Sprachnormen: Theorie und Praxis: Studienausgabe 9783110935875, 9783484220386


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German Pages 350 [352] Year 1987

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Inhalt
Vorwort
I. Sprachliche Korrektheitsbegriffe und Normen
II. Die Begriffe ›Norm‹ und ›Regel‹ in der Sprachwissenschaft
IIΙ. Die Anwendung rechtsphilosophischer Normentheorie auf die Sprache
IV. Geltung und Rechtfertigung von Sprachnormen
V. Abgrenzung, Definition und Klassifikation von Normen
VI. Normentheorie und Sprachveränderungstheorie
VII. Normentheorie und Sprachplanung
VIII. Arten von Normkonflikten
IX. Literaturverzeichnis
X. Index der normtheoretischen Begriffe
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Sprachnormen: Theorie und Praxis: Studienausgabe
 9783110935875, 9783484220386

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus Baumgärtner

Renate Bartsch

Sprachnormen: Theorie und Praxis Studienausgabe

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987

Unveränderter Nachdruck der Original-Ausgabe von 1985

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bartsch, Renate: Sprachnormen: Theorie und Praxis / Renate Bartsch. -Studienausg. Tübingen : Niemeyer, 1987. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 38) NE: GT ISBN 3-484-2203 8-4

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz und Druck: Voralpendruck Sulzberg Klaus Kratz, Sulzberg/Allgäu Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

Vorwort

VII

I. Sprachliche Korrektheitsbegriffe und Normen 1. Korrektheitsbegriffe in der Sprachwissenschaft 2. Typen von Korrektheit in der Sprache 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.

1 1 5

Korrektheit der lautlichen Zeichen Korrektheit der lexikalischen Einheiten Korrektheit der syntaktischen Form Korrektheit von Texten Semantische und pragmatische Korrektheit

5 10 12 23 29

3. Die Beziehung zwischen Korrektheitsbegriffen und Normen

61

Π. Die Begriffe >Norm< und >Regel< in der Sprachwissenschaft ΙΠ. Die Anwendung rechtsphilosophischer Normentheorie auf die Sprache 1. Theorien über Existenz und Geltung von Normen 2. Theorien über Entstehung und Funktion von Normen IV. Geltung und Rechtfertigung von Sprachnormen 1. Über Normsetzung und Gültigkeit von Sprachnormen 2. Über die Rechtfertigung von Sprachnormen und ihrer Veränderungen V. Abgrehzung, Definition und Klassifikation von Nonnen 1. Zur Abgrenzung des Begriffs >Norm< von verwandten Begriffen 2. Sprachliche Normen und Regeln 3. Ausarbeitung des Unterschiedes zwischen theoretisch-linguistischen Regeln und sprachlichen Normen VI. Nonnentheorie und Sprachveränderungstheorie 1. Normen und Sprachveränderung 2. Die Veränderung semantischer Normen VII. Nonnentheorie und Sprachplanung 1. Normen in der Sprachstatus-Planung

65 84 84 111 141 141 149 157 157 163 174 186 186 198 213 219

1.1. Die Auswahl offizieller und nationaler Sprachen

222 V

1.2. Der Einfluß der Standardisierung auf sprachliche Normen . . . 1.2.1. Standardisierung und die Rolle des Standards 1.2.2. Standard als »Bereich« oder als »Punkt«? 1.2.3. Die Nonnen des Standards 1.2.4. Die Normen der nicht-standard Varietäten 1.2.5. Klassische Sprache als Norm der Standardsprache? . . . 1.2.6. Zusammenfassung 2. Normen in der Sprachkorpus-Planung 2.1. Die Einflüsse der Elaborierung auf Sprachnormen 2.2. Der Einfluß der Sprachkultivierung auf Sprachnormen VID. Arten von Normkonflikten 1. Nonnkonflikte in multi-kulturellen und multi-lingualen Gesellschaften 2. Normkonflikte in Kommunikationssituationen IX. Literaturveizeichnis X. Index der normtheoretischen Begriffe

VI

236 237 244 250 254 258 264 265 266 279 292 292 316 327 339

Vorwort

Dieses Buch hat eine lange Entstehensgeschichte, eine vielleicht zu lange; denn beim Bearbeiten der älteren Manuskripte mußte ich feststellen, daß Bücher über Sprachnormen, die in der Zeit, als ich mit dem Schreiben an diesem Buch begann, gerade erschienen waren, nämlich Gloy (1975), inzwischen 10 Jahre alt sind. Da aber die Forschung auf diesem Gebiet bis jetzt nicht wesentlich über den damaligen Stand hinausgekommen ist, ist es sicherlich gerechtfertigt, sich in der Sprachnormen-Forschung heute noch auf diese nun 10 Jahre alten Schriften zu beziehen. Entsprechend seiner Entstehensgeschichte ist dieses Buch eigentlich ein Aufsatzband. Die ersten Kapitel, nämlich die über Rechtsnormen und Sprachnormen wurden 1977 geschrieben, die letzten Beginn 1985. Etwa ein Drittel der Kapitel sind deutsche Bearbeitungen von publizierten Artikeln. Einige wichtige Begriffe und Zusammenhänge sind im Laufe des Buches einige Male wiederholt worden. Dies war nötig, um den Kapiteln eine gewisse Selbständigkeit zu erhalten, bzw. zu geben, so daß sie, wenn das z.B. für Unterrichtszwecke gewünscht sein sollte, auch isoliert gelesen werden können. Zum ersten Mal beschäftigte ich mich mit dem Zusammenhang von Normen und Wahrheit in meiner nun schon 16 Jahre alten Dissertation (1969), in der ich für die Semantik drei Korrektheitsbegriffe definierte und in ihrem Zusammenhang behandelte. Diesen Faden nahm ich dann später wieder auf in drei Aufsätzen (1979a, b, c), die sich mit der grundlegenden Rolle von Korrektheitsbegriffen in der Semantik und in der Pragmatik befassen, insbesondere mit dem Zusammenwirken von semantischen und pragmatischen Korrektheitsbegriffen bei der Interpretation von sprachlichen Äußerungen. Normen, die soziale Realität von Korrektheitsbegriffen, sind ein wichtiges Studienobjekt der Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, und ich vertiefte mich in dieses Gebiet, um für meine Studien über Sprachnormen einen fundierten und begriffsklärenden Hintergrund zu gewinnen: Was sind die wesentlichen Aspekte von Normen und wie unterscheiden sich Rechtsnormen von Sprachnormen? Worin besteht die Existenz und Geltung von Rechtsnormen einerseits und die von Sprachnormen andererseits? Diese Fragen habe ich als erste behandelt, bezugnehmend auf Hart (1961), Raz (1975). Danach wurde Ulimann-Margalit (1977) wichtig für die Frage nach VII

Entstehen und Funktion von Normen, und zwar in Verband mit Lewis (1969) über das Zustandekommen von sprachlichen Konventionen. Anhand des Vergleichs zwischen Sprachnormen und Rechtsnormen werden soziale und institutionelle Grundlagen der Existenz und Geltung von Sprachnormen ausgearbeitet, die in späteren Kapiteln über Normkonflikte und über Sprachplanung im Einzelnen auf empirisches Material der Sprachpraxis bezogen werden. Im Zusammenhang mit meinen Untersuchungen zur Grammatik wurde mir deutlich, daß wohl keine Rede sein könne von einem sprachlichen System, das eine Einheit bildet; vielmehr schien es deutlich so, daß es um eine Menge von Systematisierungen ging, die zwar in Komponenten geordnet werden können, die aber sowohl innerhalb der Komponenten als auch zwischen ihnen zum Teil miteinander in Widersprüchen stehen, wodurch Regeln in ihrem Anwendungsbereich willkürlich begrenzt sind und verengt werden dadurch, daß andererseits andere Regeln ausgebreitet werden. Dieser Blick auf die Prinzipien der Veränderung von Grammatiken, der mir durch Theo Vennemann nahegebracht wurde, fand sein Resultat in der Kritik an Begriffen linguistischer Komplexität (1973) und ist einer der beiden Grundpfeiler dieses Buches. Diese sind einerseits die Heterogenität sprachlicher Systematisierungen, und andererseits die Heterogenität sprachlicher Normen. Den entscheidenden Schritt zur Verbindung dieser beiden völlig verschiedenen Gesichtspunkte fand ich in Schnelle's Aufsatz über empirische und transzendentale Sprachgemeinschaften (1976); hier kam ein durchdachter Zusammenhang zwischen Sprachsystematisierungen und Sprachnormen zustande. Diese Aspekte der Heterogenität durchziehen das ganze Buch; ein Kapitel, nämlich das über Sprachveränderung, beruht auf diesem Ausgangspunkt. Ein Umstand, der dazu beigetragen hat, daß ich mich mit Sprachnormen nicht nur unter theoretischen, sondern auch unter praktischen Gesichtspunkten beschäftigte, kam zustande durch die LSA-Summer School, die 1977 an der Universität von Hawaii abgehalten wurde. Dort kam ich zum ersten Male mit Pidgins und Creoles in Kontakt, und nahm teil an den Kursen über Sprachplanung, die zusammen mit einer Arbeitsgruppe zu diesem Thema am East-West-Center abgehalten wurden. Ich war danach 1980 für einige Monate am Culture Learning Institute (nun: Institute of Culture and Communication) des East-West Center, um soviel, wie in kurzer Zeit möglich ist, über Sprachplanung zu lernen. Björn Jernudd versorgte mich mit Stapeln von Literatur, unter anderem mit vielen noch nicht veröffentlichten Fallstudien über Probleme des Multi-Lingualismus und Sprachplanung in Indien, die zum Teil in diesem Buch verarbeitet sind. Das Kapitel über Sprachplanung schrieb ich bei meinem letzten Aufenthalt (1984) an diesem Institut und möchte an dieser Stelle Björn Jernudd, K. S. Rayjashree und Monsur Musa danken für die ausführlichen Diskussionen über alle Teile VIII

meines Manuskripts und die vielen Anregungen, die in diesem Buch deutliche Spuren hinterlassen haben. In diesem Buch habe ich Normen als soziale Realitäten von Korrektheitsbegriffen behandelt. Die psychische Komponente ist dabei wenig berücksichtigt worden: Es scheint mir eine eigene Untersuchung wert, welche psychischen und attitudinellen Faktoren in welcher Weise eine Rolle spielen bei der Anerkennung und beim Übernehmen von Normen. Auch eine Untersuchung danach, inwieweit verschiedene Gesichtspunkte der Systematisierung beim Lernen von Normen eine Rolle spielen, erscheint mir eine interessantes Thema für die Normentheorie. Dabei könnte die Verbindung zwischen Sprachnormen als sozialen Entitäten mit deren psychischen Repräsentationen und deren Systematisierungen unter verschiedenen, insbesondere auch unter grammatikalen Gesichtspunkten, ein zentrales Thema sein. Abschließend möchte ich auch meinen Studenten danken dafür, daß sie als aufmerksame Zuhörer und eifrige Diskutanten jahrelang den langen Weg bis zum Abschluß dieses Buches mitgegangen sind. Manche begriffliche Klärung ist ihren Fragen zu verdanken. - Aber es wird wohl immer noch einiges nicht ganz deutlich sein. Doch darauf kann man nicht warten, wenn man ein Buch abschließen will. Der Nachdruck dieses Buches in der Konzepte-Reihe gibt mir die Gelegenheit, zwei fehlende Literaturangaben nachzutragen: Francis de, J. 1972. Nationalism and Language Reform in China. New York: Octagon Books. Myers Scotton, C. 1982. Learning Lingua Francas and Socioeconomic Integration: Evidence from Africa. In: R. Cooper (ed.) 1982: 6 3 - 9 4 .

Muiden, den 22. Mai 1987

Renate Bartsch

IX

I. Sprachliche Korrektheitsbegriífe und Normen

1. Korrektheitsbegriffe in der Sprachwissenschaft Sprachliche Korrektheit ist schon immer ein Grundbegriff der traditionellen Grammatik gewesen, die sich damit beschäftigt, was korrekte Ausdrücke in einer Sprache sind und was korrekter Gebrauch dieser Ausdrücke ist. Es geht also bei einer Grammatik darum, die Wohlgeformtheitsbedingungen und die Gebrauchsbedingungen von sprachlichen Ausdrücken zu beschreiben und daraufhin dann vorzuschreiben. Wörterbücher und Grammatikbücher geben Listen von korrekten Grundausdrücken (Wörtern und Idiomen), und Muster und Beispiele für korrekte zusammengestellte Ausdrücke, sowie Beispiele und Beschreibungen ihres Gebrauchs. In diesen beiden Grundaspekten, traditionell Form und Funktion der Sprache genannt, werden Sprachen aufgezeichnet. In den letzten 80 Jahren wurden die Methoden linguistischer Beschreibung immer mehr zum Thema, wobei dann der Schwerpunkt der sprachwissenschaftlichen Arbeit in den 60er Jahren auf die Bildung von Theorien verschoben wurde, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß eine linguistische Theorie Erklärungen dafür geben sollte, warum Sprache in bestimmter Weise gelernt würde, warum sich Sprachen in bestimmten Weisen verändert haben, und wie sprachliche Äußerungen interpretiert werden als Mittel der Orientierung über die Welt und als essentieller Teil von Handlungen dienen können. In diesen späteren Unternehmungen, sei es die Entwicklung von linguistischen Beschreibungsmethoden, oder sei es linguistische Theoriebildung unter bestimmten Fragestellungen, hat der Begriff sprachlicher Korrektheit immer eine zentrale Rolle in allen Arten von Korrektheitsurteilen gespielt; dies waren Urteile von Sprechern der zu untersuchenden Sprache, oder aber Urteile von Linguisten selbst. Deren Intuitionen über Korrektheit unter verschiedenen Aspekten sind immer der Ausgangspunkt für die Rekonstruktion sprachlicher Strukturen oder gar Prozesse gewesen, von denen man annahm, daß sie Urteilen dieser Art zugrunde lägen und insofern diese Korrektheitsurteile »erklärten«. Hier wurden als Grundlagen der Intuitionen über Sprache und ihres Ausdrucks in Korrektheitsurteilen mentale Strukturen und Prozesse angenommen, teils angeboren und teils im Lernprozeß aufgebaut. Aber andererseits muß die Erklärung für Intuitionen und Korrektheitsurteile gerade in sozialen Prozessen liegen, die zur Koordination zwischen Menschen und 1

zu gemeinsamer Erfahrung und gemeinsamer Begrifflichkeit führen. Insofern kann man Sprache in einem umfassenden Sinne nur erklären oder begreifen, wenn man sie als ein soziales Phänomen versteht. In der Sprachwissenschaft finden wir dann auch im Augenblick zwei entgegengesetzte Pole, nämlich eine mentalistisch orientierte Richtung und eine soziologisch orientierte; dazwischen liegt die Funktionale Grammatik (z.B. Dik 1978 und 1980) mit einerseits Produktionsregeln für das Zustandebringen von Äußerungen, die deutlich im Kopf stattfindende Prozesse widerspiegeln sollen, also mentalistisch sind, und mit andererseits funktionalen Erklärungen für sowohl die Regelsorten wie für einzelne Regeln in dem Sinne, daß den Produktionsregeln semantische und pragmatische Funktionen zugeordnet werden, wobei die letzten schließlich in der Interaktion beim Kommunizieren, und somit sozial, bestimmt sind. Itkonen (1974 und 1976) hat darauf gewiesen, daß korrekte Ausdrücke und deren korrekter Gebrauch die Basis für die theoretische Linguistik bilden, und daß dieses einschließt, daß man nicht nur Äußerungen sammelt, sondern als Linguist auch noch Urteile über die Korrektheit selbst abgibt, oder durch andere abgeben läßt. Denn nur korrekte Äußerungen können das Material für die Konstruktion von Grammatiken sein. Er hat diese Korrektheitsurteile als Intuitionen über durch Normen beherrschtes Verhalten angesehen und die Aktivitäten des Grammatikers als konzeptuelle Analyse der normativen Begriffe, die dieses Verhalten regulieren. Unter seiner Perspektive ist Grammatik dieselbe Art nicht-empirischer Wissenschaft wie die Mathematik oder Logik. Nach Itkonen sind linguistische Regeln, so wie wir sie in der theoretischen Linguistik finden, verschieden von Sprachregeln, von denen sich Sprecher bewußt werden können, wenn sie ihre Intuitionen explizieren. Die ersten sind Hypothesen über die effektivste, eleganteste und adäquateste Weise, in der die zweiten, nämlich die Sprachregeln, beschrieben werden können. Obgleich ich denke, daß Itkonen mit seiner Unterscheidung zwischen einerseits Sprachregeln und andererseits linguistischen Regeln der Theorie einen wichtigen Schritt gemacht hat zum richtigen Verständnis des Verhältnisses der Sprachwissenschaft zu ihrem Untersuchungsgegenstand, so denke ich doch, daß der Unterschied zwischen sprachlichen Regeln oder Normen einerseits und Regeln der theoretischen Linguistik andererseits ziemlich kompliziert ist unid für verschiedene Typen von Regeln und für verschiedene theoretische Ansätze verschieden ist. Ich kann auch nicht Itkonens Behauptung folgen, daß die theoretische Linguistik keine empirische Wissenschaft sei. Der Hauptgrund hiergegen ist, daß, was der adäquateste Weg für die Beschreibung sprachlicher Ausdrücke ist, davon abhängt, welche Vor-Annahmen den Ausgangspunkt bilden, und diese Annahmen von sehr verschiedener Art sein können. Diese Annahmen können empirische Aussagen über die Organisation der menschlichen kognitiven Fähigkeiten sein, 2

und zwar auf der Ebene der Psychologie, oder gar der Physiologie als Aussagen über die biologische Organisation des Gehirns. Beschreibungen sind dann nicht nur adäquat insofern, daß sie die korrekten linguistischen Ausdrücke liefern, oder diese sogar auf eine elegante Manier liefern, sondern sie müssen auf der Basis dieser Annahmen formuliert werden und sind somit abhängig von empirischen Aussagen. Das größte Problem dabei ist, daß diese Annahmen in der Linguistik nicht bewiesen werden können, und insbesondere sicherlich nicht dadurch, daß man darauf weist, daß die Beschreibungen die auf diesen Annahmen basiert sind, korrekte linguistische Resultate ergeben; ein solches Argument ist einfach zirkulär. Außerdem ist ein Verweisen auf Beschreibungsadäquatheit sehr fragwürdig, solange nicht die Sprache in allen ihren Aspekten beschrieben wird, sondern immer nur Teilsysteme formuliert werden (vergi. Bense 1977: 99—114). Auch der Versuch, unabhängige Evidenz beizubringen dadurch, daß man zeigt, daß die Theorie Fakten des Spracherwerbs erklären kann, scheiterte daran, daß die Untersuchungen zum Spracherwerb immer schon in Termen der zu prüfenden Theorie und unter deren Grundannahmen durchgeführt und formuliert werden (vergi. Bense 1977: 114-124). Andere empirische Grundannahmen, die zu bestimmten Weisen der Konstruktion von Grammatiken führen, sind Fakten des Sprachverhaltens, unterschieden von den Korrektheitsurteilen und oft damit im Widerspruch, oder tatsächlicher Sprachwandel. Die Grammatik wird dann so aufgebaut, daß sie diese Tatsachen »erklären« kann, oder zumindest plausibel machen kann, so etwa Grammatiken mit variablen Regeln bei Labov (1972 a), oder stilistisch geschichtete Grammatiken mit parallelen Regelsystemen. Berücksichtigung von tatsächlichem Sprachverhalten macht es nötig, dieses auf dem Hintergrund sozialer Normen zu interpretieren, und andererseits mögliche Systematisierungen von Mustern tatsächlichen Sprachverhaltens durch die menschlichen kognitiven Fähigkeiten anzunehmen. Der Begriff der Norm auf der einen und der Begriff der Systematisierung auf der anderen Seite machen es möglich, Sprachveränderungen, linguistische Heterogenität und wiederholte Abweichung von Korrektheit zu analysieren, und zwar in Termen von Konflikten zwischen Normen, zwischen Systematisierungen, zwischen Normen und Systematisierungen, und in Termen von Strategien zur Lösung dieser Konflikte. - Siehe das Kapitel über Sprachveränderung in diesem Buch. Weiterhin hängt die Beurteilung der Adäquatheit einer Beschreibung davon ab, ob man überhaupt empirische Annahmen dieser Art machen will, denn auch ohne solche Voraussetzungen hängt die Adäquatheit einer Beschreibung ab von Gesichtspunkten der Allgemeinheit von Regeln, der Einfachheit der Regelanwendung (z.B. Vorzug intrinsischer Regelordnung vor extrinsischer), des Umfangs der Menge der Basisbegriffe mittels derer andere theoretische Begriffe ausgedrückt werden müssen, und schließlich der 3

Möglichkeit einer breiten Anwendung ganzer Komplexe von Regelanwendungen in Subroutinen. Ein weiterer Gesichtspunkt für Adäquatheit kann der einer möglichen Integration einer linguistischen Theorie, insbesondere einer Grammatik, in eine allgemeine Theorie über Wahrheit und Information und in eine allgemeine Handlungstheorie sein. Dieser Gesichtspunkt gibt Grammatiken den Vorzug, die Teil einer Interpretationstheorie sein können, wie wir sie in der Sprachphilosophie finden, z.B. in der Montague-Grammatik,-siehe Thomason (ed.) 1974, bis zur Integration einer Theorie von Fragen und Antworten in diese Richtung durch Groenendijk und Stokhof 1984 im Rahmen einer Semantik und Pragmatik mit den Grundbegriffen der Wahrheit und der Information. In diesem Rahmen sind natürlich Rekursivität des Systems, aber auch semantische Kompositionalität, wichtige Adäquatheitskriterien für Beschreibungen. Aus diesen Betrachtungen folgt, daß es nicht bloß eine Beziehung gibt zwischen Intuitionen über Korrektheit, formuliert in Korrektheitsurteilen, und Regeln, die durch theoretische Linguisten formuliert werden, sondern daß es da so viele Beziehungen gibt, wie es verschiedene Ziele und Annahmen gibt, unter denen Grammatiken konstruiert werden. Neben den theoretischen Gesichtspunkten, die eben erwähnt wurden, gibt es natürlich die Gesichtspunkte des Sprachlehrens, die es nicht erlauben, einfach irgendeine der theoretisch orientierten Grammatiken als Basis des Sprachunterrichts zu benutzen. Traditionelle funktionale Grammatik, gestützt durch einige strukturalistische Methodologie, wie Substitution zur Einführung der Kategorien als theoretische Begriffe, dominiert noch immer den Grammatikunterricht im Rahmen des Sprachunterrichts in den Schulen, und zwar zu recht, und nicht wegen eines theoretischen Defizits der Lehrer. Es wird weitgehend anerkannt, daß Sprachunterricht seine eigene Theorie verlangt, die abhängt von den besonderen Zielen des Lehrens der Sprache und den Bedingungen, unter denen dies stattfindet. Obgleich offenbar alle Sprachforscher und -lehrer von der Grundannahme ausgehen, daß Grammatik, oder etwas umfassender, linguistische Theorien, den korrekten Ausdrücken einer Sprache und ihrem korrekten Gebrauch Rechnung tragen sollen und diese irgendwie auf passende Weise beschreiben müssen, weichen sie doch in den Weisen der Beschreibung stark voneinander ab, und zwar abhängig von den verschiedenen Grundannahmen und Zielen. Insbesondere gibt es Unterschiede im Grade der Empirizität, sowie im Grade der Normativität. — Insofern eine linguistische Theorie behauptet, korrekte Ausdrücke zu beschreiben und zu produzieren, ist sie zumindest insoweit normativ, daß sie bestehende Korrektheitsurteile befestigt und damit reproduziert. Es muß hier angemerkt werden, daß Beschreibungen von Sprachnormen empirisch sind; sie sind Deskriptionen und nicht Präskriptionen, weil sie beschreiben, welche Normen in einer Sprachgemeinschaft gelten, oder eine 4

Praxis sind. Man kann diese Normen beschreiben, ohne sie zugleich zu vertreten. Es wird lediglich festgestellt, daß in der Gemeinschaft X die Nonnen A und in der Gemeinschaft Y die Normen Β gelten, oder eine Praxis sind, oder akzeptiert werden. Hiermit wird eine soziale Tatsache berichtet, die eine empirische Tatsache ist. Insofern unterscheidet sich eine Beschreibung von Sprachnormen ganz deutlich von Mathematik oder Logik. Und eine allgemeine Normentheorie ist teils empirisch, teils philosophisch, aber sie ist auf jeden Fall nicht normativ in dem Sinne, daß sie bestimmte Normen vorschreibt oder auch nur anrät; vielmehr untersucht sie, welche Typen von Normen es gibt, was deren Funktionen sind, auf welche Weise sie existieren, wie es um ihre Rechtfertigung in bezug auf bestimmte Werte oder Ziele steht und was ihre systematischen Eigenschaften sind. Im Folgenden will ich die Grundlagen bestimmter Korrektheitsbegriffe in bezug auf sprachliche Mittel und ihren Gebrauch ausarbeiten und die Arten von Normen vorstellen, die die Fixierung dieser Korrektheitsbegriffe zustande bringen. Global können wir sagen, daß Normen die soziale Realität der Korrektheitsbegriffe sind: die Korrektheitsbegriffe existieren in einer Sprachgemeinschaft als die Inhalte von Normen.

2. Typen von Korrektheit in der Sprache Es gibt im Prinzip zwei Arten von Korrektheit, nämlich die Korrektheit der sprachüchen Mittel und die Korrektheit des Sprachgebrauchs. In dieser Reihenfolge werden beide Arten hier behandelt. 2.1. Korrektheit der lautlichen Einheiten Bezüglich der Korrektheit der Sprachlaute gibt es zwei Fragen: Welches sind die Laute einer Sprache; und was ist der Spielraum für die Aussprache, der einen Laut begrenzt so, daß der Laut als dieser Laut erkennbar ist, leicht erkennbar ist, oder beinahe perfekt ist in dem Sinne, daß er als Modell für Imitationen dieses Lautes dienen kann. Natürlich ist Vollkommenheit eines gewissen Lautes keine inhärente Eigenschaft des Lautes, sondern vielmehr ein soziales Phänomen: Diejenigen Leute, die akzeptiert werden als diejenigen, die durch ihre eigene Aussprache der Laute die Modelle für andere geben, bestimmen wie der Laut sein muß. Ein Laut ist vollkommen, oder nahezu vollkommen, wenn er wie die Realisierungen dieses Lauttypes ist, die durch die Menschen produziert werden, die die Modelle liefern. Die Phonologie beantwortet die Frage, welche Laute eine bestimmte Sprache hat. Die Frage wird in zwei Schritten beantwortet, nämlich erstens, welches das Basis-Inventar der Laute ist, und zweitens, welches die in dieser Sprache zulässigen Lautkombinationen sind. Außerdem werden die Laute 5

unterschieden in diejenigen, die zueinander Oppositionen unter einem funktionalen Gesichtspunkt bilden, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, ob sie Bedeutungen unterscheiden, und diejenigen Laute, die nicht zueinander unter diesem Gesichtspunkt Oppositionen formen und somit in einem System, in dem Äquivalenz bestimmt ist als »keinen Unterschied in der Bedeutung machen«, identifiziert werden können. - Wir können uns natürlich auch andere Gesichtspunkte der Äquivalenz vorstellen, z.B. Gleichheit im Sinne gleicher regionaler, oder sozialer Konnotation; dann gehören alle die Laute in eine Klasse, die auf dieselbe regionale, oder auf dieselbe soziale Herkunft der Sprecher weisen. Dies wäre dann eine Äquivalenz unter dem Gesichtspunkt der regionalen oder sozialen Identifikation von Sprechern. Entsprechend sind auch Äquivalenzklassen unter stilistischen Gesichtspunkten zu bilden, wobei dann Stufen der formellen, weniger formellen, und der umgangssprachlichen Realisierung der Laute als Äquivalenzklassen unterschieden werden, die in der Realisationsphonologie berücksichtigt werden (siehe z.B. Bartsch und Vennemann 1982/83: 53f.). Hinsichtlich der Möglichkeit zu lautlichen Kombinationen gibt es in spezifischen Sprachen spezifische Beschränkungen. Eine solche ist z.B. für das Deutsche in der Regel der Auslautverhärtung gegeben, die besagt, daß stimmhafte Verschlußlaute am Ende einer Silbe stimmlos werden. Wenn man diese Regel als Teil eines Prozesses interpretiert in dem Sinne, daß ein stimmhafter Verschlußlaut am Ende einer Silbe stimmlos gemacht wird, dann ist dies keine Norm des Deutschen; denn die entsprechende Norm besagt nur, daß jeder Verschlußlaut am Silbenende ein stimmloser Verschlußlaut ist, oder zumindest Jew muß. Nach dieser Norm ist es nicht erforderlich, in den entsprechenden Fällen erst einen stimmhaften Verschlußlaut anzusetzen oder vorzustellen und diesen dann stimmlos zu machen bei der Realisierung der Aussprache. Sprachliche Normen, die die Gestalten oder Formen der sprachlichen Mittel normieren, d.h. deren Korrektheit bestimmen, sagen nicht, wie diese Formen zu machen sind. Es macht für ihre Funktion als sprachliche Mittel in der Gemeinschaft nichts aus, wie sie produziert werden. Nur das schließliche Resultat der Produktion zählt. Diese Normen regulieren oder normieren nur das Produkt, aber nicht die Produktion. In bezug auf lautliche Korrektheit besteht eine strenge normative Einstellung und ein entsprechendes diskriminierendes Verhalten unter Menschen: Laute ihrer Sprache werden durch ihren Perzeptionsapparat selektiert aus allen Lauten, die sie empfangen. Was perzipiert wird aus all dem, was rezipiert wird, hängt davon ab, ob es einen Unterschied hinsichtlich relevanter Gesichtspunkte ausmacht, insbesondere: Information über Sachverhalte, die sprachlich symbolisiert werden, sowie Informationen über den sozialen Hintergrund des Sprechers, über seine Gemütslage, und über die Art der Sprechsituation, die mit bestimmten Weisen der lautlichen Realisation auf konnotative Manier verbunden sind. Unter all diesen Gesichts6

punkten der Informativität muß der Laut passend sein und wird entsprechend unter diesen Gesichtspunkten korrigiert, oder auch bloß akzeptiert oder nicht akzeptiert. - Nicht-Akzeptieren ist eine Form von Kritik, und funktioniert auch so. - Menschen begrüßen und belohnen Laute ihrer Sprache, wenn sie durch babbelnde Kleinkinder produziert werden, und verstärken hierdurch die Produktion dieser Laute; sie lassen die Produktion anderer Laute unbeachtet und entmutigen auf diese Weise deren weitere Hervorbringung. Wenn wir den aktuellen Laut vom Lauttyp unterscheiden, dann könnten wir sagen, der Lauttyp ist ein Konzept eines Lautes, d.h. ein Lautbegriff, und der aktuelle Laut ist eine Realisierung dieses Lautbegriffs. Auditive Korrektheit eines aktuellen Lautes heißt dann, daß dieser innerhalb der Grenzen für die Realisierung eines Lautkonzepts liegt. Diese Grenzen sind abhängig von dem lautlichen Kontext, in dem der aktuelle Laut vorkommt. Der akzeptierte Bereich der Qualität eines Lautes X ist daher ein Komplex von Lautrealisierungstypen (Xj, X 2 , . . . , X„) für die η typischen Kontexte, in denen der Laut in der betreffenden Sprache vorkommt. Ein Beispiel eines solchen Komplexes wäre die Menge der Realisierungstypen des Lautes in den entsprechenden Kontexttypen, wo jeder Kontexttyp die Qualität des Lautes, z.B. eines dentalen Verschlußlautes, in verschiedener Weise beeinflußt. Dies ist genau genommen eine Menge von Mengen von Lautrealisierungen, die jeweils durch die aktuellen Kontexte eines bestimmten Types beeinflußt sind. Wir hätten hier eine Struktur eines Lautbegriffs unter dem Gesichtspunkt seiner lautlichen Umgebungen. Aber ein Lautbegriff kann auch unter zusätzlichen morphologisch-semantischen Gesichtspunkten konstruiert werden: Wir können einen Komplex konstruieren, der die Kontexttypen des stimmhaften dentalen Verschlußlautes mit den in diesen Kontexten typischen Realisierungsqualitäten enthält, und der zusätzlich die durch morphologische Identität bestimmten Kontexttypen enthält, in denen derselbe Verschlußlaut nicht stimmhaft, sondern stimmlos realisiert ist. In einem solchem Konstrukt des Lautbegriffes »stimmhafter dentaler Verschlußlaut« würde dann ein X¡ »dentaler Verschlußlaut, stimmlos in Kontexttyp _ # « sein. Für das Deutsche würden so die Konzepte der stimmhaften Verschlußlaute die Information enthalten, daß sie in silbischer Endposition stimmlos sind. Die entsprechenden Lautkonzepte im Englischen sind entsprechend unterschieden vom Deutschen, da sie in Endposition nicht stimmlos sind. Unter einem kombinierten morpho-phonemischen Gesichtspunkt wären Komplexe dieser Art adäquate Konzepte stimmhafter Verschlußlaute; jedes X¡ ist selbst eine Menge von Realisationen des Lautes mit nur wenig qualitativen Unterschieden innerhalb dieser Menge. Diese Realisierungen werden, in ihrer Bandbreite, als typisch für die Sprachgemeinschaft erkannt, die die betreffende Sprache als Muttersprache spricht. Ausländer, die eine Sprache lernen, werden meistens ihr ganzes Leben 7

hindurch als Fremde erkannt durch die Merkmale ihrer Aussprache. Zum Beispiel wird ein Deutscher, der Niederländisch gelernt hat, leicht durch die andere Qualität seiner Vokale erkannt, insbesondere durch die Qualität des /a/. Außerdem sind unterschiedliche Qualitäten zwischen Iii und /w/ in beiden Sprachen deutlich. Weiterhin sind Norddeutsche in den Niederlanden durch ihre Aspiration von /p/, Iti, /k/ erkennbar, die im Niederländischen nicht aspiriert sind. Ein Deutscher, der Niederländisch gut gelernt hat, fällt meistens außerhalb der Bandbreite des Standards für auditive Korrektheit im Niederländischen. — Das berühmteste Beispiel hierzu ist Prins Bernhard, und das stets bewunderte Gegenbeispiel liefert Prins Claus. Ein anderer phonetischer Bereich mit strengen Korrektheitsbegriffen ist die Intonation: Es bestehen z.B. unüberwindliche Schwierigkeiten bei Leuten indischer Herkunft bei der Übernahme der Englischen Intonation. Die Intonation ist wohl der Hauptunterschied zwischen dem britischen Englisch und dem indischen Englisch. Eine weitere Gruppe von Korrektheitsbegriffen der auditiven Korrektheit sind diejenigen, die die Grenzen für Höhe und Lautstärke bestimmen. Die Normen, die diese Aspekte bestimmen, sind häufig verschieden für verschiedene soziale Schichten der Bevölkerung. - Mit lauter Stimme zu reden in Situationen, in denen das nicht erforderlich ist (etwa wegen Lärms oder zum Ausdruck von Wut), ist ein Zeichen der Zugehörigkeit zu unteren Schichten. - Der Ton ist im allgemeinen in England höher als auf dem Kontinent, wenigstens im Vergleich von Mittelschichtssprechern. Obgleich Frauen durch natürliche Ursache höher als Männer sprechen, wird von Frauen der englischen unteren Mittelklasse und Mittelklasse erwartet, daß sie sogar noch höher sprechen, um den Abstand zur Männerstimme zu halten, die in England im Vergleich mit dem Kontinent für die genannten Schichten schon relativ hoch ist. — Premierministerin Thatcher hatte, wie bekannt geworden ist, die hohe Frauenstimme ablernen müssen, nachdem sie Premier geworden war, weil in diesem Amt, und bei öffentlichen Reden im allgemeinen, dieses sehr auffällige Merkmal von Fraulichkeit ihrer politischen Botschaft hätte schaden können, da sie Menschen vom Inhalt der Reden abgelenkt hätte, der in seinem Ausdruck zu sehr als »woman's talk« abgestempelt würde durch die Tonhöhe, die insbesondere im Ausland als sehr extrem wahrgenommen wurde. Die Normen, die die Begriffe von auditiver Korrektheit instandhalten, werden Leuten nie durch Beschreibung, sondern immer durch Modelle vorgestellt. Es gibt eine Reihe von öffentlichen Modellen für korrekte Aussprache und Ton, die Sprecherziehung an Theaterschulen oder in der Lehrerausbildung genossen haben. — Fernseh- und Radiosprecher in Deutschland haben meistens eine Sprechausbildung an Fernsehakademien und Theaterschulen gehabt; die dabei zugrunde gelegte Norm der Aussprache 8

des Hochdeutschen, die sogenannte »Hochlautung« ist seit 87 Jahren festgelegt in Siebs 1898/1961 als »Bühnenaussprache«. Diese Kodifizierung der Aussprachenonnen wird bis heute in der Sprecherziehung gebraucht. Die andere Weise, um Sprache in einem Medium zu realisieren, ist neben dem Sprechen das Schreiben. Diese zweite Kodierung der Sprache im schriftlichen Medium kann direkt auf den semantischen Inhalt und die syntaktischen Funktionen der Sprache bezogen sein, oder sie kann auf das primäre Medium, die Lautsprache, bezogen sein, und über diesen Umweg mit dem semantischen Inhalt verbunden werden. Gemäß der ersten Art haben wir eine Schrift aus Charakteren oder Bildern, gemäß der zweiten Art haben wir eine Buchstabenschrift, die mehr oder weniger präzis Laute auf Buchstaben abbildet, im extremen Fall des phonetischen Alphabets eine 1 - 1 Abbildung. Aber wie auch immer, die Schrift muß durch explizite Konventionen festgelegt werden. Diese Konventionen werden ab und zu in der Geschichte einer geschriebenen Sprache auf kontrollierte Weise verändert; und sie sind Gegenstand von Verhandlungen und Regulierungen insbesondere, wenn sich verschiedene Rechtschreibsysteme bekonkurrieren. In den Niederlanden hat es in den letzten 100 Jahren verschiedene Kommissionen für Rechtschreibung gegeben, die diese verändert haben, in letzter Zeit hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Kongruenz der Rechtschreibung mit phonetischen Unterschieden und Äquivalenzen. Dieser Gesichtspunkt ist noch viel extremer ausgetragen worden im Rechtschreibesystem des Afrikaans in Südafrika (vergi. Berits 1983). In der Beurteilung und Entscheidung von Fragen der Rechtschreibung spielen verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle, die zu miteinander widersprüchlichen Ergebnissen führen: Historische Betrachtungen über die Ableitungen von Wurzeln, Stämmen und Endungen von Wörtern, morphologisch-semantische Überlegungen, um identische Bedeutung durch dasselbe Morphem in den verschiedenen Kontexten seines Auftretens in gleicher Weise zu repräsentieren, sowie phonologische und selbst phonetische Gesichtspunkte. Die Resultate dieser Überlegungen und Verhandlungen sind oft ein Kompromiß zwischen diesen Gesichtspunkten und sind widersprüchlich unter jedem Gesichtspunkt separat. Die Diskussion über niederländische Rechtschreibungsreformen ist ein gutes Beispiel für die Konflikte, die hierbei auftreten (vergi. Booij 1979 und Schaap 1980). Die Resultate, die durch die offiziell ernannten Kommissionen zur Rechtschreibung erreicht werden, werden kodifiziert und durch einen Rechtsakt des Parlaments bindend. In den Niederlanden gibt es im Augenblick zwei verschiedene Rechtschreibungs-Kodes, einen mehr konservativen in bezug auf die historische Morphologie der Sprache, und einen anderen, der die phonologjschen und sogar phonetischen Entwicklungen der Sprache stärker berücksichtigt. Beide Kodes sind unter ihrem Hauptgesichtspunkt inkonsequent, wegen einzelner Kompromisse mit konkurrierenden Gesichtspunkten. 9

Beide Kodes sind im Gebrauch, und von den Leuten wird lediglich verlangt, daß sie bei einem Text entweder bei dem einen oder bei dem anderen Kode bleiben. Aber dies ist offenbar für viele, selbst gebildete Schreiber, schwierig, und wir finden in einem Text, manchmal selbst auf einer Seite verschiedene Schreibungen eines Wortes, oder aber ein Wort gemäß dem einen Kode und ein anderes Wort gemäß dem anderen Kode geschrieben. Es ist die Aufgabe von Sekretärinnen und Redakteuren für Einheit im Rechtschreibungssystem zu sorgen. Es ist deutlich, daß hier die Existenz zweier verschiedener Kodes zu einer Menge von Unsicherheiten im Schreiben führt und viel extra redaktionelles Eingreifen verlangt, das Kosten verursacht. Effizienz verlangt die Beschränkung auf ein Normensystem der Rechtschreibung anstelle von zwei alternativen. 2.2. Korrektheit der lexikalen Einheiten In jeder Sprache kennt man Restriktionen zur Wortmorphologie. Mögliche Wurzeln oder Stämme von Wörtern sind hauptsächlich durch phonologische Beschränkungen restringiert; mögliche morphologische Ableitungen und zusammengesetzte Wörter sind hauptsächlich durch morphologische Restriktionen beschränkt, die wiederum teils phonologisch beschränkt sind, weil sie ja zu den möglichen Lautkombinationen der betreffenden Sprache gehören müssen. Nicht alles, was morphologisch gesehen möglich ist, ist in einer Sprache auch realisiert. Die Menge der wirklichen Wörter ist eine konventionell und historisch bestimmte offene Liste, d.h. eine Liste, zu der neue Wörter hinzugefügt werden können. Die Menge der wirklichen Wörter einer Sprache besteht aus einer Teilmenge der möglichen Wörter und einer Menge, die aus Lehnwörtern besteht, die noch nicht an die morphologischen Beschränkungen der betreffenden Sprache angepaßt sind; nach Anpassung zählen sie zu der ersten Menge. Da die Wörter separat kodiert sind, d.h. in Listen organisiert sind, ist der lexikale Korrektheitsbegriff sehr einfach: Was in der Liste ist, d.h. im Lexikon steht, ist korrekt. Das Lexikon ist im »kollektiven Gedächtnis« der Sprachgemeinschaft, oft in Lexika in Form von Büchern oder Computer Disks gespeichert, und damit kodifiziert, wenn es sich um öffentlich anerkannte Listen handelt. Andererseits ist für den einzelnen Sprecher im wesentlichen das korrekt, was ihm als Wort der betreffenden Sprache bekannt ist. In erster Linie gründet er seine Korrektheitsurteile auf sein eigenes Gedächtnis, aber akzeptiert zusätzlich das, was im öffentlichen Lexikon zu finden ist. Nicht alle Sprecher einer Sprache haben dasselbe Vokabular: Es gibt einen Bestand alltäglicher Wörter für alle gemeinsam, aber in spezialisierten Gebieten kennen Leute Wörter, die die Leute außerhalb dieses Fachgebiets 10

nicht kennen. So hat z.B. beinahe jeder Beruf sein eigenes Zusatzvokabular. Das gesamte Vokabular einer Sprache ist in Teilgruppen von Vokabular eingeteilt, entsprechend bestimmten Teilgruppen von Leuten, die die Korrektheitsbegriffe in bezug auf die Gestalten der Wörter als auch in bezug auf ihren Gebrauch kennen. Dies ist bekannt als »division of linguistic labor«, d.h. sprachliche Arbeitsteilung, ein Ausdruck, der durch Putnam (1975) geprägt wurde. Wenn neue Wörter oder Lehnwörter in eine Sprache eingeführt werden, dann kann der einfache Korrektheitsstandard des In-der-Liste-Seins-odernicht nicht angewandt werden. Da diese Wörter eben nicht in der Liste sind, wären sie damit in erster Instanz erst einmal inkorrekt, oder zumindest gehören sie nicht zu den korrekten Wörtern der Sprache. Hier spielt anstelle des Begriffes »Korrektheit« der Begriff »Akzeptabilität« eine Rolle: Ist das neue Wort entsprechend den Wortbildungsmustern der betreffenden Sprache aus existierenden Wurzeln, Stämmen und Affixen gebildet in einer Weise, daß die Bedeutungen der Teile so verträglich sind, daß sie entsprechend dem semantischen Wert des morphologischen Konstruktionstyps der Zusammenstellung verträglich sind? Wenn es sich um ein neues Wort handelt, das nicht aus bestehenden Morphemen der Sprache besteht, dann spielt die Weise der Einführung des Wortes eine entscheidende Rolle: Ist der Gebrauchskontext ausreichend, um genügend Information darüber zu geben, was die Bedeutung des neuen Wortes ist? - Dies ist auch wichtig bei vielen Zusammensetzungen aus schon bekannten Morphemen, da die Konstruktionsmuster meist keinen eindeutigen semantischen Wert haben. — Oder für ein Lehnwort: Ist es ein Wort einer Sprache mit Prestige, oder einer Sprache, die wenigstens den Führern derjenigen Gruppe bekannt ist, die dies Wort zuerst akzeptieren müßte? Ist es ein Wort eines einheimischen Dialekts, der von Leuten gesprochen wird, die auch außerhalb ihrer eigenen Region in anderen Gebieten eine Rolle spielen, wo die Standardsprache oder benachbarte Dialekte gesprochen werden? Ist das Lehnwort anpaßbar an die phonologischen und morphologischen Restriktionen der betreffenden Sprache, und zwar so, daß sein Ursprung noch erkennbar ist, wodurch dann seine Bedeutung zu einem gewissen Grade aus der Kenntnis der Sprache und Kultur, aus der es kommt, erschlossen werden kann? Und wichtig in all diesen Fällen ist, ob das neue Wort nötig ist, oder ob da nicht schon ein Wort in der betreffenden Sprache ist, das die Zwecke, zu denen das neue Wort dienen soll, gut erfüllt, ohne irgendwie stigmatisiert zu sein. Von allen diesen Punkten hängt die Akzeptabilität ab. Ist das neue Wort für eine signifikante Gruppe der Bevölkerung akzeptabel, dann wird es zuerst durch diese Gruppe übernommen und später durch die gesamte Sprachgemeinschaft, wenn es dort irgendwie nützlich ist. In dem Moment, in dem ein neues Wort durch eine Gruppe übernommen, d.h. in die Praxis gebracht ist, hat es Korrektheitsmaßstäbe bekommen; diese ersten Gebrauchsfälle geben 11

nun die Kriteria für den weiteren Gebrauch des Wortes und für seine richtige Form und Gestalt ab. 2.3. Korrektheit der syntaktischen Form Es ist nicht viel Syntax nötig, solange eine Sprache in ihrem Gebrauch beschränkt ist auf die Sprechsituationen selbst in dem Sinne, daß sie nur über die Sprechsituationen selbst berichtet, d.h. wenn Sprechsituation und Referenzsituation zusammenfallen. Der Hörer kann dann ja selbst sehen, was vor sich geht, und die Sprache wird dann nur gebraucht, um die Aufmerksamkeit auf bestimmte Teile oder Aspekte dieser Situation zu richten, und nicht so sehr, um eine genaue Beschreibung der Situation zu geben. Dies ist nicht nur so in bezug auf Indikativsätze, sondern auch in bezug auf Imperative und Fragen, die direkt in der Äußerungssituation erfüllt werden können. Hier geht, was gesagt wird und was geschieht, weitgehend parallel oder folgt direkt aufeinander. Situationen dieser Art haben wir z.B. beim Sprachelehren an Affen oder an kleine Kinder. Es sind Situationen, wo sowieso nicht viel Sprechen nötig ist, um erfolgreich kommunizieren zu können, und Wortordnung (Reihenfolge der Satzteile) und Hexion sind nicht wirklich wichtig, um ernsthafte Probleme der Ambiguität zu vermeiden. So ist hier ein Begriff von syntaktischer Korrektheit nicht nötig; denn Interpretation geht auch gut ohne Syntax. Auch in frühen Stadia von Pidgin-Sprachen (cf. Bickerton 1977) wird kein Begriff von syntaktischer Korrektheit verwendet und existiert auch nicht für das Pidgin; alles was funktioniert, ist akzeptabel. Im allgemeinen werden Korrektheitsbegriffe nicht um ihrer selbst willen verwendet, sondern sie werden entwickelt und gebraucht, wenn sie wirklich notwendig sind. Dies ist auch der Grund dafür, daß gesprochene Sprache viel freier in ihrer Syntax ist, bis zum völligen Verzicht auf syntaktische Form in solchem Sprechen, in dem die Interpretation schon zum größten Teil durch nicht-sprachliche Information gesichert ist, sei es durch die Situation, oder durch vorgängige Kenntnis des Inhalts dessen, was da gesagt wird. Es gibt viele Situationen, in denen Leute nicht in Sätzen sprechen, sondern nur ein oder mehrere Wörter sagen, und zwar in einer Reihenfolge, die sicherlich nicht durch Syntax bestimmt ist, und wobei Kontext, Gestik und Intonation Aufschluß über das Gemeinte geben. Diese Situationen gibt es hauptsächlich beim Ausdruck von Gefühlen und überhaupt in allen Arten von intimen Situationen: der Hörer weiß sowieso, was gemeint ist, und der Sprecher weiß, daß der Hörer das weiß. Sprechen dient hier nur zur Verstärkung des schon Bekannten. Wenn Interpretation von Gesprochenem sowieso sichergestellt ist, spielt Syntax keine Rolle. Ein sehr allgemeiner Fall hierfür ist das Beantworten von Fragen: In der Frage ist die bei der Antwort vorausgesetzte Information für die Antwort schon ausgedrückt, und zwar auf syntaktisch explizite Weise. Die Frage kann dann durch ein 12

einziges Wort, oder durch Paare von Wörtern oder Reihen davon beantwortet werden, z . B . »John, Marie, und Bill, Susi« als Antwort auf die Frage »Wen lieben John und Billy?«. Der Fall, in dem die fehlende syntaktische Form durch die vorangehende Frage gegeben wird, ist nichts weiter als ein besonderer Fall der allgemeinen Bedingung für minimale syntaktische Form, nämlich daß die für die Interpretation nötige Information vorausgesetzt werden kann. Außer dem, daß gesprochene Sprache gewisse syntaktische Muster hat, die in der geschriebenen Sprache nicht gebraucht werden, bzw. nicht als korrekt gelten, ist sie auch insgesamt syntaktisch weniger beschränkt. Normalerweise akzeptieren Leute diese Freiheit von einem strengen Begriff von syntaktischer Korrektheit, außer in Situationen, in denen hierdurch das Verstehen behindert würde, und außer in Lehr- und Lernsituationen. In diesen Situationen korrigieren Eltern und Lehrer die Kinder und die Sprachlerner im allgemeinen sogar, wenn die Kommunikation auch mit syntaktisch nicht regulierten Konstruktionen gut funktionieren würde; dies geschieht, um so das Lernen der Syntax zu ermöglichen, die für die geschriebene Sprache und für die Kommunikation über unbekannte Geschehen, Dinge, Beziehungen und Eigenschaften nötig ist, wobei keine hinreichenden Aufschlüsse über die Interpretation vorgängig, etwa durch die Sprechsituation oder eine schon bekannte Referenzsituation, gegeben sind. Motivation zum Lernen von Syntax hängt von verschiedenen Faktoren ab: dem Prestige der Menschen, die die Modelle für korrektes Sprechen abgeben, dem Wunsch, ihnen zu gefallen oder zumindest Vernachlässigung und Sanktionen durch sie zu vermeiden, und insbesondere dem Trieb, um Teile der Welt kennen zu lernen, die außerhalb der unmittelbaren Umgebung liegen. Kommunikation über Dinge und Ereignisse, die nicht gegenwärtig sind, oder sogar unbekannt sind, mit dem Ziel, Kenntnis über sie aufzutun, funktioniert im allgemeinen nur mit einer Regulierung der syntaktischen Form und zwar so, daß in der syntaktischen Form Tatsachen klar repräsentiert sind; es muß eine syntaktische Form geben und nicht ein fortwährendes Verändern beim Zusammenstellen von Wörtern mit nie endenden Ambiguitäten. Syntax muß die Fakten deutlich kriegen, so könnte man sagen. Um zu lernen, wie das getan wird, muß man Syntax zuerst einführen und zuerst lernen vis à vis den Tatsachen. Insofern stimmt das etwas naive Abbildungsmodell der Beziehung zwischen Sätzen und der Information, die sie repräsentieren: Es muß eine Abbildung zwischen Tatsachen und Texten geben, aber sie kann für verschiedene Sprachen verschieden definiert sein. Auf jeden Fall muß diese Abbildung in der einen oder anderen Weise definiert sein. Dies heißt, daß gerade in den Situationen, in denen Syntax nicht wirklich nötig ist für erfolgreiche Kommunikation (weil das Sprechen keine wirklich neue Information übermittelt, sondern nur die Aufmerksamkeit auf schon Bekanntes und Wahrnehmbares richtet), Syntax eingeführt und 13

gelernt werden muß, um der Kommunikation willen, die über andere, fremde, entfernt liegende Situationen und deren Beziehungen handelt. Situationen zum Lernen von Syntax sind insofern gewiß »unnatürlich«: Sie selbst geben keine Motivation für das Lernen von Syntax, weil gerade in ihnen Syntax nicht wirklich nötig ist. - Dies könnte einen Teil der Schwierigkeiten ausmachen, die sich beim Syntaxlehren an Affen zeigen. Sie lernen recht gut Wörter und kombinieren sie auf sinnvolle Weise miteinander bis zu etwa drei Wörtern, sowohl in einer Weise, die man als Kompositabildung interpretieren kann, als auch als Bildung von neuen Sätzen. Aber syntaktische Restriktionen, auch schon für kurze Sätze, stellen eine Schwierigkeit dar, sicherlich auch, weil sie in den Situationen, in denen Affen leben und kommunizieren, nicht nötig sind; Zeichen werden gebraucht, um die Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, was in der Sprechsituation sowieso anwesend ist oder eine direkte handlungsmäßige Fortsetzung davon ist, oder auf ein Ding, das deutlich abwesend ist, so daß das Zeichen dann eindeutig bedeutet, daß man dieses Ding haben will. Dieselbe Situation finden wir bei sehr jungen Kindern, die sich vorzüglich deiktisch perfekt verständlich machen können, mit einem beschränkten Wortgebrauch. Durch Aufmerksamkeit und Lob belohnte Nachahmung der Erwachsenen und anderer Kinder, zusammen mit einem breiteren kognitiven Interesse und Fähigkeiten führen dazu, daß auch über Situationen und Dinge außerhalb der Reichweite und außerhalb des Gesichtsfeldes kommuniziert werden kann durch Übertragung der in den Lern- und Erfüllungsituationen für Sätze, d.h. für syntaktische Muster, gelernten Abbildungsbeziehungen zwischen Sprache und Welt. Für die Repräsentation von Beziehungen zwischen Ereignissen und Umständen sind kognitive Mittel nötig, und es ist möglich, daß die Syntax einer Sprache zum Teil, neben pragmatischen Funktionen, eine Abbildung ist, die die grundlegenden kognitiven Verbindungen in Tatsachen repräsentiert. Verschiedene Syntaxen sind dann verschiedene Abbildungen dieser Beziehungen, die die kognitiven Strukturen bewahren, und zwar zu einem solchen Grade, der notwendig ist für die Orientierung über die Welt mittels der Sprache. Andererseits liefert die Syntax einer Sprache eine sozial kontrollierte Zwischenstruktur zwischen kognitiven Operationen und öffentlich zugänglichen und kontrollierbaren Sachverhalten. Dadurch kann eine Syntax, die vis à vis Tatsachen gelernt wird, eine sozial induzierte Strukturierung zustandebringen, die einerseits mit den Tatsachen der Umgebung verträglich ist und andererseits mit den grundlegenden kognitiven Operationen verträglich ist. — Dabei braucht sie nicht mit einzelnen kognitiven Basisoperationen zu korrespondieren, sondern kann ganze Komplexe, oder »Subprogramme« von solchen Operationen in bezug auf wahrgenommene Teile der Welt abbilden. Entsprechend den obigen Überlegungen können wir sagen, daß Syntax in bezug auf Situationen und Ereignisse und deren Interrelationen, Struktu14

ren in einer sozial koordinierten Weise selektiert. Situationen und deren Beziehungen, die unter diesem selektiven Gesichtspunkt repräsentiert werden, nennen wir Tatsachen, oder Fakten. Tatsachen sind also sprachabhängige Selektionen aus Strukturierungen und Systematisierungen, die die Welt zuläßt dadurch, daß sie ist wie sie ist. Auf diese Weise besteht ein Homomorphismus zwischen der Syntax einer Sprache und den Tatsachen der Welt. — Da Syntax auch noch pragmatische und kommunikationstechnische Informationen kodiert, können mehrere syntaktische Formen auf ein und dieselbe Tatsache abgebildet werden; wir haben hier also keinen Isomorphismus. - Auf diese Weise ist sozial bestimmt, was die Tatsachen sind, und es ist durch die Wirklichkeit bestimmt, ob etwas eine Tatsache ist. Was die Tatsachen sind, ist sozial bestimmt insoweit, wie die menschlichen Möglichkeiten zu kognitiven Operationen dazu einen Spielraum lassen und insoweit, wie es durch die Wirklichkeit eingeschränkt ist, ob etwas möglicherweise eine Tatsache sein könnte. Was Tatsachen sind, ist also durch drei Arten von Bedingungen eingeschränkt, durch die Wirklichkeit, durch kognitive Fähigkeiten und durch soziale Konventionen. Fakten liegen im Bereich der Möglichkeiten, die durch grundlegende Beschränkungen im Umgang mit Informationsdaten abgesteckt sind, die durch Perzeption und lexikalische Information, und durch schon erhaltene syntaktisch strukturierte Information auf rekursive Weise aufgebaut werden. Die Rekursivität der Syntax und die Rekursivität kognitiver Operationen ermöglicht es, komplexe Informationen aus relativ einfacheren komplexen Informationen aufzubauen. Geschriebene Sprache ist viel situationsunabhängiger zu interpretieren als gesprochene Sprache: Information, die beim Sprechen durch die Sprechsituation, Intonation und Gestik vermittelt werden kann, muß beim Schreiben explizit gemacht werden durch sprachliche Formulierungen. Neben einem größeren Wortschatz erfordert dies auch, daß sozial kontrollierte syntaktische Konstruktionen, d.h. eine konventionell festgelegte Syntax, verfügbar sind. Auch in gesprochener Sprache gibt es Situationen, die strenge syntaktische Restriktionen erfordern. Im allgemeinen sind dies Situationen, in denen Inhalte besprochen werden, die nicht ohne weiteres aus der Sprechsituation selbst bekannt sind. Dies ist der Fall bei Vorträgen über alle möglichen Themen, wie auch bei Berichten und Erzählungen geschichtlicher Art. Geschichte in gesprochener Überlieferung verlangt eine strenge syntaktische Form nicht nur, um das Memorieren zu vereinfachen, sondern auch, um die Fakten über Ereignisse und Zusammenhänge deutlich zu halten, die vor langer Zeit stattfanden und nicht mehr unabhängig von den überlieferten Texten aufzufinden und festzuhalten sind. Dieselbe Genauigkeit, die nötig ist beim Berichten über die Vergangenheit, ist auch nötig beim Formulieren von Vorhersagen und Plänen über die Zukunft, es sei denn man wünscht dabei gerade soviel Ambiguität, daß die Voraussage 15

durch beinahe jeden Geschehensverlauf bewahrheitet wird; sich so ambig auszudrücken, ist die Kunst des Orakels. Aber allgemein gilt, daß wenn Geschichte einmal durch Ambiguität des historischen Textes unsicher geworden ist, sie nicht mehr wiedergefunden werden kann; und wenn Voraussagen und Pläne durch Ambiguität unsicher sind, dann weiß man nicht, was man erwarten kann und was man tun soll. Für zuverlässige Orientierung ist Präzision nötig, und diese ist nur in festgelegten syntaktischen Formen möglich. Auf diese Weise versahen die Leute, die in schriftlosen Volksstämmen für die Überlieferung der Geschichte des Stammes verantwortlich waren und die die alten Geschichten und Lieder wortwörtlich auswendig lernen mußten, für ihre Sprache einen ähnlichen Dienst wie es die Schriften der literalisierten Gemeinschaften tun: Syntaktische Form wird in geschriebener Sprache, und in »gefrorenen« Texten allgemein, seien es mündliche oder schriftliche, stabilisiert. Diese verfestigten Texte sind Bezugspunkt oder Modell für die Begriffe von syntaktischer Korrektheit. Dies hat in der Geschichte der Sprachen zu verschiedenen Graden der Standardisierung geführt und auch zu Spannungen zwischen konservativen Modellen und neuen Modellen, die ein Kompromiß sind zwischen den alten Modellen und neueren Entwicklungen der gesprochenen Sprache, die durch einen Wandel der Lebensbedingungen und damit zusammenhängender Modernisierungen stattgefunden haben. — Hierzu siehe den Abschnitt über die Rolle klassischer Sprachen bei der Standardisierung in diesem Buch. Der Einfluß einer klassischen Sprache, nämlich des Latein spielte eine große Rolle bei der Entwicklung schriftsprachlicher Varietäten des Deutschen in den Kanzleien des 15. und 16. Jahrhunderts, obgleich in den verschiedenen deutschen Staaten geschriebene Literatur in der Dichtkunst vorlag. Im amtlichen Bereich jedoch mußte der Übergang vom Lateinischen zum Deutschen an ganz anderen Textsorten gemacht werden, wobei die bereits für diese Bereiche entwickelten Register aus dem Latein in das Deutsche übertragen wurden. Die regionalen Kanzleien hatten einen größeren Einfluß auf die Entwicklung einer Deutschen Standardsprache als die traditionelle Literatur nicht religiöser Art, deren alte Handschriften überhaupt erst viel später wiederentdeckt wurden. Die Frage ist nun, ob es einen eigenen Begriff syntaktischer Korrektheit jeweils für die geschriebene und die gesprochene Sprache gibt, oder ob es nur einen Begriff syntaktischer Korrektheit gibt, nämlich den der geschriebenen Sprache, an den formelles Sprechen, weniger formelles Sprechen und informelles Sprechen mehr oder weniger angepaßt sind. Lehrer nehmen offenbar das letzte an, wie sich aus ihrem Korrekturverhalten zeigt: in Schulen wird gesprochene Sprache kritisiert und korrigiert im Hinblick auf den Standard der geschriebenen Sprache. Insbesondere in Grundschulen verlangen Lehrer z.B. von den Schülern, daß sie in ganzen, d.h. syntaktisch expliziten Sätzen antworten, obgleich eine Ein-Wort-Antwort, oder eine 16

Paar-Antwort, oder eine Kette aus diesen eine semantisch und pragmatisch völlig korrekte Antwort sind. Dies wird wohl verlangt, um so Syntax zu üben, aber das Problem mit dieser Art Übungen ist, daß sie in Kontexten getan werden, in denen syntaktische Explikation gerade nicht nötig ist und sogar pragmatisch inkorrekt ist, da damit Information ausgedrückt wird, die nicht ausgedrückt zu werden braucht, weil sie vollständig explizit im Kontext in eindeutiger Weise vorhanden ist. Die Verfügbarkeit der Information aus dem Kontext wird bei der Produktion von Texten systematisch berücksichtigt und ist in den Begriffen der Textkorrektheit konzeptualisiert. In dem eben erwähnten Beispiel haben wir Texte, hier Frage-Antwort Dialoge, die vollständig korrekt sind, die aber weniger akzeptabel werden, und zwar sogar textmäßig inkorrekt, dadurch, daß der Begriff von syntaktischer Korrektheit so überdehnt wird, daß jede Aussage durch einen syntaktisch vollständigen Satz ausgesprochen werden muß, in welchem Kontext auch immer. Dies ist ganz klar ein Fall von Hyperkorrektheit bezüglich des Gebrauchs syntaktischer Form. Im alltäglichen Sprechen hängt das auf den schriftlichen oder formalen Standard gerichtete Korrektionsverhalten davon ab, wie sehr man sich davon bewußt ist, eine Sprache zu sprechen, die von der Schriftsprache unterschieden ist: In der Schweiz wird die gesprochene Sprache als eine eigene Sprache, Schweizerdeutsch, neben der Schriftsprache, Deutsch, akzeptiert. Dies zeigt der Gebrauch von Schweizerdeutsch in halbformellen Situationen im Geschäftsleben und in der Schule. Geschriebene Sprache hat dort keinen F.influß auf die Umgangssprache, obgleich sie einige normative Kraft bcsii7t in bezug auf formellen mündlichen Sprachgebrauch. Auch in Österreich wird die gesprochene Sprache nicht über die Normen des geschriebenen Deutsch geregelt, jedoch ist sie von ihr weniger unabhängig als das Schweizerdeutsch; die Orientierung auf den geschriebenen Standard hin ist größer. Die politische Unabhängigkeit dieser zwei Staaten trägt sicherlich dazu bei, daß man sich bewußt ist, eine eigene Sprache zu sprechen, die nicht Standarddeutsch ist. In diesen Fällen können wir von verschiedenen Mengen von Normen, auch syntaktischen Normen, für die geschriebene und die gesprochene Sprache sprechen, die voneinander unabhängig bestehen, mit Aussonderung der Normen für formellen Sprachgebrauch. In Bayern, einem deutschen Staat mit einem deutlichen Identitätsbewußtsein, das auch über seine Grenzen hin anerkannt ist, ist die Bayrische Sprache anerkannt als eine Sprache mit lokalem Prestige, aber sie wird doch, relativ zum Standarddeutsch, als ein Dialekt des Deutschen angesehen. Dies bedeutet, daß in öffentlichen Funktionen nicht seine Normen, sondern die der Standardsprache gelten. Die gesprochene Sprache in Bayern ist regional stark durch das Bayrische, bzw. durch fränkische oder durch schwäbische Dialekte beeinflußt. Viele der insgesamt süddeutschen sprach17

lichen Merkmale werden in den Schulen des Landes akzeptiert, oder sogar gefördert, und zwar selbst in der geschriebenen Sprache, soweit es um lexikale süddeutsche Eigentümlichkeiten geht (wie z . B . Bua = Bube im geschriebenen Süddeutschen, in der Bedeutung von Standarddeutsch >JungeKorrektheit< als Satz, sondern allgemeiner >Korrektheit als sprachlicher Ausdrucks soweit es um seine kompositionelle Form geht. Ob der Ausdruck im Einzelfall ein Satz oder eine andere Phrase, die auch als Satzteil auftritt, sein kann, hängt von der im Kontext vorliegenden Information ab, ist also eine Frage der Textkorrektheit. Und dies ist weniger eine Frage der Form des Textes als seines Inhalts. So ist formal gesehen Fritz mit Inge, Peter mit Udo und Thea mit Karl eine passende Antwort auf die Frage der Form Wer kommt mit wem?, aber es ist ebensogut eine Antwort auf die Frage von ganz anderer Form Welche Leute kommen zusammen?. Es sind Typen von Inhalten von Fragen, auf die bestimmte Antworten passen. Diese Inhalte können mit alternativen Formulierungen korrespondieren; die allgemeinsten Aussagen über Textkorrektheit lassen sich eher auf der Ebene der Inhalte, als auf der der Formen machen. Es gibt gewisse, auch formale Eigenschaften von Texten, die diese als Texte von dieser oder jener Art erkennen lassen, z.B. als 21

ein Brief, als ein Bericht, als eine Erzählung, etc. Aber es gibt keinen Begriff der Textform per se. Dies ist so, weil die Eigenschaft der Kohärenz, die einen Text zu einem Text macht, in Gegensatz zu einer bloßen Kollektion von Sätzen oder sprachlichen Ausdrücken überhaupt, nicht auf der formalen Ebene des Textes selbst erfaßt werden kann, sondern nur in bezug auf seine Interpretation, wobei zu berücksichtigen sind: Referenteneinführung, Bezug auf eingeführte Referenten, Präsuppositionen und anderes vorausgesetztes Wissen von Sprecher und Hörer, Ziele, Motive und die allgemeine Voraussetzung der Rationalität menschlichen Verhaltens. - Darum ist der Begriff »Textgrammatik«, der in den frühen Tagen der Textlinguistik durch Van Dijk (1972) eingeführt und durch Dascal und Margalit (1974) kritisiert wurde, nicht etwas, das mit Satzgrammatik vergleichbar ist. Korrektheitsbedingungen für Texte zu formulieren ist nicht eine Angelegenheit des Auffindens und Explizierens von Korrektheitsbedingungen für sprachliche Formen als solche. Textkorrektheit gehört unter einigen Gesichtspunkten unter den Titel »Korrektheit des Gebrauchs sprachlicher Mittel« zusammen mit semantischer und pragmatischer Korrektheit, und unter anderen Gesichtspunkten unter den Titel »Korrektheit von Handlungen und Folgen von Handlungen«. Pragmatische Korrektheit, einschließlich stilistischer Aspekte und der Textkorrektheit, kann in zwei unterschiedliche Arten von Korrektheit eingeteilt werden: 1. Korrektheit im Gebrauch sprachlicher Mittel, d.h. sprachlicher Formen mit ihrer lexikalischen Konkretisierung; 2. Korrektheit der Kommunikation als Teil rationaler Interaktion. Wenn wir Äußerungen unter dem ersten Gesichtspunkt beurteilen, dann setzen wir stets Korrektheit unter dem zweiten Gesichtspunkt schon voraus. Dies ist nötig, weil wir die Passendheit des Gebrauchs der sprachlichen Mittel für die Ausführung bestimmter interaktiver Handlungen, oder in Folgen von diesen, nur beurteilen können, wenn wir in der Lage sind herauszufinden, welches die intendierte Handlung ist. — Andererseits müssen wir uns natürlich darauf verlassen können, daß die sprachlichen Mittel korrekt gebraucht sind, wenn wir herausfinden wollen, welche Handlung verrichtet ist. Die Voraussetzung korrekten Gebrauchs sprachlicher Mittel ist für die Möglichkeit der Interpretation essentiell; die pragmatischen Korrektheitsbedingungen für den Gebrauch bestimmter sprachlicher Mittel können nur in Situationen gelernt und gelehrt weden, in denen es evident ist, welche Handlung verrichtet wird; nur hier ist Kritik und Korrektur möglich im Hinblick auf den Gebrauch sprachlicher Mittel. — In den Fällen, in denen eine semantische oder pragmatische Widersprüchlichkeit vorzuliegen scheint, wenn man eine Äußerung entsprechend den Regeln des korrekten Gebrauchs ihrer Teile interpretiert, und auch keine indirekte Interpretation 22

gemäß pragmatischen Prinzipien möglich ist, kann man davon ausgehen, daß hier die linguistischen Mittel in von ihrem normalen Gebrauch abweichender Weise gebraucht sind, und also inkorrekt verwendet sind. Hierbei setzt man voraus, daß die intendierten Handlungen konsistent sind, aber verkehrt ausgeführt werden, was die linguistischen Mittel betrifft, und darum nicht erkennbar sind für den Interpreten. Der Begriff der Textkorrektheit wird hauptsächlich auf den Begriff der Textkohärenz basiert; hierzu wurde in der Textlinguistik der letzten 15 Jahre einige Arbeit verrichtet, siehe z.B. Van Dijk 1977 und 1980, wo Kohärenzbedingungen für Texte behandelt werden. Eine formale Behandlung des Zusammenwirkens von Bedingungen semantischer und pragmatischer Korrektheit bei Fragen und Antworten findet sich in Groenendijk und Stokhof 1984. Im folgenden soll erst die Korrektheit von Texten behandelt werden und danach semantische und pragmatische Korrektheit. 2.4. Korrektheit von Texten Interpretation von Äußerungen und insbesondere von Texten beruht auf einem berechenbaren und auch zurechenbaren Gebrauch sprachlicher Mittel, und auf der Berechenbarkeit der Beziehungen zwischen Kenntnis, Zielen, Handlungen auf der Basis praktischen Schließens. Wir können mit dem rechnen, was unter einem bestimmten Gesichtspunkt, der relevant ist, rational ist, und wenn jemand doch etwas tut, das unter diesem Gesichtspunkt nicht rational ist, dann wird er zur Rechenschaft gerufen, wobei er gut dasteht, wenn er andere relevante Gesichtspunkte beibringen kann, unter denen sein Verhalten sehr wohl rational war, und er Gründe hatte, um diesen Gesichtspunkten den Vorzug zu geben. Diese beiden Aspekte des Mit-etwasrechnen-Könnens erfordern Begriff davon, was man erwarten kann in bezug auf den Gebrauch von sprachlichen Mitteln in gewissen Situationen, und Begriff davon, was man erwarten kann hinsichtlich von Handlungen in diesen Situationen. Erwartungen und Erwartungen von Erwartungen bei Sprechern und Hörern sind dadurch möglich und auch gerechtfertigt, daß bestimmte Korrektheitsbegriffe hinsichtlich dieser beiden Aspekte bestehen. Soweit es um Texte geht, ist der Begriff der Textkohärenz der breiteste Korrektheitsbegriff, den ich hier lediglich in einer seiner Komponenten behandeln will, nämlich unter dem Gesichtspunkt der »thematischen Korrektheit« der Fortsetzung eines Textes an einem beliebigen Punkt. Diese Art lokaler Korrektheit spielt eine wichtige Rolle bei der Interpretation lexikaler Einheiten, wie auch ganzer Sätze. Wenn wir z.B. die Äußerung Hans geht es gut hören, so können wir diese nur interpretieren, wenn wir wissen, in bezug worauf wir gut gehen interpretieren müssen, in bezug auf seine Gesundheit, in bezug auf seine Karriere, in bezug auf seine ökonomische Position, oder in bezug auf seine Familienverhältnisse. Diese verschiedenen 23

Hinsichten nenne ich »thematische Dimensionen«, in denen solche Wörter wie gut, zufriedenstellend, stark, etc. interpretiert werden müssen. Wörter, die qua Inhalt dimensional unterbestimmt sind, können in bezug auf eine Menge thematischer Dimensionen interpretiert werden, wobei ihnen semantischer Gehalt zugeführt wird. Je unbestimmter ein Wort ist, desto mehr Dimensionen gibt es, mit denen es verträglich ist und in denen es interpretiert werden kann. Dieser per Dimension zugefügte semantische Inhalt gehört nicht zur Bedeutung dieser Wörter, sondern ist eine Zugabe des Kontexts. Der Kontext spezifiziert die thematische Dimension, die in Frage kommt; das können manchmal auch mehrere sein (für Details siehe Bartsch 1984 d). An jeder Stelle des Textes sind Fragen passend und können gestellt werden, oder als interessant vom Sprecher vorausgesetzt werden, die dann durch den hieran anschließenden Text beantwortet werden. — Die Entwicklung einer Fragenreihe zu einem Hauptthema ist eine Methode, um die Komposition von Texten, insbesondere von Aufsätzen und Berichten zu erlernen (vergi. Drop und de Vries 1980 2 ), die auch von Hellwig (1982) für eine Theorie des Textzusammenhangs fruchtbar gemacht wird. Die Fragen, die im Verlauf eines Textes gestellt werden können, definieren die thematischen Dimensionen, innerhalb derer die Interpretation der Fortsetzung des Textes stattfindet. Diese Fragen nenne ich »thematische Fragen«. — In welch großem Ausmaß die Interpretation von indikativischen Sätzen von gestellten oder angenommenen Fragen abhängt, ist gezeigt und formal ausgearbeitet in Groenendijk und Stokhof (1984), in ihrer Theorie über die Semantik und Pragmatik von Fragen und Antworten. — Wie in der Textlinguistik dargestellt (siehe Van Dijk 1977, 1980), wird der Aufbau von Texten und ihre Kohärenz global durch ein allgemeines Thema oder Hauptthema, die »Makro-Struktur« des Textes, und durch die Art des Textes, die »Super-Struktur« oder »Textsorte« bestimmt. In größeren wie auch in kleineren Stücken des Textes spielen Objekte aus dem Modell der Interpretation, dem Textmodell, eine Rolle; es sind dies Referenten, Identität von Referenten, einschließlich Ort, Zeit, Beziehungen zwischen Orten und Zeitpunkten, ganze Situationen, kausale Beziehungen zwischen diesen, wie auch motivationelle und argumentative Zusammenhänge; sie tragen bei zur Textkohärenz, ebenso wie die sogenannten »frames« für Handlungen oder »scripts« für ganze Situationen, die Erwartungen über die Progression des Textes ermöglichen und zugleich unerwartete Details von Information markieren, die mit der Textprogression in die Situationsrahmen eingezeichnet werden. Innerhalb dieses bekannten Modells der Textstruktur ist auch die Erzeugung thematischer Fragen und mit diesen die Eröffnung von thematischen Dimensionen zu lokalisieren. Es ist insbesondere die Frage nach Information über Nicht-Vorhersagbares, über unerwartete Details innerhalb der Grenzen des allgemeinen Rahmens und über eingeführte Referenten, die 24

sich in thematischen Fragen und der Offenstellung dieser Dimensionen der Interpretation manifestiert. Eine thematische Frage ist auf den vorhergehenden Text basiert und definiert einen Teil der Kohärenzeigenschaften, die ein Textstück mit seiner Fortsetzung verbinden. Neben den Restriktionen die aufgrund von Textkohärenz in bezug auf Situationsrahmen und Referenten gegeben sind, bestimmt auch die Textsorte die Grenzen dessen, was vernünftigerweise an irgendeiner Stelle des Textes gefragt werden kann so, daß die Antwort noch gut innerhalb der Begrenzungen der Textsorte liegt, d.h. daß die Antwort in diese Art Text paßt. Da thematische Fragen dazu auffordern, unerwartete Details, oder auf jeden Fall nicht mit Sicherheit voraussagbare Details, in den vorgegebenen Rahmen einzufüllen, können sie sich auf relevante Eigenschaften von eingeführten Referenten, auf Beziehungen zwischen diesen Referenten, und kurz gesagt, auf alles beziehen, was Erklärungen abgibt für Ereignisse, Handlungen und Einstellungen von Menschen. Wir können in diesem Zusammenhang wengistens drei verschiedene Arten von thematischen Fragen unterscheiden: A. Technisch und faktisch orientierte Fragen; B. Personenorientierte Fragen nach Motiven und Einstellungen; C. Kommunikativ orientierte Fragen nach der Motivation und dem Verständnis von Sprechakten und Zügen im Dialog oder Text. Wenn thematische Fragen in Texten explizit gemacht werden, wie z.B. in Dialogen, dann liefern sie explizit die thematische Dimension dadurch, daß sie entweder darauf mit einem Nominalausdruck referieren, wie etwa Peters Gesundheit in Wie ist Peters Gesundheit?, oder durch ein prädikatlimitierendes Adverbial wie z.B. hinsichtlich seiner Gesundheit, oder gesundheitlich, oder soweit es seine Gesunheit betrifft. Wenn die thematische Dimension nicht explizit genannt wird, dann können wir annehmen, daß der Sprecher davon ausgeht, daß der Hörer eine gewisse thematische Frage hat, und er setzt den Text unter dieser Annahme fort. Dieserart Annahmen können durch die folgenden Beispiele illustriert werden, in denen die Interpretation des niederländischen Adjektivs flink von der jeweils angenommenen thematischen Dimension abhängt. 1. Jantje was met zijn moeder naar de tandarts. Het viel nogal tegen; maar hij is een flinke jongen. >Hänschen war mit seiner Mutter beim Zahnarzt. Es war ziemlich unangenehm; aber er ist ein tapferer Junge.< Das Wort flink heißt soviel wie >stark in Hinsicht X... Er hatte eine heftige Entzündung unter einem seiner Backenzähne. Deswegen konnte er heute nicht zur Schule gehen.< Hier ist der zweite Satz eine Antwort auf eine Α-Typ Frage, nämlich »Was war los mit seinen Zähnen?«. Der letzte Satz ist eine Antwort auf eine C-Typ Frage, nämlich »Warum erzählst Du mir dies?«. Die Antwort ist, daß der Sprecher eine Erklärung dafür geben will, warum Hans heute nicht in der Schule war. Auf diese Weise können wir diese kurzen Texte als Dialoge rekonstruieren, in denen eine Person die thematischen Fragen stellt und die andere antwortet. In Beispiel (3.) geht es umgekehrt; es handelt sich um einen wirklich stattgefundenen natürlichen Dialog, der durch Streichen der Fragen zu einem kohärenten Text gemacht werden kann. 3. R: E: R: E: R: E: R: E:

Hallo. Wat heb je hier, Erik? Een bakfiets. Is die van jou? Nee, hij is van mijn baas. Stuurt hij moeilijk? Nee, hoor. Ik vraag, omdat die voren twee Wielen heeft. Nee, niet moeilijk. Maar het is toch even wennen.

>Hallo. Was hast Du denn da? - Ein Kastenfahrrad. - Ist es Deins? Nein, es gehört meinem Chef. - Steuert es sich schwer? - Nein. - (Nun denkt R daß E denkt »Warum fragt sie das?« und sagt:) Ich frage, weil es vorn zwei Räder hat. - Nein, nicht schwer; aber man muß sich doch eben daran gewöhnen. —< Dieser Dialog kann zu einem Text kondensiert werden, der durch die erste Frage initiiert wird: Hier habe ich ein Kastenfahrrad; es gehört meinem Chef. Es steuert sich nicht schwer, aber man muß sich doch eben daran gewöhnen. Textproduktion setzt voraus, daß eine Beginnfrage gestellt ist, die es zu beantworten gilt. Diese Frage kann auch antizipiert sein. Während der Textproduktion antizipiert der Sprecher Fragen des Hörers. Die Antworten zu diesen Fragen konstituieren den Text. In der Textinterpretation antizipiert der Hörer, welche Fragen der Sprecher ihm zuschreibt. Textinterpretation heißt dann u.a., den Text als Antwort auf diese Fragen zu verstehen. Antizipation von thematischen Fragen erfordert, daß diese Fragemög26

lichkeiten begrenzt sind, so daß man wissen kann, welche Fragen in Frage kommen. In diesem Sinne müssen Fragen korrekt oder vernünftig sein. Aspekte unter denen diese Korrektheit näher bestimmt ist, sind: 1. Die Kommunikationssituation; hiervon hängt es ab, welcher Texttyp, d.h. welche Textsorte passend ist und was ihre näheren stilistischen Bestimmungen sind. Hiermit ist dann auch vorgegeben, welche Art von Fragen passend sind, wie etwa personenorientierte, faktenorientierte, oder kommunikativ orientierte Fragen. 2. Für Texte die hauptsächlich der Informationsübermittlung dienen, kann das Gesamtthema des Textes durch eine Frage angegeben werden. Diese Frage zu beantworten ist dann das Hauptziel des Textes, neben anderen möglichen Zielen, wie die Darstellung der eigenen Person, die Stärkung und der Schutz des Images des anderen, das Verstärken von persönlichen Banden, Unterricht geben, etc. Die beiden eben genannten Aspekte sind wichtig für die globale Organisation eines Textes. Thematische Fragen müssen in bezug auf diese Aspekte rational sein, d.h. sie müssen zielgerichtet und zieladäquat sein in bezug auf das Hauptziel und andere akzeptierte Ziele. Im Falle von Konflikten zwischen den Strategien zum Erreichen der verschiedenen Ziele wird einiger Spielraum für die sekundären Ziele gegeben, aber dieser Raum ist begrenzt durch die Erfordernisse des Haupt-Ziels (vergi, den Abschnitt über Normkonflikte in Kommunikationssituationen). Neben diesen globalen Bedingungen gibt es lokale, von denen auch die Erfüllung der globalen Ziele abhängt: Allgemein können wir sagen, daß eine Handlung zu einem Ziel beiträgt, wenn sie uns dichter an das Ziel bringt. Die Zieladäquatheit einer Handlung hängt nicht nur davon ab, was das Ziel ist, sondern auch von den Ausgangsbedingungen. Wenn das Ziel darin besteht, bestimmte Informationen zu verstrecken, dann sind die Anfangsbedingungen die Information, die bereits dem Hörer verfügbar ist. Bezüglich anderer Ziele, wie z.B. die Einstellung und das Handeln des Hörers zu beeinflussen, bestehen die Anfangsbedingungen außer aus relevanter schon verfügbarer Information auch aus Motivationen, Einstellungen und bereits geplanten oder vollzogenen Handlungen. Ein Text ist somit eine Menge von Äußerungshandlungen, die rational organisiert ist im Hinblick auf Hauptziel und sekundäre Ziele und Anfangsbedingungen. Wenn das Hauptziel ist, Information über einen gewissen Sachverhalt zu geben, dann trägt ein Text oder ein Teil eines Textes zu der leitenden thematischen Frage etwas bei, wenn er wenigstens eine partielle pragmatisch korrekte Antwort gibt, d.h. eine Antwort, die zusammen mit anderer dem Hörer verfügbarer Information einige mögliche Antworten ausschließt, und somit den Bereich der möglicherweise wahren Antworten einschränkt. — Für diese und andere hiermit verbundene Begriffe von semantisch und 27

pragmatisch korrekten Antworten siehe Groenendijk und Stokhof (1984). - Die Hauptgesichtspunkte für die Beurteilung von Textkohärenz sind das zentrale Ziel und weitere akzeptierte Ziele, auf die sich der Text den Erwartungen entsprechend richten muß. — Das Problem, daß Kommunikationspartner sich über Ziele nicht einig sind und entsprechend verschiedene Erwartungen haben, lasse ich hier außer acht; dafür siehe das Kapitel über Normkonflikte. Will der Sprecher auf korrekte Weise die Hörerfragen antizipieren können, so hat er die folgenden Informationen als Ausgangsbedingungen an jedem Punkt der Textproduktion nötig: (a) Information über Orientierung und Motivation des Hörers: ist er, an diesem Punkt, personenorientiert, faktenorientiert, oder kommunikativ orientiert? Dies wird zu einem gewissen Grade durch die Art des Textes begrenzt, da einige Textsorten oder Typen von Texten keine personenorientierten Fragen zulassen, andere keine faktenorientierten. Dies kann allerdings im Verlauf eines Textes an verschiedenen Punkten noch verschieden sein, ebenso wie die Motivation des Hörers an verschiedenen Punkten des Textes verschieden sein kann. (b) Information über die Information, die der Hörer schon bezüglich des Topiks und Themas des Textes hat. Einiges davon kann als allgemeine oder gruppenspezifische Kenntnis über die Welt und insbesondere über die Strukturen verschiedener Typen von Situationen, d.h. über sogenannte »Skripts« angenommen werden, anderes ist spezifische Kenntnis des betreffenden Hörers, oder ergibt sich aus der Sprechsituation selbst einschließlich des vorhergegangenen Textes. Wir haben es hier so mit globaler und mit lokaler Orientierung, d.h. globalen und lokalen Motivationen und Informationen zu tun. Eine thematische Frage muß auf neue Information gerichtet sein, d.h. sie muß nach neuer Information fragen und muß daher korrekt sein hinsichtlich der globalen Orientierung des Textes, und hinsichtlich der lokalen Orientierung, die unter (a) und (b) genannt ist. Die Kontinuierung eines Textes muß zumindest eine pragmatisch korrekte partielle Antwort auf eine pragmatisch korrekte thematische Frage geben, i. e. sie muß eine Antwort geben, die pragmatisch korrekt ist hinsichtlich der akzeptierten Ziele der betreffenden Kommunikation und hinsichtlich des Hörers lokaler Motivation und lokaler Information. Grob gesagt ist eine Kontinuierung eines Textes pragmatisch korrekt, wenn sie eine pragmatisch korrekte Antwort auf eine pragmatisch korrekte Frage gibt. Die thematischen Fragen und damit die thematischen Dimensionen, relativ zu denen Wörter und ganze Sätze interpretiert werden, sind begrenzt durch die Korrektheitsbegriffe, die gerade erwähnt wurden. Der Hörer geht 28

davon aus, daß der Sprecher sich korrekt verhält hinsichtlich der Punkte, die oben diskutiert wurden, und der Sprecher nimmt dasselbe vom Hörer an, und über des Hörers Annahmen über den Sprecher und dessen Annahmen. Innerhalb der so gesteckten Grenzen, definiert durch die eben entwickelten Begriffe von Textkorrektheit, die nichts weiter sind als eine spezifische Ausarbeitung des Rationalitätsprinzips, findet die Bestimmung der thematischen Dimensionen statt und ist die Interpretation eines Textes, an jedem Punkt entsprechend, innerhalb dieser Dimensionen beschränkt und somit dadurch mitbestimmt. Dies kann insoweit sehr allgemein festgestellt werden, und es kann auf individuelle Fälle von Texten und Dialogen mit präzisen Ergebnissen angewandt werden. Aber diese Korrektheitsbegriffe für Texte können nur in einer formalen Semantik und Pragmatik von Texten formalisiert werden. Die Schwierigkeit oder sogar Unmöglichkeit, sie als formale Eigenschaften von Texten explizit oder festzumachen, liegt hauptsächlich in der Tatsache, daß große Teile der Prozesse, die durch diese Korrektheitsbegriffe geregelt werden oder wenigstens geleitet werden, keine eindeutig bestimmten sprachlichen Ausdrücke haben, oder auch gar nicht linguistisch ausgedrückt sind. Das ganze Unternehmen, diese Begriffe zu explizieren ist nicht so sehr eines der Linguistik, d.h. es geht nicht darum, um formale Eigenschaften von Texten festzustellen, sondern um die Explikation einer allgemeinen Handlungstheorie und deren Anwendung auf die Kommunikation mittels sprachlicher Mittel. 2.5. Semantische und pragmatische Korrektheit Ausgehend davon, daß Sprache ein Mittel ist zur Bewerkstelligung von Koordination in der Interaktion, lassen sich die Β e d e u t u n g e n von sprachlichen Ausdrücken als das verstehen, was ihren Gebrauch als Mittel zu diesem Zweck regelt. S e m a n t i k , der eine Zweig der Bedeutungstheorie, beschreibt, welche Beiträge Ausdrücke zu den Wahrheitsbedingungen von Aussagesätzen liefern, d.h., was es für das Wahr- oder Falschsein eines Aussagesatzes ausmacht, daß er einen bestimmten Ausdruck in einer bestimmten kategorialsyntaktischen Rolle enthält. P r a g m a t i k ist der Zweig der Bedeutungstheorie, der den Beitrag von Ausdrücken zu den Zwecken der Regelung der Interaktion beschreibt, also unter den Aspekten: Regelung des Interpretationsprozesses, Angabe von Voraussetzungen, unter denen die Interpretation stattfinden soll, Indikation für vollzogene Sprechhandlungen, Indikation für Erwartungen bezüglich der Arten der Reaktion durch den Hörer, etc. Auf der Basis dieser Unterscheidungen zwischen den Arten von Beiträgen von Ausdrücken zur Kommunikation lassen sich N o r m e n f ü r d e n 29

k o r r e k t e n G e b r a u c h von A u s d r ü c k e n formulieren. Die K o r r e k t h e i t s b e g r i f f e , die für eine die Semantik und Pragmatik umfassende Bedeutungstheorie grundlegend sind, werden nun definiert und an Beispielen erläutert. Im folgenden sollen die Begriffe s e m a n t i s c h s i n n v o l l und s e m e n tiseli k o r r e k t , sowie p r a g m a t i s c h s i n n v o l l und p r a g m a t i s c h k o r r e k t definiert und gegeneinander abgegrenzt werden. Der Begriff s e m a n t i s c h s i n n v o l l , wie auch der Begriff p r a g m a t i s c h s i n n v o l l , muß im Hinblick auf Ziele definiert werden, zu denen Sprache als Mittel dient. Darum müssen diese Begriffe in erster Linie in bezug auf eine Satzäußerung und nicht in bezug auf einen Satz oder einen Ausdruck selbst definiert werden; denn erst in der Äußerung wird ein Ausdruck Mittel zu einem Ziel. Die grundlegende Rolle der beiden Sorten von Korrektheitsbegriffen für den Gebrauch der sprachlichen Mittel und deren Interpretation in Äußerungen wird dargelegt und an Beispielen besprochen werden. In der philosophischen Bedeutungstheorie wird der Begriff »Bedeutung« in einem seiner wesentlichen Aspekte auf der Basis des Begriffs »Wahrheit« oder des Begriffs »Evidenz« erläutert. Im ersten Fall ist eine Bedeutungstheorie für eine Sprache eine Wahrheitstheorie für diese Sprache (z.B. Davidson 1969), im zweiten Fall ist sie eine Theorie der Evidenz für diese Sprache (z.B. Quine 1964). Der Ausgangspunkt von dem Begriff »Wahrheit« ist der der sogenannten logischen Semantik, der Ausgangspunkt von dem Begriff »Evidenz« ist der der sogenannten empiristischen Semantik. Der Ausgangspunkt der logischen Semantik, der zugleich der Ausgangspunkt der logischen (oder formalen) Grammatik für natürliche Sprachen ist, wurde durch D. Davidson in seinem programmatischen Artikel »Truth and Meaning« (1969) pointiert formuliert als »Die B e d e u t u n g eines Satzes sind seine W a h r h e i t s b e d i n g u n g e n « . Diese Behauptung, bezogen auf die Aussagesätze und eingeschränkt durch die Formulierung »Die Bedeutung in einem ihrer wesentlichen Aspekte«, beruht darauf, daß das Verstehen eines Satzes, also das Kennen seiner Bedeutung, insbesondere darin besteht, daß man weiß, worauf das Wahrsein dieses Satzes hinausläuft, d.h. daß man weiß, unter welchen Umständen der Satz wahr ist. Wenn man davon ausgeht, daß die Bedeutung eines Aussagesatzes seine Wahrheitsbedingungen sind, so ist die Bedeutung der Konstituenten eines solchen Satzes deren Beitrag zu dessen Wahrheitsbedingungen. Diejenigen Einteilungen eines Satzes in Konstituenten sind dann semantisch gesehen adäquat, auf deren Basis man eine rekursive Wahrheitstheorie für die Sprache L formulieren kann. Eine Wahrheitstheorie für eine Sprache L ist eine Theorie, die die Anwendung des Prädikats wahr auf die Aussagesätze dieser Sprache beschreibt, also eine Theorie, die sagt, unter welchen Bedingungen einem Aussagesatz von L das Prädikat wahr zukommt. S e m a n t i s c h sinnvoll bei einer Interpretation bezüglich eines Dis30

kursbereichs ist eine S a t z ä u ß e r u n g , wenn ihr Erfülltsein oder Nichterfülltsein beurteilt werden kann; für die Äußerung eines Indikativsatzes heißt das, daß sein Wahrheitswert in bezug auf den Diskursbereich beurteilbar sein muß. K o n v e n t i o n e l l s e m a n t i s c h s i n n v o l l ist eine Satzäußerung, wenn ihr Erfülltsein oder Nichterfülltsein auf konventionelle Manier beurteilt werden kann, d.h. gemäß den konventionellen Bedeutungen ihrer Teile. Das heißt z.B., daß definite Deskriptionen (Nominalphrasen mit definitem Artikel) gemäß den konventionellen Bedeutungen der Wörter, woraus sie bestehen, angewendet sind; Äußerungen mit definiten Deskriptionen, die nicht gemäß den konventionellen Bedeutungen ihrer Teile auf Referenten verweisen, sind k o n v e n t i o n e l l semantisch sinnlos, aber sie sind manchmal sehr wohl semantisch sinnvoll. Zum Beispiel trifft jemand, A, eine ihm flüchtig bekannte Dame, C, auf einem Empfang in Begleitung eines Mannes. A sagt dann zu B, indem er auf diesen Begleiter von C weist, »Der Gatte von Frau C ist ja wirklich unfreundlich«. Der Gatte von Frau C referiert in dieser Situation auf jemanden, auch wenn dieser gar nicht der Ehemann von Frau C ist. Aber der Ausdruck referiert nicht in korrekter Weise, und die Aussage von A, sofern sie die Prädikation über den Referenten betrifft, kann sehr wohl korrekt sein. Würde z.B. jemand auf den Präsidenten von Frankreich weisen, oder wäre der Bezug auf ihn aus dem Kontext deutlich, und sagen »Der König von Frankreich ist kahl und der König von Frankreich ist nicht kahl«, so wäre diese Äußerung semantisch sinnvoll, aber konventionell semantisch sinnlos. Außerdem wäre sie in ihrer Prädikation vielleicht indirekt semantisch korrekt, aber direkt semantisch inkorrekt und damit falsch. Insgesamt wäre sie strukturell semantisch inkorrekt, obgleich sie indirekt semantisch korrekt sein könnte. Ist eine Aussage in einer Äußerung referentiell korrekt gebraucht und ist auch das in ihr enthaltene Prädikat in bezug auf den Referenten korrekt gebraucht, dann heißt die Äußerung s e m a n t i s c h k o r r e k t . Semantische Korrektheit ist also Passendheit des wörtlichen Gehalts der Äußerung bezüglich der durch sie partiell repräsentierten Welt. Semantische Korrektheit von assertierenden Ä u ß e r u n g e n ist Passendheit dieser bezüglich der Welt. Semantische Korrektheit von A u s d r ü c k e n wird bezüglich Äußerungssituationen und Verifikations-(oder Lehr- und Ausweisungs-)Situat ion en definiert. Die Beurteilung semantischer Korrektheit des Gebrauchs von Ausdrücken ist also genau den Schwierigkeiten bloßgestellt wie die Entscheidung darüber, ob etwas als Verifikation eines Aussagesatzes gelten kann in bezug auf eine Theorie oder ein Netzwerk von Überzeugungen (im Sinne von Quine 1963, 1964) als Hintergrund. Das heißt dann auch, daß es semantische Korrektheit von Äußerungen, d.h. von Ausdrücken in ihrem Gebrauch, nur geben kann auf dem Hintergrund gemeinsamer Überzeu31

gungen der Sprachgemeinschaft über die Welt und über Normen. Auch hier führt bereits Inhomogenität der Sprachgemeinschaft bezüglich solcher Überzeugungen zu sehr verschiedenen Urteilen über semantische Korrektheit des Gebrauchs von Ausdrücken mit religiösem, wissenschaftlichem und gesellschaftspolitischem Hintergrund. Daneben ist auch das Urteilsvermögen über semantisch korrekten Gebrauch von bestimmten Ausdrücken bei verschiedenen Menschen je nach ihrem allgemeinen Bildungsstand und ihrer Fachausbildung auf dem für diese Ausdrücke spezifisch relevanten theoretischen oder moralischen Hintergrund verschieden hoch einzuschätzen, bzw. verschieden relevant und richtungsweisend für andere. Diese Probleme der Geltung und Herstellung semantischer Normen, d.h. von Korrektheitsbedingungen für den beschreibenden Gebrauch von Ausdrücken, sind dadurch akzeptiert, daß es im Bewußtsein der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft die Anerkennung einer »linguistischen Arbeitsteilung« (Putnam 1975) gibt, so daß nicht jedes Mitglied einer Sprachgemeinschaft jeden Ausdruck korrekt anwenden können muß, sondern sich davon enthalten kann und dies, wenn es belangreich ist, im Zweifelsfall anderen, nämlich Spezialisten, überlassen kann. Die semantische Kompetenz, d.h. das Hantieren des Begriffs »semantisch korrekt« ist in bezug auf verschiedene Teile des Vokabulars einer natürlichen Sprache ungleichmäßig über die Mitglieder der Sprachgemeinschaft verteilt. Dies ist auch nötig, da die menschliche Gehirnkapazität und die Lebenszeit des Einzelnen endlich sind und eine »linguistische Arbeitsteilung« den Einzelnen entlastet, aber zugleich der Sprachgemeinschaft als ganzer gestattet, im Zusammenwirken eine Sprache zu entwickeln, die auf allen wichtigen Bereichen hoch entwickelt ist und sowohl technischem als auch gesellschaftlichem Fortschritt dienen kann. Der semantischen Inhomogenität, die sowohl partielle semantische Inkompetenz wie auch schwerwiegende Kompetenzstreitigkeiten oder Abweichungen in der Kompetenz zwischen sich auf ein und demselben Gebiet für kompetent haltenden Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft zur Folge haben kann, sind auf verschiedene Weisen Schranken gesetzt durch die Sozialisationsagenturen der Sprachgemeinschaft (Eltern, Schule, Universität, Sprach- und Lexika-Institute, Kirchen, offizielle politische Stellungnahmen der wirtschaftlichen und politischen Führungskräfte, bzw. ihrer Agenturen in den Massenmedien). Trotz der hier nur angedeuteten Schwierigkeiten, die mit dem Begriff der semantischen Korrektheit verbunden sind, wenn er inhaltlich gefüllt und angewendet werden soll, muß ich ihn doch als einen zentralen sprachtheoretischen Begriff einführen, da er die Grundlage des gesamten repräsentierenden, d.h. etwas beschreibenden, Sprachgebrauchs bildet. Und gerade durch seine Einführung werden die angedeuteten Probleme beleuchtet und entgehen nicht der wissenschaftlichen Untersuchung und dem reflektierenden Nachdenken über Möglichkeiten, Probleme und Grenzen der Kommunikation. Außerdem ist der Begriff der se-

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mantischen Korrektheit nicht nur ein Begriff der Sprachtheorie, sondern er ist leitend für jeden Sprachgebraucher, auch wenn dieser Begriff über die ganze Sprachgemeinschaft hin gesehen nicht homogen gefüllt wird. Ohne semantische Korrektheit beim Gebrauch von Ausdrücken als regulierende Idee, wäre kein für die Kommunikation hinreichend gleichmäßiger Gebrauch von Ausdrücken in der Sprachgemeinschaft möglich. Der Gebrauch von Ausdrücken muß einmal gleichmäßig sein im Hinblick auf ihre Verwendung auf die Objekte in der Welt (gemäß dem Korrespondenz-Aspekt der Wahrheit); und der Gebrauch von Ausdrücken muß zum anderen gleichmäßig sein über die Sprachgemeinschaft hin, so daß man nur die Verwendungsweise als korrekt ansehen kann, die mit der der anderen Mitglieder übereinstimmt. Der Begriff der semantischen Korrektheit umfaßt beide Aspekte der Gleichmäßigkeit (vgl. Bartsch 1969). Semantische Korrektheit: Es sei su eine Äußerungssituation des Aussagesatzes S und sv eine Verifikations-(oder Lehr- und Ausweisungs-)Situation für S in der Sprachgemeinschaft L (mit den für sie geltenden Überzeugungen). Ist su = sv, dann ist S als repräsentierender Ausdruck s e m a n t i s c h k o r r e k t gebraucht in su genau dann, wenn S in su w a h r ist. Ist su Φ SV, dann gilt: Ist S' der Aussagesatz, der in sv wahr sein muß, damit S insw wahr ist, dann ist S als repräsentierender Ausdruck semantisch korrekt in su genau dann, wenn S' semantisch korrekt ist in sv. Unter anderem geben definite Deskriptionen, Zeitangaben und Platzangaben in S an, welche Situation sv Verifikationssituation für S' und damit auch indirekt für S in su ist. Ζ. Β. ist Morgen wird es regnen wahr in su, wenn sv der Tag nach su ist und es dann regnet, d.h. S': Es regnet in sv wahr ist. St r u k t u r e l l s e m a n t i s c h e K o r r e k t h e i t : Ein Aussagesatz S ist ( s t r u k t u r e l l - ) s e m a n t i s c h k o r r e k t genau dann, wenn eine Äußerungssituation su denkbar ist (relativ zur Sprache und den Überzeugungen von L), so daß S in su als semantisch repräsentierender Ausdruck semantisch korrekt ist. D.h., indikative Sätze sind genau dann strukturell semantisch korrekt, wenn sie wahr sein können. Demnach sind Kontradiktionen strukturell semantisch inkorrekt, wenn sie auch semantisch sinnvoll sein können. Der Satz Es gibt einen Berg aus Gold, den niemand je sehen wird ist strukturell semantisch korrekt, da er wahr sein kann, aber er ist nicht als semantisch korrekt, d.h. als wahr beweisbar. Aussagen, die feste Überzeugungen der Sprachgemeinschaft negieren, gelten als semantisch inkorrekt so lange, bis es ihren Anhängern gelingt, die angegriffenen Überzeugungen wenigstens diskutierbar zu machen. Semantische Korrektheit ist also eine historische 33

Kategorie und nicht in bezug auf bestimmte Aussagen, abgesehen von expliziten Kontradiktionen, ein für allemal festgeschrieben. Tautologien sind konventionell semantisch sinnvoll und strukturell semantisch korrekt. Strukturell semantische Korrektheit impliziert konventionell semantische Sinnvollheit, außer bei Sätzen, die ihre prinzipielle Nicht-Verifizierbarkeit implizieren, wie der Satz über den Goldberg, den niemand j e wahrnehmen wird. Semantische Korrektheit impliziert semantische Sinnvollheit und konventionell semantische Sinnvollheit. Die obige Aussage des Herrn A über den Begleiter der Frau C ist also semantisch sinnvoll, aber nicht semantisch korrekt. Alle falschen Aussagen sind semantisch sinnvoll, aber nicht semantisch korrekt. Gemäß den hier vorgestellten Begriffsexplikationen sind Bedingungen für die semantische Korrektheit von indikativen Sätzen die semantischen Gebrauchsbedingungen für diese Sätze; und diese sind ihre Wahrheitsbedingungen. Die semantischen Gebrauchsbedingungen für Satzkonstituenten und schließlich auch Wörter sind dann deren Beitrag zu den Wahrheitsbedingungen der indikativen Sätze, in denen sie vorkommen. Dieser Beitrag kann im Zusammenhang einer kategorialen Syntax mit einer daran angeschlossenen Modelltheorie (d.h. einer Semantik) expliziert werden. Wenn Ausdrücke in nicht-indikativischen Sätzen vorkommen, so werden sie doch mit genau denselben semantischen Gebrauchsbedingungen gebraucht wie in indikativischen Sätzen. Bei Befehlen ergibt sich aus ihren semantischen Gebrauchsbedingungen, wie eine Situation aussehen muß, in der man sagen kann »Dieser Befehl ist erfüllt«; und bei Fragen ergibt sich aus ihren semantischen Gebrauchsbedingungen, welche Antworten eine Antwort auf die Frage sind und was für einen Sachverhalt diese oft elliptischen Antworten zusammen mit dem semantischen Inhalt der Frage darstellen. Bis hierher haben wir nur e i n e n wesentlichen Aspekt der Bedeutung von Aussagesätzen behandelt, den semantischen. Um eine Satzäußerung zu verstehen, müssen wir aber auch erkennen können, ob sie als ein Urteil, eine Behauptung, eine Vermutung, eine Frage, ein Wunsch, eine Aufforderung, ein Versprechen, eine Warnung etc. gemeint ist. Dieser Aspekt des Verstehens ist der pragmatische. Schon wenn wir eine schriftliche oder mündliche Äußerung A als ein U r t e i l verstehen, so verstehen wir sie unter zwei Aspekten: (1) Wir verstehen den semantischen Inhalt von A (»Wahrheitsbedingungen«). (2) Wir verstehen, daß mit diesem Inhalt durch den Sprecher oder Schreiber ein Wahrheitsanspruch verbunden ist (»Wahrheitsvermeinung«). Bei einer B e h a u p t u n g kommt noch dazu, daß A als ein Urteil gemeint ist, das gegenüber jemandem ausgesprochen wird mit dem Ziel, dem ande-

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ren Information zu vermitteln, d.h. ihn glauben zu machen, daß A wahr ist, oder zumindest ihn glauben zu machen, daß man selbst A glaubt, verbunden mit dem Anspruch, daß auch andere das glauben sollen. Nur dieser Anspruch erklärt die Reaktionsmöglichkeiten des Hörers: Stillschweigend oder bekräftigend akzeptieren oder negieren der Behauptung; und sie erklärt die mit einer Behauptung verbundenen Verpflichtungen des Sprechers, nämlich für seine Behauptungen gerade stehen zu müssen, d.h. zur Rechtfertigung gezogen zu werden können. Eine Behauptung ist immer eine i n t e r a k t i v e Handlung. Das Verstehen einer Äußerung umfaßt also immer auch das Erkennen dessen, als was für eine Handlung die Äußerung gemeint ist. Die Bedeutung einer Äußerung erkennen ist also zumindest dieses beides: (1) Erkennen des semantischen Inhalts der Äußerung. (2) Erkennen des Handlungspotentials der Äußerung. Zum Erkennen des H a n d l u n g s p o t e n t i a l s dienen i l l o k u t i v e I n d i k a t o r e n , d.h. Indikatoren, die darauf weisen, welche Handlung oder welche Sorten von Handlungen im Sprechen vollzogen sein können. Diese Indikatoren können lexikalisch explizit sein, z.B. performative Verben wie ersuchen, versprechen, warnen, fragen, oder partielle Indikatoren sein, wie z.B. Kontext, Tempus, Modus, Person, Verbtyp. Mit den obigen Faktoren (1) und (2) haben wir die Interpretation im engeren Sinne angedeutet. Die volle I n t e r p r e t a t i o n e i n e r Ä u ß e r u n g A besteht aber zumindest aus den folgenden drei Faktoren: (1) Erkennen des semantischen Inhalts der ganzen Äußerung (expliziter und partieller illokutiver Indikatoren und des dazu komplementären propositionalen Inhalts). (2) Erkennen, ob durch das Äußern von A in Situation s die Sprechhandlung H verrichtet ist. (3) Erkennen der Rolle, die diese Handlung H in der Interaktion in s spielt. Die Interpretationsschritte (2) und (3) geschehen meistens in Wechselwirkung, d. h. gemäß (2) sind oft mehrere Handlungen mögliche Interpretationen einer Äußerung, die sich manchmal auch gar nicht auszuschließen brauchen; z.B. die Interpretation des Satzes »Da steht ein Bulle auf der Weide« kann gemäß (2) als Behauptung und dann aufgrund der Bewertung der Äußerung gemäß (3) als Warnung aufgefaßt werden, je nach Interaktionskontext. Da allein g ü l t i g e Handlungen auf konventionelle Weise i n s t i t u t i o n e l l e T a t s a c h e n (das sind soziale Beziehungen, insbesondere Rechte und Pflichten von Menschen untereinander) schaffen, müssen wir für das Erkennen der als illokutives Ziel intendierten institutionellen Tatsache wissen, unter welchen Bedingungen die Äußerung A g ü l t i g ist als Sprechhand35

lung H. Dies ist die zentrale Frage der mit Searle's »What is a Speech Act?« (1965) begründeten philosophischen Sprachpragmatik. Da das illokutive Ziel einer Sprechhandlung das Schaffen einer bestimmten institutionellen Tatsache ist, sind in bezug auf diese institutionelle Tatsache allein gültige Sprechhandlungen geglückte Sprechhandlungen. Die Gültigkeitsbedingungen sind die Geglücktheitsbedingungen (»felicity conditions«) bezüglich des beabsichtigten illokutionären Effekts, d.h. der durch die Äußerung etablierten institutionellen Tatsache. Der dritte Aspekt der Interpretation von Äußerungen umfaßt Konsequenzen der Sprechhandlung, d.h. Folgen des Zustandebringens der institutionellen Tatsache für die Interaktion: Diese können sowohl Obligationen des Sprechers sein, die konstitutiv sind für die Sprechhandlung selbst und die geschaffene institutionelle Tatsache, aber sie können auch weitere Konsequenzen sein, die nicht konstitutiv sind für die institutionelle Tatsache, die durch die Äußerung geschaffen wurde, sondern die aus der besonderen Konstellation der Äußerung im Kontext innerhalb der Interaktion abzuleiten sind, u.a. die sogenannten perlokutionären Effekte (Austin 1965). Die philosophische Sprachpragmatik untersucht die verschiedenen Arten von Bedingungen der interaktiven Sprechhandlungen; die linguistische Pragmatik untersucht, welche sprachlichen Mittel auf welche Weise dazu dienen, Sprechhandlungen erkennbar zu machen und Interaktion zu steuern. Es ist für eine Interaktionstheorie nötig, wenigstens folgende vier Arten von Bedingungen für Sprechhandlungen zu unterscheiden: (1) E r k e n n b a r k e i t s b e d i n g u n g e n : Normale Bedingungen für sprachliches Produzieren und Wahrnehmen; Interpretationsstufe (1) der Äußerung gemäß den konventionellen Bedeutungen der Ausdrücke. (2) K o r r e k t h e i t s b e d i n g u n g e n : Vorbereitende Bedingungen (preparatory conditions); Ehrlichkeitsbedingungen (sincerity conditions); Intention des Sprechers, daß die Äußerung zählt als Ausdruck seiner Handlungsintention (essential condition); (3) G ü l t i g k e i t s b e d i n g u n g e n : Die Erkennbarkeitsbedingungen müssen erfüllt sein; und die Korrektheitsbedingungen dürfen nicht offen verletzt sein. Anmerkung: Evidente pragmatische Nicht-Korrektheit hat Nicht-Gültigkeit zur Folge; und solange das Gegenteil aus der Äußerungssituation nicht evident ist, solange wird angenommen, daß die Korrektheitsbedingungen erfüllt sind. D.h., die Erfülltheit der Korrektheitsbedingungen ist eine Präsupposition für die Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage, die aussagt, daß die und die Sprechhandlung durch einen Sprecher vollzogen sei. Insofern sind performative Äußerungen, wie z.B. Ich verspreche Dir hiermit, daß ich morgen komme, nur in den Situationen selbstverifizierend, d.h. 36

wahr schon durch das Äußern selbst, in denen die Korrektheitsbedingungen nicht offen verletzt sind. Bei der Negation einer Sprechhandlungsbeschreibung wird in erster Instanz die Erfüllung der Erkennbarkeitsbedingungen negiert. Beruht die Negation darauf, daß Korrektheitsbedingungen evidentermaßen nicht erfüllt waren, so ist eine diesbezügliche Qualifikation der Negation nötig. Ein nicht-offenes Verletzen der Korrektheitsbedingungen durch den Sprecher, etwa Unehrlichkeit, beeinträchtigt die Gültigkeit der Sprechhandlung nicht. Dies gilt auch für ein nachträgliches Offenbaren der Verletzung der Korrektheitsbedingungen durch den Sprecher: dies enthebt den Sprecher nicht seiner Verantwortung für das, was er gesagt hat. (4) A k z e p t i e r b a r k e i t s b e d i n g u n g e n : Bedingungen für das rationale Reagieren des Hörers; Bedingungen für das Akzeptieren, Abweisen oder Ausstellen einer definitiven Reaktion. Diese vier Sorten von Bedingungen sind eigentlich Gegenstand einer allgemeinen Handlungs- und Interaktionstheorie. Die Einschränkung und Anwendung auf die l i n g u i s t i s c h e P r a g m a t i k geschieht dadurch, daß die R o l l e der s p r a c h l i c h e n M i t t e l in der Interaktion untersucht wird. Darum sind die Schlüsselbegriffe der linguistischen Pragmatik »pragmatisch passende Äußerung« und »pragmatisch sinnvolle Äußerung«, und damit die relativen Begriffe »pragmatisch passender Ausdruck bezüglich Situationsfaktoren a, b, c, ...« und »pragmatisch sinnvoller Ausdruck bezüglich der Ziele e, f, g, ...«. Beide Gesichtspunkte lassen sich zusammenfassen unter dem Begriff » p r a g m a t i s c h k o r r e k t e Ä u ß e r u n g « oder »pragmatisch korrekter Ausdruck bezüglich der Situationsfaktoren a, b, c, ... und der Ziele e, f, g, ...«. Ein ( s t r u k t u r e l l - ) p r a g m a t i s c h k o r r e k t e r A u s d r u c k ist ein Ausdruck, für den es eine Menge von in einer Situation realisierbaren Faktoren F gibt, bezüglich derer er korrekt ist. Er ist pragmatisch inkorrekt, wenn es keine Situation gibt, in bezug auf die er pragmatisch korrekt ist, d.h. pragmatisch passend und pragmatisch zielgemäß verwendet werden kann. Zwischen Gültigkeitsbedingungen und Akzeptabilitätsbedingungen ist in der philosophischen Literatur nicht immer unterschieden worden. So fassen Austins »felicity conditions« beide zusammen. Searle (1969) behandelt Gültigkeitbedingungen ohne zwischen Gültigkeit und Korrektheit zu unterscheiden, und er behandelt Akzeptabilitätsbedingungen gar nicht. Habermas (1976) und auch Apel (1976) geht es um Akzeptabilitätsbedingungen, auch wenn sie über Gültigkeit sprechen. Da ihr Ansatz von vornherein interaktionell ist, und zwar mit dem Ziel den konsensusorientierten Dialog zu charakterisieren und als notwendig für die Möglichkeit jeder Kommunikation aufzuzeigen, spielen natürlich die Bedingungen für das rationale Akzeptieren von Äußerungen eine tragende Rolle. Searle dagegen stellt das Handeln des Sprechers zentral und analysiert daher einen Begriff von sub37

jektiver Korrektheit oder Gültigkeit vom Standpunkt des Sprechers aus. Subjektive Korrektheit und Gültigkeit fallen aber nicht zusammen: Wenn der Sprecher glaubt, daß die Erkennbarkeits- und Korrektheitsbedingungen erfüllt sind, dann glaubt er auch, daß seine Äußerung gilt als die und die Sprechhandlung; weiß aber der Sprecher, daß eine Korrektheitsbedingung nicht erfüllt ist, und ist diese Nichterfülltheit für den Hörer nicht ersichtlich, und gibt der Sprecher dem Hörer keine Hinweise darauf, dann ist die Äußerung zwar sprecher-subjektiv als die und die Handlung nicht korrekt, wohl aber gilt sie als korrekt. D.h., sie gilt als objektiv korrekt und ist damit gültig, d.h. gilt als die und die Sprechhandlung. Von sprecher-subjektiver und objektiver Korrektheit ist noch die hörer-subjektive Korrektheit zu unterscheiden. Stimmt diese nicht überein mit der objektiven Korrektheit, die etwa durch einen Beobachter, der die Sprache und Gewohnheiten, Uberzeugungen und sozialen Normen der Sprachgemeinschaft kennt, auszumachen ist, dann spricht man davon, daß der Hörer sich getäuscht hat in der Wahrnehmung und Interpretation der Sprechsituation, und daß darum seine aus dieser Situation abgeleiteten Erwartungen nicht gerechtfertigt sind und darum auch nicht einklagbar sind. Die Beurteilung dessen, ob eine Äußerung u objektiv korrekt ist als Ausdruck zum Vollzug der Sprechhandlung H, ist keineswegs so einfach. Die Probleme dabei beruhen auf der Inhomogenität der Sprachgemeinschaft in bezug auf Überzeugungen, Wissen und Normen. Allwood (1976) hat sehr deutlich dargelegt, wie wichtig die Unterscheidung ist zwischen Sprecherintention, Hörerapprehension und einer in manchen Fällen entscheidenden Beobachterapprehension der Äußerung. Eine Äußerung ist für den Sprecher korrekt auf Basis seiner Intention und seiner, des Sprechers Uberzeugungen; der Hörer faßt die Äußerung auf der Basis seiner, des Hörers, Überzeugungen auf, und der Beobachter tut dasselbe wiederum auf der Basis seiner Überzeugungen. Es kann geschehen, daß die Sprecherintention nicht übereinstimmt mit dem, was der Hörer apprehendiert und rekonstruiert als Sprecherintention; und dasselbe kann gelten hinsichtlich der Beobachterapprehension. Diese stets real anwesenden Möglichkeiten des Mißglückens der Kommunikation werden jedoch beschränkt dadurch, daß sich der Sprecher rücksichtsvoll verhält bezüglich des Hörers und umgekehrt, d.h., daß der eine versucht, die Überzeugungen des anderen zu berücksichtigen. Dies ist nach Allwood ein dem Ziel der Kommunikation, der Verständigung, förderliches Verhalten und beruht damit auf einem Aspekt des Rationalitätsprinzips, nämlich dem des adäquaten Verhaltens in bezug auf das Erreichen eines Ziels. Verhält sich ein Sprecher so, dann formuliert er bestenfalls seine Intention auf Basis seiner Annahmen über die Überzeugungen des Hörers. Diesen optimalen Fall vor Augen, tut der Hörer gut daran, die Äußerung nicht einfach auf Basis seiner eigenen Überzeugungen zu interpretieren, und natürlich auch nicht allein auf Basis seiner Annahmen 38

darüber, welche Überzeugungen der Sprecher hat, sondern eher auf Basis seiner Annahmen darüber, welche Annahmen der Sprecher macht darüber, welche Überzeugungen er, der Hörer, habe. Je nachdem für wie »considerate« der Hörer den Sprecher hält, wird er mehr auf die letzte Art von Annahmen zurückgreifen als auf die anderen möglichen Gesichtspunkte der Interpretation. Ist der Hörer ganz egozentrisch und »unconsiderate« bezüglich des Sprechers, oder ist ihm der Sprecher ganz fremd, so interpretiert er dessen Äußerungen auf Basis seiner eigenen Überzeugungen. Kennt der Sprecher den Hörer als sehr »sprecher-considerate«, in bezug auf ihn selbst spezifisch, oder überhaupt, so wird er in seiner Formulierung seiner Intention berücksichtigen, daß der Hörer annimmt, daß der Sprecher bestimmte Überzeugungen hat; und kennt der Sprecher den Hörer als jemand, der auch ihn, den Sprecher, für »hörer-considerate« hält, so wird er bei seiner Formulierung berücksichtigen, daß der Hörer bei seiner Interpretation berücksichtigt, daß der Sprecher die Überzeugung des Hörers bei seiner Formulierung schon berücksichtigt. Da man also bei der Interpretation verschiedene Optionen hat und sich je nach Entscheidung für die eine oder andere manchmal verschiedene Interpretationen ergeben können, wird ein Hörer, der sich dieser möglichen Kommunikationsfehler bewußt ist, Fragen stellen, um zwischen den verschiedenen Interpretationen zu entscheiden. Jedoch findet diese Strategie ihre Grenzen in Energie und Zeit von sowohl Sprecher und Hörer. Es gibt daher eine Reihe von linguistischen und auch para- und extra-linguistischen Mitteln, um auf bestimmte Interpretationsvoraussetzungen zu weisen. Der Sprecher kann diese andeuten oder auch explizit machen und somit die Chance einer verkehrten Interpretation seiner Äußerung verkleinern. Diese oft von der jeweils spezifischen Sprecher-Hörer-Beziehung abhängigen Verhältnisse und Voraussetzungen für die Interpretation von Äußerungen sind für einen Beobachter manchmal kaum zu durchschauen. Auch können bestimmte Indikatoren für »considerateness« täuschend sein: Manche Sprecher gebrauchen einen Kommunikationsstil, der mit Indikatoren für »considerateness« gespickt ist, ohne aber wirklich »considerate« zu sein. Der Hörer rekonstruiert dadurch dann eventuell eine verkehrte Sprecherintention, und ist damit eigentlich im Recht, auch wenn der Sprecher sich später dagegen zur Wehr setzt. Die Frage, ob ein bestimmter Hörer gegenüber einem bestimmten Sprecher eine bestimmte Interpretation von dessen Äußerung einklagen kann, ist für einen Beobachter oft kaum zu entscheiden, und eine objektive Rekonstruktion der Redesituation, auch was die Explikation der kommunikativen Indikatoren für bestimmte Interpretationsvoraussetzungen betrifft, ist weder durch den Sprecher noch den Hörer zu erwarten. Die Einklagbarkeit, und damit die Chance einer gerechten Beobachterentscheidung, vergrößert sich in dem Maße, wie die oben angedeuteten Voraussetzungen der Korrektheit eines Ausdrucks als Ausdruck einer bestimmten Intention und als Voraus-

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Setzungen der korrekten Interpretation des Ausdrucks als Ausdruck dieser Intention in diesem Kontext explizit gemacht sind. Dies jedoch ist gerade nicht der Fall bei Insiderkommunikation, wohl aber eher bei Kommunikation mit einem Outsider, gegenüber dem sich der Sprecher »considerate« verhält. In einer Insider-Kommunikation kann ein Ausdruck völlig korrekt verwendet sein, d.h. geeignet, die Sprecherintention auf für den Hörer verständliche Weise auszudrücken, obgleich derselbe Ausdruck in einer Kommunikation mit einem Fremden nicht korrekt wäre als Ausdruck dieser Intention. Die Grenzen zwischen Insider- und Outsider-Kommunikation in bezug auf ein bestimmtes Thema der Kommunikation sind fließend und stellen ein Hindernis dar für eine Bestimmung dessen, was ein korrekter Ausdruck zum Ausdrücken einer Intention in einer Situation ist. Korrektheitsbegriffe für Insider- und Outsider-Kommunikation unterscheiden sich teilweise. Die Beachtung von Normen, die bei der Kommunikation mit Fremden gelten, führt zur Ausbildung von Korrektheitsbegriffen, die charakteristisch sind für eine freie Kommunikation, d. h. für eine einigermaßen zuverlässige Kommunikation zwischen Menschen der gesamten Sprachgemeinschaft, im Unterschied zu einer auf einem bestimmten Themenbereich in einer In-Group stattfindenden Kommunikation. Die Korrektheitsbegriffe, die eine möglichst allgemeine oder freie Kommunikation regeln, müssen entweder gegründet sein auf universelle Eigenschaften menschlichen Handelns in Interaktion oder auf Konventionen der jeweiligen Sprachgemeinschaft. Es sind diese die In-Group-Kommunikation übersteigenden Regelungen der Kommunikation, die das abgrenzen, was als einklagbare Interpretation einer Äußerung gelten kann. Franck (1980) hat darauf gewiesen, daß dieser Bereich abgrenzbar ist durch die Fragen »Welche Folgerungen hat ein Sprecher-Hörer mit Recht aus einer Äußerung gezogen?« oder »Welche Folgerungen lassen sich mit Recht aus einer Äußerung ziehen?« oder »Für welche Folgerungen aus einer Äußerung ist ein Disclaim durch den Sprecher nicht möglich oder zulässig?« Nach Franck ist dies dasjenige, was die Äußerung sagt (>sayconveybetraysindNorm< und >Regel< in der Sprachwissenschaft

In seinem Artikel »Zum Inhalt des Normbegriffs in der Linguistik« (1977) behandelt Härtung den Begriff »Norm« so, wie er in der Soziolinguistik und in den strukturalistischen, traditionellen und funktionellen Richtungen der Sprachwissenschaft gebraucht wird. Ich will im folgenden, teilweise an Härtung anschließend, den Gebrauch dieses Begriffes bei H. Paul (1880/1970), bei F. de Saussure (1916/1967), bei L. Hjelmslev (1942 und 1943/1969), bei E. Coseriu (1970) und bei den Linguisten der Prager Schule B. Havránek (1964, 1971), M. Dokulil (1971) und F. Danes (1968) referieren und problematisieren. Paul (1880/1970) unterscheidet zwischen »individueller Sprechtätigkeit« und »Sprachusus«. Die verschiedenen Sprecher oder Sprachkompetenzen nennt er »Sprachorganismen«; und durch Vergleich dieser Sprachorganismen läßt sich ein »gewisser Durchschnitt gewinnen, wodurch das eigentlich Normale in der Sprache, der Sprachusus bestimmt wird«. (Paul 1880/1970: 29). Die Sprachorganismen kann man nicht direkt beobachten, sondern lediglich ihre Sprechtätigkeit, in der sie sich äußern. »Dieser Durchschnitt kann natürlich um so sicherer festgestellt werden, je mehr Individuen und je vollständiger jedes einzelne beobachtet werden kann. Je unvollständiger die Beobachtung ist, um so mehr Zweifel bleiben zurück, was individuelle Eigentümlichkeit und was allen oder den meisten gemein ist. Immer beherrscht der Usus, auf dessen Darstellung die Bestrebungen des Grammatikers fast allein gerichtet zu sein pflegen, die Sprache der einzelnen nur bis zu einem gewissen Grade, daneben steht immer vieles, was nicht durch den Usus bestimmt ist, ja ihm direkt widerspricht.« (1880/1970:29) Die Veränderung des Usus wird letztlich verursacht durch die individuelle Sprechtätigkeit. Da trotz des Usus, der das Normale, oder die Norm ist, immer einige Freiheit für die individuelle Sprechtätigkeit besteht, wirkt die von der Norm abweichende Sprechtätigkeit zurück auf den Sprachorganismus. »Durch die Summierung einer Reihe solcher Verschiebungen in den einzelnen Organismen, wenn sie sich in der gleichen Richtung bewegen, ergibt sich dann als Gesamtresultat eine Verschiebung des Usus.« (1880/1970: 32) So bildet sich eine neue Auffassung darüber, was das Normale ist, heraus und wird die alte Norm verdrängt. Der Sprachusus beeinflußt also die individuelle Sprechtätigkeit, und die individuellen Sprechtätigkeiten in der Masse bestimmen den Sprachusus. 65

Hieraus zeigt sich, daß Paul den Usus ganz empirisch als eine Menge von Regelmäßigkeiten auffaßt, die sich gleichsam in den einzelnen Sprachorganismen verdichten zu psychischen Entitäten. — Eine Bezeichnung für diese wird nicht gebraucht; sie spielen bei Paul auch nur die Rolle eines Vermittlers zwischen Sprechtätigkeit und Sprachusus, zwei beobachtbaren physischen und sozialen Entitäten. Das psychische Zwischenglied steht außerhalb der Betrachtung des Sprachwissenschaftlers. — Normen als im Vergleich als ein Gemitteltes beobachtbare Regelmäßigkeit haben einen sehr problematischen Charakter, da die Bestimmung dieses Durchschnitts oder Gemittelten problematisch ist. Wie kann es aus der Vielfalt gewonnen werden, und inwiefern besteht es eigentlich. Der normative Charakter des Usus wird durch Paul nicht explizit erwähnt, aber er findet sich implizit in seiner Bemerkung über die individuelle Freiheit, die der Usus bis zu einem gewissen Grade zuläßt. Von Freiheit kann man nur da sprechen, wo es sich um Freiheit von einer Beschränkung handelt, insbesondere um Freiheit innerhalb eines durch Pflichten abgegrenzten Rahmens. F. de Saussure unterscheidet zwischen der Gesamtheit des Sprachverhaltens in einer Sprachgemeinschaft unter allen seinen Aspekten (»langage«, übersetzt in Saussure (1967) als »menschliche Rede«), der individuellen Sprechtätigkeit (»parole«, übersetzt als »das Sprechen«) und der Sprache (»langue«), die sowohl die Norm aller Äußerungen der menschlichen Rede und damit auch des individuellen Sprechens ist als auch das sprachliche System ist, das in den Köpfen der Sprecher gespeichert ist. Somit ist die Sprache sowohl eine soziale Entitität, oder Institution, als auch eine psychische. Sprache ist strukturiert gemäß dem Prinzip der Klassifikation mittels syntagmatischer und paradigmatischer Beziehungen. Man muß sich von Anfang an auf das Gebiet der Sprache begeben und sie als Norm aller anderen Äußerungen der menschlichen Rede gelten lassen. ... Was aber ist Sprache? ... Sie ist zu gleicher Zeit ein soziales Produkt der Fähigkeit zu menschlicher Rede und ein Ineinandergreifen notwendiger Konventionen, welche die soziale Körperschaft getroffen hat, um die Ausübung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen. . . . Die Sprache dagegen ist ein Ganzes in sich und ein Prinzip der Klassifikation. In dem Augenblick, da wir ihr den ersten Platz unter den Tatsachen der menschlichen Rede einräumen, bringen wir eine natürliche Ordnung in eine Gesamtheit, die keine andere Klassifikation gestattet. (1916/1967: 11)

Die Sprache als System, die in den Köpfen der verschiedenen Sprecher gespeichert ist, ist zustande gekommen durch Angleichung aneinander. Obwohl die sprachlichen Zeichen ihrem Wesen nach psychisch sind, so sind sie doch keine Abstraktionen; da die Assoziationen durch kollektive Übereinstimmung anerkannt und ihre Gesamtheit die Sprache ausmacht, sind sie Realitäten, deren Sitz im Gehirn ist. (1916/1967: 18)

Die Sprache ist auch bei Saussure ein Durchschnitt oder Gemitteltes, das 66

das Individuum beim Spracherlernen aus den vielfältigen Eindrücken bildet, ein Produkt, das eine Summe von sprachlichen Eindrücken umfaßt. Vielmehr ist es das Wirken der rezipierenden und koordinierenden Fähigkeit, wodurch sich bei den sprechenden Personen Eindrücke bilden, die schließlich bei allen im wesentlichen die gleichen sind. Wie hat man sich dieses soziale Ergebnis vorzustellen, um damit die Sprache als völlig losgelöst von allem übrigen zu erfassen? Wenn wir die Summe der Wortbilder, die bei allen Individuen aufgespeichert sind, umspannen könnten, dann hätten wir das soziale Band vor uns, das die Sprache ausmacht. Es ist ein Schatz, den die Praxis des Sprechens in den Personen, die der gleichen Sprachgemeinschaft angehören, niedergelegt hat, ein grammatikalisches System, das virtuell in jedem Gehirn existiert, oder vielmehr in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen; denn die Sprache ist in keinem derselben vollständig, vollkommen existiert sie nur in der Masse. ... Die Sprache ist nicht eine Funktion der sprechenden Person; sie ist das Produkt, welches das Individuum in passiver Weise einregistriert. (1916/1967: 16). Sie ist der soziale Teil der menschlichen Rede und ist unabhängig vom Einzelnen; sie besteht nur kraft einer Art Kontakt zwischen den Gliedern der Sprachgemeinschaft. Andererseits muß das Individuum sie erst erlernen, um das Ineinandergreifen ihrer Regeln zu kennen; das Kind eignet sie sich nur allmählich an. (1916/67: 17)

Dies letzte interpretiere ich so, daß mit den Regeln die sozialen Regeln der Sprache gemeint sind, d.h. die Konventionen, die zusammen die Sprachnorm bilden, während das Ineinandergreifen dieser Regeln gerade durch die Klassifikationen auf Basis der syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen, also durch das System zustandegebracht wird. Allerdings geht Saussure offenbar davon aus, daß man mit der Klassifikationsmethode auf genau ein System kommt, das bei allen Sprachteilnehmern bis auf unwesentliche Abweichungen gleich ist. Dies letzte ist eine Annahme, die keineswegs selbstverständlich ist, da Sprecher an verschiedenen Sprachvarianten teilhaben, die sich bei ihnen jeweils als verschiedene Sprachausprägungen niederschlagen, gegenseitig aufeinander Einfluß haben und bei verschiedenen Individuen zu verschiedener Sprachbeherrschung führen können (vgl. Schnelle 1976). Das Verständnis der Sprache als eine einheitliche Norm und zugleich als ein einheitliches System setzt eine homogene Sprachgemeinschaft voraus. Dies ist im allgemeinen eine unzulässige Idealisierung, die lediglich auf isolierte einzelne Dialekte zutreffen kann, und selbst dort ist die Annahme der Eindeutigkeit des Systems zweifelhaft. Sprachveränderung als Normveränderung ist gerade nur durch die Inhomogenität zwischen verschiedenen Sprachausprägungen möglich (vgl. Bartsch und Vennemann 1982: 15-20, Schnelle 1976: 418). Die Möglichkeit einer einheitlichen Norm ist nicht verträglich mit der Auffassung, daß diese Norm der Durchschnitt aus dem gesamten Sprachverhalten der Sprachgemeinschaft sein soll. Bei der tatsächlichen Heterogenität, z.B. der deutschen Sprachgemeinschaft, ist das Bestehen eines solchen Durchschnitts höchst 67

zweifelhaft, und es ist auch keineswegs deutlich, wie ein solches gemeinsames Produkt, das die Menge aller Sprachäußerungen zusammenfaßt, überhaupt zu bilden ist. Der nächste Schritt, der aber auch noch nicht die Heterogenität in größeren Sprachgemeinschaften berücksichtigt, ist die Unterscheidung zwischen Norm und System, die bei de Saussure noch in dem Begriff »langue« vereinigt waren. Hjelmslev (1942) unterscheidet das Sprachsystem oder Schema als reine Form von seiner materiellen Realisation, die in drei Stufen stattfindet: 1. Die Norm als Realisierung des Schemas oder Systems in einer sozialen Realität, wobei von einer Reihe akzidenteller Details seiner Realisierung abgesehen wird. 2. Der Usus als Menge von Sprechgewohnheiten in einer sozialen Gruppe; die Bildung so einer Menge hat natürlich eine Abstraktion zum Inhalt. 3. Die beobachtbaren Manifestationen in den individuellen Sprachaktivitäten. Hier sind Usus und Norm Abstraktionen auf verschiedenen Stufen. Während Usus die Menge von Ausdrücken ist, aus der man in einem bestimmten Äußerungsakt auswählen muß, ist die Norm eine Abstraktion ausgehend vom Usus. Obgleich die Hierarchie von »Schema-Norm-UsusÄußerung«, in der der niedrigere Begriff eine Realisierung des jeweils höheren ist, gewiß suggestiv ist, bleibt doch die Frage, was >Realisierung< in diesem Kontext bedeutet. Wir können ohne weiteres verstehen, in welchem Sinne eine Äußerung die Realisierung eines Ausdrucks ist: der Ausdruck ist der >type< und die Äußerung ein >token< dieses Typs. Aber wie kann etwas Abstraktes wie die Norm eine Realisierung von etwas noch Abstrakterem sein, nämlich von einem System oder Schema? Sollte das nur bedeuten, daß das Schema als eine Struktur eingebettet ist in die Norm als eine Struktur mit noch mehr Details, dann würde das nicht der Tatsache Rechnung tragen, daß in der Norm gewisse Eigenschaften des Schemas oder Systems zerstört sein können, da in der Norm Sprachformen vorkommen, die Ausnahme in bezug auf die Systematik des Schemas sind, z.B. unregelmäßige Verben auf dem Hintergrund der Systematik der regelmäßigen Verben. Im Falle einer Einbettung des Schemas in die Norm müßten alle Strukturen oder Eigenschaften der Norm mit den Strukturen und Eigenschaften des Schemas verträglich sein; die Norm hätte lediglich mehr Eigenschaften und Strukturen als das Schema. Dieses Problem wiederholt sich bei der Beziehung zwischen Norm und Usus. Die Dreiteilung »System-Norm-Sprechen«, die in den Artikeln »Synchronie, Diachronie, Typologie« und »System, Norm und >RedeNorm< umfaßt die in der Sprache einer Gemeinschaft historisch verwirklichte Technik, alles, was in dieser Sprache allgemein und traditionell verwirklicht ist, ohne dabei schon notwendig funktionell zu sein (z.B. die beiden >obligatorischen< Varianten [b] und [ß] des Phonems /b/im kultivierten Spanisch; das sogenannte Zäpfchen-r des Pariser Französisch usw.). Das >System< stellt die Gesamtheit der funktionellen (distinktiven) Oppositionen dar, die in einer und derselben Sprache festgestellt werden können, sowie die distinktiven Regeln, nach denen diese Sprache gesprochen wird, und, daraus folgend, die funktionellen Grenzen ihrer Variabilität; das System als solches geht schon über das historisch Verwirklichte hinaus, weil es auch das nach den bestehenden (in der Norm nur teilweise angewandten) Regeln Realisierbare enthält. (Coseriu 1970: 78)

Nach diesem Zitat und den darin gegebenen Beispielen ist das System tatsächlich in die Norm einbettbar. (Durch eine Äquivalenzrelation werden innerhalb der Norm Elemente und Strukturen gleichgesetzt, die im System zusammenfallen: Allomorphe und Allophone werden identifiziert, da sie nicht distinktiv sind.) Wir können uns das so vorstellen, daß es eine homomorphe Abbildung von der Norm auf das System gibt, d.h. eine Struktur erhaltende Abbildung. Es ist allerdings irreführend zu sagen, daß das System mehr enthalte als die Norm, da es auch das über das Bestehende hinaus noch Realisierbare enthalte. Es enthält dieses nämlich nicht, sondern gibt nur die Grenzen an, innerhalb derer noch andere Realisierungen möglich sind. Man kann nicht gut sagen, eine Restriktion enthalte alles das, was sie an Möglichkeiten zuläßt. Wenn man so spricht, vermischt man das Sprechen über Intension (Begriff, Struktur) mit dem Sprechen über Extension, nämlich all den möglichen Erscheinungen, die diese Intension (Begriff, Struktur) erfüllen oder möglicherweise realisieren. Die tatsächliche Norm ist also eine >Auswahl< aus den möglichen Mustern und Strukturen, die mit dem System verträglich sind. Die Norm ist demnach eine engere Restriktion von Mustern gegenüber dem, was noch durch das System zugelassen ist. Sie ist eine historisch entwickelte Beschränkung der Möglichkeiten, die das System der Sprache noch offen gelassen hatte. Das konkrete Sprechen wiederum ist eine Auswahl aus den Möglichkeiten, die das System der normalen Realisierungen (»das normale System«) noch zuläßt. Sprechen ist in diesem Sinn eine Realisierung der Norm. Der Sprachtyp, der hier eigentlich nicht zur Debatte steht, setzt diese Verhältnisse der Einbettung, oder umgekehrt: Realisierung, noch über das Sprachsystem hinaus fort:

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Der >Sprachtyp< schließlich enthält die funktionellen Prinzipien, d.h. die Verfahrenstypen und Kategorien von Oppositionen des Systems, und stellt somit die zwischen den einzelnen Teilen des Systems feststellbaren funktionellen Kohärenzen dar. So verstanden ist der Typ eine objektiv vorhandene sprachliche Struktur, eine funktionelle Ebene der Sprache: es ist einfach die höchste strukturelle Ebene der Sprachtechnik ... Als kategorielle Ebene enthält der Typ virtuell auch Verfahren, die im System noch nicht existieren, wohl aber möglich wären, in Übereinstimmung mit schon als solchen vorhandenen Kategorien der Sprachtechnik.

(1970: 80) — Auch hier finden wir wieder die Vermischung von Extension und Intension. — Wenn wir diese Zitate lesen, dann entsteht vor unseren Augen das Bild einer Taxonomie, basiert auf aristotelischem Essendalismus. Als höchstes Taxon können wir noch »Sprache überhaupt« oder besser »menschliche Sprache überhaupt« hinzufügen, deren Struktur durch Chomskys »universal grammar« oder seinen »language aquisition device«, was dasselbe ist, gegeben wäre. Das Ganze sähe dann so aus:

(Sprachuniversal)

Dabei sieht Coseriu noch als Zwischenstufe zwischen dem konkreten Sprechen und der Sprachnorm als soziale Norm die individuelle Sprachnorm vor. Was das Sprachsystem betrifft, so könnten wir uns auf viel mehr Weisen ausdrücken, aber die Norm, gegründet auf bereits gebrauchte Ausdrücke, beschränkt unsere Freiheit auf das, was normal ist. Obgleich die Norm eine Realisierung des Systems ist, kann sie, nach Coseriu, doch eine in mancher Hinsicht unvollkommene Realisierung sein, die einige Eigenschaften des Systems stört oder gar zerstört, und diese teilweise Unverträglichkeit ist ein 70

Grund der Sprachveränderung hin zu einer besseren Ubereinstimmung zwischen Norm und System. Dieses erscheint mir alles ziemlich metaphysisch: das System scheint die Essenz der Sprache zu sein, die gleichsam als Telos oder Entelechie Einfluß ausübt auf seine Realisierung in der Norm. Die Weise der Existenz des Systems und der Norm (und auch des Typs) bleibt unklar, ebenso wie der Begriff der >RealisierungRealisierung< im Sinne des mathematischen Begriffs der Einbettung, oder umgekehrt des Homomorphismus der hyponymen Struktur auf die hypernyme Struktur, läßt Inkompatibilität beider Strukturen nicht zu; gerade solche Inkompatibilität ist aber nach Coseriu wichtig als Motor für die Sprachveränderung. Obgleich Coserius Position einerseits durch den aristotelischen Essentialismus geprägt zu sein scheint — sein ganzer Jargon liegt in diesem Rahmen — behauptet er andererseits, daß das System keine eigene Existenz habe, sondern nur eine Systematisierung der Eigenschaften des konkreten Sprechens ist. Aber dieser Ausgangspunkt läßt es natürlich zu, daß es verschiedene Systeme einer Sprache geben kann, die das Resultat verschiedener Systematisierungen der Eigenschaften desselben konkreten Sprechens sind. Hiermit steht im Widerspruch, daß Coseriu immer nur von dem System der Sprache spricht (in synchroner Sicht). Nur im Laufe der Zeit gibt es verschiedene Systeme einer Sprache, die einander ablösen, aber alle Realisierungen desselben Typs sind. Was vom Standpunkt einer bestimmten strukturellen Ebene her diachronisch (>WandelFunktionierenNorm< umfaßt das traditionell in der Sprache Verwirklichte; das >System< die dem Verwirklichten entsprechenden Regeln, der Typ die den Regeln zugrundeliegenden Prinzipien. Daher geht auch das System über die Norm und der Typ über das System hinaus. Und in diesem Sinne ist jede Sprache eine teilweise verwirklichte und teilweise noch zu verwirklichende Technik: das System ist ein System von Möglichkeiten hinsichtlich der Norm, der Typ ist es in Hinsicht auf das System. (1970: 80) Hiermit steht im Widerspruch, daß Coseriu >Norm< auch als statistischen Begriff zu verstehen scheint, denn er schreibt, daß das normale Sprechen das sei, was in einer Sprachgemeinschaft normal gesprochen würde. E s gibt keine Kriterien d a f ü r , was als »normal sprechen« zählt und scheint daher das zu meinen, was oft gesprochen wird und was man oft hört. Andererseits schreibt er auch, daß eine Norm eine Verpflichtung mit sich brächte. A b e r er ist sich dessen nicht bewußt, daß ein Konflikt bestehen kann, und auch tatsächlich besteht, zwischen der Verpflichtung u n d dem was oft getan wird (siehe hierzu die Diskussion in Kap. III, 2.). Es ist deutlich, d a ß die Begriffe »System einer Sprache L«, so wie sie bei Hjelmslev und Coseriu gebraucht werden, nicht identisch sind mit dem Begriff »Kompetenz in L«, da ein Sprecher, der nur das >System< einer Sprache kennt, aber nicht die herrschende N o r m , nicht korrekt sprechen kann, bzw. gar nicht sprechen kann. Kompetent in einer Sprache L zu sein, bedeutet die N o r m von L zu k e n n e n , oder zumindest sich entsprechend dieser Norm zu verhalten. Coseriu spricht auch von individueller Normdie Norm einer Sprache< sondern spreche von vielen >Normen einer Sprache·< und das Inklusionszeichen mittels >< < wiedergegeben. — Solange keine Diskrepanz zwischen X und Y besteht, d. h. X = Y ist, sind die Differenzen X - ( X · Y) und Y - ( X · Y) gleich null, d.h. besteht Homogenität innerhalb der Bevölkerung hinsichtlich Praxis ( = Existenz im engeren Sinne), Anerkennung, Übernahme, Geltung und Rechtfertigung der betreffenden Norm oder des Normensystems. Für Χ Φ Y erhalten wir die problematischen Fälle, in denen X — (X · Y) oder Υ - ( Χ · Y) nicht leer sind, d.h. es Menschen gibt, die zu X gehören, aber nicht zu Y, und solche, die zu Y gehören, aber nicht zu X. Es lassen sich hierbei 19 Fälle unterscheiden. la) Ü< E Für Ε Φ Ü ist nur dieser Fall möglich, und damit gibt es hier kein lb. Die Differenz E - Ü ist der Bereich von Leuten, für die die Norm Ν in primärer Weise existiert; es ist also E = Eprimär + Ü. — Das Pluszeichen ist hier das mengentheoretische Vereinigungszeichen. — Diese Situation ist im allgemeinen unproblematisch, außer wenn die Bevölkerung E prim ä r es nicht gut findet, daß die Bevölkerung Ü ihre Normen adoptiert. Dies kann der Fall sein, wenn die Bevölkerung, für die die Norm Ν primär existiert eine starke Gruppensolidarität fühlt, so daß sie ihre Identität dadurch, daß andere ihre Normen übernehmen, bedroht sieht. Dies wird besonders dann der Fall sein, wenn Ν zu den Normen gehört, die die Gruppenidentität definieren. Fälle, in denen neben Gruppenidentität auch Gruppenprivilegien eine Rolle spielen, sind solche, in denen eine Gruppe einer anderen Rasse Normen von Epnmär übernehmen will. Ein Beispiel ist die Beziehung zwischen Herren und Sklaven in den Südstaaten der USA im vorigen Jahrhundert: Die aus Afrika eingeführten Sklaven stammten von verschiedenen Stämmen und sprachen verschiedene Sprachen; sie benötigten eine Sprache, um untereinander und mit ihren Herren kommunizieren zu können. Sie mußten also Englisch lernen. Andererseits sollten sie, nach der Auffassung ihrer Herren, nicht so sein wie sie selbst, und zwar weder im Benehmen, noch in der Kleidung, noch in der Sprache, die alle drei ein wichtiges Zeichen der Gruppenidentität sind. Das Sprechen der Neger, ihre Kleidung und ihr Benehmen sollten im allgemeinen wenigstens etwas verschieden von dem der Weißen sein. Ich vermute, daß dies ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung des »Black English« gewesen ist: Neger, die Standard-Englisch lernten und sich in der normalen Manier der Weißen kleideten, wurden von den Weißen als eine Bedrohung angesehen. Imitation der Weißen in Kleidung und Benehmen mußte übertrieben sein, so daß es lächerlich erschien, damit nicht ernst genommen werden konnte und so nicht als eine Eintrittskarte in die privilegierte Klasse 302

gelten konnte. Darum hinderten die Weißen die Schwarzen daran, sich vollständig an ihre Normen anzupassen. 2a) ( Α · Ε ) < A In dieser Situation entstehen Probleme für die Gruppe Α - ( Α · Ε ) , nämlich für die Leute, die eine Norm akzeptiert haben, aber diese Norm nicht in eine Praxis umsetzen können in dem Sinne, daß ihr Verhalten dieser Norm gemäß wäre. Beispiele sind Sprecher von Dialekten, die die Normen der Standardsprache akzeptiert haben, aber nicht wirklich diesen Normen entsprechend sprechen können, oder auch Immigranten in bezug auf die Sprache ihrer neuen Heimat. 2b) ( Α · Ε ) < E Die problematische Gruppe sind hier die Leute von E — (A#E); sie handeln gemäß bestimmten Normen, die sie aber selbst nicht akzeptieren. Dieses Nicht-Akzeptieren zeigt sich darin, daß sie Korrektur mit dem Ziel, Verhalten gemäß diesen Normen zu eliminieren, akzeptieren. Beispiele hierzu sind Sprecher eines Dialekts oder einer MinoritätenSprache, oder eines Soziolekts, die eine negative Haltung bezüglich ihrer eigenen Sprache haben. Solche Situationen finden wir unter anderem in Indien: Die Eliten unter den Sprechern von Minoritäten-Sprachen bewerten die Kultur und Sprache der Majorität oder anderer ökonomisch erfolgreicher Gruppen positiver als ihre eigene Sprache und Kultur. Sie streben danach, sich diese anderen Normen anzueignen und arbeiten damit auf die Auslöschung ihrer eigenen kulturellen und sprachlichen Normen hin, insbesondere, wenn ihre eigene Sprache nicht zum schriftlichen Gebrauch kodifiziert ist und damit für viele Zwecke unbrauchbar ist (hierzu: Dua 1980b und Pattanayak o. J.). 3a) (E»G)< G Diese Situation ist problematisch für Leute der Differenzgruppe G ( E * G ) . Für sie sind bestimmte Normen gültig, obgleich sie für sie nicht als Praxis existieren. D.h., ihr Verhalten ist nicht in Übereinstimmung mit den Normen, die für sie gültig sind. Beispiele sind Dialekt-Sprecher und deren Kinder in solchen Situationen, in denen der Gebrauch der Standardsprache gefordert wird, z.B. in der Schule. Auch die Creole-Sprecher in Mauritius, für die die Normen des Französischen gelten, sind in vielen Situationen des öffentlichen Lebens in dieser Position (Hookoomsing 1980). Ebenso befinden sich die Kinder ausländischer Arbeiter in den Schulen West-Europas in diesem Konflikt in bezug auf die sprachlichen Normen des Gastlandes oder Immigrationslandes; diese Normen gelten für sie, aber existieren für sie noch nicht als eine Praxis. 303

3b) (E*G)< E Die problematische Differenzgruppe E - ( E « G ) besteht hier aus Leuten, für die Normen als Praxis existieren, die aber für sie nicht gelten; d.h. sie verhalten sich gemäß Normen, die für sie nicht gültig sind. Beispiele sind Sprecher von Minoritäten-Sprachen innerhalb eines anderen Sprachgebiets, in dem eine regionale Sprache gilt, die auch für sie gültig ist. Die Minoritäten-Sprache ist in vielen Angelegenheiten des täglichen Lebens, die mit der staatlichen Verwaltung zu tun haben, kein gültiges Kommunikationsmittel. Trotzdem benutzen Leute ihre hier nicht geltende Sprache, da sie allein diese beherrschen, und haben dadurch Nachteile. Beispiele finden wir u. a. auch wieder in Indien, wo es in einigen Staaten Minoritäten-Sprachen gibt, die zwar in einem anderen Staat als offizielle regionale Sprache gelten, aber in den Staaten, in denen sie Minoritäten-Sprachen sind, nicht gelten. 4a) (E»R)< R Für Leute der Differenzgruppe R — ( E * R ) sind Normen gerechtfertigt, die für sie noch nicht als Praxis existieren. Beispiele sind Gruppen von Menschen, für die bestimmte sprachliche Normen im Zuge der Modernisierung nötig geworden und eventuell auch schon von Sprachplanern vorgeschlagen worden sind. Diese Normen sind gerechtfertigt, weil sie einen Bedarf nach neuen lexikalischen, grammatischen und stilistischen Mitteln erfüllen können, der mit der Technisierung und Bürokratisierung der Gesellschaft auftritt. Wenn diese Modernisierung für diese Bevölkerung ein Ziel ist, dann sind die dazu förderlichen Mittel gerechtfertigt, falls sie nicht andere gleichhoch bewertete oder höhere Ziele behindern. 4b) (E»R)< E Für Leute der Gruppe E - ( E * R ) existieren Normen als Praxis, die aber für sie nicht gerechtfertigt sind. Beispiele sind Leute, die rituellen Normen für die Zubereitung von Essen oder für Kleidung folgen, die in früheren Zeiten vielleicht wegen der anderen Lebensverhältnisse funktional waren, aber es nicht länger sind, außer eventuell in ihrer sekundären Funktion der Symbolisierung von Gruppenidentität oder Ethnizität. Von dieser sekundären Funktion wird, zumindest durch Intellektuelle, die diesen Normen folgen, die Rechtfertigung abgeleitet, wobei die Gruppenidentität oder ethnische Identität als ein höherer Wert vorausgesetzt wird. - Ein anderes Beispiel sind Leute, die rassistische Gesetze praktizieren, wie in Südafrika oder in Deutschland unter dem Nationalsozialismus. Diese Gesetze waren nicht gerechtfertigt und zutiefst ungerecht. Menschen, die diese Gesetze ausführten oder sie propagierten, be304

merkten zum Teil, daß sie ungerechtfertigt waren und anerkannten Werten widersprachen. Um diesen Konflikt zu lösen, wurden neue Werte propagiert, wie rassische Reinheit und Überlegenheit, die dazu beitrugen, die Praktiken der Rassisten zu »rechtfertigen« und damit die Diskrepanz zwischen Normpraxis und Normrechtfertigung aufzuheben. 5a) ( A * G ) < A Leute der Differenzgruppe A — (A*G) haben Normen akzeptiert, die für sie nicht gültig sind. Beispiele sind Leute, die Normen einer Prestige-Gruppe akzeptieren, mit der sie sich hierdurch identifizieren, ohne, daß diese Normen für sie selbst gültig wären. Dies kann zur Lächerlichkeit führen, wenn sie diese Anerkennung bis zur Schwärmerei austragen oder sogar diese durch sie anerkannten Normen zu realisieren versuchen in Kontexten, für die sie nie geschaffen worden waren. Man kann hierbei an Sprecher unterer Schichten denken, die den Stil und den Soziolekt der höheren Schicht imitieren, oder an Männer, die Verhalten imitieren, daß als typisch fraulich gilt und umgekehrt. — Ein anderer Problemfall sind Kinder ausländischer Arbeiter, die Normen von anderen Jugendlichen akzeptieren, dadurch aber zu Hause in Schwierigkeiten geraten, weil da diese Normen nicht für sie gelten. Dasselbe Problem haben die Frauen türkischer und marokkanischer Arbeiter in West-Europa (siehe Nabantoglu 1981). Vielen dieser Frauen wird nicht erlaubt, allein aus dem Hause zu gehen, weil sie draußen andere Lebensformen kennen lernen und akzeptieren könnten, die gemäß dem Urteil des Mannes der Familie für sie nicht gelten. - In ihrem Heimatdorf in, z.B., Anatolien hätten sie mehr Freiheiten, weil dort wegen der sozialen Kontrolle im Dorf sowieso keine Gefahr der Abweichung von den herkömmlichen Verhaltensmustern zu befürchten wäre. — Der Mann hat in diesen Gemeinschaften die Aufgabe, die Normen seiner Kultur und Religion zu bewachen. Der Konflikt ist dadurch verstärkt, daß diese Männer ihr ganzes Selbstbewußtsein auf diese ihre Funktion in der Familie gründen, oft gerade, weil sie in ökonomisch schlechten Verhältnissen leben, die ihnen sonst nichts bieten, worauf sie stolz sein könnten, und weil ihr Status als Gastarbeiter, der ja im Prinzip die Rückkehr in das alte Heimatland verlangt, das Festhalten an den alten Normen rechtfertigt. 5b) (G*A)< G Für die Leute der problematischen Gruppe G - ( G · A) gelten Normen, die von ihnen nicht, oder noch nicht akzeptiert sind. Beispiele sind Gruppen von Creole-Sprechern in Mauritius, für die das Französische gültig ist als offizielle Sprache, die es aber nicht akzeptieren, weil es, nach ihrer Überzeugung, die Sprache des Unterdrückers ist, des Franco-Mauritianers. Durch diesen Konflikt, der dazu führt, daß sie die of305

fizielle Sprache auch nicht übernehmen, sind ihnen die Chancen für ökomomischen Fortschritt genommen und bleiben sie in der unterpriviligierten Gruppe, zumindest bei den heutigen Machtverhältnissen (siehe: Hookoomsing 1980). — Ein anderes Beispiel sind Neger-Jugendliche in den Gettos von New York City, die die Normen der Weißen, einschließlich deren Sprache nicht akzeptieren; dennoch gilt diese Sprache natürlich in allen öffentlichen Angelegenheiten auch für diese Jugendlichen, insbesondere in der Schule. Auch sie bleiben so ohne Aufstiegschancen, aber sie erhalten sich ihren Stolz und ihr Selbstbewußtsein als Mitglieder ihrer »Peer«-Gruppe (Vergi. Labov 1972b). — Ein drittes Beispiel sind diejenigen Tamil-Sprecher in Süd-Indien, die das Hindi nicht als offizielle Sprache akzeptieren. Neben ihrer offiziellen Tamilsprache halten sie am Englischen als bis jetzt noch neben dem Hindi zugelassener überregionaler offizieller Sprache von Indien fest (siehe: Annamalai 1979, Srivastava 1979). 6a) (Ü · G) < Ü Die problematische Gruppe, Ü— (Ü*G), sind Leute, die Normen übernommen haben, die für sie nicht gültig sind. Beispiele sind Kinder und Frauen von türkischen und marokkanischen Arbeitern in West-Europa, die Normen ihres Gastlandes adoptiert haben, obgleich nach dem Urteil der Autorität in ihren Familien diese Normen für sie nicht gültig sind. Das Ergebnis dieser Situation in diesen Familien sind Krankheit der bedrohten Norm-Autorität oder der von ihr abhängigen Familienmitglieder, und selbst Zerbrechen der Familien als einzige Möglichkeit der Lösung des direkten Konflikts. - Ein anderes Beispiel waren Sklaven, die die Normen ihrer Herren übernahmen, obgleich diese nach dem Urteil dieser Herren für sie nicht gültig waren. Die Herren, insbesondere der Ku-Klux-Klan intimidierte Schwarze, die erfolgreich Weiße nachahmten. Übernahme durch Menschen von Normen, die für sie nach dem Urteil der Normautoritäten nicht gelten, ist im allgemeinen problematisch. 6b) (Ü · G) < G Die problematische Gruppe, G — (Ü*G), hat gewisse Normen, die für sie gelten nicht, oder noch nicht, übernommen. Beispiele sind wiederum die Creole-Sprecher von Mauritius, für die Französisch als offizielle Sprache gültig ist, die diese aber nicht übernommen haben. — Ein anderes Beispiel sind Dialekt-Sprecher, für die die Standardsprache gilt und die sie auch anerkennen, die sie aber noch nicht gelernt haben. - Ähnlich war es auch mit den Immigranten in den USA, für die Englisch die gültige offizielle Sprache war und die sie lernen mußten, was aber in der ersten Generation nicht immer glückte und somit für diese Menschen Probleme entstehen ließ und auch zur Sprachmischung in bestimmten Bereichen des Vokabulars führte (vergi. Haugen 1972). Inzwischen ist bei 306

den neueren hispanischen Einwanderern die Geltung der englischen Sprache teilweise zurückgenommen oder wenigstens gemildert, dadurch, daß man ihnen Übersetzer zur Seite stellt, wenn sie im öffentlichen Leben auftreten müssen. Dies ist zwar auf den ersten Blick sehr human, ebenso wie das Zurverfügungstellen von spanischen Formularen und spanischen Beschriftungen öffentlicher Einrichtungen; es kann aber eine Isolierung dieser Bevölkerungsgruppen verursachen, die ihnen schließlich alle Aufstiegschancen verbaut. — Ein letztes Beispiel für diesen Typ von Konflikten sind die Gastarbeiter und ihre Kinder, für die die sprachlichen Normen des Gastlandes gelten, die aber dessen Sprache noch nicht adoptiert haben. 7a) (R · G) < R Für die problematische Bevölkerungsgruppe, R — (R»G), sind Normen gerechtfertigt, die nicht für sie gelten. Beispiele hierzu sind Leute, die im Zuge der Modernisierung mit dem Beginn von Sprachplanung konfrontiert werden. In dieser Situation sind bestimmte Normkonzepte als Normen gerechtfertigt und werden durch Sprachplanungsagenturen vertreten. Diese Normen gelten dann noch nicht für die Bevölkerung, obgleich sie nützlich wären. Oft erst nach den nötigen Schritten der betroffenen Ministerien und manchmal erst nach einem Beschluß der gesetzgebenden Körperschaft werden diese Normkonzepte zu geltenden Normen und können implementiert werden. — Ein Beispiel aus einem anderen Bereich sind Menschen, für die das Normkonzept »Kein Privateigentum in Form von Land« gerechtfertigt ist, aber noch nicht gilt. Sie werden dann dafür eifern, daß Rechtfertigung und Geltung zur Übereinstimmung gebracht werden. 7b) (G · R) < G In diesem Falle sind für die problematische Bevölkerungsgruppe G ( R * G ) Normen gültig, die für sie nicht gerechtfertigt sind. Beispiele sind diejenigen Deutschen unter der Hitler-Herrschaft, für die die damals erlassenen Rassengesetze gültig waren, obgleich sie für diese Menschen nicht gerechtfertigt waren. Versuche wurden unternommen, um diese Gesetze durch rassistische Werte zu rechtfertigen. Viele der sich in diesem Konflikt befindlichen Menschen kamen in Schwierigkeiten wegen ihres Widerstandes: sie stellten Gerechtfertigtsein über Geltung. 8a) ( R e A ) < R Die Menschen in der problematischen Differenzgruppe R — ( R · A) haben Normen nicht akzeptiert, die doch für sie gerechtfertigt sind. Dies geschieht z.B. oft dann, wenn diese Normen nicht für sie gelten. Wenn gerechtfertigte Normen auch gültig sind, folgt auch die Anerkennung als ein weiterer rationaler Schritt. 307

Beispiele hierfür sind wiederum Leute, die den Normbegriff »Kein privates Eigentum an Land« gerechtfertigt finden, ihn aber auch für sich noch nicht akzeptieren, solange dieser nicht als Norm für alle gültig ist. - Ein Konflikt zwischen Gerechtfertigtsein und Anerkennung der hier dargestellten Art liegt auch vor in manchen Sprachplanungssituationen: z.B. finden manche Leute die Einführung neuer Terminologie im Zusammenhang mit Modernisierung und Sprachentwicklung gerechtfertigt, akzeptieren aber aus puristischen Gründen nicht die von den Wissenschaftlern und Technikern bereits übernommene englische Terminologie. So wurde lange Zeit von Mitgliedern der zuständigen israelischen Sprachkommission für terminologische Modernisierung das englische wissenschaftlich-technische Vokabular aus fachlichen Gründen und wegen internationaler Zusammenarbeit als gerechtfertigt angesehen, aber doch nicht akzeptiert, da man aus puristischen Gründen in diesen Bereichen Worte hebräischen Ursprungs einführen wollte. 8b) (A*R)< A Hier haben die Mitglieder der problematischen Gruppe A — ( A * R ) Normen anerkannt, die für sie nicht gerechtfertigt sind. Beispiele hierzu sind die Menschen, die rassistische Gesetze akzeptierten, und in Südafrika immer noch akzeptieren, obgleich diese Gesetze höchsten menschlichen Werten widersprechen und somit nicht gerechtfertigt sind für jeden, der diese Werte anerkennt. — Ein anderes Beispiel sind Leute, die die Normen einer anderen Gruppe anerkennen, weil sie sich mit dieser Gruppe identifizieren wollen, obgleich diese Normen für sie keineswegs gerechtfertigt sind, da sie in ihrer eigenen Umgebung nicht funktional sind. 9a) ( Ü # A ) < Ü In diesem Falle haben Leute der problematischen Gruppe Ü — ( Ü » A ) Normen adoptiert, die sie nicht akzeptiert haben. Dies geschieht bei automatischer Assimilation. Es geschieht auch in bezug auf Vorschriften, die Menschen aufgezwungen werden, die sie aber nie anerkannt haben in dem Sinne, daß sie Korrektur für wünschenswert halten in den Fällen, in denen sie die Vorschrift, die ihnen schon zur Gewohnheit geworden ist, nicht einhalten. Beispiele sind Sprachreiniger, die gegen alle fremden Entlehnungen kämpfen, aber doch, entgegen ihren Überzeugungen, in ihrem eigenen Sprechen fremde Lehnwörter finden. — Man beachte, daß Entlehnung nicht immer aus fremden Quellen stattfindet, man kann auch Wörter einheimischen Ursprungs in die Standardsprache oder in eine andere Varietät entlehnen, etwa Wörter aus früheren Epochen der eigenen Sprache, oder Wörter aus anderen Varietäten, z.B. aus einem Dialekt in den anderen, oder in die Standardsprache, oder aus der Standardsprache in einen Dialekt; gegen 308

solche Entlehungen haben Puristen nichts einzuwenden, da sie nicht als »fremd« gelten. - Ein ähnlicher Fall, der hierher gehört, sind die Leute, die sich dabei ertappen, daß sie Slang-Ausdrücke gebrauchen, ohne diese als Teil ihrer Sprache zu akzeptieren. Sie finden ihr eigenes Verhalten in Übereinstimmung mit Sprachnormen von anderen, die sie nicht anerkennen wollen. 9b) ( Α · ϋ ) < A Hier haben wir in Α - ( Α · ϋ ) eine Gruppe, die Normen akzeptiert hat, die sie nicht, oder noch nicht, übernommen hat. Beispiele hierzu sind Immigranten, die die Sprache der Autochtonen akzeptieren, aber noch nicht sprechen können, oder Sprecher eines Dialekts, die die Standardsprache anerkannt haben, ohne in der Lage zu sein, diese (korrekt) zu sprechen. Die Anerkennung zeigt sich darin, daß sie Korrektur zugunsten des Standards akzeptieren oder gar wünschen, und daß sie wollen, daß ihre Kinder in der Schule die Standardsprache lernen. — Ein anderes Beispiel sind Menschen in Indien, die das Hindi als ihre Sprache akzeptiert haben, aber nicht in der Lage sind, es zu sprechen. In einem Census gaben sie an, Hindi zu sprechen und daß Hindi ihre Sprache sei, ohne damit bewußt zu lügen; vielmehr identifizierten sie sich auf diese Weise mit den Prestige tragenden Gruppen der Bevölkerung, die Hindi sprechen; auch identifizierten sie sich mit der Nation über die Identifizierung mit der nationalen Sprache (siehe: Khubchandani 1974). 10a) (R*Ü)< R Hier sind gewissen Normen für die Menschen der Gruppe R - ( R e U ) gerechtfertigt, ohne daß sie diese Normen bereits übernommen hätten. Ein Beispiel sind noch einmal Leute, die das Normkonzept »Kein Privateigentum an Land« als gerechtfertigt ansehen, aber es bisher nicht für sich selbst übernommen haben, vielleicht weil es noch nicht allgemein gilt. Ein anderes Beispiel sind Menschen, die die Modernisierung ihrer Sprache gemessen an Erfordernissen der neuen Zeit gerechtfertigt finden, die aber diese modernen sprachlichen Mittel selbst nicht oder noch nicht übernommen haben, z.B., weil sie sich nicht mehr umstellen können. Auch in bezug auf das Hindi bestehen Gruppen des hier dargestellten Typs: Die Mehrheit der indischen Bevölkerung hält das Hindi als nationale Sprache für gerechtfertigt. Aber viele haben diese Sprache selbst nicht übernommen, insbesondere, da sie neben ihrer offiziellen regionalen Staatssprache auch noch das Englische als überregionale offizielle Sprache in Indien gebrauchen können. 10b) ( R . Ü ) < Ü Die problematische Gruppe Ü - ( R » Ü ) hat Normen übernommen, die für sie nicht gerechtfertigt sind. Dies ist ein wenig rationales Verhalten, und 309

wir finden, gerade in Sprachplanungssituationen dann auch eher das Gegenteil, nämlich, daß Menschen Sprachnormen, die nicht für sie gerechtfertigt sind, auch nicht übernehmen. Dennoch gibt es einige Beispiele zu dem hier dargestellten Problemtyp. Imitation des Benehmens, des Sprachstils und der Aussprache einer Prestige-Gruppe durch andere Menschen ist ein Beispiel. Solches Verhalten führt besondern dann zu schlechten Resultaten, wenn derjenige, der die fremden Normen adoptiert hat, diese innerhalb seiner eigenen sozialen Gruppe realisiert, anstatt sich an die dort geltenden Formen anzupassen. Aber auch die imitierte Gruppe bewertet diese Nachahmung nicht positiv. Wenn solche Nachahmung auf breiter Basis stattfindet, sieht sie ihre Identität gefährdet und muß sich neue Symbole ihrer Identität schaffen, die die Unterschiede wieder deutlich sichtbar machen. - Als letztes Beispiel sei noch einmal der Rassismus genannt: diejenigen Leute gehören zu dem hier vorgestellten problematischen Typ, die die rassistischen Gesetze unter Hitler übernommen hatten, aber doch dabei wußten, daß diese nicht gerechtfertigt waren; diesen Konflikt versuchten sie dann durch Rationalisierung der Rassengesetze auf der Basis dubiöser Werte zu verdecken. Die Existenz von Normkonflikten der hier besprochenen Typen in einer Bevölkerung in bezug auf eine Norm oder ein Normensystem bedeutet, daß die Bevölkerung in bezug auf diese Norm heterogen ist. Eine in bezug auf eine Norm Ν homogene Bevölkerung ist eine, in der die Bereiche der Existenz (als Praxis), der Geltung, der Anerkennung, der Übernahme und der Rechtfertigung zusammenfallen. Ein Beispiel einer homogenen Sprachgemeinschaft wäre z . B . ein Dorf mit wenig Kontakt zur Außenwelt. Fragen der Geltung, Anerkennung und Rechtfertigung können hier kaum aufkommen; denn solche Fragen stellen sich nur, wenn in der Gemeinschaft eine Heterogenität entsteht, hervorgerufen durch die Einsicht darin, daß es verschiedene mögliche Normen oder Normensysteme gibt.

1.3. Konflikte zwischen verschiedenen Normen innerhalb einer Bevölkerung Die Arten von Konflikten, die oben dargestellt wurden, werden verstärkt, wenn z . B . die Geltungsbereiche von zwei unverträglichen Normen oder Normsystemen, N 1 und N 2 einander überlappen. Die Leute aus der Gruppe G ( N 1 ) * G ( N 2 ) müssen dann beiden Normen entsprechen. Dabei gibt es zwei verschiedene Normautoritäten und Normbewacher, die die Geltung der respektiven Normen definieren und verstärken. Dies ist etwa der Fall bei den Frauen und Kindern der türkischen und marokkanischen Gastarbeiter in West-Europa. Eine mögliche Lösung dieser Arten von Konflikten besteht darin, die eine Norm in ihrem Anwendungsbereich auf bestimmte Situationen zu be310

schränken, und die andere Norm auf andere Anwendungssituationen einzuschränken. Häufig sind die zwei verschiedenen situativen Domänen der Bereich des privaten Lebens und der des öffentlichen Lebens. Eine andere Möglichkeit ist die Beschränkung der einen Norm auf den Umgang mit Menschen einer Gruppe A und die Beschränkung der anderen Norm auf den Umgang mit Menschen der Gruppe B. Beispiele dieser Art von Konflikten zwischen der Gültigkeit von zwei Normen oder Normsystemen finden sich nicht nur im Leben der ausländischen Arbeiter, sondern auch im Leben vieler Frauen, die sich zu Hause in ihren Familien entsprechend den Normen verhalten, die nach verbreiteter Meinung auf Frauen zutreffen, z.B. besonders beschützend zu sein hinsichtlich des Image des Partners, und in der Öffentlichkeit als Geschäftsfrauen oder als höhere Beamte und Angestellte und in freien Berufen vertreten sie die Normen, die als typisch männlich angesehen werden, die aber eher charakteristisch für leitungsgebende Berufe sind. Häufig ist aber eine klare Unterscheidung zwischen Situationen, in denen die eine oder aber die andere konkurrierende Norm anzuwenden ist, nicht zu machen, weil eine Situation Eigenschaften von beiden Situationstypen haben kann, die zur Anwendung beider Normen aufrufen. Eine andere Strategie zur Lösung von Konflikten zwischen geltenden, aber miteinander unverträglichen Normen ist die, sich auf symbolische Weise gemäß der einen Norm zu verhalten, aber in Wirklichkeit gemäß der anderen Norm zu handeln. Beispiele hierzu werden im folgenden Abschnitt gegeben. Viele Beispiele von Normkonflikten zwischen zwei unverträglichen Normbegriffen in den Fällen, in denen sie in ihren respektiven Domänen der Existenz, Geltung, Übernahme, Anerkennung und Rechtfertigung überlappen, können in multi-kulturellen und multi-lingualen Gesellschaften gefunden werden, insbesondere in allen Arten von Immigrationssituationen, sowie in Problemen zwischen Kulturen und Sub-Kulturen, sowie Standardsprachen und Dialekten und Soziolekten. Diese Typen von Konflikten können durch nicht leere Durchschnittsmengen Χ(Ν')·Υ(Ν') dargestellt werden, wobei X: = E, G, A, Ü, R und Υ: = E, G, A, Ü, R. Da die Durchschnittsbildung eine kommutative Operation ist, reduzieren sich die so entstehenden 25 Kombinationen zu 15 verschiedenen Fällen. In der Diskussion einiger dieser Fälle von Normkonflikten will ich die Unterschiede zwischen der Situation der Gastarbeiter, der Situation von Immigranten und der Situation von Kolonisatoren deutlich machen. In der Immigranten-Situation entstehen Konflikte in den Situationen, in denen die alten Normen noch als eine Praxis existieren, aber die neuen Normen schon gültig sind. Die Immigranten werden von Anfang an als Teil der Gemeinschaft, in die sie aufgenommen worden sind, angesehen und müssen auch entsprechend darin funktionieren. Die Kultur und das legale 311

System, wie auch die sprachlichen Normen der Autochtonen sind dominant, insbesondere, da die Immigranten ins Land gekommen sind, um permanent eine Rolle in der Ordnung und dem ökonomischen System des Gastlandes zu erfüllen. D.h., daß sie dorthin gekommen sind, um integriert zu werden, und somit ist die Dominanz von Kultur, Sprache und Gesetz des neuen Landes vorausgesetzt. Sie sind nämlich nicht als Eroberer gekommen. — Im Unterschied zum Immigranten ist der Eroberer auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens dominant. — In den Vereinigten Staaten war bisher die Integration i.a. in der dritten Generation vollständig vollzogen, wenn nicht schon mit der zweiten Generation. Nachkommen von Immigranten, die ökonomisch wenig erfolgreich sind, oftmals weil sie nicht die Fähigkeiten entwickelt haben, die für ein Vorankommen in der modernen Gesellschaft nötig sind, halten häufig an einigen Ritualen und Nonnen ihrer ethnischen Herkunft fest »Ethnical revival« findet man typisch in Gruppen am Rande der amerikanischen Gesellschaft, die kaum Möglichkeiten sehen für ökonomische Verbesserung und die Anerkennung, die mit solcherart Erfolg verbunden ist. — So J. Fishman in seinem Vortrag »Language Maintenance and Language Shift«, gehalten am Mertens Institut, Amsterdam, 14. Oktober 1982. — Die Funktion des »ethnic revival« liegt darin, ein Symbol der Identität für Menschen bereit zu stellen, von dem sie eine Art von Selbstrespekt ableiten können, der in Ermanglung eines anderen Hintergrundes, von ethnischer Art ist. Es ist, nach Fishman, bemerkenswert, daß die rituellen Normen der Ethnizität nicht mit den Normen der modernen amerikanischen Gesellschaft konfliktieren, obgleich diese Menschen es selbst so sehen, daß sie Anhänger beider Normsysteme sind. Konflikte werden durch die oben angebende Strategie verhindert, nämlich dadurch, daß man einen Unterschied macht zwischen denjenigen Situationen, in denen die eine Norm anzuwenden ist, und denjenigen, in denen die konkurrierende Norm realisiert wird. Dies ist dadruch möglich, daß die Anwendung ethnischer Normen auf rituale Lebensformen an Sonntagen und Feiertagen beschränkt wird, und zwar auf Zusammenkünfte der ethnischen und religiösen Gemeinschaften. Sogar der Gebrauch anderer Sprachen als des Englischen ist auf rituellen Gebrauch beschränkt. Leute, die im Laufe der Welle des »ethnic revival« begannen, die Sprachen ihrer Vorfahren zu lernen, gebrauchen diese Sprachen nur in rituellen Zusammenhängen, wie etwa im Singen alter Lieder, aber sie sind nicht in der Lage, diese Sprachen in der Konversation zu sprechen. Im Grunde genommen reduziert sich ihre Normpraxis, was ihre Ethnizität betrifft, auf symbolische Handlungen, in denen sie ihre Anerkennung der alten Normen ausdrücken. In manchen Fällen dienen auch Kleidung, Frisur und der vereinzelte Gebrauch ethnischen Vokabulars als Kennzeichen ethnischer Identität, die auch außerhalb ritueller Situationen im normalen öffentlichen Leben zur Schau gestellt wird. In einer echten Immigrationssituation ist die Dominanz der legalen, kul312

turellen und linguistischen Normen in dieser Situation selbst impliziert. Dies ist völlig anders in Situationen, in denen Minoritäten ein Land erobern. Dann ist die Dominanzbeziehung auf all diesen Gebieten, oder zumindest auf einem Teil dieser Gebiete genau umgekehrt. Beispiele hierfür finden wir in der Kolonisation. Hier entwickelt die autochtone Bevölkerung, zusammen mit eventuell importierten Arbeitern, die nicht zu den Kolonialherren gehören, neue Sprachen, nämlich Pidgin- und Creole-Sprachen, die auf die Sprache der Eroberer hin orientiert sind. Diese ist die Matrix-Sprache, auf die sich die Creole-Sprachen in einem Kontinuum von auseinander hervorgehenden Varietäten hin entwickeln. Hier ist die Sprache der herrschenden Minorität offizielle Sprache, an die sich die Creole-Sprecher mehr oder weniger anpassen, abhängig von ihrer Bereitschaft, sich in das herrschende System zu integrieren. Noch wieder unterschieden von der Immigrationssituation einerseits und der Kolonialisationssituation andererseits ist die Situation der Gastarbeiter, die von unterentwickelten Gebieten in moslemischen Ländern als billige Arbeitskräfte in West-Europa eingeströmt sind. Sie kamen nicht als Immigranten und auch nicht als Eroberer. Wie ist ihr Status definiert und was bedeutet dieser Status für die Existenz von Normkonflikten? Zuerst einige Bemerkungen über die Art von Normkonflikten, in denen sich diese Menschen befinden: Wie man aus Geschichten und Sketches von Kindern aus Gastarbeiterfamilien entnehmen kann, scheinen bei ihnen zu Hause Normen instandgehalten zu werden, die sehr ähnlich zu denen sind, die wir in unseren westlichen Gesellschaften bis vor 50 Jahren auch vorfanden. Die Rolle des »Patriarchen« in der Famlie eines Moslimarbeiters ist in etwa so, wie sie auch bei uns vor nicht allzu langer Zeit auch war. Es wäre zu simplistisch, diese Normen als primär von religiöser Art anzusehen; die Religion, ob nun die christliche oder die moslemische, unterstützt diese Normen nur und verstärkt die Macht des Normbewachers. Es ist gleichfalls bemerkenswert, daß die Menschen der höheren Mittelklasse den traditionellen Normen zu Hause nicht folgen, so etwa in den größeren türkischen Städten; wie auch die Elite im Iran, die ihre moderne Lebensweise nun vor den fanatisierten Massen verborgen halten muß, ist auch die Lebensform der höheren Mittelschicht in der Türkei sehr europäisch, auch was die Ausbildung und Berufsmöglichkeiten der Frauen dieser Klasse betrifft, bzw. im Iran betraf. Wenn Menschen dieser Klasse nach Europa oder Amerika kommen, um da zu arbeiten, haben sie kaum Normkonflikte, abgesehen von vielleicht einigen sprachlichen Schwierigkeiten. Durch ihr intellektuelles Training sind sie in der Lage, Unterschiede und mögliche Normkonflikte schnell zu sehen, bevor sie in Schwierigkeiten und Desorientierung zurechtkommen können. Wenn man dies berücksichtigt, so kann man konkludieren, das die massai entstehenden Normkonflikte im Falle der Gastarbeiter auf die soziale Unterschicht beschränkt sind und mehr mit dem sozial und 313

ökonomisch armseligen Status, der mangelnden Ausbildung und selbst mit Illiteralität zu tun haben. Es ist mehr ein Problem der Modernisierung und der Beschränktheit der ökonomischen Möglichkeiten als der Religion, zu dessen Lösung wir in West-Europa etwa 90 Jahre nötig hatten, beginnend mit der Zulassung der ersten Frauen zu professionellen Studien an den Universitäten. — Ein zu verzeichnendes Zurückfallen auf die Religion und die durch sie gestützten Normen ist ein Ausdruck sozial-ökonomischer Hoffnungslosigkeit, die der beste Boden für alle Art von Fundamentalismus ist. Das besondere der Situation der Gastarbeiter liegt darin, daß hier keine graduelle langsame Veränderung in Richtung auf Modernisierung, verbunden mit sozialem Fortschritt, stattfindet, und auch keine plötzliche Modernisierung, die schon schwierig genug wäre, sondern statt dessen ein Zugleich-Erfüllen von zwei verschiedenen Normensystemen, was bedeutet zugleich modern und traditionell zu sein, wobei beide Normen durch zwei verschiedene Gruppen von Norm(sub)autoritäten und Normbewachern durchgesetzt bzw. instandgehalten werden. Wie unterscheidet sich nun der Status der Gastarbeiter von dem der Immigranten? 1. Im Prinzip erwarten die Gastarbeiter und wird auch von ihnen erwartet, daß sie nach Hause zurückkehren, nachdem sie genug verdient haben, um sich dort ein Haus zu bauen und ein kleines Geschäft zu errichten, oder aber auch, wenn sie hier nicht mehr gebraucht werden. 2. Sie bekommen in den meisten Fällen nicht die Nationalität ihres Gastlandes, im Unterschied zu Immigranten. Auch kamen sie meistens nicht mit der Absicht, sich im Gastland naturalisieren zu lassen und ihre eigene Staatsbürgerschaft auf diese Weise zu verlieren. Diese zwei miteinander zusammenhängenden Tatsachen sind besonders wichtig, da sie den Unterschied zur Situation von Immigranten ausmachen, was sowohl die Einstellung der Gastarbeiter zu den Menschen und der Kultur und Sprache des Gastlandes betrifft, als auch was die Einstellung der Autochtonen ihnen gegenüber betrifft, deren Erwartungen deutlich durch den Term »Gast-Arbeiter« ausgedrückt werden. Von Gästen erwartet man, daß sie nach einiger Zeit wieder abreisen, und von diesen erwartet man außerdem, daß sie hier nur zum Zwecke der Arbeit sind. Andererseits ist aber die tatsächliche Entwicklung so, daß die meisten der ausländischen Arbeiter, insbesondere ihre Kinder, wohl nicht in die Heimatländer zurückkehren werden. Die Alten nicht, weil sie noch immer hoffen, erst einmal genug zu verdienen, um als erfolgreicher Mann zurückkehren zu können, die Jungen, weil ihre Heimat inzwischen das Gastland ist. Sie befinden sich in einer undeutlichen Situation. Wären sie auch unter legalem Gesichtspunkt Immigranten, dann wäre ihre Position eindeutig und 314

alle Normkonflikte würde mit Recht durch Dominanz der Normen des Immigrationslandes gelöst werden, wenn auch da mit vorübergehenden Anpassungsschwierigkeiten. Aber solange von diesen Ausländern erwartet wird, daß sie in ihr Land zurückkehren, ist eine eindeutige Dominanz der Normen des Gastlandes in bezug auf diese Menschen nicht gerechtfertigt. Denn der Gesichtspunkt ihrer zu erwartenden Rückkehr in ihr Heimatland rechtfertigt, daß die Normen der eigenen Gemeinschaften instandgehalten werden; ohne das würde eine Re-Integration kaum noch möglich sein. Auch kann die Position der Normautorität in der Familie, des Vaters, nicht so ohne Weiteres geschwächt werden, um die Normkonflikte zugunsten der Normen des Gastlandes zu lösen. Wären diese Menschen Immigranten, dann wäre es gerechtfertigt, diese Normautorität in der Familie zu schwächen, wenn sie sich nicht an die neuen Normen anpassen würde. Eine solche Schwächung würde auch eintreten, da die anderen Familienmitglieder auf das Familienoberhaupt Druck ausüben könnten; denn sie haben selbst einen starken legalen Status; außerdem ist das Durchsetzen der traditionellen Normen gegenüber den Normen des neuen Landes für Immigranten nicht gerechtfertigt. — Auch in diesem Falle würde die Schwächung der Normautorität in der Familie für den Mann zu Problemen führen, da er sein Selbst-Image als Patriarch wahren will; aber der sichere legale Status macht es ihm leichter, sich doch an die dominierende Kultur und deren Normen anzupassen und dabei doch noch nicht sein Selbstbewußtsein zu verlieren. So ein Immigrant kann sich, allerdings oft mit Mühe, an die moderne Gesellschaft anpassen, und dieses wird von ihm auch mit Recht verlangt. Anders ist es jedoch bei einem Gastarbeiter. Die Mitglieder seiner Familie haben keinen von ihm unabhängigen rechtlichen Anspruch auf Aufenthalt im Gastland und können daher auch nicht gegen seine Autorität zugunsten der modernen Normen angehen. Außerdem wäre dies auch nicht völlig gerechtfertigt, da die familiäre Autorität mit Recht darüber wacht, daß die traditionellen Normen erhalten bleiben, um eine spätere Re-Integration in das alte Heimatland möglich zu machen. Mit der weiteren Modernisierung der Herkunftländer der Gastarbeiter wird dieser Gesichtspunkt allerdings in seiner Bedeutung abgeschwächt. Gleichzeitig mit dem Instandhalten der alten Normen muß der Gastarbeiter und seine Familie sich an die moderne Gesellschaft des Gastlandes anpassen, wenn er dort einen gewissen beruflichen Status erwerben will. Dies rechtfertigt das Akzeptieren und Übernehmen derjenigen Normen der Autochtonen, die in dieser Gesellschaft funktional sind. Wir können konkludieren, daß die unklare chamäleonartige Situation des Gastarbeiters so ist, daß sie beides rechtfertigt und verlangt, sowohl das Festhalten an traditionellen Normen und das Akzeptieren der traditionellen Normbewacher und Normautoritäten, wie auch das übernehmen der Normen der modernen westlichen Gesellschaft und das Akzeptieren von deren 315

Normbewachern und Normautoritäten. Diese Situation ist die eines scharfen Konflikts zwischen zwei gleich stark gestützten und gültigen Normsystemen. Der Ernst dieses Problems, der es schwieriger macht als die Situation von Normkonflikten, in denen sich Immigranten befinden, liegt darin, daß beide Normensysteme gleichermaßen auf eine gerechtfertigte Manier gültig sind und damit auch die konkurrierenden Normbewacher und Normautoritäten in ihrer Funktion gerechtfertigt sind. Dies ist ein Argument dafür, um den Gastarbeitern den Status von Immigranten anzubieten, obgleich dieser Status auch Probleme mit sich bringt; denn auch Immigranten halten an den traditionellen Normen fest, insbesondere, wenn sie sich noch stets nicht ganz für das neue Land entscheiden können und sich die Hintertür der Rückkehr offen halten wollen. Aber zumindest gehören Immigranten nicht zu der problematischen Gruppe, für die zwei konkurrierende Normen gelten und auch gerechtfertigt sind; sie gehören zu der Kategorie, bei der wenigstens prinzipiell, entsprechend ihrem legalen Status, die Konflikte zwischen den konkurrierenden Normen gemäß dem Prinzp der Dominanz aufgelöst werden können, denn diese Menschen gehören nicht mehr zu denen, für die die alten Normen gelten und gerechtfertigt sind; zwar existieren sie für diese noch als eine Praxis, aber im Zweifelsfalle geht Geltung vor Praxis, d. h. Konflikte werden in diesen Fällen gelöst im Sinne der Normen des neuen Landes. Die am meisten problematischen Gruppen sind also G(N 1 )*G(N 2 ), R(N 1 )*R(N 2 ) und G(N')*R(N 2 ), exemplifiziert durch die Gastarbeiter in West-Europa. Dagegen sind die Gruppen E(N 1 )*G(N 2 ), Ε(Ν')·Α(Ν 2 ), A ( N ' ) · A ( N 2 ) und A(N 1 )*G(N 2 ) weniger problematisch, wenn auch sicherlich nicht unproblematisch; für diese Gruppen sind Immigranten ein Beispiel. 2. Normkonflikte in Kommunikationssituationen Kommunikationsnormen sind technische Normen, die die Gestalt (Form und Substanz) und den Gebrauch von Kommunikationsmitteln normieren und regeln. Die Normen, die die Gestalt dieser Mittel bestimmen, sind syntaktische, morphologische, phonetische, phonologische und graphemische Normen. Die Normen, die den Gebrauch dieser Mittel bestimmen, sind instrumenteile Normen, die semantisch und pragmatisch von Art sind und wozu auch die stilistischen Normen gehören. Die in diesem Abschnitt behandelten Normkonflikte betreffen den Gebrauch von bestimmten Kommunikationsmitteln, die im folgenden auch als »Kommunikationsformen« bezeichnet werden, wenn es sich um Komplexe von Kommunikationsmitteln handelt, die von bestimmter textlinguistischer Form sind, wie etwa verschiedene Textsorten. Situationen haben Eigenschaften, die die Bedingungen für das Realisie316

ren bestimmter Normen erfüllen; d.h. in Situationen vom Typ c ist Verhalten gemäß Norm Ν passend oder selbst verlangt. Die Mengen von Situationen, die die Realisierung eines bestimmten Norminhalts erfordern oder zulassen, nenne ich den situativen Geltungsbereich der obligatorischen bzw. optionellen Norm N, kurz: S N . Es ist möglich, daß sich die situativen Geltungsbereiche von zwei Normen überschneiden, ohne daß beide Normen zugleich erfüllt werden können. In so einem Fall sind die zwei Normen unverträglich. Es gibt Überschneidungen von situativen Geltungsbereichen von zwei und mehr Normen oder ganzen Normsystemen oder Normgruppen. Diese können unproblematisch sein, aber auch problematische Situationen umfassen. Zwei Normen oder Normsysteme bzw. Normgruppen A und Β sind unverträglich miteinander, wenn es Situationen gibt, in denen Menschen sowohl gemäß A als auch Β handeln müssen oder dürfen, aber das eine das andere ausschließt. Beispiele für diese Art von unverträglichen Normengruppen finden wir in den Situationen, in denen sich oft Frauen mit einer beruflichen Karriere befinden, die bei ihrer Arbeit Normen von Effizienz und Kompetenz erfüllen müssen (Α-Normen), zugleich mit den Normen, die zu dem Bild der Frau passen, das noch immer in unserer Gesellschaft herrscht (B-Normen), vergi. Bartsch 1982 b. Diese Art von Konflikten könnte dadurch vermieden werden, daß die Anwendungssituationen der A- und B-Normen deutlich voneinander abgegrenzt werden, z.B. durch Α-Normen auf das öffentliche Leben und B-Normen auf das private Leben zu beschränken. Dies ist nicht generell möglich, da die A- und die B-Normen bestimmte Funktionen erfüllen, die nicht mit der Unterscheidung zwischen öffentlichem und Privatem zusammenfallen. Ebenso ist es nicht generell möglich, Α-Normen im Umgang mit einer Sorte Menschen und B-Normen im Umgang mit einer anderen Sorte Menschen anzuwenden. Dennoch lassen beide Gesichtspunkte eine grobe Abgrenzung zwischen Verhalten gemäß Α-Normen und Verhalten gemäß B-Normen oftmals zu und gibt es Möglichkeiten A- und B-Normen in einer Situation stärker oder schwächer zu erfüllen, je nachdem, auf welcher Seite der Abgrenzung die Situation liegt. So liest man - und das wird mit Absicht publiziert —, daß eine so effiziente und fähige Politikerin (Α-Normen) wie Margaret Thatcher doch zu Hause für Denis eine gute Frau ist (B-Normen), die ihm persönlich morgens seine Eier mit Speck backt. Auch durch ihre Kleidung, das Herzen kleiner Kinder, Gespräche mit einfachen Frauen »von Frau zu Frau«, usw. erfüllt sie, auf symbolische Weise, die fraulichen Normen. Durch solche symbolischen Handlungen drückt man aus, daß man die Gruppe von Normen, zu der Handlungen dieser Art gehören, als für sich selbst geltend akzeptiert, auch wenn man diese durch die Umstände, die die Erfüllung einer anderen Gruppe von Normen erfordern, nicht echt erfüllen kann. Übrigens verrichten nicht nur weibliche, 317

sondern auch männliche Politiker in der Öffentlichkeit viele symbolische Handlungen, um so anzudeuten, daß sie es prinzipiell akzeptieren, daß für sie auch die Verhaltensregeln für gewöhnliche Menschen »mit Herz« gelten, auch wenn sie sich durch ihr Amt meistens gemäß einer anderen Gruppe von Normen verhalten müssen. Das Herzen kleiner Kinder in der Öffentlichkeit ist in diesem Zusammenhang eine häufig ausgeführte symbolische Handlung. Häufig läßt eine Situation zwei Interpretationen zu, nämlich als Situation aus SA und als Situation aus S B , ohne daß man gut erkennen kann, ob die Situation eher eine A-Situation als eine B-Situation ist. Dies ist manchmal der Fall in Interaktionssituationen zwischen Männern und Frauen im Berufsleben. Interaktion mit einem Mann macht es für eine Frau passend, sich gemäß B-Normen zu verhalten, während die sachliche Umgebung und die sachlichen Ziele ein Verhalten gemäß den Α-Normen erfordern. Im allgemeinen finden wir in Situationen, in denen sachlicher Informationsaustausch ein Ziel ist, eine Quelle von Normkonflikten darin, daß hier einerseits Α-Normen gelten, die in dem an zweckmäßigem Informationsaustausch orientierten Grice'schen Kooperationsprinzip begründet sind, und andererseits B-Normen gelten, die in dem an reibungsloser Interaktion orientierten Goffman'schen Kooperationsprinzip zur Image-Stützung begründet sind. Die Arten von Erwartungen und Konflikten, die sich aus dieser Konstellation von A- und B-Normen ergeben, hat Agnes Boeren (1982) untersucht, soweit sie sich gerade für Frauen stellen. Es liegt vor der Hand, daß auch Männer hier Normkonflikte erfahren; aber in unserer Gesellschaft ist für Männer doch ein deutlicher Vorrang an das Kooperationsprinzip für effektiven Informationsaustausch gegeben. Von Frauen wird stärker verlangt, daß sie das Kooperationsprinzip für reibungslose Interaktion beachten. Man kann sagen, daß in unserer Gesellschaft bei der Lösung von Normkonflikten dieser Art für Männer und für Frauen zwei verschiedene Richtungen angegeben sind dadurch, daß für die einen das eine und für die anderen das andere Kooperationsprinzip Vorrang erhält. - Es führt zu weit, hier über die Folgen dieser Konstellation zu sprechen, die, was die berufliche Karriere betrifft, für Frauen nachteilig sind. Auch schon unter dem Gesichtspunkt von Goffmans Prinzip des »image support« allein können Konflikte auftreten. Die Strategien und Regeln für die Stützung und Verstärkung des eigenen Image stehen in Konflikt mit denen zur Stützung und Verstärkung des Image des Interaktionspartners. Das eine kann manchmal nur auf Kosten des anderen erreicht werden. In diesen Fällen sind die Strategien zur Lösung dieser Konflikte Regeln zweiter Ordnung. Auch in diesen Fällen wird von Frauen etwas anderes erwartet als von Männern, nämlich daß Frauen Vorrang geben müssen an die Verhaltensnormen, die das Image des Mannes in der Interaktion stützen. Im allgemeinen aber kann man sagen, daß man sowohl bei der Eigen-Image-Stützung 318

als auch bei der Partner-Image-Stützung in unserer Gesellschaft nur in beschränktem Maße und vorsichtig zu Werke gehen muß, so daß man an beidem etwas, aber nicht zuviel tut. In anderen Kulturen ist dieser Konflikt anders gelöst: So fällt es auf, daß im Wissenschaftsbetrieb, und wohl im beruflichen Leben überhaupt, in den Vereinigten Staaten sich Menschen selbst sehr rühmen dürfen. Aber dem steht gegenüber - hierauf wies mich Dorothea Franck - , daß sie auch sehr hart angefallen werden dürfen, wodurch der Kommunikationspartner auch wieder Prestige erwerben kann. In Japan dagegen darf man sein eigenes Image nicht aktiv verstärken durch sich selbst zu preisen oder hervorzutun; man muß selbst sehr bescheiden auftreten und sich gar erniedrigen. Aber dem steht gegenüber, daß der Kommunikationspartner verpflichtet ist, dieses auszugleichen durch Rühmen des anderen und durch andere Ehr- und Respekterweise. Gemeinsam ist diesen doch sehr unterschiedlichen Kulturen, daß sich im allgemeinen das Plus und Minus von Eigen-Image-Stützung und Ander-Image-Stützung die Waage halten müssen, so daß das angestrebte Endresultat die wenigstens prinzipielle Gleichwertigkeit der Interaktionspartner ist. In unserer Kultur ist dieses Prinzip auch sichtbar wirksam in den Fällen, in denen andere jemanden, der sich selbst äußerst bescheiden präsentiert, besonders preisen müssen, und wo dieses für manche Leute zu einer Strategie geworden ist, um Lob zu erheischen: Wer sich besonders bescheiden, verlegen und verwundbar darstellt, fordert viel von seinen Mitmenschen, die dann an der Stärkung seines Image arbeiten müssen, wollen sie mit ihm auf gleichem Fuße verhandeln und verkehren können. In den oben gegebenen Beispielen wurde eine vielfältig gebrauchte Strategie zur Lösung von Normkonflikten illustriert. Sie besteht darin, daß in einer solchen Konfliktsituation die eine Norm echt erfüllt wird und die andere nur symbolisch angedeutet wird. So haben verfestigte Höflichkeitsformen eher eine symbolische Bedeutung, indem man durch ihnen gemäßes Verhalten andeutet, daß man den anderen respektiert, ohne im Detail etwas zur Image-Stärkung zum Nutzen des anderen zu tun. Hierauf scheint mir auch die traditionelle Höflichkeit gegenüber Frauen zu beruhen: Je mehr diese in acht genommen wurde, desto weniger brauchte man an echten Handlungen zur Unterstützung ihres Image und echter Akzeptierung von Frauen als gleichwertige Partner zu tun. Weiterhin ist auf dasselbe Prinzip auch die folgende Strategie basiert: Der verstärkte Gebrauch von Höflichkeitsformen und Ritualen dient symbolisch als Gegengewicht für einen besonder harten Anfall auf den anderen. Dessen Image wird durch den Anfall beschädigt, und zugleich wird der Schein von Respekt aufrechterhalten, der nötig ist, um die prinzipielle Gleichwertigkeit zu erhalten, die Bedingung für weitere Interaktion ist. Oft ist aus sachlichen Gründen eine Opposition gegen jemandes Meinungen und Handlungen nötig. Es ist unvermeidlich, daß 319

eine solche Opposition zugleich einen Angriff, oder eine Kränkung des Image des anderen bedeutet. Indem man dann zumindest auf symbolische Manier das Image des anderen stützt und respektiert, kann der Angriff noch einigermaßen »anständig« erfolgen und so für den Angegriffenen tragbar sein. Damit werden ihm auch zugleich die Möglichkeiten zu einer aggressiven Gegenreaktion entnommen. Hierzu dienen Höflichkeitsrituale und auch das Ritual des Versicherns, daß man den anderen natürlich nicht persönlich angreifen will, sondern daß es nur um eine Auseinandersetzung mit seiner Meinung oder um eine Ablehnung seiner Position gehe. Diese Trennung ist aber im Grunde genommen nicht wirklich zu machen. Im allgemeinen kann man sagen, daß Normen nicht in allen Situationen, in denen sie gelten, befolgt werden oder befolgt werden können, aber daß sie in allen diesen Situationen zumindest als akzeptiert bekräftigt werden müssen, sei es dadurch, daß man sich für Nicht-Befolgen entschuldigt, daß man sich korrigiert, wenn das möglich ist, oder sei es dadurch, daß man symbolisch sein Akzeptieren dieser Normen andeutet. Diese Referenzbeweise an die Normen einer Gemeinschaft sind eine Methode, um die eigene Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft zu bekräftigen. Im vorhergehenden Text wurde davon ausgegangen, daß bestimmte Interaktionssituationen bestimmte Verhaltensformen erfordern, daß also die Anwendung bestimmter Normen abhängig vom Typ der Situation ist. Dieser Zusammenhang zwischen Situationstyp und Norm oder Normengruppe kann auch auf umgekehrte Weise von Interaktionspartnern gebraucht werden: Durch Anwendung einer bestimmten Verhaltensnorm A in einer Situation s, die nicht zum situativen Geltungsbereich von A gehört, unternimmt der Handelnde einen Versuch, um s doch noch als eine Situation zu definieren oder aufzubauen, die doch zu SA, dem situativen Geltungsbereich von A, gehört. So kann einer der Interaktionspartner - oder auch beide, wenn der andere dabei kooperiert - versuchen, eine Situation vom Typ Β umzudefinieren als eine Situation vom Typ A. Dies ist, in Goffmans Terminologie, auch als »Frame«-Wechsel bekannt, vergi. Goffman 1974. Beispiele für Konflikte zwischen Situations- oder Frame-Definitionen von Interaktionspartnern finden wir in Quasthoffs Buch »Erzählen in Gesprächen« (1980), wo in einer institutionell definierten Situation, nämlich in Gesprächen mit Klienten beim Sozialamt, ein Interaktionspartner entsprechend den Normen des institutionellen Rahmens kommuniziert (der Beamte oder Sozialarbeiter), und der andere Interaktionspartner, der Klient, versucht, die Situation umzudefinieren in eine Situation des persönlichen Gesprächs zwischen Freunden durch Anwendung der dafür geltenden kommunikativen Verhaltensnormen. Der Beamte verwendet die Kommunikationsformen, die geeignet sind für das Ziel der Informationsgewinnung, um eine Entscheidung über die Art 320

und den Umfang der Hilfe für den Klienten zu gewinnen. Diese Kommunikationsmittel sind zielgerichtete Fragen, die als Antworten einen kurzen Bericht des Klienten über seine Aufgaben im Haushalt, deren Durchführung und über die Art der körperlichen Gebrechen erfordern. Der Klient dagegen akzeptiert diese Kommunikationsform nicht: Er gibt die verlangte Information nicht oder nur als Nebensache. Statt dessen erzählt er über seinen Aufenthalt im Krankenhaus, über die früheren Zeiten, über Erlebnisse beim Einkaufen, etc. Einige dieser Erzählungen haben die Funktion der Illustration eines auch für den Beamten als Vertreter der Institution relevanten Punktes, oder dienen als Beispiel oder Erklärung in einer Argumentation für die Genehmigung einer bestimmten Art von Unterstützung. Diese Erzählungen werden durch den Beamten akzeptiert, wenigstens soweit er imstande ist, die illustrative oder argumentative Funktion der Erzählung zu erkennen. Es kommt vor, daß diese am Beginn einer Erzählung nicht erkannt wird, oder nicht erkennbar ist, und der Beamte dann probiert, den Ablauf der Erzählung zu verhindern, indem er auf das eigentliche Thema weist und vom Klienten verlangt, dorthin zurückzukehren. Diese Ermahnungen brauchen den Klienten aber in diesen Fällen nicht zu stören, da er ja, seiner Meinung nach, genau am Thema ist. Statt aber einfach mit der Erzählung fortzufahren, müßte er dem Beamten auf meta-kommunikative Weise klarmachen, welche Funktion die Erzählung in bezug auf das Thema des Beratungsgesprächs hat. Dies geschieht jedoch nicht oder kaum. Andere dieser Erzählungen haben, nach Quasthoff, die Funktion der psychischen Erleichterung, oder der Verstärkung oder Darstellung des Selbstbildes des Klienten; oder sie haben das Ziel, den Hörer zu unterhalten durch Aufsehen erregende oder amüsante Information. Der Klient gibt sich oft große Mühe, den Rahmen der durch den Beamten repräsentierten Institution zu durchbrechen und seine Erzählung trotz des Widerstandes und Mangels an Kooperation von Seiten des Beamten doch noch zu lancieren. Dabei ist es wichtig, die Neugierigkeit des Interaktionspartners zu erwecken, so daß er innerhalb des Gesprächs doch noch für die Erzählung Platz einräumt. Quasthoff (1980: 177,186) erwähnt drei mögliche Analysen dieser Konfliktsituationen beim Sozialamt, in denen ein Konflikt zwischen aktualisierten Kommunikationsnormen und den durch die Situation verlangten Kommunikationsformen besteht: 1. Einer der Interaktionspartner verkennt den Situationstyp oder Rahmen; er hat die Situation verkehrt begriffen: »frame confusion«. Quasthoff geht davon aus, daß es dann der Klient ist, der die Situation verkehrt begriffen haben muß. Dies liegt daran, daß der Mächtigere, hier die Institution und ihr Vertreter, den Interaktionsrahmen definiert. Der Be321

amte sitzt da in seiner Funktion, der Klient kommt zu ihm und hat somit nicht das Recht, die Situation zu definieren oder über eine Umdefinierung zu verhandeln. Insofern kann sich der Klient in der Analyse der Situation irren; der Vertreter der Institution kann es nicht, da die Situation durch ihn in seiner Funktion definiert ist. 2. Beide Interaktionspartner haben den richtigen Begriff von der Situation. Der Klient weiß, daß seine Kommunikationsform nicht in eine Situation dieses Typs paßt, aber er hat das Bedürfnis, die Kommunikation zu verlängern, z.B. um so psychische Entlastung zu erreichen. Dieses Bedürfnis steht dann im Konflikt mit der Realisierung der Kommunikationsnormen des institutionellen Rahmens; und der Klient, und im günstigen Fall auch der Sozialarbeiter, stellen eben den institutionellen Rahmen zurück, um etwas Raum für die Befriedigung des Kommunikationsbedürfnisses des Klienten zu schaffen. Dies ist dann ein Kompromiß zwischen zwei Zielen, wobei die Kommunikationsnormen, die an den institutionellen Rahmen gebunden sind, nämlich das Geben eines sachlichen zweckmäßigen Berichts, und die Kommunikationsnormen, die an die Befriedigung persönlicher psychischer Bedürfnisse gebunden sind, nämlich das Erzählen, jede für sich bis zu einem gewissen Grade realisiert werden. Indem innerhalb des institutionell definierten Gesprächs nur ein beschränkter Platz für die Erzählung eingeräumt wird, ist es deutlich, daß die Situation als ganze institutionell definiert ist und bleibt. 3. Beide Interaktionspartner haben den richtigen Begriff von der Art der Situation, d.h. begreifen den Rahmen. Aber einer von beiden akzeptiert den Rahmen nicht. Der Klient will den Rahmen verändern: Er will das Gespräch von seinem auf sachliche Information und Beratung gerichteten Charakter entkleiden und zu einem Privat-Gespräch machen. Die Erzählungen haben hier, nach Quasthoff (1980: 177), eine »rahmensetzende Funktion«. Der Klient will nicht den Beamten, sondern er will einen Freund gewinnen. - Der größte Teil der Klienten sind ältere vereinsamte Menschen. - Würde der Beamte ohne weiteres auf die Erzählungen eingehen, dann würde er damit diese neue Situation, die der Klient herzustellen versucht, akzeptieren. Daraus würden sich Verpflichtungen ergeben, denen er später nicht nachkommen könnte. Um schwere Enttäuschungen des Klienten zu vermeiden, muß der Beamte die Umdefinierung der Situation durch den Klienten verhindern und darum die Erzählungen nicht, oder nur mit deutlichem Widerstand, akzeptieren. Das Verhalten des Klienten muß durch den Beamten als unpassend markiert werden; Passendheit würde bedeuten, daß die Situation an das Verhalten angepaßt würde und so umdefiniert würde. Der Beamte wird meistens die Kooperation beim Zustandekommen der Erzählung verwei322

gern, andeuten, daß die Erzählung nicht in die Situation paßt, oder doch hinterher deutlich sagen, daß er zum offiziellen Gespräch zurückkehren will. Quasthoff findet die dritte Analyse der Erzählsituationen beim Sozialamt die am ehesten richtige. Ich will hieran noch den folgenden soziolinguistischen Gesichtspunkt hinzufügen: Die eben behandelte rahmensetzende Rolle von Erzählungen macht es oft schwierig, dort Erzählungen zu akzeptieren, wo sie eine argumentative Funktion haben, eventuell neben einer der anderen Funktionen. Indem sie auch diese Erzählungen abblocken, berauben Beamte und Sozialarbeiter die Klienten ihrer gesamten der Argumentation dienenden Gesprächsstrategie. Gerade Klienten aus sozial niedrigen Bevölkerungsschichten sind im Argumentieren mittels illustrativer und erklärender Erzählungen geübt, aber nicht in abstrakter Argumentation mittels streng propositioneller Prämissen und Konklusionen. Diese Menschen, gehindert am Gebrauch ihrer gruppen- und schichtenspezifischen Kommunikationsmittel, stehen dann buchstäblich sprachlos gegenüber dem Beamten. In vielen Fällen werden die durch sozial deprivierte Sprecher vorgetragenen Erzählungen von den einer höheren sozialen Schicht entstammenden Kommunikationspartnern als Abweichung vom Thema, große Umständlichkeit, Sich-Verstricken in Nebensächlichkeiten und um das eigentliche Herumdrehen erfahren, wenn es um eine Situation geht, in der Information »to the point« sein muß und Argumentation erforderlich ist. Das Verhalten des Gesprächspartners wird als irrational erfahren, da es nicht zielgerichtet und nicht zielgemäß erscheint. Daß auch Erzählungen der Argumentation und Illustration dienen, wird häufig nicht erkannt. Der Mangel an Kenntnis über die soziale Bestimmtheit von Gesprächsstrategien führt zur Disqualifikation des sozial schwachen Interaktionspartners. Er wird nicht mehr seriös genommen, man hört nicht mehr auf ihn, es sei denn, um einige lustige Bemerkungen zu hören, deren Relevanz für die Argumentation nicht mehr gesehen wird. Eine Illustration hiervon ist ein Gespräch, oder genauer, eine Diskussion in Sonja Barends in den Niederlanden sehr bekannter Show »Sonja op vrijdag«, die am 4. 3. 1983 durch die VARA im niederländischen Fernsehen ausgesendet wurde. — Diese Diskussion wurde behandelt in der Arbeitsgruppe »Normen in Gesprächen« im Sommersemester 1983 unter Leitung von Dorothea Franck, und zwar von den Studentinnen J. A. Daniëls und F. E. Spijker in ihrem Arbeitspapier »Normconflicten in een gesprek«, dem auch die Transkription beigefügt ist. Instituut voor Alg. Lit. Wetenschap, Univ. Amsterdam. Sonja führt mit einem Bewohner eines Wohnwagenkamps am Rande von Amstelveen ein Gespräch über die Frage, ob das Kamp an einer bestimmten Stelle am Rande des Ortes stehen darf, trotz der Einwände, die die Anwohnenden dagegen haben. Ferner nehmen ein lokaler Politiker und ein Anwohner an der Diskussion teil. 323

Das erste Hören des Bandes in der Arbeitsgruppe rief eine negative Reaktion gegen die Art der Kommunikation des Wohnwagenbewohners hervor: »Abweichungen vom Thema«, »nicht zur Sache«, »unzusammenhängend«, »unverständliche Bildsprache«, »läßt andere nicht zu Wort kommen«, »nur darauf aus, witzige Effekte zustande zu bringen«, »eine Show abziehen, über die andere lachen sollen«, »den Clown spielen«. Erst bei wiederholtem Hören des Bandes und sorgfältigem Analysieren der Transkription wurde der argumentative Wert der Erzählungen des Wohnwagenbewohners erkannt und kam eine doch noch positive Wertung seines Beitrages zustande als ein Beitrag zum Thema der Diskussion, der allerdings durch seine Form in der Veranstaltung selbst wenig Effekt hatte und nicht gewürdigt wurde. Der Mann machte in erster Instanz einen etwas irrationalen Eindruck, und bei diesem Eindruck blieb es in der Show, wo ein Replay und eine ausführliche Analyse eines Transkripts natürlich nicht Thema war. Der Mann ist in der Show selbst wohl schließlich als ein »geistig wenig entwickelter, lustiger und etwas unverschämter« Zeitgenosse abgetreten, der das Ziel der Diskussion verfehlt hatte. Erst nach der Erkenntnis der argumentativen Rolle der Erzählungen in der gründlichen Analyse wurden in der Arbeitsgruppe die ständigen Blokkierungen und Unterbrechungen dieses Mannes durch Sonja Barend, die stets von ihm forderte am Thema zu bleiben, als unpassend erkannt. Sie beruhten darauf, daß Sonja die Gesprächsstrategie des Wohnwagenbewohners nicht erkannte, da sie einfach die Gesprächsnormen ihrer eigenen sozialen Klasse auf die Beiträge des Wohnwagenbewohners anwendete und diese somit als nicht zur Sache und unpassend bewertete. Beide Gesprächspartner wußten ganz augenscheinlich nichts über die Gesprächsnormen und Argumentationsstrategien des anderen und seiner sozialen Klasse. Dabei begriffen beide gut den Charakter der Kommunikationssituation vor der Fernsehkamera und dem Publikum im Saal, wobei die Ziele waren: Informationsaustausch, Argumentation für und gegen den Standplatz des Wohnwagenkamps, ein gewisser Show-Effekt. Dennoch entstand ein Konflikt zwischen den Kommunikationsnormen, die in einer Situation mit diesen Merkmalen nach Meinung der beiden Kommunikationspartner anwendbar waren, in Abhängigkeit von ihrem verschiedenen sozialen Hintergrund. Wenn der Wohnwagenbewohner wenigstens zur Orientierung der Gesprächspartner gängige meta-kommunikative Mittel gebraucht hätte, um seine Erzählungen deutlich als Beiträge zu diesem oder jenem Punkt der Argumentation kennbar zu machen, dann wäre seine Chance, verstanden zu werden, größer gewesen. Aber es gehört auch schon zum Stil dieser sozialen Gruppe, daß diese Mittel nicht oder weniger gebraucht werden, offenbar, weil man sich in dieser ziemlich geschlossenen Gruppe doch ohnehin gut versteht aufgrund des gemeinsamen Hintergrunds und man darum diese das Gespräch steuernden Mittel im allgemeinen nicht nötig hat. 324

Ein weiterer erschwerender Faktor, der zu Normkonflikten in bezug auf die Kommunikationsformen in diesem Gespräch beigetragen hat, ist die Tatsache, daß der Wohnwagenbewohner einerseits mit seinen Gesprächspartnern in der Show diskutieren mußte, zugleich das Publikum im Saal berücksichtigen mußte und sich außerdem sicher davon bewußt war, daß seine Leute zuhause der Fernsehsendung folgten (»Mehrfach-Adressiertheit«). Für seine Leute spricht er, vor ihnen will er Eindruck machen, und als einer von ihnen will er sich präsentieren. Er muß darum den Normen dieser seiner Gruppe folgen. In vergleichbarer Weise hat natürlich Sonja Barend ihr Publikum vor Augen, hauptsächlich Mittelschichtspublikum, die Klasse, zu der sie selbst gehört und deren Maßstäbe und Normen im Lande Geltung besitzen, auch in der VARA, der Arbeiter-Radio-Vereinigung, für die sie arbeitet. Sie ist an die Kommunikationsnormen des Bildungsbürgertums, die zugleich ihre eignen Normen sind, gebunden. Dazu kommt natürlich, daß Sonja nicht nur Gesprächsteilnehmerin, sondern auch Gesprächsleiterin und Showmasterin ist und dadurch eine deutlich dominierende Rolle in allen Gesprächen dieser Art einnimmt. Sie definiert die Situation: Ihre und ihres Publikums Bildungsbürgertums-Normen sind die Normen, die den Ablauf des Gesprächs regeln. Für sie besteht daher kein Konflikt, wohl aber für den Wohnwagenbewohner, nämlich zwischen den Kommunikationsnormen von Sonja (und ihrem sozialen Hintergrund), die hier dominieren, und den Kommunikationsnormen seiner sozialen Gruppe. Um diesen Normkonflikt einigermaßen zu beherrschen, wäre es nötig gewesen, daß sich die Gesprächspartnerin zu einer Gesprächsleiterin mit einiger Kenntnis der unterschiedlichen sozialen Bestimmtheit der Kommunikationsnormen der Gesprächspartner erhoben hätte, um so die Diskussionsbeiträge richtig bewerten zu können. - Übrigens kann man aufgrund der eben angestellten Überlegungen feststellen, daß die Situation für beide Gesprächspartner doch nicht ganz gleich definiert war, weil sie jeweils auf ein teilweise verschiedenes Publikum bezogen waren. Zusammenfassung: In diesem Abschnitt wurden verschiedene Sorten von Normkonflikten in Kommunikation behandelt. Erstens entstehen Normkonflikte in Fällen, in denen eine Situation verschiedene Interpretationen zuläßt und somit gleichzeitig Merkmale aufweist, die die Realisierung von Α-Normen erfordern, und solche, die die Realisierung von B-Normen erfordern, wobei diese Normen nicht zugleich realisiert werden können. Das Akzeptieren der eher rezessiven Normen wird dann nur noch symbolisch angedeutet. Zweitens entstehen Normkonflikte in Situationen, die eindeutige Interpretationen haben, bzw. durch deutliche institutionelle Rahmen und Machtverhältnisse nur eine Interpretation zulassen. Hierbei geht es um einen Konflikt zwischen, einerseits, Kommunikationsnormen gebunden an einen institutionellen Rahmen, in einer Situation, die durch diesen Rahmen 325

definiert ist, und andererseits, um Kommunikationsnormen, die dazu dienen, um Bedürfnisse und Interessen zu erfüllen, die außerhalb dieses Rahmens liegen und die andere Ausdruckmittel als Kommunikationsformen erfordern als die in diesem Rahmen gangbaren. In den Fällen, in denen einige Kooperationsbereitschaft in bezug auf die einander entgegenstehenden Interessen besteht, wird ein begrenzter Raum innerhalb des Rahmens geschaffen, gleichsam als Ventil. Drittens entstehen Normkonflikte, auch bei eindeutiger Interpretation der Situation dadurch, daß einer der Partner den Rahmen oder die Definition der Situation durch den anderen nicht akzeptiert. Er will diesen Rahmen durchbrechen und eine neu definierte Situation schaffen. Diese Konflikte sind nur dadurch aufzulösen, daß einer der Partner nachgibt und mit dem anderen mitgeht. In den meisten Fällen wird der Mächtigere den Rahmen durchsetzen, den er für diese Situation als gegeben ansieht oder ambitiiert. — Es gehört zum Wesen der Macht, daß sie rahmensetzend ist. Viertens entstehen Normkonflikte, auch bei eindeutiger Interpretation der Situation dadurch, daß gruppen- oder schichtenspezifisch bestimmte Interaktions- und Kommunikationsstrategien nicht erkannt oder selbst mißverstanden werden. Fünftens entstehen Normkonflikte in Fällen von Mehrfach-Adressiertheit, in denen in bezug auf die verschiedenen Adressaten unterschiedliche Kommunikationsformen angemessen sind.

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338

X. Index der normtheoretischen Begriffe

Abweichung 150, 157, 198, 202ff. Adoption/Übernahme 218, 223, 229, 234, 302ff. Akzeptation/Anerkennung 101-105, 143, 166, 217, 226, 234, 236, 262, 278 ff., 300, 302ff. Akzeptationsbereich/Anerkennungsbereich 218, 22, 228, 289, 300 Akzeptierbarkeit (linguistische) 173 algorithmische Regel 161 Anordnung 100, 143 Anordnungssubjekt 147 Anpassung 109, 133, 150, 187, 296 Begriffsbildung 7, 63, 64 Bevölkerungsbereiche 218, 222, 236 Brauch/Gebrauch 94, 116, 157

Geltungsbereich 1. bevölkerungsmäßiger 218, 238, 300 2. situativer 137f., 218, 222, 228, 237, 317 Gemeinschaft 160, 320 Gewaltübertragende Norm 87 f. Gewohnheit 157 f. grammatische Norm 171 Gruppenidentität 93, 104, 122, 165, 231 f., 254, 258, 302 Handeln, Handlung 133, 161, 186, 291 Heterogenität 181, 183, 188f. höhere Norm 155, 166, 218 höchste Norm der Kommunikation 187, 200 f. Hyperkorrektheit 247 f.

Creole-Sprache 192,303,313 deskriptiver Standard 249 Dialekt 93, 101, 104, 122, 145, 254ff. Dominanz 187, 228, 254, 295, 297 f., 312, 315f. Durchsetzung 229, 233 Effizienz, Effektivität 216, 242 erlaubende Norm 87 f. Erwartung, Erwartungserwartung 134, 157, 163 ethnische Identität 231, 233, 261, 298, 312 Existenz von Normen 85, 87, 143f., 166, 191f„ 217, 299, 302 ff. Existenzbereich 218, 222, 231, 300 Explikation 144, 178 Flexibilität 244 ff., 287 Gebrauchsnorm/instrumentelle Norm 171, 316 Geltung/Gültigkeit 85, 87, 89, 90ff., 134, 137, 141 ff., 191 f., 300, 302ff.

Identifikation einer Norm 97 Imperativ-Theorie der Normen 84 Implementation 240 Institution 160 institutionalisierte Norm 93 ff., 161 Institutionalisierung 96ff., 134, 136, 139, 141 instrumenteile Norm 171, 316 Instabilität 185, 197 Internalisierung lOOf., 127, 158, 166 Interessenkonflikt 299 Interpretation 293 f. Interpretierbarkeit 140, 163, 172, 284, 289 f. Intuition 178 klassischer Standard 258 ff. Koexistenz 293, 295 Kommunikationsnorm 171 f., 200 konstitutive Regel/Norm 160 Koservativität 163, 198, 200 Konvention 85, 87, 93, 115f., 120, 158 Koordinationsnorm 113 ff., 153, 164 Koordinationsproblem 113ff., 153

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Korrektheit Iff., 173 Korrektheitsbegriffe Iff., 154f„ 255f. Korrektheitsurteil 289 Korrekturhandlung 99, 110, 114, 157, 255,279 Kreativität 202, 274 Kritik 157 linguistische Regel (theoretische) 2, 64, 8 0 - 8 3 , 167, 174ff., 217 Lernbarkeit von Normen 167 ff., 178 Macht 277, 326 methodische Norm/Regel 161 Modell 62 f., 150, 227, 242, 245 f., 251, 259, 261, 263, 265, 281 Muster 83, 170 nationale Einheit 220, 232, 234f., 252, 309 nationale Sprache 222 f. nicht institutionalisierte Norm 93 ff. Norm (Definitionen) 61, 62, 64, 84, 11, 157ff., 164, 217, 292 Normalität 248 normative Kraft 63, 116, 157ff., 164, 250, 256, 288 Normautorität 158 Normcharakter 164 Normeinführung 165 Normformulierung 165 Norminhalt 164 Normkern 63, 164 f. Normkodifizierung 165, 246, 251, 256 Normkonflikt 137 f., 143, 145, 149, 166, 292 ff., 299 ff. Normkonzept 165 Normsetzung 14 I f f . Normsubjekt 147, 158, 164 Normensystem (institutionalisiertes) 88 f., 91, 93 Normveränderung 123, 150ff. Normverstöße 105, 127 Norm höherer Ordnung 156, 161, 171, 218 offizielle Sprache 222 ff. Orientierung 127, 133 ff., 143, 163 Partialitätsnorm 126 ff. Praxis 87, 102, 300 Praxis-Theorie der Normen 84 340

präskriptiver Standard 249 Pidgin-Sprache 12, 192,313 Prinzip 186f., 200f. Produktnorm 162, 171 Produktionsnorm 161 primäre Regel/Norm 95 f., 156 Prisoner's Dilemma Norm 112 ff. Purismus 263, 280, 308 Rechtfertigung 87, 149ff., 166, 191 f., 218, 233f., 300, 302ff. Rechtfertigungsbereich 218, 222, 300 ff. Regel 78ff., 159, 179f., 182 Regelmäßigkeit/Regularität 116, 118, 133, 157, 164, 205 Register 145, 266 ff. Rekonstruktion 178 restriktive Regel/Norm 161 Sanktion 63, 114, 120, 143, 158, 165 soziale Integration 123, 223 sekundäre Norm/Norm zweiter Ordnung 95 f., 156, 161 Sprachelaborierung 256 ff. Sprachgefühl/Korrektheitsurteil 99, 106 Sprachgemeinschaft 146f., 166, 169, 182, 290 Sprachkompetenz 168 f., 180 ff. Sprachkorrektion 214 Sprachkultivierung/Pflege 254, 264 ff., 279 ff. Sprachnorm 167f., 174ff., 217, 284 Sprachplanung 155, 181, 187, 213ff. Sprachstützung 282, 287 Sprachveränderung 150ff., 173, 184 f., 186 ff. Sprach wandel 18 sprachliche/linguistische Normen 170ff. sprachliche Regeln 2, 167f., 174ff., 178 Stabilisierung 242, 251, 265 Stabilität 203, 214, 217, 246f., 287 Standard 278 Standardisierung 237 ff. Standardsprache 93, 98, 101, 107f., 114, 122, 146f., 153, 220f., 236ff., 286 f. Stil 145, 270f. strategische Regel/Norm 161 symbolische Handlung 312, 317 ff.

Systematisierung 63, 167 f., 173, 177ff., 184f., 188f., 197, 212, 284 technische Norm 161, 174,316 Toleranz 202 Umgangssprache 199 Unstabilität 290 Übernahmebereich/Adoptionsbereich 218, 222, 289, 300ff.

Variante 241, 243 f. Varietät 146, 153, 220f„ 237ff. Verhandeln 295 Verordnungen 117, 120 verpflichtende Norm 87 f. Vorbild/Modell 175 Vorschriften 84, 158, 217 Wert 105, 126, 251, 254

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