit), die dreifache Transformation: psychisch – spirituell – supramental. Diese ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgestellten Reihen ergeben folgende Erkenntnis: 1. Die Dreiheit ist für Sri Aurobindo vorwiegendes Gesetz des Denkens wie auch Struktur der Wirklichkeit. 2. Wir müssen unterscheiden zwischen einer gleichsam linearen und einer dialektischen Dreiheit. Zu ersterer gehören Reihen wie Mind – Leben – Materie oder tamas – rajas – sattva. Diese drei haben zusammen jeweils ein Gemeinsames: Mind-LebenMaterie haben als Oberbegriff die niedrigere Hemisphäre (aparārdha), tamas-rajas-sattva den Oberbegriff guṇa. Zur dialektischen Dreiheit oder Triade gehören Begriffsverbindungen wie kṣara , akṣara
paruṣottama
unpersönlich , persönlich
All-Person
Eins , Vieles
Vieleinheit
Hierin besagen die beiden ersten Glieder einen Gegensatz (These – Antithese), das dritte aber die Vereinigung und Aufhebung der Gegensätze auf einer höheren Ebene (Synthese). Auf diese Weise wird mit allen Gegensatzpaaren verfahren. Das ist aber nie bloß logisch zu verstehen, sondern wird zuerst ontologisch gesehen. Denn für Sri Aurobindo sind die Gegensätze ja nicht im Sein selbst begründet, sondern in der Weise, wie unser Verstand mit seinen Begriffen denken muss. Der Verstand kann z. B. nicht begreifen, wie endlich und unendlich, Eins und Vieles jeweils in einer höheren Synthese aufgehoben werden können. Der Supermind sieht aber durch sein Identitätserkennen (knowledge by identity) die Dinge so, wie sie in sich sind. Für ihn bleiben diese Gegensätze nicht unversöhnt. Er vermag 81 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
II · Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
sie in einer umfassenderen Schau der Wirklichkeit aufzuheben und wird damit zur Logik des Unendlichen; denn er sieht das Unendliche als es selbst in einer »Erkenntnis durch Identität« und nicht erst als durch unsere Begriffe partikularisiertes. Nochmals kommen wir damit auf den Gedanken des Advaita, der Nicht-Zweiheit oder ZweiEinheit, zurück. Er besagt nichts weiter, als dass das Eine keine monistische Einheit, sondern Eins von Vielem ist. Damit sind zwei Extreme abgewehrt: der absolute Monismus ebenso wie der Pluralismus. 98 Versöhnung und Aufhebung der Gegensätze Die Aufhebung der Gegensätze, welche unser Verstand konstruiert und konstruieren muss, ist zuerst in Brahman gegeben. Es ist die Viel-Einheit des Einen und Vielen, wobei die Einheit nicht mathematisch verstanden werden darf. In der Mathematik stellt sie eine Zahl oder Größe dar, die vermehrt oder vermindert werden kann. Die unendliche Einheit ist aber eine Einheit des Wesens. Sie enthält notwendig die Vielheit, sonst ist sie nicht unendlich. Sie kann nicht durch das Viele begrenzt oder als die Summe des Vielen beschrieben werden. Sie kann das unendlich Viele nur sein, weil sie alle Begrenzung durch die Vielheit überschreitet. Es besteht eine Abhängigkeit und Interdependenz der vielen Seelen. »Sie sind abhängig von dem ’Einen und existieren durch seine ’Einheit: doch ist deshalb die Vielheit nicht unwirklich; es ist die ’Eine ’Seele, welche als das Individuum in den vielen Seelen wohnt; die vielen Seelen sind ewig in dem ’Einen und durch das eine ’Ewige.« (LD 399) Das Selbst ist Sein und kein Seiendes unter den vielen, es ist das Sein des Seienden. 99 Die Welt ist voller Determination; das Absolute aber ist das Undeterminierte und Undeterminierbare. Doch bezeichnet dies keine negative Eigenschaft, kein Unvermögen des Unendlichen, sondern eine positive. Es besagt, dass das Absolute in sich selbst frei ist »vom Begrenztsein durch seine eigenen Determinationen« (LD 395) und von jeder Fremdbestimmung. Wenn es erschafft, dann macht es nicht etwas Neues, sondern manifestiert das, was in ihm als der Wesentlichkeit des Wirklichen vorhanden ist, was es bereits »in Substanz und unbewegter Zuständlichkeit (status) ist«. Darum hat die Indeter98 99
Vgl. LD 398–9. OYII.T2 181.
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Transzendentes, universales und individuelles göttliches Sein
minabilität des Absoluten ihren Sinn nur »als eine unerlässliche Bedingung seiner freien unendlichen Selbstbestimmung« (LD 396). Dasselbe gilt von Statik und Dynamik, Ruhe und Bewegung. Das ruhende Bei-sich-sein ist die Basis der Bewegung. Aber dieses Bei-sich-sein kann nicht gedacht werden als Unvermögen zur Bewegung. Ein Absolutes ohne eine unendliche Energie ist undenkbar. So geht das Sein zwar immer dem Werden und der Bewegung voraus, beherrscht sie, inhäriert ihnen, aber ist nicht ohne diese. 100 Brahman ist nirguṇo-guṇī d. h. zugleich nirguṇa und saguṇa, »frei von aller Begrenzung durch Qualitäten« und »voll von unzählbar vielen Eigenschaften« (LD 396). Auch hier ist nirguṇa letztlich kein Negativum, sondern die unerlässliche Bedingung für ein freies und unendliches Sich-selbst-ausdrücken in Eigenschaft und Gestalt. Jede Qualität ist bestimmt aus dem Absoluten durch die »Real-Idee«; dennoch können wir das Absolute nicht definieren als eine bestimmte Qualität oder als die Summe von Qualitäten, obwohl es sich in den Qualitäten offenbart. Um sich aber so offenbaren zu können, muss das Absolute selbst ein Unendliches an »Qualität, Gestalt und Macht« (LD 398) sein. Dieser Gedanke müsste stets neu wiederholt werden, wenn wir von veränderlich und unveränderlich, zeitlich und zeitlos, manifest und nicht manifest, Form und Formlosigkeit, individuellem und göttlichem Sein 101 reden. Fassen wir diese Gegensätze zusammen in die Dialektik von endlich und unendlich. Sie verhalten sich wie das Prinzip des Lichtes und des Feuers zu den Sonnen. »Das Endliche ist ein frontaler Aspekt und eine Selbstbestimmung des ’Unendlichen; kein Endliches kann in sich und durch sich selbst existieren, sondern besteht durch das ’Unendliche und weil es eines Wesens mit dem ’Unendlichen ist.« (LD 401) Das Endliche ist vom Unendlichen nicht getrennt, abgeteilt, es ist nur umrissen (demarcation), durch eine Form bezeichnet. Wenn wir mit dem inneren Auge einen Baum betrachten, dann eröffnet sich uns letztlich die ganze Unendlichkeit des einen Wirklichen, welche jedes Atom und Molekül durchzieht. »So ist jeder Gegenstand dieses ’Unendliche und im wesentlichen Sein eins mit allen anderen Gegenständen, welche ebenfalls Formen und Namen – Mächte und Wesen – des ’Unendlichen sind.« Nach den Upaniṣaden
100 101
Vgl. LD 399–400. LD 403–26.
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II · Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
sehen Mathematik und Logik des Unendlichen so aus: »Dieses ist das Ganze und Jenes ist das Ganze; subtrahiere das Ganze vom Ganzen, so bleibt als Ergebnis das Ganze.« 102 Das Eine wird zum Vielen, aber indem es das Viele wird, bleibt es das Eine. »Die Schöpfung fügt nichts zum ’Unendlichen hinzu. Das Unendliche bleibt nach der Schöpfung, was es immer schon war.« (LD 402) Darum ist es nicht die Summe des Endlichen. Aber das Endliche kann seiner Herkunft und Abhängigkeit vom Unendlichen nicht entraten. Besonders interessiert uns der für unser Thema öfters benötigte Gegensatz von persönlich und unpersönlich. Auch dieser ist aufgerichtet durch unseren Verstand. Das Nicht-Bewusste, die Energie, die Natur trägt den Charakter des Unpersönlichen. Im Gegensatz dazu steht die Persönlichkeit (personality), ein begrenzter Kreis von Kräften, Eigenschaften, Energien, das begrenzte Ich (Ego). Dieses hat keinen wirklichen Bestand. Es muss überwunden werden auf die Person hinter ihm. Sie ist die All-Person, die Quelle aller Persönlichkeiten. Sie ist die eine und einzige Person. Hier hört aber der Gegensatz zum Unpersönlichen auf. Denn was wäre die Existenz ohne Existierenden, Liebe ohne Liebenden, Macht ohne Mächtigen? (LD 418–9) Īśvara und Śakti sind eine Zwei-Einheit. Wenn wir diese nun unter der Rücksicht der Person betrachten, dann zeigt sich eine duale Person, einerseits das göttliche Selbst und der Schöpfer, andererseits die göttliche Mutter und Schöpferin des Universums. Wir haben also eine Dualität von männlich und weiblich, da Māyā, Parā-Prakṛti und Cit-Śakti, kurzum die schöpferische Kraft des Gottes, seine Bewusstseins-Kraft, stets weiblich zu verstehen sind. In Gott implizieren sie sich gegenseitig, in der Welt aber ist die Doppelheit von praktischer Bedeutung für den Weg der Vollendung. Denn »wenn wir eine höhere Gestalt oder Seinsverfassung erreichen wollen, dann muss es […] durch die ’Göttliche ’Shakti […] geschehen; unsere Hingabe muss sich auf das ’Göttliche ’Wesen richten durch die ’Göttliche ’Mutter.« (LD 423) 103
Bṛhadāraṇyaka Upaniṣad I. 4. 10. Man muss natürlich den Begriff »Mutter« ebenso überhöht denken wie den Begriff »Vater« oder jeden anderen Begriff von Gott. Tut man dies, dann fällt von diesem Gegensatzpaar ein bedeutsames Licht auf die religiöse Praxis in Indien; dort wurde zwar der Kult der »Mutter« sehr oft vermenschlicht, aber das geschah auch in unserer Verehrung des Vater-Gottes. 102 103
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Zusammenfassung
Da Brahman auch die Gegensätze umfasst, ist es in eigentlicher Weise »allgegenwärtige Wirklichkeit«, das Wirkliche in allem Seienden. Als solches ist es Īśvara; denn dieser Name meint die All-Person, die alles in sich schließt und in dieser Hinsicht in Umfang und Inhalt dem Begriff Brahman gleichkommt 104. Brahman ist also nicht das absolute und allgegenwärtige Es, sondern die absolute und allgegenwärtige Person.
5
Zusammenfassung
In der indischen Philosophie, und so auch bei Sri Aurobindo, bedeutet Brahman das absolute, transzendente Göttliche Wesen. Es existiert aus sich selbst und ist unabhängig von allem Relativen. Es ist jenseits von allen Gegensätzen wie nirguṇa (ohne Eigenschaften) und saguṇa (mit Eigenschaften). Es manifestiert sich als eine Dreiheit, nämlich Sein (sat), Bewusstsein (cit) und Wonne (ānanda), in einem Wort Saccidānanda. Saccidānanda »ist wohl der schönste Name, der je für Gott geprägt wurde« (Staffner, 42). Das Sein-aus-sich-selbst (sat) zeigt sich in drei Aspekten: ātman, puruṣa und īśvara. Ātman ist das Selbst alles Seienden. Puruṣa meint das bewusste Seiende, das zuinnerst verknüpft ist mit der Natur und dadurch einen mehr persönlichen Aspekt gewinnt. Gott ist der höchste Puruṣa, der Puruṣottama. Īśvara ist der Herr und Schöpfer der Welt. Die drei Aspekte der Bewusstseins-Kraft (cit) sind māyā, prakṛti und śakti. Māyā schafft alle Dinge dem Entwurfe nach. Prakṛti führt das Schaffen in dynamischer Weise aus. Śakti »ist die bewusste Kraft des Göttlichen Wesens […]; sie schafft alle göttlichen Werke sowohl dem Entwurfe nach als auch in dynamischer Erzeugung«. Die drei Aspekte von ānanda sind Liebe, Freude und Schönheit. Brahman und Saccidānanda manifestieren sich ferner als absolute Transzendenz, als Universalität und als Individualität (transzendentes, universales und individuelles Göttliches Sein). Die Transzendenz ist eine letzte Wirklichkeit. Deshalb werden der Nihilismus des Buddhismus und der Illusionismus des Māyāvāda abgelehnt. Die Universalität ist die geistige Selbstausdehnung des Höchsten Wesens. Die Individualität bedeutet nicht eine Individuation der Natur zur
104
Vgl. LD 417.
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II · Gott und der göttliche Bereich (Parārdha)
»Ego«-Personalität, sondern eine Individuation des Geistes, nämlich jīva, puruṣa, geistiges Individuum oder individuelle Person. Die Individualität Gottes impliziert, dass Gott der Welt gegenüber nicht nur transzendent ist, sondern zugleich als immanente Gegenwart im Herzen aller Wesen wohnt.
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Kapitel III: Supermind
1
Weg zum Supermind 1
Ermöglichungsgrund für die Welt Wir haben Saccidānanda aus der Welt erkannt und gesehen, dass sie die Wirklichkeit alles Wirklichen sind. Zugleich aber sind sie mehr als dies: Sie 2 subsistieren in absoluter Transzendenz. Die transzendente Form des Existierens ist die eigentliche, die universale und die individuelle Form sind die gleichsam abgeleiteten Weisen des Wirklichseins von Saccidānanda; sie haben ihren Ermöglichungsgrund im absoluten Selbstbesitz der Transzendenz. Auf der einen Seite stellen wir also die absolute Transzendenz fest, auf der anderen Seite aber befinden wir uns in der Welt des Relativen. Das bedeutet einen wirklichen Gegensatz und eine Schwierigkeit für unseren Verstand. Zwei Fragen müssen hier gestellt werden: 1. Warum schafft die reine Existenz? Die Antwort haben wir gefunden in der reinen Freude und Seligkeit des Existierens (ānanda). 2. Wie schafft die Transzendenz? Wie wird sie aus dem Vollbesitz ihrer Einheit zur Vielheit in der Welt? Ein unendliches Bewusstsein kann doch in seinem unendlichen Wirken nur unendliche Ergebnisse hervorbringen! (LD 137) Ist nicht die Vielheit die Negation der Einheit und umgekehrt? Gelangen wir nicht notwendig zum Monismus oder Pluralismus, je nachdem ob wir die Welt zur Illusion erklären oder zwei bzw. mehrere absolute Prinzipien aufstellen? Diese Schwierigkeit verlangt nach einer Vermittlung. Der Supermind ist jener Vermittelnde zwischen AbsoHeinz Kappes, Wilfried Huchzermayer und andere übersetzen Supermind mit Supramental und Overmind mit Übermental. Wir sind der Meinung, dass damit keine bessere Verständlichkeit erreicht wird und bleiben deshalb bei den originalen Begriffen von Sri Aurobindo. 2 Maskulin Plural im Sanskrit. 1
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III · Supermind
lutem und Relativem, welcher vom Sein wie von der Logik gefordert wird. 3 Ermöglichungsgrund für die Erkenntnis Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich hinsichtlich unserer Erkenntnisweise. Unsere gewöhnliche Erkenntnisform ist der Verstand, mind. Die Erkenntnis- und Bewusstseinsweise der transzendenten Saccidānanda aber ist das in sich als Einheit versammelte Bewusstsein (unitarian Consciousness). 4 Sind diese Erkenntnisweisen nicht radikal verschieden? Kann unser begrenzter Verstand überhaupt das Absolute erreichen? Was ist der Garant seiner Richtigkeit und Geltung? Wieder lautet die Antwort: der Supermind, der ja schon im Mind wirkt und Bedingung seiner Erkenntniskraft ist. Er ist auch für den Vorgang der Erkenntnis die Vermittlung zwischen Absolutem und Relativem. Ermöglichungsgrund für ein Leben aus Gott in der Welt Schließlich setzt das Unendlichkeitsstreben des Endlichen die dreifache Ordnung: Absolutes – Supermind – Relatives voraus, weil sonst der Weg vom Endlichen zum Unendlichen unmöglich wäre. Der Supermind ist der Ermöglichungsgrund für ein göttliches Leben in der Welt (»Life Divine upon Earth«). Nur die Herabkunft des Supermind kann das Bemühen des Menschen um Aufstieg und Annäherung von Leben und Erkenntnis an seinen Seinsgrund sinnvoll machen und dann ermöglichen und vollenden. So ist der Supermind das zentrale Prinzip der Metaphysik wie des Yoga und die Rechtfertigung für eine Bejahung der Welt, die jetzt nicht mehr Illusion, sondern Werk Gottes ist. 5
LD 133–43, 145–6, 149–52, 170–1, 190–1 u. a. In KU 42–52 wird der Beweis für die Notwendigkeit des Supermind aus der Analyse der Evolution und der Begrenztheit des mind erbracht. 4 LD 151 u. a. 5 LD Vol. I. Ch. 1–3. Weitere Stellen: z. B. LD 140, 148, 189–92, 496, 807–13, 1006–8, 1168–9, 1164, 1267–8; OYI 6–7, 19, 82–4, 88, 210–1, 340–1, 373–5, 497–507; OYII. T1 90–98; S.M. 8–11, 15, 32–3, 43, 54–5, 122. 3
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Weg zum Supermind
Die Unmöglichkeit von Noumenalismus und Illusionismus Nimmt man an Stelle des Supermind als Vermittlung und als Schöpfer den Mind an, dann gelangt man notwendig in einen Noumenalismus und Illusionismus, die beide zum Nihilismus führen. 6 Für den Noumenalismus ist die Welt nur das Werk des Verstandes, des Gedankens, der Idee. Die Idee aber ist rein willkürlich und hat keine wesentliche Beziehung zu einer wirklichen Wahrheit der Existenz. 7 Für den Illusionismus ist die Welt Illusion, Māyā im späteren, negativen Sinne des Wortes. Man kann die Wahrheit nur erlangen, wenn man den Schleier der Māyā durchbricht, d. h. die Schöpfung negiert. Hier werden wieder insbesondere der Māyāvāda und der Nihilismus der Buddhisten angesprochen. Weil der Mind also nur Gedanken und Vorstellungen, nicht aber Wirklichkeiten vermittelt, darum ist er nicht das geeignete Vermögen, um den Prozess der Schöpfung und die Wirklichkeit des Kosmos zu erklären. 8 Er ist nur ein Botschafter eines größeren Bewusstseins jenseits seiner selbst. 9 Auskunft des Veda Was ist nun der Supermind? Sri Aurobindo orientiert sich zuerst am Veda. Dort wird das von ihm Gemeinte so beschrieben: Er ist eine »Ausgedehntheit (vastness) jenseits des gewöhnlichen Firmaments unseres Bewusstseins« (LD 146), »ein weites All-Umfassendes (vast all-comprehensiveness)« (LD 147), satyam, ṛtam, bṛhat (LD 139). Dort sind Erkenntnis und Sein ebenso eins wie Erkenntnis und bewirkender Wille (truth-conscious und seer-will). Die Götter sind Kräfte des Supermind. Sie sind aus ihm geboren und haben in ihm ihre Heimat. Der Supermind ist der Ort des unmittelbaren Sehens und Hörens der Wahrheit (truth-vision, truth-audition), wovon Offenbarung und Inspiration die Widerspiegelung in unserem mind sind. Auch wird bereits unterschieden zwischen umfassendem (comprehending; pervading) und erfassendem (apprehending, projecting) Erkennen. 10
LD 141–2. LD 138–9. 8 LD 140–2. 9 LD 142–3. 10 LD 146–8. 6 7
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III · Supermind
2
Der metaphysische Ort und das Wesen des Supermind
2.1 Das vermittelnde Prinzip Der Supermind ist also die notwendige Vermittlung zwischen Absolutem und Relativem. »Der obere Terminus (term above) ist das in sich einige (unitarian) oder unteilbare Bewusstsein der reinen Saccidānanda, in welchem es keine trennenden Unterscheidungen gibt« (LD 148), das Eine, welches ewig in sich stehend und unveränderlich ist, das höchste Sein, in welchem alles alles ist (all is all) (LD 137). »Der darunter befindliche Terminus (term below) ist das analytische und teilende Bewusstsein des Mind, welches nur durch Trennung und Unterscheidung erkennen und Einheit wie Unendlichkeit höchstens in einem vagen und zweitrangigen Vermögen des Er-fassens (apprehension) erreichen kann.« (LD 148)
Hier ist das Viele, ewig Veränderliche. Jedes ist in allem gleichsam als ein für sich besondertes (abgetrenntes) Seiendes, nicht aber alles in jedem (each in all, not all in each). »Zwischen diesen ist dieses umfassende (comprehensive) und erschaffende Bewusstsein; durch seine Kraft des durchdringenden (pervading) und umfassenden (comprehending) Erkennens ist es das Kind jenes Selbst-Bewusstseins durch Identität, welches der Zustand Brahmans ist; durch seine Kraft des projizierenden, konfrontierenden und erfassenden (apprehending) Erkennens ist es der Vater des Wissens durch Unterscheidung, welches den Mind charakterisiert […]. Es ist der Sitz jeder Dreiheit (of all trinities), jeder Zwei-Einheit 11 und von allem, was zum ’Vielen-in-Einem wird und doch das ’Eine-in-Vielem bleibt, weil es ursprünglich ’Eines war, das immer potentiell ’Vieles ist.«
Hier ist alles in jedem und jedes in allem (all in each and each in all). (LD 137) »Dieser mittlere Terminus (intermediary term) ist deshalb der Anfang und das Ende jeder Schöpfung […], das ’Alpha und ’Omega, der Anfang der Differenzierung, das Instrument der Vereinigung […]. Er hat die Erkenntnis des ’Einen, aber vermag die verborgene Vielheit aus der ’Einheit hervorzuholen; er manifestiert das Viele, verliert sich aber nicht in diesen Differenzierungen.« (LD 148–9)
Beispiel für Dreiheit sei Saccidānanda, für Zwei-Einheit (biune): īśvara-śakti, puruṣa-prakṛti.
11
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Der metaphysische Ort und das Wesen des Supermind
Die Verbindung zu Brahman bzw. Saccidānanda besteht darin, dass der Supermind dieses nicht in seiner absoluten und transzendenten Einheit, sondern in seiner gleichmäßig und geistig ausgedehnten Unendlichkeit ist. 12 Wir haben bereits in unserem ersten Kapitel ausführlich über die Ausgedehntheit des Geistes gesprochen. Jetzt können wir ergänzend sagen: Diese meint eine »gleichmäßig durchdringende (pervasive) Konzentration, das unteilbare Umfassen (comprehension) von allen Dingen, die universale, ungeteilte Immanenz […]. ’Brahman ist in allen Dingen, alle Dinge sind in ’Brahman, alle Dinge sind ’Brahman, das ist die dreifache Formel des Supermind.« (LD 165)
Mit der geistigen Selbst-Ausdehnung ist aber auch der Unterschied zur absoluten Transzendenz gesetzt. 13 »Saccidānanda ist rein für sich eine unteilbare Einheit. Im Supermind wird es zu dem dreieinigen Prinzip von Sein (sat), Bewusstsein (cit) und seliger Freude (ānanda). Damit erfolgt eine Differenzierung, keine Teilung. Durch die Differenzierung vermag der Supermind das eine oder andere Prinzip ›als wirksame Gottheit (Deity)‹ 14 herauszustellen; für das umfassende Erkennen enthält dieses Prinzip oder diese Kraft alle anderen in sich.« (LD 152)
Im Supermind sind Sein (Being), Bewusstsein der Erkenntnis (consciousness of knowledge) und Bewusstsein des Wollens (consciousness of will) eine einige Bewegung mit drei Aspekten der Wirkung. »Das Sein (Being) ergibt die Wirkung der Substantialität (substance), Bewusstsein die Wirkung des Erkennens […], der Wille die Wirkung der sich selbst erfüllenden Kraft.« (LD 154)
LD 152, 165, 174. Der Supermind als Vermögen der Selbstbegrenzung ist der unendlichen All-Existenz »notwendig inhärent. Das ’Unendliche wäre nicht das ’Unendliche, wenn es nicht eine mannigfache Endlichkeit annehmen könnte; das ’Absolute wäre nicht das ’Absolute, wenn es nicht in Erkennen, Kraft, Wille und Seinsoffenbarung ein grenzenloses Vermögen der Selbstbestimmung sein dürfte. Dieser Supermind ist dann die ’Wahrheit oder ’Real-Idee, inhärent aller kosmischen Kraft und Existenz, welche notwendig ist, um zu determinieren, zu kombinieren und Beziehung, Ordnung und die großen Linien der Manifestation aufrechtzuerhalten, während sie selbst unendlich bleibt.« (LD 319) 13 z. B. LD 156, 165, 172, 174 u. a. 14 »Deity meint hier eine Kraft der Gottheit oder vibhūti, die Götter des Veda. 12
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III · Supermind
2.2 Einheit von Idee und Wirklichkeit Demzufolge besteht im Supermind keine Trennung zwischen Denken und Sein, Gedanke (Idee) und Wirklichkeit (Realität). Der Supermind ist ’Real-Idee. 15 Die schöpferische Idee ist Real-Idee, eine Kraft der Conscious-Force. Sie kommt aus einem realen Seienden und bringt ein Wirkliches hervor. Weil Idee und Wirklichkeit im Supermind eins sind, können Noumenalismus und Illusionismus überwunden werden. Die wahre Philosophie ist der Real-Idealismus. 16 Die Idee ist jetzt »eine bewusste ’Wirklichkeit, welche sich selbst hinausbegibt (throwing itself into) in die veränderlichen Formen ihrer eigenen unvergänglichen und unveränderlichen Substanz. Deshalb ist die Welt kein Begriffsgebilde […]. Eine ’Wahrheit des bewussten Seins trägt diese Formen und drückt sich in ihnen aus; die Erkenntnis entspricht dieser so zum Ausdruck gekommenen Wahrheit und thront (reigns) als supramentales ’Wahrheits-Bewusstsein (Truth-consciousness) 17, indem sie Real-Ideen 18 in einer vollkommenen Harmonie organisiert, bevor sie in die Gestalt des Mentalen, Vitalen und Materiellen hineingestellt werden.« (LD 139)
»Truth-consciousness« drückt dasselbe aus wie Real-Idee. »Truth« ist die Wahrheit des Seins, »Consciousness« meint den Aspekt der Erkenntnis. Der Supermind ist das reine Wahrheitsbewusstsein. 19
2.3 Schöpfer, Herr, Gott Der Schöpfer und die Real-Idee Durch sein Vermögen, zu differenzieren, zu entwickeln, zu ordnen und abzugrenzen, zu umfassen (comprehend) und projektiv wie konfrontierend zu erfassen (apprehend), wird der Supermind zum Schöpfer (Creator). Er setzt als die allmächtige Real-Idee die unendliche LD 139, 152–4 u. a. Der Supermind ist auch das göttliche »Wort« (LD 33, 376), in welchem die Schöpfung gesprochen ist, der Logos (z. B. OYI 909). 16 LD 139. Wir werden durch diese Aussage an die Einheit von Metaphysik und Logik bei Hegel erinnert. Vgl. auch Maitra, The Meeting of the East and the West in Sri Aurobindo’s Philosophy, 243–78. 17 Sri Aurobindos Anmerkung bezieht das Truth-Consciousness auf das ṛta-cit (= Wahrheits-Wissen) des Ṛg-Veda. 18 Die real-ideas (klein!), gleichbedeutend mit svabhāva jedes Seienden, meinen die Vielheit, während der Supermind die ’Real-Idee schlechthin ist. 19 LD 139, 147–8, Vol. I, Ch. XV u. a. 15
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Der metaphysische Ort und das Wesen des Supermind
Möglichkeit (infinite potentiality) 20 durch seine ordnende Erkenntnis (ordering self-knowledge) um in konkrete, fest bestimmte Wirklichkeiten. Er erkennt und schafft damit fest bestimmte Real-Ideen (realideas: klein!), welche der Ursprung und das Eigensein (svabhāva) wie das Gesetz (svadharma) von jedem Seienden sind. 21 Dieses innere Gesetz bestimmt jedes Seiende auch in seinem äußeren Tun und Sich-Entwickeln 22, bleibt aber eingebettet in das universale Gesetz der ganzen Natur (LD 164). »Diese Entwicklung und dieses Fortschreiten der Welt entsprechend einer ursprünglichen Wahrheit ihres Eigenseins impliziert eine Aufeinanderfolge der ’Zeit, eine Beziehung im ’Raum und eine geregelte Interaktivität aufeinander im ’Raum bezogener Dinge, welcher der Aufeinanderfolge der ’Zeit den Aspekt der ’Kausalität verleiht.« (LD 157–8)
Der Supermind schafft die Welt von Raum und Zeit. »’Zeit und ’Raum sind das eine ’Bewusste-’Seiende, welches sich selbst in der Ausdehnung erblickt, und zwar subjektiv als ’Zeit, objektiv als ’Raum.« (LD 158) In dieser phänomenalen Raum-Zeit-Welt verwirklichen sich die »real-ideas«. Der Herr Als Schöpfer des Eigenseins (svabhāva) und Eigengesetzes (svadharma) enthält der Supermind alles Seiende in seinem Bewusstsein und »durchdringt es als einwohnende ’Gegenwart (Presence) und sich selbst enthüllendes ’Licht. Er ist gegenwärtig, obgleich verborgen, in jeder Form und Kraft des Universums.« (LD 160) Er bestimmt und lenkt jedes Seiende entsprechend dem Gesetz und der Kraft, welche er ihm in dessen »Geburtsstunde« mitgegeben hat. So kann verstanden werden, dass er als »Herr im Herzen aller Wesen wohnt« (Lord in the heart of all existences) (LD 161). Dieser Herr aber ist der Īśvara. In Hinsicht auf die »Existenzseite« kann man deshalb sagen: Der Supermind ist in seiner höchsten Form Īśvara, der Herr. 23
20 21 22 23
Vgl. die Possibilienlehre der Scholastik. LD 139, 152–3, 157, 161, 208, 372–3 u. a. LD 160, 171. Vgl. OYI 911.
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III · Supermind
Der Gott Der Supermind ist nicht das Göttliche Wesen »in seinem absoluten Existieren-aus-sich-selbst, sondern in dessen Wirken als ’Herr und ’Schöpfer seiner eigenen Welten. Das ist die Wahrheit dessen, was wir als ›God‹ bezeichnen.« (LD 156) Dieser »God« ist notwendig allwissend, all-gegenwärtig und allmächtig. 24 Das folgt aus dem vorher Gesagten. Der metaphysische Ort des Supermind ist also die Vermittlung zwischen Absolutem und Relativem in Sein und Erkenntnis. Īśvara und Jīvātman im Verhältnis zum Supermind Der Supermind als Form der Erkenntnis und der Bewusstseins-Kraft kommt in eigentlicher Weise Īśvara, nicht dem Jīvātman zu. Der Mensch muss erst zur supramentalen Natur aufsteigen. In seinem Wesen ist der Jīvātman zwar eins mit dem Unendlichen, »aber in seinem dynamischen Ausdruck muss er sich bestimmen und individualisieren entsprechend der Weise, in welcher sich der transzendente und universale ’Geist (Spirit) im ’Jīva auszudrücken sucht.« (OYI 911) Der Īśvara ist eins mit dem Supermind per essentiam, der Jīvātman per participationem. 25
3
Dreifaches Wirken und dreifacher Zustand des Supermind
Wir unterscheiden im Supermind das comprehending (umfassend) und das apprehending (erfassend) Consciousness. Die entsprechenden Weisen des Selbst sind das »universal Divine« (Kosmisches Selbst, ātman) und das »individual Divine« (Jīvātman, geistiges Individuum). 26 Der dritte Zustand ist die Aufteilung in die vielen Seienden, wobei immer noch die Einheit gewahrt bleibt.
24 25 26
LD 172–3. OYI 565, 877–8, 880, 904–5, 911. LD 174–5.
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Dreifaches Wirken und dreifacher Zustand des Supermind
3.1 Das um-fassende Bewusstsein Das um-fassende Bewusstsein muss unterschieden werden vom »unitarian Consciousness« der in sich versammelten, transzendenten Saccidānanda. Es ist vielmehr »eine gleichmäßige Selbstausdehnung der Saccidānanda, als welche sie alles umfassen, alles besitzen, alles erstellen«, alles durchdringen. 27 Weil die Bewusstheit gleichmäßig über alles ausgedehnt ist, gibt es keine Zentrierung und deshalb auch keine Individualisation. Alles ist in Einheit Form des Göttlichen Bewusstseins und in keiner Weise getrennte Existenz. Es gibt hier keine Unterscheidung zwischen Bewusster Seele und Bewusster Kraft (LD 174). Ebenso sind Erkennender, Erkenntnis und Erkanntes grundlegend eins (LD 162). Weil dieses Bewusstsein »alle Dinge im Sein und in statischer Selbst-Helle (self-awareness) als subjektiv, zeit- und raumlos umfasst, darum umfasst es diese auch in dynamischer Erkenntnis und lenkt (governs) ihre objektive Verleiblichung (self-embodiment) in ’Raum und ’Zeit« (LD 162). Die Ausgedehntheit dieser »gleichmäßig durchdringenden Konzentration« ist das »nicht-zerteilte Umfassen aller Dinge«, die »universale, nicht verteilte Immanenz« (LD 165). Deshalb ist das umfassende Bewusstsein der Ort des »universal Divine«, des »kosmischen Selbst« oder Atman. 28
3.2 Das er-fassende Bewusstsein Das zweite und von dem ersten abgeleitete Vermögen des Supermind ist »seine Kraft des projizierenden (projecting), konfrontierenden (confronting) und erfassenden (apprehending) Bewusstseins, in welchem das Erkennen Zentren bildet und von seinen Werken Abstand nimmt, um sie zu beobachten«. 29 Die Bildung von Zentren ist im Gegensatz zur gleichmäßigen Konzentration des Umfassens eine ungleichmäßige, gleichsam auf Schwerpunkte verteilte Konzentration, welche der Anfang der Selbst-aufteilung ist (LD 166). Jetzt ergibt sich eine Unterscheidung in Erkennenden und Erkenntniskraft, Selbst
LD 147, 162. LD 174–5, 405–8 u. a. 29 Als Sanskrit-Terminus für das Er-fassende Bewusstsein nennt Sri Aurobindo prajñāna (LD 168,195). 27 28
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III · Supermind
und Māyā. 30 Aber es ist nur eine Unterscheidung, noch keine Trennung. Die Einheit bleibt das grundlegende Element. »In jedem Namen und in jeder Gestalt verwirklicht sich das Göttliche Bewusstsein [im Text: it] als das statische (stable) ’Bewusste-’Selbst, als dasselbe in allen; aber zugleich verwirklicht es sich als eine Konzentration des ’Bewussten-’Selbst, indem es dem individuellen Spiel der Bewegung folgt, es unterstützt und es aufrechterhält in seiner Verschiedenheit von einem anderen Bewegungsspiel; so ist es überall dasselbe in dem Wesen der Seele (soul essence), aber verschieden in der Form der Seele (soul-form). Diese Konzentration, welche die ›soul-form‹ trägt, ist das ›individual Divine‹ oder Jīvātman in seiner Unterschiedenheit vom ›universal Divine‹ oder dem einen, alles erstellenden Selbst.« (LD 175)
So ist die dem erfassenden Bewusstsein zugeordnete Weise des Selbst das »individual Divine«, die individuelle »soul-form«, der Jīvātman.
3.3 Vielheit in der Einheit Damit ist der Anfang gemacht für einen weiter fortschreitenden Prozess der Differenzierung und Individualisierung. Das Selbst (puruṣa) steht nicht nur seiner Bewusstseinskraft (śakti, prakṛti) gegenüber. »Es begleitet sozusagen seine ’Bewusstseinskraft in ihre Werke hinein und reproduziert dort den Akt der Selbst-Teilung […].« (LD 166) Die Bewusstseinskraft steht jetzt nicht mehr über der Bewegung, sondern wird gewissermaßen in die Bewegung involviert. War im vorherigen Zustand noch die Einheit vor der Vielheit, so wird jetzt die Individualität für das Individuum mehr betont als die Universalität. In der Beziehung zum Universalen und zu den anderen Individuen ist die völlige Einheit (utter unity) nicht mehr die dominante und grundlegende Erfahrung, sondern nimmt bloß noch den Charakter einer Begleiterscheinung an (supreme accompaniment). »Diese dritte Seinsweise ist deshalb eine Art von grundlegendem, beseligendem Dualismus in der Einheit, – nicht mehr eine Einheit, welche abgewandelt wird durch einen untergeordneten Dualismus […].« Dementsprechend liegt jetzt beim »individual Divine« nicht mehr so sehr der Ton auf »Divine«, sondern eher auf »individual«. Obwohl es dem Wesen nach dasselbe ist, sprechen wir jetzt doch besser vom »spiritual individual« (im Gegensatz zur bloßen 30
LD 166, auch 195, 283.
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Zusammenfassung
raum-zeitlichen Individualität), vom caitya 31-puruṣa oder psychischen Wesen. Dieser Seinszustand liegt noch vor der Unwissenheit (Ignorance, Avidyā) und gleitet auch nicht notwendig in diese ab. »Denn das ›individual Divine‹ weiß sich noch als das Ergebnis des ’Einen und dessen Kraft der bewussten Selbst-Schaffung (self-creation), das heißt: dessen vielfacher Selbstzentrierung […]; das wahre geistige Individuum maßt sich keine unabhängige oder getrennte Existenz an.« Hingegen ist das Unwissen dadurch gekennzeichnet, dass es »das ’Viele für die wirkliche Tatsache der Existenz hält und das ’Eine nur als kosmische Summe des ’Vielen in den Blick bekommt.« (LD 176) Mit diesem dritten Zustand endet gleichsam die »Seinsebene« des Supermind. 32
4
Zusammenfassung
Der Supermind ist das vermittelnde Prinzip zwischen dem Absoluten und dem Relativen, und zwar sowohl für die Schöpfung als auch für die Erkenntnis und für die Ermöglichung eines Lebens aus Gott in der Welt. Im Supermind gibt es keine Trennung zwischen Idee und Wirklichkeit. Der Supermind ist Real-Idee, reines Wahrheitsbewusstsein. Als Schöpfer (Īśvara) setzt er die Real-Idee in konkrete Wirklichkeiten um und schafft fest bestimmte Real-Ideen, welche der Ursprung und das Eigensein (svabhāva) wie das eigene Gesetz (svadharma) von jedem Seienden sind. Der Supermind wirkt in dreifacher Weise: Als umfassendes Bewusstsein ist er erstens die »gleichmäßige Selbstausdehnung der Saccidānanda« (universal Divine). Als er-fassendes Bewusstsein bildet er zweitens Zentren der Konzentration der Bewusstseins-Kraft (individual Divine). Wenn drittens die Individualisierung weiter fortschreitet, dann liegt der Schwerpunkt nicht mehr in der Einheit des göttlichen Seins, sondern beim Individuum. Dieses spiriCaitya bedeutet individuelle Seele und wird auch von Sri Aurobindo in diesem Sinn verwendet; z. B. LD 269. 32 In umgekehrter Reihenfolge vollzieht sich die dreifache Transformation: 1. Hervorkommen des psychischen Wesens (psychische Transformation). 2. Realisierung des kosmischen Selbst und der erfassenden wie umfassenden Wahrheitsschau (spirituelle Transformation). 3. Erkenntnis des Höchsten Wesens als transzendent, universal und individuell, von welchem wir als psychisches Wesen nur ein ewiger Teil, aṃśa sanātana (OYI 880), sind (LD 750–1). Siehe auch Glossar. 31
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III · Supermind
tuelle Individuum (caitya-puruṣa oder psychisches Wesen) befindet sich aber noch nicht in der Unwissenheit, sondern weiß sich noch als göttliches Geschöpf und maßt sich keine von Gott unabhängige Existenz an.
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Kapitel IV: Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
1
Die niedrigere Hemisphäre (aparārdha)
1.1 Die weitere Bewegung des Bewusstseins Aus der unteilbaren und in sich versammelten Einheit der unendlichen, transzendenten Saccidānanda sind auf dem Wege über die umfassende Ausgedehntheit und die Bildung von Zentren der Konzentration des Bewusstseins die geistigen Individuen entstanden. Diese Individuen existieren noch nicht als besonderte Wesen, sondern wissen noch lebendig um ihren Ursprung und um die Einheit mit allen anderen (each in all and all in each). Doch hier bleibt die Entfaltung 1 nicht stehen. Der Prozess der Zerteilung und Verlagerung des Schwerpunkts innerhalb der einen Bewusstseins-Kraft geht weiter. »Denn wenn jedes Prinzip, welches zum Wirken freigesetzt wurde (loosed into action), seine unabhängige Linie verfolgen und diese bis zu den endgültigen Konsequenzen austragen muss«, dann muss dies auch für das Prinzip der Trennung gelten; »das ist das unvermeidliche Herabsteigen, facilis descensus, welchem das ’Bewusstsein folgt, sobald es das trennende Prinzip zulässt, und zwar so weit folgt, bis es durch die verdunkelnde Bildung von unendlich kleinen Bruchstücken, tucchyena 2, in den Bereich der materiellen Unbewusstheit eintritt«. (LD 340–1)
Die exklusive Konzentration der Bewusstseins-Kraft Das Prinzip der Trennung ist grundlegend dasselbe wie das Prinzip der Bildung von Zentren der Bewusstseins-Konzentration. Die Trennung schreitet weiter fort, wenn die individualisierte Seele nicht mehr das Allgemeine im Auge hat, sondern primär alles vom eigenen 1 2
Vgl. die explicatio bei Nikolaus von Cues. Rig-Veda, X. 129–3.
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
Standpunkt und unter Ausschluss aller anderen Standpunkte sieht; sie schreitet weiter fort »durch eine exklusive Konzentration des Bewusstseins 3, durch eine exklusive Selbst-identifizierung mit einem besonderen Tun in Zeit und Raum, welches nur ein Teil ihres eigenen Spiels des Seins ist« (LD 199). Die Exklusivität der Konzentration ist der Ursprung der Unwissenheit 4 (Ignorance, Avidya). Die grundlegende Einheit der Seele mit allen anderen entschwindet dem Blick. »Sie konzentriert sich auf den Moment […], die Form, die Bewegung so, dass sie alles Übrige aus den Augen verliert; sie muss dann das Übrige wiederentdecken, indem sie wieder miteinander verbindet die Aufeinanderfolge der Momente, der ’Raumpunkte, der Formen in ’Zeit und ’Raum, der Bewegungen in ’Zeit und ’Raum. Sie hat so die Wahrheit von der Unteilbarkeit der ’Zeit, der ’Energie (Force) und der ’Substanz verloren. Sie sieht nicht einmal mehr die in die Augen springende Tatsache, dass alle ›minds‹ ein einziger ›Mind‹ sind, welcher verschiedene Standpunkte einnimmt, dass alle Einzelleben das eine ’Leben sind, welche viele Ströme des Wirkens entfaltet, dass alle Einzelkörper (body) und -formen die eine Substanz von ’Energie (Force) und ’Bewusstsein (Consciousness) sind, welche sich zu vielen scheinbar stabilen Formen von Energie und Bewusstsein entwickelt.« (LD 199–200)
Unwissenheit Die Unwissenheit schafft nichts Neues oder absolut Falsches, sie verstellt nur die Wahrheit, indem sie das Zentrum des Bewusstseins verkehrt. 5 »Aber wenn die ’Bewusstseins-Kraft durch eine exklusive Konzentration auf ’Kraft (Force) und ’Form (Form) im Bereich des Phänomenon (phenomenally) ’Bewusstsein und ’Kraft zu trennen scheint, wenn sie das Bewusstsein ›absorbiert‹ in einem blinden Schlaf, verloren in ’Form und ’Kraft, dann muss sich das ’Bewusstsein zu sich selbst zurückkämpfen durch eine bruchstückhafte Evolution, welche notwendig Irrtum mit sich bringt. Dennoch sind auch diese Dinge keine Illusionen, welche aus einer ursprünglichen ’Nicht-Existenz entstanden sind; sie sind sozusagen die unver-
Die exklusive Konzentration des Bewusstseins entspricht dem Sanskritwort Tapas. Definition der Unwissenheit »als in ihrem wesentlichen Charakter ausschließliche Konzentration auf eine Bewegung und einen Zustand des ’Bewussten ’Seienden, welche alles übrige Bewusstsein und Sein in den Hintergrund stellt und vor der partiellen Erkenntnis dieser einen jetzigen Bewegung verhüllt« (LD 325). 5 LD 202–4, 343. 3 4
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Die niedrigere Hemisphäre (aparārdha)
meidbaren Wahrheiten einer Welt, welche aus der ’Unbewusstheit geboren ist.« (LD 343)
Weil die Unwissenheit die vollständige Trennung des einen vom anderen bewirkt, muss sich das Bewusstsein ein neues Mittel der Erkenntnis erschaffen: Sinne und Verstand. Das unmittelbare identische Erkennen braucht infolge der Partikularisierung die äußere Berührung, den sinnlichen Kontakt, um wieder ein bescheidenes Maß an Einheit herzustellen, welche allein zur Erkenntnis und zum wahren Sein zurückführen kann. Die Un-Bewusstheit Am Endpunkt der Entäußerung des Bei-sich-selbst-seienden Seins in die partikularisierte phänomenale Wirklichkeit durch die exklusive Konzentration steht das Unbewusste. »Das ’Unbewusste (Inconscience) ist eine umgekehrte Reproduktion des höchsten Überbewussten (superconscience): es verfügt über dieselbe Absolutheit des Seins und Automation des Wirkens, aber in einer weiten, eingehüllte Trance: es ist ein in sich selbst hineinverlorenes Sein, eingetaucht in den eigenen Abgrund der Unendlichkeit.« (LD 654) 6
Prakṛti weiß nicht mehr um den Puruṣa, die Natur hat ihr bewusstes Selbst vergessen, obwohl dieses Selbst verhüllt anwest. Im Unbewussten (Inconscience) wird die Unwissenheit (Ignorance) zum vollkommenen Nicht-wissen (Nescience). Von der göttlichen (Vidyā) zur niedrigeren (Avidyā) Māyā Die niedrigere Māyā entsteht aus der göttlichen, ist in dieser enthalten. 7 Die göttliche Māyā ist zuerst das Bewusstsein und die Kraft der transzendenten, universalen und individuellen Saccidānanda (oder Brahman). 8 Als Zweites hat sie das Vermögen der Selbstbegrenzung und Selbstdeterminierung in kosmischer und individueller Weise; in dieser Selbstbegrenzung ist sie die Grundlage des Universums und des Individuums. 9 Drittens vermag das Unendliche Bewusstsein sich 6 7 8 9
Ferner LD 650–5. LD 194, 408. LD 405–6. LD 406–8.
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
»selbst zu absorbieren (self-absorption, plunging into itself) […] in einen Zustand, in welchem es Selbst-Wissen gibt, aber nicht als Erkennen und nicht als All-Erkennen; […] das innere Bewusstsein ist hineinverloren in reines Sein (pure being).« (LD 408) Diese Selbstverlorenheit in das Existieren hinein hat zwei Pole: den leuchtenden des Überbewusstseins (Superconscience) und den dunklen der Unbewusstheit (Inconscience). Zwischen diesen beiden Polen liegen die verschiedenen Grade der Bewusstheit dieser endlichen Welt: Mind, Leben und Materie. Das Bewusstsein hat sich gleichsam in zunehmendem Maße, bis zur völligen Unbewusstheit in der Materie, involviert; diese Involution macht erst den Aufstieg zum Überbewussten möglich auf dem Wege der Evolution.
1.2 Die Welt Dem einig in sich versammelten Bewusstsein (unitarian Consciousness) entsprechen die transzendenten Saccidānanda, dem umfassenden Bewusstsein das »universal Divine« (kosmische Limitation) (LD 407), dem erfassenden Bewusstsein das »individual Divine« (geistiges Individuum). Die ausschließliche Konzentration der Bewusstseins-Kraft aber hat ihre Entsprechung in der phänomenalen Welt von Raum, Zeit und Kausalität und in der Egoität des Individuums. Welt an sich und phänomenale Welt Die Welt an sich (World in itself) ist ewig (LD 121). Ihr geistiger Grund ist die kosmische Limitation des Unendlichen Bewusstseins (LD 407). Ihr Selbst ist der Atman (LD 411), das »universal Divine«. 10 Aber ihre konkrete, phänomenale Gestalt (a given world 11) ist raumzeitlich. Die phänomenale Gestalt ist jedoch kein Phantasieerzeugnis. »Das Phänomenon ist die substantielle Form einer Wahrheit.« (LD 40) In der phänomenalen Welt spiegeln sich Saccidānanda: hinsichtlich Sat ist es die Wirklichkeit der Welt, hinsichtlich Cit ist die Welt Spiel der Prakṛti, der durchführenden Kraft (executive Force), hinsichtlich Ānanda ist die Welt Līlā, Spiel des Höchsten Wesens: »Er 10 11
LD 174–5. LD 407, vgl. 121.
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Die niedrigere Hemisphäre (aparārdha)
[Saccidānanda] selbst ist das Spiel, Er selbst der Spieler, Er selbst der Spielplatz.« (LD 122) Raum, Zeit und Kausalität Wir haben bereits gesehen, dass das svabhāva jedes individuellen Seienden zu seiner weiteren Entfaltung »der Aufeinanderfolge der ’Zeit, der Beziehung im ’Raum und der geregelten Interaktion auf einander im Raum bezogener Dinge« bedarf. Die Aufeinanderfolge in der Zeit und die Beziehung im Raum geben »den Aspekt der ’Kausalität. Für den Metaphysiker haben ’Raum und ’Zeit nur eine begriffliche, keine wirkliche Existenz; aber da alle Dinge […] Gestalten sind, welche das ’Bewusste ’Seiende in seinem eigenen Bewusstsein annimmt, ist diese Unterscheidung von geringer Bedeutung. ’Zeit und ’Raum sind das eine ’Bewusste ’Seiende, welches sich selbst in Ausdehnung sieht, und zwar subjektiv als ’Zeit, objektiv als ’Raum.« (LD 157–158)
Raum und Zeit sind »die grundlegenden Bedingungen des ’Geistes selbst, welche in Entsprechung zum Zustand des Bewusstseins, in welchem sie sich offenbaren, eine jeweils verschiedene Erscheinungsweise annehmen« (LD 429). Sie sind »die ursprüngliche geistige Ausdehnung […]. Subjektivität und Objektivität sind nur zwei Seiten des einen Bewusstseins […]. In seiner grundlegenden Wahrheit ist der ursprüngliche Status der ’Zeit hinter all ihren Variationen nichts anderes als die Ewigkeit des ’Ewigen, gerade so wie die grundlegende Wahrheit des ’Raumes […] die Unendlichkeit des ’Unendlichen ist.« (LD 430) 12 »Unsere mentale Schau dieser beiden Kategorien ist bestimmt durch die Idee des Maßes […]. Für den Mind ist die ’Zeit eine bewegliche Ausdehnung, welche gemessen wird durch die Aufeinanderfolge des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen […]. Der ’Raum ist eine stabile (stable) Ausdehnung, welche durch die Teilbarkeit der Substanz gemessen wird.« (LD 158)
Für den analytischen Mind ist deshalb das Maß der Zeit das Ereignis, das Maß des Raumes die Materie. Vgl. auch LD 196. Es ist für den Verlauf dieser Arbeit nicht von Bedeutung, die Erörterung von Raum und Zeit bis in die letzten Einzelheiten zu verfolgen, wie z. B. die Unterschiede zwischen Eternity, Time-Eternity und Time oder »physical« und »spiritual Space«. Vgl. u. a. LD 426–32.
12
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Von hier aus können wir wieder den Bogen zurückschlagen zu unserer Feststellung, Raum und Zeit seien grundgelegt im Ewigen. »Es ist möglich für den reinen Verstand (pure mentality), von der Bewegung des Ereignisses und der Disposition der Substanz abzusehen und die reine Bewegung der ’Bewusstseins-Kraft zu realisieren, welche ’Raum und ’Zeit konstituiert; Raum und Zeit sind dann nur zwei Aspekte der universalen Kraft des ’Bewusstseins […]. Für ein noch höheres Bewusstsein als unseren Mind«,
welches Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schaut, ohne selbst in ihnen enthalten zu sein, »würde sich die ’Zeit wohl als eine ewige Gegenwart darbieten. Demselben Bewusstsein, welches nicht an einem besonderen ’Raumpunkt stünde, sondern alle Punkte und Regionen in sich enthielte, würde sich der ’Raum als subjektive und unteilbare Ausdehnung zeigen – nicht weniger subjektiv als die ’Zeit.« (LD 158)
Diese Form des Bewusstseins ist letztlich die geistige Ausgedehntheit der Saccidānanda, in welcher wir den Supermind angesetzt hatten. Die Kausalität ist für unseren Verstand jenes Zueinander von physikalischer bzw. äußerer Bedingung und Bedingtem. In Wahrheit leben alle Wesen aus und durch svabhāva. Diese Wesen aber leiten sich als Real-Ideen auf die eine ’Real-Idee zurück, welche der Supermind ist. Der Supermind hat das Gesetz der Wesen entworfen und lenkt diese Wesen durch ihr eigenes Gesetz. Deshalb ist »der wahre Name für ’Kausalität das ’Göttliche ’Gesetz« (LD 171). Weil Raum hingeordnet ist auf Substanz und weil es eine aufsteigende Reihe von Substanz gibt, darum gibt es auch eine Stufenfolge der Räumlichkeit. Der »reinen Substanz« entspricht die »reine geistige Selbstausdehnung«. Dasselbe gilt entsprechend von Zeit und Kausalität. Die Zeit hat ihre reine Form nicht im Nacheinander, sondern »überhalb« des Nacheinander in der ewigen Gegenwart der Ereignisse im umfassenden Bewusstsein. Kausalität findet ihr reines Wesen in svabhāva, dem individuellen Zentrum in der Parā-Prakṛti. Egoität Die Endlichkeit des Universums von Raum, Zeit, Kausalität und Unwissenheit kann also nirgends die Herkunft vom göttlichen Urheber verleugnen, obwohl das aktuelle Wissen darum entschwunden ist. Dasselbe gilt von der Egoität. Das Ich ist ein Ergebnis der ausschließ104 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Die niedrigere Hemisphäre (aparārdha)
lichen Konzentration der Bewusstseins-Kraft. »Die Natur des Ego ist eine Selbst-Begrenzung des Bewusstseins durch ein willentliches Unwissen von allem Übrigen und dessen ausschließliche Absorption in eine Form, eine Kombination von Bestrebungen und ein Feld der Bewegung von Energien.« (LD 69) So wird das Ego zum Zentralisationspunkt der Tätigkeiten der Natur und zur Grundlage für das Vermögen, sich selbst von allem Übrigen zu unterscheiden. (LD 436) In einer rein metaphysischen Betrachtung ist das Ego sinnvoll. Es ist der entscheidende Faktor, welcher es im evolutiven Prozess möglich macht, dass das Eine als die bewussten Vielen aus der unbestimmten und formlosen Totalität der un- oder unterbewussten Natur auftaucht. Von hier aus ist der weitere Weg zum wahren Individuum möglich. »Wir haben dann die Manifestation des göttlichen ’Bewussten ’Seienden in der Gesamtheit der physischen ’Natur als die Grundlage menschlicher Existenz im materiellen Universum.« (LD 70) Schließt sich aber das Ich willentlich ab von seinen ontischen Bezügen und Grundlagen, dann wird sein eigentlicher Sinn entstellt. Der Egoismus des in die bloße Eigenliebe verkapselten und mit der äußeren Erscheinung identifizierten Ich wird zur Ursache von verfälschender Unwissenheit und Begierde (desire). Aus dieser Sicht ergibt sich im Gegensatz zum späteren Vedānta nicht die Notwendigkeit, das Ich zu zerstören, um die Wahrheit zu erkennen. Das Ich muss nur wieder die Offenheit zu seinem es tragenden und hervorbringenden Grund zurückgewinnen. Dann ist es ein wichtiges Glied in der Gesamtheit des Wirklichen und im evolutiven Prozess. 13 Die Negativa: Unwahrheit, Irrtum, Unrecht und Übel Unwissenheit (Ignorance), Ich-Verhaftung (Egoismus), Begierde (desire) und Schwierigkeiten im evolutiven Prozess bringen in ihrem Zusammenwirken jene Negativa hervor, die uns als Unwahrheit (Falsehood), Irrtum (Error), Unrecht (Wrong) und Übel (Evil) 14 begegnen. Die Negativa wurzeln nicht direkt in der höchsten Wirklichkeit, sie sind nicht absolut, sondern »ein Nebenprodukt der Weltbewegung« (LD 712). Sie
Vgl. LD 61–71. Das Übel ist manchmal im Sinn von »moralisch böse«, meistens aber als physisches Übel zu verstehen.
13 14
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
»würden nicht existieren, wenn in uns eine integrale Gegenwart des leuchtenden ’Bewusstseins und die göttliche ’Kraft eines integralen ’Seins gegenwärtig wären. Deshalb ist die Beziehung von wahr zu falsch, von gut zu böse nicht die einer gegenseitigen Abhängigkeit, sondern hat die Art eines Widerspruchs wie der von Licht und Schatten; ein Schatten braucht das Licht für sein Vorhandensein, aber Licht braucht keinen Schatten, um sein zu können.« (LD 714)
Wie entstehen die Negativa? Im evolutiven Prozess muss sich das in die Unbewusstheit eingetauchte Bewusstsein langsam und tastend hervorarbeiten. Es muss sich einen Weg bahnen durch die über ihm liegenden Schichten des Physischen, Vitalen und Mentalen. Dieses Auftauchen vollzieht sich aber in einer durch das »Ego« besonderten Form. Das »Ego« wird in den Kampf mit der Trägheit seiner unbelebten Umgebung hineingestellt. Das Ergebnis ist ein Anwachsen einer sich selbst behauptenden vitalen und physischen Individualität. Der auftauchenden Bewusstheit steht vorläufig nur der »mind« mit seinen begrenzten Vermögen zur Verfügung. Der »mind« macht einerseits den Instinkt unsicher, andererseits kann er noch nicht zur Harmonie des Geistes vordringen. Probieren und Irrtumsmöglichkeit sind deshalb die notwendige Folge. Wenn nun die Unsicherheit des »mind« ergänzt wird durch das »Ego«, das sich selbst behaupten muss, dann wird leicht nach eigenem Vorurteil Wahres und Falsches ausgewählt, festgelegt. Das ist der mögliche Entstehungsort der Unwahrheit (Falsehood). Das bei der Erkenntnis wirkende Gesetz gilt auch für Wille und Handlung. Die vitale Persönlichkeit will sich selbst behaupten. Sie weist die Ratschläge, welche sie aus dem inneren Bewusstsein empfängt, für ihr Handeln zurück, versteht sie falsch und folgt den vitalen Impulsen. Das bringt Selbstbehauptung und Besitzgier mit sich. Die Folgen sind Gewalt, Intoleranz und Ungerechtigkeit. 15 »Ein begrenztes Bewusstsein, welches aus dem Nicht-Wissen (nescience) herauswächst, ist die Quelle des Irrtums, ein persönliches Verhaftetsein an die Begrenzung und den aus dieser geborenen Irrtum ist die Quelle der Unwahrheit, ein falsches Bewusstsein, das vom vitalen Ich beherrscht wird, ist die Quelle des Übels und des Bösen.« (LD 742) 16
15 16
LD 739–41. Zum Ganzen LD Vol. II, Part I, Ch. 14; OYII.T1 28–30.
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Mind – Leben – Materie
Die Negativa haben ihren Ursprung nicht im Absoluten, sondern in Fehlformen und falschen Kombinationen von Evolution, Un-Wissenheit, Egoität und Verlangen. Diese werden in ihrer Begrenztheit absolut genommen; der Blick auf das Ganze geht verloren. Darum kann eine Heilung und Überwindung nur durch eine neue Integration erfolgen: Das Begrenzte und Geteilte muss wieder den Bezug zum Ganzen gewinnen und sich von daher bestimmen lassen, das FremdSelbst muss wieder erkannt werden als das Andere-seiner-selbst, mit welchem das eigene Selbst im einen, wesentlichen Selbst alles Seienden geeint ist. Stehen sie in diesem Bezug zum Ganzen, dann sind die möglichen Anlässe zur Entstehung der Negativa, nämlich Unwissenheit, Evolution, Egoität und Verlangen, selbst Positiva. Ohne die Un-Wissenheit 17 wäre die Manifestation unserer Welt unmöglich. Wenn der Mensch nur in seinem subliminalen Selbst lebt, dann kann keine separate Handlung, keine »personality« entstehen. Um die zeitliche Individualität im Kosmos zu verwirklichen, muss sich der Mensch zunächst abschirmen gegen das Licht des Unendlichen. Die Unwissenheit ist notwendig für den Zyklus des Sichselbst-Vergessens und der Selbstentdeckung. Ohne sie wären Involution und Evolution nicht denkbar. Deshalb ist sie kein Übel, sondern eine göttliche Möglichkeit (opportunity). »Aus der ’Materie einen Tempel des ’Göttlichseins (Divinity) zu schaffen, scheint der Auftrag zu sein, der dem in die materielle Welt hineingeborenen Geist auferlegt ist.« (LD 704)
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Mind – Leben – Materie
Das phänomenale Universum, Raum, Zeit, Kausalität und schließlich Ego, haben wir kennengelernt als das Ergebnis der weiteren Zentralisierung, Individualisierung und Zerteilung der Bewusstseins-Kraft bis hin zur ausschließlichen Konzentration. Das Universum ist nun geschaffen durch »ein vierfaches Prinzip des göttlichen Wesens, – die Existenz, die Bewusstseins-Kraft, die Seligkeit (Bliss) und den Supermind.« (LD 262) Der untergeordnete Terminus des Supermind ist der Mind. Die göttliche Bewusstseins-Kraft drückt sich aus in ihrem untergeordneten Terminus Leben. Die göttliche All-Existenz manifesWas hier von der Unwissenheit gesagt wird, gilt im Wesentlichen auch für Egoität, Evolution und Verlangen.
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
tiert sich in ihrem untergeordneten Terminus Substanz oder Materie. Das Prinzip der göttlichen Seligkeit hat ihr untergeordnetes Prinzip in der Seele oder dem psychischen Wesen. 18 Wir betrachten jetzt drei der vier Termini nach ihrem Wesen, nämlich Mind, Leben und Materie. Von der Seele als dem vierten untergeordneten Prinzip werden wir im Zusammenhang mit dem siebenfachen Akkord des Seins und im Kapitel V handeln.
2.1 Mind und Erkenntnislehre Der allgemeine Begriff »Mind« Das Wort Mind ist schwer ins Deutsche übersetzbar. Es entspricht am besten dem »mens« im Lateinischen. Mind bezeichnet nicht nur den Verstand des gewöhnlichen Menschen, sondern auch Wollen und Fühlen. Wegen dieser schlecht übersetzbaren Bedeutungsbreite soll weiterhin der englische Terminus gebraucht werden. Wie von allen anderen »Prinzipien«, gilt auch hier: mind (kleingeschrieben) ist das konkrete, realisierte Vermögen, Mind der universale Begriff und das wirkende Prinzip.19 »Mind ist seinem Wesen nach ein Bewusstsein, welches misst, begrenzt, Dingformen vom unteilbaren Ganzen herausschneidet und diese umfasst, als wäre jede von ihnen ein gesondertes Ganzes […]. Er bildet Begriffe (conceives), nimmt wahr (perceives) und erfasst auf sinnliche Weise die Dinge, als wären sie starr herausgeschnitten aus einem Hintergrund oder einer Masse, und verwendet sie als feste Einheiten des Materials, welches ihm zum Schaffen oder zum Besitzen gegeben ist.« (LD 193)
Der Mind ist das Vermögen der Mathematik als des Dividierens, Multiplizierens, Addierens und Subtrahierens und der Logik als Bildung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen; 20 er vermag nicht über diese Grenzen hinauszugelangen. 21 »Mind kann nicht das Unendliche besitzen, sondern nur von diesem in Besitz genommen werden.« (LD 194) Deshalb ist es seine Natur und seine Aufgabe (svabhāva und svadharma), das Unendliche immer in die endlichen Begriffe zu 18 19 20 21
Vgl. LD 262. Persönlicher mind und universaler Mind vgl. LD 367. OYI 969–76. LD 188, 194.
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Mind – Leben – Materie
übersetzen, zu begrenzen und zu zerteilen. Gegenwärtig tut er dies in unserem Bewusstsein so, dass er die Wahrheit verstellt und so zum Urheber der Unwissenheit wird. Das Vermögen des Teilens hat seinen Ursprung letztlich in dem erfassenden (apprehending) Erkennen des Supermind. Je mehr sich der mind von seinem Ursprung, dem Supermind, trennt, umso mehr wird er zum Urheber der Unwissenheit. »Der Grund für diese Abweichung (decline) liegt darin, dass er [der Mind] vorwiegend für das Werk der Differenzierung verwendet wird; die Differenzierung ist notwendig, wenn es eine Schöpfung und ein Universum geben soll.« (SM 100–1) Der Grund für die Differenzierung liegt im Supermind; aber gleichzeitig hat die Einheit vor der Vielheit den Vorrang, während im mind die Einheit (oneness) mehr und mehr verlorengeht und getrennte Einheiten (separate units) geschaffen werden. Der mind kann aus seinem jetzigen Zustand in der Unwissenheit wieder zu seinem Wesen und zu seinem supramentalen Ursprung zurückfinden »und neuerdings ein Prinzip und eine Kraft des ’Lichts, […] eine Funktion der supramentalen Erkenntnis sein« (SM 102). Der zur Erkenntnis aufsteigende Mind Wenn wir Mind jetzt in dem allgemeinen Sinn endlicher, d. h. nichtsupramentaler Erkenntnis fassen, dann lassen sich verschiedene Stufen unterscheiden. Weil in der endlichen Welt die unmittelbare Erkenntnis durch Identität von Erkennendem und Erkanntem verlorengegangen ist, muss das Bewusstsein neue Wege des Kontaktes und der Vereinigung mit dem Nicht-selbst aufsuchen. In dieser Absicht schafft es im evolutiven Prozess die Sinne. Die physischen Sinne übermitteln nur rein physikalische Daten, Signale, die vom sense-mind umgesetzt werden in Sinnenbilder. Im sense-mind oder manas fließen die Botschaften über die verschieden Sinneskanäle zusammen. Manas selbst ist sowohl der sechste Sinn 22 wie auch der sensus communis. 23 Er gibt dem physikalischen Eindruck, der Information über die Nerven (nerve-message) (LD 628), einen mental-nervösen Sinngehalt (mental-nervous value) (OYI 758) und erhebt ihn so zur Sinneswahrnehmung. Im Zusammenspiel mit Gedächtnis und Assoziationen 22 23
Z. B. OYI 758. Dieser Ausdruck kommt nirgends vor, trifft aber die Sache.
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
entstehen erste Ideen und Verallgemeinerungen (OYI 759). Die Sinnesbilder werden durch eine »automatische Intuition« in Beziehung zueinander gebracht und in ihrem Verhältnis zum abgebildeten Objekt überprüft. Wir unterscheiden am sense-mind eine gemischte und eine reine Tätigkeit. Die gemischte richtet sich auf die äußere Welt, das Objekt, die reine auf die innere Welt, das Subjekt. 24 Der sense-mind im Ganzen vermag nur die phänomenale Welt zu fassen. Wie kommen wir zur Wesenserkenntnis, welche über die Phänomene hinaus zur Wirklichkeit an sich vordringt? Durch Verstand (reason, buddhi) und Intuition. Das durch die Sinne und den »sense-mind« vorliegende Material wird jetzt auf seinen intelligiblen Gehalt hin überprüft durch Begriff, Urteil und Schluss. Das beste Äquivalent zu buddhi ist Verstehen (understanding) (OYI 353). Das niedrigere »understanding«, die »niedrigere buddhi« oder der Verstand »in seiner gemischten Tätigkeit« (LD 73) charakterisiert den Menschen in seiner gewöhnlichen Verfassung. Mit Begriffen, Urteil und Schlussfolgerung beschränkt es sich auf den Umkreis der sinnlichen Erfahrung. Seine Aufgabe ist es, »sich mit dem Endlichen als Endlichem zu befassen« (LD 562). In seiner »reinen oder souveränen Tätigkeit« (LD 73) bringt uns der Verstand – jetzt sagen wir besser: die Vernunft 25 – von der Physik zur Metaphysik. Das ist die »höhere buddhi« 26, »over-standing«, adhi-akṣa (OYI 354), νοῦς (H 8). Dies meint »Sehen«, »offenbarendes und intuierendes Denken«, »wahrheitsbewusstes Erkennen«, »spontanes Unterscheiden von Beziehungen«, »thought-vision« (OYI 355), welch letzteres wir am besten als »Einheit von Denken und Sehen« übersetzen. Die Vernunft erfasst das, »was über der Wahrnehmung der Sinne liegt«, buddhi grāhyam atīndriyam (LD 74, 77). 27 Sie schreitet über Zeit und Raum hinaus und gelangt zur Ewigkeit. 28 Manas und buddhi, sinnliche Erkenntnis, Koordination dieser Erkenntnis, Verstand und Vernunft, sind der Inhalt von Mind. Die Kluft zwischen Mind und Supermind kann meist nicht mit einem Sprung überwunden werden, sondern es bedarf einer schrittweisen LD 74–5. pure Reason. 26 Vgl. auch OYI 545. 27 Sanskrit-Zitat aus der Gita VI. 21. 28 LD 88–9. Nach OYI 545 ist die »höhere Buddhi« so viel wie »intuitive mind« oder »intuitive reason«, womit eine Entsprechung zu »Higher Mind« und »Illumined Mind« gemeint sein dürfte. 24 25
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Mind – Leben – Materie
Evolution, deren Hauptstationen Higher Mind, Illumined Mind, Intuition und Overmind sind. Mit diesen vier weiterführenden Erkenntnisweisen überschreiten wir den gewöhnlichen menschlichen mind und schaffen die Verbindung von der niedrigeren (aparārdha) zur höheren Hemisphäre (parārdha), zum Sein des Supermind. Sie sind bereits Botschafter des Supermind, der Gnosis oder Vijñāna, tragen also nicht das Prinzip der Unwissenheit in sich. 29 Aber indem sie den Mind umwandeln und dies in verschiedenem Grade erreichen, sind sie mit der Welt der Unwissenheit verbunden und unterscheiden sich in der Kraft und im Maße der Umwandlung. Diese vier Kräfte sind Grade der »Energie-Substanz des ’Geistes (Spirit)« (LD 1116). Deshalb verändern sie nicht nur unser Denken, sondern auch die Substanz unseres Seins und unserer Bewusstseinskraft. 30 Die erste Stufe über den Mind hinaus ist ein »Higher (Höherer) Mind«. Sein Kennzeichen ist zwar auch das Denken (thought), aber es braucht nicht selbst-kritische Schlüsse zu ziehen und mühsam Idee mit Idee zu verknüpfen, um zu einer geordneten Erkenntnis zu gelangen. Dieses Denken ist zwar ein begriffliches Erkennen (conceptual knowledge), aber es ruht auf der Basis eines selbst-existenten Gewahrseins von allem (self-existent all-awareness). »Es kann sich zwar frei in einzelnen Ideen ausdrücken, aber seine charakteristischste Bewegung ist […] ein System oder eine Gesamtheit der Wahrheitsschau in einem einzigen Blick; die Beziehungen von Idee mit Idee […] sind nicht durch Logik errichtet, sondern existieren vorher und tauchen auf, nachdem sie bereits in dem integralen Ganzen geschaut sind.« (LD 1119)
Neben der Seite der Erkenntnis gibt es im Höheren Mind auch die Seite des Wollens. Die Wahrheit, die Idee wird dynamische Wirkung, sie bringt Kraft in Verstand, Leben und Körper, welche sich bis in die körperliche Gesundheit auswirkt. Die so mit geistiger Kraft ausgerüstete Idee ist das, was in Indien unter »mantra« verstanden wird. 31 Wie der Name schon sagt, ist der Illumined (Erleuchtete) Mind gekennzeichnet durch Licht, Erleuchtung, Sehen. Er wirkt also priLD 1116. Das stimmt nicht ganz mit den früheren Aussagen überein, wonach auch Mind und Reason Botschafter des unendlichen Bewusstseins sind (z. B. LD 143). Der Unterschied will vermutlich den je verschiedenen Grad der Vermitteltheit dieser Prinzipien zum Supermind hin ausdrücken. 30 Man müsste hinzufügen: und unseres ānanda, der freudvollen Erfahrung unseres Seins. 31 LD 332, 1119–23. 29
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
mär nicht durch Denken, sondern durch Schauen. Das verbale Denken ist nur eine untergeordnete Bewegung; es ist erst ein abgeleitetes Ergebnis, der leibliche Ausdruck einer geistigen Schau, und das die Wahrheit vergegenwärtigende Bild. Im geistigen Licht aber erfolgt ein tieferes Wahrnehmen und Umfassen. 32 Wie die Erkenntnis-kraft des inneren Sehens größer ist als die des Denkens, so bringt auch die entsprechende Kraft der Verwirklichung eine größere Umwandlung und Integration aller untergeordneten Kräfte bis zur körperlichen Verfassung mit sich. »In der Transformation durch den ’Höheren Mind findet der Weise und Denker seine Erfüllung; in der Transformation durch den ’Erleuchteten Mind wird in ähnlicher Weise der Seher, der ’erleuchtete Mystiker vollendet […]« (LD 1126). Wir haben zuvor festgestellt, dass die begriffliche Erkenntnis des reinen Verstandes der Ergänzung durch Anschauung und geistige Erfahrung bedarf. Diese Ergänzung ereignet sich in der Intuition. 33 Wir müssen bei Intuition ein Zweifaches unterscheiden: Erstens: bedeutet Intuition in einem allgemeinen Sinn in Ermangelung eines besseren Wortes »jeden über-intellektuellen direkten Weg des Wissens«. Im Besonderen aber – und in unserem jetzigen Gebrauch als Begriff für die dritte Stufe der aufsteigenden Erkenntnis – bedeutet Intuition eine »besondere Bewegung des selbst-existenten Erkennens« (LD 332). Zweitens ist diese überbewusste Intuition streng zu unterscheiden von jener des Unterbewussten. Zwischen beiden liegt das Reich des mind. Die unterbewusste Intuition bedarf der Kontrolle des Verstandes; sie manifestiert sich als Wirksamkeit, nicht aber als bewusste Identität zwischen Erkennendem und Erkanntem. 34 Für die wahre Mystik reicht es also nicht, den Verstand zurückzuweisen, sondern sie muss ein sicheres Fundament in der wahren Intuition finden, wenn sie nicht infra-rationalen und unkontrollierten Eingebungen verfallen will (LD 1127). Die Intuition entsteht im Gegensatz zum Intellekt aus einem direkten Gewahr-sein (direct awareness) 35; sie ist sehr verwandt der
Vgl. LD 332, 1123–5. Sri Aurobindo nimmt dieses Wort in Ermangelung eines besseren. Dasselbe gilt vom Wort »Bewusstsein« (consciousness). Vgl. LD 79 Anm. 34 LD 78–9. 35 LD 391–2 32 33
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Mind – Leben – Materie
ursprünglichen Erkenntnis durch Identität. 36 An ihrem Ursprung steht »ein überbewusster kosmischer Mind, welcher in direkter Berührung mit dem ’Supramentalen ’Wahrheits-Bewusstsein steht […] – nicht ein Mind, wie wir ihn kennen, sondern ein Overmind […]« (LD 333). Die überbewusste Intuition ist auf dreifache Weise möglich: 1. Das Bewusstsein des Subjekts trifft, erfasst und durchdringt unmittelbar das Bewusstsein des Objekts. 2. Das Bewusstsein blickt in sich selbst und schaut direkt die Wahrheit hinter der Erscheinung. 3. Das Bewusstsein »trifft auf die ’Höchste ’Wirklichkeit oder die geistige Wirklichkeit der Dinge […] und hat eine Berührungseinheit mit ihr« (LD 1126). In jedem dieser Fälle bricht ein intuitives Licht gleich einem Funken oder einem Blitz auf. »Diese dichte oder in unmittelbarer Nähe sich ereignende Wahrnehmung (close perception) ist mehr als Sehen, mehr als Begreifen: sie ist das Ergebnis einer durchdringenden und enthüllenden Berührung, welche in sich Sehen und Begreifen trägt als Teil ihrer selbst oder als ihre natürliche Folge.« (LD 1126) Im Bild des Veda wird diese Intuition verglichen mit einer Menge beständig hervorbrechender Blitze (stable lightnings). 37 Die vier Kräfte der überbewussten Intuition sind deshalb: 1. ein »offenbarendes Wahrheits-Sehen«, 2. »die Inspiration oder das Hören der Wahrheit«, 3. »das Berühren der Wahrheit oder ein unmittelbares Erfassen der Bedeutung«, 4. »ein wahres […] Unterscheiden der […] genauen Beziehung von Wahrheit zu Wahrheit« (LD 1129). 38 Diese Intuition vermag infolge ihrer großen geistigen Kraft unser ganzes mentales, vitales und materielles Sein umzuwandeln in ein für sie passendes und geschmeidiges Substrat. 39 Sie war die Ebene der Weisen des alten Vedānta. Diese diskutierten nicht mit rationalen Argumenten, sondern durch Vergleichen von niedrigeren und höheren intuitiven Erkenntnissen. 40 Die Intuition ist die große Helferin Diese Erkenntnisweise ist das Charakteristikum des Supermind und des transzendenten »unitarian Consciousness«. Vgl. auch LD 1126. 37 LD 1128, vgl. auch 81–4. 38 Vgl. LD 332. 39 LD 1129–30. 40 LD 81–4. 36
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
auf dem Weg zum Supermind. 41 Aber sie selbst befindet sich noch in der Region des Mind und noch nicht in jener der supramentalen Gnosis. 42 Zwischen Intuition und Supermind liegt noch eine wichtige Stufe der Bewusstseinskraft: der Overmind. Wir können ihn unter zwei Rücksichten betrachten: unter der des schöpferischen Herabkommens vom Supermind und unter der anderen des Aufsteigens zum Supermind, in welcher Stufenfolge er das letzte und entscheidende Glied innerhalb der niedrigeren Hemisphäre ist. Wir haben gesehen, dass der eigentliche Schöpfer der Welt in der Hinsicht des universalen und individuellen geistigen Selbst der Supermind ist. Zwischen der geistigen Verfassung des Selbst und unserem begrenzten individuellen mind aber liegt die ganze phänomenale Welt. Diese kann nicht Produkt unseres individuellen, verleiblichten mind sein, da dieser selbst Ergebnis und nicht Produzent der irdischen Existenz ist. Der individuelle mind kommt und verschwindet, doch die Erde bleibt. Deshalb muss es einen universalen Mind geben, und, weil der Schöpfer das Geschaffene notwendig überschreitet, muss er überbewusst sein. 43 Der universale oder kosmische Mind ist der Oberbegriff für Mind überhaupt und schließt als solcher auch den Overmind ein. 44 Der Overmind ist der unmittelbare Abkömmling des Supermind. 45 Er bedeckt die ganze niedrigere Hemisphäre der »Knowledge – Ignorance« wie mit einem Mantel. »In einem verbindet und trennt er das höchste Wissen und die kosmische Unwissenheit.« So wird er »zu einem Schirm unähnlicher Ähnlichkeit, durch welchen der Supermind indirekt auf eine ’Unwissenheit einwirken kann, deren Dunkelheit den direkten Einbruch eines höchsten ’Lichts nicht ertragen oder aufnehmen könnte« (LD 333). Durch die Projektion der leuchtenden »Overmind-Corona« entstehen erst die Schatten der Unwissenheit. Ist im Supermind alles integral zusammen, so wirkt die Energie des Overmind »durch eine unbegrenzbare Fähigkeit der Trennung und Kombination der Kräfte und Aspekte der integralen und unteilbaren all-umfassenden ’Einheit« (LD 334).
41 42 43 44 45
OYI 904–911, 926–41. OYI 923–4. Weitere wichtige Stellen zur Intuition: OYI 545–9, 662–3, 926–35. LD 280–1. LD 282 Anm. LD 333; S.M. 132, 133.
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Mind – Leben – Materie
Der Overmind vermag jedem Aspekt oder jeder Kraft ein unabhängiges Wirken zu verleihen. Z. B. sind Puruṣa und Prakṛti im Supermind eine einzige Wahrheit mit zwei Gesichtern. Im Overmind finden wir den Ursprung ihrer Spaltung. So geht es auch mit den anderen Aspekten der göttlichen Wirklichkeit: Eins und Vieles, Persönlich und Unpersönlich. Noch sind sie durch die Einheit »koexistenter Korrelativität« verbunden. Was für den Verstand gegensätzlich ist, ist für den Overmind komplementär. Aber zugleich liegt in dieser Einheit auch der Ursprung weiterer Zerteilung. Der Overmind schafft Wahrheiten, nicht Illusionen oder Falsches. Er arbeitet besonders die Wahrheit eines Aspektes und seiner Konsequenzen heraus, aber ohne Exklusivität. Er ist gleichsam ein niedrigerer Supermind, aber vorwiegend nicht mit Absolutem befasst, sondern mit dynamischen Möglichkeiten. 46 Aus diesem Grunde entdecken wir im Overmind auch den Ursprung der »kosmischen Maya«, welche noch nicht Unwissenheit ist, aber »die ’Unwissenheit möglich, ja unvermeidlich macht« (LD 340). Dies geschieht dann, wenn durch die exklusive Konzentration die Einheit verlorengeht. Der trennende Schleier zwischen Overmind und Supermind ist transparent, der Vorhang zwischen Overmind und Mind aber dicht. Der Mind geht von selbständigen Einheiten aus und weiß nicht mehr um die grundlegende Gemeinsamkeit. 47 Der Overmind ist also »noch eine Kraft des kosmischen Bewusstseins« (LD 1130). Aber da er »nur durch eine leuchtende Grenze vom vollen Licht und der vollen Kraft der supramentalen Wahrheit getrennt« (SM 132) ist, bedeutet er die letzte Stufe des Aufstiegs vom Unwissen zum Wissen des Supermind. Da der Overmind ein kosmisches Bewusstsein ist, genügt jetzt nicht mehr allein der vertikale Aufstieg. Unser Bewusstsein muss vor allem eine ungeheure horizontale Ausdehnung erfahren, welche hinführt zu einer gewissen Totalität des Geistes. Die Vorherrschaft des zentralisierenden IchSinnes muss verschwinden zugunsten eines grenzenlosen, universalen Selbst. Denken und Sehen scheinen jetzt ihren Ursprung nicht mehr im Individuellen, sondern im Universalen zu haben. So entsteht eine kosmische Struktur des Bewusstseins und des Tuns, die aber plastisch und organisch-wachsend ist.
46 47
LD 333–9. LD 340–2.
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
Alle wesentlichen Erfahrungen der vorausgehenden Seinsstufen werden vergeistigt. Es scheinen nur noch die kosmischen Sat-citānanda zu existieren. Das tote Ich wird ersetzt durch die Entdeckung des wahren Individuums, »welches in seinem Wesen eins ist mit dem höchsten ’Selbst, eins mit dem Universum in der Ausdehnung, und doch ein kosmisches Zentrum und einen Umkreis des besonderten Wirkens des ’Unendlichen bildet« (LD 1132). 48 Dennoch bleibt der Overmind innerhalb der »niedrigeren Hemisphäre«. Er ist immer noch charakterisiert durch die Tätigkeit des Mind, welche jetzt auf der Grundlage kosmischer Einheit doch ihren Stand hat in der Vielfalt der Möglichkeiten, in Teilung und Wechselwirkung. Er ist zwar der Unwissenheit enthoben, aber die Unbewusstheit (Inconscience) ist noch nicht völlig umgewandelt und überwunden. Außerhalb des Lichtkegels des Overmind ist immer noch die Finsternis. So ist noch keine Sicherung gegeben gegen den Rückfall in die Unbewusstheit. Erst die Herabkunft des Supermind bringt die volle Befreiung und die endgültige Umwandlung. Der Overmind vermag zwar die Universalität zu erreichen, aber er kann nicht den Mind über sich selbst hinausführen zur Transzendenz. Die Transzendenz muss zuerst in der Gestalt des Supermind herabkommen und diesen letzten Schritt ermöglichen. 49 Denn der Supermind als »’Wahrheits-Bewusstsein ist nicht nur eine Kraft des Wissens; er ist das Bewusstsein und Wissen, ein leuchtendes, vielseitiges, dynamisches Spiel des allwissenden ’Geistes« (SM 130). »Er allein […] ist die Kraft, diese ’Transzendenz zu manifestieren« (LD 1134). Zwar ist hier eine strenge Stufenfolge des Aufstiegs geschildert; aber zugleich durchdringen sich die Stufen gegenseitig. Eine Vorhut unseres Seins mag Neuland gewinnen, während der Hauptteil der Truppe noch weit zurück ist. So muss die Vorhut immer wieder zurückgehen, um das Neuland zu sichern. Der Prozess beinhaltet, dass nichts vollendet ist, wenn nicht alles vollendet und umgewandelt wird. Schließlich leben wir gleichzeitig in mehr als einem Zustand. Das gilt vor allem für das Verhältnis von Außen und Innen. Unser inneres Sein folgt schneller der geistigen Umwandlung als das äußere. Wir können uns nicht in die reine Subjektivität zurückziehen. Auch die Welt muss angenommen und verwandelt werden. 50 48 49 50
»cosmic centre and circumference of the specialised action of the Infinite«. LD 1130–6. LD 1136–46.
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Mind – Leben – Materie
Wenn sich das Bewusstsein aus der Unbewusstheit (Inconscience) über die Un-wissenheit (Ignorance) und die Stufen des mind hinauf-verwandelt bis zur reinen Wahrheitsschau, dann vollzieht sich das als ein Prozess zunehmender bewusster Identität zwischen Erkennendem und Erkanntem. In der Sinneserkenntnis sind Erkennen und Erkanntes noch völlig getrennt (»completely separative knowledge«). Der Verstand (mind-reason) erkennt das Getrenntsein vom Objekt der Beobachtung (»knowledge by separation from the object of observation«). Das intuitive Schauen erkennt durch direkte Berührung (»knowledge by direct contact«). 51 Die innerste Seele (»inmost soul or superconscient self«) (LD 657) erkennt durch Identität (»knowledge by identity«) (LD 624). Die Erkenntnis durch Identität ist das eigentliche Maß aller Erkenntnis; in ihr allein wird die Wahrheit ungetrübt erblickt; von ihr leiten sich alle anderen Erkenntnisweisen ab. Die Erkenntnis durch Identität ereignet sich im vollen Maße erst auf der Ebene des Supermind. Dort geschieht es, dass die »innerste Seele« sich selbst entdeckt als »individual Divine« und erkennt, dass ihr Wesen das göttliche Sein und die Wahrheit selbst ist. Die Dreiheit von Subjekt, Objekt, Relation – Erkennendem, Erkanntem und Erkennen – Liebendem, Geliebtem und Liebe wird zu einer identischen Einheit, welche die Dreiheit der Möglichkeit nach in sich enthält. 52 In den verschiedenen Weisen des Mind ist immer schon der Supermind verborgen, involviert. 53 Er ist die dynamische Kraft, welche die Entwicklung von der Unwissenheit zum Wissen vorwärts treibt, indem er sich selbst immer mehr zur Entfaltung bringt. Da die Bewusstseinskraft nur das Wirken der reinen Existenz ist, können ihre Ergebnisse nichts anderes als Formen der reinen Existenz, des ’Bewussten ’Seienden, des Geistes sein. 54 Darum sind Mind, Leben und Materie nur Form einer geistigen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit hat sich involviert bis zur Unbewusstheit und zum Unwissen 55 und evolviert sich wieder bis zum leuchtenden und reinen Selbstbesitz. Wir haben dieses Geschehen verfolgt an dem Prinzip des Mind. Jetzt werden wir zu fragen haben nach dem Wesen von Leben und Materie.
51 52 53 54 55
Dieser Begriff wird in Kapitel V erörtert werden. Zum Ganzen vgl.: LD Vol. I, Ch. 8; Vol. II, Part I, Ch. 10. S.M. 129–37. LD 281–2. LD 408–9.
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2.2 Leben Unser gewöhnlicher Begriff von Leben Unter Leben verstehen wir gewöhnlich den Gegensatz zum Tod und meinen den Bereich der Biologie. Wir suchen Kriterien für das Lebendige wie Fortpflanzung und Bewegung. Aber all dies trifft nach Sri Aurobindo nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit des Lebens. Der Tod ist nur Gegensatz zu einem bestimmten lebendigen Individuum, aber nicht zum Leben überhaupt. Dieses Leben offenbart sich vielmehr im Gegensatz von Leben des Individuums (life) und dessen Tod. Auch die Kriterien sind nur äußere Anzeichen, nicht das Leben (Life) selbst. Wenn wir den Begriff des Lebens tiefer verstehen, dann sehen wir, dass er nicht eingeengt werden darf auf Pflanze und Tier. Das universale Leben Ein ganz charakteristisches Kennzeichen von Pflanze und Tier ist die Reizbeantwortung. Doch solche Reaktionen stellen wir auch im Unbelebten fest. 56 Was bei uns Liebe und Hass, Sympathie und Antipathie, Wille und Verlangen ist, sehen wir im Atom als Anziehung und Abstoßung (LD 219). In der Pflanze offenbart sich das Leben als »nervöse Energie« 57, in den ersten tierischen Formen als »desire-sense und desire-will«, im höheren Tier als »selbstbewusste Sinnlichkeit und Kraft«, im Menschen als »mentales Wollen und Erkennen« (LD 220). Der Unterschied zwischen den einzelnen Formen des Lebens besteht also nur in der verschiedenen äußeren Aktionsweise, also im Phänomenalen, und nicht im Wesen. 58 Das Leben in Materie, Pflanze, Tier und Mensch unterscheidet sich nur in der Selbstverlorenheit der bewussten Energie (absorbtion of conscious energy), in ihrer mehr oder weniger exklusiven Konzentration (LD 218), also im Grade der Bewusstheit. »Die materielle ’Energie, welche Teile zusammenfügt (aggregates), formt und wieder auseinanderbringt (disaggregates), ist dieselbe ’Macht in einem anderen Grade ihrer selbst wie jene ’Lebens-Energie (Life-Energy), welche sich in Geburt, Wachstum und Tod ausdrückt« (LD 221–2).
56 57 58
LD 213–4. »nervous energy full of submental sensation« (LD 220). LD 216–8.
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Mind – Leben – Materie
Leben und Bewusstseins-Kraft (Cit-Śakti) Daraus folgt die »logisch notwendige« (LD 220) Konklusion, dass sich das Leben (Life) »als dem Wesen nach selbiges überall, vom Atom bis zum Menschen, offenbart« (LD 222). Das Leben, wie es sich auf Erden zeigt mit der Materie als seiner Basis, ist »wesentlich eine Form der einen kosmischen ’Energie, […] welche alle diese Formen des physischen Universums offenbart« (LD 210). Als solches ist es unvergänglich und ewig. Es ist überall, involviert oder evolviert, und unterscheidet sich nur in den Formen, in der Organisation (LD 214). Als Form der kosmischen Energie aber ist das Leben in seinem Grunde (fundamentally) »Chit-Shakti des Vedanta, Bewusstseinskraft, die dem bewussten Seienden inhärierende bewusste Kraft« (LD 219–20). »Leben ist nur ein letztes Ergebnis des Wirkens (a final operation) der ’Bewusstseins-Kraft, für welche die ’Real-Idee [Supermind] die bestimmende Form und das schaffende Agens ist.« (LD 225) Leben als das durch den schaffenden Supermind vermittelte Wirken der Kraft des Bewussten-Seienden schafft die individuellen Formen, verleiht ihnen Energie und wirkt in ihnen. Damit wird es zur Grundlage »aller Tätigkeiten der so verleiblichten Seele«. Der Mind ist kein abgetrenntes Wesen (separate entity), sondern das letzte Ergebnis des individualisierenden Supermind. »Ebenso ist das ’Leben kein für sich besondertes Wesen […], sondern hat in jedem Werk die ganze ’Bewusstseins-Kraft hinter sich; es ist allein diese ’Bewusstseins-Kraft, welche existiert und in den geschaffenen Dingen wirkt.« (LD 226) Die Grade des Lebens Obwohl es nur einen Mind und ein Leben gibt, werden doch verschiedene individuelle Formen geschaffen; die individuelle Seele (soul) arbeitet in jeder Seinsform aus universalem Mind und Leben die je eigenen mind und Leben so heraus, als wären sie getrennt von den anderen. In Wirklichkeit sind sie aber nur das Spiel der einen Seele (Soul), des einen Mind, des einen ’Lebens. 59 Leben ist eine vermittelnde Kraft zwischen Mind und Materie. Materie bildet die Substanz, Mind ist das wahrnehmende Erfassen; Leben dagegen ist das energetische Wirken des bewussten Seienden. 59
LD 225–6.
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
Als solches unterstützt es die Formung der Substanz ebenso wie das bewusste mentale Erfassen. In der Substantialität der Materie ist es unbewusst, selbstverloren, im submentalen Dasein (Pflanze und Tier) befreit es sich durch seine eigene Kraft und erlangt beim Auftauchen des Mind seine höchste Dynamik. Das Leben ist ein Bindeglied und ermöglicht den gegenseitigen Austausch zwischen mind und Materie. 60 »Die Evolution des ’Lebens aus der Materie setzt eine vorgängige Involution in diese […] voraus« (LD 221). Innerhalb der Evolution und des Aufsteigens (ascent) des Lebens können wir grob vier Zustände unterscheiden: 1. Ein unbewusstes Drängen (drive or urge) (LD 260) in der materiellen oder atomaren Existenz. Wir sehen eine ungeheure Teilung und Individualisierung. 2. Das Vitale wird bestimmt durch Begierde und Verlangen (desire), Tod und gegenseitiges Verschlungenwerden. 3. Beim Auftauchen des bewussten Mind wird das beherrschende Gesetz die Liebe, welche empfangen und sich selbst geben will. Das Individuum schlägt in der Liebe Brücken; es wächst, indem es sich verschenkt. Das Gesetz des Verlangens wird von der Liebe nicht abgeschafft, sondern eher umgewandelt und erfüllt. 4. In der Supramentalen Existenz ist es die Einheit und Freiheit der Vielen im Geist. Der ursprüngliche Wille und die wahre Liebe kommen zu ihrer höchsten Erfüllung. 61 Leben und Seele Wenn wir diese Stufen sorgfältig erforschen, dann erkennen wir sie jeweils als Ausdruck für das Suchen der Seele nach individueller und universaler Seligkeit. »Der Aufstieg des ’Lebens ist in seiner Natur das Aufsteigen der göttlichen ’Seligkeit in den Dingen aus ihrer dumpfen Konzeption in der ’Materie durch Wechselfälle und Gegensätze hindurch, bis hin zur leuchtenden Vollendung im ’Geist.« (LD 261) Der dem göttlichen Ānanda in der niedrigeren Hemisphäre entsprechende Terminus ist die Seele (soul), denn sie besagt Seligkeit, welche aus Selbst-Besitz und Selbst-Gewahrsein kommt. Da jedoch die Seele nicht linear neben mind, Leben und Materie gestellt werden 60 61
LD 220, 223, 226. LD 236–46, 260–1.
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Mind – Leben – Materie
kann, sondern diese umfasst 62 und in ihrer Individualität eint, weil ferner die Seele als psychische Person oder caitya puruṣa unmittelbar zur Personproblematik gehört, wollen wir erst im nächsten Kapitel von ihr handeln. Zuvor beschäftigen uns noch die ’Materie und als zusammenfassende Schau der »siebenfache Akkord des Seins«.
2.3 Materie und Substanz Entstehung durch den zerteilenden Mind Das ursprüngliche Prinzip von allem ist die reine Existenz. Die Natur dieser Existenz ist die Bewusstseins-Kraft. Deren Werke, nämlich Mind, Leben und Materie, sind durch die Vermittlung des Supermind Formen der reinen Existenz. Mind vergegenwärtigt das Bewusstsein oder den Supermind, Leben die Kraft des Bewusstseins, Materie aber die Existenz als Substanz. 63 Im reinen, aus-sich-selbst-existierenden, mit sich selbst identischen ’Bewussten-Seienden können wir noch nicht von Substanz sprechen, da Subjekt und Objekt nicht vorhanden sind. 64 Obwohl im Geist, im Supermind, die Einheit des Bewusstseins gewahrt ist, finden wir doch dort die reine geistige Selbstausdehnung, frei von Raum und Zeit, die reine Substanz. Subjekt-Objekt werden als Einheit geschaut, sind aber die Grundlage für die schaffende Tätigkeit des In einem gewissen Sinne umgreifen auch Mind, Leben und Materie jeweils die anderen Seinsprinzipien. Dann ist Mind an allen der Grad der Bewusstheit, Leben der Grad der Energie und der Kraft, Materie der Grad der Substantialität oder Existenz, Seele das Maß des Selbst-Besitzes, der Personalität. Dies folgt auch schon aus der durchgängigen Verwirklichung und aus der Einheit von Sat-cit-ānanda, von welchen Mind, Leben, Materie und Seele Stellvertreter in der niedrigeren Hemisphäre sind und deshalb auch durchgängig, graduiert und eins sein müssen. An dieser Stelle muss unterschieden werden zwischen »psyche« und »psychic entity«. Die Psyche ist eine Schicht, ein Prinzip des Seins mit den Characteristica des Seelischen. Die psychische Wesenheit aber ist das verleiblichte »individual Divine« und steht deshalb in der ganz anderen Dimension der Individuiertheit des Seins, welche vom Ich über die verschiedenen Arten des Puruṣa bis zum »individual Divine« reicht. »Psyche« kann deshalb im »Siebenfachen (Achtfachen) Akkord des Seins« aufgereiht werden, nicht aber die »psychische Wesenheit«. Nach E 575 ist die Psyche »das verbindende Glied (medium) zwischen Geist und Materie«, gleichbedeutend mit seelischer Kraft (soul-power). 63 Vgl. LD 281–2. 64 LD 283, 289. 62
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Supermind. Das umfassende Erkennen (comprehension) sieht das Seiende (Being) als Objekt in sich selbst und sich subjektiv als es selbst. Das erfassende Erkennen (apprehension) macht das Seiende zum Objekt der Erkenntnis, aber innerhalb des Umfangs seines eigenen Bewusstseins; es entstehen Zentren, in welchen sich das Sein konzentriert als Erkennender oder Puruṣa und sich selbst alles andere als Objekt gegenüberstellt. Das erfassende Erkennen ist der Anfang der Teilung; die Teilung setzt sich fort im universalen Mind, vom Overmind bis zum Mind der Unwissenheit (avidya, niedrigere māyā). Der immer zunehmenden Teilung des Bewusstseins, welche die ursprüngliche Einheit aus den Augen verliert und in der Unwissenheit und Unbewusstheit endet, entspricht die Zerteilung der Substanz. Der Prozess endigt in einer infinitesimalen Zerbrechung der Einheit, welche die atomare und subatomare Struktur der Materie darstellt. Diese Materie ist ein Aggregat von unendlich vielen und kleinen Teilen, welches zusammengefügt und auseinandergenommen werden kann. Dadurch wird der reinen Substanz der Charakter räumlicher Ausdehnung, Unbewusstheit und Teilbarkeit gegeben. Materie ist deshalb nur phänomenal, eine Erscheinungsweise der reinen Substanz. Als Phänomenon hat sie kein eigentliches Selbstsein, sondern ist Form dieser Substanz und als solche geschaffen »von einer allesteilenden ’Lebens-Kraft (Life-force), welche die Entwürfe eines allesteilenden Mind in die Wirklichkeit umsetzt« (LD 298). In der Tat ist diese Entwicklung notwendig: denn der unwissende und nur in begrenzten Einheiten operierende Mind bedarf der Materie. Da er nicht die reine Substanz des Geistes zu erfassen vermag, ist er angewiesen auf den sinnlichen Kontakt mit dem Phänomenon des Geistes, um zur Erkenntnis zu gelangen. 65 Materie ist also Phänomenon. Ihr wahres Wesen, die ihr zugrunde liegende Wirklichkeit, ist Substanz und Geist. Geist aber ist die eigentliche und allgegenwärtige Wirklichkeit, Brahman und Saccidānanda. Materie ist Brahman und nichts von diesem Verschiedenes. »Brahman ist nicht nur die Ursache, die tragende Kraft und das einwohnende Prinzip des Universums, sondern auch dessen Material, und zwar einziges Material.« (LD 289) Materie, Leben, Mind und Supermind sind nur ein Modus von Brahman, Geist, Saccidānanda, »welcher nicht nur in ihnen allen wohnt, sondern all dieses ist, obgleich keiner von ihnen ’Sein absolutes Sein ist« (LD 290). 65
LD 282–6; 288–9.
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Mind – Leben – Materie
Dennoch besteht der phänomenale, begriffliche und praktische Unterschied zwischen Materie und Geist: Die Materie ist letztes Ergebnis des Prinzips der Unwissenheit, der Gebundenheit an ein mechanisches Gesetz, und des Prinzips der Teilung und des Kampfes. Geist oder reine Substanz aber ist reines Erkennen, Freiheit, Einheit und Friede. Zwischen diesen beiden Gegensätzen liegt aber keine Wesensschranke, sondern es vollzieht sich ein ab- und aufsteigender Prozess (descent – ascent, involution – evolution), in welchem eines zum anderen wird auf Grund der Einheit des Wesens. 66 Die aufsteigende Reihe der Substanz Tatsächlich stellen wir eine aufsteigende Reihe der Substanz fest. In dieser Reihe verschwinden die Kennzeichen der Materie mehr und mehr; die ihr entgegengesetzten Merkmale des Geistes aber treten stärker hervor, bis wir bei der rein geistigen Selbstausdehnung ankommen. Es ist ein Wandel von der Dauerhaftigkeit der sichtbaren Form zur Ewigkeit des Wesens; von der ständigen Getrenntheit und Teilung zur Unendlichkeit, Einheit und Unteilbarkeit des Geistes. 67 Die aufsteigende Stufenfolge findet in den Individuen ebenso statt wie im Kosmos als Ganzem. Betrachten wir sie zuerst allgemein, dann sehen wir, dass die Stufenfolge der Substanz der Stufenfolge des Seins entspricht, und zwar des Seins als Leben, Mind, Supermind und Sat-Cit-Ānanda. 68 In der materiellen Welt ist alles auf dem materiellen Phänomen der Substanz begründet. Die Sinne brauchen physische Instrumente, das Leben bedarf eines physischen Nervensystems und physischer Organe, der mind wirkt durch das Gehirn. Nicht als wären die physischen Organe Ursache der höheren Kräfte wie mind und Leben, sie sind vielmehr Wirkungen und Ergebnisse derselben. Ihre Zuordnung ist nicht absolut notwendig, sondern teleologisch; es soll eine physikalische Beziehung zwischen der Sinnlichkeit und ihren Objekten bestehen als Grundlage für die Evolution des Geistes in einer materiellen Welt. 69
66 67 68 69
LD 287–99. LD 301–3. LD 303–5. LD 305–6.
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
Die Welt der Lebens-Energie ist der nächste Grad der Substanz. Das beherrschende Moment ist das Leben und das bewusste Verlangen. In der Welt des Mind muss die Substanz subtil und flexibel genug sein, um dem Gestaltungswillen des Mind zu gehorchen und ihm zu seiner Selbst-Erfüllung zu verhelfen. Auch die Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Substanz erhält eine subtilere und flexiblere Form als die physikalische. In den Welten von Supermind und Saccidānanda schließlich ist die Substanz rein geistig. Sie ermöglicht den höchsten Selbstausdruck des Seins als Geist. Hier ist die Welt Brahmans, Brahmaloka. 70 Die Reihe der Substanz steigt also auf vom Gröberen zum Subtileren bis zum Geist. Aber das Subtilere ist zugleich das Mächtigere und in Wahrheit Konkretere. Was für das Universum im Ganzen gilt, gilt auch für das Individuum. Hier ist Materie »body« und body ist Ausdruck der Substanz. Weil Materie eine Form des Geistes ist, ist es auch der Leib. Wie die Materie, kann auch der Leib umgewandelt werden von der groben Äußerlichkeit und von der unbewussten Kraft bis zur leuchtenden Transfiguration in den »divine body«. Als solcher ist er nicht mehr Hindernis für die geistige Vollendung, sondern deren bestes »Fahrzeug«, deren beste substantielle Grundlage, 71 śarīram khalu dharmasādhanam. 72 Auch der Leib existiert als rein materieller (annakoṣa), vitaler (prāṇakoṣa), mentaler (manahkoṣa), idealer (vijñānakoṣa) und geistiger (ānandakoṣa) (oder beseligender – beatific). Nach dem ältesten Vedānta ist er für jeden Grad unseres Seins die geeignete »Hülle« (sheath). Eine spätere Psychologie spricht nur noch von drei Arten von Leib, dem grob physischen (stūhla śarīra), dem subtilen (sukṣma śarīra) und dem idealen oder kausalen (kāraṇa) 73. Unter dem Begriff »subtle body« können jedoch alle Abstufungen von materiell bis mental verstanden werden. Der »ideale oder kausale Leib« entspricht unserem supramentalen Sein. Deshalb ist er frei von der materiellen, vitalen und mentalen Begrenzung, frei von Tod und als
LD 306–7. LD 276–9, 299–300, 303–4, 309–12; SM 8–74. 72 »The body is the means of fulfilment of dharma« (SM 8). Überhaupt ist das Kapitel »Perfection of the Body« (SM 8–34) eine Hymne auf die Vollendung des Leibes bis hin zu seiner supramentalen Gestalt. 73 OYI 18. 70 71
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Mind – Leben – Materie
unsterblicher offen für das Licht supramentalen Lebens und Erkennens. 74 Die Lehre von den verschiedenen Schichten und Formen der Körperlichkeit hat eine lange Tradition von Erfahrung hinter sich, vor allem im Hatha-, Raja- und Tantrayoga. Mit beinahe topographisch-anatomischer Genauigkeit wurden die cakra und die nāḍī 75 festgelegt. Die sieben Cakras sind Zentren des Bewusstseins und der Energie im »subtle body« mit Entsprechungen in den Nervenplexus des »gross-physical body«. Die Kuṇḍalinī oder »Serpent Power« 76 schläft eingerollt im mūlādhāra cakra am unteren Ende der Wirbelsäule; wenn der Yogin sie weckt, dann entrollt sie sich und richtet sich auf. Mit feuriger Kraft eröffnet sie Zentrum nach Zentrum – svādiṣṭhāna (Abdomen), maṇipūra (Nabel, Plexus solaris), anāhata (Herz), viśuddha (Kehle), ājñā (zwischen den Augen) –, um sich im tausendblättrigen Lotus (Scheitel, Fontanelle) – sahasrāra oder brahmarandhra – mit Brahman zu vereinigen. Ist das geschehen, dann ist der Yogin erlöst (mokṣa). 77 Philosophisch bedeutet dies, dass der Mensch alle Ebenen des Seins verkörpert. Mulādhāra als der Materie-Pol steht in Spannung zu sahasrāra, dem Geist-Pol. Kuṇḍalinī repräsentiert die göttliche Bewusstseinskraft oder Śakti, die die Materie zum Geist emporhebt und sie verwandelt zu sich selbst zurückbringt: sie ermöglicht sowohl Aufstieg wie Herabkunft. Materie, Leben, Mind und Supermind werden in lebendige Beziehung zueinander gebracht; das Niedrigere wird dadurch transformiert und ist dann nicht mehr rein materiell, vital oder mental, sondern hat durch die Zuordnung zum Geist den Bezug zum Ganzen zurückerhalten. Die Begegnung zwischen Materie und Geist durch die göttliche Śakti ereignet sich nicht nur individuell, sondern auch kosmisch. Gegenüber dem Tantra-Yoga vollzieht Sri Aurobindo eine entscheidende Wendung. Ihm kommt es nicht so sehr auf die Bemühung LD 310–1. Weitere wichtige Stellen: LD 309–12, 363–4, 902–3, 950–1, 1155–6, 1168–9, 1172–8; OYI 10, 16, 18, 519–20, 559, 716, 795–6, 834–8 (gegen die Leibverachtung!); SM 8–74; OYII.T1 351–8; OYII.T2 333–342. 75 Im Yoga und im Tantra bezeichnen nāḍī feinstoffliche Energieleitbahnen im Körper. 76 Symbolisch auch der vedische Gott Agni, vgl. »Hymns to the mystic Fire«; KU 110–1; IU 124, 142–3; H 39 oder das »ever-living fire«. 77 Bohm, Cakras; Bolle, Tantric Elements in Sri Aurobindo, 128–142; Woodroffe, The Serpent Power; Vivekānanda, Rāja Yoga. 74
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
»von unten her« an, nämlich die systematische eigene Anstrengung, sondern auf die Herabkunft »von oben«, welche den Charakter der Gnade trägt. Supermind und göttliche Śakti vermögen alles zu heilen, zu befreien und emporzuheben, was unvollendet ist. Darum ist der sicherste Weg nicht die eigene Anstrengung, sondern die völlige Hingabe, »complete surrender«, an die Göttliche Mutter, Aditi, Śakti. 78
3
Siebenfacher Akkord des Seins
3.1 Substanz und Prinzipien der Limitation Substanz bei Sri Aurobindo und in der modernen Naturwissenschaft Die Deutung der Materie, des Lebens und des Mind mag uns zunächst befremden. Doch wenn wir uns in der modernen Evolutionstheorie und in der modernen Naturwissenschaft umsehen, dann werden wir mehr Verständnis für eine aufsteigende Reihe der Substanz gewinnen. Während wir den Bereich des Materiellen durch das Auseinander, das mechanische Gesetz und die Unbewusstheit charakterisieren können, finden wir im Lebendigen mehr Einung, In-sich-Geschlossenheit und Bewusstheit im Sinne des Unterbewussten von Sri Aurobindo. Die Substanz des Menschen jedoch ist noch komplexer, angefangen von der molekularen, biochemischen Struktur bis hin zur makroskopischen. Die Einheit des Organismus ist besonders hoch und wird so zur geeigneten Grundlage für ein Selbstbewusstsein, welches jetzt auch äußere Analogien in Regelkreisen und informationsverarbeitenden Systemen findet. Hier sei auf die moderne Kybernetik und Informationstheorie verwiesen sowie auf den Versuch, durch Automaten und Modelle Vorgänge im Zentralnervensystem nachzuahmen. Die Evolutionstheorie von Darwin bis Teilhard de Chardin unterstützt von einer anderen Seite die von Sri Aurobindo vorgelegte Theorie von der aufsteigenden Reihe der Substanz.
Vgl. OYI 33–55, 695–702, 839–40, 916; LD 1080 etc. Zur Darstellung der cakras und der kuṇdalinī einige Stellen: OYI 609–13, 679–80, 796, 917–20; OYII.T1 368–82; OYII.T2 252–3, 256–260; SM 62–3, 69; HG 93.
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Substanz bei Aristoteles und in der Scholastik Doch wenn wir die Philosophie und besonders die Scholastik heranziehen, dann stellen wir einen zunächst unscheinbaren, in Wirklichkeit aber sehr wichtigen Unterschied fest. Auch bei Aristoteles und in der mittelalterlichen Metaphysik gibt es eine aufsteigende Reihe der Substanzen, nämlich im Reich der Materie (Matter), des Lebens (Life) und des Menschen (Mind). Die Substanzen werden konstituiert durch zwei für sich unselbständige Prinzipien, dem Prinzip der reinen formalen Unbestimmtheit (materia prima) und der substantiellen Form (forma substantialis) als dem aktiven, bestimmenden und seins-verleihenden Prinzip (Hylemorphismus). Die substantielle Form ist zugleich das Wesen der Substanzen und wirkt auf deren arteigene Vollendung hin (Entelechie). Nur der unsterbliche Seelenteil und der unbewegte Beweger sind reine Formen ohne das konstitutive Prinzip der Materialität. Ganz anders verhält es sich bei Sri Aurobindo. Für die Teilung und Trennung und Verendlichung ist allein der universale Mind verantwortlich. Dieser setzt den Schöpfungsprozess fort, der vom Supermind mit der Bildung der Real-Ideen (svabhāva) im erfassenden Erkennen (apprehension) begonnen wurde. Supermind und universaler Mind oder die kosmische Māyā schaffen die Welt. Die erste grundlegende Limitation ist die Ausbildung von Zentren des Bewusstseins innerhalb der Einheit. 79 Die zweite grundlegende Limitation oder jetzt besser Individuation ist die Entfaltung des universalen zerteilenden Mind, welcher die reine Substanz immer mehr aufteilt, mit ahaṃkāra oder dem Ich-Sinn das Ego bildet und schließlich all die vielen Formen des Lebens und der Materie schafft. Das letzte Ergebnis des zerteilenden Mind ist das Reich der Unwissenheit und Unbewusstheit. Während die Scholastik nach den konstituierenden Prinzipien (entia quibus) fragt, schreitet bei Sri Aurobindo das Denken von Konstituiertem (entia quae) zu Konstituiertem fort. Es wird nicht so sehr nach den inneren Gründen (causa formalis, causa materialis) gefragt
Die Real-Ideen sind nicht bloß Wesenheiten, sie sind zugleich Wirklichkeiten. Man könnte höchstens zwischen Māyā und Prakṛti eine weitere Unterscheidung sehen. Māyā schafft im Entwurf, Prakṛti führt aus, sie schafft die Konkretion des Seienden, Sakti ist beides, entwerfend und verwirklichend. Doch im Supermind ist Idee immer Realität; Bewusstsein und Substantialität gehören zusammen.
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
als nach den äußeren, welche die Dynamik des Hervorgehens verursachen (causae efficiens, finalis, exemplaris). Das bedeutet eine Verschiedenheit nicht in der Sache, aber in der Betrachtungsweise. Supermind und universaler Mind sind zugleich konstituierende Prinzipien und existierende Wirklichkeiten. Sie sind die eigentlichen Gründe der Limitation und Individuation; Ergebnis dieses Geschehens sind svabhāva (Real-Ideen) und Ich (Ego), in welchen je schon Wesen und Wirklichkeit des Seins (bei der Limitation), Materie und Form (bei der Individuation) zusammengefügt sind. Lückenlose Entfaltung Aus dieser dynamischen Betrachtungsweise ergibt sich das Bild einer lückenlosen Entfaltung, welche vom Absoluten über den Supermind bis hin zu Unwissenheit und Unbewusstsein verläuft. Wirklichkeiten entfalten sich zu weiteren Wirklichkeiten. Es gibt nirgendwo einen abrupten Einschnitt; nirgendwo taucht eine unüberbrückbare Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf auf. Schöpfung ist ein kontinuierlicher Prozess, entsprechend dem Sanskrit-Wort sṛṣṭi, welches »Befreiung oder Hervorbringung des innen Enthaltenen« (H 32) 80 bedeutet. Darum kann Sri Aurobindo so oft mit Emphase Schöpfung aus dem Nichts negieren und mit den Upaniṣaden sagen, alles sei Brahman, Brahman sei das Material der Welt. Wenn gesagt wird, die Welt sei zwar Brahman, jedoch nicht in der Fülle seines Seins, so ist das zwar eine wichtige Unterscheidung, aber zunächst kein entscheidender Einschnitt; denn die jīva unterscheiden sich nicht auf Grund Ihres Wesens von īsvara, sondern nur in der Kraft (Force), in ihrem »dynamischen Ausdruck« (OYI 911). Man kann ja auch nicht sagen, dass die Strahlen der Sonne diese selbst seien, aber sie sind eines Wesens mit ihr. Die Endlichkeit wird zum wirklichen Erscheinungsbild oder Phänomenon des reinen Geistes, der Saccidānanda. So ist das Eine das Viele und das Viele das Eine. 81 In dem durchgängigen Prozess des Bewusstseins verschieben sich gleichsam
Vgl. LD 397. Vgl. zu den vielen Stellen in LD und OYI auch die Deutung Heraklits in H, wo Sri Aurobindo zeigt, wie das immer lebende Feuer des Heraklit jenes Eine ist, aus welchem die Vielheit des Kosmos entsteht und in welches sie wieder zurückkehren kann, ähnlich dem indischen pralaya (Auflösung), der zyklischen Entstehung und Rückkehr der Welt.
80 81
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Siebenfacher Akkord des Seins
nur die Akzente. 82 Die göttliche Māyā (vidya) enthält auch die scheinbar ungöttliche (avidya) 83. Aus dieser lückenlosen Entfaltung kann jedoch nicht geschlossen werden, es handle sich hier um einen emanativen Pantheismus. Die lückenlose Entfaltung ist der Perspektive zu verdanken, unter welcher die Schöpfung betrachtet wird. Sie negiert nicht notwendig den unübersteigbaren Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Man kann die Aussagen, die Welt sei zwar dem wesentlichen Sein nach mit Gott eins, in der Kraft des Seins aber von ihm verschieden, auch thomistisch verstehen: der seinsverleihende Grund der Welt ist Gott, aber die Sache (res), welche an diesem Sein partizipiert, ist endlich. Schließlich spricht für diese Interpretation die mehrmals wiederholte Tatsache, dass Gott frei von der Welt und vom Akt des Schaffens sei. 84
3.2 Involution und Evolution Die Diskussion der Schöpfungslehre führt uns zu einem der grundlegendsten Gedanken Sri Aurobindos, zu Involution und Evolution, Herabkunft und Aufsteigen. Dabei handelt es sich nicht um eine Entwicklung der Arten im Sinne Darwins, sondern um eine Bewegung der göttlichen Bewusstseinskraft, welche die Entwicklung der Arten fundiert. Die unendlichen Saccidānanda sind immer sie selbst. Aber zugleich haben sie sich durch die Māyā gleichsam eingehüllt (involved), sich selbst verloren durch einen kontinuierlichen Prozess der Veräußerung bis hin zum reinen Unbewusstsein. 85 Hinter dieser »Phänomenalisierung« aber sind Saccidānanda ganz sie selbst. Die Involution der Göttlichen Bewusstseins-Kraft ermöglicht und bewirkt wieder die Evolution, in welcher die Unbewusstheit immer mehr vom Wissen überwunden wird und Brahman schließlich in allen Dingen zur bewussten Identität mit sich selbst zurückkehrt. Obwohl Brahman immer schon mit sich identisch ist, bringt es jetzt gleichsam die aus sich entlassene Welt wieder zu sich zurück, zur Einheit des Geistes in der Vielheit der Individuen. Denn Brahman ist 82 83 84 85
LD 175, 572–94, 673–708. LD 194. Eine weitere wichtige Stelle zum Schöpfungsbegriff: E 392–3. Weitere Betrachtung des Problems folgt in Kap. VII. LD 405–9, 135, 308–9, 361 ff.
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IV · Das Universum und der siebenfache Akkord des Seins
wesentlich transzendent, universal und individuell. Dem Herabkommen folgt ein Hinaufsteigen. Wir haben diesen Vorgang beobachtet im Schaffen des Supermind wie auch bei der Erörterung der Welt in ihren drei Seinsgraden: Mind, Leben, Materie. In der materiellen Welt sind alle anderen Prinzipien involviert; die Materie enthält sie in sich. Infolge der Involution sind diese Kräfte befähigt zur Evolution. »Die Evolution kommt zustande durch den unaufhörlichen Druck der übermateriellen Ebenen auf das Materielle; dadurch zwingen sie das Materielle, ihre Prinzipien und Kräfte freizugeben.« (LD 308–9) Mit der Befreiung der nächsthöheren Grade des Seins aber nehmen Druck und Wirksamkeit der noch höheren Ebenen zu. »Das ’Sein manifestiert sich als Substanz, die Kraft des ’Seins hat sich hinein gestaltet in die Form, in eine gestalthafte Selbst-Vergegenwärtigung des verborgenen Selbst-Bewusstseins, die Seligkeit des ’Seins bietet sich dem eigenen Bewusstsein als ein Objekt an – was ist das anderes als Saccidānanda?« (LD 286)
Auch der Mensch steht in der Entwicklung, sowohl in der Gemeinschaft wie als Einzelner. Dem geschichtlichen Nachweis dieses spiraligen Aufstiegs der menschlichen Sozietät ist »The Human Cycle« gewidmet. Die metaphysische und anthropologische Möglichkeit aber soll in den Kapiteln V und VII noch weiter aufgezeigt werden, wenn wir, auf das bisher Dargestellte aufbauend, von der dreifachen Transformation, der Entwicklung supramentaler oder gnostischer Wesen und von der Wiedergeburt sprechen. 86
3.3 Selbst-Limitation und Siebenfacher Akkord des Seins Involution und Evolution haben ihren Grund in Saccidānanda. Die Welt ist nicht aus dem Nichts, sondern »gestaltete Existenz innerhalb der unendlichen ’Existenz, welche jenseits aller Gestalt ist«. Insofern ist die Welt jene All-Existenz. Der »’All-existierende gestaltet Sich selbst […] in Seiner eigenen entwerfenden Ausdehnung Seiner selbst als ’Raum und ’Zeit.« (LD 317) Durch das Schaffen des Supermind sind diese Gestaltungen die Real-Ideen. Der Supermind ist die »Kraft Zum Thema Evolution: LD Vol. II, Ch. 18, 1208–10; PR, Involution and Evolution, 69–83.
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Siebenfacher Akkord des Seins
der Selbstbegrenzung« der All-Existenz und inhäriert dieser notwendig. Denn »das ’Unendliche wäre nicht das ’Unendliche, wenn es nicht eine vielfältige Endlichkeit annehmen könnte; das ’Absolute wäre nicht das ’Absolute, wenn es nicht […] ein grenzenloses Vermögen der Selbstbestimmung sein dürfte« (LD 319). Das schöpferische Wirken der Dreiheit der Saccidānanda hat deshalb gleichsam seine Verknotung (nodus) in dem vierten, dem vermittelnden Prinzip des Supermind oder der ’Real-Idee. Durch das Vermögen der Verendlichung entstehen die drei Prinzipien der niedrigeren Hemisphäre (aparārdha): Mind, Leben, Materie, welche nur untergeordnete Termini der höheren Hemisphäre (parārdha) sind, nämlich der »göttlichen Quaternität« Sat-cit-ānanda und Supermind. Mind ist die Fortführung des Supermind und des unendlichen Bewusstseins; Leben hat seinen Ursprung in der Kraft des göttlichen Bewusstseins (Force of Consciousness), Materie als Form der Substanz ist Ausdruck der All-Existenz. Es kommt ein Viertes hinzu, gleichsam die Verknotung von mind, Leben und Leib (»at the nodus of mind, life and body«): die Seele (soul) in ihrer Doppelheit, an der Oberfläche die Begierdeseele (desire-soul), im Subliminalen die psychische Wesenheit oder Person (psychic entity, psychic Person). Die Seele kommt aus dem göttlichen Ānanda, ist Repräsentant von Ānanda, also der Seligkeit des Selbst-Besitzes und des Wissens um sich selbst (LD 315). Unsere irdische Existenz ist gleichsam eine Widerspiegelung der göttlichen; sie leitet sich von dieser ab, kehrt zu ihr zurück und ist diese selbst in deren Manifestation. Der Titel dieses Kapitels in »The Life Divine« spricht vom »Siebenfachen Akkord des Seins«. Mit der Einführung der Seele als dem vierten Prinzip »an der Verbindungsstelle von Mind, Leben und Körper« und als Projektion des »dritten göttlichen Prinzips der unendlichen Seligkeit« (LD 315) können wir eigentlich acht statt sieben Prinzipien des Seins feststellen, wie Sri Aurobindo selbst einräumt (LD 316). Wir würden dann, »wenn wir so wollen«, von einem Achtfachen Akkord des Seins 87 sprechen, welcher in der Ordnung des Aufund Absteigens (ascent – descent) so aufgestellt wird: Gerade an dieser Stelle sieht man deutlich den Einfluss späterer Überarbeitung von LD. In allen zur selben Zeit erstmalig abgefassten und später nicht mehr überarbeiteten Schriften gibt es nur den »Siebenfachen Akkord«, die »Sieben Wasser« des Veda (IU 51), die »Sieben Prinzipien des Seins«. Da sind alle Prinzipien außer »Psyche« vertreten, ein Zeichen dafür, dass sich Sri Aurobindo noch sehr um »Psyche« und »psychische Wesenheit« bemüht hat. Da aber selbst das einschlägige Kapitel in LD
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Existence (sat) Consciousness-Force (cit) Bliss (ānanda) Supermind
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Matter Life Psyche Mind
»Das ’Höchste Wesen (Divine) kommt herab aus der reinen Existenz durch das Spiel von ’Bewusstseinskraft und ’Seligkeit und das schöpferische Medium des Supermind in das kosmische Sein; wir steigen auf von der ’Materie durch ein sich entwickelndes Leben, Seele (soul) und mind und durch das erleuchtende Medium des supermind bis hin zum göttlichen Sein.« (LD 316)
Die Verbindungsstelle zwischen höherer und niedrigerer Hemisphäre ist dort, »wo sich mind und supermind treffen mit einem Schleier zwischen sich. Das Zerreißen des Schleiers ist die Bedingung für das göttliche Leben im menschlichen Dasein.« (LD 316) Jedes dieser acht Prinzipien ist unerlässlich und wesentlich vorhanden in der kosmischen Schöpfung, keines kann für sich allein verwirklicht sein. 88 In diesem »Siebenfachen Akkord des Seins« ist uns die ganze Ontologie Sri Aurobindos in ihrem Aufriss und in ihren Prinzipien gegeben. Wir wissen jetzt um den Zusammenhang zwischen Welt und Gott, wir vermögen jetzt zu verstehen, wie Brahman oder Saccidānanda die allgegenwärtige Wirklichkeit ist, wie Er alles und alles Er sein kann, ohne dass das »alles« Er in seinem vollen Sein wäre; es ist sein »Modus«, seine Manifestation. Das Viele kommt aus dem Einen, ist kein Zweites neben dem Einen, aber auch nicht das Eine in seinem vollen Selbst-sein, sondern dessen Entfaltung. Das ist der wahre Advaita. 89
4
Zusammenfassung
Das Universum oder die niedrigere Hemisphäre entsteht durch die exklusive Konzentration der Bewusstseinskraft. Es bilden sich Zentren oder geistige Inidividuen. Diese Individuen leben noch in der mit »The Sevenfold Chord of Being« überschrieben ist, halte ich mich an dieselbe Bezeichnung, im Gegensatz zu Singh, Sri Aurobindo. 88 LD 317–23. 89 Vgl. LD 38, 183. In HG, einer Zusammenstellung aus Sri Aurobindos Manuskripten, findet sich auf den Seiten 86–92 noch einmal in Stichworten ein Gesamtentwurf des »Divine Plan«, der aber nicht mehr zur Ausführung gekommen ist.
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Zusammenfassung
Einheit mit ihrem Ursprung und mit allen anderen Individuen. Wenn die Trennung in Zentren weiter fortschreitet, hat die individualisierte Seele nicht mehr das Allgemeine im Auge, sondern sieht alles primär vom eigenen Standpunkt aus und unter Ausschluss aller anderen Standpunkte. So wird die exklusive Konzentration der Bewusstseinskraft zum Ursprung der Unwissenheit. Am Ende dieser Bewegung steht die Unbewusstheit, das Nicht-Wissen. Aus der göttlichen Māyā, dem reinen Wissen (vidya), ist so die niedrigere Māyā der Unwissenheit (avidya) entstanden und mit ihr die phänomenale Welt von Raum, Zeit, Kausalität und Egoität des Individuums. Damit ergeben sich aber auch die Negativa, nämlich Unwahrheit, Irrtum, Unrecht und Übel. Am phänomenalen Universum von Raum, Zeit, Kausalität und Ego werden drei Ebenen unterschieden: Mind, Leben und Materie. Im Mind lassen sich wiederum folgende Stufen unterscheiden. Im Manas (sense-mind) werden die Signale aus der Umwelt und aus dem eigenen Körper zu Sinneswahrnehmungen zusammengefasst. Wenn diese Wahrnehmungen mit Gedächtnisinhalten und Assoziationen verknüpft werden, entstehen erste Ideen und Verallgemeinerungen. Wir könnten Manas am ehesten mit dem auf die Sinneswahrnehmungen gerichteten Verstand vergleichen. Buddhi als das nächsthöhere mentale Vermögen ermöglicht die Wesenserkenntnis. Sie wäre am ehesten mit der Vernunft zu vergleichen. In der Evolution können wir über Manas und Buddhi hinausgelangen zu Higher Mind, Illumined Mind, Intuition und Overmind. Mit dem Overmind erreicht die Evolution die Grenze von der niederen (aparārdha) zur höheren (parārdha) Hemisphäre, in welcher der Supermind als Erkenntnis durch Identität wirkt. Zwischen dem Overmind und dem Supermind befindet sich ein Schleier, der im Aufstieg zum Supermind zerrissen werden muss. Die vier Prinzipien der niedrigeren Hemisphäre, nämlich Materie, Leben, Seele und Mind, entsprechen den vier Prinzipien der höheren Hemisphäre, nämlich Existenz (sat), Bewusstsein (cit), Seligkeit (ānanda) und Supermind. Dennoch spricht Sri Aurobindo in Anlehnung an die Schriften des Veda nur von einem »siebenfachen Akkord des Seins«. Die Seele (Psyche) ist zwar auch ein Prinzip, sie wirkt aber gleichsam als Verknüpfung (at the nodus) von Mind, Leben und Materie.
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Kapitel V: Mensch und Person ICH BIN ER Iśa Up. 16
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Vorbemerkungen
1.1 Vier Unterscheidungen Brahman ist das Absolute, frei von Welt und Endlichkeit. Aber es wird zur Welt durch seine Māyā, seine Bewusstseins-Kraft, die seine eigene, mit ihm identische Natur, parā prakṛti, ist. Es ist also eine ursprüngliche identische Doppelheit gegeben; Bewusstes Seiendes (Conscious Being, Puruṣa, im Falle des Absoluten: Puruṣottama) und Natur dieses Seienden. Die Natur ist seine Manifestation. Diese Zwei-einheit wiederholt sich auf allen Stufen der sieben Seinsprinzipien: Dem Status der Bewusstseins-Kraft oder Natur entspricht immer ein polarer Status des Geistes (LD 416). Das Bei-sich-sein des Geistes ist immer auch – in Zwei-einheit – ein Aus-sich-hinaus-sein der Natur. Jeder Ebene des Seins entspricht eine Weise des Selbstbewusstseins des Geistes: Matter Life Mind Supermind Bliss Conscious-Force Existence
←→ ←→ ←→ ←→ ←→ ←→ ←→
annamaya puruṣa prāṇamaya puruṣa manomaya puruṣa vijñānamaya oder mahat puruṣa ānandamaya puruṣa caitanyamaya puruṣa sat puruṣa 1
Deshalb durchschneiden die Aspekte Puruṣa und Prakṛti gleichsam in vertikaler Richtung die sieben Stufen oder Prinzipien des Seins. 2
Vgl. IU 56–8; OYI 525–41, 724–5. Selbst die Drei-einheit der Saccidānanda ist wieder dem dualen Aspekt des Bei-sichseins und des Anders-als-es-selbst-seins (Identität und Nicht-Identität) untergeordnet: Saccidānanda existieren nicht-manifest und manifest. Im personalen Gott kann es natürlich keine Dualität der Aspekte, sondern nur noch reine Identität geben.
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Vorbemerkungen
In vertikaler Richtung verwandelt sich natürlich auch der Charakter des individuellen Puruṣa, indem er mehr und mehr zu sich selbst zurückkehrt. Der reine Beobachter der Prakṛti (pure witness – sākṣi (OYI 492)) wird Erhalter (Upholder – bhartā (OYI 493)); er hält das Wirken der Natur aufrecht und gibt ihrem Tun die Sanktion (giver of the sanction – anumantā). In die Fülle seines ursprünglichen Wesens und seiner Macht tritt er ein, wenn er Besitz ergreift von Erkenntnis und Wille und dem ganzen Wirken der Prakṛti und diese lenkt (possessor and director of the knowledge and the will – jñāta īśvarah), wenn er sich der Natur als Herr erfreut (enjoyer – bhoktā (OYI 494)). Der individuelle puruṣa erhält dadurch den īśvara-Charakter, aber er ist der īśvara auf individuelle Weise, »als ein Zentrum der göttlichen Existenz, – ein Teil (portion) des ’Herrn« (OYI 495). 3 Der puruṣa wird zum īśvara durch Partizipation. 4 Die Polarität von Puruṣa und Prakṛti durch alle Ebenen des Seins hindurch ist die erste Unterscheidung, die wir zu treffen haben. 5 Die zweite Unterscheidung ist die gleichsam konzentrisch-vertikale Schichtung des Seins selbst in seinem »siebenfachen Klang«. In einer dritten Unterscheidung müssen wir die Entsprechungen zwischen höherer und niederer Hemisphäre im Auge behalten: Die Entsprechungen von Existenz (sat) zu Substantialität und Materie, Bewusstseins-Kraft (cit) zu Energie und Leben, Seligkeit des Seins (ānanda) zu Seele (Psyche), Supermind zu Mind. Für die Seele wird keine eigene Seinsebene angegeben, da sie, wie wir in Kapitel IV gesehen haben, Materie, Leben und Mind umfasst und in ihrer Individualität eint, also selbst als Person, caitya puruṣa, anzusehen ist. Es folgt ein vierter Unterschied: Manifestation umfasst alles, was das Bewusste Seiende durch seine Bewusstseinskraft entfaltet, auch die höhere Hemisphäre; »Creation« oder Schöpfung ist jenes, was der Supermind durch die Real-Ideen und durch svabhāva schafft, also vornehmlich die Individualität und die niedrigere Hemisphäre. 6 Weiteres hierzu: LD 413–4; OYI 393–4, 723–4, 728–9. OYI 877, 880. 5 In Bezug auf den Menschen unterscheidet Sri Aurobindo in einem Brief: »Es gibt in der Tat zwei gleichzeitig wirksame Systeme in der Organisation des Seienden und seiner Teile: das eine ist konzentrisch, eine Reihe von Ringen oder Hüllen mit dem Psychischen im Zentrum; das andere ist vertikal, ein Aufsteigen und Herabkommen […] eine Serie von übereinandergeschichteten Ebenen […]« (OYII.T1 273). 6 Diese Unterscheidung darf aber nicht rigoros angewendet werden, da Sri Aurobindo beide Begriffe auch im gleichen Sinne gebraucht. 3 4
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V · Mensch und Person
1.2 Der Mensch in seinem Jetzt und die Frage nach der Person Der Mensch ist »Puruṣa und Prakṛti« 7 oder »Geist in Welt«. Er ist »ein individuelles Seiendes aus dem ’Höchsten Wesen (Divine)« (LD 823). Er »hat als Mikrokosmos alle Ebenen des Seins in seinem eigenen Sein, welche sich von seiner unterbewussten bis zu seiner überbewussten Existenz erstrecken« (OYI 720). In seiner gegenwärtigen Verfassung aber ist er charakterisiert als das »mentale Wesen«, als welches er Leib (body) und Leben (life) lenkt, manomaya puruṣa prāṇa śarīra netā. 8 In welchem Verhältnis steht nun der Mensch als mentales Wesen des Jetzt zu seinem wahren Wesen, seinem inneren Sein (inner being), zu seinem Personsein? Welches sind die Zwischenstationen von der Äußerlichkeit und Egoität bis zur Person? Was ist Person? Wie vollzieht sich die evolutive Transformation auf Person hin?
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Oberfläche und Innen
Es gehört zu den menschlichen Grunderfahrungen, dass unser Dasein an der Oberfläche (surface being) nicht die Totalität unseres Seins ausmacht, sondern dass das auf die äußeren Akte und Objekte bezogene Ego nur an der Oberfläche einer weiten, unermesslichen Innerlichkeit sein kann. Das Innen begründet das Außen, macht es erst möglich, ist umfassender in seinem Sein. Die Transformatorstellen kosmischer Energie im »feinen Körper« (subtle body) – die cakra – machen erst das Funktionieren des »grob-physischen Körpers« (gross physical body) möglich; die innere Kraft des Lebens ist nicht eingeengt durch die Grenzen von Geburt und Tod; der subliminale mind wird nicht gehemmt durch unsere gegenwärtigen äußeren Begrenzungen, sondern ist »mächtig und strahlend, das wahre mentale Sein«. Die Seele schließlich ist in ihrer äußeren Gestalt die Begierdeseele (desire-soul), in ihrem wahren subliminalen Wesen zeigt sie sich als »psychische Entität« (psychic entity), »eine reine Kraft des
E 394; ferner: »In uns, dem verleiblichten Individuum, steht der Puruṣa hinter allem als das psychische ’Sein, das innere ’Selbst, und unterstützt die anderen Gestaltungen unseres Bewusstseins und unserer geistigen Existenz.« (LD 416) 8 Eine oft, wenn auch nicht wörtlich, wiederkehrende Formel, z. B. OYII.T1 313; KU 42; SM 24. 7
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Oberfläche und Innen
Lichts, der Liebe und der Freude […], welche unsere wahre Seele ist« (LD 263). Zwei Beweise zeigen die Wirklichkeit des Inneren, des Sublimen: erstens die unmittelbare Erfahrung des Lebens und besonders die Erfahrung in Meditation und Yoga, wenn sie zu den tieferen Schichten des Seins zurückkehrt, zweitens eine logische Folgerung aus Erfahrung: Wir könnten nicht über die bloße Äußerlichkeit unseres Tuns, Lebens und Seins hinauswollen, wenn nicht immer schon in uns das Größere an Sein und Bewusstsein da wäre, wenn wir nicht immer schon über uns selbst hinaus wären in Innerlichkeit und Überweltlichkeit. Was ist nun dieses Innen? Ist es das Unterbewusste (subconscient)? Im eigentlichen Sinne nicht; denn das Unterbewusste ist nur ein Speicher vergangener Eindrücke und Erlebnisse. Es liegt auf einer niedrigeren Stufe als unser Wachbewusstsein (waking mind), ist in der Selbst-Helle des Bewusstseins vermindert und grenzt an das Unbewusste (inconscient), ist gleichsam der Vorraum (»antechamber«) zu diesem. 9 Das wahre Unterbewusste (subconscious) »ist das ’Nicht-Bewusste (Inconscient), welches an die Grenzen des Bewusstseins hin vibriert und Bewegungen hinauf sendet, die in bewussten Stoff umgewandelt werden sollen, in seine Tiefen aber Eindrücke von vergangener Erfahrung hinab schlingt als Samen für unbewusstes Verhalten; es bringt diese beständig, aber oft chaotisch ans oberflächige Bewusstsein zurück, sendet manchen nutzlosen oder verderblichen Stoff hinauf, dessen Herkunft uns dunkel ist; das geschieht im Traum, in mechanischen Wiederholungen aller Art, in unaufspürbaren Antrieben und Motiven«, in Verwirrungen und Zwangshandlungen (LD 665–6). Solcher Art ist das Subliminale nicht. Es ist vielmehr das »leuchtende Haupt« des Unterbewussten (LD 266). Was heißt subliminal? Es meint nicht »unterschwellig« im Vergleich zum Wachbewusstsein, sondern »behind the veil« (LD 268), hinter dem Vorhang der Unwissenheit. 10 In ihm eröffnet sich der erste Zugang zum Ganzen des Bewusstseins, hier tut sich die Fülle des »inneren Wesens« und der inneren Organisation (antahkaraṇa 11) auf.
Vgl. LD 266, 502, 663–4. Die Beziehung zu den Upaniṣaden und zur modernen Psychologie wird in OYII.T1 353 angedeutet. 11 OYI 739, 753–6. 9
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Das Subliminale entspricht dem, was die Upaniṣaden Traumselbst (dream-self) und Traumzustand nennen. 12 Jeder dynamische Teil unseres Oberflächen-Seins ist eine verkleinerte Gestalt der weitaus größeren subliminalen Kräfte. Das gilt von Gedächtnis (memory) 13, Einbildungskraft (imagination) 14, mind, Leben und Materie. Sie alle haben ihre Quelle im Subliminalen. 15 Das Subliminale erkennt »durch direkten Kontakt« mit fremdem Bewusstsein oder mit Gegenständen ohne sinnliche Vermittlung. Darum ermöglicht es Telepathie, Hellsehen, zweites Gesicht und alle außergewöhnlichen Fähigkeiten. Der im Subliminalen Bewusste vermag die Gedanken und Gefühle anderer direkt wahrzunehmen, in ihrem Verstand und in ihrem Herzen zu lesen. Das geschieht gewöhnlich unbewusst. Mit dem Bewusstmachen dieser Fähigkeit können wir uns einerseits vor unliebsamen Einflüssen abschirmen, andererseits nehmen wir die uns umgebenden unpersönlichen Kräfte wahr. Doch auch hier besteht noch die Mischung von Wissen und Unwissenheit. Auch hier ist noch Irrtum möglich. Erst mit dem Auftauchen der »psychischen Entität« ist der entscheidende Wendepunkt erreicht, weil diese als innerer Führer im göttlichen Licht wahr und falsch unterscheidet. 16 Das Subliminale schafft in sich einen Umkreis der Bewusstheit (»circum-conscient« und »intraconscient«), durch welchen es in unmittelbaren Kontakt mit dem Universalen – Mind, Leben, Materie – eintreten kann. 17 Vom inneren mind, vom inneren Vitalen und von den »subtilphysischen Teilen unseres subliminalen Seins« (LD 639) müssen wir noch einmal unterscheiden das subliminale Selbst (subliminal self). 18 In ihm haben subliminaler mind, Leben und Materie ihren Einheitspunkt, ihr Selbst. »Es ist der Treffpunkt jenes Bewusstseins, welches von unten durch Evolution auftaucht, und jenes anderen Bewusstseins, das von oben für die Involution herabgekommen ist.« (LD 505) Das subliminale Selbst unterliegt nicht dem physischen Tod; als un-
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LD 506–7, 536–8. Das Überbewusste wird mit Schlaf-Selbst bezeichnet. Mehr darüber: LD 505, 595–600, 610–1, 614–22. Mehr darüber: LD 561–7, 622; OYI 975–6, 982. LD 263, 621–1, 634–5. LD 637–42. LD 643–5. LD 638–9.
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Seele
sere Seele (soul) lebt es durch alle Geburten hindurch und entwickelt sich in ihnen. 19
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Seele
3.1 Seele als Repräsentation von Ānanda Das Leben beginnt mit einem nicht-bewussten dumpfen Drängen, es erhebt sich zum Verlangen (desire) und äußert sich in einer noch höheren Form seiner selbst als Liebe, »welche besitzen und in Besitz genommen werden will, welche empfangen und sich selbst verschenken möchte«. Seine Vollendung findet das Leben, wenn der ursprüngliche Wille voll und rein zum Durchbruch kommt, wenn der Austausch der Liebe dadurch vollkommen wird, dass der Zustand des Besitzenden eins wird mit dem Zustand des in Besitz Genommenen in der göttlichen Einheit der Seelen. Wenn wir genau hinblicken, dann erweisen sich die Stufen des aufsteigenden Lebenswillens als Formen, in welchen die Seele nach der Seligkeit des Seins sucht; »der Aufstieg des ’Lebens (Life) ist in seiner Natur der Aufstieg der göttlichen ’Freude (Delight) in den Dingen« (LD 261). Die Kraft des Lebens findet und vollendet sich selbst in der göttlichen Freude, in der all-gegenwärtigen Seligkeit des Selbst. Ānanda ist das Wesen von Sein und Bewusst-Sein; denn sich selbst zu besitzen und zu erkennen ist Seligkeit. Ānanda einigt deshalb in sich Sat und Cit. Die Seele repräsentiert Ānanda in der niedrigeren Hemisphäre, denn sie zentriert in sich als Freude: Mind, Leben und Materie. Ānanda und Seele als Ort des Selbst-Besitzes und des Selbst-Gewahrseins begründen deshalb im eigentlichen Sinn Person.
LD 668–70. Das subliminale Selbst entspricht in etwa dem Selbst unserer westlichen analytischen Tiefenpsychologie. Sri Aurobindo sagt an mehreren Stellen, dass er in Anlehnung an diese Psychologie den Namen gebrauche. Aus den folgenden Darstellungen kann man entnehmen, wie viel tiefer die indische Selbst-erfahrung führt und welche Bereiche die Tiefenpsychologie noch zu bedenken hat. Person und Gottbeziehung sind in Indien reale Erfahrungsmöglichkeiten (vgl. Kap. VI). Einige Stellen zur Auseinandersetzung Sri Aurobindos mit konkreten Formen der Psychologie: LD 501–2 (Psychoanalyse und Traum); OYI 712–4 (Kritik an der mentalen und naturwissenschaftlichen Psychologie); OYII.T1 353; OYII.T2 381, 686–689 (Kritik an Freud).
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3.2 Begründung der Sonderstellung der Seele im Verhältnis zu Mind, Leben, Materie Jetzt verstehen wir, warum Seele oder »Psyche« zwar zu den Prinzipien des Seins gehört, aber dennoch eine Ausnahmestellung innehat. Die Seele ist »am Vereinigungspunkt von mind, Leben und Leib« (LD 315), sie »hält in sich das Öffnen und Aufblühen des Wesens von all diesen [mind – life – body] zu deren eigener besonderer Seligkeit des Selbst, zu Licht, Liebe, Freude und Schönheit und zu einer verfeinerten Reinheit des Seins« (LD 262). »Die individuelle Seele, caitya puruṣa, unterstützt mind, Leben und Leib«, steht hinter ihnen, beobachtet und »profitiert durch ihre Entwicklung und Erfahrung« (LD 269). Sie führt den Menschen aus der Unwissenheit in das Licht des Göttlichen Bewusstseins. 20
3.3 Wesensbeschreibung der Seele Die subliminale Seele ist die »wahre Seele« (LD 269) 21, die aus der Gottheit geborene Flamme, die stets in uns, im Tempel des innersten Herzens brennt, der verborgene Zeuge und Führer, der Dämon des Sokrates, der unvergängliche und unzerstörbare Funke aus dem Höchsten Wesen, der Vertreter (deputy) des Selbst oder Ātman 22, »das wahre ursprüngliche ’Bewusstsein in uns […], welches immer auf ’Wahrheit, ’Richtigkeit (Right) und ’Schönheit, auf ’Liebe und ’Harmonie und auf all das hinweist, was eine göttliche Möglichkeit in uns ist […]« (LD 272). Die Seele als das zentrale Sein (central being) von uns ist ein unsterblicher Teil (immortal portion 23, āmśa sanātanah 24) des Höchsten Wesens, nicht aber ein Stück der ’Natur (LD 789). LD 269–70. Weitere Stellen, die die Sonderstellung der Seele gegenüber mind – life – body beweisen: LD 109, 125, 132, 221, 225–6, 275 etc., ferner die besondere Rolle der psychischen Transformation, die wir später kennenlernen werden. 21 Das Wort »psychisch« meint nicht die Begierdeseele oder die abnormalen Zustände, sondern die verborgene psychische Entität (LD 270–1). 22 LD 269. 23 Dafür gibt es sehr viele Stellen, z. B. LD 269, 272, 435, 789; OYI 880; OYII.T1 288, 301; E 598–9. 24 Gita XV, 7: mamaivāṃśo, jīva-loke jīva-bhūtaḥ, sanātanaḥ: Swami Chidbhavananda, The Bhagavad Gita, übersetzt diesen Vers genauso. Nach Sri Aurobindo muss sanātanaḥ auf āṃśa bezogen werden. Hingegen übersetzt Radhakrishnan in »Bhaga20
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Psychische Entität und Jīvātman
»Dieser Teil ist durch das Gesetz des ’Unendlichen untrennbar von seinem ’Göttlichen ’Ganzen, dieser Teil ist in Wahrheit selbst dieses ’Ganze, ausgenommen […] in seiner frontalen trennenden Selbst-erfahrung.« (LD 272) »Die Seele vermag sich im Bereich des ’Werdens selbst als das ’Sein zu wissen und das ’Werden in Besitz zu nehmen, sie kann sich selbst als ’Unendliches im Wesen erkennen, aber auch als das ’Unendliche, welches sich im Endlichen selbst zum Ausdruck bringt.« (LD 786)
Das verleiht der Seele als individueller Existenz Rechtfertigung und Bedeutung. »Diese Realisation ist der Gipfel des ’Werdens; sie ist die Erfüllung des ’Seins in seiner dynamischen Wirklichkeit.« (LD 787)
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Psychische Entität und Jīvātman
4.1 Psychische Entität Das Selbst der materiell-leiblichen Schicht ist der annamaya puruṣa, das Selbst der vitalen Schicht der prāṇamaya puruṣa, das Selbst der mentalen Ebene der manomaya puruṣa; das Selbst des Menschen als Menschen aber ist das zentrale Sein (central being), die Seele. Sie existiert in zwei Termini: als psychisches Sein (»psychic being« oder »psychic entity«) und als Jīva oder Jīvātman. 25 Das psychische Sein 26 ist das verleiblichte Individuum (embodied individual), die Person im Herzen hinter der Manifestation im Leben (OYII.T1 287), im Innersten unseres Seins, hṛdaye guhāyām 27. Das psychische Sein, der caitya puruṣa 28, befindet sich in der Evolution, lernt und wächst mit dieser, vadgītā«, 377: »Ein Teil meines eigenen Selbst, welcher in der Welt des Lebens zur lebendigen ewigen Seele geworden ist«. 25 Vgl. OYII.T1 287, ferner 287–307, 307–20, 320–4. 26 Die psychische Entität stand zu Beginn nicht an so bedeutender Stelle in Sri Aurobindos Werk. Die in der Zeit des »Arya« verfassten Werke enthalten sie kaum. Auch von LD waren schon viele Kapitel im »Arya« erschienen. Sri Aurobindo hat diese LDKapitel überarbeitet, ihnen neue wichtige hinzugefügt und sie 1939 als »The Life Divine« veröffentlicht. (Vgl. Purani, The Life of Sri Aurobindo, 337.) Bei dieser Überarbeitung hat er besonderes Interesse der psychischen Entität zugewandt, wie man leicht durch Textvergleich sehen kann und wie mir Prof. Indra Sen und Nolini Kanta Gupta, der Sekretär des Ashram, brieflich versichert haben. Dieser Vorgang ist von großer Bedeutung, weil er zeigt, wie sehr sich Sri Aurobindo in Denken und Erfahrung um die Person bemüht hat. Auch aus seinen Briefen spürt man dieses Anliegen. 27 OYI 170; OYII.T1 308–9. 28 Die Identität beider zeigen viele Stellen, z. B.: OYII.T1 298, 299, 302, 308–9.
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ohne seine Unsterblichkeit zu verlieren. Indem es sich in der Entwicklung befindet, ist es zugleich über die einzelnen Momente derselben hinaus; es entwickelt gleichsam in der Evolution alle seine ewigen Potenzen in zeitlicher Manifestation. 29 Die Teile unserer Natur – mind, Leben, Leib, Ich und Persönlichkeit 30 – »sind nicht nur veränderlich, sondern auch vergänglich; aber die psychische Entität in uns dauert fort und ist grundlegend immer dieselbe: sie enthält alle wesentlichen Möglichkeiten unserer Manifestation, aber ist nicht durch diese konstituiert« (LD 1062). Das psychische Sein weiß unmittelbar und direkt um die Wahrheit des Seins und der Natur, weil sein Wesen selbst durch Wahrheit, durch das Gute und die Schönheit geprägt ist. Darum brennt sie als »die immer-reine Flamme des Göttlichen in den Dingen« (LD 1062).
4.2 Jīvātman Das psychische Sein wird nicht konstituiert durch seine evolutiven Möglichkeiten, weil es – obwohl in der Evolution – immer schon über diese hinaus ist. Das wahre Selbst der psychischen Entität, ihr entspringen-lassender Grund, ist der Jīva oder Jīvātman 31, das geistige Individuum, das »individual Divine« 32. Er ist immer seine Wirklichkeit in actu, immer bei sich, frei vom evolutiven Prozess, reiner Geist, »aus sich selbst existierend 33 über dem manifestierten […] Sein«
Besonders OYII.T1 288, 302–3; LD 884–911. Persönlichkeit im Gegensatz zu Person ist die Übersetzung für »personality«. 31 Jīva-ātman heißt eigentlich vom Wort her schon: individuierter bzw. ins Leben hineingestellter ātman. Jīva hat zwei Bedeutungen: In der ersten Bedeutung meint er alle »lebenden Geschöpfe«, sarvabhutāni, in der zweiten Bedeutung ist er Jīvātman, »der Geist, welcher individuiert ist und das lebende Wesen in seiner Evolution von Geburt zu Geburt trägt« (OYII.T1 288). 32 Vgl. LD 175, 176, 674–5. 33 »Aus-sich-selbst-existierend« kann natürlich nicht absolut gemeint sein, wenn dem Jīvātman eine Abhängigkeit im Sinne des Begründetseins in Gott zugeschrieben werden muss. Es kann nur relativ zum Außer-sich-sein in der Natur und im evolutiven Prozess gesagt werden. Doch bricht hier die ganze Schwierigkeit auf, die im Kap. VII weiter durchleuchtet werden soll. Wir stehen vor der Alternative: Entweder stimmt meine Interpretation, welche dem Jīvātman zwar einen göttlichen Seinscharakter, aber eine kontingente Existenz infolge der Limitation durch das Wesen der Individualität zuschreibt, oder aber das System gerät in eine logische und ontologische Unmöglichkeit hinein: 29 30
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Psychische Entität und Jīvātman
(OYII.T1 302), also nicht bloß ›innen‹, sondern ›darüber‹. 34 »Jīvātman […] ist nichts anderes als paramātman […], das ’Absolute« (LD 674), aber als »individual Divine«. Seine unvergängliche Wirklichkeit entsteht unmittelbar aus der Transzendenz als Individuation der göttlichen Natur, parā prakṛti, durch svabhāva, aus der einen Real-Idee durch Zentrenbildung, welche die Real-Ideen hervorbringt. So ist er das Absolute, nicht in seiner Transzendenz, sondern in seiner Vielgestalt, in der unendlichen Dynamik des Werdens (Becoming) durch cit- śakti. 35 Wie unterscheidet sich der Jīvātman vom caitya puruṣa, dem psychischen Sein? Sind es zwei verschiedene Seiende? Nein, beide zusammen sind ein einziges Seiendes, die eine Person, aber in zwei Formen des Seins. Der Jīvātman als das Aus-sich-seiende, um sich selbst wissende individuelle Selbst wird in der Evolution repräsentiert vom psychischen Sein. Durch das psychische Sein geht er ein in die Entwicklung, verleiblicht er sich, macht er individuelle Erfahrungen, obwohl er als er selbst diese immer schon transzendiert. Caitya puruṣa und Jīvātman bilden zusammen die eine individuelle Seele oder Person. Wenn die Person in die Welt eintritt, dann schafft sie sich ein von Geburt zu Geburt wechselndes Instrumentarium für die Erfahrung aus Mind, Leben und Körper, bildet mit jedem neuen irdischen Leben eine neue Ich-Persönlichkeit (ego-personalitiy) und wirft diese nach einer solchen Erfahrung beiseite wie ein abgetragenes Gewand. Darum hat die eine Person viele »personalities«, die sie so lange wechselt, bis die »personality« nicht mehr die Person begrenzt, son1. Das »individual Divine« müsste im Wesentlichen dieselben Prädikate tragen wie das »transcendental Divine«. 2. Der Konnex zur Schöpfung wäre nicht anders denkbar als pantheistisch, was aber in sich und aus anderen Äußerungen bei Sri Aurobindo unmöglich wäre. 34 Deshalb wohnt der Jīvātman nicht im Herzenslotus wie die »psychische Entität«, sondern grenzt von oben her an brahmarandhra oder sahasrāra, dem tausendblättrigen Lotus. Doch auch dieser Lotus ist nicht im »grob-physischen«, sondern im »feinstofflichen Leib«, deshalb wohl in der individuellen Erfahrung, nicht aber, oder noch nicht, morphologisch verifizierbar. 35 »Der Jīvātman lebt vielmehr in der Wesentlichkeit und kann sich selbst in die Identität mit dem ’Höchsten Wesen versenken; aber in dem Moment, wo er über der Dynamik der Manifestation präsidiert, weiß er sich selbst auch als ein Zentrum des vielfältigen ’Göttlichen (multiple Divine), nicht als der Parameshwara.« (OYII.T1 287) Eine sehr wichtige Stelle, an welcher mit Nachdruck unterschieden wird zwischen dem höchsten Parameśvara (höchster Īśvara, göttliche Person) und Jīvātman.
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dern bis in die letzte Zelle hinein das göttliche Leben der geistigen Person zum Ausdruck bringt. Dann sind Unendlichkeit und Unsterblichkeit ins Endliche vorgedrungen und dort ausdrücklich geworden, dann kann selbst die Unsterblichkeit des Leibes sinnvoll gedacht und möglich werden. 36 Die Vergänglichkeit ist ja dadurch bedingt, dass sich das Endliche gegen das Unendliche verschließt, nicht fähig ist, das unendliche Wirken und Gegenwärtigsein zu ertragen, und so sich selbst zerstört, weil es sich der Quelle seiner Existenz beraubt. Ist jedoch das göttliche Leben der individuellen Person bis in die letzte materielle Faser vorgedrungen, dann ist die Person nicht mehr bloß der verhüllte Kern, das Innerste und Höchste unseres Seins, sondern alles, der transformierte Mensch, das »gnostische Wesen«.
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Die individuelle Person
Das höchste Geheimnis, rahasyam uttamam, unseres und des göttlichen Seins ist die Person (E 747). Die Person ist die grundlegende und zentrale Wahrheit der Wirklichkeit und ihres Abbildes, der Philosophie. Sie ist das »Secret of Secrets«, das »Herz der Lehre der Gita«; sie ist das Herz der Philosophie von Sri Aurobindo, weil in ihr alle Wirklichkeit gründet und sich vollendet. Aus diesem Grunde haben wir in allem Vorausgegangenen immer schon von Person gehandelt, ohne ausdrücklich von ihr zu sprechen. Person ist Puruṣa und Prakṛti, ihre Zweieinheit 37, ist Brahman und Saccidānanda. Das transzendente, universale und individuelle »Divine«, wird zur individuellen Person durch den Supermind, als welche es sich in der niedrigeren Hemisphäre – der Welt – manifestiert, involviert und Welterfahrung sammelnd evolviert. Person ist schließlich das Innerste des Menschen, seine Seele (Soul), das psychische Sein (psychic Entity), der Jīvātman (Jīva). Wenn wir von Person sprechen, dann müssen wir das Ganze des Seins erörtern, weil in der Philosophie jedes Problem alle anderen Probleme einschließt 38, weil der Ort der Person und ihre Relationen innerhalb des Ganzen LD 978–81. Die Unsterblichkeit des Leibes wird jedoch nie zur »eternity« des Geistes werden, sondern »perpetuity« bleiben. OYII.T2 333, 337. 37 Der Jīva steht als Vereinigung über den Aspekten puruṣa und prakṛti: »Der Jiva […] ist der Treffpunkt des Spiels des zweifachen Aspekts des ’Göttlichen Seins (Divine), Prakriti und Purusha […]« (OYI 878). 38 Heidegger, Was ist Metaphysik? 24. 36
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Die individuelle Person
ausfindig gemacht werden müssen und weil die Wirklichkeit selbst Ausgang und Ziel in der Person hat und deshalb Philosophie Personphilosophie ist. Wenn wir jetzt ausdrücklich von Person sprechen, dann können wir bereits die bisherigen Erörterungen voraussetzen. Im Besonderen sei im Hinblick auf die individuelle Person der Rückverweis auf all das gegeben, was wir ausführlich über puruṣa, svabhāva, jīva, Real-Ideen, »individual Divine«, Seele, psychisches Sein und Jīvātman gesagt haben: die individuelle Person ist all dieses. 39 Was wir »personality« nennen, ist nur eine oberflächliche Gestaltung. »Hinter ihr ist die ’Person, die verschiedene ›personalities‹ annimmt, […] aber als sie selbst als einzig, wirklich und ewig existiert.« (LD 418–9) Auch das Unpersönliche »ist nur eine Kraft der ’Person: Existieren ist sinnlos ohne ’Existierenden, Bewusst-sein hat keinen Standort ohne einen, der bewusst ist, Freude ist nutzlos und unwirksam ohne einen, der sich erfreut, Liebe kann keine Gründung oder Erfüllung haben ohne Liebenden […]. Denn was wir mit ’Person meinen, ist bewusstes Seiendes (conscious being) […]. Ein ewiges, unendliches Existieren-aus-sich-selbst ist die höchste Wirklichkeit, aber das höchste transzendente, ewige ’Sein, ’Selbst und ’Geist, – wir dürfen sagen, eine unendliche ’Person, weil ihr Sein das Wesen und die Quelle aller ›personality‹ ist, – sind die Wirklichkeit und der Sinn von Existieren-aus-sichselbst: in gleicher Weise ist das kosmische ’Selbst, der kosmische ’Geist, das kosmische ’Sein, die kosmische ’Person die Wirklichkeit und der Sinn der kosmischen Existenz; das selbe ’Selbst – ’Geist, ’Sein oder ’Person –, das seine Vielheit manifestiert, ist die Wirklichkeit und der Sinn von individueller Existenz.« (LD 419)
Person kann deshalb allgemein so ausgesagt werden: Sie ist »reines unteilbares ’Sein, aus sich selbst leuchtend (self-luminous), in sich selbst versammelt im Bewusstsein, in sich selbst versammelt in der Kraft, in sich selbst voll Freude (self-delighted)«. Sie ist »ohne Zeit, ohne Raum, sie ist frei« (IU 54). 40
Dass diese nicht nur aus der Sache, sondern auch als Begriff weitgehend übereinstimmen, weil sie dieselbe Sache nur unter einem je verschiedenen Gesichtspunkt meinen, zeigt der oft synonyme Gebrauch der Begriffe, z. B. an folgenden Stellen: LD 175, 176, 268–71, 634–5, 901 ff. 40 Das wird vom Ātman schlechthin gesagt, noch bevor er differenziert wird in seine drei Zustände: Kṣara, Akṣara und Para oder Uttama. Das berechtigt uns, diese Aussage auf Person überhaupt anzuwenden. »Atman, unser wahres Selbst, ist Brahman.« 39
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5.1 Das »individuelle göttliche Sein« (individual Divine) Überlegungen aus dem Begriff Die individuelle Person ist das »individual Divine«. Damit werden vier wesentliche Dinge zum Ausdruck gebracht: 1. Das Wesen der individuellen Person ist das »Divine«. Sie gründet in der absoluten Person, ist dem Wesen nach mit ihr identisch. 2. Die individuelle Person ist verschieden von der absoluten Transzendenz, denn sie meint zwar das »Divine«, aber dieses auf individuelle Weise. 3. Die individuelle Person existiert als ewige Wirklichkeit, denn ihr Wesen ist der Geist, die göttliche Natur. Geist aber ist Einheit, Freiheit, Selbst-Besitz. 4. Weil es zwei ewige Personen gibt, die individuelle und die transzendente, und weil diese eins sind im Wesen, wenn auch verschieden in der Kraft des Seins, darum besteht eine WesensBeziehung 41 zwischen Transzendenz und Individuum und eine Gegenseitigkeit (mutuality) zwischen den Individuen. Der Grundbezug zwischen transzendenter und individueller Person einerseits und zwischen den Individuen andererseits ist nicht die Identität, sondern die Einheit in Verschiedenheit (»unity in difference«). Die Notwendigkeit des »individual Divine« Erhärten wir diesen Gedankengang durch weitere Überlegungen. Die Wesentlichkeit (essentiality) und die Gemeinsamkeit (commonalty) sind sinnlos, wenn es nicht das Viele gibt, von welchem sie die Einheit bilden; deshalb existiert das Individuell-Viele in ebenso unmittelbarer Weise zur Transzendenz wie das Universal-wesentlich-Eine. Die Transzendenz begründet das »One« und die »Many« und das »Onein-Many«, »denn es ist dieses ’Göttliche ’Sein, welches [who!] dieses höchste Selbst und diese höchste ’Wirklichkeit ist, und wir sind
(IU 54) Brahman aber ist die Wirklichkeit schlechthin, die sich differenziert in transzendent, universal und individuell. 41 Die relatio transcendentalis oder Wesens-Beziehung im Unterschied zur kategorialen oder akzidentalen Beziehung.
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Die individuelle Person
selbst-existent und ewig nur in seiner Ewigkeit und durch seine Selbst-Existenz« (LD 425–6). 42 Wenn wir uns nochmals an Kṣara (»Divine« als saguṇa oder ananta-guṇa) und Akṣara (»Divine« als nirguṇa) erinnern, dann ergibt sich folgende Einsicht: Der Kṣara Puruṣa braucht den Akṣara als seinen ruhenden »Pol«, Akṣara aber ist ohne Kṣara sinnlos, denn beide können nur sein und gedacht werden in gegenseitiger Abhängigkeit. Akṣara transzendiert Kṣara und bringt diesen so zu sich selbst. Akṣara ist aber andererseits auf Kṣara bezogen, als welches er sich selbst entfaltet, seine Möglichkeiten wirklich macht. Dieses notwendige korrelative Spannungsverhältnis kann nur zwischen Kṣara (saguṇa) und Akṣara (nirguṇa) gedacht werden, ferner zwischen diesen und dem Puruṣottama, der absoluten Transzendenz, als dem gründenden und das One-in-Many-Verhältnis übersteigenden Grund. Von Puruṣottama her besteht jedoch keine notwendige Bezogenheit zu Universalität und Individualität; denn er existiert aus sich selbst in einer absoluten Unendlichkeit, Bewusstheit und Seligkeit des Seins. Seine Beziehung ist die des ānanda; denn ānanda allein kann der Grund sein, warum sich der Absolute in die Vielheit hinein manifestiert, für uns letztlich ein undurchdringliches Geheimnis 43. Das »individual Divine« muss von zwei Seiten her gedacht werden: vom Absoluten und von der Welt. Der Absolute ist als Absoluter aus sich selbst evident; er bedarf nicht der Welt zu seiner Existenz. Nun ist aber die Welt ein Faktum der Erfahrung. Sie ist zwar nicht der Absolute, kann aber auch nicht radikal von ihm verschieden sein. Darum muss der Absolute der Welt immanieren, unvermischt und ungetrennt, weil er sich ja in die Schöpfung manifestiert hat. Und dieser Terminus meint genau die universale und individuelle Immanenz, »universal and individual Divine«. Sri Aurobindo fährt fort: »Diese Abhängigkeit widerspricht nicht der ’Identität, sondern ist selbst die Türe zur Verwirklichung der ’Identität.« – Das sei bemerkt im Hinblick auf das Folgende. 43 Es sei hier besonders auf die Ausführungen Sri Aurobindos hingewiesen, die er zu der Frage macht: Warum ist die fortschreitende Manifestation überhaupt notwendig? (LD 485–8) Die einzige Antwort ist: ānanda und das Bleiben eines letzten Geheimnisses. Es hat zwar oft den Anschein, als gehe alles in Sri Aurobindos System fein säuberlich auf, sei restlos verstehbar, aber es gibt auch für ihn Dinge, die undurchdringliches Geheimnis sind und bleiben und an welche unser Verstehen nur approximativ herankommt. 42
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Das »individual Divine« erweist sich ferner in der individuellen Erfahrung: Der Mensch könnte sich nicht selbst transzendieren, wenn er nicht schon immer jenseits seiner selbst wäre. Dies besagt ein Zweifaches: Jenseits der jetzigen Bewusstheit und Form des Seins und doch Identität des Menschen mit sich selbst in seinem Selbst, denn der Mensch könnte sich nicht auf etwas schlechthin anderes hin übersteigen. 44 Verhältnis zur Transzendenz So ergibt sich, dass die individuelle Person unmittelbar in der Transzendenz gründet und nicht bloß das Universale besondert. Sie ist auf individuelle Weise Īśvara, identisch mit ihm in seinem Wesen, aber verschieden in der Kraft des Seins. Sie erweist sich als das »multiple Divine«. Die Vielen sind ewige »Selbste« der Parā- prakṛti, welche ihren Seins- und Einheitsgrund in der Transzendenz haben. 45 Aber die Einheit kann nicht völlige Identität sein. Sie ist Einheitin-Verschiedenheit (unity in difference, difference in oneness), die Einheit des gegenseitigen In-Besitz-nehmens (mutual possession) durch die Liebe. 46 Individualität und Transzendenz besagen eo ipso bleibende Verschiedenheit. Supermind und göttliche Natur (parā prakṛti) kommen beiden in verschiedener Weise zu: der Transzendenz in vollständiger Identität, dem Individuum durch Partizipation. Denn aus dieser Natur wird ja das Individuum besondert durch svabhāva. »Wir müssen uns daran erinnern, dass immer ein Unterschied besteht zwischen dem höchsten ’Supermind des allwissenden und allmächtigen ’Ishwara und dem, was vom ’Jiva erreicht werden kann.« Der Īśvara drückt sich selbst in uns in göttlicher Weise aus, »aber unter den Bedingungen des Menschseins und durch die vergöttlichte Menschennatur« (OYI 911). 47 Aus diesem Sachverhalt folgt, dass die individuelle Person nicht nur gegenüber der raum-zeitlichen Veränderung 48, sondern auch gegenüber der Transzendenz ewig subsistiert. Wenn die Befreiung Für die Erfahrung des Selbst sei noch verwiesen auf LD 607–22, 1018–20, 1025, 1027, 1048–51, 1055–6. 45 LD 425–6 et passim; OYI 246–7 et passim; OYII.T1 288, 289, 302; IU 38; E 746–7, et passim. 46 LD 426, 439–40; OYI 431 et passim. 47 Weitere wichtige Stellen: OYI 412–3, 434, 495, 565, 875, 877, 880, 904–5. 48 Z. B. LD 979. 44
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Die individuelle Person
(mokṣa, mukti) des Individuums zu seiner Auflösung führte, wie der Māyāvāda verkündet, weil es sich selbst und die Welt als Illusion erkennt, dann wäre die Bemühung um die Befreiung selbst nutzlos, Illusion, ja schon die Erkenntnis, dass das Individuum sich befreien müsse, illusorisch. 49 Um in der Freiheit des Geistes zu leben, muss weder das körperliche Dasein noch die Individualität vernichtet werden: Die Befreiung geschieht im Leib und für das Individuum. 50 »Es ist eine Forderung, über das Ich hinauszukommen, aber man kann nicht über das Selbst hinausgehen – ausgenommen so, dass man es in höchster und universaler Weise (supremely, universally) wiederfindet.« (LD 830) »Die Existenz des Individuums ist kein Irrtum […] des ’Absoluten […]; denn es ist unmöglich, dass das absolute Selbst-Bewusstsein […] seine eigene Wahrheit [nämlich die Offenbarung als Individuum] nicht erkennen […] oder widerrufen sollte. Noch ist die individuelle Existenz ein untergeordneter Umstand in einem göttlichen Spiel […].« (LD 458–9)
In der Kraft, sich selbst zu transzendieren, liegt die Rechtfertigung der individuellen Existenz und ihres bleibenden Bestandes auch gegenüber der Transzendenz. »Sonst gäbe es keinen Grund, warum sie [die Individuen] je existiert hätten; die Möglichkeit, dass sich ’Gott im Individuum entfaltet, ist das Geheimnis dieses Rätsels.« (LD 459) 51 Auch in der Gita gibt es keine »sich selbst-vergessende Abschaffung des personalen Seins der Seele in dem aufsaugenden ’Einen« (E 539), keine Auflösung des »individuellen geistigen Seins« in ein »absolutes Brahman« (E 571). Es ist immer unsere eigene Seele, die sich am göttlichen Leben erfreut (E 745). »Noch mehr, das geistige Individuum verbleibt als ein kleines Universum der göttlichen Existenz unabhängig und zugleich untrennbar vom ganzen unendlichen Universum der göttlichen Selbst-manifestation […].« (E 746) Dieses Wort ist vielleicht die tiefste Aussage über die menschliche Person. Sie reicht an die Definition des »Unvermischt und Ungetrennt« im Konzil von Chalcedon 52 heran und ist wohl das Äußerste, was über das Verhältnis von Mensch (bzw. Welt) und Gott gesagt werden kann. Wenn transzendente und individuelle Person zwei bleibend-verschiedene Termini in einer Wesenseinheit sind, dann besteht zwi-
49 50 51 52
Z. B. LD 45–7, 896. LD 45–7. Weitere Stellen: LD 450, 565–6, 829–30; OYII.T1 59; OYII.T2 182. Denzinger: Enchiridion Symbolorum, No. 148: Definitio de duabus naturis Christi.
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schen ihnen eine wesentliche Beziehung, die durch keine Einheit oder Verschiedenheit, durch keine Einigung oder Loslösung aufgehoben, sondern durch beide Momente zusammen konstituiert wird. 53 »Das zentrale geistige Sein in uns ist es, welches [who!] so in eine vollkommene und ganz wirkliche (closely real) Beziehung der Seligkeit und Einheit mit dem Ursprung […] unserer Existenz eintritt.« (E 736) Die Beziehung richtet sich in unmittelbarer Weise auf den transzendenten Gott und erst durch ihn vermittelt auf die anderen Individuen. Die Beziehung ist nicht nur eine des Seins und Bewusstseins, sondern – auf diesen gegründet – eine Relation der Hingabe und der Liebe. Die vollkommene Hingabe, das Sich-Gott-Überlassen, ist mehr als alle persönliche Anstrengung, ist der grundlegende Imperativ des Integralen Yoga; nur sie allein kann das höchste Ziel erreichen, denn sie öffnet den Menschen für das Herabkommen der Gnade. 54
5.2 Liebe und Ānanda: das Wesen der Person Die Liebe ist das größte aller Vermögen und hat als Weg zu Gott den Vorrang vor allen anderen. 55 Die Liebe, verbunden mit Erkenntnis, legt einerseits den Grund zum Person-sein und setzt andererseits dieses voraus. 56 Sie geht aus vom göttlichen Ānanda und hat ihr Ziel im Herzen des Menschen, dem Ort der Seele, des psychischen Seins. Die göttliche Freude (ānanda) trifft auf ihr Abbild in der Welt: die Seele. Die Seele aber repräsentiert die Person. »Die Liebe ist die Krone allen Seins und dessen Weg zur Erfüllung.« (OYI 623) Aus Ānanda kommt die Liebe und führt zu Ānanda, weil sie selbst Ānanda ist. Liebe aber trifft das Innerste unseres Seins und des göttlichen Lebens. Der dritte Terminus von Saccidānanda steht eigentlich nicht neben Sat und Cit, sondern in gewisser Weise darüber: Er besagt die Freude des Existierens-aus-sich-selbst im unendlichen Wissen-um-sich-selbst, die Freude des Sich-selbst-Besitzens, Obwohl diese Aussage in anderen mit enthalten ist, seien einige Stellen genannt, an welchen ausdrücklich von Relation gesprochen wird: LD 425–6, 440–3, 1189–98; OYI 774, 868–9; E 745; OYII.T1 302. 54 E 756–60 et passim. Unter den vielen Stellen der übrigen Schriften sei nur LD 1080 hervorgehoben. Vgl. auch die Grundsatzkapitel über den Integralen Yoga: OYI Introduction Ch. V, Part Four Ch. I. 55 E 332 et passim; LD 1075–6; OYI 169, 649–50, Part Three. 56 OYI 649–50, 658–9, 671, 672–3; E 379, 536–50, 727–30, 735–49. 53
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jenes Dritte, worin Sat und Cit geeinigt sind. Dasselbe gilt vom Menschen, nicht nur, weil er auf individuelle Weise Saccidānanda verwirklicht, sondern viel mehr, weil Sein und Erkennen (Bewusstsein) zwar das Fundament sind, Seele und Liebe aber die Höhe (altitudo) menschlicher Person. In der Seele, im jīva, sind Puruṣa und Prakṛti geeint, die Seele ist ihr »Treffpunkt« (OYI 878). Ānanda ist die »ewige Wahrheit der Vereinigung dieses bewussten Seienden (conscious being) und seiner Bewusstseinskraft« (OYI 495). Darum scheint mir nicht der Puruṣa (sat), insofern er der Prakṛti (cit) gegenübersteht, sondern Ānanda als Einheit beider im eigentlichsten Sinn die Person zu sein, ihr wahres Geheimnis auszudrücken.
5.3 Freiheit Die Person ist als Geist frei, nimmt teil an der göttlichen Freiheit. Diese Freiheit meint vor allem eine Freiheit gegenüber dem Karma und dem Gesetz der Natur. Aber mehr noch: Die individuelle Person ist auch als sie selbst in ihrer ewigen Einmaligkeit frei gegenüber der transzendenten Person. Auch wenn sie die höchste Vereinigung mit Ihm in völliger Hingabe anstrebt und den Geist Gottes in sich wirken lässt, bleibt es doch immer der göttliche Wille in ihr und darum ihr eigener, wenn auch vergöttlichter und darum Gott stets suchender Wille. 57 Der Weg zur Vollendung führt stets in einer doppelten Bewegung aufwärts: die persönliche Anstrengung »von unten« und die herabkommende Gnade »von oben«. »Wehre auch die falsche und faule Erwartung ab, dass die ’Macht des Höchsten ’Wesens selbst die Unterwerfung für dich vollziehen werde. Der ’Erhabenste fordert, dass du dich ihr unterwirfst; er zwingt dir aber diese Hingabe nicht auf. In jedem Augenblick bist du frei, das Höchste ’Wesen zu verleugnen und abzulehnen oder deine Selbst-Hingabe zu widerrufen, – bis die unwiderrufliche Transformation kommt. Nur musst du auch willens sein, die spirituellen Folgen daraus zu erleiden. Deine Unterwerfung muss von dir selbst vollzogen werden, und sie muss eine freie sein. Sie muss die Hingabe eines lebendigen Wesens und darf nicht die eines trägen Automaten oder eines mechanischen Instrumentes sein.« 58 Vgl. OYI 876. Ein sehr wichtiger, aber durchaus nicht singulärer Text aus: »The Mother«, Calcutta 1928. In Auswahl ins Deutsche übersetzt von Heinz Kappes in: Integraler Yoga, Heft 2/1964, 107. Weitere Stellen zum Thema Freiheit: LD 487, 962–5, 1188–98; OYI
57 58
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5.4 Unendliche Endlichkeit In der Vielheit der Individuen, in der durch svabhāva begrenzten Kraft ihres Seins, in ihrem ewigen Bestehen und in ihrer Freiheit auch gegenüber der Transzendenz ist notwendig ein Zweifaches gesagt: unaufhebbare Endlichkeit in der wesentlichen Unendlichkeit. Diese unendliche Endlichkeit geht ein in die Welt von Materie, Leben, Mind und Unwissenheit (Ignorance), involviert sich in die Unbewusstheit (Inconscience), nicht um diese in ihrer vom göttlichen Leben abgetrennten Partikularität zu bekräftigen, sondern um sie im evolutiven Prozess aufzuschließen für das Ganze des Seins und für die Transzendenz. In diesem evolutiven Prozess werden Leib, Leben, Mind und Psyche Stützpfeiler, um Erfahrung zu sammeln. Ihr Sinn ist es nicht, als schädliche Illusion zerrissen, sondern in der Aufschließung für das göttliche Leben in ihr eigenes Wesen und Recht eingesetzt zu werden. Das Endliche erhält seinen vollen Sinn erst, wenn das Unendliche in ihm anwest, wenn es eine Weise des Unendlichen geworden ist. Darum nicht Vernichtung, sondern Transformation, nicht göttliches Leben in einem Jenseits, sondern hier auf Erden: »Life Divine upon Earth«. Die Herabkunft des Supermind und die durch ihn bewirkte radikale Transformation jeder Faser unseres Seins bejaht in größtmöglicher Weise die Endlichkeit. Die unendliche Endlichkeit der individuellen Person bleibt nicht auf ihr geistiges Wesen begrenzt, sondern dehnt sich aus auf das Ganze ihres Seins bis hinein in ihre Materialität.
5.5 Vollkommene Rückkehr zu sich selbst Aus der bisherigen Beschreibung der Person ergibt sich von selbst, dass sie als geistiges Individuum, als »individual Divine«, zur vollkommenen Rückkehr zu sich selbst (reditio completa) fähig ist. Im Zustand der Unwissenheit in der Welt ist das geistige Wesen verhüllt. Aber gerade das Vermögen, den Schleier der Unwissenheit zu zerreißen und das wahre Wesen, die Seele, zu entdecken, besagt die vollkommene Rückkehr zu sich selbst, welche zuerst schrittweise durch
109–11, 214–7; OYII.T1 139 f., OYII.T2 843–4, 844–6 (Beweis der Freiheit gegen den Determinismus; Quantentheorie und freier Wille), 846–7.
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Evolution und Transformation von der Möglichkeit in die Wirklichkeit übergeht, um sich im aktuellen Selbstbesitz, in der Selbstidentität der supramentalen Erkenntnis zu vollenden.
5.6 Integration dieser Momente im gnostischen Individuum Das eine Geheimnis der Person hat sich uns in verschiedenen Perspektiven aufgefächert; versuchen wir es jetzt noch einmal zu sagen in einer mehr integrierenden Schau. In der Betrachtung steht jetzt nicht die spirituelle Person als das verborgene Zentrum unseres Seins, sondern der am Endpunkt der transformierenden Evolution angekommene Mensch, in welchem auch das Äußere in die Vervollkommnung der Person hineingehoben worden ist: das gnostische Wesen (gnostic being). Welchen Platz nimmt in diesem gnostischen Wesen die ›personality‹ ein? Unterscheidet sie sich von der gewöhnlichen Lebensform der Person? »Wenn es eine Persönlichkeit (personality) gibt und wenn sie in irgendeiner Weise für ihr Tun verantwortlich ist, dann erhebt sich als nächstes die Frage nach dem Platz des ethischen Elements […] in der gnostischen Natur. Für die gewöhnliche Ansicht ist das trennende Ich unser Selbst und, wenn dieses Ich in ein transzendentales oder universales ’Bewusstsein hinein verschwinden soll, dann muss das persönliche Leben und Tun aufhören; denn wenn das Individuum verschwindet, dann kann es nur noch ein unpersönliches Bewusstsein, ein kosmisches Selbst geben: […] die Frage nach Persönlichkeit oder Verantwortlichkeit oder ethischer Vervollkommnung ist gegenstandslos. In einer anderen Ideenrichtung bleibt die geistige Person bestehen, aber befreit […] in einer himmlischen Existenz.« (LD 1180)
Aber da wir uns noch auf der Erde vorfinden, mag man die Ich-Persönlichkeit ersetzt denken durch ein in das Universale hineingehobenes geistiges Individuum (»universalised spiritual individual«), Puruṣa, jedoch ohne Persönlichkeit. »Doch das wäre eher eine mentale als supramentale Lösung des Problems einer geistigen Individualität, welche das Ich überlebt und in Erfahrung fortbesteht. Im supramentalen Bewusstsein sind persönlich und unpersönlich nicht gegensätzliche Prinzipien; sie sind untrennbare Aspekte ein und derselben Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist nicht das Ich, sondern der Seiende (being), welcher [who!] unpersönlich und universal ist hinsichtlich des Natur-Stoffes, aber aus diesem eine ausdrückende Persönlichkeit (ex-
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pressive personality) formt, welche seine Selbst-form im Wechsel der ’Natur ist.« (LD 1181) 59
Fassen wir die hier vorgelegten Gedanken noch einmal kurz zusammen: 1. Die Person und das Unpersönliche implizieren sich gegenseitig. In der Person findet die unpersönliche Kraft des Seins oder die Vollkommenheit ihr Selbst. 2. Die Person ist als reines, formloses, unbegrenztes Selbst eine einzige mit unbegrenzten Möglichkeiten (possibilities!). 3. Der einzigartige Selbst-ausdruck der Person durch Formung (Verwirklichung) dieser Möglichkeiten in der Natur schafft das »individual Divine«. 4. Das »individual Divine« oder gnostische Individuum ist ein begrenzter Selbstausdruck der absoluten Person, eine ihrer unendlichen Möglichkeiten; diese ist selbst Person, jetzt aber individuelle Person. Die individuelle Person ist wiederum das Selbst einer unpersönlichen Natur, aus welcher sie mannigfache Persönlichkeiten annehmen kann, jetzt aber in der niedrigeren Hemisphäre, nicht in der Manifestation schlechthin. »Ein supramentales gnostisches Individuum wird eine geistige ’Person sein, nicht aber eine Persönlichkeit im Sinne eines Seins-musters (pattern of being), welches bezeichnet ist durch eine festgelegte Kombination von fixierten Eigenschaften, einen bestimmten Charakter; es kann das nicht sein, weil es ein bewusster Ausdruck des Universalen und Transzendenten ist.« (LD 1182)
Es kann aber auch kein launenhafter Wechsel von Formen und Persönlichkeiten sein: das widerspräche dem harmonischen Selbstbewusstsein dieses gnostischen Wesens. Mag man auch unterscheiden zwischen Persönlichkeit und Charakter, wobei Persönlichkeit mehr das Fließen in Wahrnehmung und Antwort, Charakter eher die feste Form der natürlichen Struktur meint, so ist doch das entscheidende Dritte die Person, »von welcher die Persönlichkeit ein Selbst-ausdruck ist; die ’Person stellt vor sich die Persönlichkeit als ihre Rolle, ihren Charakter, ihre persona 60 im gegenwärtigen Akt des langen Dramas ihrer manifestierten Existenz. Aber die ’Person ist Die Seiten LD 1181–2 sind außerordentlich wichtig für das Verständnis der Person. Ähnlich die Unterscheidung zwischen Persona und Selbst bei C. G. Jung. Siehe Jacobi, Die Psychologie von C. G. Jung.
59 60
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größer als ihre Persönlichkeit.« (LD 1183) Während die Persönlichkeit durch Beschreibung weitgehend adäquat erfasst werden kann, muss ein solcher Versuch gegenüber der Person jämmerlich scheitern. »Das gnostische Individuum wäre solch eine innere ’Person, aber unverhüllt; sie würde sowohl die Abgründe […] wie die Oberfläche in einem vereinigten Selbst-bewusstsein in Besitz nehmen; es würde nicht eine Oberflächen-Persönlichkeit (surface personality) sein, welche ein größeres verborgenes Sein nur zum Teil ausdrückt, nicht die Welle, sondern der Ozean: es würde der ’Purusha sein, die innere bewusste ’Existenz, welche sich selbst eröffnet hat (self-revealed); es wäre für das gnostische Individuum nicht nötig, sich in einer herausgeschnittenen Maske oder persona auszudrücken.« (LD 1184)
Wenn der Mensch die volle Umwandlung durchschritten hat und zum gnostischen Wesen geworden ist, dann gibt es keine Probleme, keinen Widerstreit mehr zwischen Gut und Böse, die Ethik ist aufgehoben; denn alle Probleme und Konflikte haben ihre Wurzel in der Begrenzung des Mentalen. Das gnostische Wesen aber lebt im unmittelbaren Wahrheitsbewusstsein, Sein und Wollen, svabhāva und svadharma, sind ihm identisch. Der Widerstreit zwischen Selbst und Natur, Puruṣa und Prakṛti, hat aufgehört, ist eingemündet in das Wissen um die ursprüngliche Zwei-einheit. Im Zustand des unmittelbaren Wahrheitsbewusstseins wird die Freiheit des gnostischen Individuums darin ihre Erfüllung finden, dass sie in dynamischer Weise die Wahrheit ihres Seins zur Vollendung bringt. Dies kann nur geschehen im völligen Gehorsam gegenüber dem Wirken der Göttlichen Natur und dem Willen des Īśvara. »Das gnostische Wesen lebt im Bewusstsein des ’Unendlichen und erschafft seine eigene Selbstmanifestation als ein Individuum, aber es wird dies tun als Zentrum einer größeren Universalität und doch gleichzeitig als Zentrum der Transzendenz.« (LD 1190) Deshalb wird sein Tun harmonieren mit dem Universalen und mit der Transzendenz. »Der Gehorsam seiner individuellen Natur gegenüber dem Ishwara und der ’Übernatur wird einen natürlichen Zusammenhang ergeben und in Wahrheit die eigentliche Bedingung für die Freiheit des Selbst sein, da es ein Gehorsam gegenüber seinem eigenen höchsten Sein ist, eine Antwort auf die ’Quelle seiner ganzen Existenz.« (LD 1191)
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6
Die transzendente Person
Wenn wir uns jetzt in ausdrücklicher Weise dem Geheimnis der göttlichen Person nähern, so haben wir auch über sie fast alles gesagt: 1. Der Puruṣottama vereinigt in sich Kṣara und Akṣara, Individuum und Universales, Saguṇa und Nirguṇa, und transzendiert diese. 2. Das Höchste Wesen ist schlechthin absolut und transzendent, frei von der Welt, aber auch frei, diese zu schaffen. 3. Das Höchste Wesen schließt alle Gegensätze in sich ein und überschreitet sie. Als allgegenwärtige Wirklichkeit, Brahman, Saccidānanda, lebt es nicht nur in einem unzugänglichen Jenseits, sondern immaniert unvermischt und ungetrennt der von ihm geschaffenen Welt. 4. Gott ist keine bloß unpersönliche Kraft oder Seinsvollkommenheit, sondern unendliches Bewusstsein und seliger Selbst-besitz; er ist im eigentlichen Sinn »Being«, Person, welche die unpersönliche Vollkommenheit unterstützt (supporting) und in sich als ihr eigenes hält, als ihre Natur. 61 Die Person ist mit ihrer Natur, dem Unpersönlichen, identisch; sie entfaltet aus sich zur Persönlichkeit, was als unendliche individuelle Möglichkeiten in ihr und in ihrer Natur enthalten ist. 5. Auf Grund bleibender Verschiedenheit in wesentlicher Einheit besteht ein Beziehungsverhältnis zwischen transzendenter und individueller Person, ein Verhältnis der Freiheit, der Liebe, der Erkenntnis, des Seins. Die Zuwendung der Gnade wird in Hingabe und Gehorsam empfangen. 6. Brahman 62 ist Īśvara, die All-Person, Pantheos, die eine-einzige Person, aus der alle anderen hervorgehen. Der Īśvara ist Herr der Welt (Lord), Gott (God, deva), Freund aller Geschöpfe, und wohnt im Herzen aller Wesen als ihr Schöpfer und Seinsgrund, īśvaraḥ sarvabhūtānām hṛddeśe. 63 7. Das Letzte und Äußerste, was über Gott gesagt werden kann, ist dies: Er ist Ānanda. In Ānanda sind Sat und Cit im seligen
Vgl. LD 1181. Erinnern wir uns daran, das Sri Aurobindo Brahman und Saccidānanda meist das Personalpronomen (maskulin, Singular) zuweist: He, who, His etc. 63 Vgl. LD 384, 386, 417–8, 419–21, 568, 1020, 1076, 1080; OYI 34, 140, 247 Anm., 249, 434, 648, 868, 917; E 435, 538–9 u. a. 61 62
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Die transzendente Person
Selbst-besitz geeint. »Ananda ist das wahre Wesen von Brahman.« (LD 1177) 64
6.1 Einzel-Aspekt – endlose Fülle – ER Wenn wir uns dem persönlichen Gott annähern, müssen wir drei Stufen besteigen: Auf der ersten sehen wir ihn als īṣṭa-devatā; hier wird Er erfasst in einer besonderen Form oder in besonderen Eigenschaften »als der Name und die Form der Gottheit, welche unsere Natur und Persönlichkeit vorzieht« (OYI 436) 65; wir sehen Ihn dann als Viṣṇu, Kālī, Brahmā. Gott begegnet uns als die vielen Götter und göttlichen Kräfte, als »der begrenzte persönliche ’Gott von so vielen exoterischen Religionen« (E 461). Auf der zweiten Stufe ist »Er die eine wirkliche ’Person, die ’All-Persönlichkeit, der ’Ananta-guna« (OYI 463). »Diese ist die eine höchste ’Person […], von der alle Gottheiten Aspekte sind und jede individuelle Persönlichkeit eine begrenzte Entwicklung in der kosmischen ’Natur darstellt […]. Alle diese Namen und Formen sind nur Kräfte und Gesichter des einen ’Deva, welcher der allgemeine ’Herr aller Religionen ist und aller, die ihn verehren.« (E 461–2)
Auf der dritten Stufe schreiten wir »zur letzten Quelle jeder Idee und Faktizität von Persönlichkeit in dem, was die Upanishad bezeichnet mit dem einzigen Wort ER, ohne irgendwelche Attribute beizufügen. Dort treffen sich unsere Realisationen des persönlichen und unpersönlichen ›Divine‹ und werden eins in der höchsten Gottheit.« (OYI 436) 66
Tat und Saḥ, DIESES und ER, werden eins 67, so ’hamasmi 68, ICH bin ER. »Die göttliche Unpersönlichkeit ist, wenn man hinter sie zurückgeht, zur selben Zeit unendlicher ER […]. Sie ist das große ›ICH‹ – so ’ham, ICH bin ER, von welchem alle Persönlichkeit und Natur hervorgeht […]« (E 414). 69 Weitere Stellen: OYI 445–6, 567–81, 671–5, 676–82; H 56–61. Auch OYI 72, 684–5. 66 Auch OYI 684. 67 Vgl. IU 70–84. 68 Iśa – Upaniṣad, Vers 16. 69 Weitere Stellen zum Thema: persönlich – unpersönlich: LD 418–9, 789; OYI 93–4, 143–6, 447–8; SM 83. 64 65
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6.2 Personphilosophie als Verschränkung von Intellekt und Liebe Diese klare und unbeirrbare Personbejahung, noch mehr ihre zentrale Position in der Philosophie Sri Aurobindos, mag uns erstaunen, und das vor allem deshalb, weil diese Philosophie ihren Ausgang nicht bei der Offenbarung nimmt und darum in ihrer Situation – nicht in ihrem Inhalt – eher mit Platon als mit Thomas vergleichbar ist. Einen Erklärungsgrund dafür finden wir in der Methode. Gerade einer Personphilosophie muss eine Dialektik von Intellekt und Liebe, jñāna und bhakti, vorausgehen. 70 Wir sind von der indischen Philosophie gewohnt, dass sie die letzte Wirklichkeit als ein absolutes ES, als Nirguṇa Brahman, begreift. Die Liebe als ein Vermögen des Herzens stellt zwar einen persönlichen Gott vor, Saguṇa, Īśvara, aber sie tut es funktional, d. h., durch diese Vorstellung wird es dem bhakta (ein Gott Liebender) möglich, den Weg zu Gott durch sein besonderes Vermögen der Liebe zu beschreiten. Doch am Ende wird sich zeigen, dass sich diese Wirklichkeit auflöst in eine bloße Vorstellung, hinter der erst das eigentliche namen- und gestaltlose, unpersönliche Brahman west. Doch dieses Vorgehen ist einseitig, es übersieht die Grenzen des Intellekts. Wenn der Intellekt die unpersönlichen Wahrheiten schaut und die Liebe ihren persönlichen Charakter erkennt, so sind doch beide Weisen zwei Aspekte der einen höchsten Wirklichkeit, die nur durch geistige Intuition im vollen Sinne angenähert und erfasst werden kann. »Die geistige Intuition ist immer ein lichtvollerer Führer als der unterscheidende Verstand (reason); die geistige Intuition wendet sich zu uns nicht nur durch den Verstand, sondern ebenso auch durch den Rest unseres Seins, durch Herz und Leben. Die integrale Erkenntnis wird dann jene sein, welche allen gerecht wird und ihre verschiedenen Wahrheiten vereinigt. Der Intellekt selbst wird tiefer zufriedengestellt sein, wenn er sich nicht auf seine eigenen Gegebenheiten begrenzt, sondern auch vom Herzen und vom Leben Wahrheit annimmt und ihnen ihren absoluten geistigen Wert verleiht. Es ist die Natur des philosophischen Intellekts, sich zwischen Ideen zu bewegen und ihnen eine Art von abstrakter Wirklichkeit zu verleihen, fernab von all ihren konkreten Vergegenwärtigungen, welche unser Leben und unser persönliches Bewusstsein affizieren.« (OYI 659–60)
70
Deshalb sei diese Untersuchung dem Kapitel »Methode« vorweggenommen.
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Die transzendente Person
Der Intellekt versucht zu einer letzten Abstraktion zu gelangen und sieht darin die Wahrheit in ihrer reinen Form. Das führt ihn immer weiter weg von der Konkretheit des Lebens. »Deshalb ist er durch seine eigene Natur gebunden, in seinem Extrem bei einer absoluten Unpersönlichkeit und Abstraktion anzukommen. Das war der Schlusspunkt der alten Philosophien. Sie reduzierten alles auf drei Abstraktionen, Sein, Bewusstsein, Freude des Seins, und strebten danach, zwei von diesen drei loszuwerden, welche vom ersten und am meisten Abstrakten abzuhängen schienen, und alles aufgehen zu lassen in ein reines gestaltloses Sein […]. Aber dem Intellekt war noch ein weiterer Schritt möglich und er vollzog ihn in der Buddhistischen Philosophie. Er fand, dass sogar diese letzte Tatsache der Existenz nur eine Vorstellung war; er abstrahierte auch von dieser und gelangte zu einer unendlichen Null, welche entweder eine Leere oder ein ewig Unausdrückbares sein kann.« (OYI 660) »Herz und Leben […] haben ein genau entgegengesetztes Gesetz. Sie können mit Abstraktionen nicht leben; sie können ihre Zufriedenheit nur finden in Dingen, die konkret sind oder erreichbar (seizable) gemacht werden können […]. Wenn deshalb Herz und Leben sich dem ’Höchsten und ’Unendlichen zuwenden, dann treffen sie nicht auf eine abstrakte Existenz oder Nicht-Existenz, ein ’Sat oder im andren Fall auf ein ’Nirvana, sondern auf einen Existierenden, einen ’Sat ’Purusha, sie treffen nicht bloß auf ein Bewusstsein, sondern auf einen bewussten ’Seienden, einen ’Chaitanya Purusha, nicht bloß auf eine rein unpersönliche Freude über das ’Ist, sondern auf eine unendliche Seligkeit des ’Ich ’Bin, einen ’Anandamaya ’Purusha; sie können auch nicht ihr Bewusstsein und ihre Freude in ein gestaltloses Existieren eintauchen und verlieren, sondern müssen auf allen drei Termini in einem bestehen, denn die Seins-Freude ist ihre höchste Kraft und ohne Bewusstsein kann von der Freude nicht Besitz ergriffen werden.« (OYI 661)
Es geht nun nicht an, dass man Herz und Intellekt nebeneinanderstellt und unabhängig voneinander walten lässt; das Herz hätte sein Ziel im Saguṇa, der Intellekt im Nirguṇa. Es gäbe Streitigkeiten um die Prävalenz des einen oder anderen – wie es auch die Geschichte zeigt – und man könnte zu keiner Entscheidung kommen. Das Gottesbild wäre eine reine Summation beider Sichtweisen. Schon unser irdisches Leben braucht eine echte Synthese zwischen Herz und Leben einerseits und Intellekt andererseits. »Ihre genügende Harmonie und ihre richtige Versöhnung ist eins der großen Probleme unserer Psychologie und unseres Tuns. Die versöhnende Kraft liegt jenseits in der Intuition. Aber es gibt nun eine Intuition, welche
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dem Intellekt, und eine andere, welche dem Herzen und dem Leben dient.« (OYI 662)
Wir kommen nicht weiter, wenn wir jeder von diesen in ausschließlicher Weise folgen. »Wir haben die Intuition unseres ganzen Wesens zu befragen, […] indem wir uns in die ursprüngliche Heimat der Intuition erheben, wo die natürliche Heimat der unendlichen und unbegrenzbaren ’Wahrheit ist, rtasya sve dame, wo jede Existenz ihre Einheit findet.« 71 »Die geistige Intuition erfasst stets die Wirklichkeit; […] sie sieht das, was die anderen Kräfte unseres Seins nur mühsam erkunden; sie erreicht die feste Wahrheit der abstrakten Vorstellungen unseres Intellekts und der phänomenalen Vergegenwärtigungen des Herzens und des Lebens, eine Wahrheit, die weder verborgen abstrakt noch äußerlich konkret ist, sondern etwas darüber hinaus, wovon diese nur zwei Seiten seiner psychologischen Manifestation für uns sind.« (OYI 662–3)
Beide Linien sind wie miteinander verbundene Räder, welche zwar parallel laufen, sich aber in der Unendlichkeit treffen, »zum Hohn für die intellektuelle Logik, aber im Gehorsam gegenüber der eigenen inneren Wahrheit der Einheit« (OYI 664). Wahrheit ist also immer ein Abstrakt-Konkretes, dessen wesentliche Einheit im Geistigen die Person ist. Auf diesem Hintergrund wird nochmals das Problem Persönlichkeit – Unpersönliches – Person diskutiert. 72 Unsere Selbst-erkenntnis zeigt uns eine Vielheit von Eigenschaften und Zuständen, mit welchen sich das Ich zunächst identifiziert. Im Inneren unseres Wesens finden wir jedoch eine Unendlichkeit des Seins, welche alle Möglichkeiten zu Eigenschaften und Tätigkeiten in sich enthält, anantaguṇa; jede Neukombination solcher Eigenschaften ist eine Persönlichkeit. Aber »jede Persönlichkeit ist die Selbst-manifestation einer ’Person, d. h. eines Seienden, welcher um diese Manifestation weiß.« (OYI 666) »Aber wir sehen auch, dass dieser Seiende nicht zusammengesetzt zu sein scheint, auch wenn diese Eigenschaften unendlich wären, sondern einen Status seiner komplexen Wirklichkeit hat, in welchem er von ihr – der komplexen Wirklichkeit – Abstand zu nehmen und eine undefinierbare bewusste Existenz, anirdeśyam, zu werden scheint.« (OYI 667) 71 72
Es folgt eine Deutung von Ṛg-Veda V. 62. 1. OYI 663–9.
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Dieser Zustand trägt den Charakter der Leere, des Nichts, Nirvaṇa. 73 »Aber eine mehr integrale Schau zeigt uns, dass es die ’Person und die Persönlichkeit und alles von ihr Manifestierte ist, welche sich so hinaufbegeben hat in ihre eigene unausgedrückte Absolutheit […]. Aber all diese Selbst-Erkenntnis ist nur der in uns vorhandene Typus der korrespondierenden Wahrheit des ›Divine‹ in seiner Universalität. Auch dort treffen wir ihn in verschiedenen Formen göttlicher Persönlichkeit; […] als ’Anantaguna; in der göttlichen ’Person, welche sich selbst durch unendliche Qualitäten ausdrückt; in absoluter Unpersönlichkeit, […] welche doch stets das unausgedrückte ’Absolute dieser göttlichen ’Person ist, dieser bewusste ’Seiende, welcher sich durch uns und durch das Universum manifestiert.« (OYI 667)
Bhakti und jñāna, Liebe und Erkenntnis, führen uns in ihrer integralen Einheit zur göttlichen Person, aus welcher die individuelle Person ihr Sein empfängt. »Das ’Höchste Wesen ist ein ’Seiender und nicht eine abstrakte Existenz oder reine, zeitlose Unendlichkeit; die ursprüngliche und universale Existenz ist ER, aber diese Existenz ist untrennbar vom Bewusstsein und von der Freude des Seins, und eine Existenz, welche ihres eigenen Seins und ihrer eigenen Freude bewusst ist, ist jenes, was wir wohl eine göttliche unendliche ’Person – Purusha – nennen dürfen.« (OYI 684) 74
7
Evolution, Wiedergeburt und Transformation
7.1 Allgemeine Evolution – der Mensch als Wendepunkt Die göttliche Bewusstseinskraft – cit-śakti – hat sich ihrer selbst entäußert und in Selbst-vergessenheit in die Unbewusstheit (Inconscient) involviert. Nicht mehr in leuchtender Selbst-Helle weiß sie jetzt um sich, sondern als dumpfes Drängen strebt sie empor, erschafft Schritt für Schritt neue und größere Formen der Kraft und der Bewusstheit und evolviert in einem langen Prozess alle in ihr verborgenen Möglichkeiten. Wenn sie die Stufe des Menschen erklommen hat, dann hat sie zugleich ihren entscheidenden Wendepunkt erreicht. Im Menschen kehrt das Bewusstsein wenigstens anfangsSo ist auch die Nirvana-Erfahrung der Advaita-Vedāntins zu verstehen. Weitere Stellen aus den »Essays« zum Thema Transzendente Person: E 24, 168–9, 177–8, 309, 309–11, 374, 413, 414, 433–6, 540 etc.
73 74
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weise zu sich selbst zurück und überwindet damit die Selbst-verlorenheit in der Entäußerung der materiellen und vitalen Natur. Im Menschen taucht zum ersten Mal der bisher verborgene Puruṣa auf. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, dass dieser bewusste Puruṣa die weitere Evolution bewusst bestimmt. Schrittweise vollzieht er den Wandel vom Beobachter bis zum Herrn seiner Natur und vollendet dadurch diese selbst, bis er als Zwei-einheit mit ihr das leuchtende Selbst-bewusstsein und die integrale Vollendung der supramentalen Ebene erreicht hat. 75 Es ist immer zugleich der Puruṣa oder Jīva und letztlich das »individual Divine«, welche in der Evolution stehen. Nicht als ob sich der Jīva selbst evolvieren müsste, aber das Verhältnis zu seiner entäußerten Bewusstseinskraft, zu seiner Natur, muss von der Selbstvergessenheit zurückverwandelt werden in jenes ursprüngliche zwei-einheitliche Zusammensein, in welchem der Jīva Herr seiner Natur und die Natur transparent geworden ist für das göttliche Wesen des Jīva. Dieser muss deshalb im evolutiven Prozess schrittweise seine verborgenen unendlichen Möglichkeiten in Form einer je verschiedenen vergänglichen Persönlichkeit manifestieren, durch diesen wiederholten Vorgang Erfahrungen in der Welt einbringen und die Natur so vollenden, dass die Persönlichkeit letztlich nichts anderes mehr ist zur Person, sondern diese in vollkommener Weise in der Welt repräsentiert. Dies führt uns zur Lehre von der Wiedergeburt (rebirth).
7.2 Die Lehre von der Wiedergeburt Rückkehr des Bewusstseins zu seiner Selbst-Helle Warum also ist Wiedergeburt notwendig? Die göttliche Einheit der Saccidānanda hat sich in ihrem aktiven Selbst-bewusstsein in die Zerteilung des Mind, des Lebens und der Materie bis hinab zur völligen Unbewusstheit (Inconscience) involviert. Das ist jedoch nur ein phänomenaler Prozess, »weil die wirkliche Einheit in Verschiedenheit unverkürzt dahinter bestehen bleibt«. Die Unbewusstheit (Nescience und Inconscience) ist
Der Mensch als entscheidender Wendepunkt in der Evolution: LD 458, 782, 815–6, 931, 993 ff.; OYI 908–10.
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»phänomenal und beendbar, weil in ihr, über ihr, sie tragend, der all-bewusste ’Geist wohnt und weil sich zeigt, dass das scheinbare ’Nicht-wissen (Nescience) nur eine Konzentration, nur ein ausschließliches Tun des Bewusstseins ist, welches in die Selbstvergessenheit hineintaumelte durch ein abgrundtiefes Eintauchen in das Absorbiertsein vom formenden und schaffenden materiellen Prozess«. (LD 902) 76
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass das phänomenal selbstverlorene Bewusstsein zurückfindet zu sich selbst in seiner leuchtenden Integralität. Das kann nur und muss durch das Individuum geschehen, weil das individuelle Selbst eine Kraft des Ewigen ist. Die hinter der Veränderlichkeit der Persönlichkeit wohnende Person repräsentiert das ewig Viele, welches im Wechselspiel mit dem ewig Einen steht, wodurch der Kosmos konstituiert wird. In der individuellen Person erschließt sich sowohl die Universalität wie auch die Transzendenz des Ewigen. Die Annahme des Leibes Wenn nun die individuelle Person in dem in der Unbewusstheit zerteilten Universum ihre kosmischen Beziehungen zu den anderen Individuen und zum Einen herausarbeiten will, dann braucht sie als Ausgangspunkt eine ebenfalls begrenzte und abgetrennte Form: das ist der Leib. Die Annahme des Leibes aber bedeutet Geburt, »und in ihr allein kann die Entwicklung des Selbst und das Spiel der Beziehungen […] stattfinden« (LD 203). In ihr allein kann die Entwicklung vorwärtsschreiten bis zur Entdeckung der Einheit mit Gott. Die aufsteigende Ordnung des Kosmos Diese Geburt kann aber kein isoliertes Ereignis sein ohne Verknüpfung mit Vergangenheit oder Zukunft. Das wäre in einer Welt der Involution und Evolution bedeutungslos. Vielmehr muss das individuelle Leben denselben Rhythmus und dasselbe Gesetz des Fortschreitens haben wie das kosmische Leben. Die Entwicklung durchschreitet viele Stadien des Seins, unter welchen das Mensch-sein nur einen kleinen Abschnitt darstellt. Darum kann der individuelle Auf-
»an exclusive action of consciousness tranced into self-forgetfulness by an abysmal plunge«.
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stieg »nur stattfinden durch Wiedergeburt in der aufsteigenden Ordnung« (LD 904). Freiheit von der und Gebundenheit in die Evolution Man darf weiterhin nicht denken, die menschliche Seele könne sich in völlig geistiger Freiheit bewegen. Dies ist nicht im irdischen Leben, sondern erst auf höheren Ebenen des Seins möglich. Vielmehr ist die »menschliche Geburt in dieser Welt auf ihrer geistigen Seite ein Komplex von zwei Elementen, einer geistigen ’Person und einer Seele der Persönlichkeit (soul of personality), erstere ist des Menschen ewiges, letztere sein kosmisches und veränderliches Sein. Als die geistige unpersönliche Person ist er eins in seiner Natur und in seinem Sein mit der Freiheit von Saccidānanda, hat er zugestimmt zu seiner Evolution in der ’Nicht-Bewusstheit (Nescience) oder sie gewollt, um einen gewissen Kreislauf seelischer Erfahrung zu machen […]; er präsidiert verborgen über ihrer Evolution. Als die Seele der Persönlichkeit ist er selber Teil dieser langen Entwicklung der Seelen-Erfahrung in den Formen der ’Natur; seine eigene Evolution muss den Gesetzen und Linien der universalen Evolution folgen.« (LD 904)
Evolution in ihrem universalen und individuellen Aspekt »Die evolutive Entfaltung hat sowohl einen universalen als auch einen individuellen Aspekt: Das ’Universale entfaltet die Grade seines Seins« (LD 905); das Individuum durchschreitet denselben Prozess von der Unbewussstheit bis zur Höhe der menschlichen Seinsweise. Aber auch durch menschliche Form wird es nicht begrenzt, sondern vermag zu einem größeren Selbst-ausdruck auf einer höheren Ebene der Natur vorzudringen. Denn der Geist ist nicht Produkt der Entwicklung, des Leibes oder des Mind; diese sind vielmehr sein Selbstausdruck. »Unser Geistbegriff meint etwas, was nicht durch Name und Form konstituiert ist, sondern verschiedene Formen des Leibes und des mind annimmt entsprechend den verschiedenen Manifestationen des seelischen Seins. […] Die Seele ist nicht gebunden durch die Formel des mentalen Menschseins: sie hat weder damit begonnen, noch wird sie damit enden; sie hatte eine vormenschliche Vergangenheit, sie hat eine übermenschliche Zukunft.« (LD 906)
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Ebenso wie die Materie Substanz und Kraft des Geistes ist, so ist auch der Leib eine Form der Seele. Es gibt keinen Leib, kein Leben, keinen Mind ohne Seele als ihr Inneres und Eigentliches; sie gehören unzertrennlich zusammen. Darum kommt die Seele des Menschen nicht erst in eine durch die Entwicklung vorbereitete Natur, sondern sie hat sich die Natur selbst in der Entwicklung bereitet durch eine Folge von immer höheren Formen. Gründe für die Weiterentwicklung des Menschen in mehreren Geburten Die menschliche Geburt ist also ein entscheidender Wendepunkt, dem eine lange Folge niedrigerer Lebensformen vorausgeht. Weil die Evolution im Menschsein eine neue Stufe des Seins erreicht hat und weil ihre Tendenz immer aufwärts strebt, ist es unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich, dass die Seele wieder niedrigere Formen, wie etwa tierische, annimmt. 77 »Aber warum bedarf es einer Aufeinanderfolge menschlicher Geburten? Warum genügt nicht eine allein?« (LD 909) Aus zwei Gründen: Die Schicht des Mentalen ist sehr breit und vielfältig. Der Mensch kann in einem Leben nicht seine volle Höhe erreichen. Es besteht ein großer Unterschied zwischen der gewöhnlichen Weise zu leben und einem Platon oder Śaṃkara, welche bis jetzt vielleicht die Krone der menschlichen Entwicklung, nicht aber deren letztes Ende bezeichnen. Zweitens ist hinter dem Mind verborgen in der Evolution die höhere Seinsweise des Supermind; deshalb kann die Wiedergeburt in ihrem Aufstieg nicht enden, »bevor die mentale Natur durch die supramentale ersetzt ist und ein verleiblichtes supramentales Wesen der Führer des irdischen Daseins wird« (LD 910). Die Person muss dann ihre Möglichkeiten nicht mehr in immer höheren Formen der Persönlichkeit zum Ausdruck bringen, sondern wird durch die supramentale Persönlichkeit selbst ganz transparent sein. 78
Das wird im Gegensatz zur alten und populären Seelenwanderungslehre festgestellt. 78 Zur Wiedergeburt: LD 884–911, 944–81. PR 1952; E 81, 570. Sri Aurobindo behauptet weiter, es gebe ein Wissen um vorausgegangene Geburten und Erfahrungsbeweise; diese seien aber noch nicht gesammelt und ausgewertet (OYI 1024; OYII.T1 49, 441–472). 77
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7.3 Das Karma-Gesetz Zur Lehre von der Wiedergeburt gehört das Karma-Gesetz. Dieses ergibt sich aus folgenden Grundeinsichten: 1. »Alle Energien in der ’Natur müssen ihre natürliche Folge haben«, ob wir das Ergebnis in diesem Leben sehen oder nicht. 2. »Es besteht eine Solidarität und Kontinuität des Lebens in der ’Natur und das Individuum kann nicht gänzlich […] für sich allein leben.« Deshalb wirkt das Ergebnis der Energien und Tätigkeiten des Individuums nicht nur auf dieses zurück, sondern auch auf die anderen Menschen. 3. Weil die Taten auf dem Umweg über die Solidarität und Kontinuität des Lebens auch auf das wiedergeborene Individuum zurückwirken, darum ist der Mensch das, »was er aus sich gemacht hat« (LD 961). Die zwei Anhänge zum Karmagesetz sind unwichtig und ungesichert, nämlich (a) dass die Natur der Energie die Natur des Ergebnisses bestimme, (b) dass das oberste Prinzip Gerechtigkeit sei und gute Taten Glück, schlechte Unglück hervorbringen. »Wenn wir den Gerechten hier leiden sehen, ist es schwer zu glauben, dass dieses Vorbild an Tugend im letzten Leben ein Schurke gewesen sei und jetzt […] für die damals begangenen Sünden bezahlen müsse.« (LD 962) Ferner ist zu bedenken: »Der wahrhaft ethische Mensch bedarf keines Systems von Lohn und Strafe […]; Tugend ist ihm ihr eigener Lohn, Sünde bringt mit sich ihre eigene Strafe, weil der Mensch am Abfall von seinem eigenen Naturgesetz leidet […]« (LD 968). 79 4. Das Gesetz des Karma gilt nur für den mechanischen Prozess der Natur, nicht aber für die Seele, die Person. Diese ist frei. Je mehr der Mensch zu seinem Personsein zurückfindet, umso mehr ist er frei gegenüber dem Gesetz der Natur und des Karma. 5. Aus der grundsätzlichen, wenn auch zunächst nur unvollständigen Freiheit des Menschen und aus dem Bewusstsein von Solidarität und Kontinuität zu den Mitmenschen und zu seiner eigenen Evolution resultiert die Verantwortung für das Tun, für die Möglichkeit, das Karma selbst zu bestimmen. Diese Verantwortung wird bewusst übernommen im Karmayoga, der darin sein Ziel hat, dass der Mensch sich selbst und sein Tun unter Es ist bemerkenswert, dass diese Aussagen eine starke Kritik am alten indischen Karma-Verständnis enthalten.
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die göttliche Führung stellt und alles dem Īśvara als Opfer (sacrifice) darbringt. 80
7.4 Die dreifache Transformation Psychische Transformation Die erste Forderung für den Aufstieg des Menschen zur Wahrheit seines Seins im Supermind war es, sich vom »Ego« loszulösen und im Inneren die eigene Seele, das psychische Sein, im vollen Maße zu entdecken und zu realisieren. Dies ist der erste und entscheidende Schritt in der dreifachen Transformation. Die psychische Umwandlung besagt »eine Konversion unserer ganzen gegenwärtigen Natur zu einem Instrumentarium der Seele« (LD 1061). Sie wird vollzogen im integralen Yoga, welcher jñāna-, bhakti-, karma- und rāja-yoga synthetisiert und sie alle unter das zentrale Gebot der völligen Übergabe an das Höchste Wesen stellt. Das Ergebnis wird sein, dass das psychische Wesen ganz auftaucht und eine innere Führung beginnt, welche jeden Moment in das Licht der Wahrheit stellt. Ferner fließen jetzt alle Arten geistiger Erfahrung ein: Erfahrung des Selbst, des Īśvara, der göttlichen Śakti und ein unmittelbarer Kontakt mit ihnen; denn die Seele ist ihnen konnatural. Spirituelle Transformation Die psychische Transformation bleibt noch auf der Ebene des Mentalen, Vitalen und Physischen. »Eine höchste spirituelle Transformation muss bei der psychischen oder psychisch-geistigen Umwandlung dazwischentreten; die psychische Bewegung nach innen zum inneren Sein, dem ’Selbst oder der ’Göttlichkeit in uns, muss vervollständigt werden durch eine Öffnung nach oben zu einem höchsten geistigen Zustand […].« (LD 1083–4)
Das kann geschehen, noch bevor die psychische Transformation beendet ist. Die spirituelle Transformation erfolgt in drei Schritten: eine Erkenntnis (awareness) des höheren Geistes, ein Aufstieg (ascent) des Mind zu dessen Höhen, schließlich eine Herabkunft (descent) der höheren Kräfte in unser Leben. Die geistigen, dem Mind vorher über80
Vgl. OYI Part I; OYII.T1 649–91; E passim.
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bewussten Erfahrungen werden immer häufiger, bis es schließlich zu einem ständigen Kontakt und zu einer ununterbrochenen Herabkunft kommt. Der »Invasion durch das Unendliche« (LD 1087) sind keine Grenzen mehr gesetzt. 81 Supramentale Transformation In der supramentalen Transformation treffen sich Evolution und Herabkunft, der sich aus der Involution befreiende und der aus seinem selbst-bewussten Bei-sich-sein herabkommende Supermind. Sie vollzieht sich deshalb nicht mehr durch menschliche Anstrengung. Die spirituelle Transformation ist wohl bekannt in der menschlichen Geschichte, die supramentale Umwandlung ist jedoch etwas radikal anderes und Neues: 82 Sie führt nicht mehr weg von der Welt, sondern bejaht sie, indem sie die Welt transformiert und dadurch in ihr eigenes Wesen erhebt. Denn nur der Supermind kann sein Licht und sein Leben in die Welt bringen, ohne von dieser abgeschwächt oder verfinstert zu werden. Mit ihm dringt die unendliche Fülle der Saccidānanda in die Endlichkeit der Welt ein. Das Ergebnis dieser Transformation ist das gnostische Individuum mit seiner gnostischen Natur.
7.5 Das supramentale Individuum Im gnostischen Individuum wohnt die Person nicht mehr hinter dem Schleier der Unwissenheit, sondern beherrscht in unverhüllter Weise die individuierte Natur, realisiert ihre Freiheit in sich selbst und in der Beziehung zur Transzendenz. 83 Erkenntnisweise Das gnostische Individuum ist gänzlich ein supramentales Wesen mit allen Eigenschaften des Supermind, aber nicht in absoluter, sondern
Zur psychischen und spirituellen Transformation: LD Vol. II, Ch. 25–26; OYII.T2, Part III, Ch. IV. 82 Das kann jedoch nur gesagt werden, wenn man von Christus Jesus absieht oder ihn nicht in seinem wahren Wesen kennt. 83 Wir haben ausführlich darüber gesprochen bei der »individuellen Person«. 81
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Evolution, Wiedergeburt und Transformation
in individueller Form. Die grundlegende Natur des Supermind 84 ist die Erkenntnis durch Identität (knowledge by identity) 85; Erkennender, Erkanntes und Erkennen werden eins. 86 Der Supermind schaut unmittelbar das Ding-an-sich, svabhāva; er muss nicht erst seinen Ausgang nehmen bei der Sinneswahrnehmung und durch Ideenbildung, Urteil und Schluss abstrakte Wahrheiten folgern, sondern schaut zuerst die Wahrheit selbst und wendet sich von dort her zum Phänomenon. Das supramentale Individuum sieht die Wahrheit zuerst in ihrem Wesen (essence), dann in ihrer Möglichkeit (potentiality) und zuletzt in ihrer Aktualität (actuality). »Die wesentlichen Wahrheiten sind für seine Sicht selbst-existent […], sie hängen für ihren Nachweis nicht von dieser oder jener Aktualität ab; die potentiellen Wahrheiten sind Wahrheiten der Kraft des Seins in sich selbst und in den Dingen […]; die Aktualitäten sind nur eine Auswahl der potentiellen Wahrheiten, […] abhängig von diesen, begrenzt und veränderlich.« (OYI 957)
So entgeht das supramentale Wesen der Tyrannei des Gegenwärtigen, Aktuellen. Im Supermind sind Idee und Wirklichkeit identisch: die Idee ist Wirklichkeit und die Wirklichkeit Idee: Real-Idee 87. Deshalb gehen auch Erkennen und Wollen ineinander über, Bewusstsein ist immer zugleich Kraft. Wenn wir uns einen Augenblick an die frühere Darstellung des Supermind erinnern, dann sehen wir, wie der Supermind aus dem ursprünglichen »unitarian consciousness« hervorgeht in die ausgedehnte Unendlichkeit des umfassenden (comprehensive) Bewusstseins, in welchem alles in allem ist. In dieser ausgedehnten Unendlichkeit bilden sich Zentren; die Erkenntnis ist jetzt erfassend (apprehensive), gegenüberstellend, aber die Einheit bleibt als das Dominierende gewahrt. Wenn die Einheit mehr und mehr hinter der Zentrierung zurückstehen muss, wenn das Viele prävalent wird, dann haben wir die höhere Hemisphäre verlassen und befinden uns im Reich des Overmind. Der Ascensus vollzieht sich konsequenterweise umgekehrt, die Die Bezeichnung Supermind und Gnosis sind identisch. Vielleicht ist es möglich, eine methodische Unterscheidung anzubringen. Danach wäre Supermind jene göttliche Seinsstufe der ausgedehnten Saccidānanda in seiner Herkunft aus diesen, Gnosis dasselbe, aber jetzt insofern der Mensch in diese Seinsstufe hineinwächst. 85 LD 1198; OYI 898–901, 1009. 86 OYI 950–1: jñātā, jñānām, jñeyam. 87 Vgl. Kap. III, ferner OYI 954, 964. 84
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Einheit nimmt mehr und mehr zu, das »individual Divine« löst sich nicht auf, sondern realisiert als Äußerstes die Einheit in der Verschiedenheit, Identifizierung des Bewusstseins und des Wollens bei bleibender ontischer Verschiedenheit. Der Supermind im gnostischen Individuum zeigt sich uns vor allem in vier Weisen, welche sich aus der Erkenntnis durch Identität ableiten: 1. als vijñāna 88. Vijñāna entspricht dem um-fassenden Bewusstsein (»comprehending«, »large embracing consciousness«). Der Supermind sieht Wahrheit, Idee und Objekt »zugleich in ihrem Wesen, in ihrer Ganzheit und ihren Teilen oder Aspekten« (OYI 986). 2. als prajñāna 89 oder er-fassendes Erkennen (apprehension). Die Erkenntnis durch Identität rückt mehr in den Hintergrund, die Gegenständlichkeit der erkannten Sache wird mehr betont. In prajñāna hat die mentale Intelligenz ihren Ursprung, weil sie mit der Trennung von Subjekt und Objekt als Ausgangspunkt arbeitet. 3. Das Erkennen durch »Gedanke und Wort« (OYI 986) bringt eine größere Distanz mit sich, aber auch eine größere »Verschiedenheit der wechselseitigen Beziehungen« (OYI 986). Gedanke und Wort sind eine Ausdrucksmöglichkeit der Wahrnehmung der Wahrheit durch Sehen, Hören, Erinnern. 90 4. Samjñāna 91 oder der supramentale Sinn akzentuiert noch weiter die Gegenständlichkeit der erkannten Dinge. Erkenntnis geschieht hier durch Erfahrung, direkte Nähe, Berührung, Vereinigung. »Es ist ein Berühren der Existenz […] im Stoff des supramentalen Seins und der supramentalen Energie, nicht in der Zerteiltheit der Materie und durch physische Instrumente […] (OYI 987). Samjñāna ist die Sinnlichkeit in ihrer reinen Form, denn »Sinnlichkeit ist grundlegend nicht das Tätigsein gewisser physischer Organe, sondern die Berührung des Bewusstseins mit
Ein Wort vedischen Ursprungs, Neutrum; wörtlich: Unterscheidung, Erkenntnis. Wörtlich: objekthaftes Erkennen. 90 Das supramentale Gedächtnis (memory) erinnert sehr an die platonische Anamnesis. Von ihm wird gesagt, es sei ein Gedächtnis des bereits vorher Gewussten. »Besonders auf einer gewissen Stufe präsentiert sich alles Wissen als ein Erinnern, weil alles im Selbst des Supermind latent oder inhärent ist.« (OYI 982; vgl. auch 1015–6) 91 Ebenfalls vedisch; wörtlich: Harmonie, Gleichmut; später: Bewusstsein. 88 89
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seinen Objekten […]« (OYI 985). 92 Samjñāna erschafft sich erst die physischen Organe und Instrumente für die Erkenntnis in der niedrigeren Hemisphäre. Im Supramentalen aber ist es ein direktes Fühlen und Erfahren. Für den supramentalen Sinn ist nichts wirklich endlich: »er gründet auf einem Fühlen von allem in jedem und von jedem in allem: seine Definition durch seine Sinnlichkeit […] schafft keine Begrenzungsmauern« (OYI 989). 93 In seiner höchsten Entfaltung aber ist der Supermind mehr als Erkenntnis: »dort ist er das wesentliche und integrale Selbst-Gewahrsein des ’Höchsten Wesens in uns, sein Sein, Bewusstsein, ’Tapas 94, ’Ananda […]« (OYI 949), nicht mehr die Kraft des Sonnenlichtes, suryaśākti 95, sondern des Lichtes des Selbst, ātma-śākti oder parā svā prakṛti (OYI 939). Die Gemeinschaft gnostischer Individuen In der Gnosis kommt der geistige Mensch zu seiner höchsten Vollendung. Alles Leben erhält jetzt seinen Sinn vom Bewussten Seienden, von der Person. Der gnostische Mensch »fühlt die Gegenwart des ’Höchsten Wesens in jedem Zentrum seines Bewusstseins, in jeder Vibration seiner Lebenskraft, in jeder Zelle seines Leibes« (LD 1156). Er lebt die Einheit im Selbst mit allen anderen Individuen, jedoch ohne deren Grenzen zu verletzen. Das Zusammenleben gnostischer Individuen gestaltet sich in Freiheit und Verschiedenheit auf dem Grunde der Einheit, da alle ein Selbst sind und eine BewusstseinsKraft – die göttliche Śakti – durch alle wirkt. 96 Verhältnis zur Welt überhaupt »Das gnostische Individuum ist in der Welt und von der Welt, aber überschreitet sie auch in seinem Bewusstsein und lebt in seinem transzendenten Selbst über ihr; es ist universal, aber frei im Universum, individuell, aber nicht begrenzt durch eine sich abtrennende Individualität. Die wahre ’PerÄhnlich KU 62–70. Sri Aurobindo beschreibt den Supermind, seine Funktionen und Instrumente vor allem an folgenden Orten: LD Vol. II, Part II, Ch. 27 und 28; OYI, Part II, Ch. 22, 24; Part IV, Ch. 19–25. 94 Tapas bedeutet wörtlich: Hitze, jede Art von Energie oder Askese. 95 Symbolisch zu verstehen im Sinne des vedischen Sonnengottes sūrya. 96 LD 1157, 1201–3, 1225–8. 92 93
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son […] individuiert das Universum […], individuiert die göttliche ’Transzendenz.« (LD 1157)
Daraus ergibt sich eine Umwandlung unseres Weltbewusstseins und unserer Welttätigkeit. Bisher wurde unsere Entwicklung hauptsächlich durch den Anstoß von außen geprägt; als gnostische Menschen aber können wir aus dem innewohnenden Geist die Welt umgestalten. Weil aber die Welt weiterhin ein Milieu der Un-wissenheit bleibt, muss auch nach der Versöhnung von innen und außen der größere Nachdruck auf dem inneren Leben liegen. Aus dieser Festung heraus kann die Welt angenommen und umgewandelt werden: »he is out of the world even when he is within it«, in der Welt und zugleich über sie hinaus (LD 1164). 97 Die Welt der Unwissenheit kann angenommen werden, weil jetzt selbst die Un-wissenheit in ihrem Wesen verstanden wird. 98 Die niedrigeren Schichten des eigenen Seins Die supramentale Transformation muss auch die niedrigeren Schichten in uns emporheben in eine größere Weise des Seins, in welcher sie in ihrem Eigensein nicht abgeschafft, sondern vervollkommnet werden. Der Mind wird sich nicht mehr verlieren im Suchen des Unbekannten, im Partikularisieren und Zerteilen. Das intellektuelle Suchen wird ersetzt durch eine unmittelbare Wahrheitsschau. Das Streben des Vitalen geht auf Entwicklung der eigenen Kraft und auf Herrschaft durch Kraft. Das gnostische Leben aber dient nicht mehr egoistischen Zwecken, sondern wird zur Kraft der Übernatur, um dieses größere Leben auszudehnen. Das Gesetz des Leibes wird bestimmt durch Unterbewusstes und Nicht-Bewusstes. Der Geist aber macht ihn bewusst und unterwirft ihn der supramentalen Kontrolle; er gestaltet ihn zu einem wahren, geeigneten und vollkommen antwortsfähigen Instrument. 99 Diese neue Beziehung von Geist und Leib vermag die ganze materielle Natur frei anzunehmen, die Materie als Brahman zu erkennen. »Eine gewisse Verehrung sogar gegenüber der ’Materie und eine
Dieses Wort erinnert an den Gegensatz im Johannes-Evangelium: In der Welt, nicht von der Welt. Vgl. Joh. 17, 6–19. 98 LD 1242–3. 99 LD 1168–73. 97
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sakramentale Haltung in allen Beschäftigungen mit ihr ist möglich. Wie in der Gita vom Akt der Nahrungsaufnahme gesprochen wird wie von einem materiellen Sakrament, von einem heiligen Opfer, von einer Darbringung Brahmans für Brahman« (LD 1174), so ist es in allen Tätigkeiten des Geistes in der Materie. Die weitere Vollendung Die supramentale Vollendung steht nicht still. Sie schreitet über sich hinaus »bis zu den Gipfeln der einig in sich versammelten (unitarien) Selbst-verwirklichung 100 im Leib, welche der letzte und höchste Zustand der Epiphanie der ’Schöpfung sein muss« (LD 1155–6). Der Supermind kommt in der Bewegung der Manifestation herab aus Ānanda »und taucht im evolutiven Ascensus wieder ein in ’Ananda« (LD 1177). Dabei wird er nicht ausgelöscht oder abgeschafft, er inhäriert in Ānanda. Zwar ist für den Supermind das Bewusstsein gleichsam die väterliche Kraft im Geist, »aber ’Ananda ist die geistige Matrix, von welcher her er die Seele manifestiert, und die erhaltende Quelle, in welche er die Seele zurückbringt in der Rückkehr zum Status des ’Geistes. Eine supramentale Manifestation wird in ihrem Ascensus als nächste Folge und Aufgipfelung […] eine Manifestation der ’Seligkeit ’Brahmans sein: der Evolution des gnostischen Wesens wird eine Evolution des Wesens der seligen Freude (being of bliss) folgen.« (LD 1178) »Denn ’Ananda ist das eigentliche Wesen von ’Brahman, es ist die höchste Natur der allgegenwärtigen ’Wirklichkeit.« (LD 1177) 101
100 Wenn wir uns an Kap. III erinnern, dann liegt das »unitarian self-consciousness« der geistigen Ausgedehntheit der Saccidānanda als Supermind voraus. 101 Es heißt hier auch: »Ein geistiges ’Ananda kann in den Leib einströmen und Zelle und Gewebe überschwemmen.« Sri Aurobindo erwartet von den gnostischen Individuen und den Gemeinschaften solcher die Lösung aller modernen Probleme und sieht in ihnen das wahre Ziel der menschlichen Entwicklung. Das ganze Leben muss aus dem »Divine Life« gestaltet werden, dann wird auch die Welt vergöttlicht, sie wird eine »gnostic world«. Nicht das von Nietzsche gezeichnete Bild, sondern der ins »Göttliche Leben« hinein verwandelte Mensch repräsentiert das wahre Über-Menschentum (vgl. LD 1260–72).
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V · Mensch und Person
7.6 Das Ideal einer geeinten Menschheit Sri Aurobindo betrachtet nicht nur die Entwicklung und Vollendung des einzelnen Menschen, sondern auch die mögliche und erstrebenswerte Entwicklung der ganzen Menschheit. »Das Ideal einer geeinten Menschheit« (IGM), so lautet der Titel eines Buches, das Sri Aurobindo in der Zeit des Ersten Weltkriegs geschrieben und 1919 veröffentlicht hat. Vor dem Zweiten Weltkrieg hat er das Buch überarbeitet und 1950, also kurz vor seinem Tod, mit einem Nachtrag versehen. In diesem Nachtrag setzt er sich mit der Nachkriegsentwicklung auseinander, nämlich mit der Gründung der UNO, dem Ost-West-Konflikt, der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen Russland und dem Westen. Zugleich bestätigt er die wesentlichen Ergebnisse des früher geschriebenen Teils. Angesichts des verheerenden Ersten Weltkriegs geht es Sri Aurobindo um die Frage, wie die Menschheit sich zu einem friedlichen Zusammenleben entwickeln kann. Nach einem ausführlichen und kenntnisreichen Gang durch die Geschichte der Völker, Nationen und Staaten kommt er zu dem Ergebnis, dass die Menschheit zu immer größerer Einheit und Vereinigung strebt. Der Versuch der Imperien, wie z. B. des römischen Imperiums, eine Einheit herbeizuführen, war von vorneherein zum Scheitern verurteilt, weil diese Imperien der menschlichen Freiheit und der kulturellen Vielfalt zu wenig Rechnung trugen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde versucht, die Einheit mit dem Völkerbund herzustellen. Der Völkerbund war aber »in Wirklichkeit eine Oligarchie der Großmächte« (IGM 348), welche den Völkerbund dazu benutzten, die eigenen Interessen durchzusetzen. Die natürliche Konsequenz dieser Struktur war der Misserfolg dieses Bundes. »Bei Konstituierung der UNO war, wenigstens im Prinzip, der Versuch gemacht worden, diese Irrtümer zu vermeiden. Aber man ging dabei nicht gründlich genug vor« (IGM 348). »Ein starkes Element von Oligarchie überdauerte in der Rolle jenes Übergewichtes, das den fünf Großmächten im Sicherheitsrat eingeräumt und durch Einführung des Vetorechts in der UN-Satzung fest verankert wurde. […] Die Folge davon ist der Misskredit, in dem die UNO steht, und das Gefühl, dass ihre Wirkung nur begrenzt und eigentlich nutzlos ist.« (IGM 349) Trotzdem strebt die Menschheit weiter nach Einigung. Dieses Streben ist kein intellektueller Plan, sondern das Wirken der Natur und der Evolution (IGM 320–321). Aurobindo sieht grundsätzlich 174 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Evolution, Wiedergeburt und Transformation
drei Möglichkeiten der Vereinigung der Menschheit: Erstens der uniformistische, zentralisierte Welt-Staat, zweitens eine »eng geschlossene Föderation« oder drittens eine »einfache Konföderation der Völker für die gemeinsamen Zwecke der Menschheit«. Von diesen drei Möglichkeiten ist die erste die schlechteste, weil sie die Freiheit des Individuums und der Nationen nicht angemessen berücksichtigt und die Vielfalt der Kulturen nivelliert. Aus diesem Grund hat diese Form keinen dauerhaften Bestand. Die dritte Form ist die »wünschenswerteste« (IGM 339). Sie lässt Raum für Freiheit, Mannigfaltigkeit, Variation, freies Spiel der Kräfte und Selbständigkeit der Individuen und der Kulturen. Aber auch diese Form der Einigung ist vom Zerfall bedroht, wenn sich die Menschheit nicht spirituell weiterentwickelt. Das Ziel der Entwicklung und das einigende Band der Menschheit muss eine »Religion der Humanität« 102 sein. »Ihre fundamentale Idee ist: Die Menschheit ist die Gottheit, die vom Menschen verehrt werden muss und der er dienen soll. Darum sind die Achtung vor dem menschlichen Wesen und Leben, der Dienst an ihnen und ihr Fortschritt höchste Pflicht und höchstes Ziel menschlichen Geistes. Kein anderes Idol darf die Stelle des Menschen einnehmen« (IGM 329). »Der Mensch soll für den Menschen etwas Geheiligtes sein, ohne Rücksicht auf die Unterschiede der Rasse, des Glaubens, der Hautfarbe, der Nationalität, seiner höheren oder niederen Stufe im politischen oder sozialen Fortschritt. Vor dem Leib des Menschen muss man Achtung haben; er soll unantastbar sein« (IGM 330). »Die Religion der Humanität schenkte dem Menschen neue Begriffe von seiner Würde.« (IGM 331) Ganz ähnlich spricht Sri Aurobindo in seinem Buch »Zyklus der menschlichen Entwicklung« 103 von der Notwendigkeit einer spirituellen Transformation, die schließlich in ein spirituelles Zeitalter hineinführt. Die »Religion der Humanität bedeutet die immer umfassender werdende Realisation dessen, dass es […] die eine göttliche Wirklichkeit gibt, in der wir alle geeint sind […]. Das verlangt aber, dass immer stärker der Versuch unternommen wird, das eigene Leben aus diesem Wissen zu führen und ein Reich des göttlichen Geistes auf der Erde zustande zu bringen« (IGM 343).
102 103
Kap. 34 »Die Religion der Humanität« (The Religion of Humanity). The Human Cycle (HC).
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V · Mensch und Person
7.7 Gnade – Glaube – Erlösung Gnade und Glaube Wir haben es schon mehrfach angedeutet: Die Transformation des Menschen zum gnostischen Individuum impliziert zwei Bewegungen: eine von unten: Ascensus, und eine von oben: Descensus. Was der Mensch aus eigener Kraft tun kann, ist nur die totale Eröffnung und vertrauensvoll-liebende Hingabe an das Höchste Wesen und dessen Śakti. Am Anfang dieses Tuns muss der Glaube (śraddha) stehen, welcher »eine Zustimmung des ganzen Wesens zur geschauten Wahrheit« (OYI 881) meint. Dieser wird schließlich umgewandelt »in eine ewige Flamme des Wissens« (OYI 95). Doch selbst dieser Glaube ist nicht zuerst menschliche Leistung, sondern »in Wirklichkeit ein Einfluss vom höchsten ’Geist und sein Licht eine Botschaft von unserem supramentalen Sein […] und das, was den Einfluss empfängt und auf den Ruf antwortet, ist […] die innere Seele.« (OYI 885) 104 Das wahre Geheimnis des Glaubens selbst heißt deshalb Gnade. Der Mensch kann die Übernatur nicht durch eigene Anstrengung erreichen, sondern nur durch den gnadenhaften Descensus 105, der auf ein für die Gnade eröffnetes Wesen trifft 106; »denn nur indem uns der ’Absolute anrührt, kann es geschehen, dass wir unsere eigene Absolutheit erreichen« (LD 809). »Wer sich den ’Unendlichen erwählt, ist zuvor durch den ’Unendlichen erwählt worden.« (OYI 59– 60) Die Gnade ist letztlich die göttliche Śakti, die mit zunehmender Transformation alles im Menschen bewirkt und ihn in die Übernatur des Göttlichen Lebens hineinhebt. Die Bewegung auf Gott zu geschieht durch Gnade, aber in einem allgemeineren Sinn ist die Wirklichkeit selbst Gnade, freies Geschenk. Der Gott entäußert sich durch Ānanda in die Schöpfung und bleibt ihr innerstes Ziel und Geheimnis. Die Wirklichkeit selbst ist göttlich, nicht menschlicher Besitz; sie kann nur durch Un-wissenheit und Begierde in ihrem wahren Charakter verkannt und verfehlt werden. »Der ’Gott, der in uns wohnt (the Divine Inhabitant), wird selbst die Flamme und das Opfer (offering) in uns; denn die Flamme ist der
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Weitere Stellen: OYI 718, 794, 881–93; OYII.T1 545–62. Auch »Advent« genannt, z. B. SM 100, 112. LD 1096–8.
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Evolution, Wiedergeburt und Transformation
auf ’Gott hingerichtete Wille und dieser Wille ist ’Gott selbst in uns.« (E 442) 107 Erlösung Auf solchem Hintergrunde erübrigt sich die Frage nach der SelbstErlösung. Wenn ständig von Anstrengung, Konzentration, Überwindung der Ich-Verhaftung, der Unwissenheit und der Begierde gesprochen wird, so ist damit in keiner Weise gemeint, der Mensch könne sich selbst durch Yoga-Technik erlösen, sich am eigenen Schopf packen und aus dem Sumpf ziehen. Selbst-Erlösung ist hier Erlösung durch das Selbst und durch die Śakti. Selbst und Śakti aber sind letztlich Gott und darum ist Erlösung Gnade. Das bleibende Geheimnis Es verbleibt eine letzte Frage: Warum ist Erlösung überhaupt nötig, wenn das wahre Geheimnis des Wirklichen Gott ist? Warum gibt es Involution und Evolution und durch sie die Möglichkeit zu Verirrung, Leid und Bosheit? Wir wissen es nicht. Die kosmische Manifestation geschieht allein durch den göttlichen Willen; für den Eintritt des Individuums in die Bewegung von Involution und Evolution bedarf es auch der Zustimmung des Individuums. Doch was ändert dies am grundlegenden Geheimnis des Warum? Nichts. Wir können dem Paradox nur dann ein größeres Verständnis abgewinnen, wenn wir an uns selbst denken: »Das Spiel des Sich-selbst-Verbergens und Sich-selbst-Findens ist eine der anspruchsvollsten Freuden, welche ein bewusstes Wesen sich selbst geben kann.« (LD 587) Darum bleibt die einzig mögliche Antwort: Ānanda. Ānanda ist aber für uns letztlich das Geheimnis selbst. »Wenn die Freude des Existierens der geheimnisvolle Grund der Schöpfung ist, dann ist die Schöpfung selbst auch eine Freude des Existierens.« Vielleicht bringt das Eintauchen in Weitere Stellen zum Thema: Gnade: LD 1114–5, 1259; OYI 80, 92 ff., 97–100, 884–5; OYII.T1 139–40, 142–3, 559–60, 562–601; OYII.T2 329 und passim; SM 80. In OYII.T1 142–3 unternimmt Sri Aurobindo eine Unterscheidung zum Christlichen, indem er meint, im Christlichen handle es sich nur um ein menschlich-ethisches Geschehen. Er übersieht, dass die Grundaussage über Gnade im Christlichen wie bei ihm primär ontisches Geschehen meint: die Umgestaltung in Kinder Gottes, die Ankunft Christi selbst als das persönliche göttliche Leben. Nicht ein ethischer Impuls, sondern Christus selbst ist Gnade im eigentlichsten Sinn. 107
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V · Mensch und Person
die Un-bewusstheit gerade eine neue Affirmation der Saccidānanda in dem ihnen scheinbar Entgegengesetzten hervor. »Wenn der ’Unendliche das Recht hat, sich in verschiedenen Weisen selbst zu manifestieren, dann ist auch dies als eine Möglichkeit seiner Manifestation einsehbar und hat seine tiefgründige Bedeutung.« (LD 488) Das Denken von Sri Aurobindo erweckt zwar manchmal den Anschein, als müsse alles gedeutet, aufgeklärt und seines Geheimnischarakters beraubt werden, als müsse alles in den Zwang eines Systems passen. Dem ist aber nicht so. Sri Aurobindo berücksichtigt die Faktizität in hohem Maß und scheut sich nicht, das für den mentalen Menschen Unbegreifliche, den Absoluten und seine Schöpfung, in einem letzten Raum des Geheimnisses und des Unsagbaren zu belassen.
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Zusammenfassung
Auf allen Stufen der sieben Seinsprinzipien besteht eine Polarität von Bei-sich-sein des Geistes (puruṣa) und Aus-sich-hinaus-sein der Natur (prakṛti). Die sieben Stufen des Seins sind gleichsam vertikal geschichtet zu einem »siebenfachen Akkord«. Im Menschen sehen wir ebenfalls eine Zwei-Einheit von Geist und Natur. Das auf die äußeren Akte bezogene Ego befindet sich lediglich auf der Oberfläche des menschlichen Daseins. Im Inneren finden wir das Unterbewusste. Dieses ist nur ein Speicher vergangener Eindrücke und Erlebnisse. Im Subliminalen hingegen tut sich die Fülle des inneren Wesens auf. Das Subliminale entspricht dem Traum-Selbst der Upaniṣaden. Es erkennt durch direkten Kontakt mit fremdem Bewusstsein oder mit Gegenständen ohne Vermittlung der Sinne. Es hat sein Zentrum im subliminalen Selbst. Die Seele (Psyche) gehört zwar zu den acht Prinzipien des Seins, hat aber insofern eine Ausnahmestellung, als sie den Vereinigungspunkt von Mind, Leben und Körper bildet. Sie repräsentiert ānanda in der niedrigeren Hemisphäre. Sie ist unser zentrales Sein, ein unsterblicher Teil des Höchsten Wesens. Sie existiert als psychisches Sein (psychic entity) und als jīvātman. Das psychische Sein (caitya puruṣa) befindet sich im Prozess der Evolution, ohne seine Unsterblichkeit zu verlieren. Der jīvātman hingegen ist das wahre Selbst, das geistige Individuum, das individuelle Göttliche Wesen (individual Divine).
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Zusammenfassung
Caitya puruṣa und jīvātman bilden zusammen die individuelle Seele oder die Person. Die individuelle Person gründet in der absoluten Person. Zugleich aber ist sie verschieden von der absoluten Transzendenz. Die Liebe als die Vergegenwärtigung des göttlichen ānanda macht das Wesen der Person aus. Als Geist ist die Person frei und nimmt teil an der göttlichen Freiheit. Der am Endpunkt der transformierenden Evolution angelangte Mensch wird zum supramentalen oder gnostischen Wesen (gnostic being). Von diesem gnostischen Wesen ist die transzendente Person zu unterscheiden. Diese ist der höchste puruṣa (puruṣottama). Sie schließt alle Gegensätze in sich ein und überschreitet sie. Auf Grund bleibender Verschiedenheit besteht ein Beziehungsverhältnis der Freiheit und der Liebe zwischen transzendenter und individueller Person. Wenn wir uns Gott nur mit dem Intellekt zu nähern versuchen, dann besteht die Gefahr, dass wir bei einer letzten Abstraktion ankommen, beim Nihilismus der Buddhisten. Die Liebe aber führt uns zu einem personalen Gott, dessen wahres Wesen ānanda ist. So bedarf es der Verschränkung von Erkenntnis und Liebe, um zu einer göttlichen Person zu gelangen, von welcher die individuelle Person ihr Sein empfängt. Das Universum geht aus der göttlichen Bewusstseins-Kraft (citśakti) hervor, die sich bis zur Unbewusstheit der Materie involviert. In einem langen Prozess der Evolution kommen die verborgenen Möglichkeiten und Eigenschaften wieder hervor. Wenn die Stufe des Menschen erreicht ist, dann steht die Evolution an ihrem entscheidenden Wendepunkt. Im Menschen beginnt das Bewusstsein wieder zu sich selbst zurückzukehren und die Selbt-Verlorenheit in der Entäußerung der materiellen und vitalen Natur zu überwinden. In einer dreifachen Transformation, nämlich der psychischen, spirituellen und supramentalen Transformation, kann sich der Mensch der Fülle der göttlichen Saccidānanda öffnen. Er wird zum gnostischen Individuum, das ein supramentales Wesen ist und alle Eigenschaften des Supermind aufweist, aber nicht in absoluter, sondern in individueller Form. Aus dieser Möglichkeit der Transformation ergeben sich wichtige Erkenntnisse für die Realisierung des Ideals einer geeinten Menschheit. Die Transformation des Menschen zum gnostischen Individuum impliziert zwei Bewegungen, den Aufstieg und die Herabkunft. Entscheidend ist jedoch die Gnade, die alles im Menschen bewirkt und ihn in die Übernatur des göttlichen Lebens hineinhebt. 179 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Kapitel VI: Methode »Denn bei Dir ist des Lebens Quell und in Deinem Lichte sehn wir das Licht« Psalm 35, 10
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Das vorrangige Kennzeichen der Philosphie
Wenn wir uns jetzt um die Methode bemühen, dann muss zuerst an jene Themen erinnert werden, die schon behandelt wurden: die Sinneserkenntnis, die Erkenntnis durch Identität und schließlich die supramentale Erkenntnisform an sich und wie sie uns im gnostischen Individuum begegnet. In diesen Ausführungen kündet sich bereits eine entscheidende Differenz an zur abendländischen Weise des Philosophierens, die jetzt thematisiert werden soll.
1.1 Im Westen: die Anstrengung des Begriffs Der europäische Philosoph beginnt in der Erfahrung der sinnlich gegebenen Welt oder der inneren Akte, analysiert diese, bildet Begriffe und gelangt durch Verknüpfung der Begriffe in Urteilen, durch Abstraktion, Prinzipienerkenntnis und Schlussfolgerung zum metaphysischen Gegenstand; oder aber er setzt als Anfang eine erste Gewissheit, eine erste geistige Einsicht, gleichsam als unerschütterliches Fundament (»fundamentum inconcussum«), von welchem her sich das System in streng logischer Folge aufbaut. Während die sinnliche Erfahrung nur Anlass ist, um die Philosophie in Gang zu bringen, und für den weiteren Vollzug des abstraktiven Denkens keine Wesensbedeutung mehr hat, gehen im anderen Falle die Erst-evidenzen unmittelbar ins Selbst ein. In beiden Weisen aber ist gemeinsam, dass der Philosoph seine oberste Aufgabe in der Anstrengung des Begriffes sieht, ob nun die Methode »more geometrico«, transzendental, dialektisch, phänomenologisch, analytisch oder synthetisch vorangeht. Im metaphysischen Bereich entbehrt aber der Begriff der Anschauung, er ist notwendig abstrakt, trifft das Wesen nicht in seiner metaphysischen Konkretheit, sondern nur in einer allgemeinen Weise. Wenn Hegel sagt, die spekulative Vernunft gelange zu konkreten 180 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Das vorrangige Kennzeichen der Philosphie
Begriffen, dann wird das doch vom abstrahierenden Verstand her festgestellt; das »lumen naturale« und der »intellectus agens« sind der Erklärungsgrund für die Seinserkenntnis; sie sind als Bedingung der Möglichkeit für geistige Erkenntnis erschlossen, werden aber nicht als sie selbst ausdrücklich erfahren. Dass es sich so verhält, zeigt nicht nur die Analyse unserer geistigen Erfahrung, sondern auch die Tatsache, dass einige Probleme der Philosophie immer im Letzten ungelöst bleiben werden, weil das abstrahierende Denken diese Probleme nur eingrenzen kann, indem es sagt: einerseits muss es so sein, andererseits kann es nicht dies sein; was es aber wirklich ist, die Synthese von Ja und Nein (Sic et Non), das kann nicht ausgemacht werden: Die Welt ist einerseits von Gott, andererseits muss sie verschieden von ihm sein; für die Kennzeichnung dieser Situation dient der negative Begriff der »creatio ex nihilo«. Was aber ist Schöpfung in einer vollen positiven Aussage? Ähnlich verhält es sich mit der Gegensätzlichkeit von Freiheit und Gnade. Beide können wohl gegeneinander abgegrenzt werden, aber die Versuche, das Verhältnis positiv zu begreifen, bleiben Hilfskonstruktionen, weshalb dieser Streit wohl immer offen bleiben muss. 1 Die Anstrengung des Begriffes vollendet sich notwendig darin, dass sie ihre Grenze sieht. Das Unendliche kann adäquat nur vom Unendlichen selbst gedacht werden. 2
1.2 Bei Sri Aurobindo: die Anstrengung der Erfahrung Der Anfang der Philosophie zeigt sich ganz anders bei Sri Aurobindo. Sri Aurobindo fühlt sich nicht als Philosoph im gewöhnlichen Sinn; er lehnt es ab, den Verstand als obersten Richter der Wahrheit anzuerkennen und ein System mit mentaler Logik zu konstruieren. Solche Philosophie wäre nur ein begrenzter Ausdruck der Wahrheit. Wahrheit und Wirklichkeit müssen für ihn zuerst erfahren 3 sein. Das bedeutet: Die Enge unseres Bewusstseins muss aufgebrochen werden;
Es sei auch hingewiesen auf die im Letzten ungelöste Problematik von Materie und Form, Wesen und Sein. 2 Wenn eine Philosophie ihre Grenze nicht mehr sieht, dann scheitert sie als Philosophie. Vgl. Müller, Hegel, 42. 3 Erfahrung sei hier nicht im engen raum-zeitlichen, sondern im erweiterten Sinn verstanden, welcher zuerst die geistige Anschauung, die geistige Intuition und letztlich das unmittelbare Wahrheits-Bewusstsein (Truth-Consciousness) meint. 1
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VI · Methode
die Transformation unseres ganzen Seins und Bewusstseins muss hinführen zur unmittelbaren Geist-Identität, welche unser wahres Wesen ist. Erst aus einem solchen supramentalen Wahrheitsbewusstsein, erst nach unmittelbarer Schau der Wirklichkeit kann eigentlich philosophiert werden. Philosophie ist zuerst Anstrengung der transformierenden Erfahrung und dann, sekundär, die Anstrengung des Begriffs, welche die Erfahrung in ein auch für den Verstand begreifbares System auslegt.
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Sri Aurobindos Methode und eine Skizze seines Lebens
An dieser Stelle kann uns eine Skizze von Sri Aurobindo’s geistigem Weg ein Stück weiterbringen. Die Lebensgeschichte dieses Mannes ist selbst die Geschichte des Bewusstseins, das sich aus der mentalen Begrenzung befreit und zur ursprünglichen Wahrheitsschau des Supermind zurückkehrt. Man kann mit Recht sagen: »Sri Aurobindo oder Das Abenteuer des Bewusstseins«. 4 Der am 15. August 1872 in Calcutta geborene Aurobindo Ghosh war als Sohn eines ganz westlich orientierten Arztes mit 7 Jahre (1879) nach England geschickt worden. Der Vater wollte ihm während der 14 Jahre (Rückkehr nach Indien 1893) seines dortigen Aufenthalts eine englische Erziehung zukommen lassen. Aurobindo lernte vor allem die europäischen Sprachen und deren große Literatur kennen: Griechisch, Latein, Deutsch und Französisch, Italienisch und Spanisch, und vertiefte sich in die verschiedenen Epochen europäischer Geschichte. Wir stellen fest, dass er in dieser Zeit zwar begann, seine Fähigkeit als Dichter zu entfalten, sich aber der Philosophie
»Sri Aurobindo ou L’Aventure de la Conscience« lautet der Titel der Biographie von Satprem, Pondicherry 1964. Es macht Freude, in dieser sprachlich, formal und inhaltlich hervorragenden Biographie zu lesen. Satprem versteht es meisterhaft, die Lebensdaten Sri Aurobindos mit seiner Philosophie zu verschmelzen unter dem Gesichtspunkt nicht des Philosophen, sondern des »Sri Aurobindo explorateur«, der uns ein Mittel in die Hand gegeben hat, das uns befähigt, »an unsere eigenen Möglichkeiten zu glauben, an unsere menschlichen wie übermenschlichen und göttlichen, und nicht nur daran zu glauben, sondern sie selbst zu entdecken, Schritt für Schritt.« (Satprem, Sri Aurobindo, 5) Weitere Biographien und Übersichten über das Werk von Sri Aurobindo: Wolff, Sri Aurobindo; Huchzermeyer, Sri Aurobindos Leben und Werk.
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Sri Aurobindos Methode und eine Skizze seines Lebens
noch nicht zuwandte: er studierte weder philosophische Werke mit philosophischer Intention, noch betätigte er sich selbst schöpferisch im Bereich der Philosophie. So wurde er zwar zu einem »vollkommen westlichen Menschen« 5 in Erziehung und Bildung, nicht aber im Bereich der Philosophie. Sein Interesse war vielmehr der Politik gewidmet. Er sollte in den »Indian Civil Service« eintreten, wich aber dieser Situation aus, weil der I.C.S. englandhörig war, Aurobindo aber für die nationale Befreiung seines Landes arbeiten wollte. Im Februar 1893 kam Sri Aurobindo, jetzt einundzwanzigjährig, nach Indien. Dort trat er in den Staatsdienst von Baroda und wurde nach einiger Zeit Professor für Englisch und später stellvertretender Direktor im »Baroda College«. Hier fand er Zeit, sich mit der indischen Sprache, Geschichte und Geisteswelt zu befassen. »Er lernte Sanskrit und einige moderne indische Sprachen, besonders Marathi und Gujarati, die beiden offiziellen Sprachen in Baroda. Das Bengali lernte er sehr rasch und größtenteils durch Selbststudium.« 6 »Dies waren Jahre der Selbst-Bildung und literarischen Tätigkeit; denn vieles von der Dichtung, welche später von Pondicherry aus veröffentlicht worden ist, wurde zu dieser Zeit geschrieben.« (AA 3) Politische Tätigkeit Die Hauptenergie aber widmete Sri Aurobindo der Politik und der nationalen Befreiungsbewegung. Durch Untergrundorganisation, Herausgabe von Zeitungen und später durch offene Parteiführung griff er tief in das politische Schicksal seines Landes ein. Er war der erste indische Politiker, der in der Öffentlichkeit die vollständige Unabhängigkeit zum Ziel der Politik erklärte. 1906, nach dreizehn Jahren Staatsdienst in Baroda, wurde er Direktor des »National College« von Bengalen, welches im Zuge der von Sri Aurobindo verkündeten Grundsätze zur Befreiung Indiens mit indischen Mitteln gegründet worden war. Er siedelte jetzt nach Calcutta über und fand hier weit größere Möglichkeiten für seine politische Agitation. Seine Tagesund Parteizeitung »Bande Mataram« brachte ganz Indien in Be-
»Un occidental accompli«, Satprem, Sri Aurobindo, 7. »Sri Aurobindo und sein Ashram«. Erste Ausgabe 1948 vom Arya Publishing House, Calcutta. Hier zitiert nach der Übersetzung von Heinz Kappes in »Integraler Yoga« Heft 1/1964, 4. Diese kurze Biographie ist von Sri Aurobindo selbst verfasst. Er spricht von sich hier in der dritten Person (Abkürzung: AA).
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VI · Methode
wegung und erweckte überall das nationale Selbstbewusstsein. Sri Aurobindo wurde »der anerkannte Führer des Nationalismus in Bengalen« (AA 15). Am 10. April 1908 tötete eine Bombe zwei unschuldige Damen. Die englische Regierung reagierte mit einer Verhaftungswelle. Am Morgen des 4. Mai 1908, als Sri Aurobindo noch schlief, »stürmte […] die Polizei, Revolver in der Faust, die Treppe herauf und verhaftete ihn. Man brachte ihn zunächst zur Polizeistation und dann in das Alipore-Gefängnis, wo er ein Jahr lang während der richterlichen Untersuchung und der Gerichtsverhandlung vor dem Schwurgericht in Alipore festgehalten wurde.« (AA 16)
Diese Zeit wurde für ihn zur entscheidenden Wende. Am 6. Mai 1909 wurde er freigesprochen und betrat als ein innerlich Verwandelter neuerdings die politische Bühne. Doch inzwischen waren die Revolutionäre und Führer der nationalistischen Bewegung zerstreut und das Volk entmutigt. Trotzdem setzte Sri Aurobindo den Kampf fort, gründete die Wochenzeitschriften »Karmayogin« und »Dharma«, »welche eine ziemlich weite Verbreitung gewannen« (AA 17), aktivierte neuerdings die Parteiarbeit und versuchte in öffentlichen Reden das Volk für die Befreiungsbewegung zu gewinnen. Diese Tätigkeit ließ ihn als das einzige bedeutende Hindernis für die Kolonialregierung erscheinen; deshalb trachtete diese danach, ihn auf irgendeine Weise auszuschalten. Dem Plan der Deportation kam Sri Aurobindo durch einen Artikel im »Karmayogin« zuvor. Deshalb erstrebte die Regierung seine neuerliche Verhaftung. Als Sri Aurobindo davon Nachricht bekam und überlegte, wie er sich verhalten solle, »empfing er einen plötzlichen Befehl von Oben her, er solle nach Chandernagore in Französisch Indien gehen. Er gehorchte diesem Befehl sofort. Denn es war ihm jetzt zur Regel geworden, seine eigenen Maßnahmen nur im Gehorsam gegen die ihn bestimmende Göttliche Führung zu unternehmen und dieser nie einen Widerstand entgegenzusetzen noch von ihr abzuweichen. Er wartete nicht, um sich mit irgend jemand zu beraten. Vielmehr war er in zehn Minuten beim Landeplatz am Fluss und in einem Schiff, welches den Fährdienst auf dem Ganges versah. So war er in wenigen Stunden in Chandernagore […] In Chandernagore versenkte er sich, völlig zurückgezogen, in seine Meditation und hörte mit jeder anderen Betätigung auf. ’Ende März kam zu ihm der Ruf, nach Pondicherry zu gehen. Ein Boot, welches mit einigen jungen Revolutionären aus Uttarpara be-
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Sri Aurobindos Methode und eine Skizze seines Lebens
mannt war, brachte ihn nach Calcutta. Hier schiffte er sich auf der ›Dupleix‹ ein [1. April] und erreichte Pondicherry am 4. April 1910.« (AA 19)
Damit fand jede öffentliche politische Tätigkeit ihr Ende. Sri Aurobindo lehnte es mehr als ein Mal ab, »das Amt des Präsidenten im neu erstandenen Indischen National-Kongress zu übernehmen« (AA 19), und widmete sich nur noch seinem geistigen Werk. Spirituelles Leben Die Wende in Alipore und Chandernagore hatte bereits eine Vorgeschichte. Die Anfänge von Sri Aurobindos Yoga reichen zurück bis ins Jahr 1904. Sri Aurobindo begann mit Yoga allein, ohne Guru. Er bekam die Lehre von einem Freund, einem Schüler von Brahmananda von Ganganath. Seine Übungen beschränkten sich zuerst auf die beharrliche Praxis von Pranayama [Disziplin des Atmens], eine Zeitlang sechs oder mehr Stunden am Tag. 7 Er suchte zunächst im Yoga eine Kraftquelle für seine politische Arbeit. Ende Dezember 1907 traf er zum ersten Mal mit Vishnu Bhaskar Lele in Baroda zusammen, der ihm 1908 ein entscheidendes Stück in seiner geistigen Entwicklung weiterhelfen sollte. »Er meditierte nur drei Tage lang mit Lele und befolgte seine Anweisungen, den mind still zu machen und ihn von dem ständigen Druck des Denkens zu befreien.« (AA 23) »›Setz dich hin‹, sagte er zu mir, ›schau und du wirst sehen, dass deine Gedanken in dich von außen herein kommen. Wirf sie zurück, bevor sie hereinkommen.‹ Ich setzte mich hin und schaute und sah zu meinem Erstaunen, dass es so war; ich sah und fühlte ganz konkret, wie der Gedanke herannahte, um gleichsam durch oder über den Kopf hereinzukommen, und ich konnte ihn auf konkrete Weise zurückschicken, bevor er hereinkam.« 8 »Er [Aurobindo] gelangte in eine absolute und vollständige Stille des mind und sogar des ganzen Bewusstseins. Während dieser Stille erfuhr er plötzlich die fortdauernde Realisation des Undefinierbaren Brahman – Tat –, in welcher das ganze Universum als etwas Unreales erschien, und nur Tat existiert.« (AA 23)
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CWSA Vol. 35, 237; Vol. 36, 107, 110. Ein Brief von Sri Aurobindo vom Mai 1932, zitiert aus Purani, Life, 123.
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VI · Methode
Das war die Realisation des Nirvana-Zustandes. Diese Stille hielt an, auch in der Aktivität. Im Januar 1908 sollte Sri Aurobindo eine Rede in Bombay vor der National Union halten 9. »Er frug Lele, wie er denn reden solle, wenn auch nicht der Schatten eines vorüberhuschenden Gedankens sich in ihm erheben könne. Lele sagte ihm, er solle die Versammlung begrüßen, bevor er seine Rede vor den Zuhörern zu halten habe, und dann warten. Die Rede werde dann zu ihm aus einer anderen Quelle als aus dem mind kommen. Und tatsächlich kam gerade in dem Augenblick, da er zu der Versammlung sprechen sollte, die Rede. Es muss aber betont werden, dass Sri Aurobindo nie zu irgend einer Zeit sich in Trance befunden hat. Etwas in ihm sah alles was vorging; und er sprach und handelte nach den Erfordernissen des Augenblicks, ohne dass ein begrifflicher Gedanke oder eine persönliche Willensbemühung nötig war. Seit jener Zeit sind aus derselben Quelle oberhalb des Gehirn-mind zu ihm alle seine mentalen Betätigungen gekommen: das Reden, Schreiben, Denken, der Wille und die anderen verwandten Tätigkeiten. Er war in den spirituellen mind und in das eingetreten, was er später das ›Bewusstsein oberhalb des Hauptes‹ nannte. Dieses war seine erste größere und fundamentale Yoga-Realisation und Yoga-Erfahrung. Sie war der wahre Anfang und die Grundlage seines Yoga.« (AA 23)
Die zweite große und weiterführende Realisation ereignete sich in dem Jahr seiner Inhaftierung in Alipore. Vor und nach der Begegnung mit Lele gründete sich seine Sādhanā 10 nicht auf Bücher oder auf einen menschlichen Guru, »sondern auf meine persönlichen Erfahrungen, welche sich mir von Innen her aufdrängten. Im Gefängnis hatte ich jedoch die Gita und die Upanishaden bei mir. Ich praktizierte den Yoga der Gita und meditierte mit Hilfe der Upanishaden. Dieses waren die einzigen Bücher, von welchen ich Hilfe empfing. Die Veden, welche ich erst lange danach in Pondicherry zum ersten Mal zu lesen begann, bestätigten eher die Erfahrungen, welche ich schon vorher gemacht hatte, als dass sie mein Führer in meiner Sadhana gewesen wären.« (AA 24)
Von Lele, der kein Advaitin, sondern ein Bhakta war, hatte Sri Aurobindo das Prinzip empfangen, sich gänzlich Gott als dem wahren inneren Guru vertrauensvoll zu überlassen. Gerade diese Übergabe an Gott brachte im Gefängnis eine herrliche Frucht inneren geistigen Purani, Life, 127 ff. Sri Aurobindo definiert dieses Wort so: »Ein Tun (practice), durch welches Vollkommenheit, siddhi, erreicht wird.« (OYI 50, Anm.)
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Sri Aurobindos Methode und eine Skizze seines Lebens
Wachstums, in welches uns die berühmt gewordene Uttarpara-Rede 11 (30. Mai 1909) einen tiefen Einblick gewährt. Zunächst erlebte Sri Aurobindo eine Erschütterung in seinem Herzen. Er hatte geglaubt, eine Sendung für sein Land zu haben, und saß jetzt unter einer schweren Anklage im Gefängnis. Er wartete Tag für Tag auf die Stimme Gottes in seinem Inneren. Aber dann erinnerte er sich, dass bereits einen Monat vor seiner Verhaftung Gottes Ruf an ihn ergangen war, in die Einsamkeit zu gehen und eine innigere Gemeinschaft mit Ihm zu suchen. »Ich war schwach und konnte diesen Ruf nicht annehmen. Mein Werk war mir sehr lieb, und im Hochmut meines Herzens dachte ich, dass das Werk, wenn ich nicht da wäre, leiden oder gar untergehen und aufhören würde. Darum wollte ich es nicht verlassen. Nun schien es mir, als ob Er wieder zu mir redete und sagte: ›Die Bindungen, welche zu zerbrechen du nicht die Kraft besessen hattest, habe Ich für dich zerbrochen. Denn es ist nicht mein Wille, noch war es je meine Absicht, dass dieses so weitergehen solle. Ich habe ein anderes Werk für dich zu tun. Für dieses Werk habe Ich dich hierhergebracht, um dich das zu lehren, das du nicht für dich allein lernen konntest, und um dich für mein Werk zu trainieren.‹ – Dann legte Er die Gita in meine Hände. Seine Kraft drang in mich hinein. So war ich fähig, die Sadhana der Gita auszuführen. Ich sollte nicht nur intellektuell das verstehen, was Sri Krishna von Arjuna verlangte, […] sondern ich sollte es völlig realisieren: frei zu werden vom Widerwillen und vom Begehren, – das Werk für Ihn zu tun ohne einen Anspruch auf die Frucht des Wirkens, – dem Eigenwillen zu entsagen, – ein passives und vertrauensvolles Werkzeug in seiner Hand zu werden, – ein ausgeglichenes Herz zu besitzen gegenüber dem Hohen und dem Niedrigen, Freund und Gegner, Erfolg und Niederlage, […] und doch sein Werk nicht nachlässig auszuführen. Da verstand ich erst wirklich, was die Hindu-Religion bedeutet. Wir sprechen oft von der Hindu-Religion, vom Sanatan Dharma [dem Ewigen Gesetz]. Nur wenige unter uns wissen aber wirklich, was diese Religion ist. Andere Religionen sind überwiegend Religionen des Glaubens und des Bekenntnisses. Aber das Sanatan Dharma ist das Leben als solches. Es ist eine Sache, welche man nicht so sehr glauben als leben muss. Das ist das Dharma, welches für die Rettung der Menschheit in der Abgeschlossenheit dieser Halbinsel seit alten Zeiten hochgehalten worden ist. Um diese Religion weiterzugeben, erhebt sich Indien. Es erhebt sich nicht wie die anderen Nationen für sich selbst, um dann, wenn es stark geworden ist, auf den schwachen herumzutrampeln. Indien erhebt sich, um das Ewige Licht über die Welt hinaus Uttarpara ist eine Stadt etwa 10 km von Kalkutta entfernt. Ein Bericht über diese Rede in Purani, Life, 146 f.
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VI · Methode
strahlen zu lassen, welches ihm anvertraut ist. Indien hat immer für die Menschheit existiert und nicht für sich selbst. Für die Menschheit muss Indien groß werden und nicht für sich selbst.« (UR 47–8) 12
Sri Aurobindo lernte im Gefängnis, dass es nicht seine Aufgabe war, für die politische Befreiung seines Landes zu wirken. Die von ihm ausgegebenen Initiativen genügten. Seine Aufgabe wurde es, ein geistiges Werk zu vollbringen, das Sanatan Dharma der Religion, »welche alle anderen umfasst« (UR 52), zu erkennen und zu realisieren und Indien zu dieser Erkenntnis und Realisation zu führen, worin allein die Rechtfertigung für Indiens Unabhängigkeit und Größe liegt. Die ihn umgebende Wirklichkeit verlor jetzt den Charakter des Drohenden und Hässlichen, sie verwandelte sich ihm in die Gegenwart Gottes. »Ich schaute auf das Gefängnis, welches mich von den Menschen abgeschieden hielt. Und ich war nicht mehr länger durch seine hohen Mauern eingekerkert. Nein, es war Vasudeva, welcher mich umgab. Ich ging unter den Zweigen des Baumes umher, welcher gegenüber von meiner Zelle wuchs. Aber dort war nicht der Baum; ich wusste, es war Vasudeva, es war Sri Krishna, den ich dort stehen sah, wie Er seinen Schatten über mich hielt. Ich betrachtete die Eisenstangen meiner Zelle, das Gitterwerk, welches als Türe diente. Und wiederum sah ich Vasudeva. Narayana 13 behütete mich persönlich und stand Schildwache über mir. Oder ich lag auf den rauen Decken, welche man mir als Lager gegeben hatte. Und ich fühlte die Arme von Sri Krishna um mich herum, die Arme meines Freundes und Geliebten. Auf diese Weise verwendete ich zunächst die tiefere Schau, welche Er mir gewährte. Ich sah mir die Mitgefangenen im Kerker an, die Diebe, die Mörder, die Schwindler. Als ich sie mir betrachtete, da sah ich Vasudeva; es war Narayana, welchen ich in diesen verfinsterten Seelen und missbrauchten Leibern fand.« (UR 48)
Selbst der Richter und der Staatsanwalt erschienen ihm als Vasudeva, Narayana, Sri Krishna. »›Hast du nun Angst?‹, sprach Er. ›Ich bin in allen Menschen und Ich herrsche über ihre Taten und über ihre Worte. Mein Schutz ist immer noch bei dir, fürchte dich nicht.‹« (UR 49). Sri Aurobindo war zuvor eher ein Agnostiker und Atheist, woran die englische Erziehung keine geringe Schuld trug. Aber diese Die Uttarpara-Rede, in der Übersetzung von Heinz Kappes, »Integraler Yoga« 1964, Heft 1, 45–53. 13 Nārāyaṇa ist ein Name für Viṣṇu. 12
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Sri Aurobindos Methode und eine Skizze seines Lebens
zweite große Realisation ließ ihn zutiefst erfahren, dass Gott existiert und in allen Wesen wohnt. »Schon während seiner Meditation im Gefängnis in Alipore war er auf dem Wege zu seinen beiden anderen Realisation: der von der Erhabensten Wirklichkeit, von welcher der statische und der dynamische Brahman die beiden Aspekte sind, – und der von den höheren Ebenen des Bewusstseins, welche hinaufführen bis zum Supermind.« (AA 24) »Indem er so die wesentlichen Elemente der spirituellen Erfahrung miteinander verband, welche auf dem bisher in Indien befolgten Pfad der Einung mit dem Höchsten Wesen und der spirituellen Realisation gewonnen wurden, ging er während seines Aufenthaltes in Pondicherry noch darüber hinaus. Er suchte nach einer noch vollkommeneren Erfahrung, welche die beiden Enden der Existenz, den Geist und die Materie, miteinander vereint und harmonisiert. Die meisten Yoga-Pfade sind Wege hin zum Jenseits, welche zum Geist hin- und letzten Endes vom Leben weg-führen. Sri Aurobindos Pfad steigt bis zum Geist empor, um dann mit allem Gewonnenen auf die Erde zurückzukehren, um das Licht, die Macht und die Seligkeit des Geistes in das Leben herniederzubringen und es zu verwandeln.« (AA 24–5) »Nur wenn dieser Supermind herniederkommt, kann jene Vollkommenheit eintreten, welche von allem erträumt wird, was es Höchstes in der Menschheit gibt. Wenn man sich einem höheren Bewusstsein, dem Bewusstsein aus dem Höchsten Wesen, aufschließt, kann man sich zu dieser Macht von Licht und Seligkeit erheben. Dann kann man sein wahres Selbst erkennen. Dann kann man in steter Einung mit dem Höchsten Wesen bleiben. Dann kann man die supramentale Kraft herniederbringen für die Transformation von Mind, Leben und Leib. Diese Möglichkeit zu realisieren ist das dynamische Ziel des Yoga von Sri Aurobindo.« (AA 25)
Sri Aurobindo wurde schließlich freigesprochen und es dauerte nur noch ein kurzes Jahr, bis er nach Pondicherry geführt wurde. Der Aufenthalt in Pondicherry war zuerst als ein begrenzter gedacht. Sri Aurobindo suchte die Einsamkeit für eine gewisse Zeit, um jenes erst erahnte geistige Werk zu tun und dann wieder nach Britisch-Indien zurückzukehren. Aber er wusste zuerst nur ahnend seinen Weg, er wusste nicht, wie lange man zu seiner Bewältigung brauche, wie viel Kraft, Opfer und Zeit die Transformation des Physisch-Materiellen erfordere, wie schwer es war, eine Schneise zu schlagen für die Herabkunft des Supermind. Jahre konzentriertester Meditation und völliger Hingabe an sein geistiges Werk vergingen. Langsam sammelten sich Schüler um ihn.
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»Eine Entdeckung kennzeichnet die ersten Jahre des Exils: die Lektüre der Veda-Schriften im Original.« 14 Er sah, dass die Sprache des Veda mehrschichtig ist und für den Verstehenden geistige Erfahrungen präzis beschreibt; er fand sich durch diese Erfahrungen bestätigt. Er stellte fest, »dass erstens die Mantras des Veda mit einem klaren und exakten Licht meine psychologischen Erfahrungen erleuchteten, für die ich in dem von mir erfahrenen Ausmaß weder in der Europäischen Psychologie noch in der Lehre des Yoga oder des Vedanta eine genügende Erklärung gefunden hatte, und zweitens, dass sie Licht auf dunkle Passagen und Ideen der Upanishaden warfen, denen ich vorher keine genaue Bedeutung beilegen konnte […]« (V 46).
Aber Sri Aurobindo verstand den Veda nicht als unüberschreitbare Grenze und vor allem nicht als Wahrheit, zu der man sich im Vergessen der Gegenwart zurückwenden müsse. »In der Tat, diese vor Staunen starre Verehrung der Vergangenheit ist vorzüglich und schrecklich zugleich! Letztlich ist die ’Gottheit unendlich und die Entfaltung der ’Wahrheit ist möglicherweise ebenfalls unendlich […]«. 15 Sri Aurobindos geistige Realisation ist nicht bloß individuell wie bei den Sehern (Rishi) der Veden, sondern zugleich kollektiv, insbesondere weil er einen großen Teil seiner Zeit seinem schriftlichen Werk gewidmet hat. Bereits 1910 hatte Paul Richard, ein französischer Schriftsteller, einen ersten Besuch in Pondicherry gemacht. Im März 1914 kam er erneut, diesmal mit seiner Frau Mirra. Beide waren tief beeindruckt von Sri Aurobindos integraler Schau und seiner Yoga-Erfahrung. Sie überredeten ihn, eine philosophische Zeitschrift herauszubringen, worin er sein Wissen und seine Erfahrung auf rationale Weise der Welt zum Ausdruck bringen sollte. Am 15. August 1914, Sri Aurobindos Geburtstag, erschien die erste Ausgabe unter dem Namen Arya. Das war der Anfang von Sri Aurobindos philosophischem Werk, obwohl er sich nicht als Philosoph betrachtete. »Und Philosophie! Lass Dir im Vertrauen sagen, dass ich nie, nie, nie ein Philosoph war – obwohl ich Philosophie geschrieben habe, was eine ganz andere Geschichte ist. Ich wusste recht wenig über Philosophie, bevor ich
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Satprem, Sri Aurobindo, 321. Letters I, 99, zitiert nach Satprem, Sri Aurobindo, 323.
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Yoga übte und nach Pondicherrry kam – ich war ein Dichter und ein Politiker, aber kein Philosoph. Wie brachte ich es fertig, dies zu tun, und warum? Zuerst, weil Paul Richard mir vorschlug, in einer philosophischen Rundschau mitzuarbeiten – und da es meine Theorie war, dass ein Yogi fähig sein sollte, sich allem zuzuwenden, konnte ich nicht recht gut ablehnen; dann aber musste er in den Krieg und ließ mich im Stich mit 64 Seiten Philosophie pro Monat, die ich ganz allein zu schreiben hatte. Zweitens, weil ich in den Begriffen des Intellekts bloß all das niederzuschreiben brauchte, was ich durch die tägliche Yoga-Praxis beobachtet und kennen gelernt hatte; so ergab sich die Philosophie automatisch. Aber das heißt nicht, dass ich ein Philosoph sei.« (HM 348) 16
An diesem Punkt wird Sri Aurobindos Stellung zur Philosophie deutlich sichtbar: Die Anstrengung der Erfahrung (und des geistigen Erlebens) geht der Anstrengung des Begriffs voraus. Die Philosophie wird zu einem mentalen Ausdruck für das mit höheren Mitteln des Geistes Geschaute; sie ist nicht der Versuch, die Endlichkeit durch die Vernunft auszuweiten in die Unendlichkeit des Größten Ganzen und der Transzendenz, welche als solche nur begrifflich angezielt und erfasst werden können. Die Anstrengung des Begriffs ist für Sri Aurobindo keine Anstrengung mehr: »Ich habe keine Anstrengung gemacht zum Schreiben, ich habe die höhere ’Macht arbeiten lassen und, wenn sie nicht arbeitete, bemühte ich mich überhaupt nicht. Ehemals, in den alten Tagen des Intellekts, versuchte ich manchesmal wohl, die Dinge zu zwingen, aber ich habe es nicht mehr getan, seit ich begonnen habe, Poesie und Prosa durch Yoga zu schreiben. Ich erinnere Sie daran, dass ich keine Denkbemühungen vollziehe, weder bei der
Ein Brief an Dilip Kumar Roy vom 4. 9. 34. Der Name Richard wurde nach Satprem, Sri Aurobindo, 324, und Purani, Life, 181, eingefügt. In HM ist er durch X. ersetzt. Der Brief ist wie der an denselben Adressaten am 2. 10. 34 gerichtete (HM 349–51) eine entschiedene Absage an den Versuch, Sri Aurobindo für einen Beitrag in »Contemporary Philosophy« zur Darstellung und Rechtfertigung seiner Philosophie zu gewinnen. Er lehnt es in scharfer Form ab, auf Befehl Bücher zu fabrizieren, sich selber zu rechtfertigen und Propaganda zu treiben. »Und außerdem, meine solide Arbeit ist gegenwärtig nicht die Philosophie, sondern etwas weniger Wortreiches und dem wichtigen Punkt näher Liegendes. Wenn dieses Werk vollbracht ist, dann wird es sich selbst verbreiten, insoweit Verbreitung notwendig ist – wenn es nicht vollbracht wird, wird die Verbreitung nutzlos sein.« (HM 351) Diese Ablehnung scheint sich gegen Radhakrishnan zu richten, der zusammen mit J. H. Muirhead 1936 den Sammelband herausbrachte: Contemporary Indian Philosophy, London. Meine Vermutung findet sich bestätigt bei Wolff, Indiens Beitrag, 120.
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Abfassung des Arya noch jedesmal dann, wenn ich diese Briefe oder diese Antworten schreibe […]. Ich schreibe in einer Stille des mind und das, was ich schreibe, kommt zu mir von oben, ganz geformt.« 17
In den sechseinhalb Jahren des Erscheinens des Arya verfasste Sri Aurobindo den größten Teil seines schriftlichen Werkes, ungefähr 5000 Seiten. 18 Obwohl er verschiedene Dinge, vor allem »The Life Divine« und »The Synthesis of Yoga« später nochmals ergänzt und in Details umgeformt hat, wurden doch die meisten Werke in ihrer endgültigen Form geschaffen. Der Arya wurde 1921 beendet, weil Sri Aurobindo der Meinung war, es sei für den Augenblick genug gesagt. Die philosophische Produktion war zwar damit nicht beendet, aber sie hatte nicht mehr den Vorrang. Er widmete sich jetzt der Korrespondenz mit seinen Schülern, die tausende von Briefen umfasst und worin er praktische Ratschläge erteilte über die Yoga-Erfahrungen und die Schwierigkeiten auf dem Weg. »Und vor allen Dingen, er macht sich daran, während der Zeit von dreißig Jahren jenes gewaltige Epos von 23.813 Versen zu schreiben und immer wieder neu zu schreiben: Savitri, gleichsam ein fünfter Veda, seine Botschaft, wo er seine Erfahrungen ausspricht, die er mit den Welten in der Höhe und in der Tiefe gemacht hat, seine Kämpfe im ’Unter-bewussten und ’Nicht-bewussten, und die ganze verborgene Geschichte der Evolution der Erde und des Universums bis hin zu seiner Schau der Zukunft.« 19
Mirra Alfassa (Richard) – am 21. Februar 1878 in Paris geboren – hatte in dieser ersten Begegnung 1914 in Sri Aurobindo ihren Guru gefunden. Durch eine schöne Korrespondenz 20, in welcher sich viel von der geistigen Erfahrung beider und von ihrem Ziel ausspricht, ein Leben aus Gott auf Erden vorzubereiten, blieben beide verbunden. Am 24. April 1920 kam Mirra Alfassa endgültig nach Pondicherry. Sie war bald nicht mehr bloß Schülerin, sondern wurde infolge ihrer hohen geistigen Realisation zur »Mutter« des Ashram. »Es ist wohl symbolisch, dass die lebendige Synthese zwischen Ost und West, welche Sri Aurobindo bereits verkörpert, sich vollendet durch diese neue Begegnung zwischen West und Ost, als könne die Welt in Wahrheit
Roy, Sri Aurobindo Came to Me. Zitiert nach Satprem, Sri Aurobindo, 325. Diese Zahl bezieht sich nicht auf das Gesamtwerk, sondern auf die Zeit des Arya. Das Gesamtwerk ist um einiges umfangreicher. 19 Satprem, Sri Aurobindo, 327–8. 20 Einige Briefe dieser Zeit finden sich bei Purani, Life, 186–191. 17 18
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Sri Aurobindos Methode und eine Skizze seines Lebens
nur vollkommen sein in der Verbindung jener zwei Pole der Existenz, dem ’Bewusstsein und der ’Kraft, dem ’Geist und der Erde, Ihm und Ihr.« 21
Inzwischen war in Sri Aurobindo mehr und mehr die Idee gereift – wir hören davon bereits in einem Brief an Barin vom 7. 4. 1920 22 –, eine Gemeinschaft der Schüler (sangha) zu schaffen, in welcher jene neue Weise geistiger Existenz gelebt werden könnte, ein Raum für ein Leben aus Gott auf Erden, ein Ashram, in dem sich zuerst die supramentale Transformation in einer größeren Gemeinschaft von Menschen ereignen könnte. Der Ashram könnte das von Sri Aurobindo unternommene Werk in die Welt hinein fortsetzen. Hierfür bedeutete die Ankunft der Mutter einen wichtigen Schritt: Sie brachte die entscheidenden Ideen und Initiativen mit. »Als ich nach Pondicherry kam, war mir von innen her ein Programm für meine Disziplin gegeben. Ich folgte diesem und schritt meinerseits voran, aber ich erreichte nichts Großes, was die Hilfestellung für die anderen betrifft. Dann kam die ’Mutter; mit ihrer Hilfe fand ich die notwendige Methode.« 23
In den nächsten Jahren wurde Sri Aurobindos geistiges Tun noch intensiver, die Abendgespräche 24 wurden unregelmäßiger und verspäteten sich oft. »Aus der Tendenz der Abendgespräche kurz vor und nach dem 15. August 1926 wurde es klar, dass die Wichtigkeit eines verbindenden Gliedes zwischen dem höchsten ’Supermind und dem mind mit Nachdruck hervorgehoben wurde. Er nannte es den ’Overmind. Während der sechs Jahre (von 1920 bis 1926) war es ebenfalls evident, dass er viel weiter gegangen war im Aufstieg zu dem und in das ’Höhere ’Bewusstsein hinein und im Zustandebringen von dessen Herabkunft in die Natur. Im Anfang des November drehten sich die Abendgespräche mehrfach um die Möglichkeit der Herabkunft des ’Göttlichen ’Bewusstseins und um den Vorgang dieser Herabkunft. Von diesen abendlichen Unterhaltungen her kam deshalb mehreren Schülern die Idee, dass solch eine Herabkunft nahe bevorstehe.« 25
Satprem, Sri Aurobindo, 329. Bei Purani, Life, 197–200. 23 Aus dem unveröffentlichten Tagebuch von Anilbaran, zitiert nach Satprem, Sri Aurobindo, 328. Es ist hier nicht der Platz, die sehr wichtige Geschichte der Mutter und des Ashram weiterzuverfolgen. 24 Aufgezeichnet von A. B. Purani unter dem Titel: »Evening Talks«. 25 Purani, Life, 242. 21 22
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VI · Methode
Die Atmosphäre war erwartungsvoll gespannt auf das kommende Ereignis. »Wenn jemand weiß, dass diese ganze Herkules-Arbeit des Aufschließens der Materie und der Un-bewusstheit für das Göttliche Licht und des Herabbringens des Supermind nicht für ihn selbst, sondern für die Menschheit unternommen wurde, um einen neuen Aufbruch für den Menschen im Lauf seiner Evolution zu ermöglichen« 26,
dann kann man verstehen, dass die Schüler die unmittelbare Nähe der Herabkunft spürten und erwarteten. »Schließlich kam der große Tag. Seit Anfang November begann der Druck der ’Höheren ’Kraft unerträglich zu werden. Der Tag, auf den die ’Mutter so viele lange Jahre gewartet hatte, kam am 24. November.« 27 Die Sonne war fast untergegangen, als die mit ihren Arbeiten beschäftigten Schüler auf eine Botschaft der Mutter hin sich eilends auf der Veranda einfanden. »Es herrschte eine tiefe Stille in der Atmosphäre, nachdem sich die Schüler dort versammelt hatten. Viele sahen eine Meeresflut von ’Licht, welches von oben herniederstürzte. Jeder Anwesende fühlte eine Art von Druck auf seinem Kopf […]. Man konnte durch die halbgeöffnete Tür Sri Aurobindo und die ’Mutter sehen. Die ’Mutter bat mit einem Zeichen ihrer Augen Sri Aurobindo, als erster herauszugehen. Sri Aurobindo ermunterte sie mit einem ähnlichen Zeichen, dies zu tun. Langsam und würdevoll schritt die ’Mutter als erste heraus, gefolgt von Sri Aurobindo in seiner majestätischen Haltung […]. Absolute Stille, lebendige Stille – nicht bloß lebendig, sondern überströmend von Göttlichkeit. Die Meditation dauerte etwa 45 Minuten. Danach verbeugte sich ein Schüler nach dem anderen vor der ’Mutter. Sie und Sri Aurobindo gaben ihnen den Segen. Jedesmal wenn sich ein Schüler vor der ’Mutter verbeugte, kam Sri Aurobindos rechte Hand hinter der Hand der ’Mutter hervor, gleichsam als wollte er den Schüler durch die Mutter segnen. Nach den Segnungen war in derselben Stille eine kurze Meditation. In der Zeit zwischen stiller Meditation und Segen hatten viele verschiedene Erfahrungen. Als alles vorbei war, fühlten sie sich, als wären sie von einem göttlichen Traum erwacht. Dann fühlten sie die Größe, die Poesie und die absolute Schönheit dieses Ereignisses. Es war nicht so, als hätte eine Handvoll Schüler den Segen von ihrem höchsten ’Meister und der ’Mutter an einem kleinen Winkel der Erde empfangen: Die Bedeutung dieser Stunde war weit größer als dies. Es war sicher, dass ein ’Höheres ’Bewusstsein auf die Erde herabgekommen war.« 28 26 27 28
Purani, Life, 245. Purani, Life, 245. Purani, Life, 246. Purani war selbst Augenzeuge. Er war seit 1918 Schüler von Sri
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Sri Aurobindos Methode und eine Skizze seines Lebens
Dieser Tag von Sri Aurobindos Yoga-Siddhi 29 wurde als ein Tag des Sieges und der Erfüllung von Sri Aurobindos göttlichem Auftrag aufgefasst. Im Oktober 1935 schreibt Sri Aurobindo selbst über dieses Ereignis in folgenden lapidar-sachlichen Worten: »Am 24. November 1926 war die Herabkunft von Krishna in das Physische hinein. Krishna ist nicht das supramentale ’Licht. Die Herabkunft Krishnas bedeutet die Herabkunft der ’Overmind–’Gottheit, welche, obwohl sie nicht selbst in aktueller Weise der Supermind ist, doch die Herabkunft von ’Supermind und ’Ananda vorbereitet. Krishna ist der ’Wonnevolle (Anandamaya); er unterstützt die Evolution durch den Overmind hindurch und führt sie zu seinem ’Ananda.« 30
Zum Beweis für dieses bedeutsame Ereignis führt Purani die Namen der 24 Schüler an, die den 24. November miterlebt haben. Am Tag seiner Siddhi übertrug Sri Aurobindo die Leitung des Ashram der Mutter, zog sich selbst völlig zurück und wirkte nur noch durch seine geistige Gegenwart und durch die Mutter, der er die gleiche Bewusstseinsstufe zuerkannte. 31 In der Zurückgezogenheit setzte er die geistige Arbeit unvermindert fort. Er kämpfte um die supramentale Transformation des Körpers, des Unterbewussten und der Un-bewussstheit. Er suchte bis ins Materielle hinein den aposteriorischen Beweis für die Kraft des Geistes und für seine Lehre und fand sich bestätigt. Seit 1940 widmete er seine ganze Kraft dem Ashram, einem Unternehmen, das sich radikal von allen anderen in Indien unterscheidet. »Nicht für die Weltentsagung wurde dieser Ashram geschaffen, sondern als ein Zentrum oder ein Platz der Erfahrung für die Evolution einer neuen Lebensform.« 32 Am 5. Dezember 1950 verließ Sri Aurobindo in einer letzten großen Versenkung (mahā samādhi) seinen physischen Leib. 33 »A power Aurobindo. Aber er hat sich stets eine große Nüchternheit bewahrt, die sich auch in der Art der Biographie und der Wortwahl erweist. Ich konnte ihn selbst anlässlich seiner Welt-Reise als klaren, einfachen und nüchternen Menschen kennenlernen. Umsomehr lässt der zitierte Text die Größe der Stunde erahnen. 29 Yoga-Vollendung. 30 Zitiert aus Purani, Life, 247. 31 Vgl. HM 361–7. 32 Letters I, 823, zitiert nach Satprem, Sri Aurobindo, 391. 33 Wir wollen hier nicht berichten und nicht beurteilen, was sich während Sri Aurobindos letzter Krankheit und in seinem Tode Großes ereignete. Das wurde alles sowohl in Zeugnissen seiner Schüler wie in Akten von Ärzten und Beamten festgehal-
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VI · Methode
leaned down, a happiness found its home. Over wide earth brooded the infinite bliss.« 34 Bei dem sehr feuchten und heißen Klima in Pondicherry müssen Beisetzungen oder Verbrennungen ein oder zwei Stunden nach dem Tod erfolgen. Sri Aurobindos Leichnam wurde auf Grund einer besonderen, immer wieder nach Prüfung erneuerten polizeilichen Erlaubnis erst hundertundelf Stunden nach seinem Tod, also am Nachmittag des 9. Dezember, beigesetzt. Bis dahin hatte er keine Zersetzungserscheinungen gezeigt. 35 Der Ashram verzeichnete inzwischen 1.200 Schülerinnen und Schüler aller Nationen und Religionen. Am 6. Januar 1952 wurde das »Sri Aurobindo Internationale Universitätszentrum« gegründet, welches eine Akademie der integralen Erziehung sein will. 36 Wenn wir uns einen kleinen Einblick in das Leben dieses Mannes verschafft haben, dann müssen wir uns bewusst machen, dass es nur ein kümmerlicher Versuch sein kann. Die wenigen äußeren Daten sind gleichsam nur ein Gerüst. Und unsere Aussagen über seine innere Evolution müssen notwendig Stückwerk bleiben; denn wer könnte sie adäquat verstehen oder gar beurteilen, wenn er nicht selbst über ähnliche oder noch größere Erfahrungen verfügt? »Es ist unmöglich, meine Biographie zu schreiben. Diese Idee ist ganz falsch. Wer könnte sie schreiben? Nicht nur in meinem Falle, sondern auch in dem der Dichter, Philosophen und Yogis ist es nutzlos, eine Biographie zu versuchen, weil diese nicht in ihrem äußeren Leben leben. Ihr
ten. Es sei nur hingewiesen auf folgende Berichte: Sanyāl, A Call from Pondicherry. Sanyāl war Ordinarius der Chirurgie an der Universität Calcutta und hat angesichts seiner Erlebnisse am Sterbe- und Todesbett sein Ordinariat aufgegeben und sich dem Ashram gewidmet. Nirodbaran, Sri Aurobindo: »I am here, I am here!« (Nirodbaran war Arzt und ständiger Sekretär Sri Aurobindos.); Sethna, The Passing of Sri Aurobindo; Wolff, Indiens Beitrag zum neuen Menschenbild, 93–98. Ich habe bewusst vermieden, von den oft erwähnten Krankenheilungen und den außerordentlichen Fähigkeiten zu berichten oder Texte zu zitieren, welche die Freude und das Überwältigtsein von der Begegnung mit Sri Aurobindo sehr unmittelbar zum Ausdruck bringen, um möglichst im Bereich nüchterner Sachlichkeit zu verbleiben. 34 »Eine Kraft kam zur Ruhe, ein Seligsein fand seine Heimstatt. Über weiter Erde lag breit unendliche Wonne.« Nirodbaran, I am here, I am here! 88. 35 Wolff, Sri Aurobindo, 133; Huchzermeyer, Sri Aurobindo. Leben und Werk, 234– 5. 36 Die weitere Entwicklung des Ashram und die Gründung von Auroville wird beschrieben von Huchzermeyer, Sri Aurobindo. Leben und Werk, und von Van Vrekhem, Über den Menschen hinaus.
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Systematische Überlegungen
wirkliches Leben ist innerlich und wie kann ein anderer dieses Leben kennen?« 37
Dennoch hat diese Lebensskizze für unser Thema eine wichtige Bedeutung. Sie zeigt 1. das Wesen der Erfahrung Sri Aurobindos, 2. dass die Anstrengung der Erfahrung in jedem Falle der Anstrengung des Begriffs vorausgeht, dass Philosophie nur eine Interpretation der Erfahrung für den mind darstellt, 3. dass Methode für Sri Aurobindo identisch ist mit dem integralen Yoga, der zum unmittelbaren Wahrheitsbewusstsein führen soll und von dort her die Erkenntnis vermittelt, 4. dass Sri Aurobindos Kritik am Illusionismus des Māyāvāda und am buddhistischen Nirvaṇa zuerst aus der Erfahrung kommt und erst hinterher die theoretische Rechtfertigung erfährt, 38 5. dass Sri Aurobindo eine einzigartige Synthese zwischen westlicher Bildung und indischer Geisterfahrung darstellt, 6. dass man ihn aus ihm selbst verstehen muss und keine künstlichen Maßstäbe anlegen darf, weil sie sich als einseitig, befangen und relativ erweisen dürften.
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Systematische Überlegungen
Nachdem wir uns über die Methode gleichsam vom Leben her informiert haben, können wir versuchen, die gewonnene Erkenntnis durch philosophische Einsichten zu ergänzen.
3.1 Anfang und Ziel menschlicher Erkenntnis Am Anfang der Erkenntnisbemühung steht die menschliche Bestrebung 39, die zunächst unbewusst-hoffende Sehnsucht nach einem Leben der Vollkommenheit, das sich in das Licht reiner Erkenntnis und unverfälschter Liebe gebettet weiß, in dieser Transzendierung seiner selbst aber doch zugleich sich selbst bejahen darf. Am Anfang treibt Ein Wort von Sri Aurobindo, zitiert aus Purani, Life, 235. Vgl. hierzu folgende Briefe: HM 147–212, welche teilweise auch in OYII aufgenommen sind, z. B. und besonders wichtig: OYII.T1 50–52, 135–137. 39 Vgl. die ersten drei Kapitel von LD. 37 38
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VI · Methode
uns eine Urdynamik 40, ein aus Partizipation herkommendes desiderium naturale 41, das involvierte und zur Evolution drängende göttliche Bewusstsein. Die durch diese Bestrebung im Menschen erzeugte Unruhe treibt ihn über sich selbst hinaus, unterwirft ihn der Mühe evolutiver Transformation, bis endlich der Supermind, der göttliche Logos selbst, herabkommt, um ihn zu sich heraufzuheben und ihn umzugestalten zum gnostischen Individuum.
3.2 Kritik des Verstandes Der Mensch kann aus diesem inneren Streben heraus nicht als mentales Wesen verharren, denn der mind hat sich uns gezeigt als Organ des Zerteilens und Abtrennens vom Ganzen, wodurch er die Unwissenheit erzeugt. Er muss seine Begriffe in Raum und Zeit gewinnen, Joseph Maréchal zeigt in seinem Werk »Le Point de Départ de la Metaphysique«, wie ohne diese Urdynamik, welche sich als die reine Setzung (Fichte) erweist, keine transzendentale Deduktion der Bejahung und damit keine Rechtfertigung für die Lehre vom Ding-an-sich möglich ist. 41 Wir meinen damit sowohl Augustinus Conf. I. 1 u. 2: »Tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te […] Sed quis te invocat nesciens te?« und »Quoniam itaque et ego sum, quid peto ut venias in me, qui non essem, nisi esses in me?« als auch Thomas von Aquin S.Th. I. q. 84, a.5. »Ipsum enim lumen intellectuale, quod est in nobis, nihil est aliud quam quaedam participata similitudo luminis increati […]« oder »Probatum est quod omnis intellectus naturaliter desiderat divinae substantiae visionem.« (S.c.G. III, 57) Vgl. auch Müller, Existenzphilosophie, 114–117. Es sei des Weiteren auf die wegweisenden Ausführungen über Participations-Symbol-Repräsentationsphilosophie als Philosophie der Zukunft hingewiesen (Müller, ebd. 219–259). Diese Ausführungen könnten das Gespräch mit Sri Aurobindo und der indischen Philosophie wesentlich fördern. Es sei hier nur auf Sri Aurobindos Forderung nach einer neuen Symbol-Sprache, auf die Problematik der allgegenwärtigen Wirklichkeit Brahman und an die im Kapitel VII zu unternehmende Diskussion des Schöpfungsbegriffs, der Dreiheit des »transcendental, universal, individual Divine« und der individuellen Person aufmerksam gemacht. Max Müller bezeichnet es als die zweite Aufgabe einer so auf uns zukommenden Philosophie, »unser neues Seinsverständnis […] universal zu bedenken in Begegnung mit den Seinsverständnissen aller uns angehenden großen geschichtlichen Kulturwelten […]« (ebd. 255). Auf Partizipation und desiderium naturale hin müsste auch der Ansatz Rahners in »Hörer des Wortes« durchdacht werden, welcher den Menschen aus der potentia oboedientialis für Offenbarung zu verstehen sucht. Allerdings müssten hierfür verschiedene Dinge geklärt werden, vor allem der unterschiedliche Offenbarungsbegriff, die Rolle der Freiheit in der Bewegung auf Gott hin und schließlich, vom Ziel her, die Möglichkeit der Schau Gottes. 40
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Systematische Überlegungen
legt sie damit fest, verhärtet sie in ihren endlichen Grenzen und kann sie in dieser Form nicht mehr für das Unendliche gebrauchen. Diese Begriffe erfassen nur das sinnlich Wahrnehmbare, das Phänomenon, nicht das Ding-an-sich. Wie die Bildung von Begriffen, so auch das Urteilen und Schließen, solange diese auf der bloß mentalen Ebene bleiben: auch ihnen fehlt die geistige Anschauung, damit aber die eigentliche Möglichkeit, in der Endlichkeit ihrer Formulierung die Unendlichkeit des Wirklichen zu erblicken. Zwar ist selbst in der mentalen Erkenntnis dieser Überstieg immer schon impliziert, weil der mind sich vom Supermind ableitet und dieser in jenem verborgen anwest, aber die Möglichkeit des Übersteigens des Sinnlichen zum Wesen, des Phänomenon zum Noumenon, muss ausdrücklich gemacht, muss Wirklichkeit werden, wenn sie wahre Erkenntnis hervorbringen soll; und diese allein ist Ziel jener in uns wirkenden Dynamik. Die Erkenntnis des Verstandes ist vermittelt durch die Sinne und wird in einem mühsamen und Verfälschungen unterworfenen Prozess aus dieser Vermittlung herausgearbeitet. Erkenntnis im reinen Sinne aber geschieht durch Identität; nur sie erfasst die Wirklichkeit des Ding-an-sich und die Wahrheit schlechthin. Darum muss sich die an die äußerlichen Sinne gebundene Verstandeserkenntnis fortentwickeln zum unmittelbaren Wahrheitsbewusstsein, in welchem Erkennender, Erkanntes und Erkennen identisch sind. Das ist eine grundlegende Einsicht. Wie sollen wir aber dann philosophieren? Wir müssen stets die Grenzen und die Fehlerquellen des Verstandes klar vor Augen haben. Die Philosophie geht um mit abstrakten Begriffen und Definitionen, welche nur eine intellektuelle und abstrakt-symbolische Vergegenwärtigung der Wahrheit sind. In Wirklichkeit aber ist der Geist Leben und die Aspekte, die uns die Begriffe trennend vermitteln, gehen in Wirklichkeit allmählich ineinander über, sind fließend. Wir müssen versuchen, die Wahrheit zwar durch metaphysische, aber doch lebende Ideen und Bilder auszudrücken, welche aus der intuitiven Schau und der geistigen Erfahrung kommen. »Es ist in einer philosophischen Untersuchung notwendig, sich selbst weitgehend auf diese intellektuelle Darstellung zu begrenzen, aber es ist gut, sich zu erinnern, dass dies nur eine Abstraktion der ’Wahrheit ist und dass man eine konkrete Erfahrung sowie eine lebendigere und ganz Leib gewordene (full-bodied) Sprache braucht, wenn man sie [die Wahrheit] voll erfassen will.« (LD 424–5)
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VI · Methode
Die Begriffe müssen wieder plastisch werden. Sie sind wahr im eigentlichen Sinne nur in ihrem Bezug auf das Ganze. Jede Überbetonung eines einzelnen Aspektes bedeutet eine Fehlerquelle. Die Begriffe müssen ferner die Konkretheit des Geistigen erkennen lassen, woraus die wiederholte Forderung nach einer neuen Sprache erwächst, die sich ähnlich der des Veda wieder mehr der Bilder und Symbole bedient. Sri Aurobindos eigene Sprache und besonders sein Epos Savitri bezeugen einen großen Versuch in dieser Richtung. 42 Die Verstandes-Logik ist in ihrem Bereich unersetzlich, weil sie den Verstand klar, subtil und flexibel machen muss, um ihn vor Irrtum zu bewahren. Sie erreicht ihren Gipfelpunkt in der metaphysischen Dialektik, welche zum wahren Wissen vorbereitet. Aber sie kann nicht durch sich selbst zur Erkenntnis von Welt und Gott gelangen, sondern kann nur aus bereits gewonnenem Wissen Folgerungen ziehen und auf neue Wahrheiten hinweisen. In ihrem Unterscheiden ist sie zugleich ein Hindernis, wenn sie bei den Unterscheidungen verbleibt und nicht mehr auf das Ganze sieht. Der Verstand muss deshalb erleuchtet und all-umfassend werden. 43 Er muss über sich selbst hinauswachsen zur »Logik des Unendlichen«.
3.3 Drei besondere Fehlerquellen des Verstandes. Gerade dann, wenn wir das Verhältnis von Individuum, Welt und Gott erörtern, schleicht sich leicht ein dreifacher Irrtum des Verstandes ein: 1. Wir »schaffen eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem ’Absoluten und dem Relativen«. 2. Wir simplifizieren das Gesetz vom Widerspruch und dehnen es zu weit aus. 3. Wir »begreifen in zeitlichen Termini die Genesis der Dinge, welche ihren Ursprung und ihre erste Heimat im ’Ewigen haben«. (LD 446) Wir müssen auf diese drei Punkte jetzt genauer eingehen, weil uns die Argumentation dazu einen Hauptschlüssel für das System liefert.
Vgl. LD 383–4, 424–5, 441, 1094–6; OYII.T1 190–2, 194–5; OYII.T2 51–103 (»Visions and Symbols«); KU 98–106; IU 40–41. 43 Vgl. LD 434–5. 42
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Systematische Überlegungen
Befassen wir uns zuerst mit der »Kluft« zwischen Absolutem und Relativem. Die Kluft zwischen Absolutem und Relativem Wir meinen mit dem Absoluten das transzendente Wesen (transcendent Being), welches wir Gott nennen, ohne welchen nichts existieren kann. Es existiert aus sich selbst und ist »frei von aller Bindung an das Relative«. Obwohl es Ursprung, Inhalt und Wahrheit von allem Relativen ist, überschreitet es dieses doch total und kann nicht durch die Summation des Endlichen eingeholt werden. »Aber gerade dann, wenn wir seiner am meisten ansichtig sind«, sei es durch Vernunft oder durch geistige Erfahrung, »können wir es nicht beschreiben, weil sich unsere Sprache und unser Denken nur mit dem Relativen befassen können. Das ’Absolute ist für uns das ’Unaussprechliche.« (LD 446) Die Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn der Verstand seiner Methode der Gegensatzbildung zum Opfer fällt und die Freiheit des Absoluten von der Bindung an das Relative umwendet zu einer Gebundenheit des Absoluten an diese Freiheit, d. h. zu einer Unmöglichkeit des Bezugs zum Relativen. Diese Einengung des ursprünglich notwendigerweise unendlichen Begriffs vom Absoluten führt uns in einen Engpass: Das Absolute wird einerseits unfähig für und exklusiv gegenüber der Relativität, andererseits ist es deren Ursache, Erhalter, Wahrheit und Substanz. Ein Ausweg bietet sich dann nur noch nach zwei Seiten an: Entweder wir erklären die Welt zur Illusion (Māyāvāda), was in sich selbst – wie schon gezeigt – unsinnig ist, oder aber das Absolute wird zum Nichts und nur das Werden ist real, »ein ewiges Werden ist die einzige Wahrheit unseres Daseins« (LD 448), was ebenfalls logisch nicht gehalten werden kann. Was ist hier passiert? Wir haben versucht, das Undefinierbare zu definieren, und Gegensätze aufgerichtet, die es nur für den Verstand, nicht aber in der Wirklichkeit und in der supramentalen Erkenntnis gibt. Wenn wir das Absolute, sei es durch positive, sei es durch negative Definitionen, eingrenzen, dann verfehlen wir die Wahrheit. Wir können Gegensätze wie bedingt – unbedingt, endlich – unendlich für die Wahrheitsfindung nur zum Ausgangspunkt machen, dürfen sie aber dann nicht unversöhnt nebeneinander stehen lassen, sondern müssen sehen, wie sie aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig einschließen. »Für die absolute Vernunft sind sie auf einander be201 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
VI · Methode
zogene und im Wesentlichen nicht-widerstreitende Ausdrücke ein und derselben Wirklichkeit.« (LD 448) Das Unendliche ist im Vergleich zum Endlichen ein Positivum, welches die Endlichkeit in sich birgt, sie aber nicht negiert. Das Endliche verweist aus sich auf das Unendliche als dem Grunde seiner Wirklichkeit; ähnlich verhält es sich mit anderen Gegensatzpaaren. »In jedem Paar verbirgt das Negative die ganze Kraft des entsprechenden Positiven, welches in ihm enthalten ist und aus ihm hervorgeht.« (LD 449) Angewendet auf das individuelle, universale und transzendente göttliche Sein bedeutet dies, dass »jedes Glied dieser Paare in seinem scheinbaren Gegensatz enthalten ist. Das Universale partikularisiert sich selbst im Individuellen; das Individuelle enthält in sich all das Allgemeine (all the generalities) des Universalen. […] In gleicher Weise enthält das Kosmische in sich selbst als ganzem und in jedem einzelnen in ihm die vollständige Immanenz des Transzendenten; es erhält sich selbst als Weltsein aufrecht durch das Bewusstsein von seiner eigenen transzendenten Wirklichkeit, es findet sich selbst in jedem Individuum durch die Realisierung des Göttlichen und Transzendenten in diesem und in allem Seienden. Das Transzendente enthält, manifestiert und konstituiert den Kosmos und, indem es ihn manifestiert, manifestiert oder entdeckt es, wie wir in dem alten poetischen Sinn des Wortes sagen möchten, seine eigene unendlich-harmonische Mannigfaltigkeit. […] Kosmos und Individuum gehen auf etwas im ’Absoluten zurück, was die wahre Wahrheit der Individualität, die wahre Wahrheit des kosmischen Seins ist und nicht ihre Leugnung.« (LD 449–450)
Gegensatz und Widerspruch Demzufolge muss als zweites das Gesetz vom Widerspruch tiefer verstanden werden. Das Widerspruchsgesetz »ist besonders notwendig für uns, wenn wir uns mit materiellen Phänomenen und Kräften beschäftigen« (LD 451), aber je weiter wir die »Leiter des Seins« hinaufsteigen, umso mehr verliert es an Bedeutung. Wenn wir die Dinge im materiellen Bereich begrifflich isolieren, dann hat das seine Bedeutung für unseren praktischen Umgang mit ihnen. Aber wenn wir ihre Wahrheit sehen sollen, dann müssen wir die Isolierung durchbrechen und den Bezug zum Ganzen herstellen. Die Perle ist eine Perle und der Diamant ein Diamant. Aber wir müssen das ihnen und schließlich allem Materiellen Gemeinsame finden, die eine Substanz und Energie. Diese Entdeckung wird uns nicht nur zur Wahrheit führen, son202 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Systematische Überlegungen
dern auch praktische Auswirkungen haben: wir werden einmal beliebig Diamant oder Perle oder andere materielle Dinge herstellen und in einander umwandeln können. Die Einheit hinter aller Mannigfaltigkeit ist letztlich die Wesentlichkeit oder Wahrheit der Dinge. Ob der Entdeckung der einen Substanz wird jedoch die Perle nicht illusorisch oder nutzlos; Wesentlichkeit und Gemeinsamkeit heben die Individualität nicht auf, vielmehr sind »Gemeinsamkeit (commonalty) und Individualität wahre und wesentliche Kräfte der Wesentlichkeit (essentiality): diese transzendiert beide, aber die drei zusammen und keine für sich allein sind die ewigen Weisen (terms) des Seins.« (LD 452) Was wir vom materiellen Bereich gesagt haben, gilt umso mehr vom Menschen. Im einzelnen Menschen wirkt die Menschheit als ganze. »Er ist alles und doch ist er er selbst und einmalig.« (LD 453) Er ist nicht bloß das Wesen des gegenwärtigen Augenblicks, sondern schließt in sich die Vergangenheit und der Möglichkeit nach die Zukunft. Sein wahres Wesen ist göttlich und dennoch ist er nicht das Absolute, sondern Individuum. Ähnliches gilt für unser tägliches Tun, für die Geschichte, für die Ethik. Über dem singulären Guten und Schönen, Bösen und Hässlichen steht ein absolut Gutes und Schönes. Wir werden die Wahrheit nicht begreifen, wenn wir alles nur von unserem eigenen verständigen Gesichtspunkt her betrachten, wir müssen vielmehr versuchen, aus göttlicher Schau zu wissen. Die Formulierung des Widerspruchssatzes 44 selbst sagt eine Bezogenheit auf den endlich-messenden Verstand und auf die endliche Raum-Zeit-Welt. Im Unendlichen gibt es keinen raum-zeitlichen Bezugspunkt, kein endliches Ding, keinen endlichen Blickpunkt und keine endliche praktische Absicht. Der Satz vom Widerspruch als das Gesetz des Seins und des Seienden 45 selbst ist absolut wahr nur unter einer unendlichen Hinsicht, begrenzt wahr für den endlichen Standpunkt. Bei Sri Aurobindo ist
»[…] zwei verschiedene und entgegengesetzte Feststellungen können nicht wahr sein vom selben Ding zur selben Zeit, im selben Raum, in der gleichen Rücksicht, vom gleichen Gesichtspunkt her und für dieselbe praktische Absicht« (LD 454). Bei Aristoteles lautet der Satz vom Widerspruch so: »Es ist unmöglich, dass dasselbe demselben unter der gleichen Rücksicht zugleich zukomme und nicht zukomme.« (Aristoteles, Metaphysik 1005b 19 f.) 45 Im Unterschied zu der bloß logischen Formulierung des Satzes. 44
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VI · Methode
im Verstand (mind) die Vernunft (Supermind) impliziert und lenkt dessen Akte, wenn auch durch den Schleier der Unwissenheit verhüllt. Aber de facto regiert in unserer mentalen Bewusstseinsstufe der Verstand in seiner Begrenztheit und in seinem Un-wissen. Erst wenn der Supermind zum herrschenden Prinzip geworden ist, kann Wahrheit in absoluter Weise erkannt, kann das Widerspruchsprinzip in dem ihm zukommenden Sinn gebraucht werden. Wahres Philosophieren fordert geistige Evolution und Transformation. 46 Begrenztheit einer einzelnen geistigen Erfahrung Der dritte Punkt, nämlich die Zeitlichkeit, mit der wir die ewige Genesis der Dinge begreifen wollen, wird jetzt von selbst klar. Wir können die »ursprünglichen Widersprüche« nicht wegerklären, indem wir sie zeitlich begreifen, weil unser Verstand durch die zeitliche Vorstellung bestimmt ist. Die ursprünglichen Relationen des Absoluten sind nicht zeitlich, sondern ewig. Das Unendliche wird nicht erst in der Zeit zum Endlichen, das Endliche ist vielmehr ewig im Unendlichen. 47 Sie »koexistieren und existieren als jedes im anderen und durch das andere […]. Alle Prinzipien, alle beständigen (persistent) Wirklichkeiten des Seins […] stehen in einer primären Beziehung zueinander in einer freien, nicht in einer ausschließenden Einheit des ’Absoluten.« (LD 456–7) In unserer materiellen und mentalen Welt zeigen sie sich in einer zweit-, dritt- oder noch tieferrangigen Relationalität, in welcher Raum und Zeit bedeutsam werden. »Das ’Absolute ist nicht das Gegenteil seiner selbst geworden und hat nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt wirkliche oder unwirkliche Relativa angenommen, deren es vorher unfähig gewesen wäre.« (LD 457) Zwar sind die Gegensätze Wirklichkeiten, aber sie werden erst sowohl für den unterscheidenden und trennenden Verstand als auch für eine exklusive und als solche intellektualisierte geistige Erfahrung unversöhnlich. Auch die geistige Erfahrung kann exklusiv und begrenzt sein, weil ihr Ausgangspunkt im begrenzenden und teilenden Bewusstsein liegt. Darum müssen wir die Wirklichkeit anstreben mit
Panikkar zeigt, dass im indischen Denken das Prinzip der Identität vorherrscht über den Satz vom Widerspruch: »Die vielen Götter und der eine Herr«, 83–5, 98–102. 47 Aus diesem Grunde darf auch die lückenlose Entfaltung der Schöpfung oder das Hervorgehen aus Gott nicht zeitlich begriffen werden, obwohl es in zeitlichen und dynamischen Termini ausgedrückt werden muss. 46
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Systematische Überlegungen
einer Vielfalt sowohl der geistigen Erfahrungen als auch der intellektuellen Realisation. »Wir müssen sehen, dass beide Realisationen [Nirguna und Saguna] der großen geistig Suchenden gleicherweise gültig sind in sich, gleicherweise ungültig, wenn sie gegeneinander gestellt werden; sie sind ein und dieselbe ’Wirklichkeit, nur von zwei Seiten her erfahren, welche beide notwendig sind für die volle Erkenntnis und Erfahrung des je anderen (of each other) und dessen, was sie beide sind.« (LD 458)
3.4 Vervollkommnung der Methode durch den Supermind Das alles drängt uns zu dem Schluss, dass wahre Erkenntnis nur supramental sein kann. Sie wird jedem Prinzip und jedem Ding seinen ihm zukommenden Platz anweisen, wird es erkennen, wie es in sich ist, wird in positiver Weise die Synthese der Gegensätze sehen, wird mit der Logik des Unendlichen als ihrem Prinzip operieren, wird die Integralität der Erfahrung und der Erkenntnis leisten: denn sie ist das unmittelbare Schauen und Bewusstsein der Wahrheit. Philosophie ist dann eine Ausdeutung dieses Wahrheits-Bewusstseins für den Verstand (human understanding). Philosophie verlangt einen Durchbruch zur Vernunft 48 (Supermind, Gnosis, vijñāna), eine Transformation des Bewusstseins und des Seins zu deren wahrem Wesen, d. i. die Synthese des karma-, bhakti-, jñāna-yoga und Yoga der »Selbstvervollkommnung«, welche vereinigt ist unter dem Prinzip der Ganzhingabe an den göttlichen Herrn, īśvara. Das ist die Methode von Sri Aurobindo.
3.5 Sri Aurobindos integrale Philosophie Sri Aurobindos Philosophie ist nicht nur in der Methode, sondern auch in ihrem Inhalt integral insofern, als sie versucht, allen Aspekten der Wirklichkeit in der ihnen zukommenden Weise gerecht zu werden. Die integrale Philosophie beruht auf dem integralen Yoga Wenn ich hier öfter das Wort »Vernunft« gebrauche, dann tue ich es nicht in Anlehnung an irgendein philosophisches System Europas. Vielmehr soll damit der Gegensatz zum Verstand verdeutlicht werden. Am besten ist es, wenn wir »Vernunft« als »Vermögen des Unendlichen« beschreiben.
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VI · Methode
(pūrṇa yoga). Sie lehnt alle »Ismen« in gleicher Weise ab; im Gegensatz zum illusionistischen A-dvaita behauptet sie sich als realistischer A-dvaita (OYII.T1 45), d. h. als integrale Lehre der Nicht-Zweiheit, welche das Eine ebenso wie das Viele (bhedābheda 49), das Sein wie das Werden, die Transzendenz ebenso wie Welt und Individuum als Wirklichkeiten erkennt und weder dem Pluralismus noch einem absoluten Monismus verfällt. 50
4
Diskussion dieses Standpunktes
4.1 Philosophie und Philosophieren: Ziel und Weg Was wir uns hier über die Methode erarbeitet haben, ist in sich richtig. Dennoch ergeben sich einige Probleme. Sri Aurobindo hat zweifellos eine Stufe des Bewusstseins erreicht, wie sie nur sehr wenigen Menschen gegeben war und vielleicht auch für die nähere Zukunft – wenn wir an der Evolution festhalten wollen – nur wenigen möglich sein wird. Der gewöhnliche Mensch wird bestimmt durch den Verstand, in welchem hin und wieder Intuition oder das Vermögen der Vernunft durchbrechen. Wie soll er philosophieren? Muss er auf die Philosophie so lange verzichten, bis er zur supramentalen Erkenntnisform vorgedrungen ist? Muss er zuerst den integralen Yoga ganz durchschritten haben? Diese Forderung ist zwar prinzipiell richtig, aber de facto nicht so durchführbar; denn es kann sein, dass einer sich ein Leben lang darum bemüht, ohne zu einem sichtbaren Erfolg zu kommen. Das Philosophieren ist nicht bloß und vor allem nicht zuerst eine Übersetzung der erfahrenen, geschauten Wahrheit in die Termini des Verstandes; es ist vielmehr selbst ein Weg zur Wahrheit und zur Transformation des Verstandes, indem es den Verstand auf
OYII.T1 44. Bhedābheda besagt gleichzeitige Verschiedenheit und Nicht-Verschiedenheit. Die Seele ist von Brahman weder absolut verschieden noch absolut nichtverschieden. Radhakrishnan, Indische Philosophie, Band 2, 339, 386, 497. 50 Vgl. LD 38, 183; OYII.T1 44–6; IU 36–7 Anm.; HG 41–50. Sharma widmet in seinem Buch »The Philosophy of Sri Aurobindo« einen Abschnitt der Methode (38–59) und charakterisiert darin kurz die mathematische, transzendentale, dialektische, logisch-analytische, historisch-analytische und synthetische Methode, um sie von der integralen Methode Sri Aurobindos zu unterscheiden. Weitere Stellen zur integralen Philosophie: 73–78, 114–116, 183–184. 49
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Diskussion dieses Standpunktes
die Unendlichkeit hin geschmeidig macht und seine Begrenzungen durchbricht. Dieses Unterwegs-seins muss sie sich aber bewusst bleiben, wenn sie nicht zu früh erstarren und damit die Wahrheit durch Verendlichung verfälschen will. Die Vernunft ist immer schon jenes Prinzip in uns, das uns zum Weitergehen antreibt, das die Bewegung des Geistes nicht ruhen lässt, bis sie bei einer letzten Identität mit der Wahrheit angekommen ist. Das unmittelbare Leben in und aus der Wahrheit bleibt zwar Ziel, Ansporn und absoluter Maßstab der Philosophie, aber das Philosophieren selbst ist ein Unterwegs-sein daraufhin, welches aus der Liebe zur Weisheit kommt.
4.2 Ist Kritik möglich? Wie können und sollen wir Sri Aurobindo beurteilen? Sollen wir versuchen, ihn in seiner Yoga-Erfahrung zu übertreffen, um ein noch höheres Plateau für die Unterscheidung zu gewinnen? Auch das scheint de facto unmöglich. Wir können nicht die indischen Yogis in ihrem Yoga überbieten. Was wir können und sollen, ist zunächst nur dies: Wir versuchen, das Denken Sri Aurobindos nachzuvollziehen, zu prüfen, ob es widerspruchsfrei ist, ob es allen uns bekannten Wirklichkeiten, allen logischen und ontologischen Prinzipien gerecht wird, und schließlich, ob und inwieweit es nicht bloß eine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit für unser Denken darstellt. Diese Prüfung kann vorläufig auch ohne die entsprechende Geisterfahrung stattfinden, weil in der Vernunft das Unendliche immer schon in uns wirkt und uns in allgemeiner Weise die Möglichkeit oder Unmöglichkeit dieser Erfahrungen vermittelt, weil es uns in der Vernunft das Unendliche wenigstens implizit als ein Unendliches gegenwärtigt.
4.3 Die Integralität der Methode Erkenntnis und Liebe bei Sri Aurobindo Dennoch dürfen wir es uns nicht zu leicht machen, weder in der Beurteilung von Sri Aurobindo noch in unserem eigenen Philosophieren. Die Integralität der Methode bleibt für uns ein beständiger Anspruch. Nur zu leicht ist das Abendland – und insbesondere Hegel – immer wieder einem einseitigen Intellektualismus oder Erkenntnismonis207 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
VI · Methode
mus verfallen 51 und hat oft jene gegenläufige Bewegung der liebenden Zuwendung zum Anderen vergessen oder zu gering veranschlagt, wo doch gerade sie die Besonderung des Allgemeinen und den Hinausgang aus sich selbst bewirkt. Die Verschränkung von Liebe und Intellekt im wahren Wissen ist ein Grundprinzip der Philosophie Sri Aurobindos. 52 Erkenntnis und Liebe in der thomistischen Philosophie Hier kommt uns Walter Kern in seinem Aufsatz: Einheit-in-Mannigfaltigkeit 53 sehr entgegen. Nach seiner Analyse und Wesensbestimmung von Erkennen und Wollen (Liebe) zeigt er, wie beide sich wechselweise bestimmen und durchdringen. Die im Raum des Notwendigen sich vollziehende und den Gegenstand in seiner Allgemeinheit ins Subjekt hereinholende Erkenntnis leistet das formale Bestimmtsein des Erkennenden durch das Erkannte. Die Liebe dagegen ist das Prinzip der Freiheit; sie führt das Subjekt über sich hinaus zum Anderen als Besonderem, bejaht dieses und will es. Erkenntnis ist deshalb der Identitätsvollzug von Subjekt und Objekt im Subjekt, Liebe der Identitätsvollzug im Objekt. Erkenntnis ist ein Akt, letztlich hervorgetrieben durch ein Naturstreben; der Wille wirkt die Dynamik der Erkenntnis. »Das Wollen andererseits ist nicht weiselos-blindes Schalten und Walten von Kraft, ein dumpfes ›Dass‹ an Dynamik. Es ist vielmehr unabdingbar hingerichtet auf einen Gegenstand, es erhält von diesem seine Bestimmtheit, das ›Was‹, die Form seines Wirkens und insofern auch seines Seins.« 54
Diese bestimmende Form vermittelt die Erkenntnis. Deshalb erweisen sich die beiden Geistfunktionen »als untrennbar, allerdings auch unverwechselbar aneinander gebunden und miteinander verschränkt in dem einen Wirken des Geistes, das jedoch spezifizierende Ausprägungen, gleichsam Schwerpunktspitzen, zulässt: als Erkenntnisakt
Derselbe Vorgang begegnet uns natürlich auch in vielen Systemen Indiens. Siehe auch die Beurteilung von Maitra, The Meeting of the East and West in Sri Aurobindo’s Philosophy, Kapitel über Hegel. 52 Wir wollen hier einmal von den anderen wichtigen Prinzipien des rechten Tuns und der Hingabe an Gott absehen. 53 In: Gott in Welt, Festgabe für Karl Rahner zum 60. Geburtstag, Band I, 207–239. 54 Kern, ebd. 230. 51
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Diskussion dieses Standpunktes
und als bestimmtes Wollen«. 55 So ist der eine Identitätsvollzug des Geistes ein unzertrennlich-zweifacher: das Bei-dem-Selbst-Sein des Anderen (Identität von Subjekt und Objekt im Subjekt) und das Beidem-Anderen-Sein des Selbst (Identität im Objekt). Die Einheit des Geistes erweist sich damit zugleich als Vielheit. Die Einheit-in-Vielheit der Geistfunktionen, die Transzendentalien 56 und die zirkelförmige Relation 57 zwischen ihnen und den Geistfunktionen, schließlich die trinitarische Pluralität sowie die identische Vielheit der Vermögen in Gott führen uns zu einem Prinzip des Seins, welches bisher viel zu wenig ausdrücklich bedacht wurde: Das Sein und das Seiende sind identisch in der Verschiedenheit, »omne ens est unum multiplex«. 58 Integralität der Wirklichkeit und der Methode Das ist eine ausgezeichnete Bestätigung für Sri Aurobindo. Die Vielheit gründet in der Einheit, die Einheit ist stets im Vielen da. Das Individuelle muss nicht verschwinden im Universalen, das Universale nicht im Individuellen; beide aber leben in, mit und durch Transzendenz. Die Integralität der Methode führt zu einer ganzheitlichen Schau; die Integralität des Seins, der Wirklichkeit, Brahmans erfordert eine ganzheitliche Methode. Nur unter diesen Bedingungen ist eine wirkliche Personphilosophie überhaupt möglich, weil gerade die Person die Integralität erfordert, wenn sie nicht als unverständliches und bleibendes Paradox erscheinen soll.
Kern, ebd. 230–1. Vgl. Sat-cit-ānanda. 57 In dem Sinn, dass das eine das andere bedingt, weil eben Sein und Geist letztlich identisch sind. 58 Kern, ebd. 210, zitiert aus Nink, C., Ontologie, Freiburg, 1952, 209. 55 56
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Kapitel VII: Versuch einer Kritik und Würdigung
Sri Aurobindos Philosophie ist integral im Inhalt und in der Methode; deshalb ist es nicht leicht, eine wirklich berechtigte Kritik an ihr zu üben, ohne den Anschein zu wecken, man wolle ihr kleinlich am Zeug flicken. Lieber sei zugestanden, wir haben nicht viel einzuwenden. Wenn wir dennoch in einigen Punkten den Versuch der Kritik unternehmen, dann handelt es sich mehr um Akzentverschiebungen oder um eine Ergänzung als um Korrekturen. Wenn wir jetzt thematisch mit der Kritik beginnen, dann muss doch festgestellt werden, dass der bisherige Verlauf der Arbeit schon Kritik in sich birgt, sei es, dass es verschiedentlich nötig war, Begriffe und Gedankengänge schärfer zu fassen, zu begründen und vor Missverständnissen abzuschirmen, sei es, dass sich Vergleichspunkte zu anderen Philosophien oder Problemen ergaben, die nicht gut aufgeschoben werden konnten, oder dass die Kritik selbst an manchen Punkten ausdrücklich gebracht wurde. Dennoch wird die Hauptlast der Kritik auf diesem Kapitel ruhen, nachdem die vorigen Kapitel vorwiegend der Interpretation gewidmet waren.
1
Mögliche Missverständnisse
Die Frage der Gnosis Zuerst müssen wir mögliche Missverständnisse ausräumen: Man könnte leicht auf den Gedanken kommen, Sri Aurobindo sei ein Gnostiker, weil er so sehr die Erfahrung als Grundlage der Philosophie betont und weil er selbst das wahre Wissen als Gnosis (synonym mit Supermind oder Vijñāna) und das im wahren Wissen lebende Individuum als gnostisches Wesen bezeichnet. Wenn man nun unter Gnosis verstehen will, dass Welt und Geschichte nur Symbole für einen innerseelischen Prozess sind 1 oder dass jeder Rest von Geheim1
Vgl. Caruso, Bios, Psyche, Person, 383–5. Hier wird C. G. Jung der Vorwurf der
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Mögliche Missverständnisse
nis durch eine Erkenntnis fortgefegt werden soll, vor der sich nichts mehr verbergen kann, die selbst aber nicht mehr befragt werden darf 2, so trifft beides nicht auf Sri Aurobindo zu. Sri Aurobindo stößt erstens im Gegensatz zu C. G. Jung 3 stets vor zur Wirklichkeit an sich, er transzendiert das innerpsychische Geschehen und dessen Symbole auf das, was sie repräsentieren, letztlich auf das höchste Wesen. Dieses ist ihm nicht bloß Symbol, sondern Grund alles Wirklichen. Zweitens versucht Sri Aurobindo zwar die Erkenntnis so weit auszudehnen und alle Rätsel und Geheimnisse der Welt so weit zu erklären als nur möglich – und das ist die Pflicht des Philosophen –, aber es bleibt doch das »Geheimnis« bestehen: Der absolute und transzendente Gott ist in seinem Selbst für die Erkenntnis nicht ausschöpfbar (unknowable) und unsagbar (ineffable). Die Welt und der Grund ihres Existierens kann nicht mit Notwendigkeit abgeleitet und in der Weise ihres Daseins nicht restlos verstanden werden; der Grund ist allein Ānanda – das bonum diffusivum sui – und Līlā, das göttliche Spiel. Ānanda und Līlā aber sind die Geheimnisse Gottes selbst, welche vom Menschen nur geahnt, nicht aber wirklich verstanden werden können. Man könnte einen dritten Punkt anfügen: Das Böse in der Welt ist keine Notwendigkeit, nur eine notwendige Möglichkeit innerhalb eines evolutiven, sich aus der Unbewusstheit befreienden Prozesses. Es kann deshalb auch nicht wirklich verstanden werden. Dass schließlich Sri Aurobindo den Namen »Gnosis« gebraucht, kann seinen Sinn nur in der ursprünglichen Wortbedeutung – wie auch bei vijñāna – haben: Gnosis ist aktuelles Wahrheits-Bewusstsein, unmittelbares Wissen. Gnosis ist aber nicht für den Verstand, sondern erst für das in den Supermind erhobene Wesen möglich, wo der Glaube in Schauen übergegangen ist. 4 Die zwischen Verstand und Supermind (Natur und Übernatur) liegende ungeheure Transformation darf bei diesen Überlegungen nicht vergessen werden. 5 Gnosis gemacht, weil die Symbole nur einen innerseelischen Prozess bezeichnen und nicht mehr auf die symbolisierte Wirklichkeit verweisen. 2 Vgl. Voegelin, Wissenschaft, Politik, Gnosis; Rahner, Gnosis, 1019–1021. 3 Wobei C. G. Jung zunächst einmal eine bloß methodische Enthaltung von Aussagen über die die Erfahrung transzendierenden Objekte zugestanden sei. Das ist Jungs gutes Recht, solange er sich nicht als Philosoph, sondern als Erforscher der Natur, in diesem Falle der seelischen Funktionen, versteht. 4 Paulus, 1 Kor. 13,12; 2 Kor. 5,7; 1 Joh. 3,2. 5 R. Antoine reiht Sri Aurobindo in dem Buch Neuner (Hg.), Hinduismus und Chris-
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
Dynamik des Denkens Das führt uns zu einer weiteren wichtigen Feststellung, die uns stets bei der Beurteilung begleiten sollte: Sri Aurobindos Denken ist dynamisch und evolutiv. Es beschreibt die Hervorgänge aus Gott in dynamischer Weise und die Wirklichkeiten der Welt evolutiv. Am Beispiel des Menschen bedeutet das: Der Mensch ist nicht bloß der des Jetzt und Hier, sondern auch und zuerst ein Wesen, das aus der Unbewusstheit herkommt und auf den Supermind hin zuwächst, ja eigentlich nur von seinem Ziele her wirklich verstanden werden kann. In seinem jetzigen Stadium ist er keineswegs festgelegt oder feststellbar, sondern ist unterwegs auf das Ziel hin. Anthropologie muss also dynamisch-evolutiv sein und kann sich nicht begnügen mit einer statischen Beschreibung des Jetzt. Wir hingegen sind mehr geneigt zu einem statisch-feststellenden Denken, welches die konstituierenden Prinzipien des Seins aufsucht, also mehr die Frage nach dem »Was« als die Frage nach dem »Wie« stellt. Verhältnis von Gott und Welt Wenn wir uns das vor Augen halten, werden wir Sri Aurobindos Schöpfungsbegriff, welcher in Kapitel II diskutiert wurde, als Panentheismus, nicht aber als Pantheismus interpretieren. Panentheis-
tentum unter der Überschrift »Modernisten und Gnostiker« ein (208, 209). Wenn damit eine Charakteristik Sri Aurobindos gemeint sein soll, so kann ich dem nicht zustimmen: Sri Aurobindo ist aus obigen Gründen kein Gnostiker; die Bezeichnung »Modernist« trifft nur dann zu, wenn man damit meint, er habe die alte Philosophie Indiens neu und als moderner Mensch realisiert. Ferner muss der Einfluss von Plotin, Bradley und Bergson in dem von Antoine vorgelegten Maße abgelehnt werden: 1. Der Anfang von Sri Aurobindos Philosophie ist ein ganz anderer (Vgl. Kap. VI). 2. Es besteht in aller Ähnlichkeit eine große Verschiedenheit zu diesen drei Denkern. Im Falle Plotins vgl. Maitra, The Meeting of the East and the West in Sri Aurobindo’s Philosophy, 177–216; im Falle Bradley und besonders Bergson finden wir genügend Stellen, vor allem in den Briefen, in denen sich Sri Aurobindo von ihnen unterscheidet. 3. Wenn man schon Namen westlicher Philosophen anführt, unter deren Einfluss Sri Aurobindo seine Philosophie gestaltet haben soll, dann wären sicher zuerst andere zu nennen: z. B. Heraklit, Platon, Hegel, Nietzsche. Deren Studium unter philosophischer Hinsicht kann aber erst in die indische Zeit, vor allem die Zeit in Pondicherry, angesetzt werden, d. h. nach Sri Aurobindos eigener Geisterfahrung. Wir sind jedoch auch hierüber auf Vermutungen angewiesen, weil bei den Biographen und auch nach schriftlicher Anfrage in Pondicherry nichts Exaktes zu erfahren war.
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Mögliche Missverständnisse
mus bedeutet wörtlich, dass Alles in Gott ist. Unter Panentheismus sei hier eine Synthese von Pantheismus und Theismus verstanden, »nach der Gott zwar in der Welt ist, aber nicht völlig in ihr aufgeht und als Person angesehen wird. Der Panentheismus vertritt die Immanenz und Transzendenz sowie die Absolutheit und Relativität des Göttlichen«. 6 Gott muss als »persönlich und alles zugleich« 7 gedacht werden. Wir beschreiben die Position von Sri Aurobindo als Panentheismus deshalb, weil Brahman »Stoff«, Grund und Wirklichkeit der Welt ist. 8 Aus Brahman geht die Welt in lückenloser Entfaltung hervor durch Manifestation und Schöpfung; Brahman ist sie, weil sie nichts anderes sein kann als die »allgegenwärtige Wirklichkeit«; Brahman ist ihr Ziel, in das sie aus der Selbst-Verlorenheit zurückkehrt. Dennoch ist Brahman nicht im eigentlichen Sinne MaterialUrsache, sondern ist der Geist, das Wesen, das Sein alles Seienden. Das Sein ist göttlich. Das Göttliche aber ist Person. Wenn Sri Aurobindo in diesem Zusammenhang die »creatio ex nihilo« zurückweist, so will er damit nicht sagen, die Welt sei aus einem vorliegenden Stoff geformt, was der unmittelbare Gegensatz dazu wäre; er behauptet vielmehr eine »creatio a Deo« 9, welche besagt, dass Gott der Urheber der Schöpfung sei, und darüber hinaus ein Erschaffen aus dem göttlichen Sein, weil die Schöpfung eine Manifestation aus der göttlichen Natur ist und weil sie in ihrem wesentlichen Sein göttlich ist, aber dies nur in der Weise des Teil-Seins oder Teil-Habens, nicht in der unendlichen Weise des Selbst-Seins und des Selbst-Besitzes. Obwohl diese Aussage über die Schöpfung gegenüber der christlichen anders akzentuiert ist, scheint sie uns doch nicht dem Wesen nach von dieser verschieden zu sein. Denn was von Brahman als Wirklichkeit schlechthin oder als Sein des Seienden (esse entis, actus essendi) hinsichtlich der Welt gesagt wird, gilt nicht eo ipso von Gott Mittelstraß, Enzyklopädie, Band 3, 26. Strasser, Der Gott aller Menschen, 191. 8 Sri Aurobindo spricht sehr oft und sehr deutlich in diesem Sinn und bezeichnet selbst das Herkunftsverhältnis der Welt von Gott als Emanation, z. B. OYI 291. Aber auch Thomas von Aquin gebraucht das Wort Emanation (S.Th. 1 q. 45). 9 Panikkar diskutiert in seinem Buch: Die vielen Götter und der eine Herr, 57–58, 108–112, die »creatio a Deo« und die »creatio ex Deo«. Er zeigt den dogmengeschichtlichen Hintergrund der Formulierung »creatio ex nihilo« und tritt für die Ebenbürtigkeit der »creatio a Deo« ein, nicht aber für die »creatio ex Deo«. Eine »creatio ex Deo« würde bedeuten, dass die Dinge nicht aus nichts, sondern aus der göttlichen Substanz werden. Die wesentliche Differenz zwischen Gott und Welt ginge dabei verloren. 6 7
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
in seiner Transzendenz oder als subsistierendes Sein (esse subsistens). Der Transzendente ist in seiner Transzendenz niemals der Stoff der Welt, wohl aber ihr Grund und als solcher ihr immanent und gegenwärtig. Der Ausdruck »Stoff« darf m. E. nicht allzu wörtlich genommen werden, sondern nur in dem Sinne, dass nichts ohne die seinsverleihende und grund-legende Gegenwart Gottes existieren kann. Als Grund ist die Wirklichkeit allem immanent. Der Vorwurf des Pantheismus wäre deshalb ungerechtfertigt. Nicht nur, dass Sri Aurobindo ihn selbst als eine begrenzte Seinsdeutung mehrmals zurückweist 10, diese Interpretation verbietet sich aus dem Gesamt seiner Philosophie. Dafür sind die Transzendenz und die Freiheit Gottes gegenüber der Welt zu deutlich herausgearbeitet. Es ist nie der transzendente Gott in seinem Selbst, der in die Manifestation eingeht, sondern immer nur in seiner Bewusstseinskraft. Er braucht die Welt nicht, wird nicht durch die Welt und verliert sich nicht in ihr. Wenn sich Sri Aurobindo gegen den »theistischen« Schöpfungsbegriff wendet, dann ist es immer die creatio ex nihilo, die er angreift, deren geschichtlichen Hintergrund er anscheinend nicht kennt. 11 Die Schwierigkeit, beim Schöpfungsbegriff zu einem klaren Urteil zu kommen, veranlasst uns zu einer Kritik: Es fehlt manchmal an der Schärfe des Begriffs. Diese Unschärfe 12 hat zwar ihren Grund in der Methode des Philosophierens von Sri Aurobindo, kann aber doch damit nicht ganz gerechtfertigt werden. Wenn Philosophie Interpretation des Wirklichen und Wahren für den Intellekt und seine Begrifflichkeit sein will, dann muss sie sich größtmöglicher Präzision befleißigen, ohne damit notwendig in eine Erstarrung des Begriffs zu geraten. Wenn die Entstehung der Welt und der Involution in die Unbewusstheit gedeutet wird als das Vermögen der Māyā oder der göttlichen Bewusstseinskraft, sich selbst zu absorbieren und in einem »abgrundtiefen Eintauchen« in die Unbewusstheit sich selbst zu verlieren, dann können wir dies nicht als philosophische Begründung Z. B. LD 788; OYI 291; E 418–32, 466, 469; HM 203 (Das Ungenügen der pantheistischen Erfahrung). 11 Als weitere Beweise dafür, dass Sri Aurobindo keinen Pantheismus vertritt, sei hingewiesen auf die Herausarbeitung der Transzendenz (Kap. II) und die Bemühung um das »individual Divine«, welches in der Kraft des Seins von der Transzendenz verschieden ist (Kap. II, Kap. V und Kap. VII). 12 Unschärfe ist zu unterscheiden von Fehlerhaftigkeit. 10
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Mögliche Missverständnisse
gelten lassen, sondern als einen Erklärungsversuch für ein Vorhandenes, nämlich für die Unbewusstheit. Dieser Erklärungsversuch wird aus der Erfahrung des individuellen Bewusstseins genommen und auf die Bewegung des Bewusstseins schlechthin übertragen. Dass dies nur ein Versuch zur Erklärung und nicht zur Begründung sein kann, müsste gesagt werden. Im Prinzip befinden wir uns in demselben Dilemma wie im Deutschen Idealismus, wo sich das Absolute in das Andere-seiner-selbst entäußert. Auch das ist ein Versuch, mit dem Faktischen zurechtzukommen, welcher sich selbst aber als philosophisch begründet erweisen will und darin scheitern muss. Es ist und bleibt Gottes Geheimnis, warum und wie er die Unbewusstheit oder das Andere-seiner-selbst schuf. Wir können nur das Vorhandensein feststellen und es im Bewusstsein unserer Grenze bedenken. Panentheismus in der westlichen und christlichen Philosophie Der Panentheismus hat auch in der christlichen Philosophie und Theologie sehr an Attraktivität gewonnen. Es wird sogar von einem »panentheistic turn« gesprochen, der zu einem Paradigmenwechsel in der Theologie führen soll 13. Für die Zunahme an Attraktivität gibt es verschiedene Gründe. Einer dieser Gründe ist die Wiederbelebung der philosophischen Subjekttheorie auf der Linie von Kant, Fichte, Schelling und Hegel, u. a. durch Dieter Henrich. Gemäß der Subjekttheorie lässt sich der Gedanke selbstbewusster Subjektivität nicht hintergehen. »Zu selbstbewusster Subjektivität gehört für Henrich das unhintergehbare Wissen, nicht aus sich selbst begreifbar und eben dadurch […] auf die Frage nach einem Grund der wissenden Selbstbeziehung verwiesen zu sein.« 14 Als »gründenden Grund« von Subjektivität sieht Henrich eine »monistische All-Einheit«, welche die Wirklichkeit der Subjektivität verbürgen soll. Das All-Eine, aus dem die Vielheit der Einzelnen überhaupt erst hervorgeht, ist in den Einzelnen der Vielheit gegenwärtig und verleiht ihnen zugleich in ihrer Einzelheit eine Bedeutung, die von nichts anderem abhängt. Ein anderer wichtiger Grund ist die Prozessphilosophie von Alfred North Whitehead, die als Panentheismus gedeutet wird. 15 Es war vor allem der Theologe Charles Hartshorne, der diese Philosophie zu 13 14 15
Müller, Klaus, Panentheistic Turn; Müller, Klaus, Fahrt. Müller, Klaus, Panentheistic Turn, 52. Müller, Tobias, Gott – Welt – Kreativität, Punkte 4.7 und 4.8.
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
einer Prozess-Theologie weiter entwickelt hat 16. Nach Hartshorne wissen wir nur im Horizont eines Einen überhaupt, was die Vielen bedeuten. Ähnlich verhält es sich mit anderen konträren Gegensätzen, die untrennbar zusammen gehören: ewig und endlich, absolut und relativ, aktuell und potenziell. In Gott kann die Dipolarität von Aktualität und Potenzialität widerspruchslos darin bestehen, dass Gott »sich von anderen beanspruchen, bestimmen, bis zur Selbstpreisgabe vereinnahmen« 17 lässt. Die Dipolarität wird von Hartshorne umfassend verstanden. »Gott ist in einer Hinsicht der Unveränderliche, in anderer Hinsicht aber abhängig von dem, was von ihm umgeben ist.« 18 Trotz bleibender Identität kann Gott sich auf das »Weltabenteuer« einlassen, ein Gedanke, der Auswirkungen auf die Christologie, die Sakramententheologie, die Eschatologie und das Theodizee-Problem haben kann. Für den Theologen Klaus Müller scheint »der Panentheismus diejenige philosophisch-theologische Denkform zu sein, die den Gottesgedanken und die Frage seines Wirklichkeitssinnes unter den Bedingungen einer universalen wissenschaftlichen Wissenskultur […] am konsistentesten zu vergegenwärtigen vermag.« 19 Diese Denkform kommt auch der Philosophie von Sri Aurobindo nahe. Sri Aurobindo würde allerdings eine »monistische All-Einheit«, wie sie Henrich formuliert hat, ablehnen. Sein Advaita Vedānta ist kein Monismus, sondern die Lehre von der Nicht-Zweiheit.
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Kritische Anmerkungen
2.1 Transzendentes, universales, individuelles göttliches Wesen Die Unschärfe des Begriffes und der logischen Zuordnung belastet uns besonders bei einem Grundpfeiler des Systems: dem »Transcendental, universal and individual Divine«. Wir haben an verschieden Stellen der Darstellung uns bemüht, diese Dreiheit schärfer zu fassen, das Problem im Sinne Sri Aurobindos weiter zu durchdenken und aufzuhellen und stets, wie auch jetzt, eine wohlwollende Interpreta16 17 18 19
Hartshorne / Rees, Philosophers. Müller, Klaus, Panentheistic Turn, 62. Müller, Klaus, Gott – persönlich und alles zugleich? Manuskript 2017. Müller, Klaus, Panentheistic Turn, 65.
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Kritische Anmerkungen
tion vorzunehmen. Es bleibt die Frage: Wie kann das »Divine« sowohl der Transzendenz als auch dem Universalen als auch dem Individuellen, also drei sehr verschiedenen Termini, in gleicher Weise zukommen? Es ist unmöglich, wenn mit »Divine« der Gott als die höchste, transzendente Person gemeint ist; denn diese besagt ja den Ausschluss der beiden anderen, ebenso wie die Individualität nicht gleichzeitig Transzendenz sein kann. Wie aber, wenn wir unter »Divine« die Wirklichkeit schlechthin oder Brahman oder Geist oder Sein verstehen? Dann könnten wir sagen, dass das »Divine« den drei Termini dem Wesen nach gleich, dem Seinsakt nach verschieden zukomme. In der Transzendenz wäre das Wesen mit dem Akt identisch, weil das Wesen der Transzendenz reiner Akt ist: subsistierendes Sein. Im Individuum wären Wesen und Akt des Seins verschieden: dem Wesen nach ist es göttliches Sein (Divine), der Kraft des Seins nach ist es dieses Sein in endlicher Weise, der Seinsakt kommt dem Wesen in limitierter Weise zu oder, weitergedacht, Wesen und Seinsakt im Individuum sind real verschieden. Das Universale schließlich wäre ein Zweifaches: die individuellen Seienden im Ganzen und das Sein dieser Seienden, nicht insofern es subsistiert, sondern insofern es das Wesen alles Seienden und die universale Partizipation am Sein ausmacht. Wir kommen zu dem Schluss: Das »Divine« kann, wenn man nicht in Widersprüche geraten will, nur als Wirklichkeit, Sein oder Brahman interpretiert werden. Wenn wir es aber so verstehen, dann ist es ein in sich Analoges. Die Herausarbeitung dieser Zusammenhänge und der Analogie fehlt aber bei Sri Aurobindo. Eine Alternative zu dieser Deutung könnte darin bestehen, dass »individual Divine« im eigentlichen Sinne die göttliche Immanenz meint. Wenn das so ist, dann ist die individuelle Person mit der Immanenz zwar identisch, insofern sie ist, aber verschieden, insofern sie kontingent, abhängig ist, d. h. in Gott ihren nicht zeitlichen, aber begründenden Anfang hat. Das Innewohnen Gottes kommt ihrem einmaligen Wesen nicht notwendig zu; ihre, obwohl geistige, Dies-heit (haecceitas) ist durch die Kontingenz der Teil-habe am göttlichen Sein different zu diesem. Auch diese Deutung wäre möglich; aber es spricht gegen sie die oftmalige Identifizierung der individuellen Person mit dem »individual Divine« und der Aufweis der Genesis der Individualität (Jīvātman) im Supermind oder des Jīva aus Parā-Prakṛti. Es könnte ferner nicht gesagt werden, die geistige Person sei ein »ewiger Teil« 217 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
des Höchsten Wesens, d. h. eine ewige Teil-habe, wenn sie zugleich identisch wäre mit der Immanenz, die hinwiederum keine Teil-habe am Höchsten Wesen sein kann, sondern das göttliche Sein selbst ist. Wenn wir jedoch in dem Begriff »individual Divine« nicht bloß die göttliche Immanenz sehen wollen, sondern in ihm selbst bereits die Doppelheit verstehen, dann sind wir wieder bei der ersten Deutungsmöglichkeit. Die Doppelheit besteht darin, dass zwar »Divine« im eigentlichen Sinne göttliches Sein und göttliche Immanenz meint, »individual« aber das endliche Seiende, die Person, welche durch das göttliche Sein ist und dieses auf kontingente und limitierte Weise oder durch Teil-habe verwirklicht. Wir könnten dann »individual Divine« definieren als göttliche Gegenwart im Individuum, welche dessen seinsverleihender Grund 20, dessen Ziel 21 und dessen Exemplarursache 22 ist. Obwohl nicht eindeutig entschieden werden kann, wie Sri Aurobindo diese Dreiheit gemeint hat, muss sie m. E. im Sinne des Gesamtwerkes so interpretiert und weitergedacht werden, wie es in diesem und in den vorausgegangenen Kapiteln geschehen ist. Wenn wir eine Unschärfe des Begriffs feststellen, so behaupten wir damit nicht, es liege ein Denkfehler vor. Die schärfere Fassung des Universalen und Individuellen hätte bedeutende Rückwirkung auf die Schöpfungslehre. Es würde diese weiter von der Nähe zum Pantheismus abrücken.
2.2 Die individuelle Person Jīvātman und Caitya Puruṣa Wie verhält es sich nun mit der individuellen, geistigen Person, dem Jīvātman, und der psychischen Person, dem caitya puruṣa? Wir haben festgestellt, sie seien wesentlich eins; der Jīvātman stehe jedoch über der Welt der Bewegung und Entwicklung, der caitya puruṣa in ihr; Vgl. Thomas von Aquin, S.Th. 1 q. 8, a. 1: causa agens und esse entis, als welches Gott das Innerste des Seienden ausmacht. Quandiu igitur res habet esse, tandiu opportet quod Deus adsit ei, secundum modum quo esse habet. Weiteres über das Verhältnis der essentia und des ens qua ens zum esse vgl. Brugger, Theologia naturalis, 428–31. 21 Vgl. Thomas von Aquin, S.Th. 1 q. 44. a. 4. 22 Vgl. Thomas von Aquin, S.Th. 1 q. 44. a. 3. 20
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Kritische Anmerkungen
der Jīvātman sei »oben« (above), der caitya puruṣa »innen« (within). Der Jīvātman präexistiert und muss erst seine Einwilligung zum Spiel der Involution und Evolution geben; wenn er aber das Spiel im Wechsel der verschiedenen »Persönlichkeiten« (personalities) spielt und als psychisches Wesen Erfahrungen sammelt, bleibt er doch immer bei sich, er selbst. Wie ist das zu verstehen? Wie kann etwas zugleich bei sich und außer sich sein? Wie ist eine Wesenseinheit, eine Identität zwischen beiden Formen des Seins möglich? Auch auf diese Frage bleibt die Antwort aus. Wir können hier nur versuchen – wie schon beim Verhältnis Gott und Welt –, das Problem von zwei Seiten her negativ einzugrenzen: Einmal ist es der Beweis für die Geistigkeit und Unsterblichkeit der Seele, welcher uns zwingt, diese Geistigkeit als aktuell vorhanden zu denken und nicht so, als würde sie sich erst mit der Evolution der materiellen und physiologischen Bedingungen ergeben; andererseits richtet sich unser Blick auf die Erfahrung, welche uns zeigt, dass wir uns in Entwicklung befinden und erst zu dem werden müssen, was wir immer schon sind, zur Person. Wie soll dieses Zueinander positiv begriffen werden? Durchdenken wir dieses Problem noch einmal, jetzt mit einem Beispiel der Erfahrung: Mein Bewusstsein kann bei sich selbst sein, in ruhender und gleichmäßiger Einheit, versammelt im »Zentrum« der Person. Es kann aber auch durch ausschließliche Konzentration sich einem Gedanken zuwenden oder sich in einer Erregung des Gemüts befinden. Was dann? Ist es dann gleichzeitig aktuell bei sich oder nur der Möglichkeit nach? Wir möchten uns für Letzteres entscheiden. Das Bewusstsein kann zwar immer wieder zu sich selbst zurückkehren, indem es sich gleichsam in sich versammelt und alle einzelnen Objekte seiner Konzentration mit einem gleichmäßigen Blick betrachtet, aber es ist in der Zuwendung an die Objekte außer sich, also nicht aktuell, sondern nur potentiell bei sich. Angewendet auf unser Problem hieße das: Die Person, wenn sie sich in die Evolution hineinbegeben hat, kann nicht zugleich aktuell über der Entwicklung sein, sondern nur als eine dynamische Möglichkeit (potentia activa) oder als Ziel (causa finalis et formalis). Die Person kann nur im Wesen grundgelegt sein 23, welches sich durch die Entwicklung aktuieren, erDies könnte angedeutet sein in OYII.T1 287, wo es heißt, der Jīvātman lebe in der Wesentlichkeit; Wesentlichkeit könnte jedoch im Gegensatz zu unserem Begriffsgebrauch im Sinne des esse actu gemeint sein. Die meisten Stellen aber sprechen ausdrücklich von aktueller Selbst-Existenz.
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
füllen muss. Das Wesen der Person ist so die Bedingung der Möglichkeit für die Rückkehr zu sich selbst. Deshalb müssten wir die aktuelle Selbst-existenz des Jīvātman negieren und die Person beim caitya puruṣa, dem psychischen Wesen oder der leibgewordenen Person ansetzen; allerdings wäre dann hinzuzufügen, dass dies am Anfang und am Ende, vor und nach der Evolution, der Existenzweise des Jīvātman entspräche. Das aber liefe der Konzeption von Sri Aurobindo zuwider. Wir könnten diesem Widerspruch nur entkommen, wenn wir bedenken, dass die Evolution notwendig zeitlich und weltlich gedacht werden muss, die Existenz »vor und nach« der Evolution aber überzeitlich ist. Das Sein (Esse) als Akt kann nur Gott zukommen, denn er ist der reine Akt oder das subsistierende Sein. Das Seiende aber, welches den durch sein Wesen gesetzten »Raum« voll-wirklich ausfüllt, kann dies nur tun, weil und insofern es durch das »Esse« aktuiert ist. Die Identität zwischen dem Wesen des Seienden und seiner durch das Sein erfüllten Wirklichkeit erst meint – im Falle des Menschen – im vollen Sinn Personalität. Person ist also immer Grenze und Übergang vom Seienden zum Sein und vom Sein zum Seienden; das Personsein des Menschen besagt das Empfangen des Seins vom unendlichen Gott für den endlichen Menschen. Aus dieser begründenden Konstituierung werden erst alle anderen Wesenszüge der Person möglich 24: Freiheit, Rück-kehr zu sich selbst, relative Subsistenz. Wenn Jīvātman oder »individual Divine« nichts anderes meinen sollte als jene Zuwendung des Seins von Gott her für das endliche Wesen, jenen lebendigen und nicht weiter festlegbaren Übergang von göttlicher Immanenz zu Individuum, dann wären wir mit Sri Aurobindo einverstanden. Die Diskussion dieses Problems zeigt einmal mehr, wie unklar gerade die zentralen Punkte erscheinen und wie wir immer wieder nach der logischen Verknüpfung und nach den wichtigen Unterscheidungen fragen müssen. Person und Personformen Von der psychisch-geistigen Person wird gesagt, sie nehme mit jeder Inkarnation eine neue »Persönlichkeit« (Personform, personality) an, weil ihre Potenzen praktisch unendlich sind. Man kann dagegen nichts einwenden unter der Voraussetzung, dass man die Präexistenz 24
Vgl. auch unsere Ableitung der Person aus Ānanda.
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Kritische Anmerkungen
des Jīvātman und die Lehre von der Wiedergeburt annimmt. Doch die Lehre von der Wiedergeburt ist zwar denkmöglich, aber nicht denknotwendig. Die Person kann ihr Abenteuer in dem Reich der Involution und Evolution auch nach einem Leben beenden, denn sie ist frei. Evolution kann auch als allgemeine Aufwärtsbewegung der Menschheit im Ganzen gedacht werden, an welcher zwar jede einzelne Person in der Geschichte teilhat, welche sie aber nicht selbst unbedingt bis zum Ende durchexerzieren muss. Letzten Endes aber entscheidet sich dieses Problem am Verhältnis von Geist und Materie im Menschen. Wir haben die individuelle Person erörtert nicht aus ihrer jetzigen Verfassung, sondern aus dem transformierten Zustand des gnostischen Individuums. Von da aus konnte gesagt werden, dass die Endlichkeit radikal durch die Unendlichkeit angenommen und bestätigt ist. Wie verhält sich das aber in der jetzigen Verfassung des Menschen? Die Analyse des »Ego« ist in einer Hinsicht richtig: Es gibt viele »Egos« in uns: ein Leib-Ego, ein Lebens-Ego, ein mentales Ego, ein Ego des Verlangens usw., und jedes sucht sich selbständig und ausschließlich zu machen. Das zeigt die Erfahrung. Aber wenn wir über diese Erfahrung nachdenken, müssen wir zu dem Ergebnis kommen, dass diese »Egos« Ausdrucksweisen des einen, aber zugleich in sich pluralen informierenden Prinzips der Seele sein müssen. Sie sind nichts darüber hinaus, sie sind keine selbständige Bewegung und Funktion der Natur. Das hieße nämlich sonst, Puruṣa und Prakṛti, Geist und Natur auseinanderreißen, welche doch de facto eine Zwei-Einheit bilden 25. Diese Zwei-Einheit ist nur für unser Bewusstsein, nur im Reich der Unwissenheit, nicht aber an sich zu einer Gegensätzlichkeit geworden. Das aber mit allen Konsequenzen durchgedacht bedeutet: Die Seele befindet sich in einer transzendentalen Relation zum Leib, der individuelle Puruṣa ist nie ohne seine Prakṛti, der Geist nie ohne seine Bewusstseinskraft oder Natur. Und das kann nicht nur und nicht erst für das gnostische Individuum gelten, wo dieses Verhältnis ausdrücklich geworden ist, sondern ist auch jetzt unsere Wirklichkeit, wenn auch noch für unser Bewusstsein zumeist verhüllt. Das hat zur Folge: 1. Der Leib als materiell-vital-mentale Einheit ist nie etwas Dinghaftes von mir oder neben mir. Er ist nicht Instrument von mir, sondern ich selbst als in die Welt Hineinverfügter. Scholastisch: anima unica forma corporis und relatio transcendentalis formae substantialis ad materiam.
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
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Weil die psychisch-geistige Person in der Welt immer Leib ist, darum ist sie in Zeit und Raum, d. h., nicht nur der Leib, sondern auch die Zeit und der Ort bringen den Charakter des Einmaligen herein, legen die Situation für einmalige Entscheidungen vor. Für die in solche Einmaligkeit inkarnierte Person erscheint es nicht mehr als notwendig, dass sie diese Inkarnation so lange wiederhole, bis die Vollkommenheit auch des Leibes erreicht und alle Möglichkeiten entfaltet sind. Sie hat an der Aufwärtsentwicklung der Menschheit im Ganzen ihren besonderen Anteil zu leisten. Für sie selbst aber trägt die gegenwärtige Existenz nicht den Charakter einer bloßen »Persönlichkeit« oder eines Gewandes, das man nach Belieben ablegen und wechseln kann, sondern sie ist diese selbst mit der ganzen Bejahung. Daraus müsste ein radikales Ernstnehmen des Hier und Jetzt (Hic et Nunc) und der Leiblichkeit resultieren. Im Besonderen aber erweist sich das »Ich« nicht als bloß oberflächliche Zentrierung der Tätigkeiten der Natur, sondern als der wesenhafte Ausdruck der Person, welcher zwar vielfältig ist und sich einmal hier und einmal dort zentrieren kann, aber selbst in der Zentrierung letztlich ein Akt der Person sein muss. Schließlich folgt aus dem Ernstnehmen der Zwei-Einheit eine höhere Wertung der Sinne und der normalen menschlichen Befindlichkeit. Zwar ist Sri Aurobindo kein Manichäer, aber seine, wenn auch mit den Jahren zunehmend positivere 26 Stellung zur ehelichen Liebe, zu Eros und Sexus ist, wenigstens anfänglich, nicht positiv genug. 27 Natürlich stimmen wir der Auffassung
Vor allem SM 47–50. Vgl. OYII.T2 600–38; SM 55–60 (Die Spekulation über eine supraphysische Fortpflanzung); Nirodbaran, Correspondence with Sri Aurobindo, Band II, 247–9, und Die Mutter: Die vier Arten der Yoga-Disziplin und die vier Befreiungen, in: Integraler Yoga, 3/1964, 210–33, bes. 216. Hier wird die Sexualität zu ausschließlich unter der Rücksicht der Speicherung von Kraft (Verwandlung von tejas in ojas) gesehen, welche dem Weg der geistigen Befreiung dienen soll, und zu wenig als Ausdrucksmöglichkeit personaler Liebe. Es soll jetzt nicht auf die in solcher Instrumentalisierung für die Anthropologie enthaltenen Konsequenzen eingegangen werden. Man muss jedoch feststellen, dass die übergeordneten Prinzipien bei Sri Aurobindo eigentlich eine so betonte Instrumentalisierung verbieten. Über die weite Verbreitung solcher Ansichten in Indien berichtet Koestler in seinem Buch »Von Heiligen und Automaten«. Dieses Buch muss jedoch in vielen anderen Dingen mit Kritik gelesen werden.
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Kritische Anmerkungen
zu, dass unsere Befindlichkeit nicht als solche belassen werden darf, sondern vom Geist, d. h. von der Person her, ständig durchformt und auch umgeformt werden muss; aber die Inkarnation des Geistes in die Materie besagt, dass diese prinzipiell schon durchformt ist. Deshalb muss unsere leibliche Befindlichkeit radikal angenommen werden. 28 Freilich muss man bei dieser Kritik gleich hinzufügen, welch ungeheuren Weg Sri Aurobindo vom durch die Tradition geheiligten Ideal des Sannyasin bis zu seiner großartigen Weltbejahung zurückgelegt hat. Die Kritik will nur besagen, dass in Richtung dieser Bejahung konsequent weitergegangen werden muss.
2.3 Freiheit und Geschichtlichkeit Der Freiheitsbegriff Dass die gegenwärtige Befindlichkeit des Menschen und das geschichtliche Hier und Jetzt nicht ernst genug genommen wird, hat nicht zuletzt seinen Grund darin, dass Sri Aurobindo alles primär von der Seinsgesetzlichkeit und von der Bewegung der Bewusstseins-Kraft aus denkt, dabei aber den vollen Begriff der Freiheit verkürzt. Obwohl im Denken der Freiheit auch eine Entscheidung »gegenüber« enthalten sein kann, so wird die Freiheit des Geistes doch hauptsächlich als Freiheit von der Materie bzw. aller Begrenztheit und Determinierung gedacht. Um in diese Freiheit hineinzukommen, ist eine Evolution des Bewusstseins und eine Rückkehr des Geistes aus der Entäußerung zu sich selbst nötig. Das ist richtig; aber Freiheit wird hierdurch zugleich dem Geistigsein untergeordnet und damit verkürzt. Freiheit ist primär Freiheit der Entscheidung gegenüber dem Anspruch anderer Personen und gegenüber Objekten. Diese Freiheit ist zwar nur einer geistigen Person möglich, aber sie meint doch nicht zuerst die Souveränität des Geistes über die Materie und die Triebhaftigkeit.
Wir wollen hier nicht auf die theologischen Perspektiven eingehen, welche sich aus der Inkarnation Christi und der Erlösung durch Ihn ergeben. Zur Stützung der Kritik sei jedoch auch auf die Erfahrungen der modernen Tiefenpsychologie und Psychosomatik hingewiesen.
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Die Urschuld und das Böse Zur näheren Erläuterung des Einwands sei auf Folgendes aufmerksam gemacht: 1. Der Sündenfall besteht für Sri Aurobindo im »separatistischen Egoismus« und in der »wirksamen Teilung im Bewusstsein«. 29 Diese Aussage ist begründet durch eine richtige Erfahrung. Dennoch scheint uns der Ursprung des Sündenfalls nicht primär in der Zerteilung des Bewusstseins zu liegen, sondern in der freien Entscheidung von Menschen gegen ihren Herrn und Gott. Besonders deutlich wird uns dies an der Entscheidung Lucifers. Lucifer war ein reines Geistwesen, der Träger des Lichts. Seine Sünde bestand nicht darin, dass er sich einer Partikularisierung zuwandte, sondern dass er sein wollte wie Gott. Er verfehlte sich nicht gegen Geist und Bewusstsein, sondern gegen die Demut, weil er nicht anerkennen wollte, dass er geschaffener Geist sei. Dieses Verhältnis eröffnet eine andere Dimension. 2. Es sei noch einmal erinnert an Sri Aurobindos Darstellung der Negativa. Auch diese ist richtig, aber zugleich einseitig. Es bleibt hier kein Raum für die Freiheit »gegenüber« und damit für sittlich Böses, für Schuld. Das Karma-Gesetz ist – überspitzt formuliert – letztlich ein erweiterter Energie-Erhaltungssatz. Es genügt eben nicht, die Unwissenheit zu überwinden. Wenn man meint, mit dem Bewusstsein der Wahrheit sei die Möglichkeit der Sünde verschwunden, so denkt man dies zu ontisch und zu wenig von der Freiheit her. Es gibt wohl nichts Schlimmeres und Gott-Ferneres als den Hochmut eines Asketen, für den Vergeistigung mehr ist als Hingabe an Gott. 30 Die Vergeistigung muss vielmehr jenem anderen Grundakt untergeordnet werden, der in Demut die eigene Endlichkeit und die Möglichkeit zur Sünde anerkennt und sich ganz Gott und seiner verzeihenden und erhebenden Gnade hingibt. 31
LD 188; ähnlich LD 61. Romain Rolland berichtet in seiner Biographie von Ramakrishna »Das Leben Ramakrishnas« über einen Yogi, der seinen Schüler Ramakrishna die Kunst der Konzentration lehrte. Als der Yogi aber feststellte, dass sein Schüler fähiger war als er selbst und dass die Konzentration nicht die letzte Weisheit des Yoga sei, wollte er sich im Fluss ertränken. 31 Im Prinzip stimmen wir deshalb Cuttat zu (Vergeistigungs-»Technik« und Umgestaltung in Christus, in Kairos 1/1959, 18–30), nicht aber im Einzelnen. Die angeführ29 30
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Kritische Anmerkungen
Das Prinzip der Hingabe Was wir zur Verdeutlichung hier vorgebracht haben, müssen wir auch gleich wieder etwas einschränken: Diese Gefahren der einseitigen Betrachtung sind zwar da, aber zugleich sind sie wieder aufgehoben durch das Grundprinzip von Sri Aurobindos Yoga: der völligen Übergabe an den höchsten Herrn, Īśvara, und seine Bewusstseinskraft, die höchste Mutter, Śakti. Die Mühe der Vergeistigung – eine methodische Haltung – wird untergeordnet der Hingabe – eine personal-freiheitliche Haltung. Unsere Kritik bleibt dennoch insofern berechtigt, als dies zwar für den integralen Yoga gilt, in der theoretischen Auslegung des Seins aber die Dimension personaler Freiheit zu kurz kommt. Schuld, Verantwortung, Geschichtlichkeit Weil Freiheit – in der theoretischen Konzeption – vor allem Geistigkeit meint und mit dem Anwachsen des Geistes zunimmt und weil das Böse ein ontischer Vorgang ist, eine fehlgeleitete »Energie«, darum ist die Verschiebung in der Ordnung des Seins prinzipiell reparabel und zwar dadurch, dass mit fortschreitender Vergeistigung die Bedingungen und Ursachen für die Negativa beseitigt werden. Schuld im eigentlichen Sinn geschieht aber immer durch den falschen Gebrauch der Freiheit einer Person gegenüber einer anderen. Sie kann nicht aufgehoben werden durch Heilung – hier Heilung durch den Geist –, sondern durch Verzeihung und Gnade. Zwischen Personen entsteht durch die Freiheit Verantwortung, Verantwortung für einen Anspruch und einen Auftrag. Freiheit aber, die im interpersonalen Verhältnis Schuld, Gewissen, Verantwortung hervorbringen kann, legt den Grund für Geschichtlichkeit, d. h. für die einmalige Bedeutung des Augenblicks und des freien Tuns in ihm. Aus solcher Konzeption von Freiheit und aus dem konsequenten Durchdenken des Leib-Geist-Verhältnisses ergibt sich uns ein unwiederholbarer Wert des Augenblicks und des Ortes in Geschichte und Welt. Diese Ausdrücklichkeit des Geschichtlichen vermissen wir bei Sri Aurobindo. Freiheit wird von Sri Aurobindo letztlich nicht in der gleichen ten Einzeldinge betreffen zwar eine weit verbreitete und mit Vorliebe vom Westen aufgenommene Yoga-Haltung, nicht aber Sri Aurobindos Yoga.
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
Radikalität gedacht wie in der europäischen Philosophie. Die Fähigkeit, sich dem Anspruch des Guten zu verweigern und sich zum Bösen zu entschließen, wird erklärt und aufgelöst durch Unwissenheit. Das Böse und die Schuld gibt es eigentlich nicht. Das, was wir als böse und schuldhaft verstehen, hat seinen Grund letztlich darin, dass die so Handelnden den Zusammenhang mit dem größeren Ganzen aus den Augen verlieren und in der Unwissenheit verharren. Durch fortschreitendes Bewusstwerden werde auch das Böse überwunden. 32 Obwohl wir die Einmaligkeit des Geschichtlichen vermissen, ist die Geschichtsphilosophie von Sri Aurobindo von der Idee der Evolution geprägt. Der Anfang ruht in Gott, der sich in seiner Bewusstseins-Kraft in die Unbewusstheit entäußert; das Ende ist die Erfüllung der Evolution, wenn in der Schöpfung und in den Individuen nicht mehr die Zerteilung und die Unwissenheit herrschen, sondern alles in ein göttliches oder supramentales Leben transformiert ist. Der göttliche Supermind ist dann das Eine in allem und das Alles von jedem. Der Realitätswert der Zukunftserwartung Wie steht es aber um diese Zukunftserwartung, welchen Realitätswert besitzt sie? Wir können mit Satprem nur sagen: »Wir wissen noch nicht, ob das supramentale Abenteuer Erfolg haben wird; die vedischen Rishis konnten die Hindernisse auf dem Wege nicht beseitigen 33, sie konnten nicht die ›große Passage‹ für alle Menschen eröffnen und ihre persönliche Realisation in eine kollektive und bleibende umwandeln: das hatte einen Grund. Es bleibt zu erforschen, ob dieser Grund noch gilt.« 34
Satprem behauptet zwar in seinem Schlusskapitel: »Die Realisation der vedischen Rishis ist eine kollektive Realisation geworden; das Supramentale ist in das Erdbewusstsein eingetreten« 35, und wir haben keinen grundsätzlichen Einwand, der dies als unmöglich zeigen
Deshalb kann der Eindruck entstehen, dass auf diese Weise »das immer noch ungelöste, vielleicht sogar unlösbare Problem des Bösen« verharmlost wird. Gantke, Aurobindos Philosophie, 92–3. 33 Sri Aurobindo sagt in einem Brief, er verstehe sich nicht als Religionsstifter, sondern es sei sein Auftrag, einen Weg zu eröffnen, »der noch blockiert ist« (OYII.T1 149). 34 Satprem, Sri Aurobindo, 319. Satprem gibt an dieser Stelle den Grund nicht an. 35 Satprem, ebd. 407. 32
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Kritische Anmerkungen
könnte, aber dennoch müssen wir ehrlich und realistisch sagen: Wir wissen es nicht. Sri Aurobindo war zweifellos ein ganz außerordentlicher Mensch, der eine Seins- und Bewusstseinsstufe erreicht hat, welche dem normalen Erdenbürger – bis jetzt – unzugänglich ist. Aber seine eigene Beschreibung des Siddhi-Tages zeigt uns, dass er zwar den Overmind erreicht und durch ihn den unmittelbaren Zugang zum Supermind und zu Saccidānanda erwirkt hat, dass er dadurch die Herabkunft des Supermind bis in die Materie hinein ermöglicht hat, jedoch selbst noch nicht die äußerste Möglichkeit der supramentalen Transformation darstellt. Auch Sri Aurobindos irdische Existenz wurde vom Tode überwältigt. Dennoch besagt auch dies nicht a priori die Grenze der Evolution, sondern nur ein »De facto«, welches für unsere jetzige Situation gilt. Wir können den Realitätswert von Sri Aurobindos Zukunftsvision nicht adäquat beurteilen, weil uns die geistigen Erfahrungen in diesen Dimensionen fehlen. Drei Momente aber sind sicher: 1. Die Evolution der Menschheit im Allgemeinen schreitet voran oder eröffnet wenigstens den Raum für eine reichere geistige Entfaltung, da Technik und Automation den Menschen zunehmend entlasten von zweckhaften Tätigkeiten des Alltags. Sie machen ihn frei für die Realisierung seiner Geist-Person in der wissenschaftlichen und philosophischen Tätigkeit, in der zwischenmenschlichen Beziehung, im Verhältnis zu sich selbst und zu Gott. Ob diese Chance richtig genützt wird, ist eine andere Frage. 2. Die Möglichkeit einer persönlichen Transformation ist eine alte Erfahrung des Ostens wie des Westens. Auch das Christ-sein müsste sich selbst aufgeben ohne die Umkehr, die μετάνοια. 3. Auch die christliche Zukunftserwartung hofft auf einen neuen Himmel und auf eine neue Erde, auf das Herabkommen der Stadt Gottes. Für den Christen liegt davor die Annahme der Erlösungs-Gnade und das Welt-Gericht, für Sri Aurobindo die radikale Umwandlung der Begierde, des Egoismus und der Unwissenheit, d. h. unserer jetzigen Daseinsform. Wenn Sri Aurobindo eine Passage für alle freilegen will, dann kann der Christ darauf nur antworten: Das ist in radikaler Weise bereits geschehen durch die Herabkunft des Wortes Gottes in die Welt in Christus Jesus, und zwar nicht nur für die Auserwählten, sondern für die Vielen. Er hat selbst die Gottferne der Sünde auf sich genommen, durchlitten und umgewandelt. Die Herabkunft vollzieht sich 227 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
immer neu in jedem Menschen durch Seine Gnade, jedoch in ausgezeichneter Weise in Seinen Heiligen, die je neu Seine Wahrheit für ihre Zeit interpretieren und an der endzeitlichen Vollendung mitarbeiten. Jesus Christus ist kein Religionsstifter, sondern die herabkommende Gnade Gottes selbst, welche alles verwandelt. Vielleicht kommt Sri Aurobindo, obwohl er kein ausdrücklicher Christ war, doch eine ausgezeichnete Sendung in diesem permanenten Heilsereignis zu. Relativierung der Kritik Unsere Kritik möchte sich jedoch selbst relativieren, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Es war Sri Aurobindos größte Anstrengung und sein wichtigstes Ziel, das Supramentale bis in die Materie herabzubringen. Er lehnte mit Entschiedenheit sowohl den Spiritualismus als auch den Materialismus ab und erstrebte ein Leben aus Gott auf Erden. Auch die Materie ist für ihn letztlich göttlich. Obwohl die von uns kritisierten Punkte im Denken Sri Aurobindos in dieser Weise fehlen, sind sie doch nicht unvereinbar, sondern liegen eher auf der Linie seines grundsätzlichen Programmes. Sri Aurobindo sieht ja sein Ideal nicht in der Geschlossenheit des Systems, sondern in der Übereinstimmung mit einer möglichst integralen Erfahrung. 2. Man muss Sri Aurobindo nicht aus unserer westlichen Sicht verstehen und beurteilen, sondern aus ihm selbst und auf dem Hintergrunde des indischen Denkens. Hier erscheinen dann die Probleme der Wiedergeburt, der Freiheit, der Leiblichkeit und der einmaligen Geschichte in einem anderen Licht. Nur von da aus kann auch Sri Aurobindos Leistung angemessen beurteilt werden.
2.4 Das Verhältnis zu Christus und zur christlichen Lehre Wir finden im Text immer wieder wörtliche oder sinngemäß richtige Bibelzitate eingestreut. Dies und die mehrmalige Konfrontation mit Christus und der christlichen Lehre veranlassen uns, ein kurzes Wort dazu zu sagen, obwohl eine theologische Auseinandersetzung das Ziel dieser Untersuchung überschreitet. 228 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Kritische Anmerkungen
Zweifellos verfügte Sri Aurobindo über ein profundes Wissen von der Schrift und vom Wesen der christlichen Botschaft. 36 Das beweisen seine Ausdeutung der Transsubstantiation 37, des Kreuzes und des Sieges 38, der Inkarnation, welche die Erde bejaht. 39 In seinem großen Epos Savitri widmet Sri Aurobindo eine ganze Seite der Erlösungstat von Christus Jesus, ohne seinen Namen zu nennen. 40 Es finden sich auch viele Ansätze, die gerade unsere Theologie interessieren könnten. Es wäre z. B. interessant, einen Vergleich zwischen Supermind und Christus, dem Logos, herauszuarbeiten. Vergleichspunkte sind die Mittlerschaft zwischen Transzendenz und Welt, die Erschaffung der Welt (Creator), die Heimholung und Vollendung der Welt in und durch den Supermind, ganz zu schweigen von dem deutlichen Anklang an die Christologie, wenn der Supermind die Prädikate Alpha und Omega erhält. 41 Wir erinnern uns dabei an die Worte Romano Guardinis: »Christ zu werden, bedeutet, in die Existentialität Christi einzutreten. Der Wiedergeborene spricht ›Du‹ zum Vater, indem er am Du-Sagen Christi Anteil empfängt. In einem letzten und endgültigen Sinne sagt er zu Christus nicht ›Du‹.« 42 Interessant wäre weiterhin ein Vergleich zwischen Īśvara, der All-person, Pantheos, und Christus, dem Pantokrator. Aber dennoch mischt sich in die ausdrücklichen Aussagen über Jesus Christus und die christliche Lehre ein Missverständnis. Sri Aurobindo sieht die Inkarnation Christi nicht richtig, weil er sie für
Huchzermeyer beschreibt in seinem Buch »Sri Aurobindos Kommentare«, dass Sri Aurobindo einen großen Unterschied sah zwischen Christus und der Realisierung seiner Lehre im Christentum. Das Christentum, das Sri Aurobindo während seines Aufenthalts in England kennen lernte, empfand er »eher als abstoßend denn als anziehend. […] Die gräßliche Geschichte der Verfolgungen […] und die Enge und Intoleranz selbst seiner späteren Entwicklungen stießen ihn so sehr ab, dass er sich ganz von der Religion abwandte. Nach einer kurzen Zeit des vollständigen Atheismus nahm er die agnostische Einstellung an.« (Sri Aurobindo, Autobiographical Notes, Vol. 36 der CWSA, 106) In der Phase seiner spirituellen Realisation aber kam er zu einer hohen Wertschätzung von Christus und anerkannte ihn vorbehaltlos als Avatar. 37 EU X. – XII. 38 OYII.T1 30. 39 OYI 375. In der wichtigen Stelle über den Avatar in E 218–22 heißt es unter anderem auch: »Die menschliche Begrenzung muss angenommen werden, um zu zeigen, wie sie überwunden werden kann.« (E 222) 40 S Book VI, Canto II, 445. 41 Vgl. LD 145–6. 42 Guardini, Welt und Person, 160. 36
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
eine unter den vielen möglichen Inkarnationen Gottes hält, wozu auch Buddha und Krishna gehören. Er kritisiert den Gottesbegriff der Christen, den er für »theistisch« hält. Der wirkliche christliche Gottesbegriff steht aber seinem eigenen nahe. Sein Vergleich zwischen der Trinität und dem »transcendental, universal, individual Divine« ist falsch; eine Analogie zu Saccidānanda wäre weit richtiger gewesen. Er missversteht Maria, welche er als die göttliche Natur, die göttliche Mutter, Śakti, deutet. Woher kommt das? Sri Aurobindo kennt zwar die Schrift, hat aber wahrscheinlich nie eine tiefe Begegnung mit einer guten christlichen Theologie und mit gläubigen Christen gehabt. Sri Aurobindo hat einen sehr hohen Begriff vom Avatar. Im Avatar wird der Herr selbst geboren. Aber dieses Ereignis kann sich in der Geschichte wiederholen in vielen Geburten. Deshalb ist Jesus einer der Avatare, mit einer göttlichen Botschaft, aber begrenzt für seine besondere Sendung und Zeit. Doch wie ist das möglich? Ist damit die Inkarnation des Logos in Jesus wirklich erfasst? Wir meinen, dass mit dieser Deutung weder die Endlichkeit und der Entschluss des Gottes zu dieser Endlichkeit radikal ernst genommen wird noch die Identität zwischen Jesus von Nazareth und dem göttlichen Logos Christus, zwischen geschichtlicher Gestalt, Tat und ewigem Wesen. Hier wäre dasselbe noch einmal zu sagen, was wir über Wiedergeburt, Leiblichkeit und Freiheit geäußert haben, nur jetzt angewendet auf das geschichtliche Faktum der Inkarnation und der Erlösung. Jesus Christus ist ganz Mensch und zugleich ganz Gott, Īśvara, Supermind, Logos. »Jener Christus, der sonst für die Welt gesorgt hat, weil die Welt ja Sein Leib ist (in der Ewigkeit) und sein soll (im Zeitverlauf – wobei was nicht sein wird, nicht ist), und der infolgedessen Propheten, Religionsstifter, heilige Menschen hat entstehen lassen – jener Christus hat am Ende der Zeiten Sein eigenes Haupt geoffenbart. Er ließ nicht nur Seine zum Werden bestimmten Glieder geboren werden, sondern Er selbst ist aus Maria der Jungfrau geboren, unter Pontius Pilatus gestorben und am dritten Tag auferstanden, um Seine Mission weiter bis ans Ende (I. Kor. XV. 28) zu vollenden.« 43
Panikkar, Die vielen Götter und der eine Herr, 74. Vgl. auch Panikkar: Der Ishvara des Vedanta und der Christus der Trinität. Allerdings ist der Īśvara bei Sri Aurobindo nicht einfach identisch mit dem von Śaṃkara und Rāmānuja, wohl aber im Prinzip mit dem des Brahmasūtra.
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Sri Aurobindo und die westliche Philosophie
Wenn wir dieses Missverständnis über Jesus Christus in seiner Art und in seiner Herkunft berücksichtigen, dann werden wir uns nicht mehr darüber wundern, dass Sri Aurobindo das Christentum in gleichmacherischer Weise unter die anderen Religionen einreiht. Wenn wir über diese Dinge ein Gespräch mit ihm führen wollen, dann dürfen wir uns nicht an seine expliziten Aussagen über Christus und seine Lehre halten, sondern müssen an die zentralen Punkte seiner eigenen Lehre anknüpfen, welche in der Hülle anderer Namen so viel Christliches enthalten. Christus ist zwar nur einmal im Fleische erschienen, aber er erleuchtet auch das Herz und den Geist aller, die ihn wahrhaft suchen und sich ihm als dem einen Īśvara ganz hingeben. Christus erweist sich für uns wie für Sri Aurobindo als jener Punkt Omega, auf den unsere Geschichte und unser Bemühen hinzielt, weil von dort her die Bewegung ihren Anfang genommen hat. Unter solchen Perspektiven kann man auch verstehen, dass und warum die Behauptung, der Hinduismus sei die ewige Religion, das sanātana dharma, dem Absolutheitsanspruch Christi nicht zuwiderläuft. Das sanātana dharma meint ja nicht den Hinduismus in seiner konkreten Form, in seiner geschichtlichen Gestalt, sondern das Gottverhältnis des Menschen schlechthin. Es ist gleichsam der Ausdruck der natürlichen Religiosität des Menschen und eine philosophia perennis. Die Offenbarung Christi ist dazu kein Widerspruch, sondern eine letzte Erfüllung und Erhebung, welche den vorher formalen Strukturen Leben verleiht. 44
3
Sri Aurobindo und die westliche Philosophie
Unsere Kritik an Sri Aurobindo provoziert die Gegenfrage: Was kritisiert Sri Aurobindo an uns, an der westlichen Philosophie? Es sind vor allem folgende Punkte: 1. Die europäische Philosophie stützt sich zu wenig auf die geistige Erfahrung und bemüht sich zu ausschließlich um die Welt des Begriffs. 2. Sie hat sich zu sehr von ihrer praktischen Bedeutung für das Leben getrennt. Die Rezeption von Sri Aurobindo im christlichen Bereich hat bereits begonnen, z. B. bei Enomiya-Lasalle, Am Morgen. In einzelnen christlichen Exerzitienhäusern wird der Integrale Yoga gelehrt.
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
3. 4. 5.
Sie hat die subjektive Seite der Wirklichkeit vernachlässigt. Sie trennt zu sehr zwischen Philosophie und Naturwissenschaft einerseits und Religion andererseits. Der europäischen Philosophie fehlt das dritte Prinzip der Sat-citānanda: ānanda, die »göttliche Liebe und Freude«. Ānanda ist das »tiefere Geheimnis hinter den beiden anderen«, hinter Sein und Bewusstseinskraft. Ānanda ist »höher als Gerechtigkeit, besser als Harmonie, wahrer als Vernunft« (H 59–60). Das westliche Denken hat nur die beiden niedrigeren Aspekte von Ānanda erfasst, »Gefallen und ästhetische Schönheit; es hat die geistige Schönheit und die geistige Wonne verfehlt […]. Die Naturwissenschaft ergreift Besitz von den Maßen und von der Nutzbarkeit der ’Kraft; die rationale Philosophie treibt den Verstand zu seiner äußersten Subtilität; aber die inspirierte Philosophie und Religion können das höchste Geheimnis erfassen, uttamam rahasyam. […] Heraklitus hätte dies sehen können, wenn er seine Schau ein wenig weiter geführt hätte.« (H 60) 45
Denn sein Wort über »das Königreich des Kindes berührt, ja erreicht beinahe das Herz dieses Geheimnisses. Denn dieses Königreich ist in evidenter Weise ein geistiges, es ist die Krone, die Meisterschaft, welche der vollendete Mensch erreicht; und der vollkommene Mensch ist ein göttliches Kind! 46 Er ist die Seele, die aufwacht zum göttlichen Spiel ohne Furcht oder Zurückhaltung, sich selbst in geistiger Aufrichtigkeit dem ’Höchsten Wesen hingibt; sie erlaubt die Befreiung der besorgten und verwirrten Kraft des Menschen von Sorge und Kummer und lässt sie zum frohen Spiel des göttlichen ’Willens werden; sie lässt seinen relativen und stolpernden Verstand ersetzt werden durch die göttliche Erkenntnis, welche für den Griechen, den Mann des Verstandes, eine Torheit ist; sie macht es möglich, dass sich das mühevolle Suchen nach Freude durch die begrenzte Mentalität selbst verliert in die Spontaneität des göttlichen ’Ananda; ›denn solcher ist das Himmelreich‹.« (H 61)
Sri Aurobindo sagt zwar von sich: »Die Leute meinen, ich müsse immens gelehrt sein und alles über Hegel, Kant und die anderen wissen. Tatsächlich habe ich sie nicht einmal gelesen; und die Leute wissen Sri Aurobindo führt aus, dass Heraklit bereits die europäische Philosophie in ihren Möglichkeiten und in ihren Grenzen vorzeichnet. 46 Das erinnert unmittelbar an das Schriftwort: »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder […]« Matth. 18,3. 45
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Das Verständnis von Bewusstsein
nicht, dass ich alles aus der Erfahrung und spirituellen Wahrnehmung geschrieben habe«. 47 Tatsächlich aber hat er einige westliche Philosophen sehr gut gekannt und interpretiert. Dem Vorsokratiker Heraklit hat er sogar eine eigene Schrift »Heraclitus« gewidmet. Die Philosophie von Platon hat er gut gekannt und sehr geschätzt. Vom Übermenschen Nietzsches hat er sich deutlich abgegrenzt. Der Einfluss westlicher Philosophen auf das Denken Sri Aurobindos einerseits und Ähnlichkeiten zwischen der Philosophie von Sri Aurobindo und westlichen Philosophen, die Sri Aurobindo nicht gekannt hat, andererseits werden untersucht von Sisir Kumar Maitra 48 und Wilfried Huchzermeyer 49.
4
Das Verständnis von Bewusstsein
Bewusstsein ist ein zentraler Begriff in der Philosophie von Sri Aurobindo. Wie verhält sich dieser Begriff zum Verständnis von Bewusstsein in der europäischen Philosophie?
4.1 Bewusstsein in der europäischen Philosophie Der Begriff Bewusstsein tritt bereits in der griechischen Philosophie auf, und zwar vor allem als συνείδησις, was ebenso wie der lateinische Begriff »conscientia« wörtlich übersetzt Mit-Wissen bedeutet. In der lateinischen Antike hat conscientia eine doppelte Bedeutung. Die theoretische Bedeutung (engl. consciousness) meint ein begleitendes Wissen. Es weiß um die eigenen mentalen Akte, die so zu Erlebnissen werden. Wenn sich das Wissen auf das Wissen selbst richtet, wird es zum Wissen des Wissens, zum reflexen Bewusstsein. Dieses richtet sich auf die erlebten Vorgänge und Zustände und auf das eigene Ich als den Träger der Erlebnisse. Die praktische Bedeutung (engl. conscience) meint das moralische Beurteilen oder das Gewissen. Nachdem lange Zeit verschiedene Schreibweisen im Ge-
Nirodbaran, Gespräche, 375. Maitra hat in seinem Buch: The Meeting of the East and the West in Sri Aurobindo’s Philosophy, einen Vergleich mit Bergson, Plotinus, Nicolai Hartmann, Hegel, Platon, Goethe und Whitehead versucht. 49 Huchzermeyer, Europäische Philosophie; ders. Nietzsche. 47 48
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
brauch waren, hat C. Wolff 1719 in seiner Metaphysik 50 für die deutsche Sprache den einheitlichen Begriff »Bewusstsein« eingeführt. Damit hat er zugleich die deutsche Übersetzung des cartesischen Begriffs »conscientia« geprägt. Descartes hat den Begriff Bewusstsein vom Gewissensbegriff getrennt und ihn zum zentralen anthropologischen Begriff gemacht. Das Bewusstsein konstituiert das Wesen des Menschen. Leibniz unterscheidet am Bewusstsein die Perzeption als den inneren Zustand, der die äußeren Dinge repräsentiert, von der Apperzeption als Reflexion auf diesen inneren Zustand. Bei Wolff wird das Bewusstsein wieder »zur anthropologischen Grundverfassung, kraft deren der Mensch sich selbst wie die Welt zum Objekt machen kann und beide zugleich als Wirklichkeiten ›konstituiert‹« 51. Kant unterscheidet ein empirisches und ein transzendentales Bewusstsein. Das empirische Bewusstsein ist die reflexive Kenntnis der Vorstellungen, die Leibniz Apperzeption nennt. Das transzendentale Bewusstsein geht aller Erfahrung voraus und ist oberster einheitsstiftender Bezugspunkt auch des empirischen Bewusstseins. »Alle Vorstellungen haben eine notwendige Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewusstsein: denn hätten sie dies nicht […], so würde das so viel sagen, sie existierten gar nicht. Alles empirische Bewusstsein hat aber eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales (vor aller besonderen Erfahrung vorhergehendes) Bewusstsein, nämlich das Bewusstsein meiner selbst, als die ursprüngliche Apperzeption […]. Der synthetische Satz: dass alles verschiedene empirische Bewusstsein in einem einigen Selbstbewusstsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt.« 52 Kant nennt das transzendentale Bewusstsein auch Bewusstsein überhaupt. Er versteht darunter die Einheit der Selbstapperzeption, welche »die grundlegende Bedingung der Möglichkeit möglicher Gegenstände und damit möglicher Wirklichkeit überhaupt« 53 ist. Das transzendentale Bewusstsein ist also die oberste einheitsstiftende Instanz des empirischen Bewusstseins, darf aber nicht als eine überindividuelle metaphysische Realität aufgefasst werden, sondern ist immer das Selbstbewusstsein einer bestimmten Person. 50 51 52 53
Wolff, Vernünftige Gedanken. Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWP), Band I, 1971, 891. Kant, KrV A, 117–8. HWP Band I, 892. Siehe auch Kant, Prolegomena § 20.
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Das Verständnis von Bewusstsein
Husserl kommt mit der phänomenologischen Reduktion zu dem Ergebnis, dass Bewusstsein intentional, d. h. auf mögliche Gegenstände gerichtet ist. »Alles Bewusstsein ist Bewusstsein von […].« 54 Das transzendentale Bewusstsein wird bei ihm zum konstitutiven Boden aller Seinssetzung, »zur sinnstiftenden Subjektivität, die, allem innerweltlich Seienden grundsätzlich vorgeordnet, der transzendentalphänomenologischen Reduktion entzogen bleibt.« 55 Die transzendentale Reduktion geht über die phänomenologische Reduktion insofern hinaus, als jetzt statt der Weltzugehörigkeit des Bewusstseins seine Welt und Sinn konstituierende Funktion untersucht wird. Gegenwärtig ist es besonders die analytische Philosophie des Geistes, die sich mit diesen Fragen beschäftigt. Sie sieht sich jedoch nicht in der Lage, Bewusstsein zu definieren. William James schreibt in seinem Buch »Principles of psychology«: »Wir wissen, was Bewusstsein ist, solange uns niemand bittet, es zu definieren.« 56 David Chalmers 57 sieht ebenfalls keine Möglichkeit der Definition des Bewusstseins. Allenfalls kann man mit Umschreibungen wie Erfahrung und Erleben zur Klärung beitragen. Wenn man Bewusstsein als einen Zustand des Selbst-Gewahrseins versteht, dann ergibt sich, dass Bewusstsein ein subjektiver Zustand ist, dem man sich nur in der ErstePerson-Perspektive (oder Erlebens-Perspektive) nähern kann. Das »schwierige Problem des Bewusstseins« 58, wie sich etwas anfühlt, wie wir erleben und erfahren, bleibt dem Zugang naturwissenschaftlicher Forschung, also der Dritte-Person-Perspektive, verschlossen. Es bleibt eine Erklärungslücke 59 zwischen der subjektiven Erfahrung und der objektivierenden wissenschaftlichen Beschreibung. Die Bewusstseinszustände haben einen phänomenalen Charakter, weil man in diesen Zuständen nicht nur ist, sondern sie erlebt. 60 Dieses Erleben ist aber jeweils mein Erleben und deshalb eine subjektive Erfahrung. Auch für Beckermann gibt es keine Definition des Bewusstseins, die letztlich nicht zirkulär wäre. 61 »Wir können Bewusstsein nur vom Bewusstsein her beschreiben. Bewusstsein ist Vo54 55 56 57 58 59 60 61
Husserl, Ideen, § 36: Intentionales Erlebnis. HWP, Band I, 905. James, Principles, 225. Chalmers, Mind. »The hard problem of consciousness«. Siehe Chalmers, Mind. »Explanatory gap«. Siehe Levine, Qualia. Beckermann, Philosophie des Geistes, 384. Ebd. 384.
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
raussetzung aller bewussten Akte. Es ist nicht möglich, über das Bewusstsein hinaus oder hinter das Bewusstsein zurückzugehen, weil das Bewusstsein der Grund ist, von dem her wir verstehen.« 62
4.2 Bewusstsein in den Neurowissenschaften Mit der raschen Entwicklung neuer Methoden, insbesondere der modernen bildgebenden Verfahren, ist Bewusstsein auch für die Neurowissenschaften ein wichtiges Thema geworden. 63 Im Umgang mit ihm gibt es in den Neurowissenschaften zwei Hauptrichtungen. Die eine Richtung versucht, Bewusstseinsphänomene auf physikochemische Prozesse zu reduzieren. Sie lässt sich dabei von den Grundsätzen des Naturalismus leiten. Der Naturalismus ist der Auffassung, dass alles, was existiert, wenigstens prinzipiell den Methoden der Naturwissenschaften zugänglich sein müsse. 64 Daraus folgt, dass alles andere wie etwa mentale Aktivitäten oder Bewusstsein nicht wirklich eigenständig existiert, sondern sich auf naturwissenschaftlich erfassbare Prozesse zurückführen lässt. Erst mit dieser Reduktion kann es wirklich erklärt werden. Da bei diesem Ansatz neurowissenschaftliche Methoden mit weltanschaulichen Prinzipien verknüpft werden, handelt es sich eigentlich um eine Neurophilosophie. Die andere Richtung hält sich an die methodischen Grenzen der Neurowissenschaften und versucht, neuronale Korrelate für Bewusstseinsakte ausfindig zu machen. Sie überlässt die Untersuchung des Bewusstseins selbst anderen Disziplinen wie etwa der Philosophie, die über die dafür adäquaten Methoden verfügen. Der experimentellen Hirnforschung geht es also darum, neuronale Korrelate zu Phänomenen des Bewusstseins aufzufinden. Alle geistigen Akte haben ein neuronales Korrelat. 65 Die Prozesse im Gehirn sind notwendig für die geistigen Akte. So wie wir sie kennen im Rahmen der neurowissenschaftlichen Methoden, sind sie aber nicht hinreichend, um Bewusstsein zu erklären. »Wir verstehen nicht den Schritt von Aktionspotentialen zur Wahrnehmung eines Objektes.« 66
62 63 64 65 66
Rager, Mensch sein, 39–40. Ausführliche Darstellung in Rager, Mensch sein. Runggaldier, Tendenzen, 16. Rager, Mensch sein, 57. Kandel, Principles, 386.
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Das Verständnis von Bewusstsein
Nach dem gegenwärtigen Wissensstand sind vor allem der Hirnstamm, der Thalamus und die Hirnrinde für Bewusstsein nötig. Innerhalb dieser Bereiche lassen sich aber kein bestimmter Ort und keine bestimmte Struktur angeben, die isoliert für Bewusstsein zuständig wären. Nach Edelman handelt es sich um weit verteilte Verbindungen in diesen Gebieten, die mit Vorwärts- und Rückwärtsschleifen rekursiv mit einander verbunden sind. Edelman nennt diese Art der Verbindungen »reentry loops« oder reziproke Kopplungen. 67 Die unüberbrückbare Differenz zwischen den Perspektiven der ersten und der dritten Person kommt deutlich zum Ausdruck in dem Gespräch des Hirnforschers Wolf Singer mit dem buddhistischen Mönch Matthieu Ricard, der eine Ausbildung als Molekularbiologe gemacht hatte, also die Sprache der modernen Forschung versteht. In dem Kapitel über Bewusstsein versucht Singer immer wieder Bewusstsein mit neurowissenschaftlichen Begriffen zu erklären. Er gibt zwar zu, »dass auch experimentelle Forschungsansätze letztlich auf Prämissen basieren, die sich nicht beweisen lassen«. 68 Er lässt sich aber durch diese Einsicht nicht von dem Versuch abhalten, das Bewusstsein auf neuronale Prozesse zu reduzieren. Für Ricard hingegen ist Bewusstsein ein primäres Phänomen, ein reines Gewahrsein, das durch die von Singer eingeführten komplexen Funktionen nicht erklärt werden kann. 69 Nach Ricard können die neurobiologischen Erklärungsversuche dem Argument des Dalai Lama, das auch von Husserl und den Phänomenologen vorgebracht wird, nicht standhalten: »dass das Bewusstsein allem vorausgeht, was wir überhaupt darüber sagen könnten, und auch jeglicher denkbaren Wahrnehmung oder Interpretation der phänomenalen Welt« 70. Mit dieser Grunderfahrung des Bewusstseins als reinem Gewahrsein und als primärem Phänomen, das sich nicht auf etwas anderes reduzieren lässt, öffnet sich der Blick für das Verständnis des Bewusstseins bei Sri Aurobindo.
Edelman, The remembered present, 1989; Wider than the sky, 2004. Ähnlich auch Damasio, The feeling of what happens, 1999; Self comes to mind, 2010. 68 Singer/Ricard, Selbst, 313. 69 Ebd. 306. 70 Ebd. 311. 67
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
4.3 Bewusstsein bei Sri Aurobindo In seiner Philosophie des Bewusstseins beginnt Sri Aurobindo weder bei erkenntnistheoretischen noch bei naturwissenschaftlich-empirischen Analysen, sondern bei der göttlichen Wirklichkeit Saccidānanda: Sein (sat) – Wissen (cit) – Seligkeit (ānanda). Der Begriff Wissen ist so umfassend, dass er auch Gewahrsein, Bewusstsein und Selbstbewusstsein enthält. Dieses Wissen ist zugleich die schöpferische Kraft, mit der das ganze Universum geschaffen ist. 71 Diese Aussage erinnert an den Prolog des Johannes-Evangeliums, in welchem im Anfang das Wort (λόγος) war, wobei mit Anfang nicht ein zeitlicher Anfang, sondern der begründende Grund der Schöpfung gemeint ist, wie Augustinus in seinen Confessiones gezeigt hat. In diesem Wort und durch dieses Wort ist alles geworden. »In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.« 72 Sri Aurobindo versucht sodann zu erklären, wie aus der unteilbaren und in sich versammelten Einheit von Saccidānanda die Ausgedehntheit und die Vielheit von individuellen Zentren des Bewusstseins entstanden. 73 Dies geschehe durch die exklusive Konzentration der Bewusstseinskraft, welche schließlich zur Trennung der einzelnen Zentren führe. Die individuellen Zentren haben dann nicht mehr das Allgemeine, sondern nur noch den eigenen Standpunkt vor Augen, welcher alle anderen Standpunkte ausschließt. Die exklusive Konzentration führt so schließlich zur Unwissenheit. Am Ende dieser Entäußerung des Bei-sich-selbst-seienden Wissens durch die exklusive Konzentration der Bewusstseinskraft stehen die Unwissenheit und das Unbewusste. Das Unbewusste hat seine Entsprechung in der phänomenalen Welt von Raum, Zeit und Kausalität und im Ich des Individuums. Im Gefolge der Unwissenheit entstehen auch alle negativen Aspekte wie Egoismus, Unwahrheit, Irrtum, Unrecht und das Übel. In diesem Prozess der Veräußerung bis hin zum reinen UnbewusstSiehe LD 33, 376; OYI 909. Joh. 1, 4. Hier wäre nochmal an die Bedeutung von Īśvara im Vedānta zu erinnern, der als die Verbindung von absolutem Brahman zur relativen Welt verstanden wird. Panikkar meint deshalb, dass die Rolle Īśvaras im Vedānta »funktionell der Rolle Christi im christlichen Denken« entspricht. Deshalb formuliert er seinen Kommentar zu Brahma-Sūtra I, 1, 2 wie folgt: »Das, von dem diese Welt ausgeht und zu dem sie zurückkehrt und wodurch sie erhalten wird, das ist Īśvara, Christus.« Panikkar, Christus im Hinduismus, 156. 73 Dieser Prozess wird ausführlich dargestellt in Kap. IV dieses Buches. 71 72
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Das Verständnis von Bewusstsein
sein haben sich die Saccidānanda durch die Māyā gleichsam eingehüllt. Sri Aurobindo nennt diesen Prozess auch Involution. Trotz der Involution bleiben aber die Saccidānanda unverändert. Die göttliche Bewusstseinskraft bleibt auch in der Materie präsent und bewirkt die Evolution. Die in der Materie wirkende Bewusstseinskraft setzt die darin vorhandenen Kräfte frei und führt zur Entfaltung der nächsthöheren Grade des Seins: Leben, Seele, Mind. In der Evolution kommt dem Menschen eine zentrale Rolle zu, weil in ihm als mentalem Wesen Bewusstsein auftritt. Der Mensch ist bewusste Person und wird als solche zum Wendepunkt der Evolution. Im Menschen überwindet das Bewusstsein seine Selbstverlorenheit in der Materie und im Bereich des Lebens. Der im Menschen auftauchende bewusste Puruṣa bestimmt nun die weitere Evolution bewusst. Sri Aurobindo beschreibt drei Transformationen auf dem Weg zur supramentalen Vollendung. 74 Die psychische Transformation führt dazu, dass sich der Mensch von seinem »Ego« loslöst und sich völlig dem Höchsten Wesen übergibt. In der spirituellen Transformation wird der Mensch der höheren Ebenen des Bewusstseins gewahr. Zugleich werden die für den Mind vorher überbewussten Erfahrungen immer häufiger. Der Aufstieg ist begleitet von der Herabkunft der höheren Kräfte in das menschliche Leben. Die supramentale Transformation vollzieht sich nicht mehr durch die Anstrengung des Menschen, der sich aus der Involution befreit, sondern durch die Herabkunft des Supermind. Durch den Supermind erfüllen die unendlichen Saccidānanda die endliche Welt. Der Mensch wird zu einem supramentalen Wesen, zu einem gnostischen Individuum. Er erkennt und weiß jetzt durch Identität. Weil der Weg zur supramentalen Transformation so schwierig ist, offenbart sich der Gott selbst immer wieder im Laufe der Geschichte als Avatar. Er nimmt menschliche Gestalt an und zeigt, wie der Mensch seine Begrenztheit überwinden und zu einem supramentalen Wesen werden kann. 75 Es gibt immer wieder Bestrebungen, die Menschheit weiterzuentwickeln. Der Transhumanismus will die von der Natur gegebenen Grenzen menschlicher Möglichkeiten mit Gentechnik und Gehirn-Computer-Schnittstellen beliebig verändern und den Menschen mit Technologie nach Bedarf und Zielsetzung völlig umgestalten. Diese Bestrebung bleibt dem menschlichen Machbarkeitsstreben verhaftet und hat nichts gemein mit den von Sri Aurobindo vorgestellten Transformationen. Siehe Rager, Leiblichkeit und Freiheit. 75 Eine wichtige Stufe auf dem Weg zum Supermind ist der Overmind, der in Kap. IV beschrieben wird. 74
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
4.4 Bewusstsein und Evolution Es gibt zweifellos einige Parallelen zu den Intuitionen von Teilhard de Chardin über Evolution. Für Teilhard ist der evolutionäre Aufstieg von der Urmaterie zum Bewusstsein nur möglich, wenn die Urmaterie bereits beseelt ist und diese psychischen Fähigkeiten in ihrer Höherentwicklung entfalten kann. Im Bewusstsein des Menschen wird die Materie schließlich ihrer selbst bewusst. Somit bedeutet das Auftreten des Menschen einen Wendepunkt von der Biosphäre zur Noosphäre. Der Mensch wird von jetzt an der Träger der weiteren Entwicklung. Die menschlichen Kulturen werden sich zu einer einzigen Weltkultur entwickeln, zum Punkt Omega. Der Punkt Omega »wird deutlich werden, wenn die Noosphäre mit ihrer persönlichkeitsbildenden Kraft der Synthese sowohl ihre einzelnen Elemente wie sich selbst als Ganzes zur Persönlichkeit gerundet haben wird. Er liegt da, wo die Noosphäre, in kollektivem Zusammenwirken, ihren Konvergenzpunkt erreicht – am ›Ende der Welt‹«. 76 Der Punkt Omega ist das Zentrum der ans Ziel gelangten Entwicklung. Theologisch wird er interpretiert als Einigung durch Jesus Christus. »Christus als Prinzip universeller Lebenskraft […] ist seit je dabei, den allgemeinen Aufstieg des Bewusstseins, in den er sich hineingestellt hat, unter sich zu beugen, zu reinigen, zu leiten und aufs höchste zu beseelen.« 77 Karl Rahner setzt ebenfalls die »evolutive Weltanschauung« 78 als gegeben voraus, versucht aber zugleich, »Theoreme zu vermeiden, die von Teilhard de Chardin her geläufig sind«. Naturwissenschaftliche und philosophisch-theologische Überlegungen sollen nicht vermischt werden. Rahner will nur das überlegen, was eigentlich jeder Theologe sagen könnte, wenn er der evolutiven Weltanschauung begegnet. Die Methode von Rahner ist eine »transzendentale Christologie«, d. h. eine apriorische Lehre vom Gottmenschentum. Diese beruht auf dem geschichtlichen Ereignis, dass »das Wort, der Logos Fleisch geworden ist«, und fragt nach der Bedingung der Möglichkeit dieses Ereignisses. Rahner geht von der Einheit von Geist und Materie aus. Der Mensch ist »das Seiende […], in dem die Grundtendenz der Selbstfindung der Materie im Geist durch Selbsttranszendenz zu
76 77 78
Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, 281. Ebd. 305. Rahner, Grundkurs, 180.
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Das Verständnis von Bewusstsein
ihrem definitiven Durchbruch kommt« 79. Geist und Materie bilden im Menschen eine Einheit. Die Materie entwickelt sich in ihrem inneren Wesen auf den Geist hin. Was in der thomistischen Philosophie aktive Potenz heißt und die Möglichkeit bedeutet, das in einem Seienden Angelegte zu entfalten, nennt Rahner Selbttranszendenz. Der Begriff der aktiven Selbstranszendenz meint, dass »ein Seiendes und Wirkendes seine ausstehende höhere Vollkommenheit aktiv einholt« 80. Der Begriff der Selbsttranszendenz geht insofern über den Begriff der aktiven Potenz hinaus, als er »auch die Transzendenz ins substantiell Neue, den Sprung zum Wesenshöheren« einschließt. In diesem Sinne wird der Materie und dem Kosmos die Befähigung zur aktiven Selbsttranszendenz zugeschrieben. Über eine immer höhere, komplexere Organisation führt die Selbstranszendenz der Materie schließlich zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein, welche im Menschen in Erscheinung treten. Das Ziel der weiteren Transzendenzbewegung des Menschen ist die absolute Wirklichkeit Gottes. Die Transzendenzbewegung auf Gott hin verläuft aber nicht automatisch, sondern ist die Geschichte des freien Geistes. Trotz und in der Freiheit des Menschen finden Kosmos und Mensch in Gott ihre Vollendung. Diese Bewegung auf die Vollendung hin hat ihren Grund in der unmittelbaren »Selbstmitteilung Gottes an die geistige Kreatur« 81, was wir »Gnade« nennen. Die Selbstmitteilung Gottes geschieht durch den »Heilbringer«. Der absolute Heilbringer aber ist Jesus Christus. In der Inkarnation wird Gott ganz Mensch. Es besteht aber eine wichtige Differenz zwischen Teilhard de Chardin und Karl Rahner einerseits und Sri Aurobindo andererseits. Während die spirituelle Evolutionslehre von Teilhard de Chardin und Karl Rahner eingebettet ist in das biblische Heilsgeschichtsdenken und einen linearen Fortschritt vom Anfangspunkt Alpha zum Endpunkt Omega beschreibt, ordnet Sri Aurobindo seine Evolutionslehre in die indische Idee der ewigen Wiederkehr ein. Es gibt keinen Anfangs- und Endpunkt. Der Prozess der Vergeistigung und Vergöttlichung ist ein Teil des göttlichen Weltspiels (Līlā). Auf das Ende der Evolution folgt wieder die Involution. Involution und Evolution wiederholen sich in unendlicher Weise. 82 79 80 81 82
Ebd. 182. Ebd. 186. Ebd. 191. Gantke, W., Aurobindos Philosophie, 81–2.
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
Fassen wir die Darstellung der Bewusstseinsproblematik zusammen. Der Blick auf die Untersuchungen der europäischen Philosophie hat gezeigt, dass Bewusstsein ein primäres Phänomen ist, hinter das man nicht zurückgehen, das man durch nichts anderes erklären kann. Das transzendentale Bewusstsein ist der Ermöglichungsgrund für die synthetischen Funktionen des Verstandes, die unser Erkennen leiten. Nach Kant ist es die oberste Einheit der Selbstapperzeption oder das Bewusstsein überhaupt. Als solches ist es die oberste einheitsstiftende Instanz des empirischen Bewusstseins. Bei Husserl wird das transzendentale Bewusstsein zum konstitutiven Boden aller Seinssetzung. Für die empirischen Neurowissenschaften ist klar, dass man zwar im Nervensystem Korrelate für Bewusstseinsakte finden kann, dass sich aber aus solchen Befunden Bewusstsein nicht ableiten lässt. Bewusstsein lässt sich nicht auf physiko-chemische Prozesse reduzieren, sondern geht allen Reduktionsversuchen voraus. Deshalb ist für den molekularbiologisch ausgebildeten Matthieu Ricard Bewusstsein ein primäres Phänomen, das sich nicht von etwas anderem ableiten lässt. Diese Analysen führen uns bereits in die Nähe der Bewusstseinsphilosophie von Sri Aurobindo. Für ihn ist Bewusstsein eine göttliche Wirklichkeit, die in der göttlichen Dreiheit von Saccidānanda gründet und als Bewusstseinskraft die Welt schafft. Diese Bewusstseinskraft ist auch in der Materie involviert und bewirkt die evolutionäre Entfaltung des Bewusstseins. Das Auftreten des Menschen wird zum entscheidenden Wendepunkt in der Evolution. Der Mensch wird fähig zur supramentalen Transformation. Die supramentale Transformation umfasst zwei Bewegungsrichtungen, den Aufstieg zum Supermind und die Herabkunft des Supermind als Gnade und in der Gestalt von Avataren. Die göttliche Gnade spielt eine wesentliche Rolle. »Wer den Unendlichen erwählt, ist selbst vom Unendlichen erwählt worden« (OYI 59–60) 83. Die Triebkraft der Evolution führt zurück zum reinen Bewusstsein, zum Wissen der Saccidānanda. Von daher ergeben sich Parallelen zu Teilhard de Chardin, bei dem der Aufstieg des Bewusstseins zum Punkt Omega führt. Bei Karl Rahner steht die Inkarnation im Zentrum. Wenn Gott ganz und gar Mensch wird in Jesus Christus, dann treffen sich aktive Selbsttranszendenz der Materie hinauf zum Geist und Selbstmitteilung Gottes an den Kosmos und den Menschen. Übersetzung von Heinz Kappes, Sri Aurobindo. Die Synthese des Yoga, Bellnhausen über Gladenbach 1972, 63.
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Integraler Yoga und christliche Mystik
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Integraler Yoga und christliche Mystik
Die supramentale Transformation durch das göttliche Bewusstsein ist gerade im Kontext der Evolution eine großartige Vision. Sie wird vorbereitet durch den integralen Yoga. Der Mensch macht sich mit diesem Yoga dafür bereit. Je weiter er auf diesem Weg fortschreitet, desto mehr wird die göttliche Gnade wirksam und die persönliche Bemühung verliert an Bedeutung. In der psychischen Transformation beginnt bereits die innere Führung hin zur Erfahrung des Selbst und des göttlichen Herrn Īśvara. In der spirituellen Transformation kommt es neben dem Aufstieg und der Öffnung zu »einem höchsten geistigen Zustand« zugleich zur Herabkunft der höheren Kräfte in unser Leben. Die supramentale Transformation vollzieht sich nicht mehr durch menschliche Anstrengung. Mit ihr wird die unendliche Fülle der Saccidānanda zur Gegenwart in der Endlichkeit der Welt. Der Mensch entdeckt sein Personsein, sein Selbst, das eins ist mit ātman und so letztlich auch mit der göttlichen Wirklichkeit. Das so realisierte supramentale oder gnostische Wesen löst sich aber nicht einfach in diese allumfassende göttliche Wirklichkeit auf. Es bleibt als individuelle Person bestehen, die in Freiheit und Liebe (ānanda) dem personalen Gott begegnet. Die Kernaussage dieser Transformation, die letztlich nicht durch die Anstrengung des Menschen, sondern durch die göttliche Herabkunft geschieht, begegnet uns im Neuen Testament. Jesus weiß sich eins mit dem Vater. »Ich und der Vater sind eins«. 84 Der Apostel Paulus erfährt seine Umwandlung in das göttliche Leben hinein. Seine Christus-Erfahrung beschreibt er so: »nicht mehr ich lebe, sondern Christus in mir.« 85 Die große Erfahrung der christlichen Mystiker auf ihrem Weg zur Begegnung mit Gott führt nach innen, zum Selbst. Nach langer Suche entdeckt Augustinus: »Gehe nicht nach draußen, sondern kehre zu dir selbst zurück; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit«. 86 In seinen Bekenntnissen drückt er seine Gottes-Erfahrung so aus:
Joh. 10, 30. Brief des Apostels Paulus an die Galater 2, 20. 86 »Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas.« Augustinus, De vera religione, 39, 72. 84 85
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
»Du aber warst noch innerer als mein Innerstes und höher noch als mein Höchstes«. 87 Wir beschränken uns hier auf die Darstellung der mystischen Erfahrung der Teresa von Avila (1515–1582), die in so ausführlicher wie auch klar verständlicher Weise ihren Weg zur Christus- und Gottes-Begegnung beschreibt. Deshalb wurde sie auch als erste Frau 1970 zur Kirchenlehrerin ernannt (Papst Paul VI). 88 Die Gebetsformen der Karmeliterinnen des Menschwerdungsklosters in Ávila waren nicht das, was Teresa suchte. Über das »Dritte geistliche Abecedarium« des Franziskaners Francisco de Osuna (1527) fand sie schließlich zum inneren oder kontemplativen Gebet. 89 Von da an ging sie ihren eigenen Weg der mystischen Erfahrung, unterstützt von einigen ihrer Beichtväter, von dem wesentlich jüngeren Johannes vom Kreuz und insbesondere von Jerónimo Gracián, der in den entscheidenden Jahren Provinzial des nach den Anleitungen von Teresa reformierten Ordens der unbeschuhten Karmeliter war. Im Auftrag ihres Beichtvaters, des Dominikaners Domingo Báñez, sollte sie eine Gebetslehre für die neuen Klöster schreiben. Daraus ging ihre Schrift über das Vaterunser hervor. Jerónimo Gracián beauftragte sie zu ihrem großen Werk der »Inneren Burg«, das Teresa 1577 in nur sechs Monaten verfasste. Entscheidend an ihren Schriften ist, dass sie im Unterschied zur wissenschaftlichen Theologie eine Theologie der Erfahrung darstellen. 90 Die »Innere Burg« wird als »Gipfel christlicher Mystik« bezeichnet. 91 Teresa vergleicht die Seele mit einer Burg. Eigentlich besteht die Burg aus vielen Palästen, die Teresa Wohnungen nennt. Jeder dieser Paläste hat »schöne Gärten, Springbrunnen, labyrinthische Wandelgänge«. Die Unzahl von Wohnungen reduziert Teresa auf die heilige Siebenzahl. Die Wohnungen liegen kugelförmig um eine Mitte herum. »In der Mitte aber befindet sich die Wohnung, auf die sich alles zubewegt. Hier wohnt der große König, der wie eine Sonne die Pa-
»Tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo«. Augustinus, Confessiones, III, 6, 11. 88 Aktuelle Gesamtausgabe: Teresa von Ávila, Werke und Briefe. 89 Osuna war beeinflusst durch die Tradition der mystischen Theologie, wie sie durch Dionysius Areopagita (um 600) ins Abendland gekommen war. Lorenz, Weg in die Weite, 16. 90 Lorenz, Weg in die Weite, 48 ff. 91 Delgado, Pfeifen der Hirten. 87
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Integraler Yoga und christliche Mystik
läste und Gemächer durchstrahlt«. 92 Der König aber ist Christus. Auf dem Weg zu dieser Mitte durchschreitet der Mensch die ersten beiden Wohnungen, in denen es um die Läuterungen der Seele geht. »Erst in der dritten Wohnung kommt es zum Gebet der Sammlung, in der vierten Wohnung zum Gebet der Ruhe«. 93 Die vierte Wohnung 94 ist die entscheidende »Umschaltstelle zwischen dem eigengewirkten ›Natürlichen‹ und dem gottgewirkten ›Übernatürlichen‹«. 95 Als guter Hirte lässt der hohe König seine Stimme erkennen mit einem sanften Lockruf, der aber eine solche Macht hat, dass er die Seele in die Burg zurückführt, wenn äußere Dinge sie in die Fremde gezogen hatten. 96 An dieser Stelle nimmt Teresa ausdrücklich Bezug auf Augustinus. Von jetzt an liegt die Initiative ganz bei Gott. In der fünften Wohnung wird die Seele angehalten, gute Werke zu vollbringen. In der sechsten Wohnung kommt es zur Verlobung mit Christus, dem großen König. Die Verlobung ist zugleich eine Prüfungszeit. Im Laufe dieser Läuterung wird der Geist klar. In der siebten Wohnung schließlich hören die mystischen Phänomene auf. Die Gottesnähe wird nun ertragen. Es kommt zur Vermählung, zur Ehe, zur Unio mystica mit Gott. Vermählung bedeutet im Gegensatz zur Verlobung in der sechsten Wohnung, dass die Verbindung der Seele mit Gott untrennbar geworden ist. »In dieser [siebten] Wohnung führt er [Gott] ihr [der Seele] die Wahrheit mittels einer geistigen [bildlosen] Vision vor Augen. Er zeigt ihr die Heilige Dreifaltigkeit, alle drei Gestalten […]. So macht die Seele die wunderbare Erfahrung, dass diese drei Personen verschieden und doch nur eine Wesenheit sind, eine Macht, ein Wissen und ein einziger Gott. Was wir durch den Glauben kennen, versteht sie hier in einer Schauung«. 97 Teresa vergleicht ihre Erfahrung der Dreifaltigkeit mit dem Lodern des dreifaltigen Feuers der Liebe. Ähnlich drückt es Johannes vom Kreuz in seinem Werk »Lebendige Flamme der Liebe« aus. 98 In ihren Berichten Lorenz, Weg in die Weite, 69. Lorenz, Weg in die Weite, 69. 94 Delgado, Pfeifen des Hirten, gebraucht immer den Plural »Wohnungen«, was den Vorstellungen von Teresa entspricht, die jeder Stufe viele Wohnungen zuordnet. 95 Lorenz, Weg in die Weite, 69. 96 Teresa 4M 3, 2. M steht für Moradas del Castillo interior / Wohnungen der inneren Burg. Delgado benutzt den Ausdruck »das zarte Pfeifen des Hirten« statt »Lockruf des Hirten«. Delgado, Pfeifen des Hirten, 154 ff. 97 Teresa 7M 1. 98 Lorenz, Weg in die Weite, 81; Delgado, Pfeifen des Hirten, 217 f. 92 93
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
(Relaciones) schreibt Teresa, dass die bildhaften Visionen ganz aufgehört haben, »aber die bildlose unmittelbare Erkenntnisvision der Heiligen Dreifaltigkeit mit der Menschheit Christi ist zum Dauerzustand geworden«. 99 Die Ähnlichkeiten der mystischen Wege von Teresa von Avila und von Sri Aurobindo sind offensichtlich. Für beide sind nicht die Begriffe, sondern die Erfahrung die Grundlage ihres Redens von Gott. Der spirituelle Weg beginnt mit der eigenen Bemühung, integraler Yoga bei Sri Aurobindo, der Prozess der Läuterung bei Teresa. Doch schon in der eigenen Bemühung ist Gott der Haupthandelnde. Mit dem Fortschreiten der spirituellen Umwandlung – bei Sri Aurobindo der Aufstieg zum Supermind, bei Teresa nach dem Durchschreiten der vierten Wohnung – übernimmt Gott immer mehr die Führung. In den letzten drei Wohnungen geht es um das »Empfangen der gottgeschenkten conformatio« 100 bis hin zur höchsten Stufe, der geistlichen Vermählung in der siebten Wohnung. Die unio mystica mit Christus oder die Erfahrung der Einheit von ātman und saccidānanda markieren den Endpunkt des Weges. Die Vereinigung der menschlichen Person mit der göttlichen Person ist aber »nicht Verschmelzen, Untergehen im namenlosen Ozean des Göttlichen, sondern ist Einheit, die Liebe schafft, in der beide – Gott und der Mensch – sie selbst bleiben und doch ganz eins werden«. 101 Die Liebe – ānanda bei Sri Aurobindo – wird zum höchsten Ausdruck der Gottesbeziehung. In ānanda gründet die Person.
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Würdigung der Philosophie von Sri Aurobindo
Wenn wir zum Schluss eine Würdigung versuchen, dann wollen wir schweigen von der Größe der Person und uns beschränken auf die Größe des Werkes. Wir tun dies unter drei Rücksichten, welche sich gegenseitig durchdringen: das Neue gegenüber der indischen Tradition, die Größe dieser Philosophie in sich und ihre Bedeutung für uns.
Teresa, R [Relaciones / Berichte], 6. Delgado, Pfeifen des Hirten, 113. Conformatio meint Christusförmigkeit. 101 Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Deus caritas est (Nr. 10, 25. 12. 2005). 99
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Würdigung der Philosophie von Sri Aurobindo
6.1 Im Verhältnis zur indischen Tradition Sri Aurobindos Philosophie ist in ihrem letzten Wesen eine Philosophie der Person. Die Herausarbeitung der Personalität Gottes stellt kein Novum in der Geschichte Indiens dar. Sie hat viele Vorläufer. Aber die Erkenntnis menschlichen Personseins eröffnet eine neue Dimension. 102 Sie lässt uns staunen über die Konsequenz, mit der sie durchgeführt ist, und über die zentrale Stelle, die sie im Gesamt des Werkes einnimmt. Wir sprechen mit Nachdruck von einer Philosophie der Person, weil die Natur oder Bewusstseins-Kraft die Natur der Person ist, sei es der transzendenten, sei es der individuellen Person; und weiter deshalb, weil die Evolution auf die Personalisierung des Seins zuwächst, weil das Ende der Geschichte nicht ein Unpersönliches ist, Kraft, Bewusstsein oder Wirklichsein, sondern der transzendente Gott und die gnostischen Individuen. Die Welt geht aus von der Person und kehrt zurück zu ihr. Sri Aurobindo gelangt zu einer universalen Bejahung der Wirklichkeit und der Welt. Er überwindet jeden Nihilismus (Buddhismus), Illusionismus (Māyāvāda) und Spiritualismus, aber auch den Gegenpol des Materialismus. Es wäre überhaupt verfehlt, ihm irgendeinen »Ismus« anzuhängen. Er kritisiert das Mönchtum der Sannyāsin und lehrt dafür mit der Gita den inneren Verzicht, die innere Nicht-Verhaftung, tyāga. Damit nimmt er die weltbejahende Haltung des Veda und der Upaniṣaden wieder auf und prägt sie neu und vielleicht auch tiefer für unsere Zeit. Sri Aurobindo will nicht zuerst die Sorge um das persönliche Heil; sein Yoga ist für die Welt. »Lieber die Hölle mit dem Rest unserer leidenden Brüder als eine einsame Erlösung.« (KU 133) Sein Yoga zielt auf ein Leben aus Gott in der Welt. Die einzelnen Yoga-Disziplinen haben sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr auseinanderentwickelt. Sri Aurobindo hat sie neu integriert und sie unter das Prinzip der völligen Hingabe an den höchsten Herrn gestellt.
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Ich beziehe mich hierfür auch auf ein Gespräch mit A. B. Purani am 21. 11. 62.
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
6.2 Philosophie aus der Erfahrung In sich selbst ist Sri Aurobindos Philosophie groß, tief, umfassend und erleuchtend; sie ist philosophia perennis. 103 Sie hat ihren Grund in der Erfahrung und versteht sich für die Erfahrung. Sie ist deshalb wirklichkeitsnah und allen müßigen Spekulationen abhold; sie nimmt sich auch der einfachen Probleme des Lebens, der Kultur, der Politik und der Erziehung an, und versucht, diesen eine neue Orientierung zu geben ausgehend von der Konzeption des »Lebens aus Gott in der Welt«. Die lebendige und fast poetisch-schöne Sprache fügt zum geistigen Erlebnis ein ästhetisches. Sri Aurobindo ist einer der wenigen, die in so ausdrücklicher und konsequenter Weise die Einheit der Welt im Geist und in der Gesellschaft gesichtet und gefördert haben.
6.3 Bedeutung dieser Philosophie für uns Für uns bedeutet Sri Aurobindos Philosophieren eine Kritik, weil – wie wir bereits im Kapitel über die »Methode« festgestellt haben – sein Fundament die »Erfahrung« ist. Das Denken Sri Aurobindos – und Indiens überhaupt – eröffnet uns neue Kategorien, die Kategorien der Subjektivität. Es orientiert sich zuerst am Menschen, weil der Mensch das erhabenste Gleichnis Gottes ist, weil sich im Menschen am meisten das Sein lichtet. 104 Sri Aurobindo denkt endlich auf Zukunft hin. Philosophie kann sich nicht damit begnügen, Prinzipien und Kategorien zu beschreiben. Sie muss weiterdenken und fragen: Welchen Anspruch stellt die Erkenntnis an uns? Worin findet die Bewegung unseres individuellen Lebens und des Lebens der Menschheit ihr Ziel? Woraufhin kann sie sich in Hoffnung und Kraft der Verwirklichung ausspannen? Die Philosophie darf diese Problematik nicht abschieben, wenn sie nicht rein akademisch sein will unter Verzicht auf ihren natürlichen Anspruch, das Licht für das suchende Bewusstsein der Menschen zu sein. 105 103 Vgl. Chaudhuri: The Integral Philosophy of Sri Aurobindo, in dem Sammelband gleichen Titels, 17–34. Hier wird besonders die Integralität seiner Philosophie hervorgehoben. 104 Martin Heidegger. 105 Wenn wir auf die gegenwärtige Geistesverfassung des Westens blicken, dann stehen wir vor einem bunten Pluralismus und einer fast hoffnungslosen Divergenz der Meinungen. Es fehlt die tragende und allgemein anerkannte Idee, welche uns eine
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Würdigung der Philosophie von Sri Aurobindo
Weil Sri Aurobindo westliche Bildung und indische Geist-Erfahrung in sich vereinigt, bietet er uns eine einzigartige Chance, durch seine Vermittlung das indische Denken kennenzulernen. Es wäre an der Zeit, dass diese Begegnung mit uns bisher fremden Geisteswelten nicht nur eine Theologie, sondern auch eine Philosophie des Weges hervorbringt, 106 welche uns zu einer Einheit des Geistes führt, die alle Mannigfaltigkeit in sich birgt. Es gäbe sehr viele gemeinsame Punkte zwischen Sri Aurobindo und europäischen Philosophen. 107 In jüngster Zeit ist es besonders Teilhard de Chardin, der zu einem Vergleich herausfordert. Die westliche Tiefenpsychologie könnte viele Anregungen und weiterführende Perspektiven bei Sri Aurobindo erfahren, während sie selbst das naturwissenschaftliche Instrumentarium einbringt. Es wäre wichtig zu prüfen, ob Sri Aurobindos Interpretation des Veda richtig ist. Das hätte gewaltige Folgen für die Beurteilung der dazwischen liegenden indischen Philosophie. Schließlich könnte Sri Aurobindos Bemühung um eine integrale Erziehung auch nach Europa anregend ausstrahlen. Schlussgedanke: Melchisedech In der Genesis (XIV, 18–20) wird berichtet, wie Abraham, der von Gott auserwählt war, den Segen von Melchisedech empfängt, »einem Priester des höchsten Gottes«, aber nicht aus dem jüdischen Volke. Christus Jesus ist nicht nur Jude, sondern zugleich »Priester nach der Ordnung des Melchisedech« (Hebr. V. 10). 108 Diese Tatsache ist wegweisend. Unsere jetzige Form des Christseins braucht den geistigen Zuwachs durch die »Nicht-Christen«; unsere europäische Philosophie ist angewiesen auf die Kommunikation mit dem Wahrheitssuchen der anderen Völker; denn die Wahrheit ist eine und allumfas-
positive Konzeption der Zukunft und eine sinnvolle Anstrengung auf diese hin ermöglicht. Freiheit droht zu einem leeren Begriff und zu einem Synonym für Wohlstand zu werden. – Es wäre freilich nichts getan, wollte man Festigkeit eines Standpunktes um ihrer selbst willen erstreben. Allein eine Synthese, welche aus dem entspringen-lassenden Grund des Geistes hervorkommt, vermag die Gegensätze zu überwinden und die Menschheit weiterzuführen. 106 Im Sinne von Söhngen: Der Weg der abendländischen Theologie. 107 Siehe Abschnitt »Sri Aurobindo und die westliche Philosophie« in diesem Kapitel. 108 Vgl. Panikkar, Eine Betrachtung über Melchisedech, 5–17.
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VII · Versuch einer Kritik und Würdigung
send. »Das Christentum ist nicht einfach eine andere Religion. Es ist die Religion und die Erfüllung aller Religionen. Christus ist nicht allausschließend, sondern all-einschließend und all-umarmend. Er kam nicht, zu zerstören […], sondern zu erfüllen und zu erlösen.« 109
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Panikkar, ebd. 14.
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Glossar wichtiger Sanskrit-Begriffe
Advaita-Vedānta : A-dvaita bedeutet Nicht-Zweiheit. Bedeutendster Vertreter ist der Philosoph Śamkara (788–820 n. Chr.). Diese Richtung des Vedanta wird häufig als Monismus verstanden, obwohl der Begriff a-dvaita gerade den Begriff Monismus vermeidet. Ahaṃkāra : wörtlich Ich-Macher; der Ich-Sinn. Akṣara : unbeweglich; unveränderlich. Aṃśaḥ sanātanaḥ : ewiger Teil. Ananda, ānanda : Seligkeit, Wonne, Freude. Ananta : unendlich. Anantaguṇa : unendliche Qualität. Antaḥ-karaṇa : inneres Wesen; innere Organisation. Aparārdha : niedrigere Hemisphäre. Ātman : das Selbst; der Geist; das innerste Wesen von allem Seienden. Avatar, avatāra : Inkarnation; göttliche Herabkunft in Menschengestalt. Avidyā : Unwissenheit. Bhakti : Liebe zum Göttliche Wesen. Bhaktiyoga : Yoga der Hingabe an Gott. Bhedābheda : Verschiedenheit und Nicht-Verschiedenheit. Brahman : die universale, allgegenwärtige Wirklichkeit Gottes. Brahman leitet sich ab aus der Wurzel barh, welche bedeutet: Anwachsen, Sich-entfalten. Buddhi : Intellekt; Vernunft; das unterscheidende Prinzip. Chaitya Purusha, caitya puruṣa : psychische Person; psychisches Wesen. Chakra, cakra : Kreis; subtiles Zentrum; Zentrum des Bewusstseins im feinstofflichen Körper. Cit : Bewusstsein. 251 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Glossar wichtiger Sanskrit-Begriffe
Cit-śakti : Bewusstseinskraft. Dharma : das, was die Dinge zusammenhält; Gesetz. Gunas, guṇas : die drei guṇas sind Konstituenten oder Eigenschaften der niedrigeren prakṛti, nämlich sattva, rajas und tamas. Ishvara, īśvara : der absolute Gott und Herr. Jñāna : Wissen; Weisheit; direktes Gewahrsein des Höchsten Wesens. Jñānayoga : Yoga des Wissens. Jīva : lebendes Wesen; der individuelle Geist. Jīvātman : das individuelle Selbst; der ātman des lebenden Wesens. Karma : Handlung; Werk. Karmayoga : Yoga des wunschlosen Handelns. Krishna, kṛṣṇa : eine Gottheit; der Herr der Liebe; eine Inkarnation von Viṣṇu. Kṣara : beweglich; veränderlich. Kuṇḍalinī : eingerollte und schlafende Schlange der inneren Energie. Līlā : das Weltspiel. Manas : innerer Sinn, mind (sense-mind); Verstand. Maya, māyā : im Veda ursprünglich das umfassende und schöpferische Wissen. Vidya māyā: māyā des Wissens. Avidya māyā: māyā der Unwissenheit. Māyāvāda : eine Lehre, gemäß welcher die Welt Illusion ist. Mukti : Befreiung. Nāḍī : feinstoffliche Energieleitbahnen im Körper. Nirguṇa : ohne Eigenschaften; das Unpersönliche. Nirguṇa brahman: der nicht-personale Gott. Nirvāṇa : Auslöschung. Nyāya : eines der sechs klassischen Systeme (darśana) der indischen Philosophie. Parameśvara : höchster īśvara, göttliche Person. Parārdha : höhere Hemisphäre. Prajñāna : erfassendes Bewusstsein.
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Glossar wichtiger Sanskrit-Begriffe
Prakriti, prakṛti : Natur; aparā prakṛti: niedrigere Natur; parā prakṛti: höchste Natur; göttliche Natur. Prāṇāyāma : Kontrolle der Atmung. Purna yoga, pūrṇa yoga : integraler Yoga. Purusha, puruṣa : Person; bewusstes Wesen. Purushottama, puruṣottama : die höchste göttliche Person. Rajas : Bewegendes; Anregendes; Leidenschaftliches. Rājayoga : mentale Askese zur Öffnung für das göttliche Leben. Saccidānanda : Vereinigung der substantivierten Tunwörter sat (Sein), cit (Wissen), ānanda (Seligsein). Trinität von Existenz, Bewusstsein und Seligkeit. Höchster Begriff von Gott. Sādhanā : Praxis des Yoga. Saguṇa : mit Eigenschaften; das Persönliche. Saguṇa brahman: der personale Gott. Saḥ : Er. Samādhi : Versenkung. Mahā samādhi: die große Versenkung. Saṁjñāna : Kontakt des Bewusstseins mit seinem Objekt; supramentaler Sinn. Sāṃkya : eines der sechs klassischen Systeme (darśana) der indischen Philosophie. Sanātana dharma : das ewige Gesetz; die ewige Religion. Sat : reines Sein; Existenz. Shakti, śakti : Energie; Macht; Wille. Schafft alle göttlichen Werke sowohl dem Entwurfe nach als auch in der dynamischen Erzeugung. Shraddha, śraddhā : Glaube. Siddhi : Vervollkommnung. Sṛṣṭi : Schöpfung; Hervorbringung des innen Enthaltenen. Suṣumṇā : zentrale Energieleitbahn (nāḍī), die entlang dem Rückenmark durch die cakras läuft. Swabhava, svabhāva : Eigen-Sein; Selbst-Sein. Swadharma, svadharma : eigenes Gesetz des Handels. Tamas : Dunkles; Schweres; Hemmendes. Tapas : Hitze; jede Art von Askese. Tat : Dieses (das Absolute). Tattva : Dasheit; fundamentales kosmisches Prinzip. Die zehn objektiven tattvas sind die elementaren Bedingungen der Materie oder 253 https://doi.org/10.5771/9783495817780 .
Glossar wichtiger Sanskrit-Begriffe
Energie. Zu den dreizehn subjektiven tattvas gehören auch Manas, Ahankara und Buddhi. Upanishad, upaniṣad : inneres Wissen; Sammlung philosophischer Schriften des Vedānta. Vāsudeva : ein Name für Kṛṣṇa. Bedeutet das göttliche Wesen, das allgegenwärtige Seiende. Veda : Wissen von Gott. Allgemeiner Name für die ältesten heiligen Schriften Indiens. Vedānta : wörtlich: Ende oder Höhepunkt des Veda. Gemeint sind damit vor allem die Upanishaden. Eines der sechs klassischen Systeme (darśana) der indischen Philosophie. Vibhūti : göttliche Kraft; Macht. Vidyā : Wissen; Wissen in seinem höchsten spirituellen Sinn. Vijñāna : göttliche Intelligenz; Supermind; umfassendes Bewusstsein. Vishishtadvaita-Vedanta, Viśiṣṭādvaita : qualifizierter Nicht-Dualismus. Gott existiert als höchste Wirklichkeit. Die Welt bleibt als Erscheinungsform des Gottes Realität und ist nicht Illusion wie bei Śamkara. Das höchste Wesen ist Person. Hauptvertreter ist Rāmānuja (etwa 1050–1137 n. Chr.). Vishnu, Viṣṇu : die alles durchdringende Gottheit. Yoga : eines der sechs klassischen Systeme (darśana) der indischen Philosophie. Yoga als Praxis: Verbinden, Vereinigung. Yogamāyā : die Macht des göttlichen Bewusstseins; die göttliche Bewusstseins-Kraft.
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Literatur
Abkürzungen der zitierten Literatur ICEC AA
E EU H HC HG HM IGM
IU KU LD MF OYI OYII.T1 OYII.T2 PR S
SriAurobindo InternationalCentre of Education Collection. Sri Aurobindo und sein Ashram, Arya Publishing House, Calcutta, 1948. Hier zitiert nach der Übersetzung von Heinz Kappes in »Integraler Yoga« Heft 1/1964. Diese Schrift ist integriert in der Gesamtausgabe »Complete Works of Sri Aurobindo« (CWSA), Band 35 »Letters on Himself and the Ashram« und in Band 36 »Autobiographical Notesand Other Writings of HistoricalInterest«. Essayson the Gita, Pondicherry,1959, Vol. VIIIICEC, Vol. 19 CWSA. EightUpanishads. Pondicherry,1960, Vol. 18 CWSA. Heraclitus. Calcutta,1947,Vol. 13 CWSA. The Human Cycle, Pondicherry, 41971, Vol. 25 CWSA. Deutsche Übersetzung»ZyklusdermenschlichenEntwicklung«,Gauting,1992. The Hourof God, Pondicherry,1959, Vol. 12 CWSA. SriAurobindoonHimselfandontheMother,Pondicherry,1953,Vol. I ICEC, Vol. 36 CWSA. Das Ideal einer geeinten Menschheit. Original: The Ideal of Human Unity, »Arya«. September 1915 – Juli 1918. In Buchform 1919, von Sri Aurobindo überarbeitete Fassung 1950, Vol. 25 CWSA. Deutsche Übersetzung von Heinz Kappes, Das Ideal einer geeinten Menschheit, Bellnhausen,1973. Isha-Upanishad. Pondicherry, 1951,Vol. 17 CWSA. Kena-Upanishad. Pondicherry,1952, Vol. 18 CWSA. The LifeDivine,Pondicherry, 1960,Vol. III ICEC, Vol. 21–22 CWSA. Hymns to the MysticFire, Pondicherry,1952, Vol. 16 CWSA. On Yoga I. The Synthesis of Yoga, Pondicherry, 1957, Vol. IV ICEC, Vol. 23–24 CWSA. On Yoga II. Tome One, Pondicherry, 1958, Vol. VI ICEC, Vol. 23–24 CWSA. On Yoga II, Tome Two, Pondicherry, 1958, Vol. VII ICEC. Die Artikel dieses Bandessind inden CWSAverteilt aufdie Bände28–31. The Problem of Rebirth, »Arya«, November 1915 – Januar 1921, 1. Ausg. 1952,Vol. 13 CWSA,255–434. Savitri. A Legend and a Symbol, Sri Aurobindo Ashram Pondicherry, 16 2006, Vol. 33–34 CWSA.
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Englische Gesamtausgabe Complete Works of Sri Aurobindo (CWSA) Complete Works of Sri Aurobindo (CWSA), Pondicherry, Sri Aurobindo Ashram, 37 Bände. Diese Gesamtausgabe wurde 1997 begonnen anlässlich des 125. Geburtstags von Sri Aurobindo und ist 2017 fast vollständig verfügbar über SABDA – Distributors of the Sri Aurobindo Ashram Publications. Sie ersetzt die I.C.E.C. Sri Aurobindo International Centre of Education Collection. Die Bände sind als PDF-Dateien erreichbar unter www.sriaurobindoashram.org/index.php. Sie können gelesen, aber nicht gedruckt werden. Volume 1 Volume 2 Volumes 3–4 Volume 5 Volumes 6–7 Volume 8 Volume 9 Volumes 10–11 Volume 12 Volume 13 Volume 14 Volume 15 Volume 16 Volume 17 Volume 18 Volume 19 Volume 20 Volumes 21–22 Volumes 23–24 Volume 25
EarlyCultural Writings Collected Poems Collected Playsand Stories I-II Translations BandeMataram I-II Karmayogin Writingsin Bengaliand Sanskrit The Recordof Yoga EssaysDivine and Human Essaysin Philosophyand Yoga Vedic and PhilologicalStudies The Secretof the Veda Hymns to the MysticFire Upanishads-I: IshaUpanishad Upanishads-II:Kena and Other Upanishads Essayson the Gita The Renaissance inIndiawith aDefense of Indian Culture The LifeDivine – I-II The Synthesisof Yoga – I-II The Human Cycle– TheIdeal of Human Unity – War and SelfDetermination Volume 26 The FuturePoetrywithOnQuantitative Metre Volume 27 Letterson Poetryand Art Volumes 28–31 Letterson YogaI-IV Volume 32 The Mother withLetterson theMother Volumes 33–34 Savitri –ALegend and aSymbol Volume 35 Letterson Himselfand the Ashram Volume 36 AutobiographicalNotesandOtherWritingsofHistoricalInterest Volume 37 Reference Volume
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Literatur
Collected Works of the Mother (CWM) Collected Works of the Mother (CWM) in 17 Bänden. Adresse wie bei CWSA. Volume 1 Volume 2 Volume 3 Volume 4 Volume 5 Volume 6 Volume 7 Volume 8 Volume 9 Volume 10 Volume 11 Volume 12 Volumes 13–15 Volume 16 Volume 17
Prayers and Meditations Words of Long Ago Questionsand Answers 1929–1931 Questionsand Answers 1950–1951 Questionsand Answers 1953 Questionsand Answers 1954 Questionsand Answers 1955 Questionsand Answers 1956 Questionsand Answers 1957–1958 OnThoughtsand Aphorisms Notes onthe Way OnEducation Words of the Mother Some Answersfrom the Mother More Answersfromthe Mother
Sekundärliteratur Sri Aurobindo, Der integrale Yoga. Erstmalig aus seinen Werken übersetzt. Mit einem Essay »Zum Verständnis des Werkes« und einer Bibliographie von Otto Wolff, Hamburg 1957. Sri Aurobindo, Die Mutter, Integraler Yoga. Texte in vierteljährlicher Folge, Karlsruhe 1964, Heft 1–4; 1965, Heft 1. Aristoteles, Metaphysik. Augustinus, Aurelius, Confessiones (Conf.). Bäumer, Bettina, Befreiung zum Sein. Auswahl aus den Upanishaden, Zürich – Einsiedeln – Köln 1986. Bhagavadgita, Des Erhabenen Sang. Übertragen von Leopold von Schroeder, Düsseldorf-Köln 1955. 28.–30. Tausend. Beckermann, Ansgar, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin 22000. Bohm, Werner, Chakras, München-Planegg 1953. Bolle, Kees W., Tantric Elements in Sri Aurobindo, in: NUMEN. International Review for the History of Religions, Vol. IX. Fasc. 2. September 1962, 128–42. Boss, Medard, Indienfahrt eines Psychiaters, Pfullingen 1959. Brugger, Walter, De anima humana, Pullach 1959. Brugger, Walter, Theologia naturalis, Pullach 1959. Brugger, Walter, Die Rolle der Weltidee in der Theologia Naturalis, in: Il Mondo, Brescia – Morcelliana 1960, 309–16. Caruso, Igor A., Bios, Psyche, Person, Freiburg – München 1957.
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Sachregister
Absolute 70, 82, 134, 201 Advaita 61, 82, 132 Advaita Vedānta 29, 61 Ahaṃkāra 23, 32 Ājñā 125 Akṣara 45, 47, 147 Akkord des Seins –, achtfacher 131 –, siebenfacher 130 All-Person 85 Ānanda 52, 65, 120, 139, 147, 150, 156, 173, 177, 211 Anāhata 125 Annamaya puruṣa 141 Aparā prakṛti 29 Apperzeption 234 –, ursprüngliche 234 Arya 190 Ascensus 176 Ātman 35, 60, 69 Avatar 40, 78, 230, 239 Avidyā 101 Avidyā-māyā 78 Avyaktam 21 Begierde 22, 105 Begriff –, Anstrengung des 180 Begriffe 198 Berührung –, Erkennen durch 117 Bewusstsein 63, 233 –, Definition 235 –, empirisches 234 –, erfassendes 95 –, intentional 235
–, primäres Phänomen 237 –, subliminales 64 –, transzendentales 234 –, umfassendes 95 Bewusstsein überhaupt 234 Bewusstseins-Kraft 61, 84, 96, 119, 161, 214 –, ausschließliche Konzentration der 99, 102 Bhagavadgita 44 Bhakti 161 Bhedābheda 206 Brahman 51, 55, 57, 70, 82, 85, 91, 134 Brāhmaṇas 35, 52 Brahmasūtra 31, 39 Bṛhadāranyaka 53 Buddhi 23, 109 Buddhismus 58, 71, 89, 159, 247 Caitya 97 Caitya puruṣa 97, 121, 140, 143, 218 Cakra 125 Causa finalis 219 Christentum 40 Christus 227, 238 Cit 52, 62 Cit-Śakti 27, 119 Consciousness –, unitarian 102 Consciousness-Force 62 Creatio a Deo 213 Creatio ex nihilo 213 Descensus 176 Deutscher Idealismus 215
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Sachregister Divine 50, 54 –, individual 73, 94, 102, 142, 146, 162 –, universal 94, 102 Dreiheit 81 –, dialektische 81 Dritte-Person-Perspektive 235 Dualismus 20 Ego 32–33, 105 Egoismus 22, 34, 105 Egoität 104 Einheit 74 Einheit-in-Mannigfaltigkeit 208 Einheitsprinzip 46 Endlichkeit –, unaufhebbare 152 Energie 21 Entfaltung –, lückenlose 128 Entität –, psychische 141 Epiphanie –, der Schöpfung 173 Erfahrung –, Anstrengung der 181 Erkennen –, er-fassendes 122, 170 –, um-fassendes 122, 170 Erkenntnis –, durch Identität 117, 199 –, integrale 158 Erkenntnisweise 88 Erklärungslücke 235 Erlösung 177 Erste-Person-Perspektive 235 Evolution 120, 129, 161, 239 –, Wendepunkt 242 Evolutionstheorie 126 Existenz 121 Freiheit 67, 151, 223, 225 Geheimnis –, bleibendes 177 Gehirn 123 Geist 21, 29, 43, 122, 164
Geschichtlichkeit 225 Gita 20, 32 Glaube 176 Gnade 176, 225 Gnosis 210 God 94 Gott 41, 43, 50, 94 Gottesbegriff 25 Gottgeburt 79 Guṇas 22 Hemisphäre –, höhere 131 –, niedrigere 131 Herabkunft 126 Hingabe 150 –, völlige 126 Ich-Verhaftung 105 Ignorance 22 Illusion 75 Illusionismus 26, 58, 89, 92 Illusionstheorie 71 Immanenz 76–77, 147 Individual –, spiritual 96 Individuen –, Gemeinschaft gnostischer 171 Individuum 73, 124, 217 –, geistiges 35, 73 –, gnostisches 153, 168 –, natürliches 73 –, wahres 116 Inkarnation 241 Innere Burg 244 Inspiration 89 Integralität 209 Intellekt 158 Intuition 110, 112, 159 Involution 120, 129, 239 Irrtum 105 Īśvara 31, 40, 53, 60, 84–85, 93–94, 135, 148, 238 Jaina 39 Jīva 34, 38–39, 94, 141–142, 162
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Sachregister Jīvātman 94, 141–143, 218 Jñāna 161 Karma-Gesetz 166 Karmayoga 166 Knowledge by identity 81 Korrelate –, neuronale 236 Krishna 195 Kṣara 45, 47, 147 Kuṇḍalinī 125 Leben 118, 131 –, Grade des 119 –, universales 118 Leib 124, 163 –, drei Arten 124 Liebe 150, 158, 208 Līlā 75, 211 –, Welt 102 Limitation 126–127, 130 Limitationsprinzip 38 Mahābhārata 33, 39 Manas 109 Maṇipūra 125 Manomaya puruṣa 141 Mantra 111 Material-Ursache 56 Materie 21, 121–122, 131, 239 Māyā 24, 28, 61–62, 214 Māyāvāda 26, 71, 89, 149, 247 Mensch 136 Mensch als Wendepunkt 161 Menschheit –, geeinte 174 Methode 180 –, Integralität der 207 Mind 108, 131 –, erleuchteter 111 –, höherer 111 –, universaler 127 –, universaler, kosmischer 114 Mokṣa 125 Mulādhāra 125 Mystik –, christliche 243
Naḍis 125 Natur 19, 43 Naturalismus 236 Neurowissenschaften 236 Nicht-Zweiheit 61 Nihilismus 71, 89 Nirguṇa brahman 43, 67 Nirguṇo-guṇī 83 Nirvaṇa 58, 161 Nirvana-Zustand 186 Noumenalismus 89, 92 Nṛsiṃhatāpani 53 Offenbarung 89 Overmind 114, 169, 193, 195 Panentheismus 80, 213 Panentheistic turn 215 Pantheismus 68, 71, 79, 214 –, emanativer 129 Parā prakṛti 21, 27, 29, 72 Parameśvara 143 Partizipation 198 Person 42, 54, 84, 136, 143–144, 150 –, absolute 32 –, göttliche 156 –, individuelle 36, 73, 146, 154 –, psychische 218 –, transzendente 36, 156 Persönlich 84 Persönlichkeit 33, 84, 143, 145, 153, 220 Personphilosophie 209, 247 Philosophie 190, 205–206 –, christliche 215 –, integrale 205 Politik 183 Potentia activa 219 Prajāpati 52 Prajñāna 95, 170 Prakṛti 19–20, 28, 43, 62, 221 –, höchste 21 –, niedrigere 21 Prāṇamaya puruṣa 141 Praśna Upaniṣad 33 Prinzipien des Seins 131 Prozess-Theologie 216
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Sachregister Punkt Omega 240 Puruṣa 20, 29, 60, 135, 162, 221 Puruṣottama 20, 31–32, 34, 40, 46, 54, 147 Quaternität –, göttliche 131 Rajah 22 Raum 103 Real-Idealismus 92, 205 Real-Idee 92, 130 Reduktion 236 –, phänomenologische 235 –, transzendentale 235 Relationalität 149 Relationen 41 Religion der Humanität 175 Ṛg-Veda 30, 35, 51 Rückkehr zu sich selbst –, vollkommene 152 Saccidānanda 52, 57, 91, 129–131, 150, 238 Saguṇa brahman 43, 67 Sahasrāra 125 Śakti 27, 62, 84, 125 Samjñāna 170 Sāṃkhya 19–20, 30, 45, 60 Sanātana dharma 231 Sat 52, 57 Sat-cit-ānanda 57 Sattvam 22 Scholastik 127 Schöpfer 92 Schöpfung 67, 84, 128 Schöpfungsbegriff 25, 128 Schuld 225 Seele 120, 131, 139, 150 –, individuelle 140, 143 –, subliminale 140 Sein 220 –, subsistierendes 47 Sein des Seienden 47 Selbst 34, 36, 60, 82 –, materiell-leibliche Schicht 141
–, mentale Ebene 141 –, subliminales 138 –, vitale Ebene 141 Selbstmitteilung Gottes 241 Selbstranszendenz –, aktive 241 Selbstverlorenheit 102 Sense-mind 109 Siebenfacher Akkord 126, 132 Sinneserkenntnis 117 Sinneswahrnehmung 109 Sinnlichkeit 170 Sprache –, neue 200 Sṛṣṭi 128 Subliminale, das 137 Substanz 121–122, 126 –, aufsteigende Reihe 123 Sündenfall 224 Supermind 87, 114, 117, 130, 169, 173, 204–205, 210 –, Ascensus 169 –, Descensus 169 –, Herabkunft 88 Suṣumṇā 125 Svabhāva 24, 36, 39, 103 Svadharma 25, 38 Svadiṣṭhana 125 Śvetāśvatara Upaniṣad 33 Taittirīya 53 Tamah 22 Tantra-Yoga 125 Theismus 79 Theologie –, christliche 215 Traiguṇya mayī māyā 25 Transformation 152 –, psychische 167, 239 –, spirituelle 167, 239 –, supramentale 168, 239 Transhumanismus 239 Transzendenz 66, 71, 77, 116, 148, 217 Transzendierung 197 Traum-Selbst 138 Traumzustand 138
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Sachregister Trennung –, Prinzip der 99 Triade 80 Übel 105 Überbewusstsein 64, 102 Übergabe –, völlige 167 Übermensch 42 Unbewusste, das 238 Unbewusstheit 101–102, 117 Unendlichkeit 152 Unio mystica 245 Universale, das 217 Universalität 72 Unpersönlich 84 Unrecht 105 Unsterblichkeit 32, 42, 144 Unterbewusstsein 64, 137 Unwahrheit 105 Unwissen 97 Unwissenheit 22, 100, 105, 107, 117, 238 Upaniṣaden 30, 35, 44, 83 Urmaterie 19, 240 Vaiśeṣika 39 Vāsudeva 51 Vedānta 35, 39, 52–53 Verantwortung 166, 225 Vermittlung 87, 90 Vernunft 110 Verschiedenheit –, bleibende 148
Verstand 110 Verstandes-Logik 200 Verstehen 110 Vibhūti 76 Vidyā-māyā 78 Vielheit des Seienden 47 Vijñāna 170, 210 Viśiṣṭa 47 Viśiṣṭādvaita 47 Viśuddha 125 Vollendung –, supramentale 173 Wahrheit 160 Wahrheitsbewusstsein 92 Welt –, an sich 102 –, Bejahung der 88 –, phänomenal 102 –, Verhältnis zur 172 Werde-Wesen 69 Widerspruch 202 Wiedergeburt 42, 162, 220 Wirklichkeit 56 Yoga 125 –, integraler 29, 167, 243 Yogamāyā 26, 72 Yogasūtra 31, 53 Zeit 103 Zeitlichkeit 204 Zukunftserwartung 226 Zwei-Einheit 61–62
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Personenregister
Alfassa, Mirra 190 Augustinus, Aurelius 198, 238, 243 Chalmers, David 235 Chaudhuri, Haridas 248 Christus 228, 241 Cuttat, Jacques-Albert 224
Maréchal, Joseph 198 Melchisedech 249 Müller, Klaus 216 Müller, Max 181, 198 Nikolaus von Cues 99 Pañcaśikha 30, 33 Panikkar, Raimundo 204, 213, 230, 249 Patañjali 31, 53 Paulus 211, 243
Darwin, Charles 126 Descartes, René 234 Edelman, Gerald 237 Guardini, Romano 229 Hartshorne, Charles 215 Hegel, Georg Wilhelm 180 Heidegger, Martin 144 Heraklit 232 Husserl, Edmund 235, 242 James, William 235 Jung, Carl Gustav 154, 210–211 Kant, Immanuel 234, 242 Kappes, Heinz 54 Kern, Walter 208 Koestler, Arthur 222 Leibniz, Gottfried Wilhelm 234 Lele, Vishnu Bhaskar 185 Maitra, Sisir Kumar 233
Radhakrishnan, Sirvapalli 53 Rahner, Karl 198, 240 Ramakrishna 224, 247 Ricard, Matthieu 237 Rāmānuja 29, 47 Rolland, Romain 224 Śaṃkara 24, 26, 53 Sharma, Ram Nath 206 Singer, Wolf 237 Singh, Herbert Jai 132 Söhngen, Gottlieb 249 Teilhard de Chardin, Pierre 126, 240, 249 Teresa von Avila 244 Thomas von Aquin 198, 218 Whitehead, Alfred North 215 Wolff, Christian 234
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